Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne: Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag [Reprint 2011 ed.] 9783110939262, 9783484108554

Klaus-Detlef Müller's studies represent a consistent literary history of the modern age between the Baroque and the

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Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne: Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag [Reprint 2011 ed.]
 9783110939262, 9783484108554

Table of contents :
Vorwort
Johann Jakob Thill (1747–1772). Zur Wiederentdeckung eines Dichtertalents aus dem Tübinger Stift
Die ,Malerei‘ der Poesie. Diderot über Greuze
Hamann als humoristischer Schriftsteller
Liebe, die aus dem Rahmen fällt. Wielands Hexameron von Rosenhain
Haydns Formung der musikalischen Zeit. Beobachtungen an frühen Streichquartetten
Goethes Mythus des janusköpfigen Volkes in der Zeit des Sturm und Drang
Die Theatralisierung der Idee der Bildung. Zwei literarische Antworten auf Moses Mendelssohn: Wilhelm Meisters Lehrjahre und Florentin
Die Dramaturgie der Faust-Dichtung
Der christliche Teufel in der Literatur der Moderne als Geburtshelfer und Opfer der Aufklärung. Gedanken zu Goethes Mephistopheles
Walpole und Goethe oder Was soll der göttliche Riesenkopf im modernen Wohnzimmer?
Entsagung als ,Forderung des Tages‘. Goethes und Hegels Antwort auf die Moderne
Erhaben und sinnlich. Strenge Form und theatrale Wirkung in Schillers Braut von Messina
„Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter“? Beobachtungen zu Hölderlins Hyperion
Identität als aporetisches Projekt. Kleists Erzählung Der Findling
„Dieses Hokuspokus-Leben“ oder Jean Pauls Konjektural-Biographie. Zur Geschichte der ,anderen‘ Autobiographie
„Vergangene Vergangenheit?“ Realismus und Moderne bei Fontane, Faulkner und Johnson
Beobachtungen zur Parabel bei Kafka
„K. lebte doch in einem Rechtsstaat...“ Franz Kafkas Der Proceß – ein Prozeß des Mißverstehens
Ödön von Horváths kleiner Totentanz Glaube Liebe Hoffnung
Ästhetik der Gemeinplätze: Topik und Synkretismus in Bertolt Brechts Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner
Brecht als Pygmalion? Sein Modell der Weigel
Nachgereichte Aufklärungen. Zwei Fälle bei Bertolt Brecht
Galy Gay im Medienkommerz – oder das „B.-Movie“ als ,BB.-Movie‘?
„Inzwischenzeit“ – Erzählen im Exil. Anna Seghers’ Der Ausflug der toten Mädchen und Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers
Heinrich Bolls Irisches Tagebuch – Versuch einer Zuordnung
„Klassiker als Knetmasse“. Molière-Rezeptionen im 20. Jahrhundert
Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ,Weltanschauung‘ und der Weltanschauungsliteratur
Geschichte und Drama. Skizzen einer diskursanalytisch orientierten Literaturgeschichte des modernen Geschichtsdramas
Bilderstürme. Zeitgeschichte in deutschen Fernsehfilmen
Hybride Transformationen. Anmerkungen zu Theorie und Praxis der Intermedialität
,Unser Auschwitz‘ – Tabu und Tabubruch als Marketing-Konzept. Eine Glosse vom Rand der Philologie

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Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne

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Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Werner Frick, Susanne Komfort-Hein, Marion Schmaus und Michael Voges

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10855-X © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Katrin Becker, Tilmann Köppe, Olav Krämer, Dr. Fabian Lampart, Anne Rummenie, Berenike Schröder, Petra Urland (Göttingen) Druck: ΑΖ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Hans-Georg Kemper Johann Jakob Thill (1747-1772). Zur Wiederentdeckung eines Dichtertalents aus dem Tübinger Stift

IX

1

Maria Moog-Grünewald Die .Malerei' der Poesie. Diderot über Greuze

15

Sven-Aage Jorgensen Hamann als humoristischer Schriftsteller

27

Volker Mergenthaler Liebe, die aus dem Rahmen fallt. Wielands Hexameron von Rosenhain

37

Friedhelm Krummacher Haydns Formung der musikalischen Zeit. Beobachtungen an frühen Streichquartetten

53

Gonthier-Louis Fink Goethes Mythus des janusköpfigen Volkes in der Zeit des Sturm und Drang

73

Bernhard Greiner Die Theatralisierung der Idee der Bildung. Zwei literarische Antworten auf Moses Mendelssohn: Wilhelm Meisters Lehrjahre und Florentin

95

Theo Buck Die Dramaturgie der Fawsi-Dichtung

115

Eda Sagarra Der christliche Teufel in der Literatur der Moderne als Geburtshelfer und Opfer der Aufklärung. Gedanken zu Goethes Mephistopheles

129

VI

Inhaltsverzeichnis

Leif Ludwig Albertsen Walpole und Goethe oder Was soll der göttliche Riesenkopf im modernen Wohnzimmer?

141

Marion Schmaus Entsagung als ,Forderung des Tages'. Goethes und Hegels Antwort auf die Moderne

157

Georg-Michael Schulz Erhaben und sinnlich. Strenge Form und theatrale Wirkung in Schillers Braut von Messina

173

Ernst-Richard Schwinge „Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter"? Beobachtungen zu Hölderlins Hyperion

187

Jochen Schmidt Identität als aporetisches Projekt. Kleists Erzählung Der Findling

203

Waltraud Wiethölter „Dieses Hokuspokus-Leben" oder Jean Pauls Konjektural-Biographie. Zur Geschichte der ,anderen'Autobiographie

211

Hans Vilmar Geppert „Vergangene Vergangenheit?" Realismus und Moderne bei Fontane, Faulkner und Johnson

231

Jürgen Brummack Beobachtungen zur Parabel bei Kafka

247

Klaus-Peter Philippi „K. lebte doch in einem Rechtsstaat..." Franz Kafkas Der Proceß - ein Prozeß des Mißverstehens

259

Jürgen Schröder Ödön von Horväths kleiner Totentanz Glaube Liebe Hoffnung

283

Almut Todorow Ästhetik der Gemeinplätze: Topik und Synkretismus in Bertolt Brechts Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner

297

Werner Hecht Brecht als Pygmalion? Sein Modell der Weigel

311

Inhaltsverzeichnis

VII

Jan Knopf Nachgereichte Aufklärungen. Zwei Fälle bei Bertolt Brecht

323

Hans-Peter Bayerdörfer Galy Gay im Medienkommerz oder das „B.-Movie" als ,Β.Β.-Movie'?

329

Susanne Komfort-Hein „Inzwischenzeit" - Erzählen im Exil. Anna Seghers' Der Ausflug der toten Mädchen und Peter Weiss' Der Schatten des Körpers des Kutschers

343

Eberhard Mannack Heinrich Bolls Irisches Tagebuch - Versuch einer Zuordnung

357

Jörg Wilhelm Joost „Klassiker als Knetmasse". Moliere-Rezeptionen im 20. Jahrhundert

363

Horst Thome Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts .Weltanschauung' und der Weltanschauungsliteratur

387

Michael Voges Geschichte und Drama. Skizzen einer diskursanalytisch orientierten Literaturgeschichte des modernen Geschichtsdramas

403

Wolfgang Struck Bilderstürme. Zeitgeschichte in deutschen Fernsehfilmen

421

Jörg Metelmann Hybride Transformationen. Anmerkungen zu Theorie und Praxis der Intermedialität

439

Jürgen Wertheimer .Unser Auschwitz' - Tabu und Tabubruch als Marketing-Konzept. Eine Glosse vom Rand der Philologie

455

Vorwort

Klaus-Detlef Müllers Forschungen haben vom Barock bis zur Gegenwart eine konsequente Literaturgeschichte entworfen, die beharrlich das Projekt der Moderne noch als Unterstrom der Postmoderae reklamiert. Nicht von ungefähr reflektieren Müllers zentrale Arbeiten immer wieder die beiden Leitprogramme des aufklärerischen Diskurses der Moderne: Kritik und Dialog. Es handelt sich hier um „Aufklärungen" im besten Sinne, und dies nicht allein dort, wo der unmittelbare thematische Bezug auf die geschichtliche Epoche in den Studien zu Autobiographie und Roman (1976) oder in den zahlreichen Arbeiten zur Dramatik der Aufklärung offenkundig ist. Engagierte Aufklärung findet sich nicht weniger, wo Müllers Beiträge nach dem „Philosophen auf dem Theater" (1972) suchen, die „Korrektur der politischen Theorie durch die literarische Tradition" ergründen oder Verbindungen zwischen „Lebenswelt und Ästhetik" (1995) stiften. Ein gleiches Erkenntnisinteresse bestimmt die Frage nach der „erzähltechnischen Bedeutung der Kontingenz" (1978) und ganz grundsätzlich jene nach den literarischen Reflexionen des Historiographischen: Literarische „Gegengeschichtsschreibungen" zu herrschenden „Geschichtslegenden" werden einer zutiefst kritischen Lektüre unterzogen, wobei das Auge des Literaturwissenschaftlers unbestechlich die Verzerrung der Vorgänge ins vordergründig „Überlebensgroße" und zugleich „Überlebenskleine" (2000) festhält. In allen Arbeiten Klaus-Detlef Müllers zeigt sich dieser kritisch verfremdende Blick, der kaum zufallig dem unbeirrt der Aufklärung verpflichteten Klassiker der Moderne, Bertolt Brecht, wahlverwandt ist. Seit der die BrechtForschung grundlegend neu orientierenden Dissertation von 1967 (Die Funktion der Geschichte im Werk Bertolt Brechts. Studien zum Verhältnis von Marxismus und Ästhetik) ist Müller als Interpret wie als Editor (nicht zuletzt als einer der Hauptherausgeber der maßgeblichen Berliner und Frankfurter Ausgabe) immer erneut auf diesen Autor zurückgekommen. Freilich wird die „Lösungsgewißheit" vormaliger Aufklärungen beständig und mit gedanklicher Präzision einer kritischen Revision unterzogen. „Historische Dichtung als Form der Aufklärung" deutend, ist diese Literaturgeschichtsschreibung selbst ihren radikalen Maßstäben verpflichtet. Kritik artikuliert sich stets als produktiver Dialog, und der Dialog selbst befördert Momente einer konstruktiven Kritik, nicht zuletzt dort, wo er sich mit den literaturwissenschaftlichen Paradigmenwechseln der letzten dreißig Jahre auseinandersetzt.

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Vorwort

Auch Klaus-Detlef Müllers wissenschaftspolitisches Engagement ist unübersehbar vom aufklärerischen Ethos und dem Anspruch praktisch eingreifender Kritik geprägt. Viele Jahre war er in bedeutenden Funktionen für die Deutsche Forschungsgemeinschaft tätig: zunächst als hoch respektierter Fachgutachter, später als Mitglied und mehljähriger Vorsitzender der Germanistischen Kommission der DFG, schließlich als Juror in der Auswahlkommission des Heisenberg-Programms. In diesen mit großem Verantwortungsbewußtsein gegenüber der scientific community im ganzen wahrgenommenen Ämtern hat Klaus-Detlef Müller die Weiterentwicklung insbesondere der literaturwissenschaftlichen Forschung wesentlich geprägt und zugleich daran gearbeitet, den geisteswissenschaftlichen Disziplinen in schwieriger Zeit ihren intellektuellen Anspruch wie ihre gesellschaftliche Anerkennung zu sichern. Diese mit wissenschaftlichem Engagement und mit unbestechlichem demokratischem Ethos betriebene fachpolitische Tätigkeit war von der Überzeugung geleitet, die notwendige Reform der Literaturwissenschaft könne nur auf der Grundlage eines methodischen Pluralismus und im sowohl interdisziplinären wie internationalen Austausch gelingen. Dasselbe dezidiert interdisziplinäre und interkulturelle Wissenschaftsverständnis bekundet sich in Müllers Wirksamkeit als Mitherausgeber der Schriftenreihe Hermaea und als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat wichtiger Editionsunternehmungen und Fachzeitschriften (so der Frankfurter Goetheund der Marburger Büchner-Ausgabe, der Recherches Germaniques und der deutsch-chinesischen Zeitschrift Literaturstraße). Und nicht zuletzt bezeugen Gastprofessuren von St. Louis bis Peking den grenzüberschreitenden Wirkungshorizont und das internationale Ansehen des Germanisten Klaus-Detlef Müller. Im Zeichen von Dialog und Kritik steht schließlich, über dreieinhalb Jahrzehnte hinweg, auch die Tätigkeit des engagierten Hochschullehrers. Unablässig und mit gleichbleibend hohem Anspruch hat Klaus-Detlef Müller seinen Studierenden, erst recht seinen zahlreichen Doktorandinnen und Doktoranden genaues Hinsehen, eine akribische, historisch wachsame Lektüre, sorgfaltige Begründungen und rationale Argumentationen und ein differenziertes, eher skeptisches als überschwengliches Urteil abverlangt. „Wer nicht denken will, fliegt raus": Eine Karteikarte mit dieser Devise im Schriftzug von Joseph Beuys, in den Kieler wie in den Tübinger Jahren scheinbar beiläufig an der Innentür von Müllers Arbeitszimmer befestigt, war sichtbares Zeichen dieses pädagogischen Grundgestus. Die gewiß unpassendste Antwort auf den von Klaus-Detlef Müller immer wieder gesuchten produktiven Dialog wäre dessen museale .Aufhebung' im Rahmen einer ,Jubelschrift' gewesen. In der Absicht, diesem undogmatischen Aufklärer gerecht zu werden, erschien es den Herausgebern und Beiträgern daher geboten, auf je individuelle Weise Müllers Angebot zur kritischen Reflexion anzunehmen und den offenen Dialog fortzusetzen. Die in der Festschrift versammelten Aufsätze sind, dieser Überlegung folgend, das Ergebnis eines vielstimmigen Versuchs, das weit gespannte Feld von Klaus-Detlef Müllers Forschungsinteressen auszumessen, auf seine Denkanstöße zu erwidern, pro-

Vorwort

XI

duktive Impulse seines Forschens aufzunehmen und weiterzuführen: In historischer Perspektive reicht die Spannweite der Beiträge demnach von der Literatur des 18. Jahrhunderts über die Goethezeit, den Realismus und die klassische Moderne (mit Bertolt Brecht als der für Müller wohl wichtigsten intellektuellen wie literarischen Bezugsfigur) bis zur jüngsten Gegenwart; sie fuhrt von der Musik über Roman, Drama und Lyrik in vielfältigen thematischen Konstellationen und mit gelegentlichen komparatistischen Ausgriffen bis zum Fernsehfilm und zu Verhältnissen gegenwärtiger Intermedialität. In der Hoffnung auf vielfaltige Fortsetzungen eines über Jahre, in nicht wenigen Fällen über Jahrzehnte gepflegten Dialogs der „Aufklärungen" und in dankbarer Verbundenheit fur wissenschaftliche Förderung, kollegiale Zusammenarbeit und die stete Herausforderung zum Mit- und Weiterdenken (immer aber: zum Selbstdenken!) gratulieren Schüler, Kollegen und Freunde KlausDetlef Müller in herzlichem Respekt zum 65. Geburtstag.

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Die Herausgeber haben von vielen Seiten Ermutigung und Unterstützung erfahren, ohne die der vorliegende Band nicht hätte gelingen können. Neben allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die sich in diesem Unternehmen engagiert und die editorischen Vorgaben verständnisvoll akzeptiert haben, gilt ihr herzlicher Dank zuvörderst dem kompetenten Team von Nachwuchsgermanisten im Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen, das unter der souveränen Leitung von Dr. Fabian Lampart über viele Monate für die aufwendigen Satzund Korrekturarbeiten am Gesamtmanuskript der Festschrift verantwortlich war: Katrin Becker, Tilmann Köppe, Olav Krämer, Anne Rummenie, Berenike Schröder und Petra Urland haben exzellente Arbeit geleistet. In Tübingen haben Prof. Dr. Hans-Georg Kemper, Frau Ingeborg Kunze-Teufel und nicht zuletzt Frau Bärbel Müller dem Vorhaben ihre so diskrete wie tatkräftige Hilfe angedeihen lassen. Für die einvernehmliche Zusammenarbeit mit dem Max Niemeyer Verlag danken wir namentlich Frau Birgitta Zeller, in der sorgfaltigen editorischen Betreuung des Bandes hat sich von Verlagsseite Frau Cornelia Saier große Verdienste erworben.

Werner Frick, Susanne Komfort-Hein, Marion Schmaus und Michael Voges

Hans-Georg

Kemper

Johann Jakob Thill (1747-1772) Zur W i e d e r e n t d e c k u n g e i n e s Dichtertalents aus d e m T ü b i n g e r Stift 1

I Was könnte ich zu einem festlichen Anlaß in Tübingen Schöneres erzählen als die Geschichte eines Tübinger Studenten, der durch den B e s u c h eines Tübinger Buchladens und die dadurch zur Kenntnis g e n o m m e n e schöne Literatur zu einem Tübinger Dichter geworden ist? - D o c h diese Geschichte hat eine Vorgeschichte, die im Jahre 1778 als historische Nachgeschichte beginnt. In diesem Jahr nämlich erschien im Leipziger Verlag von Christian Friedrich Weygand, der vier Jahre zuvor auch Goethes Welterfolg Die Leiden des jungen Werthers veröffentlicht hatte, 2 ein - alsbald in Tübingen nachgedrucktes - anonymes Werk mit dem Titel Hartmann eine Wirtembergische Klostergeschichte herausgegeben von W. n? D i e s e s B u c h wird in keinem der Standardwerke zu Biographie, Autobiographie und Roman des 18. Jahrhunderts behandelt. Dabei stellt es vor interessante gattungstheoretische und -geschichtliche Fragen. In der „Vorrede" eröffnet der unbekannte Herausgeber ein virtuoses Versteckspiel um

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Der vorliegende, leicht überarbeitete Beitrag wurde erstmals im Sommer 2000 aus Anlaß des Zweiten Tübinger Bücherfestes in einem Zelt auf dem Tübinger Marktplatz vorgetragen. Das Thema war diesem Ereignis angemessen, der Gegenstand bezieht sich zugleich auf das wissenschaftliche und akademische Wirken Klaus-Detlef Müllers: Zum einen hat er in seiner Habilitationsschrift Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit (Tübingen 1976) den historischen Zusammenhang und die Kategorien erarbeitet, in deren Kontext das im folgenden vorzustellende Prosa-Werk zu verorten ist; zum andern hat er als Mitgutachter jener Dissertation ans Licht der Öffentlichkeit verholfen, welcher der vorliegende Beitrag die Wiederentdeckung des frühverstorbenen Dichters aus dem Tübinger Stift verdanket: Stolte, Ulrich: Frühes Idol schwäbischer Dichter: Johann Jakob Thill (1747-1772). Biographie und kommentierte Werkedition. Tübingen 2000. Als über die Maßen beanspruchter, kritischer und fairer Gutachter hat Müller eine besondere Würdigung verdient. Der Dank fur stets zuverlässige Kooperation im Alltagsgeschäft der Prüfungen und Gutachten sei ihm aus diesem Anlaß an dieser Stelle dargebracht - zugleich mit einem Beitrag, der dem Jubilar hoffentlich hier und da ebenso zum Schmunzeln Anlaß gibt wie den Zuhörern auf dem Tübinger Bücherfest!

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Vgl. Karthaus, Ulrich: Sturm und Drang. Epoche - Werke - Wirkung. München 2000, S. 98. - Stolte [Anm. 1], S. 13. Seitenzahlen im Text mit der vorangestellten Sigle S/T verweisen auf dieses Werk. Seybold, David Christoph: Hartmann eine wirtembergische Klostergeschichte. Hrsg. von Wagemann. Leipzig 1778. Seitenzahlen im Text mit der vorangestellten Sigle S/H verweisen auf dieses Werk.

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Hans-Georg Kemper

die Frage, welche historische Person sich hinter ,Hartmann' verbirgt, dessen Biographie in dem Werk erzählt wird. Er streut verschlüsselte Hinweise auf verschiedene historisch verbürgte Lebensläufe aus und erklärt dann, „daß es keinen solchen individuellen Hartmann giebt, [...] wiewohl auf der andern Seite es eben so gewiß ist, daß der Herausgeber keinen Umstand angegeben hat, der nicht wahr ware." (S/H, S. 6f.) Damit stellt er - offenbar ein Kenner der Gattung bewußt jenes Kriterium für seine Erzählung in Frage, das Müller als unerläßlichen und wichtigsten Bestandteil der Autobiographie benannt hat (und das analog auch für die Biographie gilt),4 nämlich die „Individualität".5 Der fiktive Name ,Hartmann' ist offenbar die Chiffre für einen gleichwohl realhistorisch existenten bildungs- und berufsspezifischen Typ von Lebenslauf, der zugleich in seinen Details unterschiedlichen Einzelbiographien zuschreibbar und in diesem zweifachen Sinne historisch ,wahr', in der Focussierung auf den einen Lebenslauf der Hauptfigur Hartmann allerdings fiktiv ist. So meldet sich auch kein - für die Autobiographie typischer - Ich-Erzähler zu Wort, bei dem sich im Sinne Käte Hamburgers fingierte oder fiktive Wirklichkeitsaussagen unterscheiden ließen,6 sondern ein auktorialer Er-Erzähler, der allerdings alles daranzusetzen scheint, keinen Eindruck von Fiktionalität und Fiktivität aufkommen zu lassen. So beginnt die Klostergeschichte mit dem Satz: „In dem wirtembergischen Dorfe Gonningen, nicht weit von dem berühmten Nebelloch und der Reichsstadt Reutlingen, lebte noch vor einigen Jahren ein Pfarrer, Namens Friederich Hartmann, dessen Sohn [...] der Held dieser Geschichte ist, [...]" (S/H, S. 1). Der Erzähler verwendet ferner Briefe und „tagebuchähnliche Passagen" (S/T, S. 18), die - wie wir noch sehen werden - als authentisches autobiographisches Quellenmaterial erschließbar sind, so daß sich die Geschichte zumindest partienweise als verdeckte Autobiographie lesen läßt - und dies nach dem Muster Jung-Stillings in objektiver biographischer Erzählform (einschließlich der bei Jung-Stilling innovativen Darstellung von Kindheit und Jugend).7 Aber daneben treten auf den rund 250 Seiten - ebenfalls wie bei Jung-Stilling oder bei Karl Philipp Moritz8 - auch längere Passagen mit ,erdichteten' Gesprächen über ,Gott und die Welt' mit deutlich aufklärerisch-pädagogischer Absicht, die sich einerseits der Zweckform der Biographie und deren belehrenden Intentionen zuordnen lassen,9 die der ,Geschichte' aber zugleich fiktionale romanhafte Züge verleihen. Insofern handelt es sich bei diesem Werk um eine „Mischgat-

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9

Vgl. Scheuer, Helmut: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979, S. 12ff., 18ff. Müller [Anm. 1], S. 124. Vgl. ebd., S. 57fif. Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe, mit Anm. hrsg. von Gustav Adolf Benrath. Darmstadt 1976. Vgl. dazu Müller [Anm. 1], S. 127ff. Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus-Detlef Müller. München 1971. Vgl. dazu Müller [Anm. 1], S. 145ff. Vgl. Scheuer [Anm. 4], S. 9ff„ 21 ff.

Johann Jakob Thill

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(1747-1772)

tung" von Biographie, Autobiographie und Roman, wie sie Klaus-Detlef Müller als typisch gerade für die Erscheinungszeit dieses Buches nachgewiesen hat: Um 1780 war der deutsche Roman immer noch weit mehr eine literarische Zweckform mit unmittelbaren, praktischen Ambitionen als eine selbständige dichterische Gattung, und auch die Autobiographie begann erst, sich als eigenständige Form herauszubilden. Dabei lagen gerade im Bereich des Autobiographischen wesentliche Möglichkeiten, das Realismus-Postulat - in dessen Zeichen die ästhetische Emanzipation des Romans erfolgte - angemessen zu verwirklichen. [...] Überhaupt sind Lebensgeschichte und Lebenslauf (im biographischen und autobiographischen Sinne) die geläufigsten Erzählmuster des entstehenden modernen Romans, und es ist natürlich kein Zufall, daß die Autoren in diesem Zusammenhang auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgriffen. Insoweit konstituiert sich der Roman als Gattung in Deutschland weitgehend im Zeichen der Mischgattung.10

II So entfaltet sich nun am Lebenslauf und Bildungsgang von Samuel Hartmann das „Kollektivschicksal" (S/T, S. 18) jener Jugendlichen im Herzogtum Württemberg, die von ihren Eltern zum Theologiestudium bestimmt und dem Stipendien- und Ausbildungssystem der Lutherischen Landeskirche überantwortet wurden: Vom „zehnten bis zum vierzehnten Jahre" mußten sie jährlich mit „Angstschweiß" in Stuttgart vor dem Konsistorium bereits Fleißprüfungen absolvieren (S/H, S. 66ff.) und wurden dann im 14./15. Lebensjahr zu Jahrgangsstufen von etwa 25 Stipendiaten auf die niederen Klosterschulen Blaubeuren oder Denkendorf, danach auf die höheren in Maulbronn oder Bebenhausen geschickt; dann kamen sie ins Tübinger Stift, absolvierten hier nach zwei Jahren ihren Magister, studierten anschließend ca. drei Jahre Theologie und wurden nach bestandenem Examen vor dem Konsistorium in Stuttgart als Vikare in die Gemeindepraxis geschickt (vgl. S/H, S. 199). Die Biographie schildert kritisch die repressive Erziehung in den Klosterschulen von Blaubeuren und Bebenhausen, in denen kein freiheitlicher Geist, keine neuere Literatur Platz haben (S/H, S. 87ff., 136ff.). Erst die Nachbarschaft zu Tübingen erschließt Hartmann eine neue, reiche Bücherwelt: 11 Er kam in den ersten Wochen gleich, bey einer gewissen Gelegenheit, kaum nach Tubingen, so lief er in einen Buchladen. Dies war der erste, den er sah. Daher hob sich seine ganze Seele bey dem Anblick so vieler Bucher, von welchen allen er glaubte, daß sie nichts anders als Schaze der Weisheit enthielten. Indessen andere die akademischen Vergnügungen mit geizigen (= gierigen) Zügen zum erstenmal einschlurften, war er zwischen Bu-

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Müller [Anm. 1], S. 122f. Die Verlockungen lokalgeschichtlicher Verklärung besiegen an dieser Stelle alle Skrupel im Blick auf Müllers Warnung vor dem bei Darstellung von (Auto-)Biographien üblichen „bloßen Referat von Erzählinhalten"! Müller [Anm. 1], S. 4.

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Hans-Georg Kemper ehern gleichsam begraben. Er merkte sich die Titel von vielen, um sie mit der Zeit zu kaufen; einige kaufte er gleich, so weit sein Taschengeld reichte. (S/H, S. 140f.).

Auch seine Bebenhausener Jahrgangsfreunde decken sich nun mit der zeitgenössischen schöngeistigen Literatur ein: „Der eine kaufte Gellerts, der andere Cronegks, ein dritter Bodmers Schriften, wiederum ein anderer Marmontels Erzählungen &." (S/H, S. 151) Jetzt also liest sich Hartmann in die neuere Literatur ein und beginnt selbst zu dichten. Als er auf das Tübinger Stift wechselt, fühlt er sich dort unglücklich: unfrei - er hat keinen eigenen Arbeitsplatz - , unterdrückt und überwacht. Er sehnt sich nach einem eigenen Zimmer und bittet den Vater eindringlich, Jura studieren zu dürfen. Er schildert ihm die wunderbare Aussicht, die ein Freund von seinem Stadtzimmer auf die Gegend von Bühl und Kilchberg (bis fast nach Unterjesingen...) hat: Was soll ich Ihnen von der bunten Pracht der Wiesen, von der Annehmlichkeit der vor den Augen liegenden Acker, von der Schönheit der Garten, von alle dem Vergnügen sagen, das man von der Betrachtung einer fruchtbaren Gegend haben kan, und das durch das Vorbeirauschen des Neckars nicht wenig vermehrt wurde? Ich wurde wie entzuckt, als ich die Herrlichkeit der Natur vor mir so schon ausgebreitet sah. Gott! dachte ich, wie ist dieser dein Freund so glücklich! ware es nicht Gluck genug, wenn er allein ware, ohne von jemand gestört zu werden, sollte es gleich der finsterste Winkel seyn? (S/H, S. 162)

Der Vater aber bleibt in der Sache hart. Samuel muß sein Theologiestudium im Stift beenden. Der Erzähler zeichnet ein kritisches Bild des Stift-Lebens, und sein Urteil über die erzieherische Leistung der Institution fallt ambivalent aus: Welch eine vortrefliche Anstalt ist [...] das Stift zu Tubingen! Welch eine Aussaat von künftigen Geistlichen, die zum Nuzen des Vaterlandes reifen! Welch ein Anblick fur den, der zum erstenmal in den Speisesaal tritt, und da einige hundert Kopfe vor sieht, deren viele Lavatern Herzensfreude erweckten! So vielversprechend sind manche. Nur Schade, daß sich das Vaterland nicht allemal dessen freuet, was sie versprechen! - (S/H, S. 201)

An Samuel Hartmanns seelsorgerlichen und poetischen Talenten kann sich das Vaterland ebenfalls nicht mehr lange erfreuen. Er erlebt noch zwei kurze Vikariate, ein unglückliches unter einem geizigen Pfarrherrn und ein zunächst glückliches, in dem er sich verliebt und Aussicht auf eine Pfarre hat (vgl. S/H, S. 200ff., 22Iff.); doch dann gerät er - wie Nicolais Sebaldus Nothanker12 durch unvorsichtige Äußerungen über die Apokalypse und über die Seligkeit der Heiden auf einer Synodalkonferenz überkreuz mit den Kirchenoberen und infiziert sich bei einem Krankenbesuch am „Faulfieber", also am Flecktyphus, von dem man annahm, er werde durch Atem und böse Luft übertragen, so daß man die Zimmer nur zu lüften brauche, um sich nicht anzustecken, während die Seuche doch, wie wir heute wissen, „über die Kleiderlaus übertragen" wird (S/T, S. 67).

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Vgl. Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe, hrsg. von Bernd Witte. Stuttgart 1991, S. 33ff. u.ö.

Johann Jakob Thill (1747-1772)

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Hartmanns Vikariatszeit, seine Liebe zu Louise, sein Streit mit der Kirche auf dem Sterbelager ereilt ihn die Verurteilung aus Stuttgart - und sein Tod werden dicht und anrührend geschildert. Gerade weil dieses Werk mit reichen regional- und lokalgeschichtlichen Details ein schwäbisches Erziehungs- und Bildungssystem nachzeichnet, das Gelehrte und Schriftsteller mit Weltruf - von Johannes Kepler über Hegel, Schelling und Hölderlin bis hin zu Hermann Hesse - nachhaltig geprägt hat, verdient es längst eine Neuedition und würde für seinen Verleger gewiß kein ,Konkursbuch' sein!

III Aber wer war nun dessen historischer Autor - und welche empirische Person (außer sich selbst) hatte er unter dem fiktiven Namen ,Hartmann' möglicherweise verschlüsselt dargestellt? So zu fragen, heißt anzunehmen, daß in diesem Werk nicht vorrangig wie etwa in der Romantik ein Spiel mit Autor-Fiktionen getrieben wird,13 das die Frage nach der Relevanz eines empirischen Autors zugleich aus werk- und rezeptionsästhetischer Perspektive und aus postmodernem Desinteresse an der Autor-Intention überflüssig macht,14 sondern heißt umgekehrt anzunehmen, daß das mit realistischen Details gesättigte Werk durchaus einer vorausgesetzten außersprachlichen Realität ,Ausdruck' verleihen will is und die Namens-Fiktion daher möglicherweise auf eine historische Person hin entschlüsselbar ist. Die folgenden - von mir nur zusammengefaßten - Ergebnisse entsprechender Recherchen verdeutlichen zugleich, welche auch für das Werkverständnis aufschlußreichen ,Aufklärungen' diese Fragestellung auf historisch-hermeneutischen und philologischen Wegen zu erbringen vermag: Letztlich belohnt sie uns mit der Wiederentdeckung und damit mit der Rückkehr' (mindestens) eines historischen Autors! 1792, also 16 Jahre nach Erscheinen des Werkes, bekannte David Christoph Seybold (1747-1804) seine Verfasserschaft. Er war selbst Zögling der Klosterschulen und des Stifts gewesen, war im Streit mit den Stiftsprofessoren 1769 nach Halle übergesiedelt und 1771 in Jena Professor geworden. Die letzten zehn Jahre seines Lebens (von 1795 bis 1804) wirkte er als Professor für Klassische Philologie in Tübingen (vgl. S/T, S. 13 f.). So entpuppt sich der Hartmann also auch als Autobiographie. Aber mehr noch: Erst 1813, also 35 Jahre nach Er-

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Vgl. Kaminski, Nicola: Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik. Paderborn, München, Wien, Zürich 2001, S. 41ff., 175f. u.ö. Vgl. Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone: „Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven." In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hrsg. von dens. Tübingen 1999, S. 3-35. - Dies. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000. Vgl. dazu - die Position Derridas referierend - Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000, S. 15f.

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Hans-Georg Kemper

scheinen der Wirtembergischen Klostergeschichte und neun Jahre nach Seybolds Tod, wird dessen Bekenntnis publik, er habe im Hartmann „einige Züge" seines entfernten Verwandten Johannn Jakob Thill „verwebt" und dem Werk „verschiedene seiner ungedruckt gewesenen Gedichte angehängt" (zit. S/T, S. 18). Damit wurden dreizehn der Wirtembergischen Klostergeschichte im „Anhang'" (S. 267-300) beigefügte Gedichte erst zu einem Zeitpunkt Thill zurechenbar, als dieser und der Hartmann bereits weitgehend vergessen waren! Immerhin war Thill zuvor unter schwäbischen Literaten kein Unbekannter gewesen. Er hatte zwar selbst im Blick auf das angestrebte Kirchenamt wohlweislich nichts publiziert, aber aus seinem Nachlaß hatten Freunde in Zeitschriften und Almanachen nicht wenige Gedichte veröffentlicht. So in Gotthold Friedrich Stäudlins Schwäbischem Musenalmanach und seiner Schwäbischen Blumenlese oder in Friedrich Matthissons Lyrischer Anthologie (vgl. S/T, S. 192). Schiller hatte sich anerkennend über ihn geäußert, Weggefährten Thills, die schriftstellerisch tätig geworden waren wie Gottlob David Hartmann (17521775) oder Friedrich August Clemens Werthes (1748-1817) erinnerten in Beiträgen an das Schicksal und das Werk des Frühverstorbenen (vgl. S/T, S. 7Iff.). Der neunzehnjährige frischgebackene Tübinger Stiftler Friedrich Hölderlin schrieb 1789 die alkäische Ode An Thills Grab in der von Edward Young mitinspirierten, auch von Klopstock gepflegten Mode empfindsamer Grabes-Poesie. Zunächst erinnert sich Hölderlin des eigenen, wie Thill 1772 gestorbenen Vaters, den er als „schwacher stammelnder Knabe" noch nicht ernsthaft betrauern konnte, und fahrt fort: Doch jetzt, ο Thill! jetzt fühl' ichs ernster, Schmerzender jetzt über deinem Hügel, Was hier im Grab den Redlichen Suevias (=Schwabens) Verwest, den himmelnahenden Einsamen. Und, ο mein Thill! du ließst sie Waisen (=Du ließest sie als Waisen zurück) Eiltest so frühe dahin, du guter?16

Mit dem Motiv der „himmelnahenden Einsamen" schwingt zugleich die Erinnerung an den Reichsfreiherrn Johann Friedrich von Cronegk (1731-1758) mit, der 26j ährig an den Pocken gestorben war und sich insbesondere mit seiner großen Lehrode Einsamkeiten in Sechs Gesängen sowie mit patriotischen Gesängen (unter dem Eindruck des beginnenden Siebenjährigen Krieges) Ruhm erworben hatte17 und dessen Werke die Stiftler - wie wir sahen - kauften und in Ehren hielten. Bei Cronegk heißt es: „Dich segn'n ich, Einsamkeit; du bist des Grabes Bild. / Die Seele lernt in dir sich selbsten erst empfinden, / Und sie erstaunet oft, sich selbst so groß zu finden."18 In der Einsamkeit erfahrt das Herz

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Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Hrsg. von Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit Wolfgang Braungart. Nachwort von Bernhard Böschenstein. Stuttgart 2000, S. 26. Vgl. dazu Verf.: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. VI/1. Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 319ff. Zit. ebd., S. 321.

Johann Jakob Thill (1747-1772)

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die eigene Empfindungsfahigkeit, und das Auskosten der Trauer wird fur das Ich zur Tugend-Übung: „Und edle Traurigkeit verbessert nur das Herz."19 Diese Einsicht Cronegks leitet auch Hölderlins poetische Empfindungen An Thills Grab. Das Ich empfängt an diesem stillen Ort den Mut, den „Pfad zur Vollkommenheit" - ein Schlagwort der aufklärerischen Anthropologie - zu „wagen", und zwar zusammen mit dem Freund, dessen Name das Gedicht beschließt: „mein Neuffer" - mit ihm und Rudolf Magenau schloß Hölderlin sich um 1790 zum Dichterbund im Tübinger Stift zusammen. Das anfangliche memento mori von Thills Grab wird zur Stiftungsurkunde für Freundschaft und damit für das Bedürfnis, die einengende Erziehung der Klosterschulen (für Hölderlin waren dies Denkendorf und Maulbronn) sowie des Tübinger Stifts in einem abgeschotteten Raum gemeinschaftlicher Innerlichkeit und Orientierung an großen Mustern - darunter auch Klopstock und der Göttinger Hain - sowie in einer pathetisch-abstrakten Liebe zum Vaterland zu kompensieren.20

IV Thills bescheidener - ohnehin auf Insider beschränkter - Nachruhm verblaßte schnell. Hölderlins poetische memoria sicherte dem Sozialisations- und Leidensgenossen den im Grunde einzigen literarhistorischen Ort der Erinnerung, nämlich in den Kommentaren der Hölderlin-Ausgaben zu diesem Gedicht.21 Erst jetzt - nach einigen Vorarbeiten von Götz Eberhard Hübner22 - ist es Ulrich Stolte in seiner Dissertation Frühes Idol schwäbischer Dichter: Johann Jakob Thill (1747-1772). Biographie und kommentierte Werkedition2i gelungen, Leben und Werk dieses schwäbischen Dichtertalents in aufwendigen Recherchen zu rekonstruieren. Er hat die im Hartmann gebündelten Lebensläufe durch umfangreiche Archivarbeiten im einzelnen identifiziert. Thill selbst, so zeigt sich, wuchs in Stuttgart auf, während die im Hartmann dargestellte Jugend in Gönningen eher auf seinen Freund Johann Adam Oslander und zum Teil auf Friedrich August Clemens Werthes zutrifft. Insgesamt aber gehören der weitere Bildungsgang und der Aufenthalt im Tübinger Stift zu Thills Biographie. Im Stift entstanden die „überwiegende Anzahl seiner Gedichte" und zwei Dramen, und möglicherweise haben Seybold, Werthes und Thill hier auch - als Vorläufer von Hölderlin und seinen Freunden - einen ersten Dichterbund gegründet (S/T, S. 54f.). Thill lebte fünf Jahre im Stift, wurde 1767 magistriert, Ende 1770 bestand er das theologische Examen (vgl. S/T, S. 56, 60), anschließend „ging er zu

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Zit. ebd., S. 322. Vgl. dazu Schmidt, Jochen: „Kommentar." In: Hölderlin, Friedrich. Gedichte. Hrsg. von J. S. Frankfurt/M. 1992, S. 486 (= Sämtliche Werke u. Briefe Bd. 1). Vgl. zuletzt Hölderlin [Anm. 16], S. 453; Hölderlin [Anm. 20], S. 541f. Vgl. dazu S/T, S. 113f„ 319. Vgl. Anm. 1.

Hans-Georg Kemper

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seinem Vater nach Großheppach im Remstal, um dort Vikar zu sein." (S/T, S. 61) Hier waren ihm noch eineinviertel Lebensjahre beschieden, in denen er, wie er in einem Brief berichtet, auch an vier Schriften, darunter zwei Werken zu Begriff und Geschichte des .Geschmacks', eines im 18. Jahrhundert vieldiskutierten Phänomens, arbeitete, doch sind diese Schriften verloren. Mit seiner Situation in Großheppach war Thill offenbar unzufrieden. Sein Vater scheint seine Neigung zur Poesie mißbilligt zu haben. An Seybold schrieb er im Februar 1772 nach Jena: „Ich frage Dich auf dein Gewissen, Vetter, sind die Leute bei euch auch so vor den Kopf geschlagen, wie hier zu Lande?" (S/T, S. 190) Wie in einer Todesahnung entwirft er im selben Brief einen Nachruf auf sich: Falls er heut oder morgen zu seinen Vätern versammelt werden sollte, so wird man ihm von Seiten des Küsteramts eine Grabschrift setzen, wo zu lesen steht: ,Man katin nicht sagen, was er gemacht hat: - Das weiß man wohl, daß er wenig unter den Menschen gesehen worden, und daß man sich ins Ohr sagt, er seye ein wenig hypochondrisch gewesen, er liebte gute Bücher, auch ein Mädchen, und dachte übrigens vom Küsteramte Gutes.' (S/T, S. 189)

Sechs Wochen nach diesem Brief starb Thill 24jährig am 31. März 1772 am heimtückischen Fleckfieber. Sein handschriftlicher Nachlaß, aus dem die Freunde noch für einzelne Gedichtpublikationen schöpfen konnten, ist seit Anfang des 19. Jahrhunderts nicht mehr auffindbar. So enthält die neue Werkausgabe nur die bereits verstreut publizierten Texte: immerhin 27 Gedichte, Szenenauszüge aus den Dramen Hermann (eine Bearbeitung des Arminius-Stoffes) und Der Entsatz von Wien (ein Thema aus den Türkenkriegen) sowie zwei Briefe. Die Dramen sind verloren, deshalb ist über die kurzen Auszüge kein fundiertes Urteil möglich; immerhin bezeugen sie Thills patriotische Interessen. Mit seinen Gedichten hat er sich in bemerkenswert vielen Gattungen geübt: in freundschaftlichen Gelegenheitsgedichten, im anakreontischen Scherzen ebenso wie in „Fabeln und Erzählungen" nach dem Vorbild Gellerts, er übte sich im Epigramm, im komischen Epos, schrieb Liebeslieder, geistliche Gedichte und erhabene patriotische Gesänge: ein junger Autor also, der sich rasch - wie Cronegk, der junge Goethe, Lenz, Hölty, Bürger, Voß, Schubart, Schiller und andere auch24 - ein poetisches Repertoire an Formen und Tönen zuzulegen beginnt, mit denen er insgesamt der Empfindsamkeit zuzurechnen ist.

V In zwei Bereichen zeichnen sich Schwerpunkte ab, die zugleich den Geschmack der Freunde und Zeitgenossen dokumentieren. Noch heute liest man im Kom24

Vgl. dazu Anm. 17 sowie Verf.: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. VI/2. Sturm und Drang: Genie-Religion. Tübingen 2002. - Ders.: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. VI/3. Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger. Tübingen 2002.

Johann Jakob Thill (1747-1772)

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mentar zu Hölderlins Ode An Thills Grab, Thill sei „ein von Klopstocks vaterländischer Dichtung begeisterter junger Theologe" gewesen.2S Tatsächlich verdankte er seine Bekanntheit vor allem Gedichten wie der 1774 veröffentlichten, an Klopstocks Bardenkult und Vaterlandsgesänge anknüpfenden Hymne Die tausendjährige Dauer des deutschen Kaisertums, einer überschwänglichen Huldigung an Karl den Großen als Gründer des deutschen Reiches und - im Kontext der Erfahrungen des Siebenjährigen Krieges - einer Beschwörung der Wiederkehr seiner - gegen Frankreich gerichteten - einheitsstifitenden Macht (vgl. S/T, S. 165ff.)· Im 1783 veröffentlichten Gedicht Stauffen beklagt der Sänger, daß „Staufens große Herrlichkeit" „in Staub ist hingesunken" und ruft den „schwäbischen Kyffhäuser" an: „Grauer Hügel! laß es wissen / Was Teutonien einst war" (S/T, S. 169) - analoge Töne und Sehnsüchte imitierte der Tübinger Hölderlin in seinen Gedichten Die Teck und Gustav Adolf.26 In diesen Kontext gehört auch die 1813 veröffentlichte Klage des Patrioten über den Adel, der das deutsche Reich zu wenig vor den französischen und türkischen Feinden schützt. Die für heutige Ohren martialische, im damaligen Kontext eines sich herausbildenden Patriotismus vor allem im Göttinger Hain (insbesondere bei Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Johann Heinrich Voß) nicht ungewöhnliche27 Eingangsstrophe lautet: Ο daß mein Blut fürs Vaterland, Für dich, für dich, mein Deutschland, spritzte! Ο daß mir, in erhobner Hand, Der Degen meiner Ahnen blitzte, Dann wollt' ich, glühend von Begier, So manch gefesseltes Revier Befrein, und, kühn, in meiner Jugend Kräften, Ans Louvre selbst die hohen Adler heften! (S/T, S. 158)

Der andere Schwerpunkt, den Seybold auch im Anhang des Hartmann akzentuiert, ist Thills beachtliche Liebespoesie. Das folgende Gedicht entstand 1769 während der Zeit im Stift (vgl. S/T, S. 60): Das Mädchen. Ha! Welch ein Mädchen! schöner sah Ich warlich keine nie. Wie reizend gieng das Mädchen da! Wie zaubrisch lachte sie!

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Schmidt [Anm. 20], S. 541. Hölderlin [Anm. 16], S. 14-17, 28-30. Vgl. dazu u.a. Stolbergs Lied eines deutschen Knaben oder Voß' Trinklied für Freie in: Verf. [Anm. 24], Bd. VI/3, S. 158, 164f. Vgl. zum historischen Kontext auch: Blitz, HansMartin: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000, S. 145ff., 223ff., 341ff. - Schröder, Jürgen: Deutschland als Gedicht. Über berühmte und berüchtigte Deutschland-Gedichte aus fünf Jahrhunderten in fünfzehn Lektionen. Freiburg i. Br. 2000, S. lOlflf.

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Hans-Georg Kemper Vom Purpur Überfloß der Mund, Zu schaun wars eine Lust! Wie weiß, wie jugendlich, wie rund War ihre volle Brust! Ihr Auge streute Heiterkeit Auf jedes Angesicht Und jedes Herz war hocherfreut Ob seinem sanften Licht. Leicht war ihr Kleid, ihr Schmuk ein Strauß, Von frischem Roht erhöht. Sie gieng so wie aus ihrem Hauß Die Morgenröthe geht. Ο Schönheit! die vom Himmel stammt, Wie wallt durch dich mein Blut! Ich fühls, im warmen Busen flammt Mir hoher Dichtkunst Glut. Du kommst in anmuthvoller Pracht, Du bists, die mich entzükt, Stets heiter, wann der Morgen lacht, Und wenn der Abend blizt. Es zeige dein geweihter Strahl Zum Pindus mir die Bahn, Dann schreibt bei andrer Dichter Zahl Auch mich Apollo an. (S/T, S. 152)

Das Gedicht ist einerseits traditionell: von der damals beliebten Chevy-ChaseStrophe (vier- und dreihebige jambische Verse im Wechsel mit Kreuzreim und durchgehend männlich-stumpfem Ausgang) über die Einzelmotivik mit dem Lobpreis weiblicher Schönheit durch Beschreibung einzelner Körperteile - das hat vom Hohenlied bis zu Petrarkismus und Anakreontik vielfache Tradition (der Vergleich in Strophe 4 spielt auf Hl. 6,10 an) - bis hin zum implizit poetologischen Vollzug des durch die Schönheit ausgelösten Aufschwungs, der lyrischen .Erhebung' zum ,Pindus', dem heiligen Musenberg, auf dem Apollo, der Gott der Musen und der Dichtkunst, das Ich unter die Zahl der Dichter aufnimmt. Andererseits hat das Gedicht in der deutschen Liebeslyrik des 18. Jahrhunderts aber auch Seltenheitswert. Denn wo gibt es sonst eine so anschauliche, sinnliche, weder lüstern-frivole noch neuplatonisch-verkrampfte und doch lustvoll-genaue Betrachtung weiblicher Anmut? In der galanten Dichtung um 1700, in der nachfolgenden Anakreontik und Rokokolyrik kam diese entweder zweideutig und ,witzig'-pointiert oder puttenhaft-kindisch, frivol .scherzend' (in der musa iocosa) und in mythologischer Verbrämung zur Sprache.28 Allenfalls in der heiteren Bukolik und Idyllendichtung wagte man im Schäferkostüm einen 28

Vgl. Verf.: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. V/2. Frühaufklärung. Tübingen 1991, S. 173ff.

Johann Jakob Thill (1747-1772)

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Blick auf weibliche Reize in einer künstlich bemühten Natürlichkeit.29 Thills Gedicht dagegen besticht - wie einige Jahre später dann auch Höltys Liebeslyrik30 - durch die empfindsame Einfachheit, mit der die Schönheit und Anmut des Mädchens beschrieben und seine erotische Ausstrahlung affekthaft vergegenwärtigt wird: „Zu schaun wars eine Lust! / Wie weiß, wie jugendlich, wie rund / War ihre volle Brust!" Auch die anderen Mädchenporträts und Liebesgedichte Thills zeichnen sich durch eine theologisch angstfreie, unprüde , SchauLust', durch ein ästhetisch gebändigtes erotisches Wohlgefallen aus. So etwa in dem ebenfalls 1769 entstandenen und der Idyllentradition zuzuordnenden Porträt Das schöne Bauermädchen: Jugendlich geblähet winkt Vom erhabnen Mieder Schon der kleine Busen, sinkt Und erhebt sich wieder. Weisser ist er, als der Schaum An des Lichts Gestaden, Wallet, wie der Fluten Saum, Wann sich Weste Baden. (S/T, S. 150)

So etwas hat der junge Goethe nicht gedichtet, als er 1770 und damit nur ein Jahr später durch seine Begegnung mit Friederike Brion in Sesenheim zum Begründer der Erlebnislyrik und damit eines neuen Typs von Liebeslyrik wurde. In Willkomm und Abschied werden ihr „süßer Blick" und ihr „liebliches Gesicht" erwähnt,31 im „Maifest" erscheint ,sie' erst in Strophe 5: Ο Mädchen Mädchen Wie lieb' ich dich! Wie blinkt dein Auge! Wie liebst du mich! 32

Das ist alles über die Pastorentochter! Ihre Reize werden in sublimere Regionen des Gedichts verschoben, und deshalb ist in den Friederike-Liedern auch nur vom Dichter-„Busen" die Rede, dem so bänglich zumute ist, weil er vom Schlafen träumt und sich dies doch nicht zu reimen traut: „Schwer lag auf meinem Busen / Des Reimes Joch. / Die schönste meiner Musen, / Du - schliefst ja noch."33 Als sich - wieder ein Jahr später - der Theologiestudent Jakob Michael Reinhold Lenz in Friederike verliebt, ängstigt er sich geradezu vor ihrer sinnlichen Erscheinung und ringt in seinem ersten Liebesgedicht allen Ernstes um neuplatonische Fassung - es ist ein an Gott gerichtetes Gebet (im folgenden die Schlußstrophen): 29 30 31

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Vgl. Verf. [Amn. 24], Bd. VI/3, S. 226ff„ 383f., 427f. Vgl. ebd., S. 179fiF. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Gedichte 1756-1799. Hrsg. von Karl Eibl. Darmstadt 1998, S. 283. Ebd., S. 130. Ebd., S. 133.

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Hans-Georg Kemper Herr ich sähe ein Mädchen - so wie dieß Muß es ein Mädchen seyn Die edle Gottes Seele flammt im Auge Lieb, Unschuld, Größe, Wärme, Adel! Ach Gott! Mich däucht' ich sähe das Bild Das vor meiner Seele schwebt'. Die gantze Seele fing an sich zu heben Noch nie gefühlte heilige Erschütterung Durchschauert' jede Nerve mir Der Geist wuchs - Ich liebte dich reiner Ich fühlte mir Kraift Tugend zu üben Wie ich zuvor nie sie gefühlt. 34

Das ist platonische Liebe! Das Bild des Mädchens wird zur Lichtgestalt sublimiert und dient dann als religiöse Mittlerin und Seelenfuhrerin zu Gott. In Thills Mädchen-Porträt ist auch Neuplatonismus im Spiel. Doch hier erwächst die Begeisterung - der poetische furor oder Enthusiasmus - ganz aus der unausgeblendeten Sinnlichkeit und erotischen Attraktivität der weiblichen Erscheinung. Und von daher wirkt es unverkünstelt und natürlich, wenn das Ich als Sprecher des Gedichts diese „Schönheit" in ihrer psychophysischen Einheitlichkeit und ästhetischen Vollkommenheit als Abbild und symbolischen Ausdruck göttlicher Schönheit erfährt, wodurch sich sein sympathetisches Gefühl und durch dieses wiederum die „Glut" der dichterischen Begeisterung regen: Ο Schönheit! die vom Himmel stammt, Wie wallt durch dich mein Blut! Ich fuhls, im warmen Busen flammt Mir hoher Dichtkunst Glut.

Und dies vom Himmel abstammende und wieder „verhimmelnde" Gefühl trägt den Dichter auf den heiligen „Pindus" unter seinesgleichen. Diese Vorstellung von einem im heutigen Sinne .erotischen' und deshalb , selig' machenden Eros brach sich bei Thill erst recht Bahn, als er seine Geliebte und baldige Braut .Louise' - die historische Identität ist nicht zu ermitteln - kennengelernt hatte und heiraten zu können hoffte. Seybold hat im Hartmann dazu ein Stimmungsbild von Sylvester 1771 entworfen: Den lezten Abend des Jahres brachte er ganz allein auf seinem Stubchen zu, und seine ganze Seele versank in Aussichten in die Zukunft. Wird Louise die Meinige werden? - war das grosse Problem, das sie zu entwickeln sich bemuhete - Sie wirds! sie wirds! - und nun hupfte er in der Stube umher, und sang das Lied, das wir in der Zugabe mittheilen. (S/H, S. 247)

Das Lied hat folgenden Wortlaut:

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Vonhoff, Gert: Subjektkonstitution in der Lyrik von J.M.R. Lenz. Mit einer Auswahl neu herausgegebener Gedichte. Frankfurt/M. u.a. 1990, S. 208.

Johann Jakob Thill (1747-1772)

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Neujahr 1772 Sieh! das schönste seiner Brüder, Dieses Jahr, mit Myrthenlaub geziert, Fährt zur Erde sanft hernieder, Das uns zum Altare Hymens fuhrt. Voll Entzücken bald zu sinken An die schönste mir geweihte Brust, Und den Liebeskelch zu trinken Ο Louise! welche Götterlust! Nichts erhabnere, als die Liebe, Freundin, glaub' es, sieht der Sonne Blick. Diese zarten, reinen Triebe Schuf ein Gott in uns zu unserm Glück. Jahre werden Augenblicke In dem Arme wahrer Zärtlichkeit. Aber Einen dieser Augenblicke Gäben wir nicht um die Ewigkeit. (S/T, S. 162f.)

Ist das nicht ein kühnes Gedicht, in dem sich ein Theologe fast um seine Seligkeit schreibt? Ein Gedicht jedenfalls, in dem sich (in der syntaktisch und semantisch mehrdeutigen Schlußzeile von Strophe 3) der Glaube an einen „Gott in uns" artikuliert, der an den von Ovid ausgehenden Inspirationstopos vom „Deus in nobis" erinnert und vom Sprecher erneut mit der Liebe verknüpft wird, einer nicht vom Sündenfall moralisch beschwerten, sondern schuldfreien, zärtlichen und gleichwohl sinnlichen Liebe, die „uns zu unserm Glück" beschieden ist und uns im „Augenblick" schon „Ewigkeit" und damit ewige Seligkeit verheißt! Ein Gedicht ganz aus dem Herzen gesprochen - kühner hat kein Stürmer und Dränger die Religion der Liebe gepriesen! Vielleicht hätte sich Thill - auch andere Liebesgedichte weisen darauf hin in diese Richtung weiterentwickelt, wenn nicht der Allvater ihm - vielleicht zur Strafe - hätte die Kleiderläuse über die Leber laufen lassen. So starb ein vielversprechendes Talent. Unser Dank, wenigstens diese Gedichte wieder verfügbar zu haben, mischt sich deshalb mit dem Verständnis für die Klage Gotthold Friedrich Stäudlins: „Aber es scheint das Schiksal der besten schwäbischen Köpfe zu seyn, in der Blüte zu verwelken." (Zit. in S/T, S. 76).

Maria Moog-

Grunewald

Die ,Malerei' der Poesie Diderot über Greuze

Aber der Dichter soll immer malen.1 I

Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz: während Denis Diderot mit einer sich steigernden Verve die Kritiken der biennalen Salons, jener alle zwei Jahre stattfindenden Ausstellungen kontemporaner Kunst, für die Abonnenten der Correspondance litteraire schreibt,2 verfaßt Gotthold Ephraim Lessing den Laokoon, jene Schrift, die „über die Grenzen der Malerei und Poesie" reflektiert, genauer: der Malerei und der Poesie ihre jeweiligen Grenzen weist. Für Diderot scheint das Ideal einer Kunstbeschreibung darin zu bestehen, Sprache und Stil in ein möglichst .bequemes Verhältnis' zum beschriebenen Kunstgegenstand zu bringen: Pour decrire un Salon ä mon gre et au vötre, savez-vous, mon ami, ce qu'il faudrait avoir? Toutes sortes de goüt, un cceur sensible ä tous les charmes, une äme susceptible d'une infinite d'enthusiasmes differents, une variete de styles qui repondit ä la variete des pinceaux; [...] dites-moi, ou est ce Vertumne-lä?3

Wandlungsfahig wie Vertumnus habe der Stil der Sprache ganz in Analogie zum Stil des Kunstwerks bald sinnlich und ausladend, bald einfach und wahr, bald fein und bald pathetisch oder gar illusionistisch zu sein4 - mit dem Ziel, einen möglichst wahrhaftigen Eindruck von den Gemälden, den Zeichnungen, den Skulpturen zu vermitteln, mithin die Grenzen zwischen Poesie und Malerei

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Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner u.a. Bd. 5.2. Frankfurt/M. 1985-98, S. 11-321, hier S. 124. Die Abonnenten der exklusiv verbreiteten und nur handschriftlich vervielfältigten Grimmschen Correspondance litteraire waren europäische Fürsten, u.a. die russische Zarin, die sich für ihre Pariser Kunstkäufe nicht zuletzt durch Diderots Kritiken beeinflussen ließ. Diderot verfaßte zu insgesamt sieben Ausstellungen der Jahre 1759 bis 1771 Berichte, die in immer größerem Maße den Charakter von Kunstreflexionen gewannen. Diderot, Denis: „ A r t s e t lettres (1739-1766). Critique I: Salon de 1763." Edition critique et annotee, presentee par Jean Varloot et al. In: Diderot, CEuvres completes. Τ. ΧΙΠ. Paris 1980, S.341. Ebd.: „[...] pouvoir etre grand ou voluptueux avec Deshays, simple et vrai avec Chardin, delicat avec Vien, pathetique avec Greuze, produire toutes les illusions possibles avec Vemet."

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Maria Moog-Grtinewald

wenn nicht aufzuheben, so doch zu überspielen. Ganz anders Lessing, der luzide die semiotischen Differenzen hervorhebt: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Räume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander, [...] aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander [...] folgen.5

Nüchtern konstatiert Lessing, daß jedes Zeichensystem seine ihm eigene Domäne hat: die Zeichen der Malerei - Figuren und Farben - erstrecken sich im Raum und die der Poesie - Töne - in der Zeit. Das Wesen beider Zeichensysteme aber ist die .Nachahmung',6 ist die Intention, in ein „bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten"7 zu treten. Insofern nun zwischen Zeit und Raum, Visualität und Skripturalität resp. Phonizität eine wesensmäßige Differenz besteht, sind auch die Weisen der .Nachahmung', wie sie jeweils der Poesie und der Dichtung eignen, gänzlich differente. Die unausdrückliche Folgerung ist nun - Lessing verweist darauf ja nurmehr implizit syllogistisch 8 - , daß die Malerei weder die Dichtung noch die Dichtung die Malerei .nachzuahmen' vermag, somit auch das insbesondere seit der Epoche der Renaissance virulente ,Ut pictura poesis'-Theorem keine Geltung beanspruchen kann. Damit wäre wiederum implizit - den kunstkritischen, ja kunstpoietischen Versuchen Diderots eine Absage erteilt, wäre die Absicht, die .Feder dem Pinsel anzupassen',9 als illusorisch entlarvt. Doch man sollte Lessings Laokoon genau lesen: die semiotische Differenz der Künste ist zugleich ihre Provokation. Insonderheit der Poet soll - im Unterschied zum Prosaisten - den Hörer resp. den Leser über die Mittel, die er verwendet - willkürliche Zeichen aufeinanderfolgend in der Zeit ,täuschen': Der Poet will nicht bloß verständlich werden, seine Vorstellungen sollen nicht bloß klar und deutlich sein; [...] er will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte, bewußt zu sein aufhören. 10

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Lessing: Laokoon [Anm. 1], S. 116. Es wird hier deutlich, daß ,Nachahmung' nicht so sehr im Sinne von imitatio naturae noch im Sinne von imitatio auctorum zu verstehen ist, als vielmehr im Verständnis von Formund Stiladäquanz gebraucht ist. Siehe dazu: Stierle, Karlheinz: „Das bequeme Verhältnis. Lessings ,Laokoon' und die Entdeckung des ästhetischen Mediums." In: Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, hrsg. von Gunter Gebauer. Stuttgart 1984, S. 23-58. Einen Syllogismus konstatiert auch: Todorov, Tzvetan: .Ästhetik und Semiotik im 18. Jahrhundert. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon." In: Das Laokoon-Projekt [Anm. 5], S. 9-22, hier S. 14, allerdings mit anderem Resultat als dem von uns vorgeschlagenen. Vgl. oben das Zitat: „avoir [...] une variete de styles qui repondit ä la variete des pinceaux". Lessing: Laokoon [Anm. 1], S. 124.

Die,Malerei'

der

Poesie

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Mithin ist es das Spezifikum der Poesie, sich der Malerei in höchstmöglichem Grade anzunähern, sie .nachzuahmen', indem sie sucht, unmittelbar sinnlich zu werden, kurz: ein „poetisches Gemälde" zu sein: „Aber der Dichter soll immer malen." 11 Mit dieser Forderung hat Lessing den rhetorischen B e g r i f f der εναργεια}1 fur ein poetisches Verfahren reklamiert und zugleich ein Kriterium fiir das Maß an Poetizität benannt: die Ikonizität des Textes. Diderot seinerseits hat schon in der mehr als eineinhalb Jahrzehnte früher erschienenen Lettre sur les sourds et muets13 über das Spezifikum der poetischen Sprache reflektiert und bündig bemerkt: „[...] toute poesie est emblematique." 1 4 ,Emblematisch' ist die Poesie in dem Sinne, daß res und verbum intentional übereinkommen, daß idealiter das Zeichen selbst die Sache ist: einer Hieroglyphe 1 5 gleich soll das Bezeichnende das Bezeichnete .nachahmen', es ,malen', w i e Diderot es in der ihm eigenen anschaulichen Rede zum Ausdruck bringt: II passe alors dans le discours du poete un esprit qui en meut et vivifie toutes les syllabes. Qu'est-ce que cet esprit? [...] c'est lui qui fait que les choses sont dites et representees tout ä la fois; que dans le meme temps que l'entendement les saisit, l'äme en est emue, l'imagination les voit et Poreille les entend, et que le discours n'est plus seulement un

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Ebd. Vgl. dazu Quintilian: Institutions oratoriae libri ΧΠ. Hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn. 2 Bde. 2. Auflage, Darmstadt 1988, VI. 2. 32: „[...] die εναργεια [Verdeutlichung], die Cicero ,illustratio' [Ins-Licht-Rücken] und ,evidentia' [Anschaulichkeit] nennt, die nicht mehr in erster Linie zu reden, sondern vielmehr das Geschehen anschaulich vorzuführen scheint [...]." V E . 3.62: „Eine große Leistung ist es, die Dinge, von denen wir reden, klar und so darzustellen, daß es scheint, als sähe man sie deutlich vor sich." Vgl. dazu: Scholz, Bernhard F.: ,„Sub oculos subjectio'. Quintilian on Ekphrasis and Enargeia." In: Pictures into Words. Theoretical and Descriptive Approaches to Ekphrasis, ed. by Valerie Robillard and Elf Jongeneel. Amsterdam 1998, S. 71-97, sowie Moog-Grünewald, Maria: „Der Sänger im Schild - oder: Über den Grund ekphrastischen Schreibens." In: Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, hrsg. von Heinz J. Drügh und Maria Moog-Griinewald. Heidelberg 2001, S. 1-19. Die Lettre sur les sourds et muets ist 1751 erschienen. Diderot, Denis: „Le nouveau Socrate. Idees Π: Lettre sur les sourds et muets ä I'usage de ceux qui entendent et qui parlent." Texte etabli et presente par Jacques Chouillet. In: Diderot, (Euvres completes Τ. IV. Paris 1978, S. 109-233, hier S. 169. Die unaufhebbare Differenz zwischen Malerei und Poesie, auch Musik liegt darin, daß letztere ,nur' emblematisch sind: „C'est la chose meme que le peintre montre; les expressions du musicien et du poete n'en sont que des hieroglyphes." (Ebd.: S. 185). Diderot gebraucht die Begriffe ,Emblem' und .Hieroglyphe' weitestgehend synonym im Sinne von .Symbol', das die Valenz einer ,Ikon' gewinnt. Der Versuch, Diderots Verständnis von .Hieroglyphe' und ,Emblem' aus der Hieroglyphenkunde und der Emblematik der frühen Renaissanceepoche zu erklären (so Doolittle, James: „Hieroglyph and Emblem in Diderot's ,Lettre sur les sourds et muets'." In: Diderots Studies Π, ed. by Otis Ε. Fellows and Norman L. Torrey. Syracuse 1952, S. 148-167) fuhrt zu weit, erkennt nicht den reduktionistischen Gebrauch der Begriffe im 18. Jahrhundert. Vgl. hingegen Buchs, Amaud: „Diderot: ecrire la peinture. Poetique de la Lettre sur les sourds et les muets [sie!]." In: Poetique31 (2000), S. 115-124.

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Maria Moog-Grünewald enchainement de termes energiques qui exposent la pensee avec force et noblesse, mais que c'est encore un tissu d'hieroglyphes entasses les uns sur les autres qui lapeignent}6

Der Poesie eignet es - im Unterschied zur Prosa und auch zum oratorischen Stil-, das ins Wort Gesetzte zu .repräsentieren', anschaulich zur unmittelbaren Vorstellung zu bringen, in sinnliche, imaginative und intellektuelle Wahrnehmung synästhetisch zugleich anzusprechen. Damit ist die Möglichkeit einer analogen Wirkung von Wort und Bild und auch Ton intendiert.17 Produktionsästhetisch gilt es, Verfahren zu finden, diese Wirkung zu erzielen, ein - um im Sprachbild Diderots zu bleiben - ,Hieroglyphengewebe' zu schaffen, das in der Verdichtung syntagmatischer Paradigmen18 die Linearität der Sprache in die Simultaneität eines Bildes zu überfuhren sucht. Ein Versuch sind die .Bildreflexionen' der Salons.

II Eine Ikone der Diderotschen Kunstkritik ist die Beschreibung eines Bildes von Greuze, das seinen Ruhm eben dieser Beschreibung verdankt: La jeune fille qui pleure son oiseau mort.19 Der in Rede stehende Text zeigt jedoch, daß die zu seiner Kennzeichnung üblicherweise und mangels anderem gebrauchten Begriffe der Kunstkritik und der Bildbeschreibung nicht treffend sind. Denn tatsächlich handelt es sich um einen Dialog mit dem Bild, näherhin mit dem auf dem Bild dargestellten Mädchen, wobei ein weiterer fiktiver Betrachter des Bildes in den Dialog einbezogen wird. Auf diese Weise wird das Bild selbst dialogisiert und somit überfuhrt in einen dialogischen Text, der unterderhand eine Eigenständigkeit, eine eigene, vom Bild letztlich unabhängige Wirklichkeit gewinnt. Ganz im Sinne der ekphrasis20 wird der Hörer resp. der Leser zwar zum

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Lettre sur les sourds et muets [Anm. 14], S. 169; Hervorhebung von MMG. Ebd., S. 182: „[...] rassembler les beautes communes de la poesie, de la peinture et de la musique, en montrer les analogies, expliquer comment le poete, le peintre et le musicien rendent la meme image, saisir les emblemes fugitifs de leur expression, examiner s'il n'y aurait pas quelque similitude entre ces emblemes, etc. c'est ce qui reste ä faire [...]." Im oben zitierten Text: ,,[U]n tissu d'hieroglyphes entasses les uns sur les autres". Die Bezugnahme des Diderotschen Textes auf das Gemälde von Greuze ist bereits Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Zu nennen sind u.a.: Dieterle, Bernhard: Erzählte Bilder - Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Marburg 1988, S. 19-29; Schmitz-Emans, Monika: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Würzburg 1999, S. 59-87, insbes. S. 68-78. Zur ekphrasis in der Antike siehe den umfassenden Artikel von C. Downey in: RAC 4 (1959), Sp. 921-944, sowie den in die Neuzeit weiterfuhrenden Beitrag von Bernhard F.Scholz in: Der Neue Pauly 13(1999), Sp.940-942. Vgl. außerdem die knappe Übersicht von Graf, Fritz: „Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike." In: Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis in die Gegenwart, hrsg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995, S. 143-155 sowie den oben zitierten Artikel von Scholz: „,Sub oculos subjectio'" [Anm. 12].

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Betrachter, doch mehr noch wird der ekphrastisch konditionierte .Betrachter' zum Leser eines Textes, der paradoxerweise über die ihm eigene Textualität hinwegzutäuschen sucht, indem er seine ,Bildhaftigkeit' herausstellt: Eine aemulatio des Textes mit dem Bild hat statt — ,gemalt' wird mit Worten und Tönen, nicht mit Farben und Linien. Entscheidend aber ist der Effekt, den man in Abänderung des berühmten Konzepts von Roland Barthes 21 als ,effet de peinture', allgemeiner als ,effet d'image' bezeichnen könnte und der tatsächlich ein textuell hervorgebrachter Effekt der Simultaneität in der Linearität 22 ist. Erreicht wird dieser Effekt durch die Inszenierung einer Übergängigkeit, j a Durchlässigkeit der beiden Medien, des Literalen und des Pikturalen, der Beschreibung und der Veranschaulichung, des Evozierens und des Reflektierens; sodann im ganzen durch die Performanz des Textes, der einerseits die ihm eigenen Möglichkeiten der Grenzüberschreitung zur Schau zu stellen sucht, anderseits aber die unüberwindliche Begrenztheit der Sprache in dem gewählten Thema, der thematischen .Färbung' des Textes zum Ausdruck bringt: in der den Text grundierenden Trauer über einen Verlust. 23 Der Text, dem der Titel des Bildes vorangestellt ist, beginnt mit einer dreifachen exclamatio: „La jolie elegie! le joli poeme! la belle idylle que Gessner en ferait!" und der - scheinbar - klärenden Ergänzung: „C'est la vignette d'un morceau de ce poete. Tableau delicieux, le plus agreable et peut-etre le plus interessant du Salon." 24 Unvermittelt wird das Gemälde mit Prädikaten apostrophiert, die der Kennzeichnung poetischer Werke dienen: Das Gemälde ist ein Gedicht, genauer eine Elegie bzw. eine Idylle, ja es könnte vortrefflich einem Stück von Gessner, dem gefeierten Idyllendichter, 25 als Vignette beigefügt sein. Damit sind von Anfang an die Seiten gewechselt: nicht der Text ist bestrebt, dem Bild in seiner generischen Eigenart gerecht zu werden, vielmehr wird das

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Barthes, Roland: „,Effet de reel'." In: Barthes, CEuvres completes. Tome Π: 1966-1973. Ed. etablie et presentee par Eric Marty. Paris 1994, S. 479^184. Diderot schreibt im an Melchior Grimm adressierten Vorwort zum Salon von 1765: ,Je vous decrirai les tableaux, et ma description sera telle qu'avec un peu d'imagination et de goüt on les realisera dans l'espace et qu'on y posera les objets a peu pres comme nous les avons vus sur la toile; [...]." (Diderot, Denis: „Salon de 1765. Essais sur la peinture Beaux-Arts I." Edition critique et annotee presentee par Else Marie Bukdahl, Annette Lorenceau et Gita May. In: Diderot, CEuvres completes. Τ. XIV. Paris 1984, S. 3-332, hier S. 26. Vgl. hierzu Kofinan, Sarah: Melancolie de Part. Paris 1985. Kofman hat allerdings nur das Gemälde von Greuze im Blick; auf den Diderotschen Text, aus dem sie gleichwohl eine Passage zitiert, geht sie nicht näher ein. Ebd., S. 179-184, hier S. 179. Mit seinen 1756 erschienenen und in den Jahren 1760 bis 1762 von M. Huber mit Unterstützung von Diderot ins Französische übersetzten Idyllen erlangte der Zürcher Salomon Gessner europäischen Ruhm. Der Zürcher und Wahlpariser Jakob Heinrich Meister hat 1773 eine Ausgabe mit von ihm ins Französische übersetzten Idyllen Gessners und Erzählungen Diderots besorgt: Contes moraux et Nouvelles Idylles de D[iderot] et Salomon Gessner. Zurich 1773; die deutsche Ausgabe mit entsprechender Übersetzung der Diderotschen Contes erschien ein Jahr vorher gleichfalls bei Orell, Gessner, Füssli u. Comp, in Zürich.

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Bild in seiner Eigenart nurmehr in Analogie zum Gedicht, näherhin zur Elegie und zur Idylle vorstellbar. Mit dieser Wendung aber wird in zweifacher Hinsicht das wesentliche Merkmal des Bildes erschlossen und zugleich das Genre des Textes vorgegeben: als ,Idylle' 26 weisen Bild und Text in die Zeit des „goldnen Weltalter(s)" und in den Raum „unverdorbener Natur",27 und als ,Elegie' bekennen sie den Verlust idyllischen Lebens, die Unwiederbringlichkeit von Einfachheit und Natürlichkeit, von Tugendhaftigkeit und unschuldigem Liebesglück. Der Text seinerseits sucht diese spannungsreiche Dialektik dialogisch auszuagieren, indem er allein die sichtbare .Oberfläche' des Bildes in Sprache bringt, den ,prägnanten Augenblick', 28 den das Bild festhält, in eine Geschichte überführt, die als poetisches Bild mit dem Gemälde konkurriert. Unvermittelt, ,präsentisch' setzt daher die Beschreibung des Gemäldes ein: ein Mädchen, das - in sich gekehrt, den Blick vom Betrachter abgewandt 29 - den Kopf in die linke Hand legt und den Ellbogen auf einen leeren Käfig stützt, auf dem ein toter Vogel mit herabhängenden Flügeln liegt; nachdenkliche Trauer überschattet das zarte Gesicht, auf dem sich gleichwohl ein gewisser Selbstgenuß abzeichnet. ,Dolendi voluptas' ist denn auch der Ausdruck nicht allein der Miene, vielmehr des gesamten Arrangements im ganzen wie in seinen Teilen: der Niederschlag der Augen, die leichten Rundungen des Armes und die fleischliche Fülle der Hand, die fast laszive Nachlässigkeit des Tuches um die Schultern, sodann das ornamentale Arrangement der Blumen, der nach hinten gebeugte Kopf und die

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Die Fiktion einer in Raum und Zeit ,idyllischen' Existenz als Gegenentwurf .bürgerlicher' Intimität hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine außerordentliche Wirkmächtigkeit. Vgl. dazu das von Helmut J. Schneider herausgegebene und mit einem Nachwort versehene Bändchen: Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen. Frankfurt/M. 1981 sowie grundlegend zur Gattung und ihrer Geschichte: Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. 2. Aufl. Stuttgart 1978. Gessner, Salomon: „An den Leser." In: Gessner, Idyllen von dem Verfasser des Daphnis. Zürich 1756: „Diese Idyllen sind die Früchte einiger meiner vergnügtesten Stunden; denn es ist eine der angenehmsten Verfassungen, in die uns die Einbildungs-Kraft und ein stilles Gemüth setzen können, wenn wir uns mittelst derselben aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen. [...] [die Ekloge] schildert uns ein goldnes Weltalter, das gewiß einmal da gewesen ist, denn davon kan uns die Geschichte der Patriarchen überzeugen, und die Einfalt der Sitten, die uns Homer schildert, scheint auch in den kriegerischen Zeiten noch ein Überbleibsel desselben zu seyn. Diese Dichtungs-Art bekömmt daher einen besondern Vortheil, wenn man die Scenen in ein entferntes Weltalter sezt; [...]" (Zit. nach: Gessner, Salomon: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hrsg von E. Theodor Voss. Stuttgart 1973, S. 15f. Vgl. dazu Barthes, Roland: „Diderot, Brecht, Eisenstein." In: Barthes, L'obvie et l'obtus. Essais critiques ΙΠ. Paris 1982, S. 86-93. Auch in: Barthes, (Euvres completes. Tome Π: 1966-1973. Ed. etablie et presentee par Eric Marty. Paris 1994, S. 1591-1596. Vgl. dazu: Fried, Michael: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot. Berkley, Los Angeles, London 1980. Fried untersucht u.a. die „primacy of absorption in French painting and criticism of the early and mid 1750s" als Reaktion auf den Stil des Rokoko (ebd., S.35). Diderot werde insbesondere als Kritiker von Greuze zum herausragenden Theoretiker der .absorption': „Diderot's statement is the most forthright assertion of the primacy of considerations of absorption that we have so far encountered." (Ebd., S. 56).

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nach oben gespreizten Beine des toten Vögelchens changieren zwischen .Idylle' und ,Elegie', konkreter: zwischen .Natürlichkeit' und ,Künstlichkeit', .Wahrheit' und .Wahrscheinlichkeit'. Naivität und Bewußtsein treten in ein unauflösbares Spannungsverhältnis. Die Faszination, die von diesem und anderen Bildern des Genremalers Greuze auf Diderot und die Zeitgenossen ausgeht, liegt darin, daß mit den malerischen Mitteln eines Boucher ,Natur' und die .Empfindungen der Unschuld' (zurückgewonnen werden: die Frivolität des Rokoko ist bürgerlicher Empfindsamkeit unterlegt. Es ist nun genau diese Färbung, die auch das .poetische Gemälde' Diderots bestimmt. Die Anschaulichkeit des Textes, seine unmittelbare .Anrührung' ist Folge einer Sprache und eines Stils, der einfachste rhetorische Mittel mit höchster Raffinesse einsetzt. Nicht eine Beschreibung des Bildes wird gegeben, sondern eine Folge von exclamationes und deixeis suchen der Wirkung des Gesehenen auf den Betrachter Ausdruck zu verleihen - der Wirkung der Natürlichkeit und der Schönheit, der Eleganz und der Anmut: Comme eile est naturellement placee! Que sa tete est belle! qu'elle est elegamment coiffee! Que son visage a d'expression! Sa douleur est profonde, eile est ä son maleur, eile y est toute entiere. Le joli catafalque que cette cage! Que cette verdure qui serpente autour a de grace! Ο la belle main! la belle main! le beau bras! Voyez la verite des details de ces doigts, et ces fossettes, et cette mollesse et cette teinte de rougeur dont la pression de la tete a colore le bout de ces doigts delicats, et le charme de tout cela. 30

Gleich den Trauben des Zeuxis31 eignet dem Dargestellten eine derart mimetische Kraft, daß man es für wirklich halten könnte: On s'approcherait de cette main pour la baiser, si on ne respectait cette enfant et sa douleur. [...] Bientot on se surprend conversant avec cette enfant et la consolant. Cela est si vrai, que voici ce que je me souviens de lui avoir dit ä differentes reprises. 32

Mit der den ,Trauben'-Topos ironisierenden Vorgabe33 täuschender Ähnlichkeit, ja der .Wahrheit', wird ein monologischer Dialog in Gang gesetzt. Dessen Zweck scheint es zu sein, in Erfahrung zu bringen, worin der Grund des Schmerzes des Mädchens tatsächlich besteht. Greuze, so erfahrt man, hat schon einmal dasselbe Sujet gemalt: Vor einen zerbrochenen Spiegel hat er ein großes, von tiefer Melancholie erfülltes Mädchen in einem weißen Satinkleid gestellt. Doch - so die spöttische Warnung - man sollte ebensowenig glauben, die Tränen des jungen Mädchens dieses Salons seien auf den Verlust eines Vogels zu-

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Salon de 1765 [Anm. 22], S. 179. So die berühmte und immer wieder zitierte Passage aus Pliniusd. Ä.: Naturalis historiaXXXV, 65: „[...] cum ille [sc. Zeuxis] detulisset uvas pictas tanto successu, ut in scaenam aves advolarent; [...]." Zur Kritik dieses naturalistischen Kunstverständnisses und seiner Rezeption in der Kunstgeschichte siehe: Bryson, Norman: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks. München 2001, S. 25ff. (Zuerst: Vision and Painting. The Logic of the Gaze, 1983.) Salon de 1765 [Anm. 22], S. 180. Der Unterschied zum Text des Plinius d. Ä. [Anm. 31] ist absichtsvoll durch den präsentischen Irrealis ,markiert'.

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rückzuführen wie die Trauer des jungen Mädchens in der vorherigen Ausstellung auf einen zerbrochenen Spiegel:34 „Cette enfant pleure autre chose, vous dis-je. [...] Cette douleur! Ä son äge! Et pour un oiseau!"35 Längst ist an dieser Stelle des Textes mit Hilfe des inszenierten Dialogs insinuiert, daß die Betrübnis des jungen Mädchens (noch) einen anderen Grund, ja möglicherweise zwei Gründe haben könnte: der Verführung eines jungen Mannes erlegen zu sein,36 zudem Zweifel an dessen Treue zu haben, ja furchten zu müssen, den Geliebten zu verlieren. Der Tod des Vogels - gar ein Geschenk des Geliebten? - wäre somit nurmehr eine Folge der Unachtsamkeit des Mädchens: die jegliche Aufmerksamkeit absorbierende Konzentration auf die eigenen Gedanken hätte es den Vogel vernachlässigen lassen. Doch die Einfachheit der Frage und die supponierten Antworten täuschen über deren wahre Intention. Denn die Frage nach dem Grund der Trauer hat nicht in allererster Linie die Funktion, eine Antwort zu finden, vielmehr einen Text zu generieren, genauer einen Dialog zu fingieren, der, unabhängig vom Bild und doch auf dieses verweisend, ein Tableau entwirft, das seinerseits aus einer Serie von Tableaux besteht; sie hat die Funktion, jene Einheiten, von denen Diderot sagt, daß sie gleichermaßen als Szenen eines Bühnenstücks wie als Sujets von Gemälden37 sich eigneten, wenn nicht in eine geschlossene Form zu bringen, so doch als Canevas zu skizzieren: „[...] si un ouvrage dramatique etait bien fait et bien represente, la scene offrirait au spectateur autant de tableaux reels qu'il y aurait dans Taction de moments favorables au peintre."38 Ausgehend von einem einzigen prägnanten Moment,39 der im Gemälde von Greuze

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Ebd., S. 182: „Greuze a dejä peint une fois le meme sujet. II a place devant une glace felee une grande fille en satin blanc, penetree d'une profonde melancolie. Ne pensez-vous pas qu'il y aurait autant de betise ä attribuer les pleurs de Ia jeune fille de ce Salon ä la perte d'un oiseau, que la melancolie de la jeune fille du Salon precedent ä son miroir casse." Auf dieses Bild ist Diderot im Salon von 1765 allerdings nicht eingegangen. Ebd. Die Forschung stellt allein diesen Aspekt heraus, so - um nur ein Beispiel zu nennen - : Rex, Walter E.: Diderot's Counterpoints. The dynamics of contrariety in his major works. Oxford 1998, S.206: „A well-established iconographical tradition connects caged birds with women's sexual (in)continence, and if in addition one is aware of other iconographies in paintings by Greuze connected to the same topic [...] Diderot's sexual interpretation seems entirely justified, indeed unquestionable, for Greuze was much given to this titillating sort of quasi-allegory." In den Entretiens sur le fils naturel (Diderot, Denis: „Le drame bourgeois: Fiction Π." Edition critique et annotee, presentee par Jacques Chouillet et Anne-Marie Chouillet. In: CEuvres completes. Τ. X. Paris 1980, S. 92) macht Diderot jene fur das ,drame bourgeois' konstitutive Unterscheidung zwischen ,coup de theatre' und .tableau': „Un incident imprevu qui se passe en action, et qui change subitement Γ etat des personnages, est un coup de theatre. Une disposition de ces personnages sur la scene, si naturelle et si vraie, que rendue fidelement par un peintre, elleme plairait sur la toile, est un tableau." Ebd., S. 93. Barthes [Anm. 28], S. 1593: „Pour raconter une histoire, le peintre ne dispose que d'un instant: celui qu'il va immobiliser sur la toile; cet instant, il doit done bien le choisir, lui assurant ä l'avance le plus grand rendement de sens et de plaisir: necessairement total, cet instant sera artificiel [...], ce sera un hieroglyphe ou se liront d'un seul regard [...] le

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festgehalten ist, wird eine Geschichte imaginiert, die sich ihrerseits eignete, in einzelne Bilder der Bühne und in einzelne Bilder der Leinwand transponiert zu werden. Bild und Text stehen derart in einem Wechselbezug, daß reales Bild und imaginäre Bilder eine Einheit werden, die nurmehr die Einheit des Textes ist. Sprachlich-stilistisch wird diese Einheit paradoxerweise aus dessen fragmentarischer Form, aus Fragen, Vermutungen und Unterstellungen, aus Ausrufen und Anreden gewonnen, durch einen dialogisch-diskursiven Duktus, der einfach, natürlich und wahr zu sein vorgibt, tatsächlich aber mit höchster Kunstfertigkeit gewonnen ist: Mais voilä-t-il pas que vous pleurez! Mais ce que je vous en dis n'est pas pour vous faire pleurer. Et pourquoi pleurer? II vous a promis, il ne manquera ä rien de ce que qu'il vous a promis. Quand on a ete assez heureux pour rencontrer une enfant charmante comme vous, pour s'y attacher, pour lui plaire, c'est pour toute la vie ... Et mon oiseau? ... Vous souriez ... (Ah mon ami, qu'elle etait belle! si vous l'aviez vue sourire et pleurer!) Je continuai: Eh bien votre oiseau! Lorsque l'heure du retour de votre mere approcha, celui que vous aimez s'en alla. Qu'il etait heureux, content, transporte! Qu'il eut de peine ä s'arracher d'aupres de vous! ... Comme vous me regardez! Je sais tout cela. 40

Die Raffinesse dieser Passage - nicht anders als der vorausgehenden und nachfolgenden - liegt nun nicht allein in der Einfachheit des Ausdrucks und der Syntax, vielmehr darin, daß die drei Szenen - die Anwesenheit und der Abschied des Geliebten, die Rückkunft der Mutter und die Entdeckung des Todes des kleinen Vogels - nicht in ihrer realen zeitlichen Folge vorgestellt, sondern in dialogisch-apostrophische Sprache gebracht und ineinandergeblendet sind: der Gedanke an die Anwesenheit der Mutter wie deren bevorstehende Rückkehr ist in der Evokation der Liebesszene ebenso präsent wie die Frage, wie es wohl dem vernachlässigten Vögelchen ergehen mag; hinzu kommt der Einbezug des imaginierten Adressaten, der zum ,Zuschauer' einer textuell inszenierten Kontemporaneität wird. Der ekphrastische Text spielt somit Möglichkeiten heraus, die sowohl dem Tableau des Bildes wie dem Tableau der Bühne bzw. deren jeweiligen Vervielfältigungen versagt sind: die Simultaneität des Sukzessiven zu suggerieren. Der dargestellte Moment des Bildes wird in eine Darstellung transponiert, die die gegenwärtigen, vorausgegangenen und künftigen Momente in ihrer zeitlichen Abfolge zwar plausibilisiert, doch mit Hilfe dialogischer Textverfahren zu einer veritablen dramatischen Einheit bündelt.

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present, le passe et l'avenir, c'est-ä-dire le sens historique du geste represente. Cet instant crucial, totalement concret et totalement abstrait, c'est ce que Lessing appellera (dans Laocoon) l 'instantpregnant." Vgl. Lessing: Laokoon [Anm. 1 ], S. 117. Salon de 1765 [Anm. 22], S. 181.

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III „Que signifie cet air reveur et melancolique?" Diese Frage gilt nicht dem Sujet41 des Bildes, sondern seiner Bedeutung, seinem Sinn. Ausdrücklich wird auf diese Frage ebensowenig eine Antwort gegeben wie auf die Frage nach dem Sujet. Und doch könnte der Text eine Antwort bereithalten, wofern man anerkennt, daß der Sinn42 - um im Modus der Allegorese zu argumentieren - nicht aus einer Analogie der .Wörter' zu den .Sachen' sich ergibt, vielmehr aus einer Analogie des Dargestellten zum Darstellen zu erschließen ist. Idylle und Elegie zugleich, verweist der Text auf einen Verlust, dessen Bedeutung im vordergründig-frivolen sensus moralis sich zu erschöpfen scheint.43 Es ist jene Ebene, auf der ,Unschuld', .Natürlichkeit', .Wahrheit' den Künsten der Verführung ausgeliefert sind, auf der Naivität dem Bewußtsein weicht, auf der das Sentimentalische avant la lettre in narrativer Anschaulichkeit zum Austrag kommt. Und doch ist diese erste Ebene nurmehr Voraussetzung zum Verständnis eines darüber hinausweisenden Sinns, des ,anagogischen', insofern die Geschichte ihren Sinn, ihre Bedeutung zugleich aus ihrer ,Form' gewinnt. Die dialogische Inszenierung des Textes, die Einfachheit der Sprache, die Direktheit des Ausdrucks bewirken Anschaulichkeit des in Rede Gebrachten, die Aufhebung der Zeitlichkeit durch Zeitenüberblendung suggeriert unmittelbare Präsenz: der .prägnante Augenblick' des Gemäldes wird transponiert in eine Serie von ,prägnanten Augenblicken' des Textes, die ihrerseits intendiert, als Einheit zu erscheinen, in ihrer Wirkung eine .Hieroglyphe', ein .Emblem' zu werden: mithin die .Sachen' im .Sagen' zugleich zu .repräsentieren', mimetisch zu sein.44 Die Annäherung des Textes an das Bild aber geschieht paradoxerweise nicht über natürliche' Zeichen, vielmehr über Textverfahren, die, ekphrastisch, in raffinierter Anwendung rhetorischer und poetischer Mittel gewonnen, ja erkauft sind. Die Transparenz ist künstlich: als ,Idylle' und .Elegie' in rhetoricis verweist der Text auf seine unhintergehbare Opazität - und zugleich auf die

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Zu Beginn des letzten Absatzes des Textes wird die Frage nach dem Sujet des Bildes noch einmal aufgenommen - nur, um die Antwort erneut im Vagen zu belassen: „Le sujet de ce poeme est si fin que beaucoup de personnes ne l'ont pas entendu; ils ont cru que cette jeune fille ne pleurait que son serein." (Salon de 1765 [Anm. 22], S. 182.) Kofman [Anm. 23], S. 21f. bemerkt zur Frage der Bedeutung des toten Vogels und des zerbrochenen Spiegels: „Plus profondement, en rapprochant les deux tableaux, il [sc. Diderot] suggere qu'il n'y a pas ä repondre, ä discourir, que le tableau n'est pas un miroir qui refleterait un sens immediat ou cache, l'Esprit ou la nature, tel objet naturel ou culturel, un oiseau ou un miroir: l'oiseau est toujours dejä envole, le miroir casse, feie, et c'est cette brisure du sens que pleure la jeune fille, la perte, avec le miroir et l'oiseau, de toute reference, et done de tout discours; eile pleure le ,sacrifice' du sujet ou la perte de l'objet, ce qui, en effet, selon Freud, engendre la melancolie jusqu'ä ce que s'accomplisse le travail du deuil." Dieses .poststrukturalistische' Verständnis erscheint uns aus Gründen, die wir oben erläutern, in der formulierten Radikalität nicht zutreffend. Die Reminiszenz an Catulls zweites Passer-Gedicht (Catull, c. 3: „Lugete, ο Veneres Cupidinesque") ist offenkundig. Vgl. dazu Genette, Gerard: Mimologiques. Voyage en Cratylie. Paris 1976, S. 205.

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grundlegende und unüberbrückbare Differenz des sprachlichen Mediums zum pikturalen.45 Und dennoch: Intermittierend zwischen .geschriebenem Bild' und ,gemaltem Text' vermag Sprache zwar einerseits nurmehr auf sich selbst zu referieren, doch anderseits ihre medialen Schranken gerade sprachlich zu überwinden und mit diesem ihr eigenen Modus der Überwindung auch einen Triumph auszuspielen: ihre Möglichkeiten in extremis auszuschöpfen, poietisch zu werden. Die Melancholie, das zwischen Frivolität und Ernsthaftigkeit changierende Thema des Bildes, wird damit unterderhand zur Struktur des Textes, der performativ die ihm zugrundeliegende ästhetische Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der Poiesis ausagiert.

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In der Lettre sur les sourds et muets - [Anm. 14], S. 182 - bemerkt Diderot mit Blick auf Batteux und dessen ,3eaux-Arts reduits ä un meme principe": „Balancer les beautes d'un poete avec Celles d'un autre poete, c'est ce qu'on a fait mille fois. Mais rassembler les beautes communes de la poesie, de la peinture et de la musique; en montier les analogies; expliquer comment le poete, le peintre et le musicien rendent la meme image; saisir les emblemes fugitifs de leur expression; examiner s'il n'y aurait pas quelque similitude entre ces emblemes, etc., c'est ce qui reste a faire [...]." Diderots Salon-Texte können als praktische Erprobung eines theoretischen Postulats erachtet werden.

Sven-Aage Jorgensen

Hamann als humoristischer Schriftsteller

Der Titel dieses Beitrags mag spontane Verblüffung auslösen, und diese wäre kaum geringer gewesen, hätte er den ihm eigentlich gebührenden Titel gehabt: „Hamann als komischer Schriftsteller". Das wäre in der Sprache seiner Zeit treffender gewesen, aber begriffsgeschichtlich haben .komisch' und .humoristisch' erst später und v.a. bei Jean Paul eine religiöse, philosophische und ästhetische Ausdifferenzierung erfahren, die andererseits ohne Hamann kaum denkbar wäre. Die supponierte Verblüffung wäre auf einen in der Geistes- und Literaturgeschichte dominanten Rezeptionsstrang zurückzufuhren, der sein Recht hat: Hamann war ein streitbarer Lutheraner, hat als religiöser Schriftsteller große Bedeutung für die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts gehabt und wurde von Kierkegaard gelesen, aber er war auch ein Literat, ein homme de lettres, wie er selber sagte, und man kann gelegentlich, zur Korrektur, mit Gewinn hinter gängige Rezeptionsmuster und -vorgaben des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgehen. Hamann, der von einigen Zeitgenossen und von vielen späteren Literaturgeschichten des Irrationalismus und Mystizismus beschuldigt wurde, repräsentiert für Hegel trotz aller Kritik an seinem Subjektivismus eine echte Aufklärung.1 Für Friedrich Bouterwek gehört er mit Lichtenberg, Claudius, Hippel, Sturz und Jean Paul zu den deutschen Vertretern einer „witzigen Prose, die zum Theil wissenschaftlich ist, zum Theil in das Fach der didaktischen Satyre gehört".2 Der Vorwurf des Mystizismus wird abgelehnt, vielmehr kennzeichne ihn ein biblisches Christentum, verbunden mit „einer tiefen Einsicht in die Schwächen und Grenzen des menschlichen Verstandes".3 In Bouterweks literaturgeschichtlicher Sicht vertrat Hamann also vornehmlich eine Essayistik satirischer Prägung und gehörte in der Sicht dieser Zeit auch mit Claudius, Hippel und Jean Paul zur .Schule' der ,launichten' oder ,komi-

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Berlin sei der Mittelpunkt einer „kahlen" Aufklärung gewesen, außerhalb desselben, in der Peripherie habe sich aber befunden, „was in Genie, Geist und Vernunfttiefe erblühte und von jener Mitte aus gehässigst angegriffen und herabgesetzt wurde. - Gegen Nordost sehen wir in Königsberg Kant, Hippel, Hamann." Nachdem er Weimar und Jena erwähnt hat, faßt Hegel zusammen: „Von jener Wirksamkeit ist das Werk geblieben, von dieser auch die Werke." Zitiert nach: Gildemeister, Carl H.: Johann Georg Hamanns, des Magus im Norden Leben und Schriften. Bd. VI. Gotha 1873, S. 320. Bouterwek, Friedrich: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Bd. XL Göttingen 1819, S. 497. Bouterwek [Anm. 2], S. 499.

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sehen' Schriftsteller. Nähern wir uns seiner „Autorschaft" auf diesem Wege, ohne von späteren Erkenntnissen abzusehen, können diese korrigiert und bei der Analyse der Aufmachung, der Inszenierung, des Stils der Schriften auch Bouterweks Ansatz vertieft und differenziert werden. Da das CEuvre Hamanns nicht allen Lesern gleich gegenwärtig sein dürfte, wird ein hoffentlich nicht zu exzessives Zitieren nötig sein. Aber was impliziert der Terminus .komisch' bei Hamann? Und wie verbindet sich das Komische mit Witz und Satire? Das Komische, oft mit dem Grotesken und Burlesken verbunden, wurde gerade zu Hamanns Zeit als anthropologisches und stilistisches Phänomen eifrig interpretiert: in Justus Mosers Harlekin, oder Vertheidigung des Groteske-Komischen (1761) und in Carl Friedrich Flögeis vierbändiger Geschichte der komischen Litteratur (1784), die Hamann kannte, sowie in den posthum erschienenen Werken Geschichte des Groteskkomischen. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit (1788) und Geschichte des Burlesken (1794). Flögel vertritt die seit der Antike gängige Kontrasttheorie und erblickt das Komische im Inkongruenten, Inkonsistenten oder Heterogenen eines Ganzen oder in etwas Verbundenem. Das Lachen ist jedoch nicht mehr, wie bei Hobbes, ein aus Überlegenheit entspringendes Verlachen dieser Inkongruenz; eine andere Sicht äußert sich deutlich erkennbar in der positiven Interpretation von der Gestalt Don Quijotes und in der Identifikation mit den Romanfiguren Sternes, vor allem mit Uncle Toby in Tristram Shandy. Flögel beschreibt eine neue sozusagen solidarische Rezeptionshaltung der Zeit den komischen Helden, ja dem Narren gegenüber, denn: Nur ein Nair wird freylich in der Meynung von seiner eingebildeten Größe bestätigt [...] ein verständiger Mann niemals. Er sieht vielmehr die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur an, und denkt, daß er in diesem Hospitale auch sein Kämmerchen hab. 4

Flögel listet in großer Vollständigkeit und mit einer nicht immer einleuchtenden Einteilung Arten und Stilmittel des Komischen auf, und prüft man Hamanns Schriften anhand seiner Kriterien, zählt Hamann ohne Zweifel zur Gruppe der satirischen und komischen Schriftsteller. Eine ganze Reihe von Merkmalen trifft zu - von der Sprachmischung über das Wortspiel bis zur Zote. Das Gepräge einer, mit Bouterwek zu sprechen, wissenschaftlichen und didaktischen Satire trägt die Aufmachung vieler Schriften, vom Titel und Vorwort über Anmerkung bis zur „Apostille": Vermischte Anmerkungen über die Wortfiigung in der französischen Sprache, zusammengeworfen, mit patriotischer Freyheit, von einem Hochwohlgelahrten Deutsch-Franzosen - gewidmet sind sie dem „LECTORI MALEVOLO" - und Näschereyen in die Dreßkammer eines Geistlichen in Oberland. Diese Beispiele sind der Sammlung Kreuzzüge des Philologen entnommen, die mit einem „Kleinen Versuch eines Registers über den einzigen Buchstaben P" versehen ist, in welchem der „kreuzziehende Phi-

Flögel, Carl Friedrich: Geschichte der komischen Litteratur. Bd. 1. Liegnitz u. Leipzig 1784, S. 55.

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lologe" die gelehrten Register und seinen eigenen Stil persifliert. Wenn es am Anfang der AESTHETICA IN NUCE in genus sublime mit Bibelallusionen heißt: „Nicht Leyer! - noch Pinsel! - eine Wurfschaufel fur meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen", lautet der nüchterne Hinweis im Register: „Philolog wünscht sich eine Wurfschaufel" und im Hinblick auf die vielen fremdsprachigen Zitate: „Philolog affectiert eine kauderwelsche Schreibart und redt gleichwohl von klaßischer Volkommenheit."5 Bis zu seinem Tod arbeitet Hamann in Titeln und im Text mit solchen konträren Gegensätzen und Stilelementen; neben Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten steht etwa eine Neue Apologie des Buchstaben h. Oder: Ausserordentliche Betrachtungen über die Orthographie der Deutschen von HS. Schullehrer. Es dreht sich, wie zu erwarten ist, laut Titelseite um eine zweite, verbesserte Auflage, erschienen in Pisa 1773 und versehen mit einem Anhang: Neue Apologie des Buchstaben h von ihm selbst.6 Die Sprachmischung in Text und Anmerkungen, die „kauderwelsche Schreibart", wie sie Hamann und Flögel nennen, ist wie die skurrilen Titel ein typisches Merkmal der Polyhistorie - und der Satire auf diese. Hamanns Werke strotzen von fremdsprachigen Zitaten, im Text und in den Anmerkungen. Beispiele erübrigen sich. Der gelehrte Lateiner und streitbare Lutheraner setzt beim Leser jedoch sowohl Kenntnisse der antiken Autoren als auch Freude an den Interferenzen des Lateins und der Volkssprachen voraus, wenn er Kardinal Cajetan, den Gegner Luthers zitiert, der gut küchenlateinisch gesagt haben soll: „Ego nolo amplius cum hac bestia loqui; habet enim profundos oculos et mirabiles speculationes in capite suo."7 Doppeldeutiger ist das Zitat im Kleeblatt Hellenistischer Briefe: Aurum de Arabia Thus & Myrrham de Saba Tulit in ecclesia Virtus Asinaria8

In die ernste wissenschaftliche Diskussion über biblische Stilarten und Gattungen wird jedenfalls stilistisch parodierend eine Strophe eingefugt, die einem französischen Eselslied entnommen ist; es wurde als Abschluß einer groteskkomischen Messe gesungen, die zu Ehren der Heiligen Jungfrau und des Esels gefeiert wurde, der sie nach Ägypten trug; der Esel stand neben dem Hochaltar, und die einzelnen Teile der Messe (Kyrie, Credo usw.) wurden mit einem „Hinham! Hinham!" beendet.9

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Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von Josef Nadler. Bd. Π. Wien 1955, S. 239f. Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von Josef Nadler. Bd. ΙΠ. Wien 1951, S. 89-108. Hamann [Anm. 5], S. 247. Hamann [Anm. 5], S. 182. Flögel, Carl Friedrich: Geschichte des Groteskkomischen. Liegnitz 1788, S. 169.

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Eine wichtige, aber jetzt weitgehend überholte Spielart der Vermischung ganz entfernter Dinge findet Flögel in den, wie er vermerkt, noch bei Shakespeare so beliebten Wortspielen. Ein gutes Beispiel dafür und gleichzeitig ein weiteres für die Sprachmischung findet sich in AESTHETICA IN NUCE, wo Hamann in einer Anmerkung den nach Johann David Michaeies als punisch, d.h. in der Lehre von der Gnadenwahl auf semitischem Substrat und deshalb wie „der arabische Lügenprophet" denkenden karthagischen Bischof und Kirchenlehrer Augustin gegen diesen Vorwurf verteidigt - indem er auf die Jonathan Swift zugeschriebene Abhandlung Ars Pun-ica sive Flos Linguarum. The Art of Punning or the Flower of Languages in seventynine Rules for the further improvement of Conversation and Help of Memory. By the Labour and Art of TUM PUN-SIBI verweist.10 Die von Michaelis entworfene These habe nur als solch unfreiwilliges Wortspiel einen Sinn. Es ist nicht verwunderlich, daß der ernste und moderne Wissenschaftler Michaelis sich über den elaborierten Witz ärgerte.11 Die Wortspiele vermischen bei Hamann im eminenten Grade Geistliches und Weltliches, wie Flögel es ausdrückt, und man fragt sich, ob er dabei die von diesem gesetzten Grenzen des Komischen respektiert. Flögel zieht als guter Aufklärer klare Grenzen und weiß, daß Gott, Glauben und Tugend nicht komisch sind.12 Nur falsche Begriffe von Gott, nur Schwärmerei, nur unvollkommene oder falsche Tugend können lächerlich sein, weil sie Heterogenes enthalten. Das Komische wird ein Mittel der Satire, die den Widerspruch von Glauben und Aberglauben, Vernunft und Unvernunft, Tugend und Sinnlichkeit anprangert und auf die menschlichen Schwächen zielt, mit denen wir leider behaftet sind. Das Lachen bleibt wie bei Shaftesbury und Wieland Prüfstein des Commonsense und der Wahrheit und ein Korrektiv von Narrheiten. Hamann respektiert diese Grenzen nicht. Will er z.B. die Unmöglichkeit dartun, das Buch der Natur und der Geschichte anders als christologisch zu verstehen, entfernt er aus den Anfangszeilen der Iliade die Buchstaben Alpha und Omega und bittet den Leser, den Text zu erklären. Diese Zusammenstellung des Theologischen und Orthographischen tangiert nicht das Komische, aber wenn er geistlosen Rechtschreibungsreformern begegnet, die gegen die inkonsequente Verwendung des h wettern, das für Hamann nicht nur oft die Etymologie und damit den Ursprung , sondern auch das Pneuma, den Hauch des Geistes anzeigt, kann er sowohl zum Kirchenlied als auch zu einem in diesem Zusammenhang nach Flögel unpassenden und groben Wortspiel greifen. Ohne das h wird die Botschaft in den Versen: „Der du für mich gestorben / Führ auch mein Herz und

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Hamann [Anm. 5], S. 212. Hamann [Anm. 5], S. 254. „Unter die Dinge, welche nichts Heterogenes, folglich keinen Keim des Lächerlichen in sich enthalten, gehören vorzüglich Gott, welcher aus lauter Realitäten oder Vollkommenheiten besteht [...] Religion. Wie ihr Urheber und Gegenstand stets rein und von aller Unvollkommenheit fiei, wenn sie rechter Art ist [...] Tugend. Rein und unbefleckt geht diese Tochter des Himmels herfiir und bietet jedem Spötter Trotz. Wem ist es auch eingefallen, wahre Tugend lächerlich zu machen." Flögel [Anm. 4], S. 99ff.

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Sinn."13 unverständlich, und er fragt ironisch h Nicolai unter dem Namen Vetter Nabal, vgl. 1. Samuel 25,2: Gab es denn Vetter! vor jenen undert Jaren keine Uren, Asen, Unde und Omvie, Arsdörfers jüngste Tochter über die Beybealtung des unumgänglichen kleinen Buchstabens zu beruigen. 14

Weitere Beispiele lassen sich leicht finden. Eine Gesamtausgabe seiner Schriften wollte Hamann zuerst nur unter »komischen' Titeln veröffentlichen. Als Herder Einspruch erhob, schrieb er mit einem Hinweis auf den Wundarzt- und Baderberuf des Vaters in einem Brief vom 22. Januar 1785 an Jacobi: Seine Badwanne ist mir so heilig, als dem Sokrates seiner Mutter Hebammenstuhl, und ich nahm mir bisweilen die Freyheit zum Belag ein griechisches Epigramm anzufiihren, das Vater Hagedorn übersetzt Der Bader und die H. baden Den schlechtsten Mann und besten Kerl Beständig nur in Einer Wanne. Herder will den Titel Salbadereyen nicht gelten laßen: nun so mögen sie metakrtische Wannchen heißen - die Füße = medios terminos progressus unsere aufgeklärtes Jahrhundert zu waschen. Nun geh ich zum Amen! Kirchengang und Liturgie des Abendmals. 15

Gerade an der im Zeitalter der Aufklärung so beliebten Gestalt des Sokrates akzentuiert Hamann mit klarer Absicht die Mischung hoher und niedriger, materieller und geistiger, ,ehrwürdiger' und .gemeiner' Elemente, ja er funktioniert geradezu die Gestalt um, die sinnlicher und gröber, fast asozial und irrational wird. Wie der vollständige Titel seiner Erstlingsschrift besagt, ist Sokrates wie Hamann ein Müßiggänger: Sokratische Denkwürdigkeiten fiir die lange Weile des Publicums zusammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile. Mit einer doppelten Zuschrift an Niemand und an Zween. Beide haben keinen Beruf, sondern treiben sich herum, spintisieren und stellen spitzfindige Fragen, die die Grundsätze eines vernünftigen und nützlichen Lebens in Zweifel ziehen, weshalb beide einer falschen Religionsausübung beschuldigt wurden. Beide berufen sich auf eine göttliche Eingebung, die zweifelsohne höchst natürliche Ursachen hat. Der Dämon des Sokrates, erläutert Hamann, hat in diesem aufgeklärten Jahrhundert selbstverständlich eine, nein mehrere Erklärungen gefunden, und Hamann listet parodierend eine Reihe auf, die sie ad absurdum führt und fragt abschließend: ob dieser Dämon nicht vielleicht eine Quecksilberröhre oder den Maschinen ähnlicher gewesen, welchen die Bradleys und Leuwenhoeks ihre Offenbarungen zu verdanken haben; ob man ihn mit dem wahrsagenden Gefühl eines nüchternen Blinden oder mit der Gabe aus

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Hamann [Anm. 6], S. 95. Hamann [Anm. 6], S. 185. Hamann, Johann Georg: Briefwechsel. Hrsg. von Waither Ziesemer u. Arthur Henkel. Bd. V. Wiesbaden 1965, S. 331.

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Sven-Aage Jorgensen Leichdornen und Narben übelgeheilter Wunden die Revolutionen des Wolkenhimmels vorher zu wissen, am bequemsten vergleichen kann. 16

Mit dieser mechanischen Erklärung des Zusammenhangs zwischen Materiellem und Geistigem wird die Frage nach dem Sinn der überlieferten ,Fabel' und nach dem „Denkwürdigen" der Erscheinung suspendiert.17 „Denkwürdig" ist offenbar andererseits eine Menge kleiner, disparater, scheinbar nur assoziativ verbundener Züge, die ihn wiederum auf anderes bringt - auf Caesar und Achilles, auf Erasmus, den frankophonen deutschen Dichter von Bar sowie auf Molieres Malade imaginaire usw. Die Auskünfte scheinen oft ohne Bezug auf das Thema zu sein, haben einen abschweifenden, anekdotischen Charakter. Der päderastieverdächtigte18 Sokrates habe z.B. „ganze Tage und Nächte unbeweglich gestanden" und „einen Spaziergang als Suppe zu seinem Abendbrodt" gelobt.19 Xantippe wird mit Verständnis dafür geschildert, daß sie ihren Nachttopf auf seinen Kopf leert, und die Vorurteile gegen sie werden auf „den ersten claßischen Autor unserer Schulen" zurückgeführt, denn unter X stand offenbar damals: „Xantippe war eine arge H.~/ und zehn mal zehn macht hundert nur."20 Ein weiteres Beispiel steht am Ende des letzten Abschnittes. Über Sokrates heißt es: Nach seinem Tode soll er noch einem Chier, Namens Kyrsas erschienen sein, der sich unweit seines Grabes niedergelegt hatte und darüber eingeschlafen war. Die Absicht seiner Reise nach Athen bestand, Sokrates zu sehen, der damals nicht mehr lebte; nach dieser Unterredung also mit desselben Gespenste, kehrte er in sein Vaterland zurück, das bey den Alten wegen seines herrlichen Weins bekannt ist. 21

In vielen Interpretationen spürt man eine verständliche Ratlosigkeit solchen Passagen gegenüber, die anscheinend belanglosen Anekdotenkram und sonderbare Auskünfte häufen. Es dreht sich um ein weiteres komisches Stilmittel, um eine parodistische Variante gelehrter Mikrologie. Mikrologie konnte pejorativ definiert werden als pedantische oder polyhistorische Anhäufung von unzusammenhängendem Wissen, von biographischen Anekdoten zur Erklärung philosophischer Positionen; weiter als schiefe oder ,kuriose' bzw. ,gelahrte' Fragestellung, vgl. die von Flögel in seiner Geschichte der komischen Litteratur22 erwähnte: Weshalb gibt es gerade unter den Schustern so viele Spintisierer? Eine Frage, die nur durch eine verdienstvolle und wünschenswerte Untersuchung der Spintisierer unter dem Aspekt ihrer Berufe zu lösen wäre. Man vergleiche zu diesem Beispiel Hamanns Text: „Sokrates besuchte öfters die Werkstätte eines Gerbers, der sein Freund war und wie der Wirth des Apostel Petrus

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Hamann [Anm. 5], S. 75. Vgl. Jergensen, Sven-Aage: „Arbeit am Mythos." In: Insel Almanach auf das Jahr 1988, hrsg. von Oswald Bayer, Bernhard Gajek und Josef Simon. Frankfurt/M. 1987, S. 83-90. Hamann [Anm. 5], S. 67f. Hamann [Anm. 5], S. 78f. Hamann [Anm. 5], S. 79. Hamann [Anm. 5], S. 81. Flögel [Anm. 4], S. 259.

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Schriftsteller

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zu Joppe Simon hieß." 23 Die Mikrologie wird in Auseinandersetzung mit den Rezensionen in den Wolken parodistisch weitergesponnen: Man denke sich ja nicht, daß er sich den Plutarch zum Muster gesetzt in seiner Parallele des Simons zu Joppe und zu Athen. Wie hinkend selbige ist, wird jedermann gleich einsehen, wenn ich darthun werde, daß der Freund des Socrates von einem ganz verschiednen Handwerk gewesen. Der atheniensische Simon war kein Gerber, sondern eigentlich ein Lederschneider, und mithin ein Professionsverwandter von dem vortrefflichen Tychius, der sich durch den siebenhäutigen Schild des Ajax, oder eigentlicher, durch seine Gastfreyheit gegen den Rhapsodisten unsterblich gemacht. Zu Lederschneider gibt es noch die Anmerkung: „Dergleichen Jakob B ö h m e gewesen und unsere Riemer, Sattler und Handschumacher sind". 2 4 Die Mischung von Ernst und Parodie, Mikrologie und Gelehrtensatire ist in den letzten Beispielen klar zu erkennen sowie auch die versteckte Typologie. 2 5 D i e Erscheinung des hingerichteten Sokrates präfiguriert die Erscheinung des auferstandenen Christus, der Hinweis auf den Wein die Reaktion der Juden auf die Glossolalie der Apostel, der schwärmerischen Handwerker: Sie sind voll von süßem Wein (Apg. 2, 13). Dieser fast manierierte Witz erregte ästhetisch und theologisch Ärgernis und Bewunderung. Der theologische Hintergrund dieser Stilmischung ist mehrmals dargestellt worden, 2 6 aber fast durchgängig ohne eine theo- und anthropologische Analyse des .Komischen' bei Hamann, der zwar die von Flögel vertretene Solidarität mit dem enthusiastischen Schwärmer D o n Quijote, dem abergläubischen, aber mit Mutterwitz ausgestatteten Sancho Panza oder mit Sternes liebenswürdigen Grillenfänger Uncle Toby zwar teilt, sie aber weit radikaler faßt. Flögel formuliert die Heterogenität mit einer Anspielung auf Hallers „Mittelding": Unter allen komischen Gegenständen scheint das zweydeutige Mittelding vom Engel und vom Vieh, der Mensch den fruchtbarsten Keim des Lächerlichen in sich zu enthalten; nicht, wenn er seiner Bestimmung entspricht, und die Endzwecke erfüllt, warum ihn der Schöpfer auf den Erdball gesetzt hat; sondern wenn er seiner Freyheit überlassen sich selbst und seine Bestimmung verkennt; wenn seine Einbildungskraft mit seiner Vernunft davon läuft [...] wenn er von dem graden Wege der Tugend und Wahrheit sich auf Nebenwege verirrt, und durch seltsame Sonderbarkeiten sich dem Gelächter seiner klügern Nebenbrüder aussetzt [...] Er wäre Verbrechen, wenn man diese Sammlung von heterogenen

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Hamann [Anm. 5], S. 65. Hamann [Anm. 5], S. 95. Vgl. die vorzügliche Darstellung in: Hoffmann, Volker: Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik. Stuttgart 1972, besonders S. 80-86. Büchsei, Elfriede: Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei Johann Georg Hamann. Gießen 1988; Gründer, Karlfried: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns .Biblische Betrachtungen' als Ansatz fur eine Geschichtsphilosophie. Freiburg 1958; Jorgensen, Sven-Aage: „Zu Hamanns Stil." In: Johann Georg Hamann, hrsg. von Reiner Wild. Darmstadt 1978, S. 372-390.

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Dingen und menschlichen Produkten dem Schöpfer zuschreiben wollte.27 (Flögel, S. 102ff.)·

Hier tut sich trotz aller gemeinsamen stilistischen Mittel eine anthropologische Kluft auf. Bei Hamann heißt es in Auseinandersetzung mit Diderots mittlerem drame serieux: Wenn Diderot das Burleske und Wunderbare als Schlacken verwirft; so verlieren göttliche und menschliche Dinge ihren wesentlichen Charakter. Brüste und Lenden der Dichtkunst verdorren...das Burleske verhält sich zum Wunderbaren, das Gemeine zum Heiligen, wie oben und unten, hinten und vorn, die hole zur gewölbten Hand.28

Flögel meint dagegen, daß die „burleske Schreibart", wie sie von Rabelais, Fischart, Scarron und Butler gepflegt worden war, „große und wichtige Dinge [...] durch gemeine Worte und Redensarten erniedrigt und durch Anspielung auf die Sitten und Geschäfte niedrige Stände herabsetzt". Für Hamann gehören göttliche Herablassung und Entäußerung mit menschlicher ,Komik' jedoch eng zusammen. Ein durchgehendes Thema in seiner Theologie ist, wie oft dargestellt, die Kondeszendenz Gottes. Diese Kondeszendenz ist fur ihn eine Herablassung zum heterogenen Geschöpf des Menschen: in der sichtbaren Schöpfung durch den unsichtbaren Schöpfergott, in der Inkarnation des Sohnes in Knechtsgestalt und in der Schriftstellerei des Heiligen Geistes trägt sie den Charakter einer paradoxalen Entäußerung und Erniedrigung (Philipp. 2,5-8), die auch dem fleischgewordenen Gott ,komische' Züge verleiht: Jahve ist „für Ephraim wie eine Motte und für das Haus Juda wie eine Made" (Hosea 5,12). Jesus vergleicht sich mit einer Henne (Math. 23,37) und zitiert am Kreuz den Leidenspsalm König Davids (Ps. 22), in welchem dieser klagt, daß er ein Wurm und kein Mensch sei. In den Präfigurationen der Herablassung in der griechischen Mythologie tritt der höchste Gott in seinem Werben um Europa, die Menschheit, als ein Stier auf, im Werben um Juno als ein nasser, vom Regen triefender Kuckuck. Der gefallene Mensch kann sich nicht zur Sphäre einer reinen und geläuterten Religion und Tugend erheben, sondern muß in seiner gottgewollten Leiblichkeit und Kreatürlichkeit auf eine seiner sinnlichen Natur gemäße Herablassung Gottes hoffen. Alles andere ist nach Hamann superbia, die Ursünde des Menschengeschlechts. Hamanns ,Komik' bejaht das Körperliche, das Geschlechtliche, die Leidenschaften, seine Satire trifft die superbia. Seine Komik kehrt die Leiblichkeit hervor, die die Vernünftigen und Tugendhaften gern überspringen, und will die damit zusammenhängenden prüden Konventionen verletzen. Hamanns Vorliebe für drastische sexuelle Metaphern sowie für Skatologisches ist von hier aus zu verstehen. Ein paar Beispiele: „Wenn die Leidenschaften Glieder der Unehre sind, hören sie deswegen auf, Waffen der Mannheit zu sein" fragt er in der AESTHETICA IN NUCE.29 Mit spürbarem Behagen er-

27 28 29

Flögel [Anm. 4], S. 102ff. Hamann [Anm. 5], S. 367. Hamann [Anm. 5], S. 208.

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wähnt er die Geschichte vom Tod des Kaisers Vespasian, der wie andere Kaiser durch den Tod Götterstatus bekam und deshalb ausrief, als ihn der Tod auf dem Abort ereilte: „Uti puto, Deus fio." Hamann nennt Moses Mendelssohn den „ästhetischen Moses", dessen Geschmack acht Tage alt, aber beschnitten ist, so daß er „lauter weißen überzogenen Entian - zur Ehre menschlicher Nothdurft! in die Windeln tut."30 Die Geschlechtlichkeit bleibt ein zentrales Thema und findet ihre eindringlichste Form in den von der Forschung gründlich diskutierten Schriften Versuch einer Sibylle über die Ehe (1775) und Schürze von Feigenblättern (1777).31 Mit Anleihen bei Joachim Ritter32 könnte man die Funktion des Komischen bei Hamann so formulieren: Es ist die andere Seite der Herablassung Gottes und prangert die anthropologische und theologische Beschränktheit des die Leiblichkeit ausgrenzenden verdrängenden, reduzierenden Prinzips an. Insofern ist sie bei Hamann eng mit der Satire verbunden, die diejenigen voll treffen will, die ihre „Religion aus den Romanen und Legenden selbstverklärter Menschennatur studieren".33 Es dreht sich um den Angriff auf eine hochmütige Anthropologie, die das Wesen des Menschen in aufgeklärter Vernunft, erlangter Tugend und in einer daraus resultierenden Glückseligkeit erblickt. Dieser Angriff wird nicht nur im Namen einer orthodox-lutherischen Christlichkeit geführt, sondern im Namen der durch diese Normen ausgegrenzten Sinnlichkeit, der Hamann einen groben, den Anstand und den guten Geschmack provozierenden Ausdruck geben konnte. Er tat es sein Leben lang immer wieder. Es ist nicht die Rede von einer vorübergehenden karnevalistischen Entlastung vom Druck der Normen, einer eruptiv feiertäglichen Befreiung des Lebens und des Leibes. Hamann konnte über die herrschenden Normen spotten und lachen, aber im Namen anderer und älterer Normen, die für ihn Gültigkeit besaßen: „Unsere Heiligkeit", sagt Luther, „ist im Himmel, da Christus ist und nicht in der Welt vor Augen wie Kram auf dem Markte." Der Eifer fur die Ausbreitung der Moral ist daher eine eben so grobe Lüge und freche Heuchleley als der Selbstruhm gesunder Vernunft. 34

Bouterwek sah mit Recht die Basis der Satire Hamanns in seinem Luthertum und „einer tiefen Einsicht in die Schwächen und Grenzen des menschlichen Verstandes"35 und, muß hinzugefügt werden, der menschlichen Tugend. Hamann lachte über die Eitelkeiten seiner Zeitgenossen - und über seine eigenen. 30 31

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Hamann [Anm. 5], S. 200f. Altenhöner, Ingrid: Die Sibylle als literarische Chiffre bei Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Johann Wolfgang Goethe. Frankfurt/M. 1997; Schonhoven, Evert Jansen: „Versuch einer Sibylle über die Ehe." und Seils, Martin: „Schürze von Feigenblättern.", beide in: Johann Georg Hamanns Hauptschriften. Erklärt und hrsg. von Fritz Blanke und Karlfried Gründer. Gütersloh 1962. Ritter, Joachim: „Über das Lachen." In: Blätter für deutsche Philosophie 14 (1940), S. 1 21. Auch in Ritter, Joachim: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt/M. 1974. Hamann [Anm. 6], S. 191. Hamann [Anm. 6], S. 193. Bouterwek [Anm. 2], S. 499.

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Sven-Aage Jorgensen

Er sah sich als Verfasser von Golgotha und Scheblimini als einen „Prediger in der Wüsten", aber auch als einen neutestamentlichen Zöllner und wußte, daß er mit Recht „den Spitznamen eines sokratischen Don Quixote"36 trug.

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Hamann [Anm. 6], S. 113.

Volker

Mergenthaler

Liebe, die aus dem Rahmen fällt Wielands Hexameron

von

Rosenhain Quel giorno piu non vi leggemmo avante Dante, Inferno V, 13 8

„Sechs Prosamärchen", zusammengehalten v o n „unverbindlichefn] Salondiskussionen": 1 das Resultat des „literarischen Frondienst[es], den der Dichter zu seiner wirtschaftlichen Sanierung für notwendig hielt oder, nach dem Tod der Frau, zu seiner seelischen Ablenkung sich verordnete." D i e s e s vernichtende Zeugnis hat vor über fünfzig Jahren Friedrich Sengle einem „flüchtigen Werk" des „späten Wieland" 2 ausgestellt, dem 1805 erschienenen und bis heute kaum beachteten 3 Hexameron von Rosenhain. Der vollständigen Marginalisierung durch die Literaturgeschichtsschreibung ist Wielands „mattes Werk" 4 bislang vor allem deshalb entgangen, w e i l es „einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung und Einbürgerung der N o v e l l e in Deutschland" 5 leiste und daher gattungstheoretische oder -geschichtliche Interessen bedient: Folgerichtig wird Wielands Text v o n den meisten Untersuchungen zur Geschichte oder ,Form' der N o v e l l e berücksichtigt. Deren

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Sengle, Friedrich: Wieland. Stuttgart 1949, S. 535. Sengle [Anm. 1], S. 536. Schärfer noch fällt das Urteil von Goldstein, Moritz: Die Technik der zyklischen Rahmenerzählungen Deutschlands. Von Goethe bis Hoffmann. Diss. Berlin 1906, S. 19, aus, für den „Wielands Hexameron von Rosenhain [...] in jeder Beziehung ein unbedeutendes Produkt" darstellt. Dem Hexameron widmen sich eingehend lediglich einige wenige Beiträge (in der Reihenfolge ihres Erscheinens): Goldstein [Anm. 2], passim; Martini, Fritz: Nachwort. In: Christoph Martin Wieland. Werke. Hrsg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert. Bd. 2, bearb. von Fritz Martini und Reinhard Döhl, München 1966, S. 841-897, hier S. 891-897; Schelle, Hansjörg: „Zu Entstehung und Gestalt von C. M. Wielands Erzählzyklus Das Hexameron von Rosenhain." In: Neophilologus 60 (1976), S. 107-123; Goldammer, Peter: „Zwischen Weimarer Klassik und Jenaer Romantik. Christoph Martin Wielands Hexameron von Rosenhain." In: Impulse6 (1983), S.66-95; Meier, Albert u. Proß, Wolfgang: Nachwort. In: Christoph Martin Wieland: Das Hexameron von Rosenhain. Hrsg. von Friedrich Beißner. München 1983, S. 139-158; Goldammer, Peter: Über den Tag hinaus. Zur deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Berlin 1986, S. 29-41; Friedrich, Cacilia: „Rahmenhandlung und Ansatz einer Novellentheorie in Wielands Hexameron von Rosenhain." In: Das Spätwerk Christoph Martin Wielands und seine Bedeutung für die deutsche Aufklärung, hrsg. von Thomas Höhle. Halle (Saale) 1988, S. 139-150; Metwally, Nadia: ,J)as Hexameron von Rosenhain - Ein Erzählzyklus aus dem Spätschaffen Christoph Martin Wielands." In: Kairoer Germanistische Studien 3 (1988), S. 62-89. Sengle [Anm. 1], S. 536. Meier/Proß [Anm. 3], S. 139; analog Friedrich [Anm. 3], S. 149, und Schaefer, Klaus: Christoph Martin Wieland. Stuttgart, Weimar 1996, S. 159.

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Volker Mergenthaler

Heuristik richtet sich aber nicht auf das Hexameron in seiner Gänze, sondern isoliert zumeist bloß „die Gattungsbestimmung, die Wieland [...] entwickelt"6 habe, und nur gelegentlich finden die anderen von den literaturinteressierten Mitgliedern der Erzählgesellschaft erprobten und diskutierten narrativen Formen Berücksichtigung zur schärferen Profilierung des novellistischen Erzählens.7 Mag das Hexameron auch „einen wichtigen Beitrag zur [...] Entwicklung und theoretischen Fundierung der Gattung Novelle geleistet"8 oder gar „eine Theorie des Erzählens entwickelt" haben, „die in nuce die Novellentheorie des [...] Autors enthält"9 - in gattungspoetischen Reflexionen allein geht es nicht auf. Ein ebenfalls der Spezifik des literaturwissenschaftlichen Zugriffs geschuldeter, wenngleich nicht notwendiger Reduktionismus ist in denjenigen Untersuchungen wirksam, die nach der narrativen Architektur des Hexamerons fragen, es als Spielart selbstreflexiven Erzählens begreifen, die hermeneutische Arbeit aber einstellen, sobald der Bauplan des Hexamerons mit seinen Binnen- und Rahmenerzählungen nachgezeichnet ist.10 Unbeachtet bleibt in den gattungspoetisch wie in den narratologisch perspektivierten Beiträgen das im „Vorbericht eines Ungenannten" formulierte und der „auf dem Landsitz des Herrn v. P . " ( l ) n sich versammelnden Gesellschaft zugeordnete, wie es scheint, in erster Linie soziale Anliegen: Das Zusammentreffen verschiedener zufälliger Umstände brachte in verwichenem Sommer eine auserlesene Gesellschaft liebenswürdiger und gebildeter Personen beiderley Geschlechts auf dem Landsitz des Herrn v. P. im * * * zusammen. Einige von ihnen hatten sich schon zuvor gekannt, andere sahen sich zum ersten Mahle; man wollte ältere Verhältnisse enger zusammenziehen, auch mocht' es (wiewohl noch mit dem Finger auf dem Munde) darauf abgesehen seyn neue anzuknüpfen, da unter den Anwesenden einige junge Leute waren, über deren bisher noch freye Herzen Amor und Hymen, jeder mit Vorbehalt seiner besondern Rechte, sich in Güte zu vergleichen nicht ungeneigt schienen. (1-2)

Verbindungen zwischen den versammelten Personen sollen hergestellt oder, sofern sie schon bestehen, gefestigt werden. Daß die Gesellschaft nur deshalb „auf den alten, so oft schon nachgeahmten Boccazischen Einfall kam: daß Jedes der Anwesenden [...] [e]twas einer kleinen Novelle, oder, in Ermangelung eines

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Karthaus, Ulrich: Novelle. Bamberg 1990, S. 8. Vgl. hierzu Friedrich [Anm. 3]. Friedrich [Anm. 3], S. 149; analog: Degering, Thomas: Kurze Geschichte der Novelle. Von Boccaccio bis zur Gegenwart. Dichter - Texte - Analysen - Daten. München 1994, S. 27. Goldammer [Anm.3], S.29. Noch 1996 (vgl. Schaefer, [Anm.5], S. 157) werden die erzählenden Figuren, die Protokollantin Rosalinde und der Ungenannte als gattungspoetische Sprachrohre Wielands aufgefaßt und ihre Äußerungen bruchlos in das Gattungskonzept des Autors überfuhrt. Vgl. z.B. Jäggi, Andreas: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage. Bern u.a. 1994, S.93 (und passim). Ich weise fortlaufend im Text nach und zitiere aus folgender Ausgabe: Das Hexameron von Rosenhain. Herausgegeben von C.M. Wieland. Leipzig 1805.

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Bessern, wenigstens einem Mährchen ähnliches [...] zum Besten geben sollte" (4—5), „um die beschwerlichste aller bösen Feen, die Langeweile von sich abzuhalten" (4),12 mag im Verständnishorizont der Figuren plausibel erscheinen, die im „Vorbericht", „wiewohl noch mit dem Finger auf dem Munde" mitgeteilten Hinweise stellen die vermeintliche Unschuld des ,ßoccazischen Einfallfs]" indes in ein anderes Licht und werfen eine ganze Reihe ungeklärter Fragen auf: Sind die soziale Zweckbestimmung des Zusammentreffens „auf dem Landsitz", „ältere Verhältnisse enger zusammen[zu]ziehen" und „neue anzuknüpfen", und der von Rosalinde unterbreitete „Vorschlag" (5), ,,[e]twas einer kleinen Novelle, oder [...] einem Mährchen ähnliches [...] zum Besten" zu geben, funktional miteinander verknüpft?13 Kann es Zufall genannt werden, daß alle sechs Binnenerzählungen sich genau einem Problemkomplex widmen, ohne daß die Erzählerinnen und Erzähler sich darauf geeinigt hätten: der Frage nach den Bedingungen, unter denen ,J.iebe, und Liebe ganz allein" (298), entstehen und eine dauerhafte und erfüllende Partnerschaft begründen kann?14 Besteht das Anliegen des Hexamerons tatsächlich nur darin, „hinter" der ,,äußere[n] Handlung" „den seelischen Übergängen" nachzuspüren, „die in bestimmten Charakterkonstellationen entstehen"?15 Ist das Hexameron demnach als experimentelle Anordnung zu begreifen, als narratives Labor, in dem in sechs Versuchsanordnungen menschliche Beziehungen in Augenschein genommen und zergliedert werden? Ungeklärt bliebe dann aber, weshalb die zu untersuchenden Beziehungen nicht etwa in sachlicher Darstellung, sondern als Gegenstand verschiedenartiger Erzählungen mit teilweise ostentativ ausgestellter Fiktionalität16 dargeboten werden, weshalb die Erzählgesellschaft nicht (oder kaum) über ,J.iebe, und Liebe ganz allein" (298), sondern fast ausschließlich über Kunst spricht,

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Dieser Auskunft des „Ungenannten" (1) schließen sich bereitwillig an: Metwally [Anm. 3], S.69; Schelle [Anm. 3], S. 113; Goldammer [Anm. 3], S.74; Friedrich [Anm. 3], S. 139; Degering [Anm. 8], S. 29; Karthaus [Anm. 6], S. 8. Eine ähnliche, allerdings geistesgeschichtlich grundierte Fragestellung verfolgt das Nachwort von Meier/Proß [Anm. 3], S. 156. Ähnlich argumentieren Metwally [Anm. 3], S.82, die allerdings in der Liebe selbst und nicht in den Strategien ihrer Begründung „das Grundthema aller sechs Geschichten" ausmacht, und der Klappentext „Über dieses Buch" der von Friedrich Beißner herausgegebenen Ausgabe des Hexamerons [Anm. 3], der „Erotik zwischen Vernunft und Leidenschaft" als Zentrum des Hexamerons bestimmt. Metwally, [Anm.3], S.82. Die zweite, von Wunibald von P. gegebene Geschichte soll „aus einer ziemlich starken Sammlung so betitelter Milesischer Märchen genommen" (94-95) sein. „Alles, was in" der von Amanda dargebotenen ,J?eerey ist", will die Erzählerin aus einem „Traume" (168) geschöpft haben. HerT M. schließlich trägt eine „Novelle" vor, „die er ehmahls in einem alten wenig bekannten Spanischen Buche gelesen zu haben vorgab" (172). Rosalinde versetzt ihre Erzählung nach Trapezunt, „um der Ungelegenheit, die deutsche Stadt, wo, und die eigentliche Zeit, wann sich" ihre „Geschichte zutrug, nennen zu müssen, ein- fur allemahl zu entgehen" (41). Die „vertrautesten Freundinnen" (219) der Erzählerin und deren Partner in der fünften Binnengeschichte sind immerhin noch pseudonymisiert (222, 225, 232). In der letzten Geschichte ist es der Erzähler, der im Schutz eines falschen Namens seine „eigene Geschichte" (320) vorträgt.

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über Gattungsdifferenzen (5, 172-174, 280), über Kunstwirkung (207-217), über das Verhältnis von Fiktion und Realität (15-16, 19, 40-42, 169-173, 285, 319-321), über den Ort des Moralischen in der Kunst (6-12, 279-280), über die poetische Verwertbarkeit des Wunderbaren (12—17, 168-172), über Quellen: Bücher, mündlich Tradiertes und Träume (4—5, 26, 167-168), und über die Möglichkeiten und Grenzen ihrer produktiven Verwertung (94—96, 218-219). Eine merkwürdige Verkehrung der Zuständigkeiten zeichnet sich ab: Die heutigen Leser „von Profession" (2-3) interessiert an den Binnengeschichten weniger deren narrative Faktur,17 sondern vor allem die darin vorgestellten Figuren, die psychologischen, sozialen und moralphilosophischen Aspekte des fiktiven Personals; die philologischen Dilettanten der Erzählgesellschaft von Rosenhain nehmen dagegen kaum Notiz vom „privaten Bereich zwischenmenschlicher Beziehung"18 innerhalb der Binnenerzählungen, sondern richten ihr Augenmerk fast ausschließlich auf die Kriterien „eines ächten Kunstwerks" (215), auf ästhetische und poetologische Gehalte des Erzählens und auf Gattungsfragen. Wie mir scheint, besteht aber die poetische Leistung des Textes gerade nicht in der Favorisierung nur eines dieser beiden Aspekte, sondern im Versuch, eine Verbindung von „ächte[m] Kunstwerk" und ,,reine[r] Liebe" (88) herzustellen. Die Binnenerzählungen erhärten den Verdacht, daß nicht, wie Nadia Metwally vorschlägt, „die Liebe" allein „das Grundthema aller [...] Geschichten"19 bildet, sondern vielmehr deren Verknüpfung mit der in allen „sechs Erzählungen" (18) auffallig virulenten Kunst. In dem von Wunibald von P. dargebotenen Milesischefn] Mährchen „Dafnidion" (96) und in der „Novelle ohne Titel" (175) des Herrn M. steht die Schauspielkunst zur Debatte: es werden ,,Rolle[n]" (122) gespielt, ,,Maske[n]" (182) angelegt, „Zuschauende [...] getäuscht" (122). „Dafnidion" handelt von Föbidas, der „Zuflucht zur Zauberkunst" nimmt, um die von ihm begehrte Nymphe Dafnidion „in seine Gewalt zu bekommen" (111). Der „Schwarzkünstler" (112), den er um Hilfe bittet, will dem Entbrannten „die Gestalt eines hübschen Delfischen Mädchens" (119), Timandras, geben, damit Föbidas bei einem Fest die Nähe der Begehrten suchen und sie, sobald er „die drey magischen Worte Axia tuxil naxum" (120) ausspricht, in seine „Gewalt" (121) bringen kann. Um die Wirksamkeit der Formel zu garantieren, muß Föbidas Dafnidion allerdings einen „talismanischen Ring" entwenden, „der alle Zauberey an ihr unkräftig macht" (118). Dämonassa, unter deren Schutz Dafnidion steht, trifft indessen Vorkehrungen, um mögliche „Anschläge" auf ihre Schutzbefohlene „zu vereiteln" (121). Sie gibt ihr die robustere Gestalt „einer jungen Bauerndirne, Mykale genannt" (122), die im Austausch die Gestalt Dafnidions erhält. „Der verkappte Föbidas" (124) richtet

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Einzige Ausnahme bildet (mit den genannten Einschränkungen) die Gattungsfragen gewidmete Aufmerksamkeit. Metwally [Anm. 3], S. 84. Metwally [Anm. 3], S. 82.

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seine Annäherungsversuche daher nicht auf die verkappte wahre, sondern auf die vorgestellte, nur vermeintliche Dafnidion, und nicht auf deren Ring, sondern auf einen weiteren, „der die Tugend hatte, jedes Zaubergebilde, sobald es mit dem darein gefaßten Stein berührt wurde, in seine natürliche Gestalt zurückzuzwingen" (115-116). Beim Versuch, der mutmaßlichen Dafnidion diesen abzunehmen, tat „der talismanische Stein seine Wirkung zugleich an beiden" (125): Mykale und Föbidas werden entlarvt, Föbidas und Dafnidion gehen keine Verbindung ein. Um die ihrem verstorbenen Bruder, Manuel Moscoso, zugedachte Erbschaft ihres Onkels sichern zu können, gibt sich die im Zentrum der „Novelle ohne Titel" stehende Galora als Manuel aus. Auf diese Weise glauben ihre Eltern und später sie selbst, verhindern zu können, daß die Erbschaft „dem nächsten Seiten-Verwandten" (177), Antonio Moscoso, zufallt. Der ahnungslose Betrogene wird „durch eine Verkettung kleiner Umstände" in die Familie eingeführt, um den „Posten eines Gesellschafters des vorgeblichen Don Manuels" (184) zu bekleiden, und zwar „unter dem Nahmen Don Alonso Noya" - „ein Nähme, den er angenommen hatte, weil er die Verheimlichung seines Geschlechtsnahmens und des Verhältnisses, worin er vermöge desselben mit dem Grafen Don Manuel stand, unter den gegenwärtigen Umständen für etwas unumgängliches hielt" (185). Der vermeintliche Manuel verliebt sich in den vermeintlichen Alonso, dieser aber nicht in die als Manuel verkappte Galora, sondern in Donna Rosa. Galora entdeckt daher - so will es das erste Ende der Erzählung20 - dem vermeintlichen Alonso ihr Spiel und seine Hintergründe, um als Frau wahrgenommen werden zu können. Alonso wiederum gibt sich als Antonio zu erkennen und bietet Galora spontan die Ehe und damit die Sicherung der Erbschaft an. Galora lehnt ab und tritt den „Karmeliterinnen zu San Jago de Compostella" (206) bei. Gemessen an der „mit dem Finger auf dem Munde" gegebenen Mitteilung, „man" (1) habe die Absicht, die „bisher noch freye[n] Herzen" (2) der „auserlesene[n] Gesellschaft" zusammenzuführen, nehmen sich „Dafnidion" und die „Novelle ohne Titel" als potentielle Vorbilder wenig ermutigend aus, denn nicht nur die Figuren bleiben in den Erzählungen unverbunden, sondern auch die Bereiche Liebe und Kunst. Zwar dient die eine, vom „Schwarzkünstler" (112) angezettelte Maskerade der Zusammenführung von „Personen beiderley Geschlechts" (1), allerdings geschieht dies nicht im Zeichen wechselseitiger Liebe, sondern im Zeichen einseitigen Begehrens. Ziel der anderen Verkappung in „Dafnidion" ist es, das Zustandekommen einer solchen asymmetrischen Verbindung gerade zu verhindern. Ebensowenig sind die in der „Novelle ohne Titel" veranstalteten Maskenspiele auf die Verbindungen der vorgestellten Figuren bezogen - weder auf die Galora angetragene, von ihr aber ausgeschlagene, noch auf die zwischen Antonio und Rosa sich abzeichnende Ehe (207); sie sind einzig durch die Regelung der Erbangelegenheit motiviert.

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In der anschließenden Diskussion der Erzählung durch die Erzählgesellschaft versucht Herr M. „seiner Novelle, ohne ihr Gewalt anzuthun, einen tragischen Ausgang" (208) zu geben.

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Anders verhält es sich mit dem von Amanda von Β * * * vorgetragenen und „Die Entzauberung" (131) überschriebenen „Feenmährchen" (130) und mit der von Nadine von Thalheim erzählten „Anekdote" (219) „Freundschaft und Liebe auf der Probe" (221). Das „Feenmährchen" (150) ist um Rosalie von Eschenbach zentriert, „das reitzendste und liebenswürdigste Fräulein auf zwanzig Meilen in die Runde" (132). Diese Vorzüge und die Aussicht „auf ein ansehnliches Vermögen" machen sie zum „Gegenstand der Bewerbung aller heurathslustigen Jünglinge, Hagestolzen und Wittwer ihres Standes weit umher". Allein Alberich konnte sich „schmeicheln [...] mit einer Achtung von ihr begünstiget zu werden, die den Keim einer geheimen, vielleicht ihr selbst noch verborgenen, Neigung zu verrathen schien" (133), „wenn gleich das, was sie für ihn fühlte, noch nicht Liebe war" (136). Es bedarf allerdings immenser Anstrengungen, um Rosalie deutlich zu machen, daß Alberich - anders als Hulderich, der zweite, wenngleich unscheinbare Bewerber - lediglich an ihrem Erscheinungsbild und Vermögen, nicht aber an ihr selbst interessiert ist. Eine „Feenkönigin" (166) beraubt Rosalie ihrer Schönheit und ihres Vermögens, worauf Alberich „in vollem Gallopp" (160) das Weite sucht, Hulderich sich dagegen als selbstloser Helfer empfehlen kann. Eine Patt-Situation tritt ein, deren Auflösung nicht ohne die Unterstützung der Kunst gelingt, denn erst die literarische Sozialisation Rosalies, die „nichts zu lesen [hatte] als Ritterbücher und Feenmährchen" (131) und „so zu sagen, unter lauter Feen und Feerey aufgekommen war" (141), plausibilisiert das Auftreten der erlesenen Feenkönigin und ermöglicht ihr märchenhaftes Eingreifen: „,Wenn ich Jedes unter Euch'", so richtet diese sich an die Liebenden, „mit diesem Stäbchen berühren und dadurch nöthigen wollte, Eures Herzens Gedanken laut zu denken, so würde die Last, die Euch drückt, flugs zu Boden sinken. Aber, um Euch eine kleine Schamröthe zu ersparen, nehme ich die Sache auf mich selbst. Hulderich liebt Rosalien, wie nur wenige lieben können, und hat sie [...] wohl verdient. Er liebt Sie selbst, nicht ihr Vermögen, das sie verloren hat, nicht die Lilien und Rosen ihres Gesichts, welche verschwunden sind. Ich habe ihr beides geraubt; es ist billig, indem ich sie, nach dem verschwiegenen Wunsch ihres Herzens, Hulderichen zur Belohnung gebe, daß ich ihr zugleich wiedergebe was sie durch mich verlor." (165)

Eine geglückte und der produktiven Zusammenarbeit von Kunst und Liebe sich verdankende Verbindung einander Liebender ist vorgestellt, und allem Anschein nach ließen sich die „bisher noch freye[n] Herzen" (2) der „Gesellschaft auf dem Schlosse zu Rosenhain" (19) nach diesem Vorbild zusammenbringen: In der Erzählung kommt der Lektüre von ,,Ritterbücher[n] und Feenmährchen", in der ,,auserlesene[n] Gesellschaft" dagegen käme der Kunst des Erzählens die Aufgabe zu, die Liebenden und „Heurathlustigen" zusammenzufuhren. Während aber die erlesene „Feenkönigin" kraft ihrer wunderbar-übermenschlichen Fähigkeiten Rosalie die Augen öffnen und die Patt-Situation aufheben kann, bleibt im unklaren, wer in der empirischen Welt „der erzählenden Innung" (171) die Rolle der märchenhaften Liebesstifterin übernehmen und neue Verhältnisse anknüpfen könnte.

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Nicht Maskenspiele oder Bücher, sondern ein „Gemähide in Lebensgröße" (250) tritt in der von Nadine von Thalheim dargebotenen „Anekdote" (219) „Freundschaft und Liebe auf der Probe" in Beziehung zu den Verbindungen, die die vorgestellten Figuren erproben. Zunächst heiraten Raymund und Klarisse, Mondor und Selinde. Raymund hatte zu seinem eigenen Vergnügen ein Gemähide in Lebensgröße verfertigt, welches die ewig jungfräuliche Göttin Pallas vorstellte, wie sie zufalliger Weise von dem jungen Tiresias im Bade überrascht wird. Nie war etwas schöneres gesehen worden, als was der junge Thebaner hier zu seinem Unglück - nicht sah; denn in eben dem Augenblick, da er die Göttin ansichtig wurde, erblindete der arme Mensch an beiden Augen. Dieses Gemähide hing schon seit geraumer Zeit in einem Seitenkabinet von Raymunds Zimmer, aber Mondor hatte es noch nie gesehen. Von ungefähr traf sichs einst, daß die Thür des Kabinets halb offen stand, da Mondor seinen Freund auf seinem Zimmer besuchte. Ein heller Morgensonnenblick fiel gerade auf die Hauptfigur des Gemähides und erregte Mondors Aufmerksamkeit und Neugier. Er mußte gestehn weder in der Natur noch in der Kunst je eine so vollkommene Gestalt gesehen zu haben, und machte seinem Freunde große Komplimente über die Gunst, worin er bey den Bewohnern des Olympus stehe; denn nothwendig müsse die Göttin ihm in Person zu diesem Bilde gesessen seyn. Raymund, von einem Anfall unbesonnener Eitelkeit hingerissen, gestand, daß er durch unablässiges Bitten Klarissen endlich übermocht habe, das Modell zu dieser Pallas abzugeben. Er müßte, wiewohl er sichs nicht ansehen ließ, so blind als Tiresias gewesen seyn, wenn er nicht bemerkt hätte, wie Mondor bey dieser traulichen Eröffnung plötzlich so blaß wie ein Gypsbild, und eben so schnell wieder so feuenoth wie eine untergehende Herbstsonne wurde, und sich so hastig aus dem Kabinet entfernte, als ob er ein Gespenst darin gesehen hätte. Von dieser Stunde an war der Gemüthszustand des armen Mondors in der That bemitleidenswerth. (250-251)

Das „Gemähide" befördert die Entscheidung, einen Partnertausch einzugehen, der die unzufriedenen Eheleute erster Hand zwar „im ersten halben Jahr ihres neuen Ehestands [...] unendlich zufrieden" (265) stellen kann, bald allerdings von einer „Sehnsucht nach Wiederherstellung ihres ehemaligen Verhältnisses" (274) überschattet wird. „Alles trat nun wieder in die alte Ordnung zurück" (278), und „beide Freunde und Freundinnen sind seit dieser Zeit täglich mit ihrem Rücktausch zufriedener, und (was für alle Viere sehr viel beweiset) nie hat auch nur der Schatten von Argwohn und Eifersucht weder der Liebe noch der Freundschaft den geringsten Abbruch bey ihnen gethan" (279). Die Zusammenführung der vorgestellten „Personen beiderley Geschlechts" ist auch hier geglückt, eine erfolgversprechende Verknüpfung von Kunst und Liebe und damit ein Modell für die soziale Wirksamkeit des „Boccazischen Einfall[s]" (4) liefert die „Anekdote" (219) allerdings nicht, schlimmer noch, das „Gemählde" (250) weist der Kunst keine dauerhaft verbindende, sondern tragfähige Verbindungen gerade aufhebende Wirkung zu. Gegenstand des „Gemähldes" (250) ist nämlich nicht ein liebendes Paar, sondern eine Tiresias unterlaufende folgenreiche Übertretung. Wie Tiresias Pallas erblickt und erblindet, so erblickt auch Mondor (das Bild der) Pallas, für das Klarisse Modell gestanden hat, und wird blind für die Qualität seiner Ehe mit Selinde. Wie eine für die „bisher noch freye[n] Herzen" (2) der „Gesellschaft auf dem Schlosse zu Rosenhain" (19) mustergültige Verbindung von Kunstwerk und

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Liebe aussehen könnte, wird bereits in der ersten, „Narcissus und Narcissa" (25) betitelten Binnenerzählung durchgespielt: „Der Dämon", der die zwischen Sofranor und Eufrasia entsponnene Liebe „verfolge" (87), so unterrichten die „Sterne" über die „Schicksale" (86) dieser Liebenden, „werde alle seine Gewalt" über diese „verlieren, sobald" sie noch zwey Liebende, die anstatt (wie gewöhnlich) im Andern nur sich Selbst zu lieben, sich Selbst nur im Andern liebten, gefunden haben würden. Diese Bedingung schien [...] einer zweyfachen Schwierigkeit wegen, wenig oder keine Hoffnung zu lassen: denn, wofern auch auf dem ganzen Erdenrund noch ein Paar so rein liebende Sterbliche athmeten, was für ein Mittel hatten wir

so fragen sich Sofranor und Eufrasia, es zu entdecken? Unser Vater, von seiner Liebe zu uns angespornt, verwandte sieben ganzer Jahre auf die Erfindung eines solchen Mittels, und brachte endlich durch den hartnäckigsten Fleiß einen Talismanischen Spiegel zu Stande, der die wunderbare Tugend besitzt, reine Liebe von verkappter Eigenliebe durch ein untrügliches Zeichen zu unterscheiden. [...] So lange Jemand in der Person, die er zu lieben vermeint oder vorgiebt, nur sich selbst liebt, könnt' er sein ganzes Leben durch in diesen Spiegel hinein schauen, er würde nie etwas anderes sehen als sich selbst: aber sobald das, was er für sie fühlt, reine Liebe ist, sieht ihm, statt seiner eigenen Gestalt, das Bild der geliebten Person entgegen. (87-89)

Es bedarf also eines „Mittels", eines Mediums, um die nur vermeintlich oder vorgeblich Liebenden von den „wahren Liebenden" (91) unterscheiden und im Spiegel „ein untrügliches Zeichen" (88) der „reine[n] Liebe" (89) entdecken zu können. Umgeben von Kunstwerken, von den „schon oft betrachteten Gemählde[n]" „in dem Sahl der wahren Liebenden" (91), gelingt es Dagobert und Heliane, die für Sofranor und Eufrasia so wichtige Verbindung einzugehen - genauer gesagt, kommt diese Verbindung zum Ausdruck: Unfreywillig, wie von einer unsichtbaren Macht angezogen, fanden sich endlich beide vor dem Zauberspiegel, blickten beide zugleich hinein, und indem Dagobert mit schauderndem Entzücken Helianen und Heliane Dagoberten in der Stelle ihres eigenen Bildes erblickten, sanken sie einander in die Arme. (92)

In der Logik einer Welt, in der „Schutzgeister" (25) - wenn auch sehr geringen - Einfluß auf ihre Schutzbefohlenen ausüben können (30, 56), liegt es nahe, das Auftreten des ,,untrügliche[n] Zeichen[s]" (88) als magische Leistung des Spiegels zu verbuchen. Die von Sofranor verlesene .Gebrauchsanweisung' des ,,Zauberspiegel[s]" (92) mahnt allerdings zur Vorsicht gegenüber einer allzu magiegläubigen Lektüre: Der Spiegel begründet nicht die „reine Liebe" (88), sondern bescheinigt sie den „wahren Liebenden" (91) nur und hebt die von den Schutzgeistern erwirkte Patt-Situation (wie in der dritten Erzählung der transzendente Eingriff der Feenkönigin) auf: Beider, Dagoberts und Helianes eitle Selbstbilder lassen es nämlich nicht zu, sich der oder dem andern „öffentlich [...] zu erklären" (70). Und erst mittels des ,,Zauberspiegel[s]" (92) soll es gelingen, „die Schwierigkeit, wie dieß geschehen könne ohne vielleicht einen

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Schritt zu viel zu thun"(71), zu beseitigen. ,„Wenn du Lust hast es durch dich Selbst zu erfahren'", so beginnt Sofranor Dagobert (und Heliane) die Wirkungsweise des Spiegels zu erläutern, „so gehen wir unverzüglich in den Sahl, der mit den Schilderungen aller wahren und getreuen Liebhaber, die uns Fabel und Geschichte kennen lehrt, geziert ist, und du hast nichts weiter zu thun, als in eben denselben Spiegel hinein zu schauen, worin du dich, wie ich wohl den Spiegel selbst wetten wollte, gewiß schon mehr als einmahl besehen hast." Dagobert und Heliane errötheten beide bey diesen Worten bis an die Fingerspitzen. (8889)

Gemeinsam und zugleich - und darin besteht Sofranor zufolge der entscheidende Unterschied zum bisherigen, narzißtischen Gebrauch des Spiegels - sehen Dagobert und Heliane hinein, und doch sehen beide „in der Stelle ihres eigenen Bildes" (92) nur eine Person: den oder die andere/n. Drei Erklärungen lassen sich hierfür in Anschlag bringen: eine magische, eine psychologische und eine physikalische. Die erste verschiebt die Wirkungsweise des Spiegels ins Transzendente des Zaubers und entzieht sie dem Verstehen; die zweite besagt, daß es Dagobert und Heliane gelingt, entgegen ihrer bisherigen Selbstbespiegelungspraxis erstmals von sich selbst ab- und den oder die andere/n liebend anzusehen; und die letzte Erklärung besteht darin, daß in einem (ausreichend) kleinen Spiegel sich selbst nur erblicken kann, wer alleine hineinsieht. Schaut man nämlich zu zweit und daher nicht im rechten Winkel zur reflektierenden Oberfläche, sondern schräg in einen derart bemessenen21 Spiegel, so kann man nur das Spiegelbild des oder der andern, nicht aber sein eigenes darin erkennen. Gleichgültig welcher Erklärung man sich anschließen mag: ohne den Spiegel hätte dieser zwischen Dagobert und Heliane entbrannten ,,reine[n] Liebe" (88) das „untrügliche Zeichen" (88) gefehlt, das sie von „verkappter Eigenliebe" (88) zu unterscheiden gestattet. Auf diese Weise aber geraten Dagobert und Heliane zum virtuellen Paar im Spiegel und werden aufgenommen in die Reihe der „schon oft betrachteten Gemähide" (91), der „Schilderungen aller wahren und getreuen Liebhaber, die uns Fabel und Geschichte kennen lehrt" (89). Da Dagobert Heliane und Heliane zugleich Dagobert im Spiegel sieht, sind beide darin enthalten, und sie sind beide Betrachter und Gegenstand (eines) der 21

Dem Artikel „Spiegel", (In: Fischer, Johann Carl: Physikalisches Wörterbuch oder Erklärung der vornehmsten zur Physik gehörigen Begriffe und Kunstwörter so wohl nach atomistischer als auch dynamischer Lehrart betrachtet mit kurzen beygefugten Nachrichten von der Geschichte der Erfindungen und Beschreibungen der Werkzeuge in alphabetischer Ordnung. Bd. 4. Göttingen 1801, S. 708-762, hier S. 716 (und Bildtafel 88)), zufolge brauche ein „Planspiegel" „nur halb so lang und halb so breit zu seyn, als diejenige Person, welche sich ganz im Spiegel betrachten will". „Und weil der gebrochene oder zurückprallende Strahl mit dem einfallenden einerley Winckel haben muß; so kan eine zur Seiten des Spiegels stehende Sache nicht eher gesehen werden, bis die aus dem Auge gehende Linie einen eben so grossen Winckel mit der Fläche des Spiegels getroffen, als der Winckel der einfallenden Linie ist"; (Artikel „Spiegel". In: Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Bd. 38. Leipzig, Halle 1743, Sp. 1584—1587, hier Sp. 1585-1586).

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„Gemähide" (91) zugleich, womit sie ontologisch gesehen zwei unterschiedlichen Sphären zugleich angehören. Es bedarf in der Logik dieser Begründungsfigur allerdings einer beide individuellen Perspektiven virtuell vereinigenden, übergeordneten Instanz, um das erspiegelte Paar als „Gemähide" (91) in die Galerie der „wahren Liebenden" (91) einzureihen. Nicht zufallig sind nicht nur die beiden Liebenden, sondern „alle Vier in dem Sahl" (91): Dagobert, Heliane, Sofranor, Eufrasia und fünftens, nicht zu vergessen, als ,Un-Person', 22 , der Erzähler. Wie Dagobert und Heliane Gegenstand und Betrachter einer der „Schilderungen aller wahren und getreuen Liebhaber" sind, „die uns Fabel und Geschichte kennen lehrt" (89), und als Betrachter und Gegenstand eines im Spiegel sich abzeichnenden ,,Gemählde[s]" (91) zwei unterschiedlichen ontologischen Sphären zugleich zugeordnet sind, so auch Julie Haldenstein und der Baron von Werdenberg: Beide gehören dem Personal der letzten, vom Baron dargebotenen Erzählung und zugleich auch der Erzählgesellschaft an, der Baron (als Familienmitglied) unter seinem wirklichen, Julie Haldenstein als seine Partnerin bis zur Auflösung der ,Verkappung' am Ende des Hexamerons „unter dem erdichteten Nahmen Nadine von Thalheim" (320). Die vom Baron von Werdenberg erzählte, als „wahre [...] Geschichte" (285) angekündigte und „Die Liebe ohne Leidenschaft" (287) betitelte „Anekdote [...], die sich seit kurzem mit einem [s]einer Freunde zugetragen" (285) habe, wird, gemessen an den durch narrative Konventionen (Spannungsbogen) und durch die vorigen Erzählungen hervorgebrachten Erwartungen, nicht zu Ende erzählt.23 Statt dessen werden neue Handlungsstränge entwickelt und mit diesen neue Fragen aufgeworfen: Nachdem die beiden Liebenden dieser „Geschichte" (285) sich erklärt haben, „erinnerte" Julie sich der Freundin, deren Verlöbnis sie in W. hatte begehen helfen, und die sich jetzt mit ihrem Gemahl auf einem Gute befand, das nicht weit von einem der ihrigen entlegen war, und eilte zu ihr, um mit ihrer Beyhülfe einen mit Falkenberg abgeredeten Plan auszufuhren, den sie aus Gefälligkeit gegen ihn entworfen hatte. Falkenberg gehörte nehmlich, wie gesagt, einer Familie an, die nicht mit Unrecht auf ihren Nahmen und auf ihr Geschlechtsregister stolz ist. Er hatte mit allen Gliedern derselben immer im besten Einvernehmen gelebt, und, ob er gleich unabhängig und überdieß aus einem jüngern Zweig entsprossen ist, so machte er sichs doch zur Pflicht, den Schritt, den er zu thun im Begriff war, nicht ohne ihre Beystimmung zu thun, wenn diese anders, wie er hoffte, mit guter Art zu erhalten wäre. Da der Erzähler hier ein wenig inne hielt, (319)

- und damit ist eine Fortsetzung der „Geschichte" nicht nur vom Erzählten (man möchte freilich erfahren, worin der „Plan" besteht und ob er gelingt), sondern auch von der erzählerischen Darbietung her impliziert -

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Vgl. hierzu Petersen, Jürgen H.: „Kategorien des Erzählens. Zur systematischen Deskription epischer Texte." In: Poetica 9 (1977), S. 167-195, hier S. 176. Es greift daher zu kurz, wie Goldammer [Anm.3], S.83, bereits an dieser Stelle vom „Ausgang der Geschichte" zu sprechen.

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sagte Frau von P. „Ich dächte, wenn diese Familie ihren Stammbaum auch bis auf einen der zwölf Pairs Kaiser Karls des Großen hinauf führte, sie könnte sehr zufrieden seyn, eine Person wie Fräulein von Haldenstein in denselben eingeimpft zu sehen." Die ganze Gesellschaft, selbst den alten Baron nicht ausgenommen, stimmte einhellig dem Ausspruch seiner edeldenkenden Gemahlin bey. „Wenn dieß ist", sagte Werdenberg24, sich gegen Frau von P. und die ganze Gesellschaft verbeugend, „was sollte mich länger verhindern, zu gestehen, daß ich Ihnen unter dem angenommenen Nahmen Falkenberg meine eigene Geschichte erzählt habe?" „Und ich", sagte Nadine, indem sie aufstand und sich dem Herrn und der Frau des Hauses mit Ehrerbietung näherte, „darf ich es wagen, Ihnen diese Julie Haldenstein darzustellen, welche unter dem erdichteten Nahmen Nadine von Thalheim so gütig von Ihnen aufgenommen wurde? und darf ich mir schmeicheln, für diese unschuldige Hinterlist Ihre Verzeihung zu erhalten, und durch Entdeckung meines eignen Nahmens nichts von Ihrer Gewogenheit verloren zu haben?" (319-320)

In diesen abschließenden .Entdeckungen' haben die professionellen Leser des Hexamerons mit Recht den „Coup" 25 des Textes ausgemacht,26 die Komplexität des in Gang gesetzten „Verwirrspiels" aber - für die Lektüre des Textes folgenschwer - auf die ontologische Formel „die Fiktion tritt in die Realität über"27 oder auf deren strukturelle Variante reduziert, derzufolge sich „die sechste [...] Binnengeschichte in den Rahmen auflöst".28 Was, wenn nicht der mit Falkenberg/Werdenberg „abgeredete" und „mit [...] Beyhülfe" der Freundin Julies ins Werk gesetzte „Plan" (319) steht hinter der von Julie Haldenstein betriebenen Inszenierung? Wenigstens für drei Personen der „auf dem Landsitz des Herrn v. P." (1) sich versammelnden Gesellschaft bedeutet der „Vorschlag", „daß Jedes der Anwesenden [...] Etwas einer kleinen Novelle, oder, in Ermangelung eines Bessern, wenigstens einem Mährchen ähnliches [...] zum Besten geben sollte" (4-5), weit mehr als eine der probaten „Hülfsquellen" zur Vertreibung der „Langeweile" (4), und zwar für den Baron von Werdenberg alias Herr von Falkenberg, für Julie Haldenstein alias Nadine von Thalheim und für deren Komplizin, Frau von D***. Nadine von Thalheim wird von Rosalinde (der .Protokollantin' der Erzählungen und der anschließenden Gespräche) formal in exakter Übereinstimmung mit den Daten der letzten Binnengeschichte eingeführt: „Diese junge Dame gehörte nicht zur Familie [P.]; sondern war vor einigen Tagen mit ihrer Freundin, Frau von D***, (die seit kurzem mit einem Verwandten der Frau von P. vermählt war) bloß als Begleiterin nach Rosenhain gekommen" (217). Wer, wenn nicht die „Freundin, deren Verlöbnis" (318) Julie „in A. hatte begehen helfen, und die sich jetzt mit ihrem Gemahl auf einem Gute befand, das nicht weit von einem der ihren entlegen war" (318-319), sollte sich hinter Frau von D*** verbergen? Es ist daher kein

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Verbessert aus ,Jalkenberg". Sengle [Anm. 1], S.535. Sengles ebenso zutreffender wie beiläufig gegebener Hinweis wird der Komplexität dieser Anordnung und den dadurch begründeten Konsequenzen für das Anliegen des Hexamerons nicht gerecht. Vgl. Goldammer [Anm.3], S.83; Friedrich [Anm.3], S. 142; Metwally [Anm.3], S.81; SenglefAnm.il, S.535. Meier/Proß [Anm. 3], S. 155, und, im Wortlaut fast identisch, Metwally [Anm. 3], S. 81. Himmel, Hellmuth: Geschichte der deutschen Novelle. Bern 1963, S. 50-51.

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Volker Mergenthaler

Zufall, sondern Teil des Plans, daß Nadine von Thalheim zu „den jungen Personen" gehört, „die Rosalindens Antrag" (12), den ,Jioccazischen Einfall"(4), „unterstützt hatten" (12), und daß es „die schöne Nadine von Thalheim" ist, die „endlich auf den Einfall" kam, „alle Beredsamkeit ihrer Augen und ihrer Zunge anzuwenden, um den Herrn von Werdenberg zu überreden, daß er sich die Gesellschaft durch irgend eine kleine Anekdote, entweder von seiner eignen Erfindung oder aus dem Schatze seines Gedächtnisses, verbinden möchte" (283). Wenn aber der „Boccazische [...] Einfall" (4) Teil des zwischen Julie Haldenstein und dem Baron von Werdenberg verabredeten Plans ist oder diesem Plan zumindest auf überaus willkommene Weise zuarbeitet, dann bildet das von Rosalinde unterschriebene und als „Handschrift" (18) vorliegende ,Protokoll' der Erzählungen und Gespräche, das vom „Vorbericht eines Ungenannten" einleitend kommentierte und von „C.M. Wieland" herausgegebene „Hexameron von Rosenhain" (285), die Fortsetzung und das Ende der vom Baron von Werdenberg unterbreiteten „Geschichte". Alle von der letzten Erzählung ins Spiel gebrachten Fäden sind auf diese Weise zusammen- und zu einem bündigen Abschluß gefuhrt, da der verabredete Plan bekannt gemacht und zum Erfolg geführt worden ist. Zugleich erhält aber auch das „Hexameron von Rosenhain" (21) einen Abschluß, da das eingangs formulierte Ziel ja erreicht und es „im besten Vernehmen" (319) mit der Familie, ja mit der ,,ganze[n] Gesellschaft" (319) gelungen ist, unter den „jungefn] Leute[n]"(2) familiär und gesellschaftlich gebilligte „Verhältnisse [...] anzuknüpfen" (1-2). Vom Rahmen her betrachtet, trägt das Hexameron von Rosenhain seinen Titel daher zu Recht, insofern es sechs Erzählungen vereinigt, in der Perspektive der letzten ,Binnenerzählung' könnte es, da die letzte .Binnen'-Erzählung sich zum Bestandteil des Rahmens erklärt, aber auch (wie bis Oktober 1804 geschehen)29 als „Pentameron" angesprochen werden, und zwar, „obgleich zu diesem Zeitpunkt schon alle sechs Erzählungen vorliegen".30 Bereits gemessen an der überschaubaren Komplexität dieser Binnentext und Rahmenhandlung ineinanderschlingenden Konstruktion, bedeutet es eine Verkürzung, das „Ende" des Hexamerons als Übertritt der „Fiktion [...] in die Realität"31 zu lesen, weil das vom Text in Gang gesetzte ,Verwirrspiel' die Voraussetzung einer solchen Lektüre unterhöhlt: Die trennscharfe Unterscheidung von Binnenelement und Rahmen, von Fiktion und Realität oder, ganz im Sinne der von Herrn M. ins Spiel gebrachten „neuesten Filosofie", von ,JCörperwelt" und

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30 31

„Ich arbeitete also im Januar und im November des abgewichnen Jahres 5 kleine Erzählungen nebst einer sechsten als Zugabe aus, die ich unter dem Nahmen des Pentameron von Rosenhain in eine Art von Verbindung brachte": Christoph Martin Wieland an Georg Joachim Göschen, 8.1.1803, in: Wielands Briefwechsel. Hrsg. v. Siegfried Scheibe, Bd. 16.1. Berlin 1997, S. 88-91, hier S.88. Ein ebenfalls an Göschen gerichteter Brief Wielands, worin vom hexameron (ehmahls Pentameron) von Rosenhayn" die Rede ist, zeigt eine nicht begründete Änderung des Titels an. Christoph Martin Wieland an Georg Joachim Göschen, 30.10.1804, Bd. 16.1, S. 335-337, hier S. 336. So wundert sich Schelle TAnm. 31, S. 107. Meier/Proß [Anm. 3], S. 155; analog Metwally [Anm.3], S. 81.

Liebe, die aus dem Rahmen fallt

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„Geistererscheinung" (16). Man könnte diesem Einwand entgegenhalten, er ignoriere die durch den stabilen Rahmen unauslöschbar vorgegebene ontologische Differenz, derzufolge der ,,ganze[n] Gesellschaft" (319) und ihrem unterhaltsamen Treiben die Qualität des Faktischen, der vom Baron von Werdenberg vorgetragenen „Geschichte" (285) dagegen diejenige des Fingierten zukomme. Durch die übergeordneten redaktionellen Instanzen, die das „Hexameron von Rosenhain" (21) betitelte und von Rosalinde angefertigte ,Protokoll' der auf dem „Landsitz" (1) arrangierten literarischen Unterhaltungen als Inszenierung präsentieren, wird diese Differenz freilich nicht erschüttert, denn „die wahren Nahmen" (4) sind zwar, wie es im „Vorbericht" heißt, „hier nicht zu erwarten" (4), sondern, so unterrichtet der fiktive Herausgeber „Wieland", „hinter romantische versteckt" (19), doch bleibt diese Relativierung fur die zwischen der vom Baron von Werdenberg vorgetragenen Erzählung und dem „Hexameron von Rosenhain" (21) bestehende ontologische Hierarchie folgenlos, weil sie sie nicht auflöst oder irritiert, sondern ihr lediglich weitere Fiktionsebenen unterlegt. Das zwischen der „Die Liebe ohne Leidenschaft" betitelten „Geschichte" und der mit dieser verschlungenen, „Das Hexameron von Rosenhain" (21) überschriebenen „Handschrift" (18, 21) bestehende ontologische Gefalle wird aber (und das ist ausschlaggebend) konstruktionsimmanent irritiert. Wie Dagobert und Heliane sind auch der Baron von Werdenberg und Julie Haldenstein gedoppelt, fingiert und empirisch - Dagobert und Heliane als im „Zauberspiegel" (92) .abgebildetes' und (flüchtig) in die „Gemähide" (91) der Galerie der „wahren Liebenden" (91) aufgenommenes, diese „Gemähide" (91) zugleich aber auch betrachtendes Paar, der Baron von Werdenberg und Julie Haldenstein als vorgestellte, der Welt der letzten Binnenerzählung angehörige Personen, zugleich aber auch als „Glieder der erzählenden Innung" (171). Und doch besteht ein entscheidender Unterschied zwischen beiden Dopplungen. Diejenige von Dagobert und Heliane begründet die Hierarchie von physischer Realität und spiegelbildlicher Fiktion, denn Dagobert und Heliane blicken beide als empirische Personen in den „Zauberspiegel" (92) und werden auf diese Weise fiktionalisiert, zum „Gemähide" (91). Anders der Baron und Julie, deren Fiktionalisierung nicht parallel und in der Logik der Einbahnstraße verläuft, sondern wechselwirksam und in der Logik des Chiasmus. Denn nicht „Nadine von Thalheim gibt sich als das Urbild der Julie Haldenstein zu erkennen", wie Peter Goldammer und Nadia Metwally übereinstimmend meinen32 - das genaue Gegenteil ist vielmehr der Fall: Sie entdeckt der Erzählgesellschaft und ihren Gastgebern nämlich, daß sie sich „unter dem erdichteten Nahmen Nadine von Thalheim" (320) in die „auserlesene Gesellschaft" (1) habe einführen lassen, tatsächlich aber genau „diese Julie Haldenstein" (320) der vom Baron von Werdenberg dargebotenen Erzählung sei. Julie Haldenstein hat somit der Erzählgesellschaft mit der ,,schöne[n] Nadine von Thalheim" (283) ein fingiertes Element und der vom Baron vorgetragenen 32

Goldammer [Anm.3], S.83, und im Wortlaut nahezu identisch: Metwally [Anm.3], S.81.

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Erzählung mit ,,diese[r] Julie Haldenstein" (320) ein empirisches Element „eingeimpft" (320), während - umgekehrt - der Baron von Werdenberg seiner Erzählung mit dem Herrn „von Falkenberg" (287) ein fingiertes Element und als tatsächlicher Baron von Werdenberg der Erzählgesellschaft ein empirisches Element integriert hat. Die in „Narcissus und Narcissa" unverletzte Grenze zwischen Binnenelement und Rahmen, zwischen Fiktion und Realität, zwischen ,JCörperwelti und „Geistererscheinung" (16), ist auf diese Weise von beiden Seiten - vom Hexameron und von der sechsten Erzählung - aus verwischt worden. Und allein mit dieser Auflösung der zwischen „erzählter" Welt und „Welt" des Erzählens errichteten Grenze kann das ,Jfexameron von Rosenhain" (21) anders als durch seinen Unterhaltungswert dazu beitragen, „ältere Verhältnisse enger zusammenziehen" (1-2), vor allem aber „neue anzuknüpfen" (2), und zwar zunächst nach dem in der ersten Binnenerzählung vorgestellten Modell: Wie der „Zauberspiegel" (92) fur Dagobert und Heliane, so wird die letzte Erzählung und mit ihr (als ihr Element) das „Hexameron von Rosenhain" zum integralen Bestandteil der Begründung und Verlautbarung der Liebesbeziehung, indem diese im Arrangement von ,Binnenerzählung' und ,Rahmen' wie im Spiegel verdoppelt und als streng mimetisch verdoppelte und empirische zugleich zur verbindlich-unverbindlichen Begutachtung durch „die ganze Gesellschaft" (319) gegeben wird. Da Julie und der Baron sich bislang nur in einem „Gespräch unter vier Augen" (316) erklärt haben und ohne „Beystimmung" Dritter „den Schritt [...] nicht [...] thun"(319) wollen, gilt es, diese mittels des „abgeredeten Plan[s]" (319) einzuholen. Daß der Baron als „der Erzähler" (319) der letzten „Geschichte" (285) genau zu dem Zeitpunkt „ein wenig inne hielt", da die Bedingung für die in der letzten Erzählung vor- und zur Diskussion gestellte Verbindung formuliert wird, geschieht daher nicht zufallig: Das Innehalten im Erzählfluß lädt die Zuhörerinnen und Zuhörer zu Kommentaren ein. Zunächst nimmt Frau von P. diese Einladung an und gibt der vorgestellten Verbindung das placet, dann „die ganze Gesellschaft" (319), (noch) nicht wissend, daß diese „Beystimmung" (319) doppelschlächtig ist: verbindlich und unverbindlich zugleich. Es obliegt nämlich Julie und dem Baron, das Spiel aufzuheben und für Ernst zu erklären, sollten sie die „Beystimmung [...] mit guter Art [...] erhalten" (319), oder, sollte sie verweigert werden, das Spiel als Spiel zu Ende zu führen. Ohne den von Kunstwerken geleisteten medialen Beistand können die Liebenden des Hexamerons und der letzten Erzählung sowenig wie diejenigen der ersten unter Wahrung ihrer „Freyheit" (56, 281) zueinander finden: Dagobert und Heliane sind auf den „Zauberspiegel" (92) angewiesen, um ihre Liebe durch „ein untrügliches Zeichen" (88) einander und „öffentlich [...] zu erklären" (70), Julie und der Baron dagegen auf die durch die letzte Erzählung geleistete Spiegelung ihrer als beistimmungspflichtig erachteten Verbindung. Der Heteronomieverdacht, dem das Zustandekommen und der Erfolg der beiden Verbindungen damit unterliegt, wird aber - und das ist entscheidend - durch die Wahl des, ja: eines „Mittels" (88) zwar nicht vollständig ausgeräumt, aber doch entkräftet.

Liebe, die aus dem Rahmen fällt

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Der Autonomieanspruch wird nämlich von der sozialen Welt in die der Kunst verlagert, indem Veröffentlichung der und Beistimmung zur Liebe nicht Dritten - sei es Schutzgeistern, sei es Verwandten - überlassen, sondern von den Liebenden selbst an Medien delegiert werden, an den „Zauberspiegel" (92) und an das Spiel mit „erdichteten Nahmen" (320) in der letzten „Erzählung" (286) und ihrem,Rahmen'. Die Darstellung von Pallas und Tiresias hätte im „Sahl der wahren Liebenden" (91) keinen Platz, denn Gegenstand dieses „Gemähides" (250) ist nicht „reine Liebe" (89), nicht „Liebe, und Liebe ganz allein" (298), sondern eine Übertretung. Im Unterschied zum „Zauberspiegel" (92) im „Sahl der wahren Liebenden" (91) und anders als der „abgeredete Plan" (319) von Julie und Werdenberg verdoppelt das „Gemähide" (250) nicht das liebende Paar und kann daher sowenig wie die Maskenspiele der zweiten und vierten oder die „Ritterbücher und Feenmährchen" (131) der dritten Binnenerzählung eine transzendentale Situation herstellen. Vielmehr zeigt und begründet es ein als verhängnisvoll ausgewiesenes Begehren. Das im „Talismanischen Spiegel" sich abzeichnende Spiegelbild von Dagobert und Heliane dagegen wird in den „Sahl der wahren Liebenden" in die Reihe der „schon oft betrachteten Gemählde" (91) aufgenommen. Ebenso wird das liebende Paar der von Julie Haldenstein und vom Baron von Werdenberg gegebenen Inszenierung in das „Hexameron von Rosenhain" (21), in die Reihe seiner „wahren Liebenden" integriert - mit dem entscheidenden Unterschied zur ersten Binnenerzählung aber, daß die Differenz von Fiktion und Realität aufgehoben und der Baron von Werdenberg alias Herr von Falkenberg und Julie Haldenstein alias Nadine von Thalheim den wahren Liebenden beider Sphären angehören, denjenigen, die in den Binnengeschichten vorgestellt werden, und denjenigen, die die „auserlesene Gesellschaft" (1) bilden. „Der fernere Erfolg dieser Geschichte" (321), so schließen die „mit der Unterschrift Rosalinde" versehenen „etlichen Zeilen" der „Handschrift" (18), ohne zu spezifizieren, von welcher Geschichte die Rede ist, „liegt außerhalb des Hexamerons von Rosenhain" {321). Und dieses „Außerhalb" wurde, wie die Ausführungen des Herausgebers erkennen lassen, offenbar nicht dem Zufall überlassen. Zwar „gedachte man Anfangs wohl schwerlich, aus den anspruchslosen Zeitkürzungen [...] eine Unterhaltung für die Welt zu machen" (19), doch „was in ähnlichen Fällen schon öfters geschah, begegnete auch hier; und, wie es immer damit zugegangen seyn mag, gewiß ist wohl, daß die Handschrift dem Herausgeber nicht zugeschickt wurde, um sie unter sieben Siegeln in seinen Schreibtisch einzukerkern" (20). Da die ,,wahre[n] Nahmen" der Erzählerinnen und Erzähler „hinter romantische versteckt" sind, ist es nicht auszuschließen, daß es Wielands Text gelingt, in der „Welt" (19) „außerhalb des Hexamerons von Rosenhain" {321) nicht nur „ältere Verhältnisse enger zusammen[zujziehen" (1-2), sondern auch „neue anzuknüpfen" (2) - in der (dem nachgeborenen Rezipienten entzogenen) Welt des Herausgebers, wenn man das ,Jfexameron" (21) der „Handschrift" (18) ins Auge faßt, oder (historisch unabhängig) in der Welt aller Leserinnen und Leser, wenn man sich auf das von

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Volker Mergenthaler

„C. M. Wieland" herausgegebene Hexameron bezieht; im ersten Fall nach dem Vorbild der von Julie und dem Baron geplanten Inszenierung, im andern Fall nach dem Vorbild der ersten Binnengeschichte, indem liebende Leserinnen und Leser gemeinsam und zugleich in den „Talismanischen Spiegel" des Textes blicken, um sich als Liebende erkennen und „einander in die Arme" (92) sinken zu können. Als „mattes Werk" darf das Hexameron dann allerdings nicht mehr gelesen werden.

Friedhelm

Krummacher

Haydns Formung der musikalischen Zeit Beobachtungen an frühen Streichquartetten

„Denn 4, 8, 16, und wohl auch 32. Täcte sind diejenigen, welche unserer Natur dergestalt eingepflantzet, daß es uns schwer scheinet, eine andere Ordnung (mit Vergnügen) anzuhören."1 Mit dieser berühmten Formulierung umschreibt Joseph Riepel im ersten Band seiner Kompositionslehre 1752 eine Norm der Taktgruppierung, die fast den Anspruch eines Naturgesetzes zu erheben scheint. Als eine Regel des Geschmacks wird sie freilich durch den Zusatz eingeschränkt, eine andere Ordnung sei zumindest nicht „mit Vergnügen" zu hören. Im Diskurs zwischen „Praeceptor" und „Discantista" geht indessen die eingehende Erörterung von Regeln zur Anfertigung eines Menuetts voran, und wenn der vorwitzige Schüler schon bald „einen Fünfer, und darauf einen Dreyer machen" will, so wird er mit der Begründung abgewiesen, derart unregelmäßige Taktfolgen ergäben „recht eine verwirrte Composition".2 Etwa zu gleicher Zeit wurde Joseph Haydn, wie sein erster Biograph Georg August Griesinger berichtet, vom „Baron Fürnberg" in Weinzierl dazu aufgefordert, „etwas zu komponiren", das von „vier Kunstfreunden aufgeführt werden könnte". Und weiter heißt es: „Haydn, damals achtzehn Jahr alt, nahm den Antrag an, und so entstand sein erstes Quartett [...], welches gleich nach seiner Erscheinung ungemeinen Beyfall erhielt, wodurch er Muth bekam, in diesem Fache weiter zu arbeiten."3 Demnach hätte der 1832 geborene Komponist bald nach 1850 sein erstes Streichquartett geschrieben, obwohl aber Griesinger als recht glaubhafter Zeuge gilt, der sein Wissen dem Umgang mit dem greisen Haydn dankte, hat sich mittlerweile erwiesen, daß die ersten Quartette etwas später anzusetzen sind. Mit den Bezeichnungen ,opus 1' bzw. ,opus 2', die hier wie bei weiteren Werken nicht auf den Komponisten, sondern auf die Frühdrucke zurückgehen, werden sechs und nochmals vier Werke zusammengefaßt, die in handschriftlichen Quellen seit 1762 belegt sind und in Drucken nach 1764 1

2 3

Riepel, Joseph: Anfangsgründe zur musicalischen Setzkunst. De Rhythmopoei'a, Oder von der Tactordnung. Frankfurt, Leipzig 1752, S.23. Dem Titelblatt zufolge war der Autor „Sr. Durchlaucht des Fürsten von Thum und Taxis Kammermusicus". Ebd., S . l l . Griesinger, Georg August: Biographische Notizen über Joseph Haydn. Leipzig 1810, S. 15f. (wo die ersten drei Takte aus dem Kopfsatz des B-Dur-Quartetts op. 1 Nr. 1 zitiert sind). Weit blasser bleibt die Notiz eines weiteren Biographen: „Er schrieb im neunzehnten Jahre seines Alters Quartette, die ihn als ein gründliches Genie bei den Liebhabern der Tonkunst bekannt machten", vgl. Dies, Albert Christoph: Biographische Nachrichten von Joseph Haydn. Wien 1810, neu hrsg. von Horst Seeger. Berlin o. J. [1959], S. 40.

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Friedhelm Krummacher

verbreitet wurden. 4 Dürfte ihre Entstehung demnach weiter zurückreichen, so ist zumal für op. 1 eine Datierung seit etwa 1757-58 nicht auszuschließen. Allerdings handelt es sich nicht schon um viersätzige Streichquartette, wie Haydn sie erst ab 1768 mit den 18 Werken schrieb, die als op. 9, 17 und 20 - gebündelt zu je sechs Beiträgen - 1770-72 erschienen. Wenn andere Autoren schon etwas früher viersätzige Quartette publizierten, so liegen in Haydns zehn ersten Werken noch funfsätzige Kompositionen vor, für die der Komponist in seinem Werkverzeichnis an der Bezeichnung .Divertimento' oder ,Cassatio' festhielt, während er erst 1785 mit dem Einzelwerk op. 42 den inzwischen geläufig gewordenen Terminus ,Quartetto' oder ,Quartett' übernahm. Die Werke in op. 1 und 2 umfassen in der Regel zwei rasche Ecksätze, zwischen ihnen finden sich durchweg zwei Menuette, und sie umrahmen ihrerseits zumeist einen langsamen Mittelsatz. Wie aber der Typus dieser funfsätzigen Quartettdivertimenti auf Haydn zurückgehen dürfte, so gehören die Werke offenbar zu den frühesten Zeugnissen für die Ausbildung des solistisch besetzten Quartettsatzes. 5

I

Die schlichten Beispiele, die Joseph Riepeis Lehre erörterte, scheinen mit Haydns Kompositionen auf den ersten Blick wenig mehr gemeinsam zu haben als das Jahrzehnt ihrer Entstehung. Wie grundlegend neu aber die Verfahren waren, mit denen Haydns erste Beiträge die Gattung ausprägten, läßt sich am ehesten einsichtig machen, wenn man sich die Prinzipien vergegenwärtigt, die für Riepeis Lehre maßgeblich waren. Es wäre einseitig und ungerecht, Riepel der bornierten Verengung zu bezichtigen, wenn er seinen Schüler vor irregulärer Gruppierung der Takte warnte, wobei regulär viertaktige Gruppen durch Asteriscus getrennt werden, während die „Dreyer" durch Klammern markiert sind (Bsp. la). Zum einen dient die Mahnung einem übereifrigen Anfanger, zum anderen werden im weiteren Ver-

Hierzu und zu den weiteren Angaben vgl. Haydn, Joseph: Werke. Hrsg. von Georg Feder in Verbindung mit Gottfried Greiner. Reihe ΧΠ, Bd. 1: Frühe Streichquartette (fortan zitiert: Haydn: Werke ΧΠ/1). München 1973, Vorwort S. IX. Der Gesamtausgabe sind mit freundlicher Genehmigung des G. Henle Verlags die Notenbeispiele entnommen. Vgl. weiter van Hoboken, Anthony: Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. Bd. 1. Mainz 1957, Gruppe ffiNr. Iff. (zitiert: Hob.IQ:Iff.). Vgl. dazu Finscher, Ludwig: Die Entstehung des klassischen Streichquartetts. Von den Vorformen zur Grundlegung durch Joseph Haydn. Studien zur Geschichte des Streichquartetts, I. Kassel u.a. 1974 (Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 3); ders.: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber 2000, S. 115-124 und S. 398^126; Feder, Georg: Haydns Streichquartette. Ein musikalischer Werkführer. München 1998 (Beck'sche Reihe, 2203); Drabkin, William: A Reader's Guide to Haydn's Early String Quartets. London, Westport, Conn. 2000; Krummacher, Friedhelm: Das Streichquartett. Teilband 1: Von Haydn zu Schubert. Laaber 2001 (Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 6,1).

Haydns Formung der musikalischen Zeit

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lauf unregelmäßige Taktgruppen vom Lehrer selbst eingeführt. 6 Originell genug war aber das Verfahren, eine Kompositionslehre mit der Unterweisung in das Erfinden einer .Melodie' zu beginnen. Und daß mit dem Menuett ein Tanz als Paradigma diente, wäre noch wenige Jahrzehnte zuvor kaum denkbar gewesen.

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la J. Riepel, Anfangsgründe, S. 10

lb J. S. Bach, BWV1048,

1. Satz (Violine 1 und Basso continuo)

Denn solange die Kompositionslehre primär in der Vermittlung der Grundlagen des kunstvollen Kontrapunkts bestand, bewahrte die Vokalmusik ihren traditionellen Vorrang. Dagegen galten Tanzsätze kaum schon als theoriewürdig, und wenn sie 1713 in die Gattungslehre Johann Matthesons aufgenommen wurden, so erhielten sie ihren Platz zunächst nur in einer auf Vollständigkeit bedachten Systematik. Als Mattheson selbst jedoch 1739 erstmals versuchte, einen instrumentalen Satz nach dem Muster einer musikalischen Syntax zu beschreiben, da nannte er als Beispiel ein Menuett, mit dem er .Colon', .Semicolon' und ,Commata' am Verhältnis zwischen den Taktgruppen und den Kadenzen definierte.7 Riepel jedoch wählte ausgerechnet das Menuett, um von ihm aus seine Lehre von der „Tactordnung" zu entwickeln, die damit zur Basis der „musicalischen Setzkunst" avancierte. Wie sehr er sich der Neuheit seines Vorgehens bewußt war, zeigt der Zusatz im Untertitel: „Nicht zwar nach alt-mathematischer Einbildungsart der Zirkel-Harmonisten, Sondern durchgehende mit sichtbaren Exempeln abgefasset". Denn die polemische Formulierung richtet sich 6 7

Riepel [Anm. 1], S. 3Iff. Mattheson, Johann: Der vollkommene Capellmeister. Hamburg 1739. Reprint Kassel 1954 (Documenta musicologica 1/5), S. 224f.; zuvor ders.: Das Neu-Eröffhete Orchestre. Hamburg 1713, Caput Quartum. Von der Composition unterschiedenen Arten und Sorten, S. 138-199, zu Tanzsätzen S. 185ff., zum Menuett S. 193ff.

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Friedhelm

Krummacher

gegen eine Tradition, die von den Proportionen der Intervalle her Konsonanzen und Dissonanzen und weiter die Regeln des Kontrapunkts bestimmte, wogegen der eigene Ansatz von der Fülle der „sichtbar" mitgeteilten Beispiele ausging. Es ist nicht notwendig, all die Varianten dieser „Exempel" zu erörtern, die immer wieder zeigen wollen, wie durch Zusatz, Streichung oder Änderung einzelner Takte eine korrekte Gruppierung erreicht, geklärt oder auch verfehlt werden kann. Denn schon ein Zusatz zur Vorrede stellt klar, daß ein fortgeschrittener Leser „die gar zu läppische Anfangsbeschreibung der nichtswürdigen Menuets gar nicht anschauen" soll, sondern gleich mit „der Tactordnung insbesondere" beginnen kann.8 Entscheidend ist jedoch die Einsicht, daß die Gruppierung des Tonsatzes vom einzelnen Takt und seiner Relation zu anderen Takten ausgeht. Wie neu dieses Modell war, läßt sich leichter ermessen, sobald man daran erinnert, wie der Zeitverlauf in der Musik zuvor reguliert worden war. Seit der mittelalterlichen Mehrstimmigkeit galt die Proportionierung eines Zeitmaßes durch den ,Modus', der an der Notierung des Tonsatzes abzulesen war und die relative Zeitgeltung der Töne in ihrem Verhältnis regelte. Auch bei genauerer Definition des Zeitwerts der einzelnen Töne, wie sie durch die mensurale Notation erreicht wurde, regelte immer noch ein durchgehendes Zeitmaß den geschlossenen Verlauf des Satzes oder doch eines ganzen Abschnitts. Selbst wenn die Stimmen unterschiedliche ,Mensuren' aufweisen konnten, regulierten feste Proportionen ihr wechselseitiges Verhältnis. Doch unterschied das mensurale System nur Auf- und Niederschlag, um im kontrapunktischen Satz die Positionen zu definieren, die konsonante Intervalle forderten und Dissonanzen nur unter engen Restriktionen erlaubten. Dagegen kannte die Theorie noch nicht jenes Verhältnis betonter und unbetonter Zeitwerte, das erst fur den akzentuierenden Takt - oder ,Akzentstufentakt'- einer späteren Musik maßgeblich wurde. Der akzentarm fließende Klangstrom, den die niederländische Vokalpolyphonie der Renaissance ausprägte, blieb mit dem Ideal des ,Palestrinastils' noch weiterhin fur primär kontrapunktische - und dann vorab geistliche - Musik verbindlich. In Tanzstücken jedoch, die dem Muster eines Tanzes verpflichtet waren, aber auch in Vokalwerken, die einer metrisch geformten Textvorlage folgten, bildeten sich spätestens im 16. Jahrhundert weitere Alternativen aus, die aber von der Theorie zunächst kaum näher erfaßt werden mußten. Die Zahl solcher Möglichkeiten vermehrte sich, seit die Oper im 17. Jahrhundert zum maßgeblich neuen Gattungsmodell wurde. Daß die Theorie dennoch am überkommenen Zeitbegriff festhalten konnte, kann die Erinnerung an jene kontinuierliche Rhythmik verdeutlichen, von der die Concerti, die Chorsätze oder die Arien Vivaldis, Händeis, Bachs und all ihrer Zeitgenossen geprägt sind. Hat man das Muster des prägnanten Beginns erfaßt, so läßt sich in aller Regel der Zeitverlauf eines Satzes ermessen, der Ausnahmen nur bei ausdrücklichem Wechsel des Taktmaßes oder des Satzmodells für ganze Teile oder Abschnitte vorsieht. So beginnt Bachs drittes Brandenburgisches Konzert G-Dur (BWV 1048) - um nur ein Beispiel herauszugrei8

Riepel [Anm. 1], S. HundS. 23.

Haydns Formung der musikalischen

Zeit

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fen - mit der Folge von zwei Sechzehnteln und einer Achtelnote (Bsp. lb), sie durchzieht fortan den ganzen Satz, und wo sie zu gleichmäßigen Figurenketten erweitert wird, erscheint ihre erste Gestalt noch immer in den Gegenstimmen. Von der rhythmischen Kontinuität einer Musik, für die sich die unscharfe Bezeichnung ,Barockmusik' eingebürgert hat, hebt sich desto nachdrücklicher wie es Thrasybulos Georgiades erstmals formulierte - der .diskontinuierliche' Satz der Wiener Klassik ab, der sich durch das wechselvolle Verhältnis zwischen den Takten, den Taktgruppen, den Betonungen und den harmonischen Kadenzen bestimmt.9 Für dieses Satzprinzip hat Stefan Kunze in einer grundlegenden Untersuchung der Opern Mozarts den treffenden Begriff des ,kadenzmetrischen Satzes' vorgeschlagen, der die metrische Disposition der Taktgruppen mit der regulierenden Funktion der harmonischen Kadenzen zusammenfaßt.10 So wenig wie Riepel war Haydn .Erfinder' einer derart neuen Kompositionsweise, die sich bei italienischen Autoren wie Giovanni Battista Pergolesi und Giovanni Battista Sammartini schon nach 1720 anbahnte und noch vor 1750 eine pointierte Ausprägung in der Symphonik und Kammermusik von Johann Stamitz und den Musikern seiner Mannheimer Hofkapelle fand. Wie Riepel aber zuerst das Gefuge einer solchen Musik von ihrer „Tactordnung" her zu erschließen suchte, so erprobte kein anderer Komponist das Prinzip der ,Diskontinuität' so vielfaltig und folgenreich, wie es Haydn besonders in seinen frühen Streichquartetten unternahm. Weder die Lehre Riepeis noch ihre spätere Systematisierung durch Heinrich Christoph Koch sind jedoch weiter zu verfolgen, wenn nun einige Quartettsätze Haydns in den Blick genommen werden.11 Duldete die Theorie Verstöße gegen die .quadratische' Norm höchstens als Lizenzen, so waren sie für Haydn eine Voraussetzung, um wechselnde Möglichkeiten der Zeitordnung zu entwerfen. Nicht ganz zufallig sind es gerade die Menuette (und damit die Gegenstücke zu Riepeis einleitenden ,Exempeln'), die in Haydns op. 1 und 2 verdoppelt werden und demnach besonders reich vertreten sind. Sie umfassen im 3/4-Takt durchweg zwei kurze wiederholte Teile, ihnen folgt das analog gebaute Trio, und nach ihm kehrt das Menuett - nun ohne Teilwiederholungen - noch einmal wieder. So läßt sich in einem äußerst gedrängten Formrahmen am klarsten wahrnehmen, wie unermüdlich Haydn im Verhältnis der vier Stimmen die wechselnden Konstellationen von metrischen und melodischen Impulsen prüfte.

9

10 11

Georgiades, Thrasybulos: „Zur Musiksprache der Wiener Klassiker." In: Mozart-Jahrbuch 1951. Salzburg 1953, S. 51-59 (als Beispiele dienten hier der erste Satz aus Haydns op. 1 Nr. 1 und das Finale aus op. 33 Nr. 2). Kunze, Stefan: Mozarts Opem. Stuttgart 1984, S. 353 und S. 419. Koch, Heinrich Christoph: Versuch einer Anleitung zur Composition. Bde. 1-3. Rudolstadt bzw. Leipzig 1782-1793. Zum theoriegeschichtlichen Zusammenhang vgl. Dahlhaus, Carl: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Zweiter Teil, Deutschland. Hrsg. von Ruth E. Müller. Darmstadt 1989 (Geschichte der Musiktheorie, Bd. 11).

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Friedhelm

Krummacher

Das erste Menuett aus op. 1 Nr. 1 (Bsp. 2a) beginnt zwar regulär mit vier Takten und zudem ,volltaktig' auf der betonten ersten Zählzeit.12 Die Oberstimme setzt jedoch auf der ersten Zählzeit des vierten Takts mit einer Pause aus und trägt nun mit ,auftaktiger' Achteltriole einen Zweitakter nach, der wiederum abbricht, bevor er durch eine analoge zweitaktige Gruppe ergänzt wird.

Minuet

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2 a op.l Nr.l, 2. Satz

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2b op.l Nr.O, 2. Satz

Minuet

fij.i r r 'r ι'Γη

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Κ φ φ

2c op.l Nr.6, 4. Satz (Violine I)

Ergäbe sich damit eine reguläre Gliederung aus 4+2+2 Takten, so wird sie durch die überzählige Wiederholung der letzten Gruppe derart erweitert, daß daraus insgesamt 10 Takte resultieren. Ähnlich witzig ist das Trio, das hier ,Minuet secondo' genannt wird und für die Violinen die Anweisung .pizzicato' zeigt. Formulieren die Unterstimmen jeweils volltaktig eine halbe Note samt angebundener Viertel und einer im nächsten Takt abbrechenden Viertelnote, so fugen in den Pausen beide Geigen mit Auftakt ihre zunächst zweitaktigen Gruppen ein. Sobald sie sich aber vom dritten Einsatz an auf je einen Takt ver-

12

Haydn: Werke XU/1, S. 3f. (Hob. HI:l).Vgl. zu den Menuetten besonders Steinbeck, Wolfram: Das Menuett in der Instrumentalmusik Joseph Haydns. München 1973 (Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 4).

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kürzen, wird dieses verkürzte Modell nun auch von den Unterstimmen übernommen, bis beide Gruppen gemeinsam am Ende des ersten Trioteils wieder einen .Zweier' formieren. Was hier noch vergleichsweise einfach anmutet, kann sich in weiteren Sätzen desto komplexer entfalten. Im Es-Dur-Quartett etwa, das als Ersatz für ein nicht authentisches und daher ausgeschiedenes Werk als ,ορ. 1 Nr. 0' bezeichnet wird, besteht der erste Teil des ersten Menuetts aus zwei ,Dreiern' (mit Riepel zu reden), da aber der zweite kadenzierend auf vier Takte erweitert wird, ergibt sich überraschend eine insgesamt siebentaktige Gruppe (Bsp. 2b).13 Zumeist sind es die ersten Menuette, die solche Komplikationen aufweisen, während die zweiten dann eher regulär gebaut sind, als solle nachträglich die Norm als Hintergrund der Ausnahmen demonstriert werden. Umgekehrt verhält es sich im CDur-Quartett op. 1 Nr. 6 als letztem Werk der Reihe (Bsp. 2c). Wenn hier das zweite Menuett mit einem regelmäßigen ,Vierer' ansetzt, so antwortet ihm ein ,Fünfer' mit Verlängerung um genau jenen Takt, der zugleich den Spitzenton der Melodie erreicht, wogegen das Trio in c-Moll steht, dabei aber metrisch regulär bleibt.14 Bereits in op. 1 beschränken sich solche Maßnahmen keineswegs auf die Menuette, wie sich zumal am ersten Satz aus Nr. 1 zeigen ließe. Doch auch das Finale überrascht hier nach zwei analogen Takten, die zusammen einen regulären Zweier bilden könnten, mit der anschließenden Achtelkette, die mitten in Takt 6 abbricht. Und achtet man näher auf diese zunächst unauffällige Differenzierung, so bleibt von ihr kaum einer der raschen Sätze in op. 1 ganz unberührt. Eine Gruppe für sich sind vorerst nur die langsamen Sätze, die von der Gegenüberstellung der kantabel dominierenden ersten Violine mit der rhythmisch einheitlichen Begleitung der Unterstimmen ausgehen. Zehren sie also von einer instrumentalen Übertragung des Modells einer langsamen Arie, so stellt sich damit die ganz andere Aufgabe, im Verlauf des Satzes seine beiden Schichten anzunähern. Schon im Adagio aus Nr. 1 läßt sich erfassen, wie vorerst nur die Oberstimme in immer kürzere Wendungen aufgelöst wird, bis die zweite Violine erst am Satzende - nach der Rückkehr zum ruhigen Satzbeginn - mit der ersten zusammengeführt wird. Aber schon im Gegenstück aus Nr. 3 ist deutlich zu hören, wie die Unterstimmen mit ihren Einwürfen der ersten Violine gleichsam ins Wort fallen, womit die Partner wechselvoll zu kommunizieren beginnen. Unter durchaus verschiedenen Prämissen loten also schon Haydns erste Quartette verschiedene Möglichkeiten aus, um von den Takten und ihrer wechselvollen Gruppierung her den Zeitverlauf der Musik zu prägen. Pointiert gesagt: Haydn vertraut sich nicht mehr einem Zeitstrom an, der vom ersten Einsatz an für die Kontinuität des Ablaufs einsteht, sondern der Komponist ist es, 13

14

Haydn: Werke ΧΠ/1, S. 41f. (Hob. Π:6). Um Mißverständnisse zu vermeiden, wird im weiteren die herkömmliche Bezeichnung der Quartette mit Opuszahlen und Nummern auch dort übernommen, wo die Gesamtausgabe mit guten Gründen die Werke innerhalb einer Serie umgestellt hat. Haydn: Werke ΧΠ/1, S. 55f. (Hob. DI:6).

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der die musikalische Zeit in seine Hand nimmt. Indem der Autor selbst vom einzelnen Takt und seiner Füllung an bis hin zur Gruppierung der Taktfolgen einen durchaus unregelmäßigen Verlauf zu steuern weiß, stiftet erst sein Ermessen die musikalische Zeit.

II Nach kurzer Anstellung als Leiter der kleinen Kapelle des Grafen Morzin im böhmischen Lukavec wurde Haydn 1761 in Eisenstadt Vizekapellmeister der Fürsten Esterhazy, zu deren Oberkapellmeister er 1767 aufstieg. Wenig ist aus den frühen Jahren bekannt, was auf Reflexionen über die eigene kompositorischen Arbeit schließen ließe, wieder aber ist es Griesinger, der von einer rückblickenden Äußerung des greisen Komponisten berichtet: „Mein Fürst war mit allen meinen Arbeiten zufrieden, ich erhielt Beyfall, ich konnte als Chef eines Orchesters Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt, was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen".15 Was damit über Orchesterwerke gesagt wird, in denen der Autor etwas „wagen" durfte, indem er Taktgruppen „zusetzen" oder „wegschneiden" konnte, trifft recht genau die Zeitstruktur der Musik und gilt erst recht für die Streichquartette. Denn für diese Werke ist - abgesehen vom zufälligen „Antrag" für das erste Quartett kein konkreter Beleg für Aufträge dokumentiert, auch dürften sie nicht primär für die Hofmusik der Esterhazy geschrieben sein, und wenn die Werkgruppen unterschiedlichen Widmungsträgern zugeeignet wurden, so wurde damit offenbar keineswegs das freie Ermessen des Komponisten eingeschränkt. Desto mehr bedeutet die Aussage, die von Griesinger im Anschluß an die zitierten Worte überliefert wurde: „ich war von der Welt abgesondert. Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so mußte ich original werden". Man muß sich in Erinnerung rufen, wie klein der Ort war, von dem aus Haydn rasch die musikalische Welt zu erobern wußte, wie die Fülle der Auflagen (und der von ihm beklagten Raubdrucke) seiner Werke und besonders der Streichquartette beweisen. Daß im gleichen Passus von freien .Versuchen' die Rede ist, in denen die .Originalität' des Autors gründet, macht das künstlerische Selbstbewußtsein kenntlich, von dem Haydn bei aller Bescheidenheit der eigenen Lebensführung geleitet war. Angesichts der unscheinbaren Formeln, mit denen die ersten Quartette operieren, zögert man vor so gewichtigen Worten wie ,Thema', .Motiv', oder gar .Durchführung', die nicht nur Theoretikern wie Riepel oder Koch noch fremd waren. Solche Begriffe wiegen vielmehr zu schwer für die unterhaltsame Kunst des jungen Haydn, der seine Sätze aus kleinsten Splittern zusammenfügt, die eher als melodische und metrische Impulse zu charakterisieren sind. In op. 2 bereits ändert sich das insofern, als nun unüberhörbar die Prägnanz der Gebilde 15

Griesinger [Anm. 3], S. 24f. (dort auch das folgende Zitat).

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zunimmt, die deutlicher als zuvor den Verlauf eines ganzen Satzes zu lenken vermögen.

Allegro molto

3 a op.2 Nr. 2, 1. Satz

Allegro

Ein schlagendes Beispiel ist der erste Satz des E-Dur-Quartetts op. 2 Nr. 2, der durchweg von zwei charakteristischen Gesten bestimmt wird (Bsp. 3a).16 Die erste Violine intoniert allein ein Incipit, das auftaktig auf einen Terzfall mit betonter Viertel- und angebundener Achtelnote zuläuft. Von den drei Unterstimmen wird es sogleich - ebenfalls mit Auftakt - in hüpfenden Achteln beantwortet, die ihrerseits in zwei gebundenen Achteln enden. Beide Gruppen umfassen gerade einmal zwei Takte, durch Reihung ihrer Kadenzformeln aus gebundenen Viertel- oder Achtelwerten können sie jedoch verlängert und dann wieder verkürzt werden, und so kann der Hörer - gleichsam mitsprechend nachvollziehen, wie das ganze Satzgefüge vom Wechsel dieser beiden Gebilde zehrt, die ihre konkrete melodische Gestalt ändern können, ohne ihre metrische Prägnanz einzubüßen. Das Pendant im A-Dur-Werk Nr. 1 bildet sein Thema aus zwei sich entsprechenden Taktgruppen, die beide mit betontem Akkordschlag auf der ersten Zählzeit im 2/4-Takt beginnen, um noch im gleichen Takt von einer auftaktigen Wendung abgelöst zu werden, die ihrerseits auf vier wiederholte

16

Haydn: Werke ΧΠ/1, S. 69ff. (Hob. ΙΠ:8).

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Achtel im zweiten Takt zielt, bis der dritte kadenzierend abbricht (Bsp. 3b).17 Obwohl die beiden ,Dreier' in der weiteren Fortspinnung zu zwei- und viertaktigen Folgen ergänzt werden, bleiben ihre prägenden Impulse im Verlauf des Satzes wirksam, der nur an den markanten Kadenzen seiner Teile durch von Pausen getrennte Achtelnoten gebremst wird. Dagegen paart das F-Dur-Werk Nr. 4 (Hob. 111:10) den volltaktigen Themenkem, in dem sich vier Takte in wiegender Rhythmik entsprechen, mit einer rauschenden Kadenzgruppe, die auftaktig ansetzt und mit drei Takten die ganze Gruppe auf insgesamt sieben Takte erweitert. Nicht ganz so wechselvoll wie in op. 1 sind die Menuette gebaut, die nun prinzipiell mit viertaktiger Gliederung auskommen können, weil ihr metrisches Gefüge ohnehin lebendig und variabel genug entworfen ist. Das erste Menuett in Nr. 1 etwa fügt an einen melodisch geprägten .Vierer' einen kontrastierenden zweiten an, der die Violinen in tiefer Lage zu längeren Notenwerten zusammenzieht, während die Unterstimmen beide Taktgruppen mit durchgehenden Viertelnoten im Unisono zusammenhalten. Und das zweite Menuett in diesem Werk verlängert im ersten Teil zwei Viertakter nur durch eine zweitaktige Kadenz.18 Indem Haydn derart wechselvolle Konstellationen prüfte, prägte er zuerst im Rahmen seiner fiinfsätzigen Divertimenti einen Quartettsatz aus, in dem die Stimmen auf den Austausch der gegenseitigen Impulse bedacht waren. Gegenüber dieser souveränen Verfügung über den Zeitverlauf der Musik will es nicht gar zu viel besagen, daß ihm andere Musiker wie Franz Asplmayr mit der Publikation viersätziger Quartette zuvorkamen.19 Denn der außerordentliche Gewinn, der sich in Haydns nun ebenfalls viersätzigen Werken seit op. 9 abzeichnet, liegt weniger in äußeren Kriterien wie der reduzierten Zahl und dem wachsenden Umfang der Sätze. Er gründet vielmehr im zunehmenden Profil einer Themenbildung, die fortan auch eine immer dichtere Thematisierung des gesamten Satzverlaufs erlaubt. Dabei geht jedoch die freie Herrschaft über die zeitliche Strukturierung keineswegs verloren, selbst wenn sie zumeist weniger ostentativ hervortritt als in den ersten Versuchen, wie wenige Beispiele andeuten mögen. Die Serie der sechs Quartette op. 9 wird durch das d-Moll-Werk eröffnet, dessen erster Satz über ein sechstaktiges Thema verfügt (Bsp. 4a).20 Volltaktig setzt die erste Violine mit zwei gebundenen halben Noten an, um dann mit kleiner Auszierung in Achteln zur Quinte aufzusteigen und sogleich abzubrechen. Kürzeste Formeln wechseln sich in den nächsten beiden Takten zwischen den Stimmen ab, sie werden erst wieder in der erweiterten Kadenz zusammengefugt,

17 18 19

20

Haydn: Werke ΧΠ/1, S. 59ff. (Hob. ffl:7). Haydn: Werke ΧΠ/1, S. 62. Asplmayr, Franz: Six Quatuors concertantes. Paris 1769. Hrsg. von Dennis Monk. Madison, Wise. 1999 (Recent Researches on the Music of the Classical Era, Bd. 56). Haydn: Werke ΧΠ/2, Streichquartette „Opus 9" und „Opus 17". Hrsg. von G. Feder. München, Duisburg 1963, S. 3 - 6 (Hob. 111:22). Die in früheren Editionen als „Opus 3" gezählten Quartette (Hob. 111:13-18) gelten mittlerweile als nicht authentisch und bleiben hier daher außer Betracht.

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die sogleich in die Wiederholung des ersten Zweitakters einmündet. Und wer von diesen Vorgaben her den weiteren Satz verfolgt, wird auch erfassen können, wie er durch diese rhythmischen Modelle im Wechsel zwischen Zusammenziehung und kurzfristiger Auftrennung der Stimmen charakterisiert bleibt.

4a op.9 Nr.4,

I.Satz

Ein treffendes Beispiel für die wachsende Subtilität der Menuette liefert dasselbe Werk, in dem der Tanzsatz mit einem Zweitakter beginnt und gleich abbricht (Bsp. 4b). Regelmäßiger scheinen sich zwar die folgenden Viertakter anzufügen, die jedoch jeweils um zwei Zwischentakte erweitert werden, bis der erste Satzteil, der zunächst in der Tonika d-Moll auszulaufen scheint, unvermutet nach a-Moll umlenkt. Und das Trio bezaubert danach durch seine Klangfülle und kommt doch mit beiden Violinen allein aus. Ähnlich wechselt auch im Menuett des C-Dur-Werks Nr. 2 (Hob. 111:19) die interne Gliederung, die durch mehrfache Synkopen und wechselnde Phrasenlängen bewirkt wird. Wiederum anders verfahrt der entsprechende Satz aus dem G-Dur-Quartett Nr. 3 (Hob. 111:21), wenn der erste Teil zwei sechstaktige Gruppen verbindet, deren erste volltaktig mit breiten Notenwerten anhebt und nach steigender Skala in Takt 6 endet, worauf die auftaktige zweite ein geradezu tändelndes Motiv mehrfach aneinander reiht. Statt die unerschöpfliche Variabilität solcher Lösungen in op. 9 weiter zu verfolgen, sei noch ein Blick auf ein paar Sätze aus der anschließenden Werkreihe geworfen. Der Kopfsatz des E-Dur-Quartetts op. 17 Nr. 1 setzt mit zwei kurzen, sich metrisch durchaus entsprechenden Gestalten ein, die jeweils nur ei-

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nen Takt messen (Bsp. 5a).21 Vom dritten Takt an wird dieses Kopfmotiv zu einer geschlossenen Viertaktgruppe ausgesponnen, und setzt es dann nochmals so kurz wie anfangs ein, so erweitert es sich nun über mehr als 20 Takte zu einem geschlossenen Komplex, der in sich weder Pausen noch kadenzierende Einschnitte duldet. So erprobt der Satz einmal nicht die Zerlegung einer Taktgruppe in Einzelglieder, sondern gerade umgekehrt die sukzessive Fortspinnung eines äußerst knappen Grundgedankens. Dagegen konfrontiert das nachfolgende Menuett ein rustikales, geradezu stampfend wiederholtes Motiv mit einer gebundenen, spielerisch kreisenden Fortfuhrung, die im Mittelteil des Satzes wieder anders pointiert wird. Mindestens ebenso witzig ist das Finale dieses Werks (Bsp. 5b), das mit zwei huschenden Viertaktern einsetzt, die aber beidemal durch einen fünften Takt mit unerwartet abreißenden Akkorden vervollständigt werden. Und ein gleich variables Vorgehen zeichnet im weiteren fast alle anderen Werke dieser Serie aus.

5a op.17 Nr.l,

I.Satz

Finale

5b op.17 Nr.l,

I.Satz

III In den sechs Quartetten op. 20, mit denen die erste geschlossene Folge von 18 viersätzigen Werken vervollständigt wird, fesselten seit jeher drei fugierte Finalsätze (Hob. 111:35, 36 und 32).22 Zwar zeigen die einzelnen Autographe keine

21 22

Haydn: Werke XII/2, S. 84-89 (Hob. 111:25). Haydn: Werke XU/3, Streichquartette „Opus 20" und „Opus 33". Hrsg. von Georg Feder. München 1974, S. 16ff., S. 32ff. und S. 48ff.

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Numerierung, und auch die variierende Anordnung der erhaltenen Kopien und Drucke weicht in der Anordnung ab. In Haydns Entwurfkatalog jedoch sind die Werke - entgegen älteren Ausgaben - in einer Reihenfolge eingetragen, in der die drei Werke mit Schlußfugen am Beginn stehen. Den Anfang macht das fMoll-Quartett mit einer abschließenden Fuge über zwei Themen („a due soggetti"), der dann die Werke in A-Dur und C-Dur mit Finali „con tre soggetti" bzw. „a 4tro soggetti" folgen. So scheint sich der Anspruch systematisch zu erhöhen, indem die Fugen zunehmend zwei, drei und zuletzt vier Themen verarbeiten und miteinander verbinden. Gerade an ihnen läßt sich aber -scheinbar paradox - die zunehmende Auflösung aller traditionellen Verbindlichkeiten einer Fuge wahrnehmen. Denn die Fuge war im 17. Jahrhundert zum Inbegriff einer kontrapunktischen Kunst aufgestiegen, in der das einmal eingeführte Thema in seiner Integrität prinzipiell unangetastet blieb und von vornherein die Zeitverfassung des dichten Satzverlaufs regulierte.

Finale Fuga a 2 soggetti

Fuga con 3 soggetti Allegro

Am meisten entspricht noch die Doppelfuge f-Moll dem herkömmlichen Begriff eines würdevollen fugierten Satzes (Bsp. 6a). Das Thema präsentiert prägnante Intervallsprünge in breiten Notenwerten, es wird zugleich durch ein Gegenthema in Viertel- und Achtelnoten kontrapunktiert, so wechselvoll aber beide Themen kombiniert, transponiert, verkürzt oder auch erweitert werden, so deutlich bleibt das Verhältnis ihrer rhythmischen Bewegung bis zum Schluß des

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Satzes gewahrt. Ganz anders verhält es sich schon mit der A-Dur-Tripelfuge (Bsp. 6b), die ein sprungreich bewegtes Thema mit einem einfachen Kontrapunkt in synkopierten Notenwerten kombiniert, beide aber durch eine kleine Spielfigur ergänzt, die den Satz zunehmend durchzieht und auflöst, bis zum Schluß alle Stimmen im Unisono zusammengezogen werden. Noch raffinierter verfährt die C-Dur-Fuge, denn ihre vier Themen stellen sich von vornherein als knappste Splitter dar, die nur anfangs noch einen fugierten Satz formieren. Mehr und mehr werden sie als isolierte Kurzmotive eingesetzt, die abgetrennt, aufgespalten und zu einem verwirrenden Puzzle zusammengefügt werden, um damit die Verbindlichkeiten einer gelehrten Fuge vollends in ihr Gegenteil zu verkehren. Desto lockerer sind die drei übrigen Finali angelegt, doch stehen ihnen dafür in den Kopfsätzen Strukturen gegenüber, die thematisch noch dichter geformt sind als zuvor, wie sich besonders eindrucksvoll am D-Dur-Quartett Nr. 4 exemplifizieren läßt (Bsp. 7a).23 Das Allegro di molto im 3/4-Takt beginnt mit einer sechstaktigen Gruppierung in klangdichtem Satz, dieses Thema geht vom dreifach wiederholten Grundton im Unisono aus, sobald es aber nach den repetierten Viertelwerten in einer punktierten Halben innehält, entfaltet sich über dem Grundton im Violoncello der akkordische Verband der Oberstimmen, die im vierten Takt in Vierteln aufsteigen, um mit dem nächsten Takt bereits überraschend abzubrechen. Mit leichten Varianten wiederholt sich das Grundmodell noch dreimal, hat man aber einmal die Viertelnoten des Incipits erfaßt, die durch das einfache Mittel der Tonwiederholung so überaus einprägsam formuliert sind, dann hört man sie im weiteren Satzverlauf ständig mit, und das Ohr ergänzt sie fast dort noch, wo sie rasche Spielfiguren der Oberstimme begleiten und zu Halben verlängert, zu einer Viertel verkürzt oder intervallisch variiert werden. Das Beispiel verdeutlicht, wie Haydns Kunst auf scheinbar einfachste Weise rhythmische Impulse zu solcher Prägnanz ausbildet, daß sie selbst dann noch latent wirksam bleiben, wenn die mit ihnen anfangs verbundene Melodik durchaus wechseln kann. Ein spätes Gegenstück bildet das berühmte „Quintenquartett" d-Moll op. 76 Nr. 2 (Hob. 111:76), das im Hauptthema des ersten Satzes zwei fallende Quintintervalle in halben Noten aneinander fügt. Sie aber bleiben im Satz derart omnipräsent, daß man sie selbst dann zu hören vermeint, wenn die konkrete intervallische Ausformung variiert wird, während zugleich die Quintfalle ihrerseits auch in andere Notenwerte überführt werden können. Von dieser ebenso spielerischen wie konzentrierten Arbeit, die Haydn allein vorbehalten blieb, zehren nun zunehmend auch die Finali, wie sich an zwei Sätzen aus der folgenden Serie op. 33 andeuten läßt. Die sechs Werke waren im Oktober 1781 abgeschlossen, bevor sie aber erstmals im Druck erschienen, suchte der Komponist in einem ,Schemabrief, von dem sich vier Exemplare erhalten haben, Subskribenten mit dem Hinweis zu gewinnen, diese Quartette

23

Haydn: Werke ΧΠ/3, S. 70ff. (Hob. 111:34).

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seien auf „Eine gantz neu Besondere Art" geschrieben. 24 Wie immer diese mehrdeutige Formulierung zu verstehen ist: Die Werke selbst zeichnen sich jedenfalls durch nochmaligen Zuwachs jener Souveränität aus, die allen Sätzen gleichermaßen zugute kommt.

7a op.20 Nr. 4, I.Satz Finale

24

Haydn, J.: Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen. Hrsg. von Denes Bartha. Kassel u.a. 1965, S. 109ff. (Übrigens richtete sich einer dieser Briefe an Johann Caspar Lavater).

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Die Schlußsätze der Quartette Nr. 2 in Es-Dur und Nr. 3 in C-Dur 25 scheinen auf den ersten Blick besonders leicht zu wiegen, gerade sie bestätigen aber in ihrem offenkundigen Witz zugleich Haydns ganzen Kunstverstand. Beidemal handelt es sich - im Unterschied zu den Kopfsätzen - um klar gegliederte Rondoformen mit jeweils drei Refrains, die anfangs in zwei wiederholten Teilen eingeführt werden, während die Teilwiederholungen im zweiten und dritten Refrain ausbleiben. In den dazwischen liegenden Satzphasen - den Couplets wirken zwar die rhythmischen Impulse der Refrains fort, für die dem Rondo zustehenden Kontraste sorgen aber zugleich Veränderungen der Melodik, der Begleitung und der Phrasierung, wozu im C-Dur-Satz außerdem einmal der Umschlag nach c-Moll kommt. Der erste Teil im auftaktig einsetzenden Es-Dur-Refrain (Bsp. 7b) umfaßt vier Gruppen, die zusammen regulär acht Takte ausfüllen. Wenn sich aber die beiden ersten Zweitakter nach Melodik und Phrasierung näher entsprechen, so wird die nächste Gruppe bis in ihren dritten Takt (also Takt 7) verlängert, wogegen die letzte zum Ausgleich auf nur einen Takt verkürzt wird. Der zweite Teil des Refrains geht zwar ebenfalls von acht Takten mit intern zweitaktiger Gliederung aus, nach einer Fortspinnung jedoch, die sich auf zwölf Takte erweitert, schließt sich nochmals der erste Achttakter des Refrains an. Erklingt also die thematisch zentrale Gruppe im ersten Refrain mit Teilwiederholungen insgesamt viermal, so muß sie sich jedem Hörer derart einprägen, daß sich die weiteren Varianten desto bewußter wahrnehmen lassen. In knappstem Rahmen bilden diese acht Takte ein Muster für das Verfahren, innerhalb der „quadratischen" Norm von 4+4 Takten durch unregelmäßige Länge der Teilglieder zu überraschen, die zudem durch eingeschaltete Pausen relative Selbständigkeit gewinnen. Nachdem der zweite Refrain nur die Teilwiederholungen ausläßt, zieht der dritte und letzte die Konsequenzen, indem er bereits nach acht Takten abbricht und den zweiten Refrainteil ausläßt. Gänzlich unerwartet werden im Umschlag zum 2/4-Takt hier aber vier Takte mit der Angabe „Adagio" eingeschoben, die an den Refrain nur noch in ihrer fallenden und zudem sequenzierenden Melodik erinnern. Und setzt danach - als sei nichts gewesen - erneut der erste Teil des Refrains ein, so werden nun seine Glieder durch Pausentakte scharf voneinander getrennt. Dabei werden aber die beiden letzten Glieder derart modifiziert, daß sich statt der vorherigen Gruppierung (3+1) erstmals fast analoge Zweitakter ergeben (vgl. Takte 161-152 und 165-166 mit den Takten 5-8). Die witzige Pointe liegt also in der Regulierung des Irregulären, nach dem Schlußglied treten jedoch noch einmal insgesamt vier Pausentakte ein, und hebt dann letztmals der erste Zweitakter an, so schließt sich nicht nur der Bogen zurück zum Satzbeginn. Vielmehr bricht der Verlauf jetzt ohne die Fortführung ab, die der Hörer nach allen bisherigen Erfahrungen erwarten muß. Haydn greift also in die Zeitstruktur seines Themas scheinbar nach Belieben ein, mit genauem Kalkül wird aber gleichzeitig demonstriert, daß es der Kom-

25

Haydn: Werke ΧΠ/3, S. 128ff. und S. 157ff. (Hob. 01:38-39). Zu diesem Satz vgl. auch die eingehende Analyse von Georgiades [Anm. 9], S. 55-58.

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ponist selber ist, der nach eigenem Ermessen durch seine Musik über die Gestaltung der Zeit verfügen kann. Auf andere Weise bestätigt das auch der CDur-Refrain im Finale aus op. 33 Nr. 3, der fast mit einem Nichts an Thematik auskommt. Pochend wiederholte Achtel, die im Kopfmotiv nur einen Terzfall umgreifen, wechseln sich mit schwirrenden Figuren ab, die ihrerseits ebenfalls von wiederholten Achteln begleitet werden. Kommt der Satz aber nach dem dritten Refrain zu seinem Ende, so werden nun die ersten Taktgruppen durch Pausen in noch kleinere Glieder zertrennt, die mit nur zwei oder auch vier Achteln bloß einen halben oder gerade einmal einen ganzen Takt messen, bevor die Spielfiguren ebenso unerwartet verlängert werden. Wieder bewährt sich die Freiheit des Komponisten, der als Stifter der musikalischen Zeit in den Verlauf seines Materials derart eingreift, daß es in kleinste Elemente gespalten werden kann. Kaum ein Jahrhundert später spottete Richard Wagner über die „Quadratmusiker", die den „Regeln der Quadratur" folgen und doch mit „der Quadratur des Rhythmus und der Modulation nichts auszurichten" wissen. 26 Er richtete sich gegen die zur Konvention gewordene Norm, Melodik, Harmonik und Rhythmik nach der .quadratischen' Regelung auszurichten, die erstmals durch Riepel entwickelt und dann von Koch systematisiert worden war. Wenn Wagner aber „die Beethovensche Melodie" rühmte, die „so wunderbar lebensvoll" die „Quadratur einer konventionellen Tonsatzkonstruktion" überwunden habe, 27 so übersah er zugleich, daß Haydn zuerst einen so freien Umgang mit der periodischen Normierung begründete (die zudem in seiner Zeit noch gänzlich neu war). Haydns Quartette op. 33 waren ein Anstoß für Mozart, als er ab 1782 jene sechs Meisterwerke schrieb, deren Publikation er 1785 mit einer aufschlußreichen Vorrede Haydn zueignete. Und während Haydn 1799 seine beiden letzten Quartette vollendete, die er dem Fürsten Franz Joseph Maximilian Lobkowitz dedizierte, arbeitete Beethoven gleichzeitig für denselben Widmungsträger an seinen sechs Quartetten op. 18, deren Erscheinen 1801 bereits eine neue Phase der Gattungsgeschichte eröffnete. Im Verhältnis der Werke Haydns zu denen Mozarts und dann Beethovens gründete jene geschichtliche Konstellation, mit der sich der Begriff der , Wiener Klassik' verbindet. Er meinte aber zunächst einen Bestand von Werken, deren Autoren den Rang eines ,auctor classicus' erreicht hatten. Denn ihr (Euvre geriet - im Unterschied zu früheren Phasen der Musikgeschichte - nicht mit dem Wechsel des Geschmacks und Bedarfs in Vergessenheit, sondern bewahrte als Basis eines dauerhaften Repertoires bis heute seine verbindliche Geltung. Zum Klassiker des Streichquartetts wurde aber vorab Haydn mit der langen Reihe seiner 69 Werke, mit denen die Gattung vom Status unterhaltsamer Musik fur häusliche Liebhaber zum Rang einer autonomen Kunst in öffentlicher Darbietung aufstieg.

26

27

Wagner, Richard: Über das Opemdichten und Komponieren im besonderen. In: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Bd. 10. Leipzig [o. J.], S. 152-175, hier S. 174. Wagner, Richard: Über die Bestimmung der Oper. In: Sämtliche Schriften [Anm. 26], Bd. 9, S. 125-156, hier S. 149.

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Im Tonsatz der Wiener Klassik erscheint nach Georgiades „der leere Takt, unabhängig von der rhythmischen Ausfüllung, als eigene Wesenheit", mit der sich eine Beziehung zum „reinen Zeitbegriff' der Kantschen Philosophie ergebe.28 Man kann das überzogen finden, solange ganz offen ist, was Haydn und Kant voneinander wußten. Immerhin erinnert der Hinweis daran, welch fundamentale Bedeutung die neue Begründung der musikalischen Zeit durch Haydn besaß. Im gleichen Jahr wie die Reihe seiner Tost-Quartette op. 64 erschien aber Kants „Kritik der Urteilskraft", die der Musik nicht nur einen Mangel an „Urbanität" vorhielt, sondern sie in den Bereich der bloß „angenehmen" Künste verwies, weil ihre „Empfindungen" von nur „transitorischem Eindrucke" seien. Freilich hätten Kant die Quartette Haydns - wenn sie ihm denn zugänglich waren - dazu veranlassen können, ernstlich die Alternative einer „mathematischen Form" der Musik zu erwägen, nach der auch Musik dazu befähigt wäre, „die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen [...] einem gewissen Thema gemäß" auszudrücken und damit „gänzlich als schöne Kunst" zu gelten.29 Dieser Gedanke wurde zwar von Kant noch verworfen, in Hegels Denken jedoch führt die Musik als Kunst der „subjektiven Innerlichkeit" die „Freiheit zur letzten Spitze", indem gerade „selbständige" Instrumentalmusik durch ihre thematische Prägung in Gattungen wie den „Quartetten" ihre Autonomie zu bewähren habe.30 Obwohl Hegel die Schwierigkeiten nicht leugnete, die ihm das Verständnis solcher Werke bereitete, verschloß er sich nicht der Einsicht in den Kunstrang einer derart thematisch geprägten Musik. Die kompositorische Verfugung über die musikalische Zeit war es aber, die wenig später Schelling dazu veranlaßte, die „Form der Musik" als die „Einbildung des Unendlichen in das Endliche" zu bestimmen.31 Und damit war nichts anderes gemeint als das Ermessen des Komponisten, der über die ,unendliche' physikalische Zeit verfugen kann, um aus ihr heraus die ,Endlichkeit' der musikalischen Zeit zu formen. Den Beginn einer derart thematischen Prägung der musikalischen Zeit bedeuten die Werke Haydns, die schon von den frühesten Quartetten an planvoll ihren Weg ausschreiten. All die Regeln und Ausnahmen, die zeitgenössische Theoretiker mit zahllosen Beispielen fur angehende Musiker abhandelten, muß ein aufgeschlossenerer Hörer — damals wie heute - nicht einmal im einzelnen kennen. Denn fur kaum einen anderen Komponisten gilt derart wie für Haydn die Bestimmung Kants, nach der das Genie „Zwangsfreiheit von Regeln so in der Kunst auszuüben" vermag, „daß diese dadurch selbst eine neue Regel be28

29

30

31

Georgiades, Thrasbylos: „Aus der Musiksprache des Mozart-Theaters." In: Mozart-Jahrbuch 1950. Salzburg 1951, S. 76-98, hier S. 87. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Libau 1790 (Ausgabe A), S.217f. (§ 53) und S.210f. (§51). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, Weimar 1965, S. 266 und S. 321 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Kunst (1819). Reprint Darmstadt 1966, S. 190 (§49).

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kommt".32 Wer sich dieser Musik und ihrer Zeitstruktur aufmerksam zuwendet, wird in einer ästhetischen Erfahrung, in der Erkenntnis und Genuß zusammenfallen, die faszinierenden Prozesse erfassen können, die Haydns frühe Streichquartette zuerst ins Werk setzten.

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Kant [Anm. 29], S. A 198 (§ 49).

Gonthier-Louis

Fink

Goethes Mythus des janusköpfigen Volkes in der Zeit des Sturm und Drang

Obwohl Roy Pascal zu Recht betont, „die Sympathie für die Lebensweise, das Wesen und die Kultur des Landvolks" sei als charakteristisches Merkmal des Sturm und Drangs zu betrachten,1 wurde unser Thema zwar vielfach berührt, aber verhältnismäßig wenig im Zusammenhang untersucht, zunächst nach 1945 auch, weil unter dem Einfluß des Nazismus das Wort und seine Komposita mißbraucht worden waren.2 Wenige Wörter sind so polyvalent wie „Volk", heute noch so gut wie zur Zeit Goethes,3 sowohl im Deutschen wie im Französischen. Das Wort bezeichnet einmal das Gesinde oder die Landleute, d.h. die unteren Schichten der Gesellschaft im Gegensatz zu den besitzenden und privilegierten Klassen, zum anderen eine Menge Menschen, schließlich auch eine sprachliche, kulturelle oder politische Gemeinschaft; das Wort ist Synonym von Nation oder Masse. Pöbel, zunächst ohne verächtlichen Nebenbegriff, erhält zusehends eine negative Konnotation, kann dabei aber alle Schichten der Gesellschaft umfassen. Ohne den durch Addison und Percy eingeleiteten Impuls Englands bezüglich des Volkslieds zu vergessen, 4 verbreitete sich der Mythus des Volkes von Frankreich aus über Deutschland und schließlich mit der Romantik und der Welle der kulturel-

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Pascal, Roy: Der Sturm und Drang. Übersetzt von Dieter Zeitz und Kurt Mayer. Stuttgart 1963, S. 97. Die Ideologie der Zeit hat deutliche Spuren hinterlassen, s. Fricke, Gerhard: „Die Entdeckung des Volks in der deutschen Geistesbewegung vom Sturm und Drang bis zur Romantik (1937)." In: ders.: Vollendung und Aufbruch. Reden und Aufsätze zur deutschen Dichtung. Berlin 1943, S. 88-110, und Wiese, Benno von: Volk und Dichtung von Herder bis zur Romantik. Erlangen 1938, S. 19. Siehe hingegen den kurzen Überblick bei Meyer, Hermann: „Volk. Von der Aufklärung zur Romantik." In: Dichtung und Deutung, hrsg. von Karl S.Guthke. Bern 1961, S. 83-95. S. auch Bahr, Eberhard: .Artikel .Volk'." In: Goethe Handbuch, hrsg. von Bernd Witte et al. Bd. 4,2. Stuttgart 1998, S. 1102-1105. Nicolaus, Charlotte: Zur literarischen Spiegelung des Begriffskomplexes „Volk" vom „Sturm und Drang" bis zur „Heidelberger Romantik". Diss. Münster 1926; geht zwar auf die Vorgeschichte des Begriffs ein, betrachtet aber Goethe nur zur Zeit der Klassik. S. die Artikel „Volk" in Adelung, Johann Ch.: Auszug aus dem grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 4. Leipzig 1802, S. 955-956, und „peuple" im Dictionnaire de l'Academie fran?oise. Bd. 2. Paris 1786, S. 250, sowie Schönemann, Bernd: Art. „Volk, Nation". In: Geschichtl. Grundbegriffe, hrsg. von Reinhard Koselleck et al. Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 302ff. S. Addison, Joseph: Beispiele von Volksliedern im „Spectator", 1711-1712, und Percy, Thomas: Reliques of Ancient English Poetry, 1765.

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len Nationalisierung der bisher als unmündig betrachteten Völker über die übrigen europäischen Länder.

Vom edlen Wilden zum Mythus des Landvolkes Es würde uns zu weit führen, die europäische Vorgeschichte des Mythus des Volkes hier nachzuzeichnen.5 Sie wurde gerne übersehen, solange der Sturm und Drang vor allem als Auftakt einer deutschen Bewegung verstanden wurde. Der historischen Perspektive halber scheint es jedoch geboten, wenigstens kurz an die Hauptmomente dieser Debatte zu erinnern, die in Zusammenhang steht mit der Diskussion über Vor- und Nachteile der Vorzeit und der Natur oder der Zivilisation, über die Rolle von Vernunft und Instinkt, Kopf und Herz bzw. Leidenschaft, über Fortschritt oder Dekadenz in der Geschichte. Sie ist zwangsweise auch Teil der Auseinandersetzung mit der klassizistischen Poetik und nicht nur für Deutschland - mit der kulturellen Hegemonie Frankreichs, denn die an der Ständeklausel sich orientierende klassizistische Tradition duldete das Volk auf der Bühne nur als komische Figur oder als Diener oder sie schuf es zum arkadischen Schäfer um, damit es der hochstilisierten Tradition entsprach, die sich bei Gottsched noch bewußt von der sozialen Wirklichkeit distanzierte. Trotz Shakespeare, der in seinen Dramen dem Volk eine bedeutende Rolle zugeteilt hatte, wurde letzterem im 18. Jahrhundert nur im Roman und in den moralischen Erzählungen, d. h. in den von der klassizistischen Poetik nicht wirklich erfaßten Gattungen ein bescheidener Platz gewährt, wofür Richardson, Marivaux und Marmontel den Weg zeigten, während die Erweiterung des Personals durch das bürgerliche Schauspiel wohl den Mittelstand, nicht aber das Volk betraf. Während die optimistisch und teleologisch ausgerichtete Aufklärung dank der sich ausbreitenden Zivilisierung der Menschheit an den Fortschritt glaubte und im Bewußtsein des Erreichten stolz auf die noch von Vorurteilen geprägte Vorzeit zurückblickte, trugen Reiseberichte von Missionaren, Kaufleuten und Forschern durch Vergleiche zwischen zivilisierten und wilden Völkern zuerst dazu bei, die europäische Kultur und Gesellschaftsstruktur in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Während ihre Berichte anfangs zugunsten von Europa ausfielen, zumal dies zur Rechtfertigung der kolonisatorischen Mission diente, wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch kritische Stimmen vernommen wie die von Baron La Hontan, der durch den edlen Wilden die Korruption der europäischen und vor allem der französischen Kultur brandmarkte, indem dieser sie nach dem Maßstab der Natur und der Vernunft beurteilte. Parallel dazu erstand eine Strömung des Primitivismus, deren Vertreter den ,braven Wilden' sowie den patriarchalischen Zeiten der Bibel und Homers den Vorzug vor der Mo-

S. Fink, Gonthier-Louis: „Du Discours de Rousseau aux contes des Freres Grimm. Le my· the du peuple et le miroir de la bourgeoisie." In: Etudes germaniques 2 (2002), S. 43-76.

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derne gaben.6 Diese Debatte führte in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem Paradigmawechsel vor allem durch den Aufsehen erregenden Discours sur les sciences et les arts (1750), in dem Rousseau Wissenschaften, Künste und Kultur beschuldigte, Hypokrisie und Laster gezeitigt, den Menschen durch Neugier, Ehrgeiz und Luxus verdorben und seiner wahren Natur entfremdet zu haben.7 Dies implizierte eine Umkehrung der Kriterien der geistigen Elite: der den Regeln und der logischen Anordnung gezollte Respekt sollte der Spontaneität, die Kunst der Natur, Aufklärung und Bildung der Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit aufgeopfert werden. Natur und Gefühl sollten an die Stelle von Vernunft und Kultur treten. Zugleich lobte Rousseau die ,Völker, die nicht durch unnütze Kenntnisse verdorben, glücklich und tugendhaft lebten', und rehabilitierte das bisher verachtete Volk, das Respekt verdiente. Aufgrund des Gegensatzes zur Stadt, die er wegen ihres schlechten Einflusses verurteilte, dachte er dabei jedoch weniger an das Volk als solches: Arbeiter und kleine Handwerker wurden zugunsten des Landvolks vergessen, die nicht von der Kultur verdorben worden waren. In La Nouvelle Helo'ise stellt er so dem dekadenten Paris und dessen korrumpierendem Einfluß die Einfachheit, Frugalität und Redlichkeit der Schweizer Montagnons gegenüber. Doch entspricht sein Bild des Volkes kaum der konkreten historischen Wirklichkeit; seiner Ideologie gemäß gab er ihm eine mythische Dimension.8 Auf den deutschen Kontext übertragen wurde bei Herder im Nachhall des Siebenjährigen Krieges die Debatte über das Volk und die Natur um die nationale Komponente erweitert, indem sie in Verbindung mit dem Charakter der Nation gebracht wurde und der Einfluß der nordischen Völker die Hegemonie der lateinischen Völker, der Einfluß der stammverwandten Engländer den der Franzosen verdrängen helfen sollte. So erklärt sich wohl, daß in Deutschland der Mythus des Volkes den des edlen Wilden etwas in den Hintergrund drängte. In dieser Optik erschienen sowohl die sozial-politische Gesellschaft wie die kulturell tonangebende Elite doppelt gefährdet, einerseits durch die korrumpie6

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La Hontan: Dialogues curieux entre l'auteur et un sauvage de bon sens qui a voyage (1703). Hrsg. von Maurice Roelens. Paris 1973. Sowie Gonnard, Rene: La legende du bon sauvage. Paris 1946, S. 71 ff.; Bitterli, Urs: Die .Wilden' und die .Zivilisierten'. Die europäisch-überseeische Begegnung. München 1976, S. 367ff. und: Primitivisme et mythes des origines dans la France des Lumieres 1680-1820, hrsg. von Chantal Grell und Christian Michel. Paris 1989. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les sciences et les arts (1750). In: Rousseau, CEuvres completes, hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Bd. 3. Paris 1964 (Bibliotheque de la Pleiade), S. 11. Der Discours wurde schon 1752 ins Deutsche übersetzt und löste eine bedeutende Polemik aus; s. Tente, Ludwig: Die Polemik um den ersten Discours von Rousseau in Frankreich und Deutschland. Diss. Kiel 1974, S. 11-87, Dokumente, S. 89-886. Auch für Rousseau hat das Wort drei Bedeutungen, eine soziale (Arme und Volk im Gegensatz zum Adel), eine politische (Inhaber der Souveränität) und eine mythische; s. Eigeldinger, Marc: ,,L'image mythique du peuple dans les premieres oeuvres de Rousseau." In: Images du Peuple au XVIIIe siecle. Colloque d'Aix-en-Provence d'oet. 1969. Paris 1973, S. 15Iff., sowie Schlobach, Jochen: Artikel „Peuple." In: Dictionnaire europeen des Lumieres, hrsg. von Michel Delon. Paris 1997, S. 847-851.

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rende Zivilisation, die den Menschen um sein wahres Glück zu bringen schien, indem sie ihn seiner natürlichen Bestimmung entfremdete, andererseits da beide den Sirenen des französischen Klassizismus und Rationalismus verfallen waren, anstatt auf die Stimme des eigenen Volkes zu hören und dieser Ausdruck zu verleihen. So gesehen hatte das Volk, in dem Herder wie die Encyclopedie „den größten, nutzbarsten und ehrwürdigsten Teil der Menschen" sah,9 einen doppelten Vorzug gegenüber den Gebildeten; gerade weil es nicht an der kulturellen Entwicklung teilgenommen hatte, war es in Herders Sicht auch seiner nationalen Eigenart nicht entfremdet worden. Darum konnte es der Nation zum Vorbild dienen. War es bisher als grobschlächtig und ungebildet verachtet worden, so wurde es nun rehabilitiert. Bezeichnenderweise verstand jedoch auch Herder unter Volk weniger die unteren Schichten als die Frauen, die Kinder und die Bauern, d.h. diejenigen, die sowohl von der herrschenden Kultur wie von dem fremden Einfluß verschont geblieben waren. Sein Kriterium war weniger soziologisch als kulturell und national; es beruhte auf dem Gegensatz von Zivilisation und Natur sowie von deutschem und von französischem Nationalcharakter. So wenig wie Rousseaus Bild des Volkes war das seine ein Spiegelbild der historischen, sozialen Wirklichkeit, es war ebenfalls mythischer Natur, zumal er es nicht bei der Arbeit zeigte. Da das so betrachtete Volk die alten Lieder, Sagen, Märchen und Mythen mündlich getreu bewahrt zu haben schien, forderte Herder seine Freunde auf, die Spuren der oralen Tradition zu sammeln, um so den deutschen Nationalcharakter, der sich s. M. n. in ihnen wie auch in der Sprache spiegelte, kennen zu lernen. Zugleich sollten sie die Volkslieder, die er als Ausdruck der unverfälschten Natur betrachtete und darum den Liedern der primitiven Völker gleichstellte, den von der französischen Mode beeinflußten Dichtern ihrer Zeit als nationales Vorbild gegenüberstellen. Die Apologie der Volksliteratur bedeutete eine doppelte kulturelle Revolution: dem ausländischen Vorbild stellte sie ein einheimisches und den Kriterien der Gebildeten (Vernunft, Geschmack, Anstand, Regelmäßigkeit, Konventionen) die Kriterien des Volkes (Einfachheit, Naivität, Spontaneität, Leidenschaft und Unregelmäßigkeit), einer künstlichen Dichtung den wahren Ausdruck der Natur gegenüber. Herders Aufruf folgend sammelte der junge Goethe elsässische Volkslieder und übersandte im September 1771 seinem Mentor, was er auf seinen Streifereien im Elsaß von der mündlichen Tradition, wie sie damals noch auf dem Lande weiterlebte, „aus den Kehlen der ältesten Müttergens" aufgezeichnet hatte.10 In diesen Volks-Balladen meinte er die Frische, Naivität und Ehrlichkeit des wahren Volkes wiederzufinden. Seine Auswahl war natürlich subjektiv, handeln doch alle Lieder von Liebe, die somit als das große Thema des Volkes

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Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. I. Berlin 1877, S. 357 (Fragmente, 3. Sammlung). Brief an Herder, Sept. 1771. S. Fink, Gonthier-Louis: „Le jeune Goethe et la tradition populaire." In: Revue d'Allemagne, m , l (1971), S. 198ff.

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erscheint, genauer gesagt, als das Thema seiner Gewährsleute, der weiblichen Landbevölkerung, die jedoch die Liebe unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet als die Bürger. Zwischen dem Gesetz der Natur und den Kriterien der Gesellschaft, die auf der offiziellen, von der Kirche befohlenen Moral beruhen, bestand fur die alten Mütterchen eine Kluft. Das Volk ist weniger wortreich in seiner Sentimentalität als die zeitgenössischen Dichter; es ist zwar direkter und nicht sehr prüde, aber weniger frivol. Seine Haltung erhellt aus der von Goethes Gewährsleuten. Die elsässischen Balladen sprechen vor allem von der Jugend, die gern die traditionelle Moral ignoriert, um den Gesetzen der Natur zu folgen, wie z.B. aus dem Lied von braun Annel hervorgeht. Für sie bedarf die Liebe weder eines Sakramentes noch vieler Worte; ohne viel Umschweife schlüpfen die Liebenden unter die gleiche Decke. Diese Diskrepanz zwischen der offiziellen Moral und dem wahren Verhalten der jungen Leute ist auch das Thema des Lied[s] vom Zimmer gesellen. Weil er der galanten Aufforderung der Markgräfin gefolgt war, wollte der gehörnte Ehemann ihn an den Galgen bringen. Der Bürgermeister begnadigt ihn jedoch und rechtfertigt dies, indem er betont: Ist keiner unter uns allen Der nicht hätt das gethan.11

Der arme Geselle unterscheidet sich also nur dadurch von den anderen, daß er dabei ertappt wurde. Sonst scheinen die alten elsässischen Mütterchen der Jugend jedoch eher zu raten, nicht allzu offen gegen die offizielle Moral zu verstoßen. Sie sind bereit, die Augen zuzudrücken, vor allem bei Nacht. Dies heißt aber, seine Liebste vor Morgengrauen zu verlassen, ohne gesehen zu werden. Die freie Liebe muß geheim bleiben! Sie kritisieren hingegen braun Annel, als sie den Geliebten verleugnet, den sie bis zum hellen Morgen zurückbehielt und der sich beim Sprung aus ihrem Fenster zu Tod stürzte. Darum erinnert die „alte Frau" Annel daran, daß es im Angesicht des Todes Farbe zu bekennen gilt! Nicht minder verurteilen die alten Mütterchen den Angeber, der sein Liebesglück ausposaunt (Das Lied vom plauderhaften Knaben) oder den blutigen Rächer der Ungetreuen {Der eifersüchtige Knabe)}2 Zugleich raten sie, nur jemanden des eigenen Standes zu lieben, denn sonst endet die Liebe zwangsweise tragisch.13 Das Lied vom Herren und der Magd tradiert ein im Sturm und Drang beliebtes Motiv. Als die Magd schwanger ist, will der „edle Herr" sie mit seinem Stallknecht verheiraten; sie aber geht zu ihrer Mutter, die wie in Grimms Märchen Rapunzel deren Lage gleich erkennt, da das „Röcklein vorn zu kurz Und hinten viel zu lange" (ΜΑ XIV, 17) ist. Doch hat sie eine radikale Lösung bereit: 11

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Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hrsg. von Karl Richter et al. München 1985 (fortan zitiert als MA, unter Angabe des Bandes in römischen und der Seite in arabischen Zahlen), MA 1,1, 175. ΜΑΙ,Ι, 181, 182, 169f. MA 1,1, 168f., Das Lied vom jungen Grafen; hingegen MA 1,1, 174f., Das Lied vom Zimmergesellen.

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Gonthier-Louis Fink Wenn wir das Kindlein geboren han So wollen mir's lernen schwimmen. (MA 1,1 171)

Die Tochter will es hingegen „dem rechten Vater heim" schicken. Da der reuige Verführer sich schließlich an der Totenbahre der Geliebten ersticht, verschwindet der soziale Konflikt hinter dem sentimentalen Ende. Abgesehen von zwei Beispielen14 ist in den elsässischen Balladen die zuweilen unterschwellige Sozialkritik ziemlich verhalten. Offenbar waren die elsässischen Bäuerinnen, von denen Goethe die Balladen vernommen hatte, kompromißbereit. Sollte Goethe aber nur diese Balladen im Elsaß gehört haben? In Dichtung und Wahrheit erwähnt er auch Friederikens „Elsasser- und Schweizerliedchen" (ΜΑ XVI, 467). Wenn er jedoch nicht für nötig hielt, diese aufzuzeichnen, so weil sie ihm weder volkstümlich noch alt genug schienen und auch nicht seinem Bild des Volkes entsprachen. Zweifellos hat Goethe in Bezug auf den Stil dem Volk manchen Zug abgelauscht und auch manches Motiv der Volksüberlieferung übernommen,15 er verfugte aber souverän darüber. Die Anregung, die Goethe aus dem Kontakt mit der oralen Tradition erhielt, beschränkte sich aber nicht auf den sprachlichen und poetischen Ausdruck; ebenso wichtig schienen die Variationen des Gegensatzes zwischen Natur und bürgerlicher Moral. Doch war der junge Stürmer weniger kompromißbereit als die elsässischen Mütterchen. Hatte er im Brief vom 13. Februar 1769 an Friederike Oeser sich schon auf „das leichte einfaltige Buch der Natur" berufen und hinzugefügt, daß „nichts wahr [sei] als was einfaltig ist",16 so gab er mit der Übernahme des kulturkritischen Mythus, die ihm durch frühere Lektüre J.J. Rousseaus und hermetischer Schriften bekannt war,17 nach Straßburg diesem eine neue, radikale Bedeutung. Wenn er fortan dem Wort ,Volk' im Sinn von sozialen Unterschichten ein besonderes Gewicht gab und Natur und Zivilisation bzw. bürgerliche Moral und soziale Konventionen miteinander konfrontierte, dienten im Anschluß an Rousseau und Herder Natur und Leben als Kriterien, an denen er die Gesellschaft und ihre Manifestationen maß, während der nationale Gegensatz entfiel. Während jedoch Rousseau im Discours sur l'origine et les fondements de l 'inegalite parmi les hommes (1754) die Ungleichheit als das Grundübel der Gesellschaft brandmarkt, weil die das Eigentum schützenden Gesetze der natürlichen Ungleichheit nicht Einhalt boten, so daß sie schließlich wie ein Geschwür den ganzen sozialen Körper zu infizieren drohte, tritt bei Goethe der sozialpolitische und der moralische Faktor hinter das vitalistische Kriterium zurück, nach dem er sowohl das Volk mit seinem idyllisch-dämonischen Janusgesicht wie die bürgerliche und die adlige Gesellschaft

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S. Das Lied vom Zimmergesellen, sowie MA 1,1, 165, Das Lied vom Herrn von Falckenstein. Vor allem in Claudine von Villa Bella und in Faust. Goethe, Johann Wolfgang: Briefe der Jahre 1764—1786. Gedenkausgabe. Hrsg. von Elisabeth Damm. Bd. 18. Zürich 1951, S. 121. Zimmermann, Rolf Christian: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. München 1969, Bd. 1, S.203, u. 1979, Bd. 2, S. 324f.

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beurteilt. Die Wahl der jeweiligen Gattung hatte auch Konsequenzen fur die Darstellung des Mythus. Für das idyllische Bild des Volkes wählte er die Hymne und für die Äußerungen des vitalen Kraftgenies die Farce; auf den Spuren Shakespeares wandelnd verfolgte er in dem Ritterdrama vor allem die Dämonie der entfesselten Masse, während er im Anschluß an Rousseaus Nouvelle Helo'ise im Roman das Volk in seiner Polarität mit der .bürgerlichen Gesellschaft' konfrontierte. So implizierten Goethes mythische Bilder des Volkes zugleich eine bedeutende poetologische Neuorientierung.

Burleske Blicke in die Vorzeit Primitivismus und Apologie der Vorzeit der Zeitgenossen, die auch ein Echo in Herders Auszug aus einem Brießvechsel über Oßian und die Lieder alter Völker (1772) fanden, hier den exotischen Wilden oder den Naturzustand priesen und da den Patriarchen der Bibel, Homer oder Ossian huldigten, waren dem jungen Goethe vertraut. In seinen Farcen, die dem Prinzip des Kontrastes gehorchen, im Anschluß an Hans Sachs Knittelverse verwenden und einigen Figuren gar dialektale Formen in den Mund legen, überträgt er sie jedoch ins Burleske. So betont Herkules, der in Helden, Götter und Wieland (1773) die überquellende Naturkraft verkörpert, daß zu seiner Zeit, wenn „einer Überfluß an Säften (hatte), er den Weibern so viel Kinder (machte) als sie begehrten, auch wohl ungebeten". Und wenn „einer Überfluß an Kräften (hatte) so prügelte er die andern aus" (MA 1,1, 691). In der phallokratisehen Reduktion wird so die unverstümmelte Natur durch die männliche Potenz versinnbildlicht, die kein anderes Gesetz kennt als die eigene Kraft und Herrlichkeit, während das Weib nur als Objekt oder passive Partnerin erscheint. Dem gegenüber bemerken die Figuren Herkules bzw. Wieland, die braven, bürgerlichen Zeitgenossen würden sich vor dergleichen „Faustrechtsszenen kreuzigen", wilde Naturburschen wie Herkules als „Unmensch" verfemen und jede Manifestation der Vitalität als „ungeheur" betrachten, ja, in ihrem moralischen Integrismus wären sie gar bereit, alle die zu „steinigen", die ähnliche „Gesinnungen" äußern (MA 1,1, 690-692). Darum habe er als Vertreter der schwächlich-zärtlichen Empfindsamkeit in seinem Singspiel Alceste (1773) die Heroen des Euripides auf ein Mittelmaß herabgestimmt. Auch der Marktschreier verkündet als Entrepreneur im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (1773), daß er die Menschheit in ihrer wahren Natur zeigen werde, um „das liebe Publikum zu amüsieren" (MA 1,1, 520). Auf Voltaires Deutung von Rousseaus Discours sur [...] l'inegalite anspielend, gehen hier die Menschen „auf allen Vieren".18 Und als gelte es, allen Zweifel über die grund-

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Voltaire an Rousseau am 30. August 1755 über den Discours sur I 'inegalite: „On n'a jamais employe tant d'esprit ä vouloir nous rendre betes; il prend envie de marcher ä quatre

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sätzlich animalische Natur der Menschheit auszuräumen, wirft sein Genösse, ein welscher Schattenspielmann, einen ebenso überraschenden Blick auf die Genesis. Im „Paradies" hat nicht etwa die Schlange Eva verfuhrt, sondern umgekehrt, Eva hat ihr Auge auf die Schlange geworfen und in der Folge eine Brut von „Rittern und Damen" gezeugt, die ihr Naturell dadurch zu erkennen geben, daß sie Sich begehn, sich begatten In alle grüne Schatten Uf alle grüne Heide. (MA 1,1, 528)

Der Einsiedler von Satyros oder der vergötterte Waldteufel (1773) bewundert das gleiche Spiel in der Natur, wo Vögel und Frosch und Tier und Mücken Begehn sich zu allen Augenblicken, (MA 1,1, 655)

während Satyros das Volk an die ,,goldene[n] Zeiten" erinnert, wo die Menschen noch nicht durch „Sitten" vertrauert und versklavt, sondern wie „Gott" waren und in ihrer Nacktheit noch wußten, was „Lust" und „was Leben sei", während sie jetzt als aus dem Lustparadies der Natur „Verbannte" lebten (MA 1,1, 661). Paradoxerweise spricht im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern auch der welsche Schattenspielmann in der moralischen Optik des bürgerlichen Publikums, betrachtet er doch die von Eva in die Welt gesetzte Brut als „gottlose Leut" (MA 1,1, 528), während er selbst durch seine Entlarvung des Berichts der Genesis das verhöhnt, was der bürgerlichen Welt als Wahrheit gilt, und in der parodistischen Verseinlage in Alexandrinern der rachsüchtige Rationalist Haman die „Bibel" mit der Geschichte der „Kinder Heyemann" (MA 1,1, 524), der „Histoire des Quatre Fils Aymon" vergleicht und so als Märchen betrachtet. Im Fastnachtsspiel vom Pater Brey (1773) verleugnet hingegen Sibilla als Vertreterin der christlich-bürgerlichen Welt so lang wie möglich die wahre menschliche Natur und betrachtet in ihrer Naivität die „Fleischbegierden" als „geistlich [...] Beginnen", bis der Nachbar die Zweideutigkeit der erotisch mystischen Tändelei von Leonore und Pater Brey entlarvt, da sie sich gebaren, als wollten sie „Ins Bett oder in Himmel" (MA 1,1, 541). Anscheinend gab es jedoch nicht nur im 16. Jahrhundert noch Spuren dieses Naturells, beruft sich doch der Autor der musikalischen Burleske Concerto dramatico (1772), wie deren Untertitel compos to dal Sigr Dottore Flamminio detto Panurgo secondo verrät, auf die geile, zynische, egozentrische und doch witzige Figur Panurge aus Rabelais' Gargantua et Pantagruel (1532-1564), der in seinen boshaften Schurkenstreichen und Betrügereien kein anderes Gesetz kennt, als was ihm frommt. Und erscheinen die Fehden der Raubritter in Götz von Berlichingen durch das von Herkules verwandte Schlagwort des Faustrechts

pattes, quand on lit votre ouvrage", Voltaire: Lettres choisies. Hrsg. von Raymond Nave. Paris 1955, S.215.

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nicht als letztes Aufflammen der männlichen Vitalität? Und Götzens Tod wie der Abschied von der letzten Epoche, in der der Mensch noch seiner wahren Natur gemäß zu leben versuchte, bevor er durch den Absolutismus und die moralische Disziplinierung geknebelt wurde? Wie jedoch Herkules vermerkt, gibt es dank der „Bauern und Knechte und Mägde" (MA 1,1, 692) auch in der Moderne noch Relikte vitaler Menschheit. Aber nur in den Schwänken sind Natur und Volk kongruent. Trotz des Hinweises auf das Landvolk in Verbindung mit der panerotischen Tendenz, die sowohl Rousseaus Naturzustand wie Herders Bild der Vorzeit parodiert, geht es in diesen Variationen über die noch unverdorbene Natur des frühen Menschen nicht darum, diesen in seiner Animalität zu würdigen, vielmehr darum, durch das amoralische Spiel den empfindsamen Puritaner seiner Zeit zu schockieren (wenigstens virtuell, denn vor 1817 zirkulierte Satyros nur im Freundeskreis),19 und dem modernen degenerierten Geschlecht einen Spiegel vorzuhalten, um es durch Blicke in eine phantastische Vorzeit auf burleske bzw. groteske Weise an den von ihm verleugneten, natürlichen Menschen zu erinnern.

Der Mythus des natürlichen Menschen Unter dem Einfluß von Herder und dank des Kontaktes mit dem elsässischen Landvolk gab Goethe zugleich der zeitgenössischen Poesie eine neue Richtung: sie sollte subjektiv und spontan sein. Zudem vermittelte er von dem Leben des Volkes zunächst ein idyllisches Bild, indem er gleichsam in Ergänzung der Phallokratie der Schwänke den Akzent auf die Frau legte, deren Apologet er in Götz von Berlichingert, in Werthers Leiden und in der Hymne Der Wandrer wurde, um anzudeuten, daß sowohl häusliche und mütterliche Sorge wie liebende Aufopferung der Natur des Weibes eingeschrieben sind. In Der Wandrer (1772) gibt die Wahl des idyllisch einsamen Ortes, eines Lebens im Schoß der Natur, dem Bild eine zeitlose Dimension; der beschränkte Rahmen hat darüber hinaus den Vorteil, daß nichts das Weib von ihrer natürlichen Bestimmung als Mutter und Hüterin des Hauses abzieht, während die Fragen über die Erziehung und Bildung der Frau, ihre Rolle in Familie und Gesellschaft, das Problem ihrer Unterordnung oder der Gleichstellung der Geschlechter, die die Zeitgenossen eingehend beschäftigte, hier beiseite gelassen werden konnten. Im Gegensatz zu Rousseau wird der Konservatismus der idyllischen Frauenfigur jedoch nur implizit angedeutet.20 Ohne Scheu gibt sie dem Fremden ihr Kind zu hüten, während sie Wasser schöpfen geht. Nicht umsonst ist die Venus gewidmete Inschrift auf den Stufen des ehemaligen Tempels

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S. den interessanten Artikel von Stern, Martin: „Die Schwänke der Sturm- und Drangperiode. Satiren, Farcen und Selbstparodien in dramatischer Form." In: Goethes Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1980, S. 23—41. S. namentlich Emile (1762) und Lettre äd'Alembert (1758).

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„verloschen" (ΜΑ 1,1, 203), so daß sowohl ihre liebevolle Gastfreundschaft wie ihre Sorge und Liebe für das Kind als Manifestationen elementarer Fraulichkeit und Menschlichkeit erscheinen. Im Zwiegespräch zwischen dem Wanderer und der säugenden Mutter erscheinen noch andere Figuren, die das Bild des Volkes wesentlich ergänzen: zunächst der Mann, der gemäß der als natürlich verstandenen Geschlechterrollenverteilung auf dem „Feld" arbeitet, während die Frau Haus und Kind hütet. Letzteres, dessen künftiges Leben der Wanderer in Bildern der Natur vor uns erstehen läßt, wird aufblühen und der Sonne entgegen reifen, bis es dann, wie einst sein Großvater in den Armen der Seinen entschlafen wird. So wird durch die Figuren des Kindes und des verstorbenen Großvaters die Gegenwart um die Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft erweitert, so daß sie auf Dauer im Wechsel hindeutet, dem auch das wahre menschliche Leben gehorcht, indem jede Figur als Glied in der unendlichen Kette der Generationen in die Fußstapfen des Vorgängers tritt. Während der Geist „Heiliger Vergangenheit" (MA 1,1, 205) auf den Bewohnern der Ruinen des antiken Tempels ruht, zeugen diese von dem Vergehen der menschlichen Werke, auch der Kunst, wie der Wanderer, der in seiner elegisch sentimentalischen Reflexivität den modernen Leser vertritt, in seinem Monolog erläutert. Aber die „Steine" des Tempels erlaubten dem Landmann seine Hütte zu bauen und wie die Schwalbe und die Raupe „über Gräbern" das Leben zu genießen, denn „die Natur" zerstört nicht nur; im Sinne des Stirb und Werde verwischt sie zugleich die Spuren der Vergangenheit, um neues Leben zu fördern; sie hat alle ihre Kinder „mütterlich mit einem Erbteil ausgestattet" (MA 1,1,205,207). Durch den Vergleich mit der Schwalbe und der Raupe wird die Idylle zugleich alles Historischen entkleidet, so daß sie eine zeitlose Bedeutung erhält; sie stellt den Menschen in seiner unverdorbenen Natürlichkeit, in seiner ewig sich gleichbleibenden Menschennatur dar. Fraglos empfangen und bewirten die Menschen in der elementaren Situation den fremden Gast, wobei wie auch bei Rousseau die Bedeutung der Frugalität fur dieses lediglich den Gesetzen der Natur und der Menschlichkeit gehorchenden Lebens betont wird. Auch der Ärmste ist bereit, Wasser und Brot mit dem Fremden zu teilen, dem die Begegnung mit der säugenden Mutter aus dem Volk zur Begegnung mit der Natur, mit dem menschlichen Schicksal wird. Im Gegensatz zum einsamen Ort des Wandrers ist in Werther (1774) selbst das Verhalten der „geringen Leuten des Ortes" (MA 1,2, 200) mitbedingt durch die Gesellschaft und damit weit komplexer, wie auch aus der Szene am Brunnen hervorgeht, mit der der Titelheld den Leser auffordert, die Gebräuche seiner Zeit mit denen der patriarchalischen Vorzeit zu vergleichen. Während damals die Töchter der Könige noch selbst Wasser aus dem Brunnen schöpften, ist in der Gegenwart infolge der strengen Hierarchisierung der Gesellschaft dieses elementare Geschäft nur noch Aufgabe der Dienstmädchen. Das bedeutet, daß im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft allein dem Volk noch vorbehalten ist, die natürlichen Aufgaben des Lebens zu übernehmen. Die Bürger hingegen

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wurden durch die sozialen Konventionen ihrer menschlichen Bestimmung entfremdet. Doch selbst Werther betont im Brief vom 15. Mai, ohne dies näher zu begründen: „Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich sind, noch sein können" (MA 1,2, 201). Da er sich jedoch gemeinhin auf die Natur als Kriterium beruft und die Ungleichheit durch die individuellen Unterschiede in Kräften, Fähigkeiten und Talenten ein wesentliches Element der Natur ist, hieße mit Rousseau die Gleichheit propagieren die Vielfalt des individuellen Lebens reduzieren und nivellieren. Aus diesem Grund anerkennt Werther die Notwendigkeit der sozialen Hierarchie. Er prangert jedoch sowohl die „Leute von einigem Stande" an, die sich vom „gemeinen Volke" distanzieren, um „den Respekt zu erhalten", als auch die „Spaßvögel", die sich herabzulassen scheinen, in Wirklichkeit aber „ihren Übermut dem armen Volke" zeigen. Die allgemeine Verachtung der unteren Schichten hat in der Gesellschaft jedoch eine Kluft aufgerissen, was die Beziehungen zwischen Bürgern und Volk verfälscht. Kein Wunder, wenn der „so genannte Pöbel" Vertretern der anderen Gesellschaftsschichten „grob" begegnet (MA 1,2, 200), wie Werther erfuhr, als er mit dem gemeinen Mann vertraulich zu verkehren wünschte, oder wenn das Volk ihnen mißtraut, wie die erste Reaktion des Dienstmädchens am Brunnen zeigt, als Werther ihr seine Hilfe anbot.21 Ihm zufolge sollte die ständische Ungleichheit nur für das öffentliche Leben gelten und im privaten Bereich die individuelle Persönlichkeit die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. Im Nächsten sollte man nicht dessen Stand, sondern den Menschen achten. Durch seine ständeübergreifenden Verbindungen mit dem Grafen einerseits, dem Volke andererseits, die jedoch sowohl Adlige wie Bürger schockieren, versucht er die Kluft zu überbrücken, die die einzelnen Stände voneinander trennt. Werthers Interesse für das Volk führt ihn dazu, ein wahres Genrebild vom Leben der Kinder in Wahlheim zu zeichnen. Bald wacht der kleine Bruder über die jüngere Schwester, bald streitet und balgt er sich mit dem älteren. Ihre Mutter ist zwar keine Bäuerin, sondern „des Schulmeisters Tochter", bestätigt aber durch ihre „mütterliche Liebe" die natürliche Bestimmung des Weibes (MA 1,2, 206). Auch dieses Bild bezieht Werther, der unter den Grenzen leidet, die die Natur ihm auferlegt, sentimentalisch auf sich zurück, wenn er bekennt, daß „der Anblick eines solchen Geschöpfs, das in glücklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als daß der Winter kommt", „all den Tumult" seines unruhigen Herzens „lindert" (MA 1,2, 207). Wenn er die Mutter und ihre Kinder sieht, fühlt er sich besänftigt, da es ihm die positiven Seiten der Beschränkung, das stille, bescheidene Glück eines Lebens im Schöße der Natur offenbart. Tragisch ist jedoch, daß der Unstete dieses Ideal zwar bewundert, daß es ihm aber infolge seiner unstillbaren Sehnsucht nicht genügen kann.

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S. auch Concerto dramatico und Jahrmarktsfest zu Plundersweilern, wo zwischen Krämern und Marktschreiern einerseits, Pfarrer, Doktor und Fräulein andererseits, zwischen Volk und Honoratioren eine große Kluft besteht.

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Deutlicher noch als diese Frau aus dem Volk verdeutlichen im Roman die Kinder die Bedeutung des Mythus des naturhaften Menschen, denn in ihnen findet Werther die „Keime aller Tugenden, aller Kräfte", noch „alles so unverdorben, so ganz" (MA 1,2, 218). 22 In sentimentalischer Optik ergötzt er sich an „ihrem Mutwillen", „ihren Leidenschaften und an den simplen Ausbrüchen des Begehrens" (MA 1,2, 207), die noch nicht durch Anstandsregeln gezügelt wurden. Während Wilhelm später Werther rät, er solle sich „resignieren", zeigen die Kinder dank ihrer unversehrten Natürlichkeit ihm den Weg, den er, obwohl ein Außenseiter der Gesellschaft, nicht mehr zu gehen wagt: „das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit. Greifen die Kinder nicht nach allem...?" 23 So sieht Werther gerade im Kind noch die unverdorbene Natur. Überraschenderweise findet die idyllische Skizze der Mutter mit ihren Kindern ein Pendant in dem oft abgebildeten Bild, auf dem Lotte ihren Geschwistern das Brot verteilt. Dies soll wohl heißen, daß das naturnahe Leben nicht dem Volk vorbehalten sein muß. Wie die Frau von Wahlheim folgte Lotte, der die Mutter auf dem Totenbett „ihr Haus und ihre Kinder" übergab, froh dem natürlichen Trieb der weiblichen Bestimmung und wurde „im Ernste eine wahre Mutter" fur ihre kleineren Geschwister (MA 1,2, 231). Auch sie war also noch nicht verbildet. Im Anschluß an die europäische Debatte über die Rehabilitierung der Natur des Menschen24 und die Aufwertung der Leidenschaft, der „grandes passions", durch Diderot und Helvetius,25 polemisiert auch Werther mit Albert, der wie die „sittlichen Menschen" die moralischen Kategorien sauber auseinanderhält und in seiner Vernünftigkeit genau weiß, was „gut", was „bös", was „klug" und was „töricht" ist (MA 1,2, 233). Demgegenüber betont Werther die Fragwürdigkeit der Kategorien, solange man nicht der Motivation einer Handlung Rechnung trägt. Die drückende Not des Volkes stellt s. M. n. Alberts moralische Urteile in Frage. Auf ein in der Jurisprudenz damals mehrfach erörtertes Problem zurückgreifend, fragt er ihn, wie der Fall eines Armen zu behandeln sei, den der Hunger zu stehlen zwang. Während Friedrich der Große hoffte, Mildtätigkeit werde den Armen von diesem Schritt abhalten, sonst wäre der Diebstahl legitim,

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S. Herzfeld, Marianne von: „Goethes Image of Children." In: German Life and Letters 25 (1971/72), S. 219-231. ΜΑ I, 2, 266, am 30. Okt. Falls nicht anders vermerkt, zitiere ich nach der Erstfassung. Mercier, Roger: La Rehabilitation de la Nature humaine (1700-1750). Villemomble 1960, S. 370f., 394f. Während der Vorbereitung fur seine Straßburger Dissertation und seine Thesen (1771) lernte Goethe zweifellos die Thesen dieser Debatte kennen. S. Delon, Michel: Artikel „Passions." In: Dictionnaire europeen des Lumieres [Anm. 8], S. 825-826, und Lanz, J.: Artikel .Affekt." In: Hist. Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter et al. Bd. 1. Darmstadt 1971, Sp. 94—96; s. auch Diderot, Denis: „Pensees philosophiques (1746)." In: Diderot, CEuvres philosophiques. Hrsg. von Paul Verniere. Paris 1956, S. 9f.: „il n'y a que les passions, et les grandes passions qui puissent elever l'äme aux grandes choses", und Helvetius: De l'Esprit (1758). Hrsg. von Francis Chatelet. Verviers 1973, S. 240: „Les passions sont dans le moral ce que dans le physique est le mouvement: il cree, aneantit, [...] sans lui tout est mort".

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„parce que Γ intention du vol est vertueuse",26 bekennt Werther, daß „Diebstahl [zwar...] ein Laster" sei, fragt dann aber Albert, ob „der Mensch, der, um sich und die Seinigen vom schmäligen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, [...] Mitleiden oder Strafe verdiene?" (MA 1,2, 233) Er beantwortet zwar die Frage nicht, denn in seinen Augen ist sie nur rhetorisch. Gleichviel ob das Volk ein Opfer der Not oder einer blinden und verblendenden Leidenschaft ist, sein Handeln verlangt s. M. n. Mitgefühl und Nachsicht und nicht Strafe! Zugleich versucht Werther die Leidenschaft als Ausdruck des Lebens zu rehabilitieren, indem er Albert einige Beispiele anfuhrt, die die moralische Kategorisierung relativieren sollen: „In dem engen Kreise häuslicher Beschäftigungen" kann das Einerlei des grauen Alltagslebens im Volke die „Leidenschaft" zwar einschläfern, doch wartet „die feurige Natur" nur auf eine Gelegenheit, um das Individuum „unwiderstehlich" mit sich fortzureißen (MA 1,2, 235f.). Ihrem Appell kann dann der einfache Mensch nicht widerstehen. Unter diesem Gesichtspunkt fragt Werther, ob „das Mädgen, das in einer wonnevollen Stunde, sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert", oder „ein Volk, das unter dem unerträglichen Joche eines Tyrannen seufzt [...] endlich aufgärt und seine Ketten zerreißt", zu verurteilen seien.27 Weniger die moralische oder politische Dimension des Falles interessiert ihn, als die Rechtfertigung der Leidenschaft und der Natur. Als der Geliebte, in dem das Mädchen aus dem Volk „allein ihr Dasein fühlte", sie verließ, wußte sie keinen anderen Ausweg als - ins Wasser zu gehen (MA 1,2, 236). Dieses Beispiel zeigt zugleich die Absolutheit einer ihr ganzes Leben bestimmenden Liebe, wovon wenig später in Faust und in Egmont auch Gretchen und Klärchen zeugen. Im Roman weist die Selbstmörderin aus Verzweiflung zugleich auf Werthers Ende voraus. Bezeichnenderweise wählt dieser, der in seiner empfindsamen Reflexivität nicht mehr die ungebrochene Kraft des unverdorbenen Volkes hat, dafür nicht das Schicksal eines Bauern, sondern das eines Mädchens, gleichsam als sei gemäß der konservativen Geschlechterrollenverteilung dieses die Konsequenz der absoluten Liebe und zugleich die der Bestimmung des Weibes. Für den Bauernburschen, von dem in der zweiten Fassung des Romans die Rede ist, empfindet Werther zwar tiefes Mitleid, und in der Hoffnung, den Mörder der Justiz zu entreißen, verteidigt er ihn leidenschaftlich, aber eine Parallele zwischen ihnen ergibt sich erst, als er sieht, daß der Bauernbursche, daß sie beide „nicht zu retten sind" (MA 11,2,438). Wenn man das Bild des Volkes in Götz von Berlichingen betrachtet, scheinen hingegen die Konturen des Mythus unsicher geworden zu sein. Während Gottfrieds Knechte in guten patriarchalischen Verhältnissen bei gegenseitiger Fürsorge von Herr und Diener kaum mehr das Volk vertreten, bieten die Bauern kein einheitliches Bild. Gemein ist ihnen nur die Unterdrückung durch die Feudalherren. Während der Bauer in der Schenke „ihnen allen von Herzen gram"

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Frederic le Grand: Oeuvres. Hrsg. von Johann D. Preuss. Bd. 24. Berlin 1846-1856, S. 134: Brief an d'Alembert vom 3. April 1770. ΜΑ I, 2, 233, am 12. August.

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ist und gegebenenfalls bereit wäre, sie zu „scheren", zu prellen (MA 1,1, 388), erregen andere, wie wir noch sehen werden, „einen entsetzlichen Aufstand". Wo aber ist das charakteristische Moment, das uns erlaubt, sie als typische Vertreter des Volks zu betrachten? Diesbezüglich scheinen vor allem die Zigeuner, die als Außenseiter der Gesellschaft und der bürgerlichen Gesetze auf der Erde schlafen und in größter Intimität mit der Natur leben, noch am besten dem Kriterium des von der Zivilisation unberührten Naturvolks zu entsprechen. Bereit ihr frugales Mahl mit den Verirrten zu teilen, gleichviel welchen Standes und in welcher Lage diese sich befinden, üben auch sie das elementare Gebot der Gastfreundschaft aus. Ihrem Hauptmann zufolge spielen sie in der Natur die gleiche Rolle wie die Raubtiere, da sie „das Land vom Ungeziefer" säubern, indem „Hamster Wieseln und Feldmäus" ihnen zur Nahrung dienen. Dies ist aber eher ein Aushängeschild. Auch scheinen sie harmlos zu sein und „niemanden Leids" zuzufügen, was Adelhaid bestätigt, da sie die Verirrte „menschenfreundlich" aufnahmen. Sie weisen sogar deren „Beutel" zurück und mit dem Hinweis, sie seien „keine Räuber", begnügen sie sich mit einem Trinkgeld fur ihre Chiromantie. Sickingen, der Adelhaid „in fürchterlicher Gesellschaft" zu finden meint (MA 1,1, 480-82), korrigiert zwar ihr ideales Selbstbild, tradiert aber nur das gängige Vorurteil. Wenn man von diesem abstrahiert, entsprechen sie zweifellos bestens dem von Herder und Goethe erstellten Mythus des Volkes, zumal sie auch Sagen und magische Bräuche tradieren. Aber welche Bedeutung hat dieses exotische Bild für die Ökonomie des Ritterdramas? Sollten sie etwa das Kriterium abgeben, an dem die rebellierenden Bauern zu messen sind? Wohl kaum, sie scheinen dem Mythus eher eine parodistische Note zu geben!

Die Kehrseite des Mythus Es berührt eigenartig, daß Goethe in der Zeit des Sturm und Drangs zwar dem weiblichen Landvolk, nicht aber den Bauern einen Platz in der ländlichen Idylle einräumte, und nicht etwa, weil ihre Misere zu groß gewesen wäre. Einer der Gründe dafür war wohl ihre Habgier. So vernimmt Götz in der Szene der Bauernhochzeit, daß die beiden Familien wegen eines „strittigen Stücks" acht Jahre miteinander prozessierten, bevor sie den Streit durch eine Heirat beilegten. Erst auf der Hochzeit erfuhren jedoch der Brautvater und der Schwiegersohn, daß in der Zwischenzeit beide Parteien von den Juristen ausgenommen worden waren. Ist dies als Echo von Rousseaus Discours sur l'inegalite und sein berühmtes Wort zu werten, daß die Einführung des Besitzes zahlose Kriege sowie Verbrechen und Elend nach sich zog? Daß das Besitzdenken sowohl die Bürger wie das Landvolk verdorben hat, wird in Werther durch zwei Beispiele bestätigt. Während die Verwandten den Vater der Kinder von Wahlheim um die anfallende „Erbschaft eines Vetters betrügen wollen", so daß er „eine Reise in die Schweiz" machen muß, um sein

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Recht geltend zu machen (MA 1,2, 206), intrigiert in der zweiten Fassung des Romans der Bruder der Patronin des Bauernburschen gegen jegliches Liebesverständnis seiner Schwester, weil „durch eine neue Heirat [...] seinen Kindern die Erbschaft entgehn" könnte. 28 Im Fastnachtsspiel vom Pater Brey wird auf das durch die europäische Aufklärung aktualisierte Thema der klerikalen und politischen Betrüger und der damit verbundenen Verführungswilligkeit des Volkes angespielt. 29 So bekennt der Würzkrämer, daß die „Burgersleut" von dem Pater „eben ganz und gar" betört waren (MA 1,1, 539), bis dessen verliebte Miene im Verein mit Leonore und die Rückkehr von deren Bräutigam dem betörenden Spiel ein Ende machte. Wie schon der alternative Titel von Satyros oder der vergötterte Waldteufel anzeigt, ist die Betrügerei des Satyrs und die Verfiihrbarkeit des Volkes das eigentliche Thema der dramatischen Farce, die ein wahres Feuerwerk von parodistischen literarischen, mythologischen, hermetischen und christlichen Anspielungen vorführt. Dabei hat die Verführung zwei Seiten, einerseits die sinnliche, indem Psyche, von dem Gesang, der „ins Blut" dringt, der empfindsamen Schmeichelei und dem gierig wilden Blick bekehrt, vor „Wonn und Weh" zu vergehen glaubt, andererseits die geistige.30 Durch eine anscheinend tiefsinnige hermetische Phraseologie über die Kosmogonie bzw. die Urzeugung verspricht Satyros, dieser grobe Bruder des Mephisto, Priester und Volk, den „tiefen Gang Aller Erkenntnis" zu offenbaren, die aber in einen groben Naturismus mündet, den er in seiner Nacktheit vorlebt. Dennoch werden sie durch das „Feuer seiner Rede" derart hingerissen, daß sie ihn als Gott verehren und alle Entlarvung zurückweisen. Während Psyche, die sein „göttlich hohes Angesicht" bewundert, „seine langen Ohren", auf die ihre Gefährtin sie aufmerksam macht, nicht sehen will, reagiert das Volk auf die Beschuldigungen des Einsiedlers, dessen Gastfreundschaft der diebische Satyr mißbraucht hatte, indem es ihn wegen Gotteslästerung steinigen will. Auf Vorschlag des Priesters hofft es dann aber durch das „blutige Opfer" des Einsiedlers den „himmlischen Geist" des Satyrs zu versöhnen, bis Priester und Volk durch Eudoras Hilferuf, die der Satyr im Tempel zu vergewaltigen suchte, gezwungen sind, in dem vermeintlichen Gott das „Tier" zu sehen (MA 1,1, 658, 662f.). Damit erscheint jedoch nicht nur der Wahn und die Verfiihrbarkeit des ungebildeten Volkes als Kehrseite des Mythus des unverbildeten Volkes; dieser selbst wird problematisch, denn zwischen dem Mythus der vitalistischen „Er-

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ΜΑ Π, 2, 420, am 4. September. Die Bürger sind jedoch ebenfalls in Erbstreitigkeiten verwickelt, wie das Verhältnis von Werthers Mutter und Tante zeigt, Π, 2, 350, am 4. Mai.

S. Traite des trois imposteurs Mo'ise, Jesus-Christ, Mahomet (1768). Sowie die Preisfrage der Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Berlin fur das Jahr 1782: „Est-il utile au peuple d'etre trompe [...]?" Sowie ΜΑ ΠΙ,2, 137: Venezianische Epigramme, 51 u. 55. MA 1,1, 659f. Satyros, der Psyche als „Tugend-Wahrheits Licht Wie aus eines Engels Angesicht" erscheint, und ihre Antwort: „Ich bin ein armes Mägdelein", erinnern an Mariä Verkündigung. Satyros übernimmt bald die Rolle des Pontius Pilatus, bald die von Jesus, s. ,,mein[em] Vater Jupiter".

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zeugungskraft" der Natur und dem Mythus des einfachen Volkes besteht eine Kluft. Die panerotische Tendenz der Natur läßt sich nicht einfach auf das Volk übertragen. Sobald der Satyr als solcher erkannt wird, wird er verbannt, nicht nur aus der bürgerlichen Gesellschaft, auch aus der Gemeinschaft des Volkes, das die ungezähmte Zeugungskraft ebenfalls als animalisch verfemt. Wie schon der Priester dem Satyr bedeutete, das Gewand, das hier eine symbolische Bedeutung hat, ist eine „Notwendigkeit" (MA 1,1, 660). Im Unterschied zu Tier und Pflanze muß auch das Volk einen Kompromiß eingehen und die vitale, dämonische Kraft der Natur beschneiden, um in Gemeinschaft leben zu können. Vertreten in Werther Individuen das Volk, so erscheint es in der Geschichte Gottfriedens von Berlichingen sowohl durch die Gruppe der Zigeuner wie der revoltierenden Bauern als Kollektiv. Dennoch ist in der viel zitierten Helfensteinszene die Perspektive ziemlich bechränkt, indem der Aufstand noch als Manifestation einiger Rebellen dargestellt wird. Da Graf Helfenstein Metzlers Bruder und drei seiner Gefährten „zu Tode gequält hat", indem er sie im Verlies langsam verhungern ließ, weil sie „mit Hungricher Seele seinen Wald eines Hirsches beraubt hatten[,] ihre armen Kinder und Weiber zu speisen", übt dieser mit einigen Kumpanen grausame Rache an den gefangenen Feudalherren. Nachdem sie deren Schlösser in Brand gesteckt haben, entgegnet Metzler der vergeblich um „Barmherzigkeit" bittenden Gräfin und ihrem Kind, daß er sein Rächeramt von ihrem Mann und dem adligen „Mördergeschlecht" gelernt habe und daß - in parodistischer Umkehrung - „Barmherzigkeit [...] das Losungswort sein [soll,] wenn wir sie [die Adligen] morden" und „aus hundert Wunden ihr Blut zapfen". Begründet wird die alle Grenzen überschreitende Grausamkeit der Bauern einerseits durch die Grausamkeit der Feudaljustiz und das Mißverhältnis zwischen Strafe und Vergehen, zumal das Wildern durch die Not begründet wird, worauf im 18. Jahrhundert mehrfach hingewiesen wurde, andererseits durch die Ausbeuterei der Feudalherren, die Metzler als „Blutigel" bezeichnet und von denen schon der Bauer in der Schenke sagt, daß sie sie „bis auf den letzten Blutstropfen auskeltern".31 In den zwei Szenen der zweiten Fassung des Ritterdramas ist der Horizont bedeutend erweitert. Nun ist wirklich von einem „Bauernkrieg" die Rede, worauf schon die Überschrift im 5. Akt hinweist. Die Anführer sind noch die gleichen, aber die individuelle Motivierung für ihre Rache entfallt; an ihre Stelle tritt als historisch-politische Begründung die allgemeine Anarchie, die durch die Fehden und Raubzüge der Ritter, die anektionistischen Bestrebungen der Bischöfe und Fürsten sowie die Ohnmacht des Kaisers hervorgerufen wurde. Diese schafft den Bauern erst die Möglichkeit, sich ihrerseits an ihren Unterdrückern zu rächen. Der Krieg begünstigt jedoch zugleich den Ausbruch eines hemmungslosen Hasses, wovon die unglaublichen Brandstiftungen nicht nur der Schlösser und Klöster, sondern auch von Dörfern und Städten sowie das allgemeine Blutbad zeugen. Nicht nur der Adel, auch die Bevölkerung wird gebrandschatzt; selbst das Volk („Weiber und Alte mit Kindern") muß fliehen. Während 31

MA 1,1, 389 u. 484-489.

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Link, einer der Anführer, befiehlt zu plündern und niederzubrennen - „sie mögen drinnen braten" - , rühmt sich Metzler: „wir haben sie [die Feudalherren] zusammengestochen, daß [es] eine Lust war [...] Hab mein Tag so kein Gaudium gehabt" (MA 1,1, 634). Dieser unmenschliche Sadismus bestätigt nur, wie sehr die empörten Bauern in ihrer blutrünstigen Wut zu reißenden Tieren geworden sind. Bereit, alle diejenigen niederzustechen, die sich ihnen entgegenstellen, denken sie nur noch an Mord und Totschlag. Das Ziel des Krieges ist, wie Metzler betont, „uns an unsern Feinden zu rächen, uns empor zu helfen" (MA 1,1, 638), gleichsam als sei die Rache die Voraussetzung für die Erlösung aus ihrer Not. Das Volk als Masse gibt dem Mythus des Volkes jedoch eine neue sowohl psychologische wie politisch-soziale Dimension, vor allem in Zusammenhang mit dem Krieg. In der Masse verzichtet das Individuum gleichsam auf Gewissen und persönliche Verantwortung, um überindividuellen Intentionen zu folgen, oder es überläßt sich blind seiner Leidenschaft, wird barbarisch.32 Weil das unmündige Volk sich aber leicht verführen läßt, bedarf es eines umsichtigen Führers. Goethe übernimmt hier eine Idee des aufgeklärten Absolutismus. Schon in der ersten Fassung wünscht einer von Metzlers Kumpanen einen „Anführer, von Kriegserfahrenheit und Ansehen", um „der Sache einen Schein zu geben", d.h. von Recht und Respektabilität.33 In Götz von Berlichingen sucht dann der Haufen der Rebellen einen „Hauptmann, vor dem das Volk all Respekt hätt", denn, so der Kommentar Metzlers, „wir sind doch nur ihres gleichen". Um dem allgemeinen Wunsch zuvorzukommen, schlägt er Götz dafür vor. Während dieser jedoch glaubt, er könne mit ihnen einen Vertrag schließen (er würde ihnen zu ihren „Forderungen" verhelfen, wenn die Bauern „abstehen von allen Übeltaten"), ist Metzler bereit, „wenn's Händel setzt wegen des Vertrags", den Partner zu beseitigen, auf einen Toten mehr komme es nicht mehr an (MA 1,1, 635f., 638). Das heißt, er betrachtet den adligen Anführer nur als Deckmantel, hinter dem er und die seinen weiterhin ihr grausames Handwerk treiben können. Wie aus Werther hervorgeht, hat die Natur zwei Seiten. Während sie im Brief vom 10. August ihr idyllisches Gesicht zeigt, erfahrt der Titelheld im Brief vom 18. August ihr dämonisch zerstörerisches Wesen. Wenn aber das Volk die Natur verkörpern soll, muß es diesbezüglich nicht ebenfalls diesem Modell entsprechen? Dies gilt jedoch noch nicht für das Ritterdrama, indem höchstens rückblickend die wütigen Bauern die dämonische Natur vertreten, während die Idylle nicht durch das Landvolk repräsentiert wird. So gesehen, zeigen uns in Werther die Gestalten der Mutter, der Kinder und zunächst auch das liebende Mädchen die idyllische Seite des Mythus. Wo bleibt 32

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Besonders während der Französischen Revolution und in den Befreiungskriegen erhielt ,Masse' eine politisch-soziale Bedeutung, s. ΜΑ DI,2, 137: Venezianische Epigramme, 53; sowie Goethe an J.F. Rochlitz, am 1. Juni 1817, s. Goethe [Anm. 16], Bd. 21: Briefe der Jahre 1814-1832, S. 231. Im gleichen Sinn verwendet er auch ,Pöbel'. MA 1,1, 487. Schlaffer, Hannelore: Dramenform und Klassenstruktur. Eine Analyse der dramatis persona „Volk". Stuttgart 1972, S. 69f., übersieht in ihrer marxisiezerenden Parteilichkeit was nicht in ihr Konzept paßt, sowohl für „das Volk", wie für Götz.

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aber dessen dämonische Seite? In der ersten Fassung existiert sie nicht. Wohl darum ergänzte Goethe in der zweiten Fassung den Roman durch die Geschichte des Bauernburschen, der zuerst „mit Leib und Seele" seiner Dienstherrin zugetan war (MA 11,2, 360) und Werther seinerseits das Beispiel absoluter Liebe gab. Die Liebe des Bauernburschen erweist sich jedoch bald als eine elementare Leidenschaft, die einmal geweckt, ihn ganz beherrscht, so daß er schließlich „weder essen noch trinken noch schlafen" konnte und „wie von einem bösen Geist verfolgt" sich seiner Herrin „mit Gewalt bemächtigen" wollte (MA 11,2, 429). Als er daraufhin aus dem Haus gejagt, sehen mußte, wie ein anderer an seine Stelle trat, beseitigte er kurzerhand den Nebenbuhler in dem egoistischen Gedanken: „Keiner wird sie haben, sie wird keinen haben". So haben sich, wie Werther kommentiert, „Liebe und Treue, die schönsten menschlichen Empfindungen [...] in Gewalt und Mord" und die anfangliche Idylle in eine Tragödie verwandelt (MA 11,2, 436f.). Soll das besagen, daß das Volk um so leichter ein Opfer des Dämons wird, als es der Herderschen Psychologie gemäß spontan und leidenschaftlich ist? Und daß gerade der Mann aus dem Volk, der anscheinend - im Gegensatz zum Bürger - nicht auf die Vernunft rechnen kann, um seine natürliche Wildheit zu zähmen - , das Dämonische repräsentiert? Mit anderen Worten, indem Goethe im Menschen die gleiche Polarität wie in der Natur angelegt findet, erhält das naturnahe Volk ein geschlechterspezifisches Janusgesicht und das idyllische Bild, das Rousseau und Herder ihm überlieferten, eine Kehr- bzw. eine Schattenseite.

Die Alienation des Menschen durch die bürgerliche Gesellschaft Während Goethe in der Zeit der Weimarer Klassik die Tendenz eines Werkes gern verschlüsselte, unterstrich er sie in der Zeit des Sturm und Drangs gern durch den Kontrast. So stellt er jedem Bild, das Teil des Mythus des Volkes ist, ein Gegenbild gegenüber. Während die Kinder des gemeinen Volkes und auch Lottes junge Geschwister unter dem liebevoll sorgenden Blick ihrer Mutter bzw. ihrer Schwester unverbildet aufwachsen, gesteht die bürgerliche Erziehung, die alle „geilen Reben" beschneidet,34 den Kindern keinen persönlichen Willen zu, so daß sie schließlich zu leblosen Schablonen werden, wovon Carl, der Sohn des Raubritters Götz, ein sprechendes Beispiel gibt. Seine brave Tante wollte aus dem Knaben einen „frommen, christlichen Ritter" oder gar einen Mönch machen. Durch ihre Dressur hat er zwar „viel gelernt" (MA 1,1, 559), doch ohne immer den Sinn der Worte zu begreifen, die er herplappert, womit Goethe zweifellos auf das Lallen des Rosenkranzes anspielt. Kein Wunder, daß der verweichlichte, ängstliche, verschleckte Stubenhocker nicht nur vor dem Kriterium der Natur nicht zu bestehen vermag. 34

S. ΜΑ I, 2, 205-207, 218, am 26., 27. Mai und am 29. Juni.

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Nichts verdeutlicht besser, daß der Mythus des Volkes auf dem der Natur beruht und daß letztere dem Stürmer als Kriterium für die Beurteilung von Individuum und Gesellschaft dient, als die Klagen von Bruder Martin über „die Jämmerlichkeiten [s] eines Standes" und seine dem Pflanzenleben entliehenen Metaphern: „Aus mißverstandener Begierde Gott näher zu rücken", zwingt die Kirche den Mönch, ein Gelübde von „Armut, Keuschheit und Gehorsam" abzulegen, das ihm nicht „Mensch [zu] sein" erlaubt. Indem so die Kirche „die besten Triebe beschneidet, durch die wir werden, wachsen und gedeihen" (MA 1,1, 555), — was durch biologische Metaphern übersetzt wird, - verfälscht sie die wahre Bestimmung des Menschen.35 In der Geschichte Gottfriedens von Berlichingen erscheint Adelhaid überraschenderweise wie ein weibliches Pendant der Naturburschen bzw. des Herkules. Nicht umsonst handelt es sich dabei nicht um eine Figur aus dem Volk, denn nur eine Adlige vermochte sich soviel Freiraum zu verschaffen, um ihr dämonisches Spiel zu spielen. Aber Ruhmsucht und Berechnung, nicht Leidenschaft oder die Natur treiben die Intrigantin von einem zu andern und lassen sie schließlich ihren Mann und ihren Liebhaber vergiften, um frei zu sein für den nächsten. Doch nicht allein ihre Intrigen und Verbrechen verurteilen die ,femme fatale'; die Analogie zu den männlichen Figuren zeigt, daß sie die für Goethe natürliche geschlechterspezifische Rollenverteilung verkennt und daß sie durch ihr frivoles Leben die wahre Bestimmung des Weibes verhöhnt. In Götz von Berlichingen zeigt die Kritik der Gesellschaft und fast aller Gestalten, Stände und Institutionen, daß innerhalb eines zweideutigen politischen Rahmens nicht nur das Leben erstickt oder sich gewaltsam Luft schafft, sondern daß jede Handlung zweideutig werden muß. Dieser Tragik vermag auch der brave, etwas beschränkte, der Vergangenheit zugewandte Ritter Götz sich nicht zu entziehen. Er wünscht zwar, den Bedrängten, die unter der allgemeinen Rechtlosigkeit leiden, zu Hilfe zu kommen, vermehrt aber durch seine Fehden noch die Unsicherheit und das Unrecht. So bietet das Ritterdrama das Schauspiel „einer verderbten Welt" (MA 1,1, 652), der allgemeinen Anarchie, wo das Gute zum Bösen ausschlägt, weil die schlimme Zeit den Menschen in Widersprüche verstrickt, an denen er zerbricht. Hier ist kein Platz für den idyllischen Part des Mythus. So bedeutet der Tod des Ritters zugleich das Ende einer alten Zeit, in der die Beziehungen von Mensch zu Mensch noch galten, wenn auch nur im engen patriarchalischen Kreis, und den Beginn einer neuen unmenschlichen Zivilisation, die sich am römischen Recht, und das heißt am Buchstaben des Gesetzes, orientiert und so das Leben bedroht. Damit brechen Natur und Geschichte auseinander, wie auch in der Schlußszene durch den Kontrast zwischen der aufblühenden Natur, die sich stets erneuert, und dem Tod des Helden und der Hoffnung angedeutet wird. In Werther haben die beiden Schichten der bürgerlichen Gesellschaft der Natur und dem Leben den Rücken zugekehrt. Für die beim Grafen versammelte „noble Gesellschaft" (MA 1,1, 254) muß der Adelsstolz die Diskrepanz zwi35

MA 1,1, 555, Götz von Berlichingen. Zweite Fassung.

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sehen ihren hochadligen Prätentionen und ihrer wahren Dürftigkeit, ihrer physischen, geistigen und moralischen Armut verschleiern helfen. Nur eine auf der Geburt fußende Hierarchie vermag noch ihre Illusion zu nähren, daß sie die „Nation" ist. Nur wenn die Adligen unter sich sind, können sie vergessen, daß sie nur noch die lächerlichen, absterbenden Überbleibsel einer vergangenen Ära sind, wovon auch ihre „mit neumodischen Lappen" ausgeflickte „altfränkische Garderobe" nicht hinwegzutäuschen vermag.36 Darum vernichten sie Werther, den bürgerlichen Gesandschaftssekretär, der sich ihnen nicht nur physisch und finanziell, sondern auch geistig überlegen fühlt und durch seine Gegenwart in dem selekten Kreis ihre Kriterien in Frage zu stellen droht. Der in seiner Ehre gekränkte bürgerliche Gesandschaftssekretär vergilt jedoch Gleiches mit Gleichem. Seine Adelssatire offenbart, wie sehr dieser Stand durch seinen Traditionalismus und seinen Respekt der sozialen Konventionen erstarrt war, so daß ihm diese dekadente Gesellschaft als ein mechanisch sich drehendes Karussel von Marionetten, als ein Bild ohne Leben erscheint. Als Kriterien dienen ihm jedoch nicht nur Leben und Natur; er beurteilt sie zugleich nach bürgerlichen Kriterien, indem er sich auf Bildung und Geld beruft, die das Privilegium der Geburt ersetzen sollen, d.h. auf die Momente, die der Bürger des ausgehenden 18. Jahrhunderts als seine Vorzüge geltend machte. Doch stellt Werther im Gegensatz zur Aufklärung dem Adel kein bürgerliches Ideal gegenüber; er begreift vielmehr die Bürger in seine Kritik mit ein, da sie in ihrer strengen Beachtung der „Regeln" ebenfalls „das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck desselben zerstören", und da sie „sich durch Gesetze und Wohlstand modeln" lassen, „Philister" werden (MA 1,2, 205). In Werthers Kritik der .bürgerlichen Gesellschaft' fließt manches Moment von Rousseaus Kritik mit ein. Sie erinnert einerseits an dessen Apologie der Einfachheit und Genügsamkeit, andererseits an die Kritk des verderblichen Luxus und der „vaines sciences", die keinen Bezug zum Leben haben. Schärfer noch als den jungen Akademiker, der über seinem Bücherfleiß das Leben zu vergessen droht, kritisiert er die Pastorin, weil ihre theologischen Interessen ein Zeichen ihrer Lebensblindheit sind. Wie sonst könnte sie die alterehrwürdigen, schattenspendenden Nußbäume umlegen lassen? Während die bürgerliche Aufklärung stolz darauf ist, die Komplexität der Natur und des Lebens durch die Erkenntnis ihrer Gesetze zu reduzieren und so zu beherrschen glaubt, lehnt Werther sich gegen die Regeln und ihre Erziehungsmethode auf, weil sie alle Spontaneität, alle individuelle Freiheit beschneiden. Sie begünstigen das Mittelmaß und schaffen zwar „brauchbare" Subjekte, aber keine wahren, lebendigen Menschen. Selbst in der Liebe, bei welcher die Natur sich noch am deutlichsten offenbaren sollte, folgen sie Konventionen und zeigen dadurch, daß sie mit der Verachtung der Vitalität den Sinn des Lebens verloren haben. Ohne

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Da die Tante des Fräulein von B. „in ihrem Alter [...] kein anständiges Vermögen keinen Geist und keine Stütze hat als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm als den Stand [...] verpalisadiert" sie sich dahinter und kennt „kein Ergetzen, als von ihrem Stockwerk herab über die bürgerlichen Häupter wegzusehen", MA 1,2, 250.

Goethes Mythus des janusköpfigen Volkes

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Sinn fur die Kräfte des Gemüts beurteilen sie wie der Doktor alles nach seiner Nützlichkeit und stellen diejenigen, die sich ihren Leidenschaften überlassen, d.h. die allein noch den Impuls des Lebens fühlen, als trunken oder wahnsinnig an den Pranger. So vielfaltig Werthers Kritik an der bürgerlich-adligen Gesellschaft auch ist, sie gipfelt in dem Vorwurf, daß Rationalismus und Utilitarismus, Konventionen und Regeln den Menschen der Natur und damit seiner Bestimmung entfremdet haben. So ist es kein Wunder, wenn die bürgerlichen „Drahtpuppen" oder „Strohmänner" würdige Pendants der adligen Marionetten abgeben (MA 11,2, 372, 384). Damit verliert aber die von der Feudalgesellschaft so krampfhaft betonte Unterscheidung zwischen Bürgertum und Adel an Bedeutung und macht einer neuen gesellschaftlichen Dichotomie Platz, die die bürgerliche Gesellschaft als solche dem Volk gegenüberstellt, das trotz seiner Dürftigkeit allein noch Leben in seinen Adern zu haben und der Bestimmung des Menschen gemäß zu leben scheint.

*

In seinen Briefen bezeugt Goethe die gleiche Vorliebe fur „das gemeine Volck", das er anläßlich eines Brandes in der Judengasse „wieder näher kennen gelernt" hat, wie er im Juni 1774 Gottlieb F. E. Schönborn schreibt.37 Die ihm in Weimar aufgebürdete politische Verantwortung und die Konfrontation mit der sozialen Wirklichkeit führten jedoch zu einem bedeutenden Unterschied zwischen dem Mythus des Dichters und dem Bild, das sich der Minister von den niederen Schichten machte, zumal nun auch die Strumpfwirker in Apolda und die Arbeit des Volkes in sein Blickfeld traten. Zwar bezeigt er weiterhin große Achtung für die Klasse, „die man die niedere nennt! die aber gewiß für Gott die höchste ist. Da sind doch alle Tugenden Beysammen, Beschränckheit, Genügsamkeit, Grader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit", 38 aber zugleich beginnt der verantwortliche Minister sich ernstlich Sorgen zu machen wegen der drückenden, materiellen Not der niederen Schichten der Bevölkerung und zu klagen über die Verschwendungssucht der herrschenden Gesellschaftsschichten, die an der Misere des Volks mitverantwortlich sind. Am härtesten brandmarkt er diese im Brief an Knebel vom 17. April 1782: So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe den Bauersmann der Erde das Notdürftigste abfordern, das doch auch ein beträgliches Auskommen wäre, wenn er nur für sich schwitzte. Du weißt aber, wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen den filtrigen

37 38

Brief vom 1. Juni bis 4. Juli 1774, Goethe [Anm. 16], S. 227. Brief an Charlotte von Stein vom 4. Dezember 1777, Goethe [Anm. 16], S. 377.

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Gonthier-Louis

Fink

Saft aus den Leibern. Und so gehts weiter und wir habens so weit gebracht, daß oben immer in einem Tage mehr verzehrt wird, als unten in einem beigebracht werden kann.39

Wie könnte dieses ausgebeutete Volk noch Vorbild für das natürliche Leben sein? Es kann - wie Goethe während der Harzreise im Winter 1777 Charlotte von Stein schreibt, - nur „Dulden - dulden - Ausharren".40 Wenn er im September 1786 nach Italien floh und auf seine bisherigen politischen Ämter verzichtete, zeugt dies zweifellos auch von der Ohnmacht des Ministers, der sich nicht imstande sah, durch Reformen der Not des Volkes abzuhelfen.41

39 40 41

Goethe [Anm. 16], S. 659f. Goethe [Anm. 16], S. 377. Mayer, Hans: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt 1973, S. 17ff.

Bernhard Greiner

Die Theatralisierung der Idee der Bildung Zwei literarische Antworten auf Moses Mendelssohn: Wilhelm Meisters Lehrjahre und Florentin

Das Wort .Bildung', ebenso ,Aufklärung' und ,Kultur' als deren Komponenten, bezeichnet Moses Mendelssohn 1784 als „neue Ankömmlinge" in der deutschen Sprache. Sie gehörten „vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum."1 Daß der Begriff der Bildung schon bald nach dieser Feststellung in der deutschen literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit Konjunktur haben sollte, ist wahrscheinlich weniger das Verdienst Mendelssohns als das von Autoren wie Wieland, Herder und selbstverständlich Goethe.2 Mendelssohns Ausführungen zum Bildungsbegriff können allerdings erklären, warum dieser so attraktiv werden konnte. Denn Mendelssohn entwickelt ihn als eine Kategorie der Verknüpfung der beiden entgegenstehenden Welten von Natur und Geist, von empirischer und ideeller Existenz, für die das 18. Jahrhundert nicht müde wird, immer neue Konzepte eines Brückenschlags zu erproben, da offenbar keines die gesuchte Vermittlung befriedigend leistet. Zur Debatte steht dabei der bürgerliche Anspruch auf Autonomie, der sich auf das Vermögen zur Vernunft gründet, dabei aber den Nachweis schuldig bleibt, daß die Vernunft mit den Gesetzen der empirischen Wirklichkeit in Übereinstimmung gebracht werden kann. Lessing erkennt im Mitleid - als Affekt und zugleich sittliche Haltung - die Chance eines Brückenschlags, ein anderes Konzept ist in der .Empfindsamkeit' zu erkennen, wieder ein anderes in der .Grazie' von Bestimmungen Winckelmanns über Wieland und Schiller bis hin zu Kleist. Kant hat dann bekanntlich in seinen Kritiken die Kluft zwischen der Welt der Erscheinungen und der der Ideen als prinzipiell unüberbrückbar erwiesen. Der Erkenntnis produzierende Verstand hat keinerlei normative Kompetenz im Hinblick auf die Welt des sittlichen Wollens, umgekehrt hat die zwecksetzende Vernunft, das der Idee der Freiheit verpflichtete Handeln, keinerlei Versicherung in der Welt der Empirie. Eine Art Verknüpfung der Welt der reinen und der praktischen Vernunft spricht Kant

1

2

Mendelssohn, Moses: „Über die Frage: was heißt aufklären?" In: Was ist Aufklärung?, hrsg. von Erhard Bahr. Stuttgart 1974, S. 3. Für die Eingemeindung des Bildungsbegriffs ist auf naturwissenschaftlichem Feld Blumenbach hervorzuheben (Blumenbach, Johann Friedrich: Über den Bildungstrieb. Göttingen 1781, 2. Aufl. 1789), auf dem pädagogischen Feld Pestalozzi (z.B.: Abendstunde eines Einsiedlers. Erstdruck in: Ephemeriden der Menschheit, Bd. 1, fünftes Stück, 1780, S. 513543, Neudruck in: Wochenschrift für Menschenbildung, Bd. 1, 13. Stück, 1807, S. 199-208 und 14. Stück, S. 209-221.).

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Bernhard Greiner

dann dem Schönen (dem ästhetischen Urteil) und der teleologischen Naturbetrachtung zu, sofern deren Brückenschlag als bloß symbolisch3 respektive als bloß hypothetisch4 bewußt bleiben. Ein anderes Feld der Verknüpfung entwirft Mendelssohn in seinem Beitrag vom September 1784 zur Diskussion über die Frage ,Was heißt Aufklärung?', die die Berlinische Monatsschrift angeregt hatte. Es ist die Idee der Bildung. „Bildung zerfällt", so formuliert Mendelssohn, „in Kultur und Aufklärung",5 mithin setzt sie sich aus diesen zusammen, hat sie diese schon immer in einer bestimmten Weise zusammengebracht. .Kultur' macht für Mendelssohn dabei die menschliche Praxis, die herstellende Tätigkeit des Menschen aus, Aufklärung' bezieht sich auf den theoretischen Bezug zur Welt, auf vernünftige Erkenntnis und Fertigkeit. Deren Feld ist die Wissenschaft, das der Kultur ist demgegenüber der gesellschaftliche Umgang, wozu auch die Poesie und die Beredsamkeit gerechnet werden. So hat Mendelssohn am Begriff der Bildung ein Zugleich entgegengesetzter Orientierungen akzentuiert. Er dynamisiert es sodann, wenn er als Maßstab für beide Kenntnisse und Fertigkeiten die „Bestimmung des Menschen"6 einfuhrt. Bezogen auf .Aufklärung' kann dies nur bedeuten, sie von einem radikal gedachten Begriff der Freiheit her zu denken, ,Kultur' wird in diesem Horizont - als kontinuierlich in der Geschichte voranzubringender Prozeß der Kulturisierung - auf eine erst zu verwirklichende Idealkultur hin gespannt, in der das Zielbild der Aufklärung, die Selbstbestimmung des Menschen in einer auf Vernunft gegründeten Gemeinschaft, verwirklicht wäre. Daß mit dieser Dynamisierung, die die Kluft überbrücken soll, der Widerspruch gerade vertieft wird, jetzt als Kluft zwischen universal emanzipatorischer und individueller, das Besondere als Besonderes stark machender Orientierung, zeigt Mendelssohn darin, daß er mit Blick auf den aufgestellten Maßstab sogleich weiter unterscheidet zwischen der Bestimmung des Menschen als Menschen und der als Bürger, sodann innerhalb beider nochmals zwischen wesentlicher und zufalliger Bestimmung. Mendelssohn will das Zusammengehen von empirisch-praktischer und ideell-theoretischer Existenz im Voranbringen der Bildung beschreiben, unter der Hand gerät ihm das aber zu einer immer weiter sich verzweigenden Aufzählung von Möglichkeiten des Konflikts beider, d.i.: zwischen wesentlicher Bestimmung des Menschen und wesentlicher Bestimmung des Bürgers, zwischen wesentlicher Bestimmung des Menschen und außerwesentlicher Bestimmung des Bürgers sowie zwischen wesentlicher Bestimmung des Bürgers und außerwesentlicher Bestimmung des Menschen. Daß sich Mendelssohn das Thema von der proklamierten Harmonie' von Kultur und Aufklärung zu dem der Vielfalt ihrer möglichen Konflikte verschiebt, zeigt - bei allem Bildungsoptimismus - ein Krisenbewußtsein im Hinblick auf beide an, weshalb es nicht mehr überrascht, daß Mendelssohn in 3

4 5 6

Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Karl Vorländer. Hamburg 1974 (nachfolgend abgekürzt KdU), §59. Vgl. KdU §75. Mendelssohn [Anm. 1], S. 4. Ebd.

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der genannten Schrift zuletzt von Erscheinungsformen des Verfalls beider spricht. In dieser Verschiebung der Argumentation mag sich ein Zweifel am Gelingen der jüdischen Emanzipation artikulieren, wenn Mendelssohn etwa den .unglückseligen' Fall erörtert, daß sich die Aufklärung, d.h. deren universal emanzipatorische Ideen, „nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne, ohne daß die Verfassung in Gefahr sei, zugrunde zu gehen".7 Prinzipiell zeigt diese Verschiebung der Argumentation jedoch an, daß im Begriff der ,Bildung' die Bedingung der Möglichkeit eines Zusammengehens der Gesetze der empirischen Existenz und der Ideen als der Grundlage der sittlichen Existenz unentfaltet ist. An genau dieser Stelle setzt Goethe in seinem Entwurf von .Bildung', verstanden als Selbstvervollkommnung zur Persönlichkeit, das Theater ein. Die bürgerliche Hinwendung zum Theater gewinnt damit eine neue Dimension. Das Theater war schon vielgesuchter Ort, an dem das Bürgertum seine Forderung nach Autonomie machtvoll artikulieren und zugleich das Problem verhandeln konnte, ob und wie Vernunft und Wirklichkeit miteinander zu vermitteln seien. Entsprechend hat das Theater im Aufklärungsjahrhundert immer neu schöpferische Kräfte an sich gezogen und frei gesetzt, man denke an Lessings Unternehmen der Hamburgischen Dramaturgie, an die Theaterbegeisterung des Sturm und Drang und an die Selbstreflexion dieser ,Theatromanie' 8 in den Theaterromanen von Karl Philipp Moritz und Goethe.9 Bei Goethe ist in dieser Art Hinwendung zum Theater allerdings ein zusätzliches Moment wirksam, das das Theater zu einem vielversprechenden Konzept der gesuchten Überwindung des aufklärerischen Dualismus aufsteigen ließ. Von seinen frühesten Theaterexperimenten an spielt Goethe - in Widerspruch zum bürgerlichen Illusionstheater das für das Theater konstitutive Zugleich zweier ontologisch verschiedener Welten aus: Repräsentation und Präsenz, d.h. im Vorstellen einer Welt die Wirklichkeit hier und jetzt des theatralischen Vorstellens nicht vergessen zu lassen. In solcher Akzentuierung bietet sich das Theater als ein Ort und als ein Medium dar, mit dem Dualismus der Aufklärung produktiv umzugehen. Es eröffnet zwar keine Vermittlung der entgegenstehenden Welten von Determination und Freiheit, wohl aber die Möglichkeit, beide auf den verschiedenen Ebenen der theatralischen Veranstaltung zugleich zu vergegenwärtigen und so doch eine Art Verknüpfung beider vorzustellen. Goethe jedenfalls verfolgt diesen Weg konsequent.

7 8

9

Ebd., S. 6. Der Begriff .Theatromanie' geht auf die 1681 erschienene theaterfeindliche Schrift eines Pfarrers mit dem Namen Anton Reiser zurück: „Theatromania, oder die Werke der Finsterniß in den öffentlichen SchauSpilen, von den alten Kirchenlehrern und etlichen heidnischen Skribenten verdammt". Hierauf hat Eckehard Catholy erstmals aufmerksam gemacht: C.E.: „Carl Philipp Moritz. Ein Beitrag zur ,Theatromanie' der Goethezeit." In: Euphorion 45 (1950), S. 100-123, hier S. 101. Vgl. Wilhelm Meisters theatralische Sendung. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abtl. Bd. 9, Frankfurt/M. 1992. Die Hauptarbeit an den „Theatralischen Sendungen" erfolgte zwischen 1777 und 1786.

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In seinen frühen Theaterexperimenten (Die Mitschuldigen, 1768/69 und 1780 und Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern, 1773 und 1778) entwickelt Goethe den Aspekt der theatralischen Dopplung' 10 durch den Aufbau von Spiel im Spiel-Strukturen, so daß die für das Spiel wichtigen Figuren auf zwei Ebenen agieren und sich hierin different erfahren: illusioniert in einer Spiel im Spiel-Welt, zugleich sich selbst wissend in der Wirklichkeit des Spielens.11 Diese Dopplung rückt Goethe dann immer pointierter in einen medizinischen Diskurs des Heilens ein: Selbsterfahrung einer Figur in theatralischer Dopplung als Strategie erfolgreicher Katharsis (so im Drama Der Triumph der Empfindsamkeit und in der Iphigenie aufTauris).12 Das Verfahren, die theatralische Dopplung bewußt zu halten und auszuspielen, entwickelt Goethe erstmals theoretisch und zugleich programmatisch in der Zeit der italienischen Reise. Anlaß ist die Erfahrung der Römischen Komödie, deren Theater durch Gesetz des Kirchenstaates gezwungen waren, Frauenrollen durch Männer spielen zu lassen. Goethe berichtet hierüber in einem Artikel Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt, der im Oktober 1788 in Wielands Teutschem Merkur erschien. Das besondere Vergnügen, das ihm die Darstellung von Frauenrollen durch Männer bereitete, erklärt sich Goethe damit, „daß bei einer solchen Vorstellung, der Begriff der Nachahmung, der Gedanke der Kunst, immer lebhaft blieb, und durch das geschickte Spiel nur eine Art von selbstbewußter Illusion hervorgebracht wurde."13 Der männliche Spieler der Frauenrolle kann weder danach trachten, in der Rolle aufzugehen, noch kann er nur sich selbst spielen. So bleibt in der Vorstellung der Figur die Wirklichkeit hier und jetzt des Vorstellens stets gegenwärtig: Der Jüngling hat die Eigenheiten des weiblichen Geschlechts in ihrem Wesen und Betragen studiert; er kennt sie und bringt sie als ein Künstler wieder hervor; er spielt nicht sich selbst, sondern eine dritte und eigentlich fremde Natur. Wir lernen diese dadurch nur desto besser kennen, weil sie jemand beobachtet, jemand überdacht hat, und uns nicht die Sache, sondern das Resultat der Sache vorgestellt wird. 14

Die Formulierungen dieses Berichts zeigen eine auffallige Nähe zum Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl, den Goethe in derselben Reihe einige Monate später (Februar 1789) veröffentlichte. Der ,einfachen Nachah-

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Der Begriff wurde nach Theodor Lessing entwickelt, vgl. Lessing, Theodor: Theater=Seele. Studie über Bühnenästhetik und Schauspielkunst. Berlin 1907; ders.: Der fröhliche Eselsquell. Gedanken über Theater, Schauspieler, Drama. Berlin 1912. Interpretation der Mitschuldigen in der hier genannten Perspektive: Verf.: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. Tübingen 1992, S. 224-229. Ausführlicher zu diesen Dramen: Verf.: „Purim in Plundersweilern. Der karnevalistische Goethe." In: Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft, hrsg. von Waltraud Wiethölter. Tübingen 2001, S. 39-64. Goethe, Johann Wolfgang: „Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt." In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hrsg. von Hans J. Becker u.a., Bd. 3.2. (Italien und Weimar 1786-1790). München 1990, S. 173. Ebd., S. 173f.

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mung der Natur' in der Malerei entspricht in der Schauspielkunst das Aufgehen in der Rolle, der ,Manier' das Akzentuieren der Schauspielerperson, ihrer Strukturierung der Welt in der Wirklichkeit hier und jetzt des Spielens. Während das Theater vermöge seiner konstitutiven Dopplung schon immer auf eine Verknüpfung beider Ebenen rekurrieren kann, muß eine solche für die Malerei eigens begründet werden, was hier im Begriff des ,Styls' unternommen wird. Er ruhe „auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, in so fern es uns erlaubt ist es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu erkennen."15 Eben diese empirische Konkretion des Ideellen wird Goethe zum leitenden Gedanken und nicht weniger zum immer neu sich stellenden Problem auf allen Feldern seines künstlerischen und naturwissenschaftlichen Schaffens. In seiner Schrift über die Metamorphose der Pflanzen, die parallel zum genannten kunsttheoretischen Aufsatz und zur Schrift über Das Römische Karneval entstanden ist, führt Goethe erstmals den ,Bildungsgedanken' ein. Er wird dualistisch auseinandergelegt, um dann im Konzept der ,Metamorphose' eine Art Brückenschlag vorzustellen. ,Bildung' ist hier noch rein als Naturprozeß gedacht: Wachstum und Ausbildung der verschiedenen Teile der Pflanze und Ausbildung verschiedener Arten aus der Grundform. Als problematisch mußte in der wissenschaftlichen Welt der dabei unternommene Rekurs auf ein ideelles Moment erscheinen. Kant hat ein solches - bei ihm die .Zweckmäßigkeit' der Naturphänomene - im gleichen Jahr, in dem die Metamorphose der Pflanzen erschien, d.i. im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft - nur als Denkannahme zugestanden, deren Zulässigkeit nicht bewiesen werden kann. Goethe will demgegenüber auf eine objektive Gültigkeit des ideellen Momentes hinaus. Das ist seine Idee der ,Urpflanze', die er hier als ,Begriff oder ,Typus' einfuhrt, wenn er etwa den „Versuch" ankündigt, „alle Pflanzen auf einen Begriff zurück zu führen" 16 oder von der „Schwierigkeit" spricht, „den Typus einer ganzen Klasse im allgemeinen festzusetzen, so daß er auf jedes Geschlecht und jede species passe".17 Diesem Typus als ,Idee' stehen die empirisch auffind- und bestimmbaren Arten und Formen gegenüber, in denen der Typus nur gegeben ist und kaum gefaßt werden kann, da er „ein solcher Protheus ist daß einem schärfsten vergleichendem Sinne entwischt und kaum teilweise und doch nur immer gleichsam in Widersprüchen gehascht werden kann".18 Der Gedanke der Metamorphose, Ausbildung und Umbildung19 als unaufhörlicher Prozeß, wird dann als das Konzept entwickelt, das die ,Idee Pflanze' und die empirischen Formen sowie die Ausbildung der verschiedenen Teile jeder Form (Blätter, Kelch, Krone, Staubfaden, Griffel, Frucht) miteinander zu verbinden vermag.

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Goethe, Johann Wolfgang: „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl." In: Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 3.2. [Anm. 13], S. 189. Goethe, Johann Wolfgang: „Schriften zur Biologie. Aufsatz Einleitung'." In: Goethe, Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 3.2. [Anm. 13], S. 303. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 311.

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Goethe verbreitet sich später (1817) ausfuhrlich über das Befremden, auf das seine Schrift bei den Zeitgenossen gestoßen sei.20 Das Befremden kann sich nicht auf den Gedanken der Metamorphose an sich beziehen, da dieser, wie Goethe in seiner Schrift selbst betont, in der biologischen Wissenschaft durchaus schon eingeführt war. So kann fremd nur der Rekurs auf Metamorphose als Brückenschlag zwischen einer Grundform .Pflanze', aus der sich alle Pflanzenarten und -formen ableiten lassen müssen, und den gegebenen Erscheinungsformen der Pflanzen sein. Schiller hält entsprechend in seiner ersten Unterredung mit Goethe, die dieser bezeichnenderweise damit einleitet, daß er seine Metamorphose der Pflanzen vorträgt, Goethe diesem den idealistischen Betrachtungsansatz vor - was Goethe darlege, sei keine Erfahrung, sondern eine Idee - , verbunden mit dem Kantischen Argument, daß es von Ideen keine Anschauung geben könne.21 Schiller versucht gleichzeitig, Goethe für Beiträge zu seiner neu begründeten Zeitschrift Die Hören zu gewinnen, worin er selbst mit den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen [...], über Kant hinauszielend, einen objektiven Brückenschlag zwischen physischer und ideeller Welt im Schönen zu leisten verspricht, während Goethe in seinem Beitrag zur Zeitschrift, den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, sich als strengerer Kantianer gibt, im Märchen eine bloß symbolische Verbindung vorstellend, zugleich jedoch in seinem Roman, den er Schiller nicht zum Vorabdruck in den Hören gibt, den Bildungsgedanken vom Feld der Natur auf das der menschlichen Entwicklung überträgt und durch die Verbindung mit dem Theatergedanken seinerseits eine Auflösung des Dualismus erprobt. Goethe überträgt im Wilhelm Meister-Roman den Bildungsgedanken seiner naturwissenschaftlichen Schrift auf das Feld der menschlichen Entwicklung. Was er später22 an Blumenbachs Schrift Über den Bildungstrieb23 in der Natur preisen wird, daß der Autor mit der Annahme eines Bildungstriebes (,nisus formativus' anstelle des bis dahin gebräuchlichen Wortes ,vis'/Krafit, das etwas nur Physisches bezeichne) den Gedanken der Bildung anthropomorphisiert habe,24 das führt Goethe in seinem Roman programmatisch aus, indem er den (Selbst-)Bildungstrieb zum Movens seines Helden erklärt: „Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und

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In der Ausgabe von 1817 folgen auf die eigentliche Metamorphosen-Schrift die Kapitel: „Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift, Drei günstige Rezensionen, Andere Freundlichkeiten" (In: Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Durchgesehene Ausgabe 1988, Bd. ΧΠΙ. München 1988 (im folgenden abgekürzt als: HA). Bd. ΧΠΙ, S. 102-117). Vgl. Goethes Bericht über diese Unterredung: „Glückliches Ereignis" (HA X, S. 541). Vgl. den Aufsatz „Bildungstrieb", in: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Zur Naturwissenschaft überhaupt von Goethe, Bd. I, Heft 2. Stuttgart 1820 (Abdruck HA ΧΙΠ, S. 32-34). Blumenbach [Anm. 2], Vgl.: „Nun gewann Blumenbach das Höchste und Letzte des Ausdrucks, er anthropomorphisierte das Wort des Rätsels und nannte das, wovon die Rede war, einen nisus formativus, einen Trieb, eine heftige Tätigkeit, wodurch die Bildung [der organischen Formen] bewirkt werden sollte." (Goethe, [Anm. 22], S. 33)

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meine Absicht" (657).25 In der Theatralischen Sendung ist der Bildungsgedanke noch nicht eingeführt, allenfalls angelegt in Wilhelms Identifikation mit Hamlet. Das Theater ist in der Theatralischen Sendung selbst das Ziel, in den Lehrjahren wird es zum ausgezeichneten Medium, die Bildungsidee zu verwirklichen. Analog zu Mendelssohn legt Wilhelm seinen Bildungsgedanken in zwei grundlegend verschiedene Komponenten auseinander, wobei er soziologisch argumentiert. Das Bildungsziel der Persönlichkeit' (vgl. 657) sei für den Bürger, im Unterschied zum Adligen, nur auf dem Theater zu erreichen. Nur dort sei der Bürger als ,ganze Person' gefragt, d.h. im ideellen Aspekt seines Durch-sichselbst-Seins26 wie im empirischen Aspekt einzelner Fertigkeiten, die er als Bürger gezwungen sei, einseitig auszubilden.27 Der Roman selbst argumentiert nicht soziologisch, sondern strukturell, indem er zeigt, was das Theater dem Helden bereitstellt, um eben der Ort zu sein, an dem dieser Dualismus von ideeller und empirischer Existenz überwunden werden könne. Ausgeführt wird dies in den Kapiteln über Wilhelms //aw/ei-Produktion. Daß die Bildungsthematik mit einer Neuaneignung gerade dieses Dramas verknüpft wird, erscheint überaus schlüssig. Das Hamlet-Drama läßt an der Entstehung dessen teilhaben, was ein jeder für sich beansprucht: Persönlichkeit, Innerlichkeit, Individualität. Hamlet erhebt den Anspruch, etwas zu haben, was jenseits allen Scheinens sei, jenseits allen gesellschaftlichen Rollenspiels, eine ideelle Einheit, als das Bleibende im Wandel der Erscheinungen: „I have that within which passeth show"28 und „I know not,seems'". 29 Um aber eine Erfahrung und ein Wissen respektive ein Bewußtsein von diesem Jenseits allen Scheinens zu haben, muß es sich manifestieren, d.h. in einem Medium brechen. Es muß be-zeichnet, re-flektiert, das aber heißt, in ,show' überführt werden. Das Besondere, Einmalige einer Person, das jenseits allen Scheines liegt, kann nicht an sich selbst evident werden, es entsteht vielmehr im Prozeß seiner Re-flektion. Hamlet weiß um die gesellschaftliche Existenz als Rollenspiel, aber er beansprucht jenseits der Rollen ein wahres Sein, Personalität, die das Scheinen ablehnt und doch darauf verwiesen bleibt.

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Zitate aus dem Wilhelm Meister werden im Text verifiziert, wobei folgende Ausgabe zugrunde gelegt ist: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 1.9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehijahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt 1992. Dem Adligen wird die .harmonische Ausbildung der eigenen Natur' zuerkannt (vgl. 659), gefragt sei bei ihm das Sein, nicht das Verfügen über spezifische Kenntnisse, Fertigkeiten oder Besitz, ihm sei eine Existenz eröffnet, der keine Grenzen auferlegt sind (vgl. 658). Vgl.: „Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. [...] er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon voraus gesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei, noch sein dürfe, weil er, um sich auf Eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß." (658f.) The Oxford Shakespeare. Hamlet. Hrsg. von G.R. Hibbard. Oxford 1987, S. 159 (1.2, Vs.85). Ebd. (1.2, Vs.76).

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Eben dies beschreibt Shakespeare als den Status des Melancholikers, z.B. in der Rede Jacques' aus As You Like It. Der Melancholiker betrachtet die Welt als Bühne, will sich von einer Position jenseits des Welt-Theaters diesem verweigern und sieht sich doch in das Spiel hineingezwungen. Als Archetypus des modernen neuzeitlichen Subjekts, nun verstanden als Personalität und Individualität, wird Hamlet zur naheliegenden Bezugsfigur, wenn ,Bildung zur Person' zur Lebensaufgabe erhoben wird. Goethes Bildungsroman spielt konsequent die bürgerliche Aneignung dieses Archetypus durch. Allererst bedeutet dies, das Konzept von Person-Sein in dem für die Aufklärung charakteristischen Dualismus von unbedingter Idee und physisch-sozialer Bedingtheit zu erkennen und nach der Möglichkeit eines Brückenschlags zwischen diesen Bestimmungen zu fragen. Mit der Orientierung an Hamlet als Archetypus kommt dabei das Theater auf zwei Ebenen ganz selbstverständlich ins Spiel, was sich Goethe in seinem Roman dann auch zunutze macht. Denn Hamlet ist, um den Anspruch des Person-Seins zu manifestieren, schon immer auf das Theater verwiesen, zugleich geschieht eine Aneignung dieses Archetypus, da er in einem Theaterstück entworfen ist, ganz selbstverständlich in der Wirklichkeit einer Theaterproduktion. Sowohl das Vorgestellte, Hamlet als Archetypus des Bildungsziels, als auch die Wirklichkeit der Vorstellung sind theatralisch. Das gibt der geleisteten Theatralisierung der Bildungsidee eine ungemeine Überzeugungskraft, die geeignet ist, ihre implizite Widersprüchlichkeit zu verdecken. Ihre Eigenart hat Wilhelms Hamlet-Produktion darin, daß durch Ausspielen der theatralischen Dopplung in vielen Bereichen eine Zusammenfuhrung entgegengesetzter Erfahrungen, Orientierungen und Prinzipien geleistet und so eine Überwindung des Dualismus von ideeller und empirischer Welt nahegelegt wird. Wilhelm erringt einen großen Erfolg als Hauptdarsteller in einem weithin angesehenen Nationaltheater, umworben vom Theaterdirektor, und ist selbst der spiritus rector der Produktion. So feiert er in der Wirklichkeit des Theaterspielens einen Triumph, erfüllt er seinen Traum vom Theater, der ihm mütterlich vermittelt ist und entsprechend für die symbiotischen Wünsche von Mutter und Sohn steht.30 Was Wilhelm dabei vorstellt, ist aber eine von einem Vater erzeugte Theatralität - wenn Wilhelm nach der Unterredung mit dem Geist seines Vaters ankündigt, von nun an ein wunderliches Wesen annehmen zu wollen - , in deren Ausübung der Sohn dieses Vaters zuletzt umkommen wird. In der vorgestellten Welt spielt Wilhelm eine Figur, die unter dem widersprüchlichen Gebot des Vaters, Rache zu vollziehen, ohne Schuld auf sich zu laden, zerbricht; in der Wirklichkeit des Spielens sichert demgegenüber eine Vaterinstanz, der unbekannte Darsteller des Geistes von Hamlets Vater, in dessen Stimme Wilhelm die seines eigenen, jüngst verstorbenen Vaters zu vernehmen glaubt, das Glücken der Auffuhrung. Denn das rätselhafte Erscheinen des Vater-Geistes regt Wilhelm zu einer besonders mitreißenden

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Gleich zu Beginn des Romans wird dies angezeigt, wenn z.B. Wilhelm seiner Mutter vorhält: „Schelten Sie das Puppenspiel nicht, lassen Sie sich ihre Liebe und Vorsorge nicht gereuen. [...] es haben uns diese Scherze manche vergnügte Stunde gemacht" (362 u. 364).

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Spielweise an, so daß mit diesem Auftritt der Erfolg der Auffuhrung gesichert ist: Nun ging das Stück unaufhaltsam seinen Gang fort, nichts mißglückte, alles genet; das Publikum bezeigte seine Zufriedenheit; die Lust und der Mut der Schauspieler schien mit jeder Szene zuzunehmen. (692)

Was in der gespielten Welt versagt ist, erfüllt sich dem Spieler durch Stellvertreter. In der Nacht nach der Aufführung findet Wilhelm in seinem Bett Philine vor, die im Stück die Rolle der Königin des Spiels im Spiel innehatte, die auf die reale Königin, Hamlets Mutter, verweist, deren Liebe Hamlet gerade versagt bleibt. Soweit er die Figur des Spiels bleibt, erfüllen sich Wilhelm in der Nacht mit Philine symbiotische Wünsche, die er in seiner Schauspielerwirklichkeit aber mit der Hinwendung zu einer anderen Frau gerade überwindet. Dieser Ablösungsvorgang aus der symbiotischen Welt wird weiter dadurch unterstrichen, daß Mignon gleichfalls vorgehabt hatte, sich in der Nacht nach der Aufführung Wilhelm hinzugeben, von der Anwesenheit der anderen Frau in Wilhelms Zimmer jedoch überrascht worden war. Mit der Hinwendung zu Mignon, dem Zwitterwesen, das die Unterwerfung unter das Prinzip der Unterscheidung systematisch verweigert, wäre Wilhelm im Raum der symbiotischen Wünsche, d.h. aber einer instabilen Ich-Bildung, verblieben. Konsequent beginnt mit Wilhelms Ablösung von dieser Welt Mignons Schwinden. Schon während der Arbeit an der Inszenierung hat Wilhelm gelernt, zu allen Aspekten des Theaterwesens eine doppelte Haltung einzunehmen. Wilhelm identifiziert sich zuerst mit Hamlet (wenn er betont, daß sein Wunsch, den Hamlet zu spielen, ihn „bei allem Studium des Stücks aufs Äußerste irre geführt" (674) habe, 31 um dann zu erkennen, physisch vom Hamlet-Typus vollkommen verschieden zu sein (vgl. 674). Von Serlo lernt Wilhelm, daß es nicht genüge, sich als Schauspieler an die Stelle der Figur zu versetzen, daß man dies vielmehr für das Publikum überzeugend leisten müsse, was bei Distanz zur Rolle oft besser gelinge, als bei zu großer Nähe. Wenn es aber nicht möglich ist, sich als Spieler einfach an die Stelle des Protagonisten zu setzen, bzw. mit der zu spielenden Figur eins zu werden, tritt auch der Bezug zum Text unter zwei entgegengesetzte Perspektiven. Einerseits fordert Wilhelm unbedingte Texttreue, andererseits erkennt er jedoch an, daß der Text für die spezifischen Voraussetzungen des jeweils gegebenen Publikums umgestaltet werden dürfe und müsse. Durch all dieses Miteinander des Verschiedenen in Wilhelms HamletAneignung bekräftigt der Roman das Theater als Element, in dem die einander widersprechenden Orientierungen des Bildungsgedankens zusammengeführt werden können. Das Theater gibt ein Zugleich der prinzipiell geschiedenen Welten der Idee, auf die der Autonomieanspruch des Person-Seins rekurriert, 31

In der Theatralischen Sendung ist noch von vollständiger Identifikation mit der Figur die Rede: „Auch die Last der tiefen Schwermut war er geneigt auf sich zu nehmen, und die Übung der Rolle verschlang sich dergestalt in sein einsames Leben, daß endlich er und Hamlet eine Person zu werden anfingen." (316)

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und der Empirie, in der die Bedingtheit der bürgerlichen Existenz anzuerkennen ist. Aber dieses Zugleich ist nur dadurch möglich, daß dem Entgegenstehenden ein ontologisch verschiedener Status (von vorgestellter Welt und Wirklichkeit der Vorstellung) zugewiesen ist. So wird hier nicht wirklich ein Brückenschlag oder gar eine Vermittlung geleistet, vielmehr ein Sowohl-als-auch. Solange der Held seinen Bildungsgedanken im Raum des Theaters entfaltet, kann er in jedem Augenblick an beiden Welten teilhaben und vom Leser des Romans in dieser Teilhabe wahrgenommen werden. Eine konstruktive Wirkung (z.B. in Richtung einer Überwindung des Dualismus im Bildungsgedanken) kann fur solches Zusammenbringen des Verschiedenen aber nur darin beschlossen liegen, daß gerade die Gegensätzlichkeit der beiden zusammengebrachten Welten herausgestellt wird. So ergibt sich ein Selbstwiderspruch: das Zusammenbringen ist ein Auseinanderlegen. Was aber kann so gewonnen werden? Im Element des Theaters kann der Held auf der einen ontologischen Ebene der einen Orientierung zugewandt bleiben, während er sich auf der anderen Ebene der entgegengesetzten Orientierung öffnet. Das verweist auf Vorgänge der Ablösung, der Katharsis, wie dies Goethe in seinem bisherigen Handhaben der theatralischen Dopplung auch vorgestellt hat. Goethes Bildungsroman, so hat sich ergeben, entfaltet die Bildungsidee indem er sie mit dem Theater verknüpft; denn dieses verspricht vermöge seiner konstitutiven Dopplung eine Überwindung des Dualismus im Bildungsgedanken, den Mendelssohn, die Absichten seiner Schrift selbst unterlaufend, nur fortschreibt. Der produktive Umgang mit dem Dualismus als dessen Theatralisierung besagt aber, daß das Theater dabei den Selbstwiderspruch in seinem Brückenschlag herausstellt: Zusammenbringen des Verschiedenen als Auseinanderlegen. Das eröffnet einen Ablösungsvorgang, der sich vom Subjekt der Bildung auf dessen Element, das Theater, verschiebt: die Bildung geschieht in der Weise, daß das Bildungselement Theater im Herausstellen seiner selbstwidersprüchlichen Handhabung sich selbst überflüssig macht, sich gewissermaßen von sich selbst heilt. Goethes Theatralisierung der Bildungsidee stellt mithin keinen geglückten Brückenschlag vor, in diesem Sinne keine Anschauung der Idee (wie die Idee der Autonomie der Person zu vereinbaren sei mit der determinierten bürgerlichen Existenz), vielmehr ein Symbol für die Reflexion, insofern die Regel der Reflexion für den einen Bereich (des Theaters, seiner konstitutiven Dopplung) auf einen anderen Bereich übertragen wird (den Dualismus der Bildungsidee), von dem der erstere nur ein Symbol ist (die Verknüpfung der Bildungsidee mit Theater in der Hamlet-Figuration). Als genau solch eine Übertragung bestimmt Kant im berühmten Paragraphen neunundfünfzig der Kritik der Urteilskraft die ,Vermittlungs'-Leistung des Schönen zwischen der Welt des Verstandes und der Vernunft. Der Dualismus im Bildungsgedanken, so kann man mit Kant sagen, wird durch dessen Theatralisierung ,bloß' symbolisch überwunden. Der Roman zeigt dies in dem Paradox an, daß sein Held gerade durch die theatralische Realisierung seiner Bildungsidee, man kann auch sagen: durch sein ,Bildungstheater', dazu gebracht wird, über das Theater hinauszugehen.

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1801, sechs Jahre nach dem Wilhelm Meister und siebzehn Jahre nach Moses Mendelssohns Entwurf der Bildungsidee im Spannungsfeld von Aufklärung und Kultur erschien Florentin. Ein Roman. Herausgegeben von Friedrich Schlegel, verfaßt von Brendel Veit, der ältesten Tochter Moses Mendelssohns, die zu diesem Zeitpunkt schon den Vornamen Dorothea angenommen hatte.32 Über die Aufnahme des Romans im Jenaer Freundeskreis notiert sich die Verfasserin u.a.: „Novalis hat zu Friedrich über den ,Florentin' gesagt, es wäre viel Bildung, aber kein Plan darin. - Sehr treffend." 33 Novalis' Urteil überrascht; denn das Werk vermittelt keineswegs den Eindruck eines Bildungsromans.34 In der erzählten Gegenwart wird am Helden kein Prozeß der Bildung erkennbar. Deutlich wird vielmehr ein Mißverhältnis zwischen der Charakterisierung des Helden durch den Erzähler oder andere Figuren und dem, was von ihm zu sehen ist. In seiner eigenen Lebenserzählung zeigt sich der Held zwar in einem reichhaltigen Wechsel von Lebensumständen, ohne dabei jedoch plastisch zu werden. Die Formierung zu einem ,Person-Sein' wird nirgends deutlich. Ehe man dies aber mangelnder Gestaltungskraft der Autorin anrechnet, ist zu bedenken, ob die Entwicklungslosigkeit und Undeutlichkeit des Helden nicht Effekte eines anderen Konzeptes sind. Die Bildungsthematik ist diesem Roman durchaus zentral, allerdings ist fur Bildung ein anderer Terminus und damit auch ein anderer Gehalt gewählt: ,Bestimmung'.35 Florentin ist der Roman einer Figur, die auf der Suche nach ihrer Bestimmung ist. Der Roman spielt dabei mit dem doppelten Sinn, den das Wort .Bestimmung' im Deutschen hat. Es verweist zum einen auf das eigene Wesen, das das Ich herauszufinden und zu verwirklichen hat. Verschiedene derartige .Bestimmungen' werden an den Helden herangetragen oder eröffnen sich ihm. Die erste ist das geistliche Leben. Sie wird explizit mit dem Terminus .Bestim-

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Bei Erscheinen von Mendelssohns Schrift in der Berlinischen Monatsschrift war Brendel Veit 20 Jahre alt, ein Jahr verheiratet. In ihrem Haus begründete sie eine Lesegesellschaft, weiter besuchte sie den Salon ihrer Freundin Henriette Herz. Es ist anzunehmen, daß man in diesem Salon die Diskussion um die Frage, was Aufklärung sei, die die Berlinische Monatsschrift initiiert hatte, aufmerksam rezipierte, allem voran den Beitrag Moses Mendelssohns, auf den dann der Beitrag Kants folgte. Dorothea von Schlegel, geb. Mendelssohn, und deren Söhne Johannes und Philipp Veit: Briefwechsel, hrsg. von J.M. Raich. 2 Bde. Mainz 1881, Bd. 1, S. 255. Liliane Weissberg liest den Roman als Bildungsroman (Weissberg, Liliane: „The master's theme, and some variations. Dorothe Schlegel's ,Florentin' as ,Bildungsroman'." In: Michigan Germanic Studies, Vol. ΧΠΙ, No. 2 (1987), S. 169-181), Martha Helfer als AntiBildungsroman (Helfer, Martha Β.: „Dorothea Veit-Schlegel's .Florentin'. Constructing a feminist romantic aesthetic." In: The German Quarterly 69 (1996), S. 144-160). Auf die Bedeutung des Themas .Bestimmung' in diesem Roman hat erstmals Inge Stephan verwiesen. Sie schränkt Bestimmung allerdings auf die Suche des Helden nach seiner Herkunft ein. (Stephan, Inge: „Weibliche und männliche Autorschaft. Zum .Florentin' von Dorothea Schlegel und zur .Lucinde' von Friedrich Schlegel." In: .Wen kümmert's, wer spricht'. Zur Literatur und Kulturgeschichte von Frauen aus Ost und West, hrsg. von Inge Stephan u.a. Köln, Wien 1991, S. 83-98.)

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mung' dem Jugendlichen eröffnet (vgl. 53)36 und, wie zu erwarten, von diesem heftig abgelehnt. Erneut reflektiert der Held über seine .Bestimmung' anläßlich seiner erfolgreichen Malerkarriere in Rom. Hier wird erstmals das Nachdenken über die .eigentliche Bestimmung' (vgl. 91) mit der Idee der Freiheit verknüpft. Florentin fühlt ein Ungenügen, daß er die „errungene Freiheit doch nicht in ihrem ganzen Umfange benutze" (91), da er mit seiner Malerei ein Talent einseitig ausgebildet habe. So ist Freiheit in der .Bestimmung' hier noch negativ gedacht, als Verweigerung, sich auf Eines festzulegen: „einen regelmäßigen Stand und ein Amt zu bekleiden, es war mir nicht bestimmt, auch fühlte ich selbst mich nicht dazu gestimmt" (82). Als seine wahre Bestimmung, nun verbunden mit den Termini ,Lebensplan' (vgl. 87) und .würdiger Endzweck' (vgl. 97) erkennt der Held, in Amerika fur die Freiheit zu kämpfen: „nun war ich bestimmt [!] entschlossen, und es bleibt unwiderruflich dabei, ich gehe zur republikanischen Armee nach Amerika. Es muß jenen Menschen gelingen, sich frei zu machen [...]. Meine Kraft und meine Tätigkeit sei ihnen geweiht. Bei diesem Gedanken erwachten Mut und Freudigkeit wieder in mir, für die amerikanische Freiheit fechten, dünkte mir ein würdiger Endzweck" (96f.). Gegenüber einem Doktor, der Florentin nochmals eine andere .Bestimmung' als mögliche „Laufbahn" (170) nahelegt - tätige Anteilnahme am caritativen Werk der Gräfin Clementine - , präzisiert Florentin die ideelle Bestimmung, für die Freiheit zu kämpfen, weiter. Man könne diese Bestimmung selbstverständlich überall ergreifen, also auch hier und jetzt, „wäre es mir nicht so notwendig, andere Menschen, einen andern Weltteil zu sehen, als den, der sich jetzt der kultivierte nennt. Das Schauspiel eines neuen, sich selbst schaffenden Staats ist mir interessant" (171). Die auf die Zukunft gerichtete .Bestimmung' ist ideell. Von den Möglichkeiten ihrer Konkretisierung, die an den Helden herangetragen werden - das Leben Gott zu weihen, der Kunst, praktischer Humanität oder dem Kampf für einen Staat der Freiheit - , ist dem Helden die letztere die höchste: von der Idee der Freiheit aus ein neues politisches Gebilde zu schaffen, d.h. die Ideen der Vernunft, deren oberste die der Freiheit ist, in die Wirklichkeit zu bringen. Das ist identisch mit dem Bestreben der Aufklärung. Dorothea Veit entwickelt offenbar ihren Bildungsroman, den sie als Roman der Suche des Helden nach seiner .Bestimmung' anlegt, auf eben den beiden Ebenen, in die ihr Vater die Bildungsidee zerlegt hat: der ideellen Ebene der Aufklärung, d.i. Verwirklichen der Idee der Freiheit und der empirisch praktischen, bürgerlichen der Kultur, die der ersteren unvermittelbar entgegenzustehen scheint. Denn der Held glaubt, wenn er dies auch als subjektive Disposition darlegt, den Kampf für die Idee der Freiheit nur in einem „andern Weltteil [als dem], der sich jetzt der kultivierte nennt" (171), führen zu können. Idee der Freiheit als der Perspektivpunkt von ,Aufklärung' und ,Kultur' erscheinen so in einem nicht zu vermittelnden

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Zitate aus dem Roman werden im Text verifiziert, wobei folgende Ausgabe zugrundegelegt ist: Schlegel, Dorothea: Florentin. Ein Roman. Hrsg. von Wolfgang Nehring. Stuttgart 1993.

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Dualismus, den Moses Mendelssohn, dem explizit geäußerten Vermittlungsoptimismus seiner Schrift entgegen, durch den Gang seiner Argumentation angezeigt hat. Auch die empirisch praktische, bürgerliche Lebenswelt der ,Kultur', als das Gegenstück zur ideellen Bestimmung, reflektiert der Roman im Terminus .Bestimmung', wobei nun nicht der zukünftige, vielmehr der Vergangenheitsgehalt des Wortes zur Debatte steht. Es ist die Welt, die Ordnung, die Situation, durch die man .bestimmt' worden ist, d.h. vor allem anderen die Herkunft, in biologischer wie sozialer Hinsicht. Eben dies ist die zweite Ebene der Bestimmungssuche des Helden. Aber dieses Bestimmtsein ist ihm entzogen, er kennt seine Herkunft nicht und so auch nicht seinen ihm zukommenden Ort in der Welt. Entsprechend definiert er sich als Fremder („Ich bin ein Fremder" [17]), als „Waise und [...] Fremdling auf Erden" (17), als einen, der „nirgends hinpasse" (96). Im schon erwähnten Gespräch mit dem Doktor präzisiert Florentin auf der einen Seite seine ideelle ,Bestimmung', auf der anderen Seite hält der Erzähler aber als Fazit dieser Unterredung für seinen Helden fest, daß „jene Ahnung [...] auch noch nicht aus seinem Herzen geflohen [war]: er müsse in der Welt einen Aufschluß über seine Bestimmung und seine Geburt aufsuchen" (179). Das „und" zwischen ,Bestimmung' und ,Geburt' kann reihend aufgefaßt werden, d.h. als Suche nach der ideellen Bestimmung wie nach der Geburt als dem physisch-sozialen Bestimmt-Sein, ebenso aber auch konditional derart, daß Aufschluß über die eigene Bestimmung zu finden, bedinge, Aufschluß über die Herkunft zu gewinnen. Der Held kennt seinen Vater (und ebenso seine Mutter) nicht. Als Ersatz sucht er die Integration in die bürgerliche Welt der Bedingtheit in dem Akt, Vater zu werden: „so denke ich das Land mein Vaterland zu benennen, wo ich zuerst mich werde Vater nennen hören" (17). Dieses Ziel scheint mit der Schwangerschaft von Florentins römischer Gefahrtin nahe: Es geschah eine plötzliche Revolution in mir. [...] Jetzt wußte ich, was ich wollte; ich dachte nicht mehr an ein entferntes Glück, ich hatte meine Bestimmung gefunden. (92)

Aber diese Strategie, die .Bestimmung' auf der Ebene der bürgerlichen bedingten Existenz, statt sie herauszufinden, selbst zu produzieren, wird dem Helden verwehrt. Der Roman deutet an, daß dies nicht einfach dem Egoismus der Mutter anzurechnen sei, die das werdende Kind abtreibt, vielmehr einer mangelnden .Reife' des Helden selbst, seine Bestimmung auf dieser Ebene zu begründen. Denn in einer auffälligen Weise betreibt der Held seine gesamte Bestimmungssuche - tatsächliches Ergreifen der erklärten ideellen Bestimmung wie ernstliches Herausfinden des physisch-sozialen Bestimmt-Seins - recht zögerlich, endgültigen Schritten ausweichend. Am Status einer vorläufigen Existenz scheint er, so sehr er sie beklagt, doch auch sehr zu hängen. Dabei spielt er die beiden Ebenen der Bestimmungssuche immer neu gegeneinander aus: die Orientierung an der einen Bestimmung wird zum Argument oder Vorwand, das Herausbringen oder Ergreifen der anderen Bestimmung aufzuschieben. Seine ideelle Bestimmung zum Freiheitskämpfer in Amerika ist dem Helden die

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Rechtfertigung, sich nirgends in der Alten Welt festzusetzen, ein Bestimmter zu werden. Wo er letzterem am nächsten kommt, in der Periode seiner Malerexistenz in Rom, reflektiert er dies auch als Verrat an seiner ideellen Bestimmung (vgl. 91). Analog betreibt er auch die Aufklärung seiner Herkunft, d.h. seines biologischen (physischen) und sozialen Bestimmt-Seins nicht dringlich. Die Suche nach Informationen über seine wahren Eltern überläßt er anderen (dem Marchese). Auf dem gräflichen Schloß erkennt man eine Ähnlichkeit Florentins mit einer Figur eines Bildes, aber niemand verfolgt diese Spur. Julianes Erzählung vom Wahn der gottesfurchtigen Marquise, die ihr erstes Kind der Kirche weiht, erinnert Florentin an seine eigene Geschichte („mir war, als wären mir sowohl die Begebenheiten als die Menschen darin nicht fremd"), aber er forscht nicht weiter. Die Gräfin Clementine wird beim Anblick Florentins ohnmächtig (vgl. 184), wie dieser sich von einem Bild der Hl. Anna, das auf ein Bild Clementines als Hl. Cäcilie verweist, besonders angezogen fühlt (vgl. 33), weiter weckt „Clementina und alles was sie umgibt" im Helden eine „ferne Erinnerung" (185), die einstige unglückliche Liebesgeschichte der Gräfin Clementina ist stadtbekannt - trotz all diesen Signalen sucht der Held auch hier, wo er offenbar der Auflösung des Rätsels seiner Herkunft sehr nahe ist, keinen Aufschluß. Der Held will seine Herkunft nicht wissen; auch der Roman will es nicht. Er legt Spuren und verwischt sie wieder. Florentin ist in irgendeiner Weise mit der gräflichen Familie verwandt, aber das genaue Verwandtschaftsverhältnis will er nicht herausbringen. Er will offenbar kein Bestimmter sein. Was aber gewinnt er dadurch? Florentin, sich selbst charakterisierend als „der Arme, Einsame, Ausgestoßene, das Kind des Zufalls" (187), von der Erfahrung geprägt, daß er „nirgends hinpasse" (96), ist als Unbestimmter zugleich der Weltbürger, der überall hinpaßt, sich einzupassen versteht: in verschiedene Länder und Sprachen (Italien, Frankreich, England, Deutschland). So finden die deutschen Künstler „durchaus etwas Deutsches" an ihm, Lords in seinem Bekanntenkreis behaupten zu gleicher Zeit, er „habe viel von einem Engländer" (86) an sich. Ebenso weiß er sich in die verschiedensten Gesellschaften einzupassen: in das Militär, in das mondäne Venedig, in die römische Künstlerkolonie, in englische Adelsfamilien, in das Leben auf dem gräflichen Schloß. Berichtet wird von ihm, daß man ihm nicht widerstehen könne, obwohl er selbst „nicht festzuhalten" (39) sei. Der Held will sich nicht fixieren lassen; dies ist aber offenbar auch Strategie des Erzählens. Allenthalben beruft der Roman Stellvertretungen:37 die Mutter Florentins entpuppt sich nicht als reale Mutter, die Schwester ist nicht die Schwester. Florentin rettet einen anderen Vater, den Grafen; aber auch in dessen Familie herrschen die Stellvertretungen. Die Mutter Julianes ist vierzehn Jahre abwesend (mit ihrem Mann in Kriegen), ihr Kind wächst bei einer Tante auf, diese zweite Mutter ist jetzt ständig abwesend. Die Marquise in Julianes Erzählung hat Umgang mit einem Geisterkind, das auf ein sehnlich erwünschtes reales verweist; das Kind, das sie dann zur Welt bringt, steht in einem ungeklärten 37

Daraufhat Helfer [Anm. 34] aufmerksam gemacht.

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Bezug zu Florentin. Florentin verliebt sich in ein Bild der Hl. Anna, dies Frauenportrait ist die Kopie des Frauenportraits eines Cäcilienbildes. Das wiederum ist ein ins Heilige transformiertes Bild der Gräfin Clementine, aber aus deren Jugendzeit. Florentin will sein bürgerliches, physisch-soziales Bestimmt-Sein nicht ernstlich herausbringen, ebenso betreibt er das Ergreifen der immer wieder beteuerten ideellen Bestimmung zum Freiheitskämpfer in Amerika recht zögerlich. Gerne läßt er sich ablenken. Nachdem er in England erkannt hat, daß die amerikanische Freiheit seine Bestimmung ist, schifft er sich keineswegs nach Amerika ein, sondern nach Frankreich. Dort ergreift er die Einladung eines Reisebekannten, die Schweiz kennenzulernen, das wiederum gibt ihm die Rechtfertigung Deutsch zu lernen, die deutschen Dichter zu lesen und selbstverständlich nun Deutschland zu bereisen. Die Einladung auf das gräfliche Schloß wird zu einem längeren Aufenthalt, reißt er sich von dort los, fuhrt ihn sein Weg nicht zu einem Hafen, vielmehr zur gräflichen Verwandten. Anläßlich des Übergangs vom venezianischen zum römischen Lebensabschnitt wird die hier wirkende Struktur verdeutlicht. Florentin hält sich seine ,Bestimmung', für die Freiheit zu kämpfen, vor Augen. Das findet er bei den Helden des Altertums vorgebildet, denen er somit nacheifern will. Das bringt ihn aber keineswegs auf die Bahn des Kriegers, vielmehr auf die eines Studenten der Antike: Bei dem Gedanken an die Helden des Altertums ward mir zugleich der an mein Vorhaben wieder rege, die Kunst der Alten in Rom zu studieren. Jetzt fühlte ich ganz bestimmt [!] den Trieb dazu aufs neue in mir erwachen, und ich beschloß meine ganze Zeit und mein Leben in Rom dazu anzuwenden. (87)

Um die ideelle Bestimmung ergreifen zu können, müssen offenbar deren Wurzeln, deren Festlegung in der Vergangenheit ,ganz bestimmt' erforscht werden. Entsprechend verknüpft sich die Rede über die Suche nach der Bestimmung mit der über die Suche nach Aufschluß über die Geburt (vgl. 179). Dieser kann aber nur in der Alten Welt gefunden werden und so muß das Ergreifen der ideellen Bestimmung immer wieder hinausgeschoben werden. Der Held will sich offenbar auch seine ideelle Bestimmung nicht wirklich aneignen. Was gewinnt er mit diesem Ausweichen? Er entzieht sich nicht nur seiner Herkunft, sondern auch seiner Zukunft. Damit kann er der Reisende bleiben, als der er eingeführt wird (vgl. 11), bewahrt seine Daseinsweise den Charakter des Vorläufigen. Im Entwurf solch eines Nicht-Ergreifens der ,Bestimmung', eines NichtHerausbringen-Wollens des physisch-sozialen Bestimmt-Seins wie der NichtAneignung der ideellen Bestimmung, statt dessen des Verharrens in einer virtuellen Existenz bezogen auf beide Orientierungen, kann eine skeptische Reflexion von Emanzipationsbestrebungen erkannt werden: einer Frau um 1800, einer Jüdin (in einer zwar aufklärerisch-emanzipatorisch gesinnten, praktisch aber doch restriktiven nicht-jüdischen Umgebung) sowie einer weiblichen Autorin in einem Umfeld männlicher Autoren. Florentin ist in gewisser Weise mit der gräflichen Familie, d.h. mit den Repräsentanten der herrschenden, also der Mehrheitsgesellschaft verwandt. Er weicht aber aus, diese Relation genau zu

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bestimmen. Das Hochzeitsfest deutet den Grund an. Solange die Festgesellschaft zwanglos in der Natur lagert, in der Sicht Florentins als Verlebendigung eines Kunstwerks, einer Szene des Genremalers Tenier, bewegt sich Florentin fraglos in ihr. Für den anschließenden öffentlichen Akt der Trauung ist aber Gala-Kleidung vorgeschrieben (vgl. 148), d.h. ,Staatskleidung' (vgl. 156), die die Stellung eines jeden in der Gesellschaft qua Kleiderordnung anzeigt. Und natürlich hat Florentin nichts dieser Art. Die offizielle Kleiderordnung brächte sein Nicht-Dazugehören heraus, so flieht er dieser Enthüllung. Eine analoge Erklärung legt sich für das Nicht-Ergreifen der ideellen Bestimmung nahe, der sich immer wieder die Frage nach der Herkunft des Helden dazwischen schiebt. Könnte die Idee der Freiheit für diese Figur, wenn sie als eine (durch ihre Herkunft) bestimmte herausgebracht wäre, eventuell gar nicht zu ergreifen sein? Das wäre der Fall, den schon Moses Mendelssohn in seiner Bildungsschrift als .Unglück' zur Sprache gebracht hat: daß sich die Aufklärung gar nicht über alle Stände ausbreiten könne. 38 Weiter läßt sich das Nicht-Ergreifen der .Bestimmung' auch als Reflexionsform eines Zirkels der Selbstbegründung lesen, der um 1800 fur eine Frau, eine Jüdin, eine weibliche Autorin unausweichlich zu sein scheint. Der Held hat keine bürgerliche empirische Bestimmung (will sie nicht herausbringen); so würde das Ergreifen der reklamierten ideellen Bestimmung ihn als den bürgerlich Bestimmten erst hervorbringen, der dann die ideelle Bestimmung erst aneignen kann. Damit würde die Wirkung die Ursache produzieren, die Folge das Vorausgesetzte. Ebenso umgekehrt: der Held ergreift seine ideelle Bestimmung nicht (will sie nicht ergreifen), so würde das Herausbringen seiner bürgerlichen Bestimmung (seines bürgerlichen Bestimmt-Seins) ihn erst auf eine ideelle Bestimmung hin spannen (z.B. Kämpfer zu werden für die Verwirklichung der Freiheit), von der aus er das Herausbringen seines bürgerlichen Bestimmt-Seins eventuell erst wagen kann. Wieder würde die Wirkung die Ursache produzieren. Ein Verfahren, solche Zirkel zu überwinden, ist die creatio ex nihilo, d.h. mit dem ,Werk' die Bedingung des Werkes, das, was es ermöglicht, seine .Sprache' zugleich hervorzubringen. Kunsttheoretisch definiert zeitgenössisch Kant so das Genie. 39 In diesem Horizont erscheint das Verharren im Zirkel, das der Roman vorstellt, als ein mangelndes Vertrauen in ein eigenes geniales Schöpfertum. So überrascht es nicht, daß der Held des Romans sich das Talent zu der Kunst, die er ausübt, abspricht (vgl. 91), wozu sich die gewiß ärgerliche Selbstbescheidung der Autorin gesellt, nur ein literarischer Handwerker zu sein, der das Brot schafft für das Genie Friedrich. 40 Die ideelle (moralische) und die bürgerliche (physisch-soziale) Bestimmung stehen in Dorothea Veits Bildungsroman als Roman der Bestimmungssuche einander entgegen, behindern einander, die Orientierung an der einen Bestim38 39 40

Mendelssohn, [Anm. 1], S. 6. Vgl. KdU §§46-50. Vgl.: „Was ich thun kann, liegt in diesen Gränzen: ihm Ruhe schaffen und selbst in Demuth als Handwerkerin Brod schaffen, bis er es kann". (Briefe von Dorothea Schlegel an Friedrich Schleiermacher. Berlin 1913, S. 38)

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mung fuhrt dazu, das Herausbringen der anderen aufzuschieben. Der Gedanke taucht nirgends auf, daß das Ergreifen der einen der Weg sein könnte, auch die andere zu realisieren. Geschaffen und aufrecht erhalten wird damit ein Zustand der Potentialität im Hinblick auf beide, auf die ideelle unbedingte wie die physisch-sozial bedingte .Bestimmung'. Ihr Dualismus erscheint nicht auflösbar, analog dem Dualismus der beiden Verwirklichungsfelder der Bildung, den Moses Mendelssohn entworfen hatte. Die erste literarische Antwort auf Moses Mendelssohn hatte diese Bildungsidee mit dem Theater verknüpft als ein Feld, auf dem eine Auflösung dieses Dualismus, sei sie auch nur symbolisch, vorstellbar wird. Der Tochter Mendelssohns war Wilhelm Meister nach eigenem Zeugnis eine Bibel, allerdings solcher Art, die sie mit ihrem eigenen Wesen als unvereinbar empfand: Für mich ist ,der Meister' ein Buch, das ich verehre, studire [sie], immer wieder und wieder lese, das mir nicht vom Tisch und nicht aus dem Gedächtnis kömmt, das aber meiner innersten Natur so grade entgegen ist, daß ich wohl sagen muss [sie]: Ich verstehe es nicht. 41

Dorothea Veit übernimmt in ihrem Roman durchaus den Ansatz des Wilhelm Meister, die Bildungsidee mit dem Theater zu verknüpfen, das theatralische Element ist hier jedoch grundlegend anders situiert. Das Theater kommt nicht erst in den Blick, wenn die Verknüpfung der beiden Felder des Bildungsgedankens zur Debatte steht, jedes der beiden Felder der Bestimmungssuche des Helden ist vielmehr schon in sich theatralisch, wird dies durch eben die Art, in der der Held die Bestimmungssuche betreibt, wenn er, wie dargelegt, die eine Orientierung gegen die andere ausspielt. Florentin verharrt im Vorläufigen. Auf dem Feld, auf dem das Herausfinden seiner bürgerlichen Bestimmung zur Debatte steht, paßt er sich als Weltbürger in die jeweils gegebene Situation ideal ein. So agiert er als idealer Schauspieler, der jede gesellschaftliche Rolle übernehmen kann, aber auf keine festzulegen ist (vgl. 39). Wenn Florentin eine Geschichte hört, die die Geschichte seiner Familie sein könnte - Julianes Geschichte vom Geisterkind der Marquise - , verknüpft er nicht ihm bekannte Personen, einschließlich sich selbst, mit den erzählten, denkt sich vielmehr die realen Personen als Schauspieler, die die Personen der erzählten Geschichte darstellen: Mir war, als wären mir sowohl die Begebenheiten, als die Menschen darin nicht fremd; unwillkürlich schob sich mir bei jedem eine bekannte Person unter; so wie man, wenn man ein Schauspiel liest, sich die Schauspieler denken muß, von denen man es einst hat spielen sehen. (126f.)

Analog Schauspielerhaftes wird über das Sprachverhalten des Helden herausgestellt: Einmal scheint es, als verbände er mit den Worten noch einen andern Sinn, den sie haben sollen; [...] dann freut ihn ganz wider Vermuten einmal ein absichtsloses Wort, das von un-

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Dorothea von Schlegel [Anm. 33], Bd. 1, S. 96.

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gefahr gesprochen wird; da weiß er immer einen ganz eignen Sinn, ich weiß nicht, ob hineinzulegen, oder herauszubringen. (39)

Wie der Schauspieler eine Rolle ergreift, ihr seinen Körper leiht, tritt Florentin im Spiel der Bedeutungskonstitution von Sätzen in ein Wort ein, füllt es mit .seiner' Bedeutung. Wenn etwa die gräfliche Familie den vollen Namen und damit natürlich den Stand Florentins erfahren möchte, antwortet dieser: Wenn es durchaus mit meinem Namen allein nicht genug ist, [...] so setzen Sie B a r o n hinzu, das bezeichnet wenigstens ursprünglich, was ich zu sein wünschte, nämlich ein Mann. (41)

Florentin macht neben (oder alternativ zu dieser?) der sozialen Bedeutung des Wortes (,Baron' bedeutet,Freiherr'; er hat nach der Reichsordnung Reichsfreiheit) die etymologische geltend, d.i.die Herkunft vom mittellateinischen ,baro', dem ,streitbaren Mann'. So schafft er eine Offenheit, ein Adliger zu sein oder einen solchen nur zu spielen. Der Gesellschaft genügt dies („der Vater ließ es sich wirklich so gefallen" 41). Die römische Gefährtin wird Florentin nicht zu einer bestimmten Person (er gibt ihr in seiner Erzählung auch keinen Namen), zu der er dann auch eine bestimmte Beziehung herzustellen hätte, sie dient ihm vielmehr als Modell für die verschiedensten Figuren, die er in seinen Bildern vorstellt, mithin ist sie die Schauspielerin, die den Personen seiner Bilder ihren Körper leiht: „Ich malte sie unter jeder Gestalt, und in allen ersinnlichen Stellungen, als Göttin, als Heilige, als Priesterin, als Nymphe" (90). In Florentins Wirklichkeit hat sie als eigene Person keinen Platz und so verweigert sie ihm auch den, den ihm ein Kind vermitteln könnte. Als theatralisch behandelt der Held aber nicht nur das empirische bürgerliche, sondern ebenso das ideelle Feld der Bestimmungssuche. Wenn er sich als Freiheitskämpfer bestimmt, spricht er nicht vom realen Kampf um die Begründung eines Staates der Freiheit, vielmehr von einem Schauspiel: „Das Schauspiel eines neuen, sich selbst schaffenden Staates ist mir interessant" (171). Durch sein beharrliches Hinausschieben der Reise nach Amerika zeigt der Held an, daß die ideelle Bestimmung theatralisch bleiben soll. Beide Ebenen der Bestimmungssuche sind in diesem Bildungsroman schon in sich als theatralisch behandelt, das Theater tritt nicht erst als Element einer möglichen Verknüpfung beider in den Blick. Der Roman reflektiert diese Theatralität in den Termini ,Scherz' und ,Ernst', die Friedrich Schlegel in dem einleitenden Gedicht dem Roman als Leitworte auf den Weg gegeben hat. Florentin wird vorgeworfen, „er wäre zu wenig ernst, und nähme oft die Dinge zu scherzhaft". Dem wird entgegengehalten, „der Ernst in ihm wäre vielmehr zu ernst und zu tief, als daß er ihn in der Gesellschaft anwenden könnte" (40). So ist die theatralische Behandlung beider Felder der Bestimmungssuche angezeigt als Maske einer Bestimmung, die der Gesellschaft nicht zuzumuten ist. Die hier vorgestellte vorläufige Existenz, die es ermöglicht, eine ideelle Bestimmung (der Idee der Freiheit zur Wirklichkeit zu verhelfen) als Rolle zu ergreifen, aus dieser Rolle aber auch wieder herauszutreten, ehe sich die Gesellschaft gestört fühlt, und die es gleichzeitig ermöglicht, in wechselnde Bilder von Personen,

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der Idee der Bildung

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sozialen Gruppen und Ständen einzutreten, ihnen seinen Körper zu leihen, dann aber aus diesen Verkörperungen als bloßen Rollen auch wieder herauszutreten, ehe sie der Gesellschaft zu aufdringlich werden, hat ihr zeitgenössisches soziales Pendant in der Einrichtung des Salons, in dem Bürgerliche und Adlige, Christen und Juden, Männer und Frauen auf der Basis gemeinsamer ,Bildung' miteinander Umgang pflegen. Dorothea Veits Theatralisierung der Bildungsidee weist dieser die Wirklichkeit des Salons zu, man kann auch sagen: schränkt sie hierauf ein. Als Konsequenz aber einer Bestimmungssuche, deren beide Felder schon in sich theatralisch behandelt sind, zeigt der Roman den Selbstverlust an. Der Roman setzt damit ein, daß sein Held sich verirrt hat; der Held bleibt dann ständig im Blick des Erzählers, ohne jedoch Kontur zu gewinnen, was mithin nicht einer Gestaltungsschwäche zuzurechnen ist, sich vielmehr konsequent aus der Grundkonzeption des Romans ergibt. Der Roman endet dann damit, daß der Held „nirgends zu finden" (191) ist. Im unmittelbar vorangegangenen Duell will der Gegner den Helden durch eine Gesichtsverletzung für immer zeichnen. Das weiß Florentin zu verhindern. Aber wie er jeder Zeichnung, d.h. Feststellung als ein Bestimmter, sei dies physisch, sozial oder ideell, auszuweichen versteht, erreicht er einen immer höheren Grad an Undeutlichkeit, bis er eben nicht mehr ,zu finden' ist. Etwa einhundert Jahre später geht Theodor Lessing in seinen Überlegungen, wie der große Anteil von Juden am zeitgenössischen Theatergeschehen in Deutschland zu erklären sei,42 wieder von einem Dualismus von empirischem und ideellem Dasein aus und konstatiert, analog dem Roman Dorothea Veits, nun dezidiert fur die jüdische Selbsterfahrung, daß beide Bereiche schon in sich theatralisch seien. Die empirische Existenz im Umfeld der nicht-jüdischen Mehrheitskultur zwinge zur Maske, die ideelle Existenz wiederum habe, auf der Erfahrungsgrundlage eines jahrtausendelangen Exils, eine geistige Verwandlung ins Gegenteil als ein ,Schlüpfen in eine andere Haut' durchgemacht (das Judentum, in seinem Wesen konservativ, zeige sich jetzt der Revolution verschrieben, die Ersinner des Dogmas träten jetzt als Skeptiker auf).43 Was Dorothea Veits Roman in Figurenkonzeption und Handlung als Konsequenz der Theatralisierung aller Felder der Bestimmungssuche ihres Helden darstellt, das benennt Theodor Lessing ausdrücklich: permanente Selbstverfehlung, Selbstverlust. Als die andere Seite des Selbstverlusts im Horizont einer universal gewordenen jüdischen Theatralität aber entwirft Lessing später, zu Beginn der dreißiger Jahre, d.h. auf der Erfahrungsgrundlage eines mächtig angewachsenen Antisemitismus, den jüdischen Selbsthaß.44 Dorothea Veit hat mit ihrer Theatralisierung der Bildungsidee in ihrem Bildungsroman - als eine schon deutlich skeptische Antwort auf den Bildungsoptimismus ihres Vaters wie des Urbildes

42 43 44

Lessing, Theater=Seele [Anm. 10], S. 36. Vgl. ebd., S. 38f. Vgl. Lessing, Theodor: Der jüdische Selbsthaß. Berlin 1930. Neuausgabe München 1984, insbesondere S. 5 Of.

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Bernhard Greiner

des deutschen Bildungsromans - den Ausgangspunkt dieses Weges in Selbstverlust und Selbsthaß entworfen. Es mag offen bleiben, ob ihr eigener Lebensweg der Konversionen diese Erfahrungen schon gekannt hat.

Theo Buck

Die Dramaturgie der Fawsi-Dichtung

Nicht wenige Goethe-Philologen neigen zu der Annahme, der Weimarer Dichter sei alles andere als ein genuiner Dramatiker gewesen.1 Einmal abgesehen von seiner Sturm und Drang-Zeit habe er, so wird von dieser Seite argumentiert, die Gattung des Schauspiels eher stiefmütterlich behandelt. Längere Produktionsunterbrechungen zeigten das ebenso wie die geraume Zeit stillschweigend vorgenommene Rubrizierung des zweiten Faustteils als bloßes ,Lesedrama'. Manche stehen sogar nicht an zu behaupten, der Dichter habe sich bewußt in der zweiten Hälfte seines Lebens vom Drama weithin abgekehrt. Beispielsweise erklärte der gerne provozierende Heiner Müller kurzerhand kategorisch: „Goethe war kein Dramatiker."2 Derart extremen Folgerungen steht freilich der kontinuierliche Fluß dramatischer Arbeiten des Autors über mehr als sechs Jahrzehnte hindurch als Faktum entgegen. Naturgemäß gibt es in seinem ebenso weitläufigen wie vielfaltigen Dramenschaffen mehr oder minder deutlich akzentuierte Phasen. Ähnliche Produktivitätsschwankungen lassen sich aber genauso für das narrative, teilweise sogar für das lyrische Werk nachweisen. A u f s Ganze gesehen ändert das nichts an der unwiderlegbaren Gegebenheit eines fortdauernden Umgangs mit dem Medium des Dramas von der Leipziger Zeit bis zur demonstrativen Versiegelung des Manuskripts von Faust II kurze Zeit vor dem Tode. Mit guten Gründen steht deshalb der Regisseur Peter Stein nicht Texte Goethes werden nach den folgenden Ausgaben zitiert: Goethe, J.W.v.: Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 143 Bde. Weimar 1887-1919. Nachdruck: München 1987. (Im folgenden abgekürzt: WA); Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Heinz Schlaffer. München 1986 (MA 19). (Im folgenden abgekürzt: Eckermann). Briefe werden nach WA zitiert, jedoch ausschließlich mit Adressat und Datum belegt, damit die Benutzer anderer Ausgaben den jeweiligen Textzusammenhang unschwer nachlesen können. 1

2

So etwa Borchmeyer, der grundsätzlich die zwiespältige Einschätzung vertritt: „Man muß wohl eingestehen, daß Goethe zwar unendlich viel dramatisches, aber nicht ebensoviel theatralisches Talent besitzt." Deshalb nimmt er auch weiter an, Goethes Faust sei „in seiner Ganzheit [...] nicht als Bühnenstück gedacht, sondern Theater über das Theater", also so etwas wie ein „Traum vom Theater" (Borchmeyer, Dieter: „Goethes Totaltheater." In: Die deutsche Bühne. Das Theatermagazin. 70. Jg., (1999), Heft 8, S. 22-25, Zitate: S.22 und 25. Zit. n.: Müller, Heiner: „Es kommen viele Leichen zum Vorschein. Ein Gespräch zwischen Ulrich Mühe, Heiner Müller und Hilmar Thate mit Michael Merschmeier." In.: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer3. Texte und Gespräche. Frankfurt/M. 1994, S . 4 5 - 6 9 . Zitat: S.61.

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an zu sagen, Goethe sei „der einzige Theatermann unter den deutschen Klassikern."3 Daß gerade hinsichtlich der dramatischen und theatralischen Arbeit von einer Situation des kontinuierlichen work in progress auszugehen ist, zeigt neben den zahlreichen Entwürfen und Fragmenten - besonders die langwierige Arbeit an den beiden Fassungen von Götz und Stella oder auch an Egmont und Tasso, mehr noch der Gestaltungsprozeß von der ,Prosa-Iphigenie' zum Versdrama. Selbst an eher beiläufigen Singspieltexten wie Erwin und Elmire oder Claudine von Villa Bella pflegte Goethe zeitraubende Veränderungen vorzunehmen. Einen einmaligen Sonderfall stellt indes der sechs Jahrzehnte anhaltende Umgang mit dem Fauststoff dar. Der Autor sah darin für die Zeit zwischen 1825 und der Fertigstellung sogar sein „Hauptgeschäft" (WAIII. 11, S.58). Ohne Zweifel kann darum die Arbeit am Faust-Komplex geradezu als ein Konzentrat seiner Entwicklungen in dramaturgischer Hinsicht genommen werden. Die offenkundig lebenslange Bemühung um die Gattung ,Drama' zeitigte eine erstaunliche Fülle dramatischer und dramaturgischer Gestaltungen. Schäferspiel {Die Laune des Verliebten) und Lustspiel (Die Mitschuldigen) bildeten, noch anakreontisch-rokokohaft befangen, den Auftakt. Es folgte die äußerst produktive und unmittelbar folgenreiche Sturm und Drang-Periode mit zahlreichen Experimenten: Schwänken, Satiren, szenischen Farcen, Dramoletten und Singspielen, in erster Linie aber mit dem durchschlagenden theatralischen Erfolg des Götz von Berlichingen und dem nach Weimar mitgebrachten Urfaust. In unregelmäßigen Abständen, jedoch in steter Abfolge, schriet Goethe auch danach noch ein gutes Dutzend weiterer Dramen, darunter die für die Dramengeschichte bedeutsamen Stücke Clavigo, Stella, Egmont, sodann Iphigenie auf Tauris, Torquato Tasso sowie Faust. Ein Fragment (1790). Bezeichnenderweise erfolgte auch Goethes künstlerische Reaktion auf das große historische Ereignis des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die Französische Revolution, nicht zuletzt in Form mehrerer Stücke kritischer Distanznahme. Dieser beachtliche Dramenschub fand dann seinen Höhepunkt mit der Veröffentlichung des ersten FaustTeils: Faust. Eine Tragödie {1808). Nicht vergessen darf man indes eine Reihe keineswegs nebensächlicher Bearbeitungen und Übersetzungen fur die Bühne, ganz zu schweigen von einer Vielzahl dramatischer Gelegenheitsdichtungen wie Maskenzüge, Prologe, Epiloge, Festspiele und dergleichen. Die späte Krönung der Arbeit als Dramatiker bildete dann unleugbar die Fertigstellung der Faustdichtung (Faust. Der Tragödie zweiter Teil). Die bloße Aufzählung der wesentlichen Titel genügt bereits, um das ziemlich beispiellose Ausmaß des dramaturgischen Experimentierens im Werk Goethes anzudeuten. Bis auf den heutigen Tag sind viele sich noch nicht darüber im klaren, daß die von ihm herbeigeführten Wandlungen innerhalb der Gattung Drama nicht nur bahnbrechend, sondern ästhetisch revolutionierend gewirkt haben. - Nur kurz währte die unumgänglich notwendige Phase konven-

Stein, Peter: „Goethe - ,Faust'. Gespräch mit Knut Lennartz." In: Die deutsche Bühne [Anm.l], S.28.

Die Dramaturgie der „Faust "-Dichtung

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tioneller Orientierung des jungen Goethe in den Anfangen. Dann wurde er, von Herder ermutigt, zum Gefolgsmann Shakespeares und damit zum Wegbereiter der Stürmer und Dränger. Er war es, der im deutschen Sprachraum die Bresche schlug für das Drama der offenen Form. Der sinnlich-expansiven Seite seines Wesens kam diese diastolische Ausweitung auf die ganze Fülle des Lebens in jeder Weise entgegen. Relativ bald jedoch mußte ihm derart shakespearisierende Unmittelbarkeit für das zunehmend anders geartete eigene poetische Programm als unzuträglich erscheinen. Gegenüber Eckermann betonte er, rückblickend, im Gespräch vom 25. Dezember 1825: „Er [Shakespeare] ist gar zu reich und zu gewaltig. [...] Ich that wohl, daß ich durch meinen Götz von Berlichingen und Egmont ihn mir vom Halse schaffte." Interessanterweise schrieb Goethe während des römischen Aufenthalts gleichzeitig am Egmont, an Iphigenie und Tasso sowie an der Weiterfuhrung des Faws/-Fragments (ausgerechnet an der ,nordischen' Hexenküchenszene). Mithin liefen also divergierende Entwicklungslinien noch für eine kurze Zeitspanne nebeneinander. Danach aber ließ der Dichter die Unmittelbarkeit der Darstellung mehr und mehr hinter sich. In der Folge interessierte ihn vornehmlich die „Sinnhaftigkeit des verinnerlichten Erlebens" 4 und damit das Typische und Symbolische. Goethe ging sogar so weit, zu sagen: „Es ist nichts theatralisch, was nicht für die Augen symbolisch wäre" (WA 1.42.2, S.251). Allerdings erfolgte auch hierbei kein plötzlicher Umschlag. Es war viel mehr eine über Jahrzehnte reichende Entwicklung in organischen Schüben, die im Werkzusammenhang schließlich von der scheinbar idealtypisch ,klassischen' Iphigenie zu den singulären, ganz zukunftsgerichteten dramaturgischen Lösungen im zweiten Teil der Fawsi-Dichtung führten. Goethes grundsätzliche Affinität zur dramatischen Denk- und Ausdrucksform erklärt sich vorrangig aus der Tatsache, daß auf diesem Wege der Phantasie konkrete Spielräume eröffnet werden können. Die hierdurch ermöglichte Herbeiführung einer „Art von productiver Imagination" (WA 1.22, S. 180) war es wohl in erster Linie, die ihn immer wieder dazu trieb, seine poetischen Energien im Medium der dramatisch-theatralischen Kunst, also in „belebten Bildern" (WA I. 13.1, S. 118), zur Geltung zu bringen. Vorzüglich erlaubt es gerade das Drama, die Dynamik der Welt der Erscheinungen, Konfigurationen und Handlungen in Bildern und Gegenbildern sinnlicher Gegenwärtigkeit zusammenhängend zu erfassen. In einem Brief bemerkte Goethe ausdrücklich im Bezug auf die „productive" Einbildungskraft: „Diese ist zuerst nachbildend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie productiv, indem sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt" (an Carl Ludwig von Knebel, 21.2.1821). In hervorragendem Maße kam demzufolge die dramatische Gattung seinem künstlerischen Ausdrucksbedürfhis entgegen. Durchweg zielte er nämlich darauf, den ganzen Spannungsreichtum der ihm vor Augen stehenden

Keller, Werner: „Das Drama Goethes." In: Handbuch des deutschen Dramas, hrsg. von Walter Hinck. Düsseldorf 1980, S. 1 3 3 - 1 5 6 . Zitat: S. 141.

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„lebendigen Einheit" (Maximen und Reflexionen 571) im wahrsten Sinne des Wortes vorzufuhren. Die Umorientierung zum Symbolischen hin hatte allerdings die schmerzliche Erkenntnis im Gefolge, daß die zeitgenössische Bühnenpraxis keine akzeptable Darstellung solcher ,Bei-Spiele' erlaubte. Goethe nahm das bewußt in Kauf. Unbeirrbar verfolgte er den einmal eingeschlagenen dramaturgischen Weg. Das war im übrigen auch gemeint, wenn er gegenüber Eckermann bekundete: „In den neunziger Jahren [...] war die eigentliche Zeit meines Theater-Interesses schon vorüber und ich schrieb nichts mehr für die Bühne."5 Die neue dramatische Methode war indes entschieden schwieriger. Deswegen ergänzte Goethe seine Bemerkung durch den Hinweis: In der Zeit meines Clavigo wäre es mir ein Leichtes gewesen, ein Dutzend Theaterstücke zu schreiben; an Gegenständen fehlte es nicht und die Production ward mir leicht; ich hätte immer in acht Tagen ein Stück machen können und es ärgert mich noch, daß ich es nicht gethan habe.

Als der Dichter das sagte, steckte er mitten in den Schlußarbeiten zu Faust II. Es sprach also ein dramatischer ,Aktivist'. Freilich gingen seine dramaturgischen Vorstellungen inzwischen in eine gänzlich andere Richtung. Die neue Konzeption gründete auf der Aussage: „Genau aber genommen, so ist nicht theatralisch, was nicht fur die Augen zugleich symbolisch ist" (WA 1.41.1, S. 66f.). In formaler Hinsicht war es Goethe zeit seines Lebens vorrangig um angemessene Darstellungsstrategien zu tun. Dabei ist auffallend, in wie hohem Maße er unter dieser Zielsetzung nach Möglichkeiten suchte, bestehende Grenzen zu überschreiten. Deshalb ist es alles andere als ein Zufall, daß er gerade gegen Ende seines Lebens dramaturgische Lösungen entwickelte, deren Innovationsgrad seiner Zeit um ein gutes Jahrhundert voraus war. Im übrigen liegt hierin sicher der Grund für seine am Beispiel des Erzdramatikers Shakespeare vorgebrachte Klage, die „Bühne" sei kein „würdiger Raum für sein Genie gewesen" (WA 1.41. 1, S.67). Gelegentlich wird diese Bemerkung leider in der Weise mißverstanden, als habe Goethe damit indirekt sein eigenes theatralisches Talent in Zweifel ziehen wollen. Davon kann, wie allein schon ein kurzer Blick in das Inhaltsverzeichnis einer jeden Werkausgabe verrät, gewiß keine Rede sein. Goethes dramatischer Impetus stand dem des Lyrikers oder Epikers in nichts nach. Anderslautende Meinungen gehen im wesentlichen auf bereits zu Lebzeiten des Dichters geäußerte Bedenken zurück. Beispielhaft hierfür sind etwa Ludwig Tiecks kritische Anmerkungen in der 1828 entstandenen Schrift Goethe und seine Zeit. Nachdem er zunächst lediglich feststellte, Goethe sei „weit mehr erzählender Roman- oder Novellendichter, als dramatischer", verstieg er sich schließlich zu der in jeder Hinsicht abwegigen These: „Es ist mehr ein Negatives, was er [Goethe] gewirkt hat, als daß das Theater durch ihn vorgeschritten

s

Eintragung Eckermanns vom 26. 7.1826.

Die Dramaturgie der „Faust"-Dichtung

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wäre." 6 Ähnliche Vorwürfe in der Folgezeit erklären sich in der Regel aus dem wenig sinnvollen Direktvergleich mit Schiller. Dabei kommen nämlich Argumente ins Spiel, die der Weimarer Mitstreiter bereits in seiner Rezension des Egmont selbst artikuliert hatte. Sie lassen sich im Kern auf die lapidar vorgebrachten Bedenken konzentrieren: Hier [bei Goethe] ist keine hervorstechende Begebenheit, keine vorwaltende Leidenschaft, keine Verwickelung, kein dramatischer Plan, nichts von dem allem - eine bloße Aneinanderstellung mehrerer einzelner Handlungen und Gemälde, die beinahe durch nichts als den Charakter zusammengehalten werden, der an allem Anteil nimmt, und auf den sich alle beziehen. Die Einheit dieses Stücks liegt also weder in den Situationen noch in irgend einer Leidenschaft, sondern sie liegt in dem Menschen?

Das diametral anders geartete dramaturgische Verfahren beider Dichter kommt damit klar zur Sprache. Gerade die weiteren Entwicklungen von Drama und Theater im zurückliegenden Jahrhundert zeigen allerdings, wie wenig damit anzufangen ist. Denn bei einer vergleichenden Nebeneinanderstellung beider Klassiker wird die ganz eigene Auseinandersetzung Goethes mit der Gattung Drama, ihres avancierten Charakters wegen, unter falschen Kategorien der Gestaltungstradition betrachtet und dementsprechend relativiert. Demgegenüber gilt es prinzipiell festzuhalten, daß Goethes Dramen, einmal ganz abgesehen von ihrem inhaltlichen Gewicht, in dramaturgischer Hinsicht Möglichkeiten eröffnet haben, die ihn - weit mehr als Schiller - zu einem Initiator des modernen Dramas machen. Der Weimarer ,Klassiker' war sich klar darüber, daß die strikte tektonische Dramaturgie der Iphigenie - wie dann auch des Torquato Tasso - eine zwar konzentrierende, aber eben auch eine beschränkende Perspektive etablierte, die den Horizont des Dargestellten entschieden verengte und die Außenwelt sogar gänzlich aussparte. Ein generell verbindliches Dramenmodell konnte das niemals sein. Formale Strenge und Reduktion müssen hier als rein handlungsbedingt gesehen werden, weil die akzentuierte Autonomie des Individuums eine derartige Konzentration förmlich herausfordert. Nicht lange hielt Goethe sich darum an diese rein sachbedingten Beschränkungen. Sobald er, infolge einer ganz anderen Handlungskonstruktion, eine breite, theatralisch-sinnenhafte Lebenserfassung auf die Bühne bringen wollte, machte er sogleich Schluß mit der rigiden Innenperspektive des „gräzisirenden Schauspiels" (an Schiller, 19.1.1802). Was er jedoch in der Folge konsequent beibehielt, war die hierdurch gewonnene aktivierende Kommunikationsstruktur des Bewußtseinstheaters. Sie allein vermochte es nach seinem Dafürhalten, beim Publikum die nötige Tiefenwirkung auszulösen. Er paßte sie allerdings den jeweiligen gestalterischen Gegebenheiten an. Gerade dadurch bewies er sich als ein Mann des

6 7

Tieck, Ludwig: Kritische Schriften. Bd. 2. Leipzig 1848, S. 209 und 238. Schiller, Friedrich: Werke. Nationalausgabe. 1940 begründet und hrsg. von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers (im folgenden abgekürzt: SNA), S.210.

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praktischen Theaters. Allerdings begab er sich dabei bewußt in strikten Gegensatz zu den lähmenden Gewohnheiten der zeitgenössischen Theaterpraxis. Die von Goethe Zug um Zug durchgesetzte Ausweitung des theatralischen Horizonts zur Totale bestimmte seine weiteren Bemühungen um die FaustDichtung. Gehörte die Urfaust-Stafe der Jahre 1773/1775 noch ganz in den Zusammenhang der Sturm und Drang-Dramaturgie hinein, erfolgte die Wiederaufnahme der Arbeit im Rahmen der italienischen Reise, also parallel zu den ästhetischen Positionen des £g?wo«?-Schlusses, der Iphigenie und des Tasso. Den daraus resultierenden Textstatus Faust. Ein Fragment (1790) betrachtete Goethe als „in seiner Art für dießmal abgethan" (an Carl August, 5.11.1789). Erst dem wiederholten Drängen Schillers nachgebend, entschloß er sich dann 1797 zur Weiterarbeit. Neben Planskizzen für das Gesamtwerk entstanden die zur Abrundung des ersten Fawii-Teils nötigen Szenen: „Ostermorgen", „Osterspaziergang" („Vor dem Thor") und vor allem die drei Prolog-Teile („Zueignung", „Vorspiel auf dem Theater" und „Prolog im Himmel"), in denen sich die transzendierenden Dimensionen der Gesamtkonzeption definitiv andeuten. Im September 1800 kam es mit Entwürfen zur Helena-Gestaltung zu einem ersten Ausgreifen auf den zweiten Faust-Teil, wie es schon in den Prolog-Teilen angelegt war. Erst diese dritte Arbeitsphase brachte den Umschwung zu den entscheidenden dramaturgischen Öffnungen, die dann den zweiten Faust-ltW methodisch bestimmten. Allerdings ließ die Ausführung geraume Zeit auf sich warten. Goethe lebte wohl zunächst in der Überzeugung, mit der dynamischen, antiillusionistischen Szenenfolge des ersten Faustteils - Faust. Eine Tragödie (1808) - das Nötige getan zu haben. Die neuen dramaturgischen Konzepte erschienen ihm vorderhand noch als „Symbol-, Ideen- und Nebelwelt" (an Schiller, 24. 6.1797) oder gar als „Luftphantome" (an Schiller, 1. 7. 1797). Offensichtlich war er sich seiner Sache damals nicht sicher genug. Schließlich galt es ja auch, einen ungeheuren qualitativen Sprung zu vollführen. Ging es doch dabei um nichts weniger als eine regelrechte dramaturgische Revolution in Gestalt eines totalen, eines entfesselten Bewußtseinstheaters. Mit dem Übergang von der kleinen zur großen Weltfahrt Fausts ergab sich für Goethe folgerichtig die Notwendigkeit, hierfür adäquate Ausdruckslösungen zu entwickeln. Um die dabei zu bewältigende, alles Bisherige sprengende Komplexität dramatisch verarbeiten zu können, mußte er sich in aller Schärfe die „Frage nach den Grenzen und den noch verfugbaren Möglichkeiten" stellen.8 Zwei Ansatzpunkte standen ihm für die Lösung zur Verfügung. Zum einen die strikte Subjektivität der Perspektive, zum andern eine ganz auf autonome Einzelszenen abgestellte Gestaltung. Der subjektive Ansatz erlaubte es dem Autor, seine Arbeit nach Gutdünken über Jahre, ja sogar Jahrzehnte hin zu strecken. Bereits 1797 hielt er im Hinblick auf seine Fawji-Dichtung die These fest: ,,[D]a übrigens die ganze Arbeit subjectiv ist; so kann ich in einzelnen Momenten daran arbeiten" (an Schiller, 22. 6.1797). Früh schon konnte er deswegen auch den Prozeß der Arbeit am zweiten Faust-Te\\ und die dabei auftretende Ver-

So die richtige Folgerung im Kommentar der Münchner Ausgabe (MA, Bd. 6. 1, S. 913).

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schachtelung der Szenenfolge in das erhellende Bild fassen, sie werde „zu männiglicher Verwunderung und Entsetzen, wie eine große Schwammfamilie, aus der Erde wachsen" (an Schiller, 1. 7. 1797). Das Ganze war in ihm fertig als ein, wie er sagte, „inneres Mährchen" (an Johann Heinrich Meyer, 20. 7. 1831). Stoffliche Weite und Vielfalt sind somit dem Bewußtseinshorizont des Autors wie dann ebenso dem der Rezipienten - zugeordnet. Signifikante Lebenssituationen haben darin ebenso ihren Platz wie existentielle Traumzustände, Erinnerungen oder Visionen. Nach den ganz auf das Wort angelegten Stücken wie Iphigenie und Tasso mußte Goethe bei der weiteren Arbeit am Faust in erster Linie darum bemüht sein, dem Mimischen und dem Gestischen wieder verstärkt zu ihrem Recht zu verhelfen. Insofern ist der zweite Faust-Teil Ausdruck einer umfassenden ReTheatralisierung. Das Axiom der Natürlichkeit szenisch-illusionistischer mimesis wurde dabei endgültig verabschiedet. An seine Stelle trat eine völlig offene, imaginative und dynamisch-spannungsvolle Dramaturgie mit stark sinnlich akzentuiertem Spielcharakter. Dargestellt werden sollte, wie uns das zwischen 1797 und 1800 abgefaßte Schema zu .Faust' belehrt, sowohl „Thaten Genuß nach aussen", wie dann auch „Genuss mit Bewußtseyn. Schönheit" und „Schöpfungs Genuß von innen" (WA 1.14, S.287). Derlei war nur möglich auf der Grundlage einer zeitlich und räumlich unbegrenzten, also in jeder Hinsicht offenen Dramenhandlung. Was in den Worten des Astrologen magischer Wirkung zugeschrieben wird, hat Goethe zum verwirrend vielfaltigen Spiel eines dramatischen Bewußtseinsstroms ausgestaltet: Beginne gleich das Drama seinen Lauf,/ Der Herr befiehlt's, ihr Wände thut euch auf!/ Nichts hindert mehr, hier ist Magie zur Hand,/ Die Tepp'che schwinden, wie gerollt vom Brand;/ Die Mauer spaltet sich, sie kehrt sich um,/ Ein tief Theater scheint sich aufzustellen,/ Geheimnißvoll ein Schein uns zu erhellen (WA 15.1, S. 79f.; V. 6391-6397).

Demzufolge ist Faust II, gerade auch dramaturgisch betrachtet, in der Tat jenes „tiefe Theater", dessen „Schein uns zu erhellen" sucht. Was dort zur szenischen Vorführung kommt, ist kein Lesedrama und erst recht kein Meta-Theater, wie manch einer glaubt,9 sondern dramatischer Ablauf eines auktorial organisierten Bewußtseinsprozesses um die Faust-Figur herum. Gründlich falsch wäre es andererseits ebenso, das Ganze etwa als kommentarlosen Bewußtseinsstrom Fausts aufzufassen. Die Tiefe der theatralisierten Erinnerung beruht ganz auf den vom Autor in subjektiver Auswahl konzipierten, angeordneten und strukturierten Elementen zur Konstruktion des Dramas. Deswegen konnte Goethe auch im Gespräch mit Eckermann konstatieren: ,,[E]s erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas umgethan und Einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen."10

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Borchmeyer faßt seine Konzeption in der wenig angemessenen Aussage zusammen: „daß Goethe auch dann, wenn er vermeintlich [!] nicht für das Theater schrieb, seinen theatralischen Sensus nicht dispensieren konnte. Auch der Verfasser von Lesedramen [!] konnte den Bühnenpraktiker nicht ganz verleugnen" [Anm. 1 ], S. 25. Eintragung Eckermanns vom 17.2.1831.

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Für die so radikal neue Dramaturgie gab es - neben dem Kommunikationsmuster der Iphigenie und des Tasso - eine ganze Reihe weiterer Vorgaben. Goethes Aktivitäten für den Hof sowie als Theaterdirektor mit Maskenzügen, Festspielen, zahlreichen Opern- wie Singspielinszenierungen und Bühnenbearbeitungen schufen dafür denkbar günstige Voraussetzungen. Nutzte doch der Autor solche Erfahrungen durchweg dazu, im ästhetischen Spiel die Möglichkeiten „festlicher Vereinigung wie tiefgreifender Belehrung" auszuloten.11 Er machte sich hierbei die ganze Theatergeschichte zunutze und griff zugleich weit darüber hinaus. Wir stoßen auf den Einfluß der antiken Tragödie („Helena"Akt) wie des mittelalterlichen Mysterienspiels („Prolog im Himmel" und Schluß), wir begegnen der exzessiv offenen Form des elisabethanischen Theaters wie ausgesprochenen Opernelementen, ja sogar Partien, die „bis ins Kabarettistische gehen."12 Freilich hat der Autor all dies und noch mehr dazu dem innovativen dramaturgischen System integriert. Auf derartigen Grundlagen entstand ein vehementes Wort-, Bilder-, Klangund Bewegungstheater, das universale Horizonte eröffnet. Freilich drängte die Gestaltung wegen der „symbolischen Bedeutsamkeit" des Stoffes13 ständig zur Ausweitung auf prinzipielle Lebensstrukturen. Goethe mußte erkennen: „Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus."14 Schiller hatte bereits anfangs die damit gegebene Schwierigkeit erkannt, nämlich für die „Totalität der Materie" einen „poetischen R e i f zu finden, „der sie zusammenhält."15 Goethe fand allmählich die angemessene Lösung in verstärkter Anwendung der andeutend-stellvertretenden Darstellung. Er brauchte die damit ermöglichte Weite. Mußte er doch für die große Weltreise Fausts kaleidoskopartig die Objektivationen von Staat, Wirtschaft, Natur und Kunst ebenso einbeziehen wie die der Schöpfung, der Geschichte und des transzendierenden „Bergschluchten"-Geschehens. Was dem Publikum solchermaßen theatralisch unterbreitet wird, ist demzufolge in keiner Weise Reproduktion von Wirklichkeit. Es sind vielmehr stilisiert vermittelte symbolisch-analytische Reflexe einer Lebensparabel in poetischdramatischen Bildern. Vielen Lesern - Zuschauer gab es bekanntlich längere Zeit keine - erschien der zweite Faust-Teil darum als ein befremdliches, völlig undramatisches Gebilde, eben als bloßes Lesedrama. Unlängst noch stellte ein sonst einfühlsamer Interpret kurzerhand fest: Faust II ist das Produkt einer literarischen Kultur, [...] ein eminent literarisches Werk, dessen Verständnis vom Nachvollziehen und Deuten literarischer, das heißt sprachlicher Elemente und der literarischen Tradition abhängt. [...] Daß theatralische und musikalische

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Siegrist, Christoph: „Dramatische Gelegenheitsdichtungen: Maskenzüge, Prologe, Festspiele." In: Goethes Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1980, S.241. So Peter Stein [Anm. 3], S.29 im Zusammenhang der Vorbereitungen fur seine Inszenierung. So Schiller: SNA, Bd. 29 , S. 87. Eintragung Eckermanns vom 10.1.1825. SNA, Bd. 29, S. 88.

Die Dramaturgie

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„Faust"-Dichtung

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Züge thematisch wie formell eine wichtige Rolle spielen, kann nicht bedeuten, daß das Werk etwa als Bühnentext konzipiert wurde: auch die expliziten szenischen und schauspielerischen ,Anweisungen' im Text gehören in den literarischen und dichterischen Vorstellungsbereich und sind keinesfalls Direktiven für eine Auffuhrung. 16

Wer eine solche These vorbringt, unterschätzt entschieden die Möglichkeiten des modernen Theaters mit seinem komplexen System theatralischer Zeichen. Ein Besuch der Inszenierungen Claus Peymanns 1977 in Stuttgart oder Giorgio Strehlers Anfang der neunziger Jahre in Mailand hätte den geschätzten Zunftgenossen möglicherweise eines anderen belehrt. Noch zwingender leistete das dann Peter Steins Inszenierung des gesamten Faustdramas in einer erstmals ungestrichenen Fassung im Rahmen der EXPO 2000 in Hannover, die dann auch in Berlin und Wien gespielt wurde. Sinnvollerweise ging Stein von einem „modernen Spielen in polyvalenten Räumen" unter Einschluß von „Elektroakustik" und „Videomonitoren" aus.17 Diese konsequente Entscheidung erlaubte es ihm, ein sachgerechtes Sprech-, Körper- und Aktionstheater zu realisieren, das genau so vom Dramentext lebt wie von Sprechrhythmus und Intonation, von Mimik und Choreographie, von Masken, Requisiten, Lichteffekten und Musik, kurz von der ganzen Semiotik eines totalen Theaters. Goethe selbst dachte hinsichtlich der theatralischen Umsetzung an eine Inszenierung, bei der Tragödien- und Opernstil sich verbinden müßten.18 Er wollte demzufolge den Text als eine Art Wort-Oper aufgefaßt sehen. Bereits im Egmont hatte sich diese Tendenz angedeutet. Schiller monierte, von seinem Standpunkt aus zu Recht, den dabei vollzogenen „Salto mortale in eine Opernwelt."19 Was hätte er erst zu Faust II gesagt! Goethe hingegen suchte gezielt die bewußtseinsmäßige Durchdringung der Realität. Er dachte dabei gerade auch an die technische Seite seiner dramaturgischen Einfalle. Eigens angefertigte Zeichnungen zu bestimmten Szenen belegen das ebenso wie das von ihm bekundete Interesse fur Projektionen mit Hilfe der Laterna magica20 oder Überlegungen zur Beschaffung eines dressierten Elephanten für die Mummenschanz-Szene und zur Besetzung des Homunculus mit einem Bauchredner.21 Im gleichen Zusammenhang räumte Goethe freilich ein, eine Inszenierung sei „fast unmöglich": „Es würde ein sehr großes Theater erfordern" und ferner „einen Regisseur, wie es deren nicht leicht gibt." Offenkundig zielte die hintersinnige Aussage darauf, durch entsprechende Inszenierungsleistungen widerlegt zu werden. Selbstverständlich ist es richtig, daß die ihrer vielfachen Ansprüche wegen schwer zugängliche und noch schwerer szenisch umsetzbare Bewußtseinsdramaturgie sich äußerst hemmend auf die Theaterrezeption auswirkte. Bedarf es

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Lange, Victor: J a u s t . Der Tragödie zweiter Teil." In: Hinderer [Anm. 11], S. 28f. Stein [Anm. 3], S. 28. Vgl. hierzu die Eintragung Eckermanns vom 29.1. 1827. SNA, Bd. 22, S. 208. So etwa im Brief an den Maler und Kunsthistoriker Wilhelm Johann Carl Zahn vom 12.12. 1828.

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Im Gespräch mit Eckermann (Eintragung Eckermanns vom 20.12. 1829).

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dazu doch einer komplizierten multifunktionalen Installation, eines kongenialen Regisseurs und, was noch seltener ist, eines gleichermaßen aufgeschlossenen wie geduldigen Publikums. Daß einfallsreiche Regisseure jedoch in der Lage sind, den zweiten Faust-Teil überzeugend auf die Bühne zu bringen, wurde in unserem Jahrhundert wiederholt überzeugend bewiesen. Goethes extreme Anforderungen an die Bühne haben sich dabei als realisierbar herausgestellt. - Der Autor wußte im übrigen genau um die damit verbundene Problematik seines Stückes. Eine seiner letzten Äußerungen hält das vielsagend fest. Er spricht da von den „sehr ernsten Scherzen" der Fai/ii-Dichtung und kommt dabei zum folgenden hellsichtigen Schluß, der die ganzen Schwierigkeiten der Rezeption in der Folgezeit exakt beschreibt: Der Tag aber ist wirklich so absurd und confus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden (an Wilhelm von Humboldt, 17.3.1832).

Leider ist die Überlegung Goethes immer noch aktuell. So radikal wirkte und wirkt der Innovationsgrad seiner Formlösung im zweiten Faust-T&i\. Ganz nach Plan, aber in zeitlich bunter Reihenfolge machte sich der Autor 1825 an die Ausarbeitung. In einem Brief um die Zeit der Fertigstellung schrieb er rückblickend, er habe das Werk „in sich selbst arrangirt, bedeutende Zwischenlücken ausgefüllt und vom Ende herein, vom Anfang zum Ende das Vorhandene zusammengeschlossen" (an Johann Heinrich Meyer, 20.7.1831). Den konkreten Verlauf kann man in groben Zügen wie folgt resümieren: Nachdem der Autor 1825/26 mit dem „Helena"-Komplex den 3. Akt ausgeführt hatte, wurde der Faust nunmehr zum „Hauptgeschäft" (WA III. 11, S. 58). Nacheinander entstanden der 1.(1827) und der 2. Akt, vor allem die „Klassische Walpurgisnacht" (1828-1830), danach der 5.(1830/31) und schließlich der 4.Akt (1831). Somit ist Faust II weithin ein Werk der letzten Lebenszeit Goethes. Ende des Sommers 1831 konnte Eckermann registrieren, „daß im August der ganze zweyte Theil geheftet und vollkommen fertig dalag." 22 Bald nach der Fertigstellung wurde das Manuskript versiegelt. Man kann das logischerweise bloß so deuten: Goethe bestimmte den zweiten Faust-Teil durchaus nicht seiner Gegenwart. Offensichtlich sah er für die Umsetzung seines Dramas auf der Bühne lediglich Chancen in der Zukunft. Nur zu gut wußte er also, daß weder das Theater seiner Zeit reif dafür war noch das Publikum, auf dessen koproduzierende Phantasie der Faust-Text besonders angewiesen ist. Der weitere Rezeptionsverlauf gab dem Autor recht. Deswegen war der Entschluß Eckermanns im Verein mit Friedrich Wilhelm Riemer, den Text noch im Todesjahr 1832 als Band 1 der Nachgelassenen Werke an die Öffentlichkeit zu bringen, alles andere als glücklich. Goethe hat da weiter gedacht, denn er hatte längst eingesehen, welche Kluft bestand zwischen der Wirkungsabsicht des Dramas und der tatsächlichen Rezeptionssituation. Seine einzige Hoffnung

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Eckermann, Mitte August 1831 (irrtümliches Datum: 6.6. 1831).

Die Dramaturgie der „ Faust "-Dichtung

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ging dahin, ein Werk geschaffen zu haben, das „gewiß denjenigen erfreuen" werde, „der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung versteht" (an Johann Heinrich Meyer, 20. 7.1831). Für das universale Bewußtseinstheater der Faust //-Stufe gilt eben nach wie vor Goethes Diktum: ,,[A]llein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet."23 Mit dieser Feststellung ist die Kommunikationssituation des zweiten Fawsi-Teils exakt bestimmt. Grundsätzlich läßt sich von dem hier praktizierten Konzept her, den Adressaten als eine Instanz der Vernunft zu betrachten, die ihrerseits wiederum „die Vernunft des Autors herausfinden" soll, die auktoriale Bewußtseinsdramaturgie als das in der Faasi-Dichtung systematisch angewandte Dramenprinzip belegen. Ihre spezifische ästhetische Verfahrensart ist letzten Endes die Simultaneität. Diese moderne strukturbildende Gestaltungsweise, die von der Verräumlichung der Zeit und der Verzeitlichung des Raumes lebt, hat Goethe im Stück in zunehmendem Maße programmatisch gezielt angewandt, indem er in der Ankündigung der Helena davon ausging: „So vieles und noch mehr denke sich wem es gelingt als gleichzeitig, wie es sich ergiebt" (WA 1.15.2, S.208). Anders ausgedrückt heißt das schlicht und einfach: Wenn einer nicht dazu bereit ist, sich auf Simultaneität einzulassen, wird ihm der Zugang zum Werk zwangsläufig verschlossen bleiben. Abermals machte der Autor so mit seiner Formulierung die Bewußtseinsperspektive als Vehikel der dramatischen Umsetzung kenntlich. Praktisch funktioniert der Anspruch umfassender Bewußtseinsdramaturgie nach einer klaren Methodik: Die Darstellungselemente folgen generell einem szenisch-berichtenden Gestaltungsmodus. Da keine linear-kontinuierliche Handlungsentwicklung mehr gegeben ist, legt uns der Autor eine Phänomenologie der Weltlage in bezeichnenden Ausschnitten vor und verknüpft sie mit dem symbolisch-ästhetischen Reflex der Faust'schen Lebensallegorie. Mithin handelt es sich um ein aus innerer Vorstellung heraus aufgebautes Welt- und Lebensspiel in sprachszenischer Fügung. Wir erleben somit im theatralischen Ereignis den „farbigen Abglanz" des Lebens (WA 1.15.1, S.7; V.4727). Lyrisch-reflexive Monologe, etwa die von Faust bekundete Bereitschaft, ,,[z]um höchsten Dasein immerfort zu streben" (WA I. 15.1, S.5f.; V.4679ff.), gehören ebenso dazu wie opemhaft orchestrierte Partien in der Art der Szene „Anmutige Gegend" (1,1) oder der „Grablegung" (V,6) und der „Bergschluchten" (V,7). Symbole und Allegorien aufzuzählen erübrigt sich. Wie .normale' Dialoge gehören sie offenkundig zur Grundsubstanz der Gestaltung dieses hochelaborierten Spieltextes. Interessanterweise laufen auch die Zeitstufen ineinander. Ohne weiteres kann der sich dem Ende nähernde Faust seine irdische Schlußvision im Optativ artikulieren (WA I. 15.1, S.315; V. 11563ff.). Das Futurisch-Konjunktivische hat mithin seinen Platz im Rahmen der Bewußtseinswiedergabe. Umgekehrt kann die erste Szene des fünften Aktes („Offene Gegend"), völlig ungewöhnlich für das in der Regel vergegenwärtigende Drama, im Plus23

Eintragung Eckermanns vom 18.4. 1827.

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quamperfekt anheben. Zum Universaltheater Goethes gehören Erinnerungen genauso wie dann Entwürfe und Visionen. Gelegentlich stellt sich sogar die Frage: Was ist hier Bühne? Zum Beispiel lautet eine der szenischen Anweisungen bezeichnenderweise so: „Trommeln und kriegerische Musik im Rücken der Zuschauer, aus der Feme, von der rechten Seite her" (WAI. 15.1, S.252). Eine extrem dimensionierte Bühnenanweisung am Ende des dritten Aktes legt sodann folgendes fest: „Der Vorhang fällt. Phorkyas im Proszenium richtet sich riesenhaft auf, tritt aber von den Kothurnen herunter, lehnt Maske und Schleier zurück und zeigt sich als Mephistopheles, um, insofern es nötig wäre, im Epilog das Stück zu kommentieren". Und gleich danach: „Eine Wolke zieht herbei, lehnt sich an, senkt sich auf eine vorstehende Platte herab. Sie teilt sich." Derlei stellt den Regisseur vor schwierige Aufgaben. Illusionsdurchbrechung und Simultaneität können jedoch, zum Prinzip erhoben und angemessen umgesetzt, ein theatralisches Fest ganz besonderer Art auslösen. Freilich unterliegt die Wirkung automatisch dem nicht generell vorauszusetzenden Anspruch geschärfter und kreativer Wahrnehmungsfähigkeit beim Publikum. Was Bertolt Brecht die „Zuschaukunst" genannt hat, wird hier vom Autor Goethe bereits wie selbstverständlich erwartet. Ein Orientierungsmuster des für die Fawji-Dichtung so entscheidenden visionären Bereichs ist schon in der Anfangsszene des ersten FaMsi-Teils vorzufinden. Sicher mit Absicht hat Goethe die darin vorkommende Erscheinung des Erdgeists in einer Bleistiftzeichnung gestisch festgehalten, um so den symbolisch-spielerischen Grundzug des Ganzen ein für allemal zu markieren. So allein konnte das „seltsame Gebäu" des Faust II zum dramatischen Exempel einer Figuration menschlicher Grenzüberschreitung werden. Nur so ließ sich ,,[d]es Lebens labyrinthisch irrer Lauf (WA 1.14, S.5; V. 14) theatralisch bewältigen, konnte somit Goethes dramatisches Lebenswerk zur „tausendaktigen Welttragödie" gefugt werden, wie Heine im Blick auf Shakespeare einmal formulierte.24 Daß dabei überdies der Ausgang des Dramas vom Autor noch zu positiver, untragischer Zukünftigkeit gewendet wurde, hängt unmittelbar mit der aktivierenden Kommunikationsstruktur zusammen. Wo die meisten Interpreten eine christliche Heilslösung sehen wollen, sollte man eher die diesseitige Vollendung eines ironisch angelegten Möglichkeitsspiels sehen, eben „diese sehr ernsten Scherze." Goethe hat nämlich hier, mit Ernst Bloch zu sprechen, „die Schaubühne als paradigmatische Anstalt betrachtet"25 und entschieden genutzt. Die von Goethe mit der Bewußtseinsdramaturgie in der Fawsi-Dichtung erschlossenen universalen Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten wurden im 19. Jahrhundert weithin verkannt. Als einer der ersten hat Richard Wagner diese bedeutsame und folgenreiche ästhetische Innovation gewürdigt. Mit Recht sah er darin ein Modell für seine Konzeption des Gesamtkunstwerks. Aber erst im

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Heine, Heinrich: Werke und Briefe. Hrsg. von Hans Kaufmann. Bd. 3. 3. Aufl. Berlin 1980, S. 161. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffimng. Bd. 1. Frankfurt/M. 1967, S.478.

Die Dramaturgie der „Faust"-Dichtung

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20. Jahrhundert kam es allmählich zu einem sich breiter durchsetzenden Verständnis. Thomas Mann sprach im Hinblick auf die Darstellungsfulle im zweiten Faust-Teil zutreffend von „diesem ungeheuren und dabei durchaus übersehbaren, durchaus durchdringbaren Zeitgewächs, halb Ausstattungs-Revue, halb Weltgedicht", das „Liebe verdient [...] weit mehr noch als Ehrfurcht."·2" Im Zusammenhang mit der Hamburger Inszenierung beider Faust-Teile durch Gustav Gründgens kam der Theaterwissenschaftler Siegfried Melchinger zum gleichen Ergebnis. Der grundsätzlichen Bedeutung wegen sei seine einschlägige Bekundung in ihrem Kern zitiert. Er stellte damals fest: Die Surrealisten und die Abstrakten - Goethe [...] stellt sie alle in den Schatten. Traumweltorgien, allegorische Abstraktionen, Perspektivismus der Jahrhunderte [...], der kühnste Griff ins Musee imaginaire, das freieste Spiel mit den Formen. [...] Welche Dimensionen, welche Reiche, welche Phantasmagorien sind hier erschlossen! Faust II - ein Prototyp des modernen Theaters.27

Dem braucht wahrlich nichts hinzugefügt zu werden. Mit alledem dürfte deutlich geworden sein: Goethe war nicht zuletzt auch ein genuiner Dramatiker. Sein Leben lang suchte er immer wieder die Projektion ins Szenisch-Objektive, drängte es ihn zum Medium des „Gesprächs in Handlungen" (WA 1.41.1, S.66). Er ist dabei durch viele Formen geschritten, immer tiefer versuchend, dem Publikum „des Lebens Bilder" (WAI. 15.1, S. 81; V. 6430) erhellend vorzustellen. Daß er auf diesem Weg in zunehmendem Maße auf die Aktivierung des Adressatenbewußtseins abzielte, macht ihn zu unserem Zeitgenossen. Sein ,,tief[es] Theater" (WA 1.15.1, S. 80; V. 6396) setzt auf die theatralische Vermittlung des „seltnen Abentheuer[s]"(WAI. 15.1, S. 176; V. 8483). Was hierbei an perspektivischer Weite, an vergegenwärtigender Intensität und kreativer Energie erreicht wird, ist Resultat eines langen Erfahrungsprozesses künstlerischer Ausweitung und Steigerung. Wie keinem anderen Dramatiker ist es ihm, besonders mit dem zweiten Teil der FaustDichtung, gelungen, dem Bewußtsein der Moderne vorzuarbeiten. Die hier von ihm erreichte Stufe offener Dramaturgie reicht zweifellos direkt ins Zentrum des heutigen Theaters hinein.

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Mann, Thomas: „Phantasie über Goethe." In: Mann, Gesammelte Werke. Bd. 9. Frankfurt/M. 1960, S. 7 1 3 - 7 5 4 . Zitat: S.750. Melchinger, Siegfried: „Gründgens inszeniert Faust." In: Spielplan, Teil Π, hrsg. von Georg Hensel. Berlin 1996, S.442.

Εda Sagarra

Der christliche Teufel in der Literatur der Moderne als Geburtshelfer und Opfer der Aufklärung Gedanken zu Goethes Mephistopheles

I

„Von allen Geistern die verneinen/ Ist mir der Schalk am wenigsten zur Last" sagt Gott zu Beginn der Goetheschen Fcra/si-Dichtung1 und weist die Lesenden damit auf die charakteristische Eigenart seines Mephistopheles als Teufel moderner Prägung hin. Aber die Frage stellt sich: Ist denn Mephistopheles überhaupt noch Teufel? Und wenn doch, von welcher Bewandtnis? Das Verhältnis zwischen ihm und dem „Herrn" ist doch provokant, und zwar auf beiden Seiten. Lässig spricht der despektierliche Mephisto mit dem „Herrn", als dürfe er für sich eine gewisse Intimitätsstellung beanspruchen. Hinter seinen Worten lauert, wie sonst üblich wäre, keine Spur von Ängstlichkeit. Von Haß ist nicht die Rede. Und Gott, wie es scheint, möchte Mephistos Gesellschaft nicht missen, als wäre dieser ein gern geduldeter jüngerer Bruder, den man aber nicht für voll nimmt: „Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst" (V. 173). Hier ist kaum mehr etwas vom alten ,Wesen' des Teufels als Gottes Widersacher. Denn diese ursprüngliche Bedeutung des biblischen Namen für Satan bzw. Luzifer bzw. Beelzebub begründete seine Macht.2 Zwar ging Gottes Widersacher als der Unterlegene aus dem kosmischen Kampf, so daß Luzifer, einst der höchste Engel, auf ewig aus dem Himmelreich verbannt wurde. Das hat aber nichts an seinem Charakter als numinoser Macht geändert. Man könnte fast sagen, daß ihm das nunmehr dualistische Weltbild der Christen einen Zuwachs an Macht gebracht hätte. Der einstige Gottesdiener3 war zum (fast) ebenbürtigen Gegner geworden; ihm unterlag ein ganzes Gegenreich. Das Prinzip des Bösen, Teufel genannt, übte seit Beginn der Geschichte der christlichen Kirche eine Faszination auf die Gläubigen aus. Als die Vorstellung Bild wurde, erfand die künstlerische Phantasie der Christen immer neue Formen der Teufelsdarstellung. Der Teufel besitzt die Potenz, in die Menschheitsgeschichte einzugreifen. Erscheint er auf Erden, wird er, in welcher Gestalt auch immer, .sichtbar', versucht der zitternde Mensch dessen überwältige Macht abzuwehren, indem er sich ihn mit Namen

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Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt/M. 1994, S. 28, V. 338f. Zu den vielen Namen des biblischen Teufels vgl.: Russell, Jeffrey Burron: The Prince of Darkness. Radical Evil and the Power of Good in History. London 1989, S. 43. Vgl. bei: Milton, John: Paradise Lost (IV, 957-60) Gabriels Anklage, daß Luzifer einst der kriecherischste Engel gewesen sei.

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zu nennen scheut: Man spricht darum vom „Leibhaftigen".4 Auch Mephisto provoziert die Hexe mit der verächtlichen Frage: „Soll ich mich etwa selber nennen?" (V. 2488), rügt aber das vorlaute Wesen, das sich untersteht, ihn als „Satan" zu titulieren: „Den Namen, Weib, verbitt' ich mir" (V. 2505). Bei allen einfallsreichen und witzigen Anspielungen auf seine vielen literarischen Vorlagen, speziell die Historia von D. Johann Fausten (15 87), Christopher Marlowes Tragicall Historie of the Life and Death of Doctor Faustus (1631) und die deutschen Volksbücher, Wanderbühnen und Puppenspiele,5 belegt Goethes aufgeklärter Teufel' Mephisto gleich von vornherein die Distanz, die diesen von der uralten Tradition der christlichen Teufelsdarstellung trennt. Zugegeben, Mephistopheles ist nach eigener Aussage „keiner von den Großen" (V. 1641). Daß er stellvertretend für seine Sippschaft auftritt, das Riesenreich6 der Teufel repräsentiert, ist klar, nicht zuletzt in den Szenen auf dem Blocksberg. Mephistopheles ist kein untergeordneter kleiner Teufel - „Erkennst deinen Herrn und Meister?", fragt er die Hexe (V. 2482).7 Er ist nicht wie etwa Pug in Ben Jonsons Komödie The Divill is an Asse (1616), der von seinem satanischen ,Chef mit einem Auftrag auf Erden geschickt wird, kläglich scheitert und dafür von diesem gehörig bestraft wird.8 Goethes Mephistopheles, wie vormals etwa bei Marlowes Mephostophilis, ist in seinen Beziehungen zu den Menschen sozusagen mit teuflischer Vollmacht ausgestattet: „Junker Satan", nennt ihn sogar die Hexe (V. 2504). Dennoch: Welten trennen Goethes Teufel von seinen Vorlagen, vom „Fabelbuch" (V. 2507). Die Heimat des Marloweschen ist in der Tat das Höllenreich; dorthin wird er den jammernden Sünder Faust in der letzten schrecklichen Szene schleppen. Bei Marlowe ist die Hölle fester Gegenpol zum Himmel, hier sind Verdammnis und ewige Strafe noch ,intakt'. Bei Goethe fehlt die theologische Dimension der Hölle. Oder besser gesagt, die coincidentia oppositorum von Gott und Teufel wird in seiner Dichtung durch die Einsicht erschaffen, daß der Teufel in einer Art von ,partnerschaftlichem' Verhältnis zum Gott des „Prolog im Himmel" steht. Eine ungleiche Partnerschaft zwar, doch werden beide zu seltsamen collaborateurs im Dienst der Erkenntnissuche des Menschen. Früher hatte man die Kinder in der .Furcht des Herrn' zu sozialisieren versucht, indem man ihnen von klein auf die Angst vor dem Teufel einjagte. War 4

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Vgl. Brittnacher, Hans Richard: ,,[D]er Sturz vom Himmel verwandelte den Leuchtenträger zum Leibhaftigen." In: „Der Leibhaftige. Motive und Bilder des Satanismus." In: Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen, hrsg. von Alexander Schuller und Wolfert von Rahden. Berlin 1993, S. 167-192, hier S. 168. Vgl. Schöne, Albrecht: Faust. Kommentare [Anm. 1], S. 167. Penible Schriftsteller der Jahrhundertwende vom teufelsbesessenen 16. zum 17. Jahrhundert rechneten sich die ,Statistik' des höllischen Personals aus und kamen auf die grotesk-präzise Zahl von 7, 405, 926 Teufeln. Brittnacher [Anm. 4], S. 181. Vgl. auch in der Szene: „Im Hochgebirg": V. 10119: „Ein Wunder ist's, der Satan kommt zu Ehren". Dazu Schöne [Anm. 1], S. 168 und660ff. Jonson, Ben: The Devil is an Asse. The Revel Plays. Hrsg. von Peter Happe. Manchester 1994. Vgl. auch: Happe, Peter: „The Devil in the Interludes 1555-1577." In: Medieval English Theatre 11 (1989), S. 42-55.

Der christliche Teufel in der Literatur der Moderne

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es die Tradition der bildlichen Darstellung des Abendlands oder lag es in der Natur des Oppositionellen, auf jeden Fall wurde es Erzieher und Kind offensichtlich leichter, sich ein Bild vom schrecklichen Teufel als vom gütigen Gott zu machen. Durch die Jahrhunderte lebte der Christ in der ständigen Furcht vor der Allgegenwart des übermächtigen Teufels. Aufklärung war, so könnte man überspitzt sagen, als sich der Mensch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Teufelsgläubigkeit befreite. Daß die Aufklärung, wie in so vielen Bereichen, auch ein Einschnitt in der Geschichte der Teufelsvorstellung der Menschen bedeutet, sollte nicht überraschen. In der Epoche der Aufklärung wird alles, was des Teufels war, in der dichterischen Vorstellung einem Wandel unterzogen. Die künstlerische Phantasie der Menschen im Mittelalter und in der Frühmoderne hatte eine teuflische Gesellschaft kreiert, die als eine Art Gegenbild zum Himmel des dreieinigen Gottes und seiner Engelschöre fungierte. Dorothy L. Sayers spricht in der Einführung zu ihrer Dante-Übersetzung von der Hölle als „the picture of a [corrupt] society".9 Diese war, wie bei den himmlischen Heerscharen, und auch bei den Menschen, ranggestuft, wobei die ,Ränge' genau so undurchlässig waren wie in der hierarchischen Gesellschaft der alten Welt, deren Abbild im Zeitalter des Barock und des Rokoko Kirche und Theater wurden. Mit der Vorstellung einer teuflischen ,Gesellschaft' spielen viele Autoren der Frühmoderne, beispielsweise Machiavelli und Ben Jonson: jener in seiner unterhaltsamen Erzählung vom großen Teufel Belfagor, genannt Fabel (Der Teufel, der eine Frau nahm c. 1513-17) 10 und der Schauspieler-Dichter Jonson fast ein Jahrhundert später mit dem .Großen Rat' der Teufel in der ersten Szene der schon genannten Erfolgskomödie.11 Zittern sollte also der , Sünder' in der alten Welt vor der grausamen Macht des Leibhaftigen. In der Nachfolge Dantes hatte man den Versuch gemacht, die numinose Macht des Bösen in Form einer Riesenfigur zu vermitteln: Der Kaiser des vereinten Leidensreiches Stieg von der Brust aufwärts aus Eises Kanten, Und mehr hab ich mit den Giganten Gleiches, Als einer seiner Arme mit Giganten. 12

Kleine Teufel pflegten als jongleurs das spätmittelalterliche und frühmoderne Publikum durch ihre Kunststücke, durch körperliche Glanzleistungen zu unterhalten, die man in einer späteren Epoche lazzi nannte.13 Wenn aber Satan leib9 10

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Dante: The Divine Comedy 1. Hell. Harmondsworth 1949, S. 19. Jonson, Ben: „Favola (II demonio che prese una moglie)." In: Opere di Niccolö Machiavelli. A cura di Ezio Raimondi. Milan 1976, S. 845-853. Beide sind witzige Variationen des alten Topos, daß die Frau die Ehe zur schlimmeren Hölle machen kann als die ,echte' Hölle, so daß sogar der Teufel selber hier Zuflucht sucht - was wieder auf den Mythos des .besonderen' Verhältnisses von Frau und Teufel in der (christlichen) Geschichte anspielt. Dante: Göttliche Komödie, übertragen von Axel Lübbe. Leipzig 1920, S. 167 (CantoXXXIV, V. 30-33). Vgl. Owens, David D. R.: The vision of hell. Infernal journeys in medieval French literature. Edinburgh, London 1970 und Wolf, Gerhard: „Zur Hölle mit dem Teufel! Die Höllen-

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lieh auf die Bühne trat, dann als eine Gestalt, die allein schon durch Größe und Häßlichkeit die Zuschauer bis ins Mark erschrecken mußte. 14 Der Gesichtsausdruck Satans auf den Altarbildern der deutschen und österreichischen barocken Michaelskirchen bot sinnreiche Variationen zum Thema ,Häßlichkeit des Teufels'. Der ungestalte Mund des Gestürzten, den der Zuschauer umgekehrt mit dem Kopf nach unten erblickte, hat sich zur grausamen Grimasse verzogen. In der Aufklärung und deren Folge wurde der alte Gegensatz zwischen himmlischer Schönheit und teuflischer Fratze hinfällig. John Miltons großartiges Epos hat bei dieser ,Umkehr' wichtige Vorarbeit geleistet. Denn in Miltons Teufelsfürsten fiel des gestürzten Luzifers ureigenste Kategorie weg: seine angsterregende Häßlichkeit. Trotz traditioneller Einrahmung des Epos' bezeugt die Schönheit des Miltonschen Luzifers seine Modernität. 15 Nach dem christlichen Mythos mußte Luzifer in dem Moment, da er zu Gottes Widersacher wurde, seiner einstigen Natur widersprechen als der schönsten unter den „schönsten Söhnen des Lichts" (Dante, Inferno. XXXIV, V. 18). Miltons Luzifer steht in seiner blendenden Gestalt paradoxerweise dem behenden Mephistopheles näher als etwa der schrecklichen Majestät des Danteschen Dis bzw. Satan. Mit der Wiederherstellung seiner verlorenen physischen Schönheit in der dichterischen Vorstellung entäußert sich der Teufel eines seiner populären ,Kennzeichen', nämlich des Klumpfußes. Bei der Intoleranz der alten Welt für den Behinderten sollte der Klumpfuß die zerstörende Wirkung des Bösen auf die Menschenseele in einer anschaulichen Form versinnbildlichen. Freilich hat der Klumpfuß viel ältere Vorbilder, etwa im antiken Satyr (dieser ist, wie Dis in Dantes Inferno, mit Fell bedeckt). Homers häßlicher Gott Hephaistos hat bekanntlich auch einen Klumpfuß, 16 den er sich als Folge des ,Himmelsturzes' zugezogen hat, welcher ihn in das Reich der Tiefe verbannte. Hephaistos teilt mit dem christlichen Teufel die .typischen' Eigenschaften der Tücke, Rachsucht, Hinterhältigkeit und des Neides. 17 Goethes Mephisto, der, wie es sich für einen ,Modernen' ziemt, einen hohen Grad an Selbstreflexivität zur Schau trägt, mokiert sich über die traditionelle Teufelsvorstellung, indem er auf das Fehlen bei ihm eben jenes Kennzeichens aufmerksam macht:

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fahrt Christi in den Passions- und Osterspielen des Mittelalters." In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter, hrsg. von Timothy R. Jackson, Nigel Palmer u.a. Tübingen 1997, S. 271-288. Vgl. Twycross, Meg: „Evil on the medieval stage." In: Medieval English Theatre 11 (1989), S. 5-11. In der bildenden Kunst porträtiert Lorenzo Lotti schon 1554-1556 im Sturz Luzifers diesen als ein Wesen von großer Schönheit. Vgl. Delcourt, Marie: Hephaistos ou la legende du magicien, precede de la „La magie d'Hephaistos" par Andre Green. Confluents psychanalytiques. Collection dirigee par Alain de Mijolla. Paris 1982. Vgl. Sagarra, Eda: „Der neuzeitliche Teufel als entfernter Verwandter des Hephaistos?" In: Antiquitates Renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wirkung der Antike in der europäischen Literatur. Festschrift für Renate Boeschenstein zum 65. Geburtstag, hrsg. von Verena Ehrich-Haefeli, Hans-Jürgen Schräder und Martin Stern. Würzburg 1998, S. 63-69.

Der christliche

Teufel in der Literatur der

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Und was den Fuß betrifft den ich nicht missen kann, Der würde mir bei den Leuten schaden; Dann bedien' ich mich, wie mancher junge Mann, Seit vielen Jahren falscher Waden. (V. 2499-2502)

Heinrich von Kleist scheint die Konsequenz aus dieser modernen Zerstörung des alten christlichen Teufels als numinosen Wesens gezogen zu haben. Das Böse lag nun nicht mehr außer, sondern im Menschen selber: So fallt die Entlarvung des Bösewichts zum Schluß des Zerbrochenen

Krugs mit der Entdeckung

von Adams Klumpfuß zusammen. 18 Dem Säkularisierungsprozeß der abendländischen Kultur durch die Aufklärung fiel also das alte dualistische Prinzip zum Opfer, das die christliche Religion seit Urzeiten kennzeichnete. Es fielen ihr nicht nur die Gottesfurcht zum Opfer, sondern vielmehr die uralte Angst vor dem Teufel. Fast könnte es scheinen, als ob in diesem Prozeß Satan und sein Reich noch mehr als die himmlischen Mächte an Potenz verloren hätten, auch in der Phantasie der Künstler. Eine weise Vorsehung behauptete ihren Platz in einer imaginären Oberwelt. Aber die Hölle? Existierte sie noch, hatte sie überhaupt noch Existenzberechtigung? Die Vorstellung, daß der Mensch nur durch solche Kontrollinstrumente wie Satan, Verdammung, ewige Strafe und Höllenfeuer zum rechten Verhalten zu bringen sei, muß in einer aufgeklärten Kultur inakzeptabel sein, des Menschen unwürdig. Die Furcht befreit nicht, sie wirkt als Hemmschuh gegen das sapere aude, zu dem jeder fähig sein sollte. 19 So litt die Vernunft keinen Teufel alten Stils neben sich. Aus diesem wurde zunächst der Schalk, der Spaßmacher.20 Ganz zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat der Bretoner Alain Rene Le Sage durch seinen „hinkenden Teufel" die Attraktivität dieser Figur erwiesen. 21 Wobei der Witz - und der moderne Teufel ist .witzig' 2 2 - dazu dient, Dinge, auch Systeme, althergekommene Glaubensformen und Bräuche in Frage zu stellen.

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Als Beispiel fur die Richtigkeit des alten Wortes: Fiktion ahmt die Wirklichkeit nach - und nicht umgekehrt - sei auf die Figur des Joseph Goebbels verwiesen: Bekannt für seine .teuflischen' Attribute der Rachsucht, der Tücke, des Neids und der Attraktivität für schöne Frauen besaß er bekanntlich - einen Klumpfuß. Übrigens könnte man sich fragen, ob nicht bei Kleist Merkur in Amphitryon dem bzw. einem Typus des modernen Teufels entspricht. Vgl. Byrons Luzifer in: Cain (1821), der gegenüber diesem erklärt, der Mensch sei erst durch die Erbsünde zum Besitz der Vernunft gekommen: „One good gift has the fatal apple given/ your reason" (Π, 2, V. 459f.). Vgl. Sagarra, Eda: „Der literarische Teufel als komische Person. Von der Epoche des Faustbuchs und Marlowes Doktor Faustus bis zu den Faust-Parodien der Weimarer Republik." In: Chloe. Beihefte zum Daphnis. Beiträge zu Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Festschrift für Alberto Martino, hrsg. von Norbert Bachleitner, Alfred Noe und Hans-Gert Roloff. Bd. 26. Amsterdam 1997, 509-526. Der .spanische' pikareske Roman; Le diable boüeux, 1707 in Paris unter dem Titel des gleichnamigen Werks von Luiz Velez de Guevara: El diablo cojuelo (1641) und mit Widmung an diesen erschienen, wurde zum Erfolgsroman. 1711 lagen zwei deutsche Übersetzungen vor; das Werk wurde als Bühnenfassung in Deutschland im 18. Jahrhundert vielfach gespielt. Vgl. etwa Mephisto: „Nun überlaß es meinem Witze!" (V. 1848).

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Der Teufel nach Art des Mephisto wird zu einem Helfershelfer in der menschlichen Suche nach Glückseligkeit. Denn jetzt geht es nicht mehr um die Erlösung der menschlichen Seele, sondern um das Wohl der Menschheit. Erlösung wird nicht länger in einer kosmischen Ordnung gesucht, sondern in der menschlichen Leistung oder in der Liebe zur Partnerin, zum Freund, zur Gemeinde, zur Menschheit. Wenn der neuzeitliche Teufel seinen Eintritt in die Literatur der Aufklärung vollzieht, ob schon bei Le Sage oder erst in Goethes Faust, muß er sich durch neue körperliche Züge, durch einen neuen ,Habitus' ausweisen. War der mittelalterliche Teufel schreckhaft, sollte der Teufel des Barock arge Furcht und physischen Widerwillen beim Menschen erregen, so ist der neuzeitliche Teufel des geselligen 18. Jahrhunderts ein Mann des schönen Scheins und der gefalligen Formen. Die Sitten und Umgangsformen dieses ,Leibhaftigen' sind die des Weltmanns, vielmehr dem Casanova abgelauscht als dem alten Höllenfürsten. Denn die alt- (und neu-)testamentarische Assoziation zwischen Satan und Erotik überdauert alle Metamorphosen des Teufels durch die Jahrhunderte. Darauf wird auch in Deutschland vielfach in den Namen von .gefahrlichen' (oft giftigen) Pflanzen, wie Teufelsei (Phallus impudicus), angespielt, oder in den vielen Zusammensetzungen wie Teufelsauge, -dreck, -kralle, -zwirn, -haar. 23 Mephisto ist von ,normaler' Statur. Geht er mit Faust durch die Welt, ist er von ähnlicher Größe und soll auch wie ein Mann aus gutem Haus bekleidet sein: Bin ich, als edler Junker, hier, In rotem goldverbrämten Kleide, Das Mäntelchen von roter Seide, Die Hahnenfeder auf dem Hut, Mit einem langen spitzen Degen ... (V. 1535-1539)

Außer vielleicht dem Wams und vor allem der Feder („Hast du vor'm roten Wams nicht mehr Respekt?/ Kannst du die Hahnenfeder nicht erkennen?" V. 1485f.), welch letztere im 19. Jahrhundert zum neuen Kennzeichen wird,24 entsprechen Mephistos Bekleidung, Körpersprache und Ausdrucksweise denen des Urbanen Menschen. Polterte der Teufel auf der Bühne in der alten Welt vor einem entzückt-erschreckten Publikum, so tritt sein später Nachkomme leise auf. Der Teufel der alten Welt,sprach' nicht; äußert er sich, so in höchst dissonanter Form. Dante spricht vom Schreien und Kreischen der Teufel, von gellenden Dissonanzen, womit der Künstler das Chaotische der Unterwelt zum Ausdruck bringen wollte. So gewandt die Umgangsformen des aufklärerischen Teufels ä la Asmodee (Le Sage) oder Mephisto sind, so nuanciert ist seine Sprache, findig seine Formulierungskraft. Wie despektierlich spricht Mephisto von

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Der Große Brockhaus. Artikel: Teufel. Bd. 11.16. Aufl. Wiesbaden 1957, S. 468. Vgl. den Teufel in Gotthelfs Die schwarze Spinne mit seinem grünen Hut, der charakteristisch wippenden Feder und kleinem Bart oder Heines Mephisto. Ein Tanzpoem. Hierzu Robertson, Ritchie: „Heinrich Heine: ,Der Doktor Faust: Ein Tanzpoem'." In: Faust. Annäherung an einen Mythos, hrsg. von Frank Möbus, Friederike Schmidt-Möbus und Gerd Unverfehrt. Göttingen 1995, S. 113-115.

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der Gottheit und der Schöpfung: „Natürlich, wenn ein Gott sich erst sechs Tage plagt,/ Und selbst am Ende Bravo sagt" (V. 244Ii). Vor allem ist der Witz, der hohes Sprachbewußtein verlangt, für ihn kennzeichnend. Le Sages hinkender Teufel Asmodee beeindruckt von Anfang an seinen jungen Schüler Don Cleophas mit seinem dialektischen Witz. Die Menschen, erzählte er ihm, sprechen von einem schlechten Wagen, er sei „des Teufels" und kommentiert: „n'est-ce pas vrai que cette fason de parier est fausse?" 25 Mephisto versteht das dynamische Verhältnis von Sprache und Macht: der Dumme geht ,auf den Leim' des teuflischen Witzes.26 In ähnlicher Respektlosigkeit und kaum verhaltener Ironie versucht der britische Dichter Byron seinen Kritikern zuvorzukommen, wenn er im Vorwort zu seiner (recht provozierenden) dramatischen Dichtung Cain (1821) schreibt: With regard to the language of Lucifer, it was difficult for me to make him talk like a Clergyman upon the same subjects; but I have done what I could to restrain him within the bounds of spiritual politeness.27

Wie charakteristisch ist auch die Körpersprache des neuzeitlichen Teufels! Wie konzessiv sein leichtgebeugter Nacken, wie einladend sein gebogener Rücken, der die ganze Figur zum Diener des Menschen zu machen scheint. Wie offenherzig, müßte man meinen, seine elegante, ausdrucksreiche Geste, die schon sehr früh, sogar noch im Wilhelminischen Reich, von der jungen Werbeindustrie zu Marketingzwecken übernommen wurde und heute noch gelegentlich , wirkt'. 28

II Ein eigenes Kapitel in der Rezeption des aufklärerischen Teufels bietet die ephemere Graphik im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In der Geschichte der Ästhetisierung und Instrumentalisierung dieses postchristlichen Teufels erzielt die oppositionelle politische Presse zu bestimmten Zeiten der Restaurationsepoche (1815—48) eine nicht geringe Breitenwirkung. Zwischen den 1820er und 1840er Jahren bedienten sich Editoren radikaler Berliner und Hamburger Witzblätter der Figur des neuzeitlichen Satan mit dem Ziel der Volksaufklärung. Der Teufel, oft explizit,Satan' genannt, präsentiert sich hier dem Publikum als Ver25 26

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Le Sage, Alain Rene: Le diable boiteux. Avec une preface par A. Reynald. Paris o.J., S. 18. Hier ist leider kein Raum, der Assoziation nachzugehen: Witz = teuflisch + Witz = besonderes Kennzeichen der jüdischen Intelligenz. Der Topos, daß der Witz nicht kreativ sondern parasitär sei, und darum ,typisch' teuflisch-jüdisch, wurde eifrig von jenen Geistern aufgegriffen, die sich der Diffamierung der Juden und der jüdischen Presse im späteren 19. Jahrhundert widmeten. Lord Byron: The Complete Poetical Works. Hrsg. von Jerome J. McGann and Barry Wheeler. Bd. VI. Oxford 1991, S. 229. Siehe Unverfehrt, Gerd: „Faust, Gretchen und Mephisto in der Reklame und der ephemeren Graphik." In: Möbus [Anm. 24], S. 357-395.

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körperung des Prinzips Vernunft, der den Kampf aufnimmt gegen den alten Aberglauben.29 Als neuer Luzifer gibt er sich keineswegs als Allegorie des Bösen. Ganz im Gegenteil: Er ist Lichtbringer in eine Welt, die wie das restaurative Deutschland von Dunkelmännern regiert wird: von despotischen Monarchen, machtbewußtem Klerus, allmächtigen Beamten, allgegenwärtiger Polizei. Genauer gesagt, handelte es sich bei dieser Kopfgeburt der radikalen politischen Presse effektiv um eine Paris-Berlin Axis. Denn die Blätter, um die es hier geht, sind fast alle Pariser Vorlagen nachgebildet und auf die lokalen Verhältnisse der preußischen Hauptstadt bzw. der Hafenstadt Hamburg abgestimmt. Wie es in den einleitenden Worten der Redaktion des kurzlebigen Berliner Revolutionsblatts Der Satyr. Blatt für offene Meinung und freies Wort vom 1. Mai 1848 heißt: „Mit einer großen schönen Dame, der Freiheit, die aus Paris mit Extra-Post herreiste, bin ich als blinder Passagier mitgekommen."30 Paris bot nicht nur Titel (he diable bolteux, Charivari) sondern auch die nötige Technologie der billigen Reproduktion, die für die Wirkung dieser Blätter Voraussetzung war: Sie mußten um ein geringes Geld zu kaufen sein und hohe Auflagen absetzen - und wie der Teufel selber überall präsent sein.31 Ein frühes Beispiel dieser .teuflischen' Zusammenarbeit zwischen den beiden Metropolen war das Berliner Witzblatt, gegründet vom Lustspiel- und Romanautor Ferdinand von Biedenfeld im Jahr 1827, Der hinkende Teufel (bis 1828). Als Biedenfeld den damals jungen Moriz Saphir zum Mitredaktor berief, werden diesem Titel und Tendenz schon vertraut gewesen sein. Wie bei Le Sages unterhaltsamem Teufel bietet sich der ,Presseteufel' dem in der Hauptstadt32 Neuangekommenen zum Fremdenführer an. Er sei jemand, der nicht nur mit allen Geheimnissen der Stadt vertraut ist, sondern auch eine ganz besonders vorteilhafte Perspektive' hat: Er kann fliegen und zeigt seinem .Klienten' das städtische Treiben von oben. Ähnlich verfährt Wilhelm Marr in seiner seit 1847 in Hamburg bei Heines Verlag Hoffmann & Campe erscheinenden Zeitschrift: Mephistopheles (1847-52). In der Nummer vom 2. April 1848 wird Mephisto dargestellt, wie er auf einem Pferd reitend die Hamburger Dächer überfliegt. Das gleiche Motiv wurde von Pariser Graphikern bildlich gestaltet. So präsentiert etwa Eugen Delacroix 1828 in seiner Illustration zur französischen FaiMi-Übersetzung oder Honore Daumier 1851 (in Le Charivari) den Teufel im Pariser Nachthimmel, wie dieser dem naiven Objekt seiner ,Versuchung' das .Sündenbabel' schmackhaft zu machen versucht.33 Höhenstellung und

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Auf den Einfallsreichtum in der Instrumentalisierung des neuzeitlichen Teufels durch die .Journalisten' Ludwig Börne und Heinrich Heine sei ausdrücklich hingewiesen. Titelblatt abgedruckt bei Koch, Ursula E.: Der Teufel in Berlin. Von der Märzrevolution bis zu Bismarcks Entlassung. Illustrierte politische Witzblätter einer Metropole 1848-1890. Köln 1991, S. 79. Übrigens ein gutes Beispiel für die Trivialisierung des alten christlichen Topos der Allgegenwart des Bösen. Bei Guevara-Le Sage: Madrid, im Charivari dann Paris, hier Berlin. Vgl. Schmidt-Möbus, Friederike: „Des Teufels falsche Waden. Die Masken und Verkleidungen Mephistos" und Holzförster, Annette Nabila: „Der Teufel, Faust und Helmut

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Versuchung erinnern an die christliche Herkunft auch dieses lockeren Gesellen, erinnern an jene Stelle im Neuen Testament auf dem hohen Berg, wohin der Teufel den fastenden und hungrigen Christus führt, im Wahn, sich diesen ihm hörig zu machen (Matthäus 4:1-11). Der vormärzliche Editor will sich als jemand erweisen, der alles aus der Vogelperspektive sieht. Nichts, was geschieht, entgeht seinem scharfen Auge. Vor allem keine Mißstände bei der hohen Obrigkeit. Seine Mitarbeiter sorgen für volksaufklärerisch wirksame graphische Darstellungen. Biedenfelds Hinkender Teufel war nicht illustriert. So weit war man in Deutschland damals noch nicht. Erst der technologische Fortschritt erlaubte die so effektive Verbindung von Text und Graphik, die am Vorabend der 1848er Revolution in Deutschland und bis 1849 die politische Presse zu einer populären demokratischen Erscheinung machte. Wilhelm Marrs Mephistopheles benutzt das .Deckblatt' der FaustDichtung, um so freier über die politische Szene urteilen zu dürfen. Der 1847 erscheinende Berliner Charivari gibt sich zunächst den Untertitel „Redigirt von Satan[!]". Die Zeitschrift zeigt einen riesigen Bürger, der durch die Straßen ohne Hut geht. (Man erinnere sich, daß die österreichischen Bürger ihre Unbotmäßigkeit gegen die Behörden in den ersten Revolutionswochen dadurch zur Schau stellten, indem sie ohne Hut rauchend auf der Straße spazieren gingen.) Aus seiner Höhe sieht ,Satan' auf die ahnungslosen Menschen hinab, die zu seinen Füßen wie Automaten ihr kleines Wesen treiben. Satan ist hier der Anonyme,34 der das Volk zum Bewußtsein seiner selbst zu bringen hat. Ein Jahr später hat sich das Verhältnis von Titel und Untertitel gerade umgekehrt: Der im Mai 1848 erschienene Satan hat jetzt „Berliner Charivari" bloß als Untertitel. Die Titelbuchstaben sind gebildet aus der durch die Revolution nunmehr gegängelten Obrigkeit - Klerus als Schulmacht, Polizist, Zensur etc. unter der Fuchtel des schreibenden Zeitungsmanns, der den ersten Bogen des „S" ausmacht; im „n" sind viele Teufelchen dabei, ihresgleichen aus der Retorte zu befreien. Die Handhabung bei der Titulatur des Berliner Charivari ist sinnbildlich für die verkehrte Welt des aufgeklärten Teufels. War früher Satan dem Reich der Finsternis, der Lichtlosigkeit zuzuordnen, so steht jetzt Satan, bzw. der Presseteufel für die Erleuchtung der Bürger. Die Instrumente der Obrigkeit scheuen das Licht der Vernunft, 35 wie so schön an dem Münchner politischen Witzblatt Leuchtkugeln gegen Ende des Revolutionsjahrs zu sehen ist. Unter dem Titel: Deutscher Nationalreichtum sieht man den deutschen Bürger, den armen deut-

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Kohl. Karikaturen und humoristisch-satirische Bildumsetzungen." In: Möbus [Anm. 24], S. 252 und S. 273, sowie die Anm. 11 auf S. 283. Anonyme Macht ist die tradierte Charakteristik Satans. Andererseits sucht der vormärzliche Editor bzw. Redakteur sie aus rein praktischen Gründen, um sich vor dem Eingriff der Polizei zu schützen. Ist sie einmal entdeckt, wie im Fall des Editors des Berliner Satans Alfred Hopf, so kam der in die gefurchtete Stadtvogtei. Vgl. Koch [Anm. 30], S. 74. Vgl. Daumier, Honore: „Die politischen Mücken" in Le Charivari vom 3. Juni 1850; also konservative Institutionen, die versuchen, das ,Licht der Vernunft' zu löschen. In: Fischer, Hubertus: Wer löscht das Licht? Europäische Karikatur und Alltagswelt 1790-1990. Stuttgart 1994, S. 136.

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sehen Michel, in einer Szenenreihe, wie er gekettet vor seinen Unterdrückern steht. Michel ist zweidimensional in gewohnter Bekleidung gezeichnet, mit Hose, Jacke und Mütze. Dagegen sind die gesichtslosen Erpresser, Fürst („mehr als dreißig Landesväter"), Diplomaten, Klerus, Soldat, Polizist, Bürokrat („Räthe, Schreiber, Professoren"), alle nur eindimensional, bloß an ihrem schwarzen Schattenriß erkennbar.36 Hatten sich die politischen Machthaber ,Gott' zur Legitimierung und Befestigung ihrer Macht vereinnahmt, so rächte sich die radikale Opposition im Berliner Vormärz, als sie den .Widersacher Gottes' auf ihre Banner erhob. Daß von der Numinosität wenig übrig blieb, versteht sich. Teufel wie Gott sind vielmehr Chiffre im gegenseitigen Propagandakrieg. Für die Leser der Erzeugnisse der von der Zensur verfolgten politischen Presse bedeutete dessen satanischer' Charakter einen echten Kitzel. Mit der Niederlage der 1848/49er Revolution verliert der neuzeitliche Teufel seine Brauchbarkeit. Die in ihrer alten Machtstellung wieder etablierte Obrigkeit läßt sich allerdings der Schablone durch ihre Lakaien bedienen, wenn es darum geht, die liberale und demokratische Volksbewegung wortwörtlich zu ver-teufeln. Mephistopheles feiert eine Art unwürdiger Auferstehung, indem er zum Aufwiegler, in der Sprache der Restauration zum .Wühler' sittsamer Bürger abgestempelt wird, wie etwa in dem 1849 anonym in Karlsruhe erschienenen geistlosen und langwierigen Epos von dem liebedienerischen Geistlichen Sebastian Brandt: Mephisto als Volksmann und Privatlehrer der Wühlologie und Michelswitzerei. In anachronistischen Knittelversen. Als Nachtrag zu Göthe 's Faust. Die politische Karikatur der sechziger Jahre bedient sich gelegentlich einer trivialisierten Teufelsfigur, um die jeweilige Gegenseite zu provozieren. Wieder entdeckt werden Mephisto und seine Nachkommenschaft erst richtig in der parteipolitischen Presse des Deutschen Kaiserreichs. Oft wurde er in Zusammenhang mit der umstrittenen Figur des Reichsgründers evoziert und speziell in der Epoche des Kulturkampfes zwischen Bismarcks Regierungspartei und dem politischen Katholizismus. Ein witziges Beispiel bietet (im Rahmen der ständigen ,Verteufelung' Bismarcks durch das katholische Zentrum) der ,Ulk' im Jahr 1887, aus der Zeit als Bismarck die Zentrumspartei hintertrieb und in Direktverhandlungen mit Papst Leo XIII. einen für das Reich akzeptablen Ausgleich erzielte. Die Szene „Marthens Garten" zeigt unter dem Titel In Liebe verbunden Bismarck-Faust im Vordergrund, wie er in vollkommener Harmonie mit Gretchen-Papst Leo spazieren geht. Hinter ihm mit der dummen Marthe (=Zentrum) geht Mephisto-Windthorst, der Leiter der Partei, mit Degen, Bart und Hahnenfeder deprimiert hinschauend: „Mit Grausen seh' ich das von weitem."37 Besonders raffiniert treibt der kritische Chronist des Deutschen Kaiserreichs Theodor Fontane sein Spiel mit der Schablone der .teuflischen' Allmacht des Reichskanzlers. „In fast allem, was ich seit 70 geschrieben, geht der .Schwefel36 37

Leuchtkugeln. Bd. 4 (1849), Nr. 19, S. 150. Reproduziert in Koch [Anm. 30], S. 589.

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gelbe' um und wenn das Gespräch ihn auch nur flüchtig erwähnt, es ist immer von ihm die Rede", bekannte Fontane in einem oft zitierten Brief an Maximilian Harden aus dem Jahr 1894.38 Als Mitglied des 7. Kürassierregiments trug Bismarck ,schwefelgelbe' Epauletten, was Fontane zur Chiffre für den vermeintlichen Charakter Bismarcks als neuzeitlichen .Leibhaftigen' machte. Die Anspielungen auf den allmächtigen, allgegenwärtigen Politiker Bismarck durchziehen das späte Romanwerk, manchmal leicht nachzuvollziehen, wie wenn von Dubslav Stechlins „Bismarckkopf' die Rede ist (was jenen verdrießt), oder wenn Innstetten seine junge Frau Effi vernachlässigt, weil er ständig von Bismarck beansprucht wird. Manchmal ist die Anspielung sehr versteckt, aber für die Interpretation von Bedeutung, so wenn, ebenfalls in Effi Briest, Bismarcks Papiermühle ganz nebenbei erwähnt wird. Im Kontext eines den ganzen Roman durchziehenden Symbolnetzwerks, das auf obrigkeitliche Kontrolle hinweist (hier der Presse durch Bismarck), gewinnt die Anspielung an Resonanz. Ebenfalls bei den „Schwefelfadchen" im ersten Kapitel des Stechlin, vor allem wenn man die Romane im Kontext der vielen Briefstellen Fontanes den Reichskanzler betreffend, kritisch liest.39 „Dying is easy, comedy is hard", soll das Sterbenswort eines großen englischen Schauspielers gewesen sein. In der Form der Komödie bzw. des Witzes wollen die Gestalter des postchristlichen Teufels seit der Aufklärung uralte menschliche Ängste bannen. Mit der Konsequenz, daß die Vorstellung des Bösen trivialisiert und schließlich negiert wird. In der berühmten 11. Ausgabe der Encyclopedia Britannica vom Jahr 1911, die zu ihren Mitarbeitern Albert Schweitzer zählt, berichtet der Autor des Artikel: „Devil", Α. E. Garvie mit dem Fortschrittsoptimismus seiner Zeit: It may be confidently affirmed that belief in Satan is not now generally regarded as an essential article of the [Protestant! - E.S.] Christian faith [...] science has explained many of the processes of outer nature and of the inner life of man as to leave no room for Satanic 40 agency.

Doch gingen die Ästhetisierung des alten Teufels der Vormoderne wie die Überwindung der Naturfurcht in der Aufklärung auf Kosten der Erschaffung neuer innerer Ängste. ,Der' Teufel wird psychologisiert aber nicht exorziert, die Verlegung in den Menschen scheint die Problematik der kosmischen Angst auf keinen Fall zu bannen. Im 7. Kapitel seines Buches Die Mythologie einer entgötterten Welt geht der Harvarder Germanist Karl Guthke der Herkunft der metaphysischen Farce des 20. Jahrhunderts nach, als einem besonders sinnfälligen Beispiel der menschlichen Ratlosigkeit gegenüber dem mephistophelischen

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Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Abt. IV. Briefe IV. München 1994, S.336. Vgl. Wülfing, Wulf: „Fontane, Bismarck und die Telegraphie." In: Fontane-Blätter 54 (1992), S. 18-31; auch: Sagarra, Eda: „Noch einmal: Fontane und Bismarck." In: FontaneBlätter 53 (1992), S. 29^12. Encyclopedia Britannica. Bd. 7.11. Aufl. New York 1911, S. 123.

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Spruch: „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben" (V. 2509). 41 Wenn wir als Literaturhistoriker mit Guthke den „Ewigkeitsaspekt mit dem historischen" vertauschen, können wir auch den aufklärerischen postchristlichen Teufel zu einem Vorfahren jener „nach-barocken säkularisierten Literaturauffassung" rechnen, die von der Literatur erwartet, daß sie aus eigener Kraft, ohne Verschreibung an eine Ideologie welcher Art auch immer, eine Lebensdeutung vermittle, die an die Stelle deijenigen der nicht mehr überzeugenden institutionalisierten Religion zu treten vermöge.42

Mephisto selber wäre aber höchst skeptisch gewesen. Wie es ihm ja ziemt.

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Brittnacher [Anm. 4] macht auf das Motiv der Wiederauferstehung des Teufels in der heutigen ,Epoche des Körpers' aufmerksam. Guthke, Karl S.: Die Mythologie der entgötterten Welt. Ein literarisches Thema von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Göttingen 1971, S. 352.

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Walpole und Goethe oder Was soll der göttliche Riesenkopf im modernen Wohnzimmer?

Das folgende wenig beachtete kleine Hexametergedicht verfaßte Goethe vermutlich gegen Ende der 1790er Jahre:1 Die Burg von Otranto. Sind die Zimmer sämtlich besetzt der Burg von Otranto, Kommt, voll innigen Grimms, der erste Riesenbesitzer Stückweis an und verdrängt die neuen falschen Bewohner. Wehe den Fliehenden! weh den Bleibenden! Also geschieht es.

Das Gedicht beschreibt den Inhalt des Romans von Horace Walpole aus dem Jahre 1764 The Castle of Otranto und wurde von der Forschung in den Kreis der „Weissagungen des Bakis", d.h. in einen Zusammenhang gestellt, der im 20. Jh. für die Beschäftigung mit Goethe keine zentrale Rolle gespielt hat.2 Aus mehreren Gründen sollte man aber diesen Roman von Horace Walpole3 als ein Buch beachten, das in der Goethezeit ernst genommen wurde und eine nicht geringe Wirkung ausübte. Es geht dabei nicht darum, ein kleines Kuriosum als noch eine ,joy forever' Wiederaufleben zu lassen, sondern darum, eine Kraft zu verstehen, die wesentlich dazu beitrug, die neue klassische Kunst von Vernunft, Politik und sog. gutem Geschmack zu befreien. In der Untersuchung wird zunächst ein Überblick darüber gegeben, welche Bedeutung Walpole für die Literatur seiner Umwelt und Nachwelt gehabt hat. Danach wird der Blick darauf konzentriert, auf welchen Gebieten sich Goethe wohl direkt von Walpole inspirieren läßt. Zum Schluß soll das Gedicht interpretiert werden. The Castle of Otranto hat u.a. auf den folgenden Gebieten entscheidenden Einfluß auf die Literatur gehabt:

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Am zugänglichsten ist das Gedicht zu finden in Goethe: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. 2. Bd. Stuttgart etc. [1902]. Hrsg. von Eduard von der Hellen, enthalten in der von ihm geschaffenen Sammlung „Sechzehn Epigramme" als die Nr. 6 auf S. 82, vgl. die Anm. S. 299. Zum Forschungs- und Deutungsstand vgl. Verf.: ,$akis oder die Verhinderung der Literaturwissenschaft. Über die Funktion des Orakels bei Goethe." In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Jg. 134, Bd. 219 (1982), S. 109-116. Walpole, Horace: The Castle of Otranto. Α Gothic Story. Ed. with an Introduction by W.S. Lewis. London 1964. Der Amerikaner W.S. Lewis kam 1924 per Zufall auf Walpole und hat seither allem Geschmack zuwider sein Leben und seine bedeutenden Mittel in ihn investiert.

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Das zweite Vorwort des Buches von 1765 wurde sogleich von Lessing herangezogen, um aus ihm Argumente für Shakespeare gegen Voltaire zu sammeln. Das Buch ist in seiner ersten Ausgabe unmittelbar vor „Ossian" ein Vorbild für jene dann zahlreichen literarischen Mystifikationen, die nicht einfach zum Spaß dem Leser einen falschen Autor vorsetzen, sondern sich vielmehr programmatisch als eine ideale Symbiose von Vor- und Mitwelt über jede Frage nach Echtheit oder Fälschung bewußt emporheben. Walpole visualisiert im Buch die Disproportion zwischen dem beschränkten Alltagsleben und den viel größer proportionierten Reminiszenzen aus einer edleren und mächtigeren Vorzeit, die jenes Neuzeitliche existentiell in Frage stellt: Gespenstisch tauchen im Schloß u.a. Körperteile und Ausrüstung eines Riesen auf. Dieses Buch war ein einmaliger Wurf, ein Aufruhr gegen den Zeitgeist, aber wurde selber schnell von der Mode aufgegriffen, banalisiert und seither im Lichte dieser Nachfolge betrachtet. Wenn es vor hundert Jahren im Kommentar zum oben gebrachten Gedicht heißt,4 daß Goethe im November 1798 mit Schiller eine „wohl ironisierende Fortsetzung" des Romans erwogen habe, wird von der moderneren Erfahrung aus eine Distanz des klassischen Goethe zum Urvater betont einer nicht enden wollenden Familie von wertlosen .Gothic Novels', von allerlei oft sehr sinnlicher Thriller- und Horrorkunst, in der wieder einmal die ganze Menschheit gerettet wird, bis hin zu Frankenstein, Dracula und heutigen Monsterfilmen. Aber von Walpole selber hat sich Goethe selber nirgends distanziert.

Walpole war wer; er war bereits vor seinem Otranto eine beachtete Kulturpersönlichkeit, zugleich ein unabhängiger Gentleman und nicht ein armer Schriftsteller, der trachten mußte, mit originellen Ideen und Schlüpfrigkeiten für sich ein Publikum zu gewinnen. Seine Exzentrizitäten wurden sozial akzeptiert, auch von kontinentalen Geistesgrößen. Über Horace Walpoles Vita und seine Gründe, The Castle of Otranto zu verfassen, sei das folgende Allgemeinwissen ins Gedächtnis gerufen:5 Horace Walpole lebte 1717-97. Er war dritter Sohn eines mächtigen, umstrittenen, vielleicht korrupten Politikers, wurde standesgemäß ausgebildet (Eton, Cambridge), aber kränkelte sein Leben lang. Nach einer zweijährigen Bildungsreise nach Frankreich und Italien in Begleitung seines guten Freundes Thomas Grey erhielt er ein durch den Vater vermitteltes Amt und ließ sich nach 1749 finanziell unabhängig als Junggeselle auf dem Schlößchen Strawberry Hill nieder, das er im (sog.) gotischen Stil ausbauen ließ. Für seine vielseitige literarische Produktion (u.a. über Gartenkunst) richtete er im Schloß eine eigene Druckerei ein, die 4 5

Goethe [Anm. 1], Bd. 2, S. 299. Walpole [Anm. 3], S. xvii f.

Walpole und Goethe

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sich durch auffallend geschmackvolle Privatdrucke auszeichnete. Politisch hatte er 1764 Enttäuschungen erlebt (später enttäuschte ihn die Französische Revolution) und flüchtete sich in die unpolitische Arbeit an seinem Roman, der nach seiner eigenen Aussage auf einem Traum von merkwürdigen Riesenkörperteilen beruht und sich weiterhin ohne vorgefaßten Plan entwickelte. Das Schloß im Roman setzt sich architektonisch aus Strawberry Hill und Trinity College zusammen. Um seine Anonymität zu wahren, hierunter den Schein, einen Roman aus dem Italienischen zu übersetzen, der zur Zeit der Kreuzzüge spielt und im frühen 16. Jh. entstanden sein will, ließ Walpole diesen Roman ausnahmsweise nicht im eigenen Schloß drucken. „Stückweis" taucht in ihm jener „erste Riesenbesitzer" auf, der schließlich ein Geschlecht von Usurpatoren verdrängt, denn ,ein eifriger Gott heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied'. 6 Die Wunder des Romans erklärt der auch noch in der 2. Aufl. anonyme Herausgeber als katholische Propaganda; überhaupt ist es jenes Vorwort, auf das Lessing Bezug nimmt. Lessing analysiert im 11. und 12. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie vom 5. und 9. Juni 1767 Gespenster bei Shakespeare und Voltaire und bezeugt im 23. Stück vom 17. Juli, daß er besagtes Vorwort von Walpole in französischer Übersetzung gelesen hat. Voltaire hatte in Semiramis ein Gespenst die Moral des Stückes sprechen lassen und sich vor den Angriffen seiner aufgeklärten Zeitgenossen mit dem Gespensterglauben früherer, religiöserer Zeiten verteidigt. Aber wo man bei Voltaire ein Gespenst am heilichten Tage aus der Gruft vor eine Versammlung treten sieht, erscheint bei Shakespeare Hamlets Vaters Geist unter solchen Umständen, daß der Zuschauer schaudernd daran glauben muß. Shakespeare läßt zudem nicht eine Maschine erscheinen, sondern eine handelnde Person, und nicht als Wunder, sondern als natürliche Begebenheit. Walpole hatte im Vorwort sein Programm verkündet: Er will Altes mit Neuem vereinigen. Das balladeske Milieu bleibt bestehen, aber seine Hauptpersonen reagieren im Roman so, wie es gebildete Menschen in außerordentlichen Situationen immer tun, bleiben also ruhig. Die Domestiken sind einfachere Leute, reagieren auf Phantastisches erregt und haben Humor wie bei Shakespeare die Totengräber. Laut Voltaire seien seine Pariser zu poliert, um dergleichen zu tolerieren; zudem gebe es 800.000 Pariser, die wohl als Geschmacksinstanz mehr ins Gewicht fallen müßten als z.B. seinerzeit 30.000 Athener. Was guten Geschmack und gutes Benehmen anbelangt, befinden sich aber Walpoles Helden und Schurken durchaus auf der Ebene seiner eigenen Zeit. Der Hauptschurke Manfred ist keineswegs, wie behauptet wurde, die Personifizierung der Idee des Bösen, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch, verdrängt sein Wissen um die Ursünde seines usurpatorischen Geschlechts und fühlt sich verpflichtet, dynastisch zu denken und zu handeln; es geht ihm keineswegs um

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Exodus 20,5 nach Luther. „Stückweis" kann entsprechend den ersten Brief an die Korinther 13,12 zitieren.

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eigene tierische Lust. Bereits gegen Ende des 2. Kap. heißt es über ihn lobend: „Manfred's heart was capable of being touched",7 und schließlich verkündet er die Moral von der ganzen Geschieht'. Die couragierteren Gestalten, zumal die Damen, vermeiden auch in den gespenstischsten Situationen nach Möglichkeit jeden Verstoß gegen den Konversationston und wissen ihn immer elegant zu retablieren. Das gänzlich Neue bei Walpole im Vergleich mit allen, die vor ihm entweder im Balladenton oder im Konversationston schrieben, besteht in der Verständlichkeit, mit der die beiden ohne jede Ironie verschmelzen. Die Personen denken wie später die Baronesse in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, wo es ja auch von Gespenstern und anderen einbrechenden Anomalitäten nur so wimmelt und man aus der Politik aussteigt, vor allem daran, möglichst lange nett zu einander zu bleiben, nicht um konventionellem guten Geschmack zu folgen, sondern aus Herzenshöflichkeit. Schließlich gewöhnt man sich ja auch an Absurditäten wie im dritten von den fünf Kapiteln in Walpoles Roman: Manfred, almost hardened to preternatural appearances, surmounted the shock of this new prodigy; and returning to the hall, where by this time the feast was ready, he invited his silent guests to take their places.8

Lange vor Walpole hatte Horaz am Beginn seiner Ars poetica vor Inkommensurabilitäten in der Kunst gewarnt. Ein Meerweib, oben schönes Weib, unten häßlicher Fisch, wäre ein lächerliches Gemälde, im hybriden sog. Kunstwerk gestalteten sich zum heterogenen Ganzen Menschenhaupt, Pferdehals, dann buntes Gefieder und schließlich grauer Fisch; demgegenüber solle der literarische Text Kopf und Fuß haben und eine echte Einheit bilden, nicht heterogen bleiben wie die Fieberträume eines Kranken: „velut aegri somnia" (Vers 7). Horace Walpole aber nimmt von dieser klassizistischen Regel Abstand, indem er den größeren Horace falsch zitiert; statt dessen Warnung vor derlei inhaltslosen Erscheinungen, „ut nec pes nec caput uni / reddatur formae" (Vers 8f.), lobt sich Walpole vielmehr das naturwidrige Meerweib, das widersprüchliche Konglomerat „tarnen ut pes et caput uni / reddantur formae".9 Bei ihm stoßen unvereinbare Welten zusammen, aber der Effekt besteht darin, daß man das hinnimmt. Das entstellte Motto wollen wir dabei als eine zentrale Chiffre verstehen, nicht nur fur das Verständnis von Walpole, sondern auch für die Reaktion Goethes auf Walpole, um die es uns im Folgenden gehen soll. Für Walpole gilt, daß auf dem Titelblatt ein kleines, scheinbar aus lateinischen Hexametern bestehendes Zitat gebracht wird, erklärend steht darunter „Horace". Der Leser liest über ein solches Motto schnell hinweg und bezieht es ohne weiteres auf den lateinischen Dichter Horaz; ist er genügend gebildet, hört er irgendwie die Ars poetica durch. Kaum einer bemerkt, daß der Wortlaut des Römers entstellt ist, geschweige denn faßt er die Signatur als die des Autors Horace Walpole auf, der ja ohnedies mit eigenem Namen nicht aufzutreten scheint. 7 8 9

Walpole [Anm. 3], S. 55. Walpole [Anm. 3], S. 63. Walpole [Anm. 3], S. iii.

Walpole und Goethe

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Erst spät hat man überhaupt die Entstellung des Zitats angekreidet und sich kurz gefragt, ob sie etwa bewußt sei.10 Für Goethe gilt in dem Zusammenhang, den wir hier vor Augen fuhren möchten, daß er am Frauenplan im schmucken Empfangszimmer zwar nicht ein ungefüges Meerweib in Lebensgröße unterbringt, wohl aber seinen kolossalen Junokopf, dem kein Besucher gewachsen sein sollte. Und dem Roman des gotisierenden Walpole widmet Goethe schließlich, wie wir sehen werden, ein klassizistisch so durchgearbeitetes Hexametergedicht, daß es die Formschönheit eines Horaz übertrumpfen will, um auf diese Weise, dies unsere These, die Inkommensurabilität noch weiter zu steigern. Außer mit seinem Roman wirkte Walpole auf Deutschland mit seinem Schicksalsdrama von 1768 The Mysterious Mother, in dem der klassisch griechische unbeabsichtigte Inzest zwischen Mutter und Sohn zum Untergang fuhrt. Das Stück war zunächst im Privatdruck, dann aber 1796 öffentlich erschienen, wo es im Zuge der damaligen pornographischen Welle auf ein Interesse stieß, das fur ein paar Jahrzehnte als Schicksalsdramen Lüsternheit und Kriminalität mysteriös zu vereinen wußte. Wohl wider Willen hatte Walpole somit zum zweitenmal eine schnell populäre Dichtungsart inauguriert und Geister gerufen, die man nicht ohne weiteres wieder los wurde. Der wesentliche Unterschied ist aber der, daß er hier nicht wie mit The Castle of Otranto außer einer neuen Mode auch eine wichtige Einsicht in das Wesen der Kunst formulierte. Schiller wußte von diesem Stück erst 1798, als er es am 9. März im Brief an Goethe erwähnt, und Goethe merkt in den Annalen für das Jahr 1800 an: Die Bearbeitung verschiedener Stücke, gemeinschaftlich mit Schiller, ward fortgesetzt und zu diesem Zweck das Geheimnis der Mutter von Horace Walpole studiert und behandelt, bei näherer Betrachtung jedoch unterlassen.11

Im Zuge der allgemeinen Beliebtheit von Gespenstergeschichten entwickelte ihre gotische Abart dann bereits bei Jane Austen ironische Züge. Andere steigerten Text und Effekte bis zu einem Umfang, der vielen lächerlich vorkam. Statt Walpole als den Inaugurator der ,Gothic Novel' kann man ihn aber ebenso gut als ein frühes Beispiel fur jene literarischen Mystifikationen sehen, die vom Autor künstlerisch ernst gemeint waren und vom Publikum oft ernst genommen wurden. Genannt wurde Ossian; zu nennen wären z.B. Hoffmann von Fallerslebens flämische Nationalhymne „Viaenderen boven al!"12 oder Meinholds Bernsteinhexe, die beide durchaus eine Pseudovorzeit so zu bezeugen schienen, wie es eine Umwelt gerne sah. Hiermit wären Zeugnisse dafür erbracht, daß Walpole erstens an ein paar Stellen für den zeitgenössischen deutschen Literaturbetrieb vielleicht nicht so unbedeutend gewesen ist, wie man heute unmittelbar annehmen müßte, und da10 11 12

Walpole [Anm. 3], S. xiii. Goethe [Anm. 1 ], Bd. 30, S. 66. Unter seinem Namen als Beginn der lyrischen Sammlung altniederländischer Lieder „Loverkens", also als uralte Nationalhymne (,Flandern über alles'), in: Horas Belgicae. 8. Bd. Göttingen 1852; zur ursprünglichen Mystifikation vgl. das Vorwort S. IV f.

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für, daß zweitens Walpoles z.T. nicht legitime geistige Nachkommen allerhand Schund produziert haben. Auf Dracula wurde hingewiesen. An sich kaum mehr als das Kuriosum, das wir oben zum ungenügenden Grund erklärten, Walpole für eine Weile von den Toten gespenstisch wiederkehren zu lassen. Noch fehlt, was Lessing an Hamlets Vaters Geist lobte,13 das Erlebnis einer intensiven Kraft, der man sich beugen zu müssen glaubt. Walpole teilt mit Goethe die Freude am Begriff des Gotischen und zugleich auch an dem, was Goethe Disproportion nannte; bei Walpole liegt dabei weniger eine philosophische Haltung zugrunde. Und einem reichen Mann gönnt man seine Marotten. Als besonders originell mußte die schrullige Idee anmuten, ganz und gar moderne, psychologisch verständliche Romanfiguren, mit denen sich der Leser identifiziert, vor naturwidrige balladeske Geschehnisse zu stellen, die groteske Züge tragen und irgendwie Himmlisches oder Höllisches zu melden scheinen, also der „attempt to blend the two kinds of romance, the ancient and the modern" (Vorwort),14 wobei die Folge die ist, daß der Mensch manche unbeabsichtigte Fehler begeht, sie aber zu bereuen weiß, wenn seine wie immer gutgemeinten Pläne mit denen Gottes kollidieren. Die Mischgattung, sowohl Fisch als auch Fleisch, nannte Walpoles Umwelt mit einem schmunzelnden Oxymoron .Gothic Novel'. Aber für Walpole selber war das Gotische eine Manie und er der erste und vielleicht für immer der einzige, der sein Leben und seine Mittel in eine solche Manie zu investieren vermochte. Auf einmal wurde aus dem Gotischen mehr als Ruinen im Garten und Analysen veralteter, meist belächelter Architektur, mehr als eine Gespielin für Nebenstunden, anderes als amüsante Reminiszenzen aus barbarischen Zeiten, wie sie das Adjektiv auch in seiner italienischen und seiner französischen Form ,gotico' bzw. ,gothique' abwertend wiedergegeben hatte. Er baute das ganze Schloß gotisch um, „stückweis" und entsprechend asymmetrisch. Und noch wichtiger: Mit Walpoles Ruhm und seinen Möglichkeiten, nach eigenem Geschmack zu leben, verbindet sich sein nicht ganz unberechtigter Stolz, in Shakespeares Namen ,sein Jahrhundert in die Schranken zu fordern'. Noch Schiller denkt klassizistisch, wo er „die gotische Vermischung von Komischem mit Tragischem" anmerkt. Dieses Zitat findet sich in Hermann Pauls Deutschem Wörterbuch im Artikel „gotisch" unmittelbar vor dem folgenden Satz: „Goethe hat das Wort zu Ehren gebracht".15 Mag ein solches Votum auch später als zu pauschal relativiert worden sein, so hat H. Paul insofern recht, als besonders mit Goethe dieses Adjektiv im Deutschen seinen positiven Klang erhielt, zunächst weniger als Bezeichnung einer internationalen Stilepoche denn als die einer zeitübergreifenden, antiklassischen und damit antimediterranen Gegenkultur, als dialektische Stufe auf dem eigenen Weg zu einer neuen Klassik. Das überrascht an sich nicht. „In einem hochgewölbten, engen, gothischen Zimmer"16 hebt die Fausttragödie an. Man könnte versucht sein, das Adjektiv 13 14 15 16

S. oben. Walpole [Anm. 3], S. 6. Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. 3. Aufl. Halle 1921, S. 219. Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 12. Stuttgart etc. 1828, S. 29.

Walpole und Goethe

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wie damals mit ,th' zu schreiben, um seine Sonderbedeutung zu markieren, und kommt dann um jenes Wortspiel nicht herum, das zumindest die Zeitgenossen zur Genüge durchexerzierten, eine Seite an Goethe ,gothisch' zu nennen. Im „gothischen Zimmer" stellt sich der Erdgeist ein. Wie der aussieht, konnte vor Goethe keiner wissen, aber sein Erfinder hat ihn um die Jahre 1810— 12 fur eine Theaterauffiihrung skizziert; die Zeichnung dürfte allgemein bekannt sein. Fausts Zimmer ist eng und hoch, an der Rückwand findet sich ein Spitzbogen. Rechts steht Faust am Pult, links der Sessel mit seinen barocken, fast raubtierhaften Lehnen und Beinen. Im Spitzbogen erscheint der Erdgeist als kolossales Brustbild, als gewaltiger, 4 bis 5mal Fausts Größe, „apollinischer Kopf mit antikisierenden Zügen" (Trunz)17: nackt, lockig; von seinem Haupt gehen Strahlen aus wie von einer Sonne. Das Übergroße, Ungefüge bricht ins traute Wohnzimmer. Dimensionen, die fur den Menschen zu groß sind, zeigen ihm zumeist, daß er noch ein Kind ist; diese Erfahrung macht in der Kindheit jeder, und sie wird ihm fortwährend von propagandistisch heldenhaften Monumentalstatuen oder von übergroßen Türen und entsprechend zu hoch sitzenden Türhandgriffen an öffentlichen Prachtgebäuden aufoktroyiert, immer als Teil einer gesellschaftlich geregelten Domestizierung des Individuums. Seit Walpole aber begegnet dem Menschen, der sich bisher als erwachsen und mündig betrachtete, eine persönlich gezielte Herausforderung an die bisherigen Proportionen seines Lebens, der er seinerseits offen entgegentritt mit der Frage, wessen Existenz die stärkere sei und vor der anderen standhalte. Bei Walpole kommt diese Disproportion als visueller Schock zum Ausdruck: In den Burghof fällt ein übergroßer Helm und tötet den Sproß der Familie; später wehen die Helmfedern vielsagend. Man öffnet die Tür zum Saal und sieht nichts als einen kolossalen geharnischten Fuß. Angereiste bringen im Aufzug ein Riesenschwert. Garniert werden diese zentralen Disproportionen, diese Erschütterungen durch die Größe XXL mit Waffenlärm bzw. mit unheimlicher Stille, mit Skeletten in Kutten und verstorbenen Großvätern, die seufzend aus ihren Gemälderahmen treten, alles also weniger in Horror als in entwaffnenden, weil oft verwirrenden Humor getaucht, bis am Ende Alfonso als sprechender Riese himmelan fährt und dort empfangen wird, sehr überkatholisch für den strikten Antikatholiken Walpole. Der dramatische Kampf zwischen einem Gut und einem Böse wird eher zum dramatischen Timbre, wo die Wirrnisse interessanter sind als die Schlußmoral. Gotisch heißt unübersichtlich, Disproportion heißt Unvereinbarkeit ohne sofortigen Richterspruch. Zum geflügelten Wort wurde der Begriff der Disproportion durch Goethe, der bekanntlich seinen Tasso die Disproportion des Talents mit dem Leben nannte. Für den naiven Leser stirbt dabei der Dichter Tasso daran, daß er noch ein unmittelbares Kind und daher ein größerer Mensch ist; dem reflektierteren Leser stellt sich die Frage, ob wirklich das Kind größer ist als seine reifere höfi-

17

Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 3. 5. Aufl. 1960, S. 496 (Kommentar zu Vers 460).

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sehe Umgebung, ob nicht vielmehr noch einmal rückblickend eine falsche Tendenz in ihren Konsequenzen dargestellt wird. In anderem Zusammenhang hat Goethe die Disproportion visualisiert. In Rom schaffte er sich, wie in seiner Italienischen Reise unter dem 6. Jan. 1787 zu lesen ist, den bekannten Gipsabguß vom Junokopf aus Marmor an, der zu Jesu Zeiten nach einem griechischen Original aus dem 4. Jh. entstanden war: Zu meiner Erquickung habe ich gestern einen Ausguß des kolossalen Junokopfes, wovon das Original in der Villa Ludovisi steht, in den Saal gestellt. Es war dieses meine erste Liebschaft in Rom, und nun besitz' ich sie. Keine Worte geben eine Ahnung davon. Es ist wie ein Gesang Homers. [...] Heute, als am Dreikönigsfeste, habe ich die Messe nach griechischem Ritus vortragen sehen und hören. Die Zeremonien scheinen mir stattlicher, strenger, nachdenklicher und doch populärer als die lateinischen. Auch da hab' ich wieder gefühlt, daß ich für alles zu alt bin, nur fürs Wahre nicht. Ihre Zeremonien und Opern, ihre Umgänge und Ballette, es fließt alles wie Wasser von einem Wachstuchmantel an mir herunter. Eine Wirkung der Natur hingegen, wie der Sonnenuntergang von Villa Madama gesehen, ein Werk der Kunst, wie die viel verehrte Juno, machen tiefen und bleibenden Eindruck.18

Aus dem „Bericht April 1788" nach dem Umzug in eine andere Wohnung wäre hinzuzufügen: Den ersten Platz bei uns behauptete Juno Ludovisi, um desto höher geschätzt und verehrt, als man das Original nur selten, nur zufallig zu sehen bekam und man es fur ein Glück achten mußte, sie immerwährend vor Augen zu haben; denn keiner unsrer Zeitgenossen, der zum erstenmal vor sie hintritt, darf behaupten, diesem Anblick gewachsen zu sein. [...] Juno Ludovisi war der edlen Angelica zugedacht, 19

aber das hinderte bekanntlich Juno nicht, schließlich und noch heute in dem nach ihr benannten Zimmer am Frauenplan zu stehen, wo sie den Besucher durch ihre Disproportion zu den normalen Möbeln irritiert und vielleicht seinen guten Geschmack beleidigt. Ins Kleine Eßzimmer stellte Goethe den großen Zeuskopf von Otricoli, den er 1813 erwarb; es gibt in seinem Haus weitere Beispiele für diesen gezielten Effekt. Wer behält dann Recht, Juno oder das Zimmer? Das Bedürfnis, das Schöne täglich vor Augen zu haben, fuhrt leicht dazu, daß es so zu einem Teil des Alltäglichen wird. Goethe scheint sein Leben lang daran gelegen zu sein, diese Abflauung zu vermeiden und nicht zuletzt den Besucher in seinem Empfangszimmer durch Gewaltigeres einzuschüchtern als durch die Begegnung mit dem Geheimrat. Die bewußte Beunruhigung durch die unverhoffte Begegnung mit der Disproportion kann Goethe von Walpoles Roman gelernt haben. Die auffallende Sorgfalt, die Goethe auf die Form seines Gedichtes zu diesem Thema gewandt hat, mag ein mehr als vorübergehendes Interesse am Sujet und an der Bedeutung bezeugen, die es bei aller kuriosen scheinbaren Leichtgeschürztheit als Reflexion über Sinn und Aufgabe der Kunst aufweist. Man könnte behaupten, daß die Kunstanschauungen, mit denen Walpole seinen Roman begleitet, durch Goethes Gedicht weiterhin gesteigert werden. 18 19

Goethe [Anm. 1], Bd. 26, S. 179. Goethe [Anm. 1], Bd. 27, S. 268.

Walpole und Goethe

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In seinem Vorwort zur ersten Auflage des Romans vom 24. Dez. 1764 hatte sich der anonyme Herausgeber auf Angaben und Kommentare zur fiktiven italienischen Textvorlage beschränkt, die 2. Auflage vom April 1765 enthält demgegenüber zwei sehr verschiedene Erweiterungen. In einem zweiten Vorwort bekennt sich der noch immer anonyme Autor als Zeitgenosse und entwickelt er sein ästhetisches Programm. Danach gibt es ein Widmungsgedicht mit der Signatur „H.W". Walpole baut hiermit seine Argumentation nach zwei Seiten aus; das Vorwort begründet den Text mit Erfolg literaturpolitisch, während das Gedicht allerergebenst den Roman einer mit Namen genannten vornehmen Dame zu Füßen legt, die sich günstig über alles Mißlungene an diesem Werkchen hinwegsetzen und über die Schwächen ihrer unglücklichen Schwester, der Heldin des Romans, Tränen des einfühlenden Mitleids ergießen möge.20 Diese Heldin überhaupt zu erwähnen hat derjenige nicht für nötig gehalten, der hier das Neue an Walpoles Werk betrachtete. Es handelt sich um die Tochter Manfreds, die unschuldig und unglücklich liebt und leider irrtümlich von ihrem Vater erstochen wird, aber es noch im Sterben schafft, ihm und allen um sie zu vergeben. Wenn man aber anderseits den Inhalt dieses Buches auf das konzentrieren möchte, was primär einen Leser fasziniert, der ungern Vorworte liest, bietet The Castle of Otranto deutlich zwei entgegengesetzte Möglichkeiten. Entweder man hebt ohne Rücksicht aufs Romanganze die Elemente von Horror hervor, wie sie Walpoles Nachfolger zu Steigerungen inspirierten, oder man bedauert derlei als Entgleisungen und wendet sich an den gefühlvollen Leser primär weiblichen Geschlechtes, in diesem Fall sogar mit einem Sonett, das in vornehmer leicht altertümelnder Sprache mit rhetorisch-dialektischer Courtoisie eine Wandlung der Tränen, welche die schöne Lady über die holde Matilda weint, in ein segnendes Lächeln erhofft, das dem Autor gilt. In seiner Gattung ist das Gedicht perfekt. Dies sei betont, ehe wir den Blick auf Goethes Epigramm über denselben Roman richten, um daran zu erinnern, wie sehr dort das an sich gleiche Thema ganz andere Gedanken hervorruft. Goethe tut die Greuel leicht humoristisch ab und ignoriert alle zarten Gefühle, aber er macht auch einen Schritt über Walpoles literarisches Programm hinaus, denn er kleidet eine willentlich möglichst antiklassizistische Handlung in klassizistische Hexameter und ist also, indem er Walpoles gesprengte einmalige Form sich zu anerkannter Vollendung ballen läßt, um eine höhere Synthese bemüht. Es wird uns im Folgenden darum gehen, nachzuweisen, daß dieses Gedicht Goethes formal zu dem Besten gehört, was er auf dem Gebiet der Hexameter geleistet hat. Formale Wertungen der Hexameter der Goethezeit hängen von geschulten Geschmacksrichtungen ab.21 Wo bei der heutigen ästhetischen Beurteilung von Gedichten aus früheren Epochen meist eine Unsicherheit herrschen muß, ob das eigene Urteil damaligen Intentionen gerecht wird, sind wir ausgerechnet, was

20 21

Walpole [Anm. 3], S. 13. Mit diesem Thema beschäftige ich mich seit bald 40 Jahren, vgl. Verf.: Neuere deutsche Metrik. 2., Überarb. Aufl. Berlin 1997, Kap. 6, und Verf.: Mörikes Metra. Flensburg 2000, Kap. 3.

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den Umgang der 1790er Jahre mit deutschen Hexametern und Pentametern anbelangt, besonders gut orientiert. Nachdem, ohne daß es etwa neue historische Einsichten gegeben hätte, beim Vortrag klassischer lateinischer (und griechischer) Hexameter und anderer Metra in deutschen Schulen seit Scaliger das Skandieren, d.h. die Wiedergabe des sog. Iktus = guten Taktteils durch eine oft prosawidrig akzentuierte Silbe um sich gegriffen hatte, nimmt die neue deutsche Literatur um 1750, die in mehreren Richtungen auf metrische Neubesinnung aus ist, u.a. durch Klopstock auf modifizierte Weise diesen Sound für ihre Hexameter auf, d.h. der Hexameter ahmt die sechs antiken Versfuße durch sechs jeweils mit einer akzentuierten Silbe anhebende Takte nach, die vier ersteren sind drei- oder zweisilbig, der fünfte dreisilbig und der sechste zweisilbig, was genügt, um einen akustisch wiedererkennbaren epischen Vers zu bilden, der sich immer schön vortragen läßt, es sei denn, daß am Beginn des Verses durch zu legeren Umgang des unbekümmerten Verfassers mit kürzeren Wörtern, von denen im Kontext einige unbedingt, andere eben nicht akzentuiert werden sollten, dem Vortragenden auf Anhieb der Vers unklar erscheint. Vielen Deutschen kam der neue deutsche Hexameter, der auch an feierlich gehobene Prosa und an germanisch antifranzösische Füllungsfreiheit gemahnen mußte, als ein großer ästhetischer Fortschritt vor, nicht zuletzt gefühlvollen Damen um Klopstock, denen vergleichende Erfahrungen aus der Metrik der Antike fehlten. Anders reagierten natürlich die klassischen Philologen. Für den klassischen Hexameter gibt es bei relativ freier Wortstellung Möglichkeiten der raffiniert komprimierten Wortarrangements, darunter der als erhaben aufgefaßten Wortspiele, an die des deutschen Springquells flüssige Säule mit ihrem melodischen Herabplätschern nicht herankam, weil im 18. Jh. die Kunst nach einfacher Natürlichkeit strebt und eine nörgelnd geistreiche, zunächst gar nicht überschaubare Kunstfertigkeit für Kenner, die z.B. dem Leser ein einziges Distichon von Catull erst nach minutenlanger Analyse erschließt, dem aufgeklärten Deutschen mit seinen Vorstellungen von der Antike geschmacklos, ja geradezu gotisch vorkommen muß. Johann Heinrich Voß und seine Schule haben bekanntlich versucht, mit u.a. gelegentlichen Tonbeugungen in der Hexametermitte wie Düsterer zog Sturmnächt, graunvöll rings wogte das Meer auf 22

eine kunstvolle Spannung in den sonst nur dahinplätschernden Langvers zu bringen und ihn zugleich trotz solcher Antiprosaismen eindeutiger lesbar zu machen. Aber sie bleiben dabei national eine Randerscheinung; Andreas Heusler nannte in seiner Metrik ihr Vorgehen undeutsch. Daß ein deutscher Hexameter erst nach Studien in der lateinischen Metrik und der deutschen Phonetik mehr als nur willkürlich werden konnte, erkannten an sich viele, außer J.H. Voß auch vor ihm Klopstock und neben ihm Karl Philipp Moritz. Ob solche Studien dann zum Erfolg fuhren würden, war aber nicht gegeben; schließlich starb denn 22

Voss, Johann Heinrich: Zeitmessung der deutschen Sprache. Königsberg 1802, S. 248.

Walpole und Goethe

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auch der deutsche Hexameter wieder aus, abgesehen von anhaltenden dilettantischen Einfuhlungsversuchen bei Brecht und anderen. Goethe bemüht sich redlich, Beihilfe leisten ihm A.W. Schlegel und der jüngere Voß. Seine Bestrebungen, sich antiker Form zu nähern, konzentrieren sich auf ein Jahrzehnt und umfassen nicht die lyrischen Metra. Daß seine Hexameter zumeist formal nicht interessant waren und allenfalls bei breiten Schichten als unauffälliges Vehikel für gemütliches Geplauder ankamen, bezeugen Werke wie Hermann und Dorothea und Reineke Fuchs. Goethe spürte das selber genau so sehr, wie es seine Zeitgenossen bemerkten. Hier soll eine späte und andersartige Aufwertung Goethes folgen. So wie wir oben Horace Walpole als graue Eminenz hinter manchen teilweise gruseligen Entwicklungen in der Literatur sahen und seinem Castle of Otranto eine wesentliche Bedeutung für Elemente in der Kunstanschauung Lessings und Goethes zusprechen möchten, wollen wir besondere metrische Qualitäten an Goethes Hexametergedicht zu diesem Roman nachweisen und sie daher erklären, daß er ebenso durch seine Arbeit daran, Disproportionen in Walpoles Roman (göttliche Größe und alltäglichen Anstand, Horror und Humor) auf einen Nenner zu bringen, gezwungen wird, einmal ein paar Hexameter gründlich durchzuarbeiten. Auf dem Wege des Gotischen dringt auch so neue gebändigte Inspiration in die Klassik. Von der Überschrift wird unten zu sprechen sein. Der erste Vers lautet:23 Sind die Zimmer sämtlich besetzt der Burg von Otranto

und liest sich metrisch ν V —/ — vv

,

indem wir hier die Versfußgrenzen nicht, die Zäsur mit / und die zweisilbigen mehr oder weniger spondeischen Füße der Einfachheit halber alle als Spondeen bezeichnen. Die zwei Silben im Wort „Zimmer" sind im Deutschen nicht eindeutig ein Spondeus — und die Folge von drei Silben „sämtlich be" ist ebenso wenig eindeutig ein Daktylus - ν ν. Eine so genaue Unterscheidung der Länge von nicht akzentuierten Silben im Deutschen ist nicht möglich. Man versuche die Gegenprobe: dieselben Wörter müßte man bei anderer Ordnung metrisch anders lesen: stünde im Vers „*Sämtlich sind die Zimmer besetzt", wären auf einmal die zwei Silben im Wort „Sämtlich" ein Spondeus — und die Folge von drei Silben „Zimmer be" - ν ν ein Daktylus. Wie die nicht-akzentuierten Silben in den Wörtern „Zimmer" und „sämtlich" zu messen sind, hängt also in deutschen Hexametern dieser Art nicht nur von ihnen selber ab und gehört nicht in diese Stufe der metrischen Interpretation. Wir erkennen zwei zweisilbige (spondeische) Füße und dann vor der Zäsur die Figur - ν ν - . In diesem ganzen ersten Teil des Verses fangen alle druckstarken Silben mit dentalen Konsonanten an und sind alle druckstarken Vokale palatal. Somit bleibt dieser Teil phonetisch eine wenig variierte Einheit, während die zweite Hälfte des Verses 23

Für das ganze Gedicht siehe oben.

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den phonetischen Kontrast bietet mit seinen velaren druckstarken Vokalen „der Burg von Otranto". Metrisch ist der 6. Fuß dadurch prägnant, daß er jedenfalls nicht mit einem eindeutig schwachen Trochäus - ν schließt. Inhaltlich befindet er sich auch auf einer anderen, hier weniger alltäglichen Ebene, indem er im Gegensatz zur ersten eine quasi poetische Einheit bildet, die sogar vom Kasus abgesehen mit der Überschrift identisch ist. Der ganze Vers bildet einen Satz, aber keinen selbständigen Hauptsatz, keine für sich stehende Aussage, keine Sentenz. Es könnte sich freilich um einen Frage- oder Ausrufesatz handeln, aber die Deutung hängt von einem Folgenden ab, das also zu erwarten ist. Aus dieser Folge erfahren wir, daß es sich um einen Nebensatz gehandelt hat, aber als solchen charakterisiert ihn nur die Wortstellung, nicht irgendeine unpoetische Konjunktion. Zu bemerken wäre noch die ganz auffallende Syntax dieses ersten Verses: Der Genitiv „der Burg" steht weit getrennt von dem Glied, dem er untergeordnet ist, dem Wort „Zimmer". Natürlich wird er durch diese Extraposition im Satz noch kräftiger gewichtet und ein Beispiel der unprosaischen Kunstsprache entwickelt, wie sie in deutscher Sprache besonders in seriösen Gedichten raffinierterer Dichter wie etwa Mörike oder Rilke vorkommt. Von Goethe ist er so untergebracht, daß das Raffinierte kaum auffallt. Voß hat es kaum jemals vermocht, eine geballt unprosaische Syntax, wie sie die antiken Metra nahelegen sollten, so wenig stören zu lassen. Der zweite Vers bringt (nicht, wie es v.d. Hellen in der Jubiläumsausgabe glaubt, der nach dem zweiten Vers ein Komma setzt, den Hauptsatz, sondern) den Beginn des Hauptsatzes, der die Verse zwei und drei füllt und somit syntaktisch die drei ersteren Verse zur Einheit gestaltet, die quantitativ mit dem vierten Vers kontrastiert. Der zweite Vers lautet Kommt, voll innigen Grimms, der erste Riesenbesitzer

und liest sich metrisch VV- /

vv

.

Die Zäsur steht also früher, aber ebenfalls nach der Figur - ν ν - . Außer der eigentlichen Zäsur enthält der Vers auch so etwas wie eine zäsurartige Pause mitten im 1. Fuß, wodurch er sich angenehm vom dritten Vers unterscheidet, der sonst metrisch identisch wäre. Da wie angeführt der Satz diese beiden Verse umfaßt, bilden die Vokale ein größeres und entsprechend komplizierteres Muster, das hier nicht analysiert werden soll. Dafür bringt die Erfahrung aus mehreren Versen ein breiteres Material für betont kraftvolle Hexameterausgänge und an sich auch für entsprechende Versanfange, die im Laufe der drei ersten Verse immer wuchtigere Spondeen werden. Diese Entwicklung ins immer Intensivere bildet ebenfalls einen Kontrast zum Zerfall der Syntax und der klaren Handlung im vierten Vers. Nachdem im ersten Vers phonetisch und syntaktisch die Welt aufgespalten wurde, machen sich im zweiten und dritten inhaltlich die Verstöße gegen die Norm des Alltags breit: Auf das vielleicht unheimliche neue Kompositum „Riesenbesitzer" folgt unmittelbar, nur durch die nicht syntaktisch bedingte

Walpole und Goethe

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Kunstpause des Verswechsels getrennt, der verwirrend unpathetische Begriff „Stückweis", der die Handlung humoristisch relativiert. Das Ende bringt keine klare inhaltliche Moral und löst sich auch metrisch wie syntaktisch auf. Der vierte Vers lautet Wehe den Fliehenden! weh den Bleibenden! Also geschieht es

und liest sich metrisch - ν ν —ν ν /

vv/-vv

oder vielleicht besser -vv-vv- /— vv-vv

.

Am wichtigsten ist natürlich, daß nur Goethes individuelle Interpretation der Silbenzahl im Ausrufewort „Wehe" bzw. „Weh" einen Unterschied zwischen dem l.und dem 3. Fuß hervorruft. Kritisch würde man sagen, daß Goethe lediglich deshalb so vorgeht, um lauter Daktylen in den ersten vier Versfüßen zu vermeiden - „*Wehe den Fliehenden! Wehe den Bleibenden!": -vv-vv-vv-vv.

Aber durch diese Variation erreicht Goethe anderes: die Fliehenden fliehen wie die Daktylen, aber die Bleibenden bleiben eine Weile stehen. Und „Also" klingt an der Stelle recht logisch, aber kann dabei vielerlei bedeuten. Mit diesen Hexametern hat sich Goethe eben Mühe gemacht, wie wir es möglichst kurz nachzuweisen versuchten. In populäreren Zusammenhängen achtet er weniger auf die klassische Form und stören ihn die vielen Daktylen nicht wie im allerersten Vers eines berühmten Epos, wo diese Daktylen auch noch ins amphibrachytisch Walzerhafte v-v/V-V

ausarten, wie es durch die Interpunktion verdeutlicht sei: Pfingsten das liebliche Fest war - gekommen - es grünten - und blühten.

Goethes schlechtester Hexameter dieser Art steht in den Römischen Elegien, wo es (mit hier karikierend verdeutlichter Interpunktion) heißt Weiter - nach Napel - hinunter - und wär' er - nach Smyrna - gesegelt,24

aber dort handelt es sich um eine Parodie, denn dort besingt Goethe, wie gräßlich man auf Reisen von internationaler Trivialmusik verfolgt wird. An Stellen, wo er wie in den Römischen Elegien um Klassisches im engeren Sinne des Wortes bemüht ist, weiß er es durchaus, sich mehr Mühe zu geben als in seinen großen Hexameterepen. Uns ging es hier darum, daß sein Gedicht „Die Burg von Otranto" zu jenen gehört, bei denen sich Goethe formal Mühe gemacht hat. 24

Zweite Elegie, Vers 11.

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Wir wollen daraus die Lehre ziehen, daß eben dieses gotische Sujet mit seinen Disproportionen ihn zum Ringen um eine höhere klassische Formkunst angespornt hat. „Die Burg von Otranto" läßt sich u.E. durchaus ernstnehmen als eine geheime Weisheit, als Abraxas. Zur Überschrift: Die Sammlung „Sechzehn Epigramme", aus der das Gedicht hier zitiert wird, stammt in ihrem Arrangement nicht von Goethe und scheint eigens für die Jubiläums-Ausgabe zusammengestellt worden zu sein. Dort tragen von den sechzehn Gedichten die vier eine mehr oder weniger überflüssige Überschrift. Goethe selber redigierte seine Sammlungen meist so, daß entweder alle Gedichte eine eigene Überschrift tragen oder keins es tut wie etwa in den „Weissagungen des Bakis". In den ebenfalls hier vergleichend heranzuziehenden „Zahmen Xenien" läßt gegen Ende die Konsequenz nach. Uns scheint die Überschrift für dieses Gedicht, die ja nicht über den Inhalt mehr aussagt als noch einmal der erste Vers genau so, eine Hinzufügung aus einer Zeit zu sein, in der inzwischen der Name Walpole weniger bekannt war und sein Buchtitel deshalb zunächst als Kommentar gebracht wird. Die Goethephilologie sieht es als eine natürliche Aufgabe, die Texte dem Leser zugänglich zu machen. Eben die überbetonte Zugänglichkeit kann aber hier Goethe schaden, denn was dadurch auf eine Miszelle zu einer Lektüre beschränkt wird, war, wie wir es sehen möchten, ein nicht unwichtiges Gedicht. Vergleichen ließe es sich vielleicht mit Dinggedichten bei Mörike und später, in denen etwas, was sich zur normalen Umwelt disproportional verhält, mit höherer Würde das Weltliche verdrängt. Hingewiesen sei auf Mörikes Gedicht „Inschrift auf eine Uhr mit den drei Hören" und seine Vorlage bei Theokrit.25 Was eine Sonderart der Disproportion anbelangt, gibt es vielleicht auch so etwas wie eine Idealverwandtschaft mancher Dichter, hierunter zwischen Walpole und Goethe. Beide verfassen gelegentlich Texte, die sich zur selben Zeit an mehrere unter sich ganz unterschiedliche Arten von Publikum wenden bzw. ein Material für oft geradezu extrem verschiedene Zwecke liefern. Walpole widmete seinen Roman einer gefühlvollen Leserin, gründete mit ihm zugleich, vermutlich wider Willen, eine extrem gefühllose Horror- und Thrillergattung und wollte dabei eigentlich eher auf hoher Ebene ein shakespearisches Gegengewicht zur veralteten europäischen Aufklärung bringen. Aber auch vom oben erwähnten Catull mag ein Gedicht sich mit seiner hohen Kunstfertigkeit dem andächtigen Analytiker als höheres Erlebnis langsam erschließen, während dasselbe Gedicht unter anderen Umständen heftige Gefühle wenig erhabener Art hochkommen läßt. Und auch Goethe schreibt immer wieder Texte, die mit demselben Recht auf ganz unterschiedlicher Ebene gelesen sein wollen, nicht zuletzt Gedichte wie etwa das von der „Weltseele", das tastend um höchste Weisheit bemüht ist und daneben z.B. als munteres, geradezu vordergründiges Trinklied funktioniert. Die Talisman- oder Stechbüchleinfunktion, die Goethe für seine „Weissagungen des Bakis" beabsichtigte, die hinter Teilen des West-östlichen

25

Vgl. Verf.: „Zeit und Ewigkeit bei Mörike." In: Zeitschr. f. Kultur- u. Bildungswiss. 9 (2000), S. 65-68.

Walpole und Goethe

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Divans steht und vielleicht auch in seinem „Otranto"-Gedicht verborgen liegt, ist für ihn auch ständig ein hinzukommend eingeplanter ernsthafter Erkenntnisaspekt, den er aber als unzeitgemäß jenem Publikum nicht nahelegt, das momentan lieber nur Verständliches möchte. Wir sind am Ende. Der Raum erlaubte wenig mehr als eine komprimierte Skizze. Sie wollte daran erinnern, daß die Zeitgenossen Horace Walpole als eine Persönlichkeit respektierten und aus seinem exzentrischen Roman nicht nur ein besseres Verständnis fur Shakespeare und die Rolle des Übernatürlichen in der modernen Literatur gewannen, sondern daß insbesondere Goethe das Großzügige daran erkannte, „stückweis" und gotisch-grotesk die Disproportion der festgefahrenen bürgerlichen Vernunft mit der höheren Wahrheit zu visualisieren, als ein Zeugnis der Inkommensurabilität alles nur Wirklichen.

Marion

Schmaus

Entsagung als ,Forderung des Tages' Goethes und Hegels Antwort auf die Moderne

Von Entsagung wird um 1800 vor allem im Rechtsdiskurs gesprochen. Juristische Titel dokumentieren, daß sich der Begriff zwischen 1780 und 1820 im Arbeits-, Vermögens-, Erbschafts- und Vertragsrecht etabliert. Fragen wie die .Entsagung der Erbschaft'1 und des Vermögens „ausgewanderte[r] Cantonisten"2 oder der Vertragscharakter von Entsagungen, z.B. im Hinblick auf „Gemeinschaften, welche durch Vertrag entstehn",3 werden diskutiert. Im Allgemeinen Landrecht fiir die Preußischen Staaten (1794) ist der „Entsagung der Rechte"4 ein eigener Abschnitt gewidmet. Die Konjunktur des Entsagungsbegriffs im juristischen Diskurs um 1800 steht im Kontext der im Zuge der Französischen Revolution raumgreifenden kontraktualistischen Staatsauffassung, die in Deutschland erstmals im Preußischen Landrecht ihren Ausdruck findet. Das Verhältnis zwischen Bürger und Staat beruht auf der Übertragung der Rechte des Einzelnen an die Gesellschaft, die sich ihrerseits zur Kompensation der Verzichtleistung verpflichtet.5 Dem Gedanken des Gesellschaftsvertrags zufolge bedeutet die .Entsagung der Rechte' nicht die Aufgabe individueller Autonomie, sondern ist als rechtsverbindliche, schriftliche oder mündliche „Willenserklärung"6 gerade Ausdruck derselben. So formuliert Rousseau, daß es für die 1

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Vgl. Gröning, Kaspar Gabriel: Erneuerte Verordnung betreffend die Abtretung des Vermögens an die Gläubiger und Priorität, wie auch die Scheidung der Güter und Entsagung der Erbschaft. Wismar 1782; Werner, Jacob Tobias: Die Rechtslehre von der Verbindlichkeit des erzwungenen Willens bey dem Antritt oder der Entsagung einer Erbschaft. Frankfurt/M. 1817; Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 2. Weimar 1932-35, Sp. 1590. Paalzow, Christian Ludwig: Handbuch für practische Rechtsgelehrte in den Preußischen Staaten. Bd. 1. Berlin 1802, S. 123. Allgemeines Landrecht fur die Preußischen Staaten von 1794. 3. erw. Aufl. Berlin 1996, S. 257. Landrecht [Anm. 3], S. 243. Das Landrecht verzeichnet im weiteren Paragraphen zu Entsagungen im Erbschafts-, Vertrags- und Kaufrecht, vgl. das Register, S. 768f. So heißt es im Landrecht, [Anm. 3], S. 59: „§ 74. Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beyden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehen. § 75. Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten." Siehe hierzu auch Laufs, Adolf: Rechtsentwicklungen in Deutschland. 5. erw. Aufl. Berlin, New York 1996, S. 180. Landrecht [Anm. 3], S. 243.

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Einzelnen hier „aucune renonciation veritable" 7 gebe, sondern die natürliche Freiheit und Gleichheit in eine bürgerliche eingetauscht werde, ein auf der Stärke des Einzelnen beruhender Besitz in rechtliches Eigentum überführt werde. Gleichlautend argumentiert Hegel, es handle sich nicht um eine „Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums", sondern um deren „Erweiterung". 8 U n d auch Goethe sieht die sittliche Freiheit des Menschen darin, sich der Gesellschaft zu „subordinieren", die ihm anrät: „wir wünschen daß du dich mit Überzeugung aus freyem, vernünftigem Willen deiner Privilegien begiebst." 9 Der Sachverhalt und der Begriff ,Entsagung' gehört also konstitutiv zur politischen Philosophie der Zeit und hat insbesondere, w i e im folgenden zu skizzieren sein wird, in das Werk des Staatsdenker Hegel Eingang gefunden. N e b e n diesem politisch-juristischen Diskurs ist es die Literatur, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Entsagungsbegriff zu eigen macht. Mit Bürgers ( 1 7 9 4 ) und Uhlands ( 1 8 0 7 ) Gedichten und den Romanen und Schauspielen von Charlotte v o n Ahlefeld (1805), L.A. Koehler ( 1 8 0 7 ) , Johanna Franul von Weißenthurn (1810), Goethe ( 1 8 2 1 / 2 9 ) , Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1823), Regina Frohberg (1824), Amalia Schoppe ( 1 8 2 6 ) und Carl Friedrich Richter ( 1 8 2 7 ) erhält Entsagung Titelfunktion. 1 0 Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden ist also k e i n e s w e g s der erste Text, der den Begriff auf die literarische A g e n d a setzt. 11 Jedoch dürfte Goethe als Stich-

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Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou, Principes du droit politique. In: Rousseau, Oeuvres completes. Bd. 3. Paris 1964, S. 347^170, hier S. 375, vgl. auch S. 356,436. Auch zu Hobbes' Lehre vom Bürger gehört die Entsagung der Rechte, s. Hobbes, Thomas: De Cive. The latin version. Ed. by Howard Warrender. Oxford 1983, S. 100, 162. Hier werden „renuntiat" bzw. „renunciat" und „renunciatur" bzw. „renuntiatur" verwendet. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie." In: Hegel, Werke. Bd. 2. Frankfurt/M. 1970, S. 8-138, hier S. 82. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Bd. 13, Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hrsg. von Harald Fricke. Frankfurt/M. 1993, S. 187f. Vgl.: Bürger, Gottfried August: „Entsagung der Politik." In: Bürger, Sämtliche Werke, hrsg. von Günter und Hiltrud Häntzschel. Bd. 1. München, Wien 1987, S. 431; Uhland, Ludwig: „Entsagung." In: Uhland, Werke, hrsg. von Hartmut Fröschle und Walter Scheffler. Bd. 1. München 1980, S. 11 Of.; siehe auch das Gedicht Entsagung von Christoph August Tiedge in der Partitur: Schiller, Friedrich u.a.: Des Mädchens Klage. Des Fremdlings Abendlied. Der Fischer. Entsagung. Sehnsucht. Für Gesang und Pianoforte. 1794, S. 10-13 [Standort Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar]; Anonym: Entsagen, Dulden und Wonne, oder Gustav und Antonie. Gießen 1801 [2. Aufl. 1802]; Ahlefeld, Charlotte von: Liebe und Entsagung. 2 Theile. Berlin 1805; Anonym: Cäcilie oder Liebe und Entsagung. Leipzig 1807; Anonym [Koehler, L.A.]: Graf Friedrich von Werben, oder Lohn der Entsagung. Leipzig 1807; Weißenthurn, Johanna Franul von: „Liebe und Entsagung." In: Weißenthum, Schauspiele. Bd. 2. Wien 1810, S. 1-92; Anonym [Wette, Wilhelm Martin Leberecht de]: Die Entsagung. Schauspiel in drei Aufzügen. Berlin 1823; Frohberg, Regina: Entsagung. Ein Roman. Wien 1824; Schoppe, Amalia: Antonie oder Liebe und Entsagung. Roman. Leipzig 1826; Richter, Carl Friedrich: Entsagung und Lohn. Ein Original-Lustspiel in drei Aufzügen. Ludwigsburg 1827; Anonym: Entsagung. Ein Roman nach dem Französischen. Leipzig 1827. Immer noch maßgeblich ist: Henkel, Arthur: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman. Tübingen 1954. Siehe im weiteren: Bahr, Ehrhard: „Wilhelm Meisters Wandeijahre

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wortgeber dieses Diskurses fungiert haben. Schließlich hatte er das Thema bereits in den Lehrjahren (1795/96) angestimmt und mit der Entsagungsehe zwischen einer Adeligen und einem Bürgerlichen in der Natürlichen Tochter (1804) und der Entsagung fordernden Liebe über Kreuz in den Wahlverwandtschaften (1809) weitergeführt. Daß Entsagung als Lebens- und Beziehungskonzept in der Literatur im frühen 19. Jahrhundert breite Resonanz findet, darf gleichwohl nicht auf ein Phänomen der Goethe-Rezeption verkürzt werden, sondern - die erwähnte politisch-juristische Konnotation des Begriffs deutet es an - weist auf eine „Forderung des Tages".12 Dem soll im folgenden anhand einer vergleichenden Analyse der Entsagungsdiskurse von Goethe und Hegel nachgegangen werden. Beide Autoren reflektieren Entsagung als ein Therapeutikum, das auf die krisenhafte politisch-ökonomische Umbruchssituation um 1800 reagiert. Hegel spricht von der „Zerrüttung des Zeitalters", Aufgabe der Philosophie müsse es sein, „den Menschen aus sich wiederherzustellen und die Totalität, welche die Zeit zerrissen hat, zu erhalten."13 Vor allem die Phänomenologie des Geistes (1807) skizziert Entsagung als Praxis zur Wiederherstellung des Menschen. Dem Stichwort ,veloziferische Zeit' (s. 10: 563) lassen sich in Goethes Wanderjahren die Ablösung des Feudalsystems, die industrielle Revolution und die allmähliche Etablierung kapitalistischer Wirtschaftsformen subsumieren. Wie diesen objektiven Zwängen in Freiheit begegnet werde könne, das apostrophiert der Roman mit Entsagung. Den Texten von Hegel und Goethe ist gemeinsam, daß sie die zeitgenössische juristische Konnotation von Entsagung strukturell fruchtbar machen. Die Phänomenologie als Bildungsgeschichte des absoluten Geistes ist daran interessiert, den Menschen nicht mehr erkenntnistheoretisch oder anthropologisch, sondern in seinen rechtlichen Verhältnissen wahrzunehmen. Ein solches Verständnis des Menschen nach dem Motto „Das Gesetz macht den Menschen / Nicht der Mensch das Gesetz"14 liegt auch dem revidierten Bildungskonzept der Wanderjahre zugrunde. Goethe ersetzt das in den Lehrjahren propagierte individualistische Bildungskonzept der allseitigen Ausbildung innerer Anlagen in den Wanderjahren durch Entsagung, die sowohl ein individuelles Ethos, ein intersubjektives Beziehungskonzept im Hinblick auf Liebe und Familie wie auch ein Gemeinschaftsmodell meint. Wie Klaus-Detlef Müller festhält, vollziehen die Wanderjahre den „Übergang vom Individualroman zum Gesellschaftsroman": „In einer ,Zeit der Einseitigkeiten' verändert sich der Roman der Bildung und der Individualität zum Roman der Gemein-

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oder die Entsagenden." In: Goethe Handbuch. Bd. 3. Prosaschriften, hrsg. von Bernd Witte und Peter Schmidt. Stuttgart, Weimar 1997, S. 186-231, hier S. 203-206. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Bd. 10, Wilhelm Meisters Wandeijahre oder Die Entsagenden. Hrsg. von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz. Frankfurt/M. 1989, S. 557. Die Wanderjahre werden im folgenden nach dieser Ausgabe unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl im Text zitiert. Hegel [Anm. 8], S. 121. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Bd. 31, Briefe, Tagebücher und Gespräche (1794-1799). Hrsg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt/M. 1998, S. 338.

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schaft und der Entsagung".15 Wobei der Jurist Goethe sowohl der vertragstheoretisch-politischen .Entsagung der Rechte' als auch den vermögensund erbschaftsrechtlichen Aspekten von Entsagung breiten Raum gibt. Eigentümlich fur Goethe und Hegel ist im weiteren, daß sie die religiösen Wurzeln des Entsagungsbegriffs in Richtung auf ein säkulares Ethos rehabilitieren. Von einer Rehabilitierung muß insofern gesprochen werden, als Entsagung im theologischen Diskurs keine relevante Rolle spielt - zumindest fuhrt die Sichtung theologischer Lexika der Zeit zu diesem Ergebnis.16 Allenfalls wird noch die Taufformel „Entsagest du, oder sagest du ab, dem Teufel" als „sonderliche äußerliche Gewohnheit und Sitte" der „Alten"17 erinnert. Oder die seit dem Mittelalter geläufige kirchenrechtlich-pragmatische Bedeutung des lateinischen ,renuntiatio' bzw. dessen Synonyms ,resignatio' findet Verwendung, womit eine Form der Pfründeerledigung gemeint ist, durch die ein Geistlicher sein Kirchenamt aufgibt.18 In Hegels Werk taucht ,Entsagung' bereits in den theologischen Frühschriften auf und später in der Religionsphilosophie. Auch die Phänomenologie verortet den Begriff in einem religiösen Kontext. Eine Textstelle aus Hegels Ästhetik verdient besondere Erwähnung, da hier die zentrale Funktion von Entsagung in seinem System sichtbar wird. Sie bezeichnet den „Durchgangspunkt" auf dem Weg des Menschen in die „vernünftige, wirkliche Welt": „Der wahrhaft christlichen Anschauung nach ist die Entsagung dagegen nur das Moment der Vermittlung, der Durchgangspunkt, in welchem das bloß Natürliche, Sinnliche und Endliche überhaupt seine Unangemessenheit abtut, um den Geist zur höheren Freiheit und Versöhnung mit sich selbst kommen zu lassen".19 Auch im Falle Goethes kann von einer Rehabilitierung der religiösen Wurzeln des Begriffs gesprochen werden. Das gilt sowohl für die Verbindung des Entsagungsdiskurses in den Wanderjahren mit der Lehre von den vier Ehrfurchten und Religionen und mit dem Konzept der Weltfrömmigkeit als auch für jene Passage in Dichtung und Wahrheit, in der Goethe ,Entsagung' als Resultat seiner Spinoza-Lektüre reflektiert. 15

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Müller, Klaus-Detlef: „Lenardos Tagebuch. Zum Romanbegriff in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre." In: DVjs 53 (1979), S. 275-299, hier S.282. Hier soll auch das .legendäre' Wanderjahre-Scmmai von Klaus-Detlef Müller im Wintersemester 1991/92 nicht unerwähnt bleiben, dem dieser Beitrag vielfach verpflichtet ist. Eine Ausnahme bilden die Wittenberger Predigten (1813/14) von Carl Immanuel Nitzsch, wobei es sich hier bereits um eine Goethe-Rezeption handeln könnte, s. Theurich, Henning: Theorie und Praxis der Predigt bei Carl Immauel Nitzsch. Göttingen 1975, S. 82. Art. „Absagung, Entsagung." In: Zedier, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 65, Supplement I, A-An. Leipzig 1751, Sp. 240. Vgl. Laarmann, Matthias: Art. „Resignation, resignieren." In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 8. Darmstadt 1992, Sp. 910; Art. „Entsagung." In: Wetzer und Weite's Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften. Bd. 4. 2. Aufl. Freiburg i.B. 1886, Sp. 640. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. 14, Vorlesungen über die Ästhetik Π. Frankfurt/M. 1970, S. 114f. Als exemplarische Entsagung deutet Hegel das Leben Jesu, vgl. Werke. Bd. 1. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1994, S. 309, 311f., 319, 399, 401f„ 418 und Werke. Bd. 19. Frankfurt/M. 1971, S. 526.

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Dennoch kann dieser Gleichlauf der Gedanken in puncto Entsagung wohl nicht als ein Phänomen wechselseitiger Rezeption verstanden werden. Hegel bezieht sich in seinen Werken zwar mehrfach auf Goethe, diesem hingegen erscheinen die „gedruckten Mittheilungen" des Philosophen „unklar und abstrus".20 Entsprechend ambivalent fällt Goethes Lob aus: „Wo Objekt und Subjekt sich berühren, da ist Leben. Wenn Hegel mit seiner Identitätsphilosophie sich mitten zwischen Objekt und Subjekt hineinstellt, und diesen Platz behauptet, so wollen wir ihn loben."21 Bekanntlich stellt sich Hegels System nicht mitten hinein, sondern ist von einem „Sollen" getrieben, solch einen „Gegensatz des Subjektiven und gegenüberliegender Objektivität [...] aufzuheben". 22 Trotzdem läßt sich anhand dieser Formulierung einer der wenigen Konvergenzpunkte zwischen Goethe und Hegel benennen. Bei beiden erhält der Begriff .Entsagung' eine Mittlerfunktion in dem konstitutiven Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, Bürger und Staat. Diese Konvergenz, die auf der gemeinsamen Teilhabe an einem politisch-juristischen Entsagungsdiskurs gründet, erlaubt es, die Phänomenologie und den Wilhelm MeisterKomplex in wechselseitiger Kommentierung auf die Diskursebenen von Entsagung zu befragen. Es können erkenntnis- bzw. handlungstheoretische, moralisch-rechtliche und politisch-ökonomische Bedeutungsschichten freigelegt werden.

Religion und Gesetz In der Phänomenologie taucht der Begriff .Entsagung' zum ersten Mal im Kapitel Freiheit des Selbstbewußtseins und dort im Abschnitt über das unglückliche Bewußtsein auf. Die Gestalt des unglücklichen Bewußtseins ist eine religiöse Figur, durch die Hegel die emanzipative Wirkung der Religion, von der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung bis zum rituell-magischen Katholizismus,23 für die Herausbildung einer vernünftigen respektive intersubjektiven Verfassung des Selbstbewußtseins skizziert. Die am Ende des Kapitels erzielte Versöhnung des unglücklichen, mit sich entzweiten Bewußtseins wird von zwei Seiten aus erreicht: einerseits ,Verendlichung' des Jenseits, andererseits Erhebung des endlichen Bewußtseins. Für diesen Prozeß sind spezifische Formen der Entsagung konstitutiv.

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Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Bd. 37, Briefe, Tagebücher und Gespräche (1823-1828). Hrsg. von Horst Fleig. Frankfurt/M. 1993, S. 563. In Goethes Bibliothek befinden sich die Differenzschrift (1801), die Phänomenologie (1807) und die Enzyklopädie (2. Aufl. 1827), vgl. Ruppert, Hans: Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958, S. 447. Goethe [Anm. 20], S. 521. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. 13, Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M. 1970, S. 133. Vgl. Siep, Ludwig: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels Differenzschrift und Phänomenologie des Geistes. Darmstadt 2000, S. 116.

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Eine erste Stufe der Vermittlung wird durch das „gegenseitige Sich-Aufgeben"24 beider Teile erreicht. Das Jenseits der Offenbarungsreligion verzichtet auf seine Gestalt, wird zur „geheiligten Weif' (171), das einzelne Bewußtsein erhebt sich durch die tätige Gestaltung dieser Wirklichkeit durch Arbeit. Die Arbeit wird als Gottesdienst verstanden, und in der rituellen Handlung des Dankes wird die Kraft für solches Tun an Gott delegiert.25 Vermeintlich hat das Bewußtsein nun seine Einheit mit dem Unwandelbaren erreicht. Das Moment der Trennung bricht jedoch sofort wieder hervor: „Denn das Bewußtsein entsagt zwar zum Scheine der Befriedigung seines Selbstgefühls, erlangt aber die wirkliche Befriedigung desselben; denn es ist Begierde, Arbeit und Genuß gewesen" (172). Mit dem Unwandelbaren hat es sich zwar nicht vereinigt, aber durch die Bearbeitung der äußeren Realität ist es selbst zu wahrhafter Wirklichkeit gelangt. Die Ausgangskonstellation hat sich nun umgekehrt: Das Unwandelbare ist zum Nichtigen, das endliche Bewußtsein alle Realität geworden. Diese erneute Aporie wird durch die Einfuhrung eines „vermittelnden Dieners" (177), eines Ratgebers in die Beziehung zwischen menschlichem und göttlichem Bewußtsein gelöst. Es ist die Figur des Priesters im Katholizismus, die es ermöglicht, daß der vormalige „ Betrug " scheinbarer Entsagung im Dank nun zu einer „wirklichen Aufopferung" (176) der Einzelheit wird durch Verzicht auf den eigenen Willen und durch asketische Riten, d.h. Entsagung auf „äußerliches Eigentum" und auf „Genuß". Diesem Verzicht wohnt zugleich eine Kompensation inne, denn indem das entsagende Bewußtsein seinen Willen auf den Priester überträgt, wird auch die „Schuld" für seine Handlungen von ihm genommen. Die Befolgung solcher Ratschläge und den Vollzug asketischer Rituale bezeichnet Hegel hier als „positives Moment des Treibens eines unverstandenen Geschäftes" (175). Positiv darum, weil nur so verhindert werden kann, daß die Handlungen wieder dem eigenen Willen zugerechnet werden. Über die Vermittlungsinstanz des Priesters wird der Wille als der „eines Anderen", als ,,allgemeine[r]" (176) Wille gesetzt. Dem unglücklichen Bewußtsein ist nun „die Vorstellung der Vernunft geworden" (177) und somit hat „auch sein Unglück von ihm abgelassen" (176). Denn über die Vorstellung der Vernunft lernt es sich als Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit begreifen. Hegel deutet hier den religiösen Kultus als Einübung in die dem Gesellschaftsvertrag zugrundeliegende Dialektik von Entsagung und Kompensation, wobei mit der Figur des .vermittelnden Dieners' eine frühneuzeitliche Form der sich später entwickelnden rechtsstaatlichen Institutionen des allgemeinen Willens vorgezeichnet ist. In der

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. 3, Phänomenologie des Geistes. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1989, S. 172. Im folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. In der Rechtsphilosophie hebt Hegel den säkularen Entsagungscharakter jeder Berufswahl hervor, die für das Individuum eine Beschränkung seiner allgemeinen Bestimmung" bedeutet. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. 7, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1989, S. 359. Siehe hierzu auch Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Darmstadt 2000, S. 280.

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Religionsphilosophie wird Hegel noch einmal die Funktion des religiösen Kultus von Reue und Buße an der Scharnierstelle von Religion und Staat verorten, in der Vollendung subjektiver Sittlichkeit. „Entsagung" wird dann als „Negation der Entfremdung" und als Aufgabe der „Selbstsucht und der Entzweiung mit dem Guten"26 definiert. Sie besteht in der inneren Distanzierung von einer begangenen Verfehlung, im Gesinnungswandel. Zu äußerster Prägnanz findet die in der Figur des unglücklichen Bewußtseins sich andeutende Engfuhrung von Religiösem und Juristischem in der Phänomenologie im Kapitel Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung. Hier wiederholt sich in der Welt des objektiven Geistes von Moral und Recht die Versöhnung des Individuellen mit dem Allgemeinen über wechselseitige Entsagungshandlungen. Der Konflikt zwischen subjektiver Gewissensentscheidung und öffentlicher Moral soll auf dem Wege der beiderseitigen Ausbildung und Artikulation eines Unrechtsbewußtseins geschlichtet werden. Sowohl der gewissenhaft Handelnde als auch das allgemeine urteilende Bewußtsein werden in einem Gerichtsszenario zur Einsicht gefuhrt, daß sie aneinander schuldig werden. Die Gestalt des Gewissens verkörpert eine Form unmittelbarer Selbstgewißheit des Geistes, in der abstrakte Allgemeinheit (Pflicht) und Einzelheit (Neigung) vereinigt sind. Der Spruch des Gewissens, die „[ausgesprochene] Überzeugung" (479), daß es gewissenhaft handelt, bringt diese Einheit zum Ausdruck, durch ihn nennt sich das Individuum „ein allgemeines Wissen und Wollen, das die anderen anerkennt, ihnen gleich ist" (480). Als bloß Redendes erscheint das Gewissen in Gestalt der schönen Seele und wird darum zum pathologischen Fall, da es zwar ständig über die Gewissenhaftigkeit seiner Handlungen spricht, zu solchen sich jedoch, „um die Reinheit seines Herzens zu bewahren", gar nicht mehr bequemen will und darauf verzichtet, „seinem zur letzten Abstraktion zugespitzten Selbst zu entsagen [...] oder sein Denken in Sein zu verwandeln" (483).27 In jeder Handlung geht nämlich die im Gewissen intendierte Einheit von Individuellem und Allgemeinem notwendig wieder verloren, denn dieser muß ein bestimmter Inhalt gegeben werden. Handelnd setzt sich der ,Gewissenstäter' dem Allgemeinen entgegen und verwandelt sich in das böse Bewußtsein. Dieses kann von seiner Seite den Gegensatz zur Allgemeinheit dadurch aufheben, daß es sich im Geständnis von seiner Tat distanziert, „in seinem Bekenntnisse dem abgesonderten Fürsichsein entsagt" (490). Das allgemeine urteilende Bewußtsein wird sowohl darin zur Heuchelei, daß es eben nur Urteil ist, d.h. „Eitelkeit des Gut- und Besserwissens [...], tatloses Reden" (489), als auch dadurch, daß es im Urteil die Handlung in ihre Pflicht- und Eigennutzanteile zergliedert und letztere zum Hauptmerkmal der Handlung stilisiert. Damit stellt sich die richtende Instanz auf die gleiche Stufe mit dem Bösen und muß nun ihr eigenes Unrecht bekennen. In der „Verzeihung" „entsagt" 26

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. 16, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Frankfurt/M. 1986, S. 234f. In der Rechtsphilosophie [Anm. 25], S. 65, wird Hegel die Kritik an einem solchen „[schönen] Gemüt", das nicht der beabsichtigten „Totalität entsagen" wolle, mit einem GoetheZitat begründen: „Wer Großes will, sagt Goethe, muß sich beschränken können."

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(492) sie der abstrakten Härte ihres Urteils. Die wechselseitige Anerkennung von subjektivem Gewissen und öffentlicher Moral wird als ein Austausch von Geständnissen gefaßt, der beiden Partnern die Rückkehr in die Allgemeinheit ermöglicht. Mit dem „Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist [...] - ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist" (493), - geboren. Hegel akzentuiert in diesem Kapitel, daß die Versöhnung zwischen freiem Gewissenshandeln und allgemeinen Geboten nicht nur einer vernünftigen Rechtsprechung bedarf, sondern auch Formen sittlich-religiöser Ergänzung. So verweist der Schlußsatz des Kapitels auf eine Sphäre religiöser Vergemeinschaftung: „Das versöhnende Ja [...] ist der erscheinende Gott mitten unter ihnen" (494). Hervorzuheben ist im weiteren, daß Entsagung hier dezidiert als Sprachhandlung reflektiert wird. Es lassen sich drei Sprechakttypen von Entsagung differenzieren: 1. Der Spruch des Gewissens stellt mit den Mitteln der Sprache ein Anerkennungsverhältnis zwischen individuellem Gewissen und öffentlicher Moral her. 2. Das Geständnis des handelnden Gewissens als willentliche und sprachliche Distanzierung von seiner Tat. Und 3. der Freispruch des Gewissens durch das allgemeine Bewußtsein, indem es die eigene Einseitigkeit eingesteht und auf die Härte seines Urteils verzichtet. Von Hegels Gestalten unglückliches Bewußtsein und schöne Seele sowie deren Interaktionen mit dem Allgemeinen ausgehend lassen sich die Protagonisten und Sozietäten des Wilhelm A/eister-Komplexes näher beleuchten. Die Gemeinschaften können als historische Übergangsformen zwischen einer noch rituellmagisch und einer rechtsstaatlich strukturierten Institution des allgemeinen Willens beschrieben werden. Am Ende der Lehrjahre fungiert der Turm für Wilhelm als eine solche Instanz, denn nach dem Scheitern seiner .theatralischen Sendung' vertraut er sich diesem als Ratgeber an und entsagt seinem eigenen Willen: „Ich überlasse mich ganz meinen Freunden und Ihrer Führung, sagte Wilhelm; es ist vergebens in dieser Welt nach eigenem Willen zu streben."28 Die historische Genese der Vernunft aus der Religion, bei Hegel an der Funktion des Priesters im Katholizismus veranschaulicht, spielt in Goethes Romanen ebenso eine Rolle. Nicht umsonst begegnet einer der Abgesandten des Turmes Wilhelm in Gestalt eines Landgeistlichen, der ihm, wo dieser für Genie und Schicksal plädiert, Bildung und die „Vernunft eines menschlichen Meisters" (9: 475) entgegenhält. Und schließlich ist der Abbe als weltlicher Beichtvater und Ratgeber im achten Buch der Lehrjahre maßgeblich für die Auflösung der Liebeswirren verantwortlich und wird mit dem Konzept der Weltfrömmigkeit in den Wanderjahren einen der Moderne gemäßen Religionstypus skizzieren. Die religiösen bzw. an den freimaurerischen Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts orientierten Praktiken der Gemeinschaften in den Msister-Romanen lassen sich durchaus in Analogie zu Hegels positiver Bestimmung des .Treibens eines 28

Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Bd. 9, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt/M. 1992, S. 976. Die Lehrjahre werden im folgenden nach dieser Ausgabe unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl im Text zitiert.

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unverstandenen Geschäfts' setzen, das es ermöglicht, den Willen als Anderen anzuerkennen und so vom Eigensinn Abstand zu nehmen. Die Wilhelm im zweiten Meister-Roman auferlegten Wandervorschriften, niemals länger als drei Tage an einem Ort zu bleiben, nur von Gegenwärtigem zu sprechen und schließlich über diese Bedingungen zu schweigen, bedeuten fur ihn ein solches Treiben. Und diese „äußeren, mechanischen Pflichten" (10: 268), die sich jedes Mitglied des Vereins „zu eigner Bildung [...] gefallen lassen" (10: 632) muß, erinnern recht deutlich an jene asketischen Rituale, „[Verzicht] auf seine in der Arbeit und im Genüsse erhaltene Wirklichkeit (175), die Hegels unglückliches Bewußtsein zu einer wirklichen Aufopferung seiner Einzelheit führten. Hegels Gestalt distanziert sich so von dem Projekt ,Arbeit als Selbstgenuß' und stellt diese in den Dienst der Vernunft eines allgemeinen Willens. Wilhelms durch die Wandervorschriften bedingter zeitweiliger Arbeitsverzicht ermöglicht eine Resignifizierung seines Verständnisses von Arbeit. In den Lehrjahren war diese der Verwirklichung seines bloßen Fürsichseins gewidmet und an ein individualistisches Bildungskonzept gekoppelt, das er auf der Theaterbühne zu verwirklichen suchte. In den Wanderjahren wählt er mit der Wundarzttätigkeit einen Beruf, durch den er als „nützliches als ein nötiges Glied der Gesellschaft" (10: 556) erscheint. Die zweite Berufswahl bedeutet in Hegels Worten die Realisierung der Einsicht, „daß das Selbstbewußtsein Vernunft ist" (178), d.h. die Einheit des Einzelnen und Allgemeinen. Aus diesem Grund können einem solchen Beruf die unterschiedlichen Attribute von Seiten Wilhelms: „stille Neigung", und von Seiten Jarnos: „göttlichste[s] aller Geschäfte", „ohne Wunder zu heilen und ohne Worte" - also ent-sagend - „Wunder zu tun" (10: 555f.), zugesprochen werden. Neben dem Willensverzicht und dem Arbeitsethos gelten auch das von Hegel im Gewissens-Kapitel skizzierte Unrechtsbewußtsein und sein Ausdruck in verschiedenen Sprechakttypen von Entsagung in Goethes Romanen als Weg zum Allgemeinen. Und dies nicht von ungefähr, gehören doch die Bekenntnisse einer schönen Seele aus den Lehrjahren zu den intertextuellen Wurzeln von Hegels gleichnamiger Figur.29 In den letzten Büchern der Lehrjahre wird Wilhelm fortschreitend mit Entsagung als Bekenntnisrede vertraut gemacht. Über die Lektüre der Bekenntnisse lernt er die ethische Rechtfertigung des eigenen Lebens im sprachlichen Gewissensausdruck als Weg zum Allgemeinen verstehen. Die Schicksale Augustins, Speratas und Mignons fuhren vor Augen, daß eine Handlung aus Gewissen - in diesem Fall die sich auf die Natur berufende inzestuöse Liebe - , aber in Verletzung der bürgerlichen Gesetze, durch (sprachliche) Distanzierung von der Tat, durch ein Schuldbekenntnis gesühnt werden muß. Wilhelm selbst wird zum Ende des Textes mit seinem schuldlos-schuldig Werden an Mariane, Mignon, der Gräfin und dem Graf sowie schließlich an Lothario konfrontiert und bekennt: „bin ich Schuld an dem, was vorgeht [...].

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Vgl. Siep [Anm. 23], S. 214 und Sax, Benjamin C.:,Active Individuality and the Language of Confession. The Figure of the Beautiful Soul in the Lehrjahre and the Phänomenologie" In: Journal of the History of Philosophy 21 (1983), S. 437^466.

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Aber und abermal gehen mir die Augen über mich selbst auf, immer zu spät und immer umsonst." (9: 989) Die Wanderjahre entfalten dann die Pragmatik der Entsagung, indem sie die Bekenntnisrede im Alltag als Problemlösungsstrategie und als Weg zum Anderen, sei es dem geliebten Gegenüber oder der Gemeinschaft, ritualisieren. Die sonntägliche Beichtpraxis im Oheimbezirk oder die als ,Bekenntnisse' 30 apostrophierten brieflichen Mitteilungen sind hier zu nennen. Odoardo bezeichnet die Handwerker als „Bekenner", die „mit der Hand wirken", wodurch das Handwerk in den Wanderjahren eine nahezu revolutionäre ethische Aufwertung als Dienst für das Allgemeine erfahrt, die in der Deklaration zur „strengen Kunst" (10: 695) noch ästhetisch untermauert wird. Vor allem die Liebesbeziehungen veranschaulichen den Zusammenhang von religiösem Kultus und bekennender Entsagung. Reue und Buße als sprachliche und handelnde Distanzierung von einer begangenen Verfehlung, die einen Gesinnungswandel ermöglicht und somit zu einer ideellen Aufhebung dieser Tat führt, diese Elemente lassen sich in den Beziehungen zwischen Wilhelm und Natalie, Lenardo und Susanne-Nachodine und den Protagonisten der Novelle Der Mann von fiinfzig Jahren erkennen. Am Anfang des Entsagungsprozesses steht die Reue, das Schuldbekenntnis.31 Die sich anschließenden ,Buß-Wanderungen' haben darin ihren Sinn, daß die Liebenden durch räumlich-praktische Distanzierung von den .Opfern' ihrer Verfehlungen sich selbst und ihre Gefühle zu gemeinschaftstauglichen bilden. Aber nicht nur die Liebe wird in den Wanderjahren unter das Gesetz der Entsagung gestellt, sondern auch die Familie in ihrer Funktion als Sozialisationsraum für die nachfolgende Generation. Wilhelm wird aufgrund von Einsicht in das eigene Ungenügen und in die strukturelle Problematik jedes Eltern-Kind-Verhältnisses - die fehlende Anerkennung zwischen den Generationen32 - zum entsagenden Vater. Die Erziehung wird von der bürgerlichen Kleinfamilie auf die im Roman dargestellten pädagogischen Institute übertragen. Mithin erscheint die im Wandermotiv implizierte räumliche Distanz zwischen den Geschlechtern und Generationen als maßgebliche Versöhnungsstrategie des Textes. Es ist jedoch nicht allein diese Distanz, die für die Versöhnung einsteht, sondern vor allem gibt sie Raum für die Gemeinschaften, die vermittelnd in dieses Vakuum treten. Einer Wendung von Hegels

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Vgl. 10:268,493, 540, 743. Solche Schuldbekenntnisse legen etwa Wilhelm, Hilarie und die schöne Witwe ab, vgl. 10: 268, 490, 492. In Lenardos Fall einer „Leidenschaft aus Gewissen" (10: 733) ist das Unrechtsbewußtsein, das Hegel zur Grundlage versöhnter Intersubjektivität erklärt, am deutlichsten ausgeprägt. So jedenfalls lauten die Diagnosen Lenardos und des Sammlers: „der Vater behält immer eine Art von despotischem Verhältnis zu dem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen Fehlern er sich freut"; „[gewöhnlich zerstreut der Sohn was der Vater gesammelt hat" (10: 405, 411), die auch in den Generations- und Liebeskonflikten der Novellen Die pilgernde Törin, Der Mann von fünfzig Jahren und Wer ist der Verräter? ihre Bestätigung finden.

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Rechtsphilosophie folgend können die Gemeinschaften als „zweite Familie"33 apostrophiert werden, die dort versöhnend eingreift, wo politisch-ökonomische oder Geschlechter- und Generationskonflikte die Bildung der Individuen wie diejenige der Gesellschaft gleichermaßen bedrohen. Durchaus in Analogie zu den Wanderjahren kommen den berufsständischen Korporationen bei Hegel die Funktionen der Vermittlung zwischen Familien- und Staatsinteressen und der Sicherung des Vermögens zu, schließlich bieten sie ihren Mitgliedern jenseits des Staates eine Beteiligungsmöglichkeit am Allgemeinen und garantieren so deren gesellschaftliche Anerkennung. Das versöhnende Eingreifen der Gemeinschaften wird in Goethes Wilhelm A/ewter-Komplex an die juristische, vertragstheoretische Konnotation von Entsagung gekoppelt. Denn es sind nicht allein das Unrechtsbewußtsein und die säkularisierte Bekenntnis/We, sondern insbesondere deren Schriftform, die für eine moralisch-rechtliche Verfassung der modernen Gesellschaft einstehen sollen. Die Schrift, der Vertrag wird zur maßgeblichen Kommunikationsform befriedeter Intersubjektivität; kodifizierte Entsagungen - wie sie etwa das Preußische Landrecht kennt - gehören konstitutiv zu den in den Romanen abgeschlossenen Gesellschaftsverträgen. In den Lehrjahren ist die Turmgesellschaft als Sozietät zur Sicherung des Eigentums ihrer Mitglieder bereits auf halbem Weg zu einer am Gesellschaftsvertrag orientierten Organisation, denn sie erfüllt darin eine der zwei zentralen Funktionen, die Rousseau einem solchen Vertrag zuschreibt.34 Die Welt des Turmes ist durch das Schriftprinzip strukturiert. Hier wird Leben in Schrift überführt und archiviert. Wilhelms Lehrbrief, die Biographien Speratas und Augustins ebenso wie die Grablegung Mignons, die einer .Verschriftlichung' ihres Körpers gleichkommt - „Durch den Druck einer Feder versenkte der Abbe den Körper in die Tiefe des Marmors" (9: 959) sind hierfür Beispiele. Die Turmgesellschaft kann als „literate, contractual society", als „founding myth for a legally constituted society"35 verstanden werden. Diese Schrifttherapie kommt zwar für Augustin, Sperata und Mignon zu spät, die erinnernde Aufbewahrung dieser Existenzen im Archiv der Gemeinschaft zeugt jedoch für ein Gesetz, dem die Versöhnung mit dem abweichenden Individuum zur Aufgabe wird. Mit der Bestattung Mignons wird die Berechtigung des individuellen Glücksanspruchs und damit auch die Berechtigung von subjektiver Gewissensentscheidung gleichsam in den Gesellschaftsvertrag des Turmes eingeschrieben. Durch sie vollzieht der Turm das, was Hegel das Wort der Versöhnung nannte: das Eingeständnis der

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Hegel [Anm. 25], S. 394. Ehrhard Bahr hat darauf aufmerksam gemacht, daß Hegels Vision der bürgerlichen Gesellschaft in der Rechtsphilosophie sich mit Goethes Wanderjahren deckt, vgl. Bahr [Anm. 11], S. 203, 225f. Vgl. 9: 945 und Rousseau [Anm. 7], S. 360: „Trouver une forme d'association qui defende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associe", die zweite Funktion lautet: „et par laquelle chacun s'unissant ä tous n'obeisse pourtant qu'ä lui-meme et reste aussi libre qu'auparavant". Schutjer, Karin: Narrating Community after Kant. Schiller, Goethe, and Hölderlin. Detroit 2001, S. 146, 159.

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Fehlbarkeit des Allgemeinen gegenüber dem Individuellen und dessen Freisprach in einem. Diese Wechselseitigkeit zwischen Gesetz und Einzelnem spricht in den Lehrjahren Natalie aus, wenn sie darauf hinweist, „daß unsere Grundsätze nur ein Supplement zu unsern Existenzen sind" und die natürliche, lückenhafte menschliche Existenz „durch ein entschieden ausgesprochenes Gesetz ausgefüllt werden kann." (9: 946, 907) Dem schönen Gesetz der Entsagung, wie in Anspielung auf die eigentliche schöne Seele der Lehrjahre, Natalie, zu formulieren wäre, ist der vertragstheoretische Gedanke der Reziprozität und Kompensation inhärent. Bei den Wandervorschriften im zweiten A/ewter-Roman handelt es sich dann um ein solches entschieden ausgesprochenes, therapeutisch-pädagogisches Gesetz. Die Ausstellung der Schriftlichkeit der Wandergebote - sie liegen Wilhelm als „Blatt" (10: 268) vor,36 wie er auch später als Lehrer der Entsagung seine Einsichten auf einem „Blatt" (10: 707, 709) fixieren wird - deutet auf den Vertragscharakter dieser Entsagungen. Hier handelt es sich also im juristischen Sinn um einen Ehe- und Gesellschaftsvertrag zwischen Natalie, Wilhelm und dem Turm als Ausdruck eines gemeinsamen Willens, denn es wird von „Bedingungen" gesprochen, „die mir der Verein, die ich mir selbst vorschrieb!" (10:268). Mit der im Wandermotiv angelegten räumlichen Distanz werden die sozialen Beziehungen in diesem Roman gänzlich dem Schrift- und Vertragsprinzip unterstellt. Denn es sind die vielfaltigen im Text kursierenden Gesprächsnotizen, Briefe und Tagebücher, die Beziehungen ,ohne Besitz' 37 und jenseits realer Anwesenheit ermöglichen.

Politik und Ökonomie In Hegels Phänomenologie kehrt in der Welt des sich entfremdeten Geistes,38 die auf die vorrevolutionäre Epoche der Aufklärung datiert wird, die in der Figur des unglücklichen Bewußtseins als Willensverzicht vorgezeichnete „Entsagung seiner Persönlichkeit" (380) spezifischer als politischer Verzicht auf Rechte wieder. Staatsmacht und Reichtum erscheinen hier als gleichberechtigte Bildungssphären, die zur Entsagung aufrufen: „Macht und Reichtum sind die höchsten Zwecke seiner Anstrengung; es weiß, daß es durch Entsagung und Aufopferung sich zum Allgemeinen bildet, zum Besitze desselben gelangt und in diesem Besitze allgemeine Gültigkeit hat; sie sind die wirklichen anerkannten 36

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Daß dieses ,3'att" zugleich als „Zeugnis" von seiner „letzten Beichte" bzw. „Absolution" beschrieben wird und ihm nun „statt eines gebietenden Gewissens" (10: 268) dient, deutet auf die Engführung von Religiösem und Moralisch-Rechtlichem, die auch Hegels Gewissens-Kapitel strukturiert. Arthur Henkel [Anm. 11] hat für Entsagung die Formel,Liebe ohne Besitz' geprägt. Mit dem Begriff der Entfremdung knüpft Hegel an Rousseaus Contrat social an, der von einer „alienation totale", [Anm. 7], S. 360, im Übergang des natürlichen Individuums zum Staatsbürger spricht. Vgl. Siep [Anm. 23], S. 190.

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Mächte." (390) Hegels Dialektik gemäß ist auch dieses Kapitel von der Struktur eines In-einander-Umschlagens geprägt. Die abstrakte Trennung von Politik als Sphäre des Allgemeinen, der Gleichheit, des sittlich Guten einerseits und Ökonomie als Sphäre der Einzelheit, der Ungleichheit, des sittlich Schlechten andererseits erweist sich als unhaltbar. In ihren historischen Konkretionen als Monarchie und Utilitarismus, die hier vor Augen stehen, haben beide Bereiche Anteil am Anundfursichsein des Geistes. Im Dienst fur den Staat ist zwar das Allgemeine primärer Zweck der Bildung, unter Verzicht auf den eigenen Willen und das Privatwohl, jedoch tritt dieses Allgemeine in der Figur des Monarchen als Gestalt der Einzelheit auf. In der ökonomischen Tätigkeit ist der „Genuß" des Fürsichseins intendiert, „aber dieser Genuß selbst ist Resultat des allgemeinen Tuns, so wie er gegenseitig die allgemeine Arbeit und den Genuß aller hervorbringt." (368) Eine Formulierung, die deutlich auf Adam Smiths wealth of nations verweist. 3 ' Konsequenz dieses in der Handlung erfahrenen wechselseitigen Umschlags von Gemein- und Eigennutz ist ein „zerrissenes Bewußtsein" (390), dem seine Inhalte nur als negative, verkehrbare gelten und das seinen Ausdruck in einer Bildungssprache der „Zerrissenheit" (384) findet. Mit den Sphären von Staatsmacht und Reichtum und den ihnen zugeordneten Gestalten, dem edelmütigen Bewußtsein als politischem Ratgeber und Staatsdiener sowie dem Geist des wohltuenden Reichtums, beschreibt Hegel die historische Genese jener berufsständischen Organisationen, die in der Rechtsphilosophie neben Familie und Staat die bürgerliche Gesellschaft konstituieren. In Goethes Wanderjahren erscheint der Oheim als Verkörperung von Hegels entfremdeten Geist, als eine Figur, die in Personalunion aufgeklärten Despotismus und Utilitarismus verbindet. In seinem durch Befestigungsanlagen gesicherten Reich hat er die Gesetzesmacht inne - Juliette spricht von seinen Weisungen als „Gesetz" (10: 332, 345) - , jedoch mit dem charakteristischen doublebind, daß diese Macht .zugesprochen' werden muß. In der Phänomenologie proklamiert Hegel für die Epoche der Aufklärung, daß hier erstmals die Sprache als Vermittlungsinstanz zwischen abstraktem Ansich und konkretem Fürsich in Erscheinung trete, und zwar als „Sprache der Schmeichelei" oder als jene der „Empörung" (384) gegen Macht und Reichtum. Im Falle politischer Herrschaft bedeutet dies, daß deren Selbständigkeit auf dem Zuspruch anderer gründet, die „dem Monarchen den eigenen Namen" (379) geben. In den Wanderjahren ist es Juliettes Sprache der Schmeichelei', die die Maximen des Oheims legitimiert, indem sie deren Sinn eindeutig auslegt und sie so erst zu einem befolgbaren Gesetz macht. Hingegen weist Hersilies ironische Empörung, „daß man sie alle umkehren kann und daß sie alsdann eben so wahr sind" (10: 328), auf das Signum der absoluten Verkehrung dieses sich in paradoxen Sinnsprüchen ausdrückenden Geists der Aufklärung. Eine dieser Maximen, „Besitz und Gemeingut" (10: 328), kennzeichnet das ökonomische Prinzip des Oheims analog zu Hegels Geist des wohltuenden Reichtums. Für die Ansichten, man müsse „Egoist sein um nicht Egoist zu werden" und solle das Kapital 39

Vgl. Siep [Anm. 23], S. 195.

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unangetastet lassen, da „die Interessen [...] ohnehin im Weltlaufe schon jedermann angehören" (10: 329), dürfte wohl ebenfalls Adam Smiths wealth of nations Pate gestanden haben. Die enge Verschränkung von aufgeklärtem Absolutismus und Utilitarismus im Oheimbezirk kommt im Gespräch über das Paradox ,Besitz und Gemeingut' ganz deutlich zum Ausdruck. Beide werden in direkter Abfolge als Figuren der Teilhabe skizziert: Der „Fürst" mache einen jeden „seiner absoluten Gewalt gleichsam teilhaft", der „Reiche" wünsche „überall Teilnehmer an seinem Überflusse" (10: 329). Im Kontext von Hegels Datierung der Trias von Absolutismus, Utilitarismus und Sprache der Entfremdung auf die vorrevolutionäre Epoche der Aufklärung läßt sich auch das Unzeitgemäße des Oheimbezirks herausstreichen. Dieses Gemeinschaftsmodell realisiert sich in der Romangegenwart in einer (gegen die Moderne) abgeschlossenen Enklave - darin dem Josephsbezirk verwandt - und bedient sich einer religiös konnotierten Problemlösungsstrategie. Die sonntägliche Beichtpraxis, das „Gesetz", sich „alle acht Tage [zu] resignieren", hat Juliette zufolge den Oheimbezirk davor bewahrt, „in die Gemeinschaft der Entsagenden aufgenommen zu werden." Diesem Gesetz unterwirft sich auch der Oheim, der ebenso wie Hegels Monarch auf den Rat eines edelmütigen Bewußtseins für seine Regierungsgeschäfte angewiesen ist. Als politische Beraterin fungiert hier die „edle Tante" (10: 345f.) Makarie. Der religiöse Kultus vermittelt im Oheimbezirk zwischen den weltlichen Entsagungsforderungen: Einerseits wird dem Untertanen die Übertragung seiner politischen Rechte auf den Monarchen abgefordert; in Juliettes Rede vollzieht sich dies als sprachliche Ent-Sagung, indem sie den Willen des Oheims als Gesetz proklamiert. Andererseits soll der Herrscher eine (partielle) Entsagung auf seinen Besitz und in der Anerkennung politischer Ratgeber auf seine Autonomie leisten; oder wie es in Anbetracht des Oheims formuliert wird: ein Besitzender, der sich nur mehr als „Verwalter" (10: 329) des Gemeinguts versteht, und ein Gesetzgeber, der auf die Weisungen Makariens vertraut. Die ritualisierte Beichtpraxis scheint durchaus geeignet, die jeweiligen Akteure auf ihre weltlichen Entsagungen zu verpflichten. Mit diesem Gesetz fallt das Sozialmodell des Oheims nicht aus dem im Titel des Romans generalisierten Entsagungsmotiv heraus, sondern es verkörpert einen historisch überholten, noch stärker am religiösen Ritus orientierten Entsagungstypus, während die Gemeinschaften der Wanderer, wie bereits skizziert, zeitgemäßere vertragsrechtliche Entsagungsstrategien praktizieren. Abschließend lassen sich die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Entsagungsdiskurse von Goethe und Hegel folgendermaßen akzentuieren. In beiden Fällen bezeichnet Entsagung nicht allein ein subjektives, sondern auch ein soziales Ethos. Durch Praktiken des Verzichts wird in den Bereichen von Religion, Recht, Liebe, Familie, Gemeinschaft, Politik und Ökonomie das Verhältnis zwischen Individuum und Allgemeinem ausgehandelt. Hegels Phänomenologie und Goethes Meister-Romane integrieren den dem Entsagungsbegriff in der politischen Philosophie und im juristischen Diskurs der Zeit eingeschriebenen Gedanken des Gesellschaftsvertrags, demzufolge das Prinzip der Wechselseitig-

Entsagung als ,Forderung des Tages'

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keit, die Dialektik von Verzicht und Kompensation die Beziehung zwischen Einzelnem und Gemeinschaft strukturiert. Beide Autoren stellen insbesondere die mediale Vermittlung von Entsagung durch Sprache heraus, so daß verschiedene Sprechakttypen von Entsagung differenziert werden konnten. Der für Goethe und Hegel eigentümlichen Engführung von Religiösem und Juristischem im Begriff der Entsagung liegt sowohl eine historisch-genealogische Betrachtungsweise zugrunde, als ihr auch ein Moment innewohnt, das als ethische Überschreitung der Forderung des Tages beschrieben werden kann. Vor allem im Gewissens-Kapitel der Phänomenologie verweist Hegel auf die Notwendigkeit ergänzender Formen vernünftiger religiöser Moralität für die gesellschaftliche Versöhnung. Goethes Wanderjahre insistieren noch weitaus dringlicher auf Korrektive, die den modernen Umstrukturierungen der Gesellschaft zur Seite zu stellen sind. Natur, Religion und Kunst sind jene Sphären, die im Roman mit der entsagenden Rettung der ethischen Substanz unter den Bedingungen der Moderne beauftragt werden. Die Entsagungs-Virtuosen der Wanderjahre, Montan, der Abbe, Makarie und in seinen letzten Entwicklungsschritten auch Wilhelm, deuten jeweils von ihrer eigenen Warte aus auf eine solche ethische Überschreitung der Forderung des Tages. Makarie verkörpert als Zwitterwesen - einerseits Naturphänomen der Entelechie, andererseits gebrechliche irdische Existenz und Beichtigerin der Entsagenden - diesen Anspruch am prägnantesten. Denn sie steht sowohl für die Naturgesetze als auch für die sittlichen Gesetze der Gemeinschaften ein und verbürgt so die Gleichberechtigung mindestens zweier Gesetze, die einander als Korrektiv dienen können. Diese ZweiReiche-Lehre findet sich auch in der Spinoza-Passage von Dichtung und Wahrheit und in den Maximen und Reflexionen : Dort sind es die „ewigen, notwendigen dergestalt göttlichen Gesetze" der „Natur" und „allgemein anerkannte sittliche Gesetze",40 hier „Naturnothwendigkeit" und „Gesellschaft", die dazu aufrufen, daß der Mensch „seinem Privilegien Gefühl entsagt".41 Mit diesem ethischen Dualismus ist die markanteste Differenz zwischen Goethes und Hegels Entsagungsdiskursen benannt, gilt Hegels Geist-Monismus doch das ,bloß Natürliche' als das entsagend zu Überschreitende. Hieran schließt ein weiterer Unterschied an: Hegels Systemlogik und Geschichtsteleologie läuft auf den absoluten Geist und auf dessen begriffliche Fassung in einer als Wissenschaft verstandenen Philosophie zu und kennt in diesem Prozeß Entsagung jeweils nur als punktuelle, letztlich aufzuhebende Handlung. Von einer Philosophie der Entsagung läßt sich nicht sprechen. Goethe hingegen faßt Entsagung als den Zeitumständen adäquate und vor allem auf Dauer gestellte Lebenshaltung, als Ethos, das es dem Menschen erlaubt, sich in der modernen Welt einzurichten.42 Als individuelles und soziales Ethos ist Entsagung Ausdruck der Akzeptanz von 40

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Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Bd. 14, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/M. 1986, S. 731, 732. Goethe [Anm. 9], S. 187. So grenzt er in Dichtung und Wahrheit [Anm. 40], S. 730, eine gänzliche Resignation aus Vernunftgründen, das „sich ein für allemal im Ganzen resignieren" von „partiellen Resignationen" ab.

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Arbeitsteilung als signifikantem Moment der Moderne. Zu Goethes „Poetik der Entsagung" 43 gehört darum auch die Einsicht, daß im Nebeneinander der gesellschaftlichen Subsysteme von Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Philosophie, Religion und Kunst keine Sphäre mehr eine Leitfunktion beanspruchen kann. So adressiert er 1832 als Wohlgemeinte Erwiderung an die junge Autorengeneration, „daß die Muse das Leben zwar gern begleitet, aber es keineswegs zu leiten versteht", sie „sucht die Gesellschaft des heiter Entsagenden, sich leicht Wiederherstellenden auf, der jeder Jahrszeit etwas abzugewinnen weiß, der Eisbahn wie dem Rosengarten die gehörige Zeit gönnt". 44

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BahrfAnm. 11], S.221. Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV/Bd. 49, Goethes Briefe (1831-1832). Weimar 1909, S. 213.

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Erhaben und sinnlich Strenge Form und theatrale Wirkung in Schillers Braut von Messina

Mit einem Wort, das längst Flügel bekommen hat, beginnt Schillers Braut von Messina} Donna Isabella, Messinas Fürstin, wendet sich da an die Ältesten der Stadt: Der Noth gehorchend, nicht dem eignen Trieb, Tret' ich, ihr greisen Häupter dieser Stadt, Heraus zu euch aus den verschwiegenen Gemächern meines Frauensaals [...]. (1-4)

Der proxemische Vorgang,2 das Heraustreten in den Raum der Öffentlichkeit, ist zweifellos ein Vorgang mit einer gewissen Bedeutsamkeit, und er ist auch gleich eine Art theatrales Zitat. Denn nicht nur zahlreiche antike Dramen beginnen mit dem Heraustreten des Protagonisten (aus einem Palast oder einem Haus), auch die Goethesche Iphigenie tut dies - Iphigenies erste Worte lauten bekanntlich: Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines, Tret' ich [...] - usw.

Mag - im Unterschied zu einem Palast - der .heilige Hain', in den Iphigenie aus dem Tempel der Diana heraustritt, ein Ort mit einer religiösen Aura sein (und nicht die Öffentlichkeit der Polis) - daß Schiller sich dennoch an dem Goetheschen Schauspiel orientiert, ist nicht unwahrscheinlich, denn nur drei Monate, bevor er anfangt, sich intensiver mit der Braut von Messina zu beschäftigen (von August 1802 an), hat er selbst auf Goethes Bitte hin dessen Iphigenie in einer von ihm, Schiller, erstellten Bühnenfassung in Weimar zur Erstaufführung gebracht (am 15. Mai 1802). Die Iphigenie könnte nicht zuletzt hinsichtlich der dramatischen Konzentration ein Vorbild für die Braut von Messina gewesen sein; Schiller hebt selbst hervor, es gebe in seinem Stück nur „eine einfache Handlung, wenig Personen, wenig Ortsveränderungen, eine einfache Zeit von einem Tag und einer Nacht". 3 1

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Ich zitiere nach: Schillers Werke. Nationalausgabe [NA]. Weimar 1943ff. Die Braut von Messina wird (mit Angabe der Versziffern in Klammern) zitiert nach NA 10, S. 5-125. ,Proxemik' ist in der Theaterwissenschaft die Bezeichnung für die körperlichen Bewegungen im Raum (u.a. Auftritte und Abgänge). (Der Begriff entstammt der Kommunikationswissenschaft.) An August Wilhelm Iffland, 24. Februar 1803, N A 10, S. 306f.

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Indessen kritisiert er das Goethesche Stück durchaus, und zwar einerseits als „erstaunlich modern und ungriechisch"4 und andererseits als ein Stück mit zu geringer Bühnenwirkung, denn ihm fehlt „die sinnliche Kraft, das Leben, die Bewegung und alles was ein Werk zu einem ächten dramatischen specifizirt".5 Insofern rivalisiert er wohl unausdrücklich mit Goethe, wenn er sich mit der Braut von Messina seinerseits um eine Annäherung an die Antike6 im Bereich der dramatischen Produktion bemüht und dabei großen Wert auf die Bühnenwirkung legt (davon unten mehr). Zu dieser Annäherung, die durchaus auch jenen „ausgeprägt .agonalen' Zug" erkennen läßt, „der Schillers Auseinandersetzung mit der Antike fast durchgängig kennzeichnet",7 zu dieser Annäherung mag ihn nicht zuletzt auch Humboldts Urteil, er sei der .modernste aller neueren Dichter', 8 provoziert haben. Humboldt selbst lenkt die Aufmerksamkeit wiederholt auf die Antike, da er seit 1797 an einer Übersetzung des Agamemnon von Aischylos arbeitet, wobei er immer wieder einzelne Teile Goethe, Schiller, den Brüdern Schlegel und anderen zur Beurteilung vorlegt. Überdies kann in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die Weimarer Bühne ohnehin quasi wie ein Ring erscheinen, in dem verschiedene Besitzansprüche hinsichtlich der Antike aufeinandertreffen. Im Januar 1802 bringt Goethe August Wilhelm Schlegels Ion auf die Bühne, eine Bearbeitung des Stoffs, der dem Euripideischen Stück zugrunde liegt. Die Inszenierung wird von Goethe mit großer Energie betrieben und erscheint ihm hernach sehr erfolgreich.9 Just deshalb hält er nun auch eine Aufführung seines eigenen „gräzisierenden Schauspiels",10 der Iphigenie, für möglich, eine Auffuhrung, die, wie erwähnt, dann von Schiller betreut wird. Zwei Wochen nach der Iphigenie wird Friedrich Schlegels Trauerspiel Alarcos aufgeführt (29. Mai 1802), das trotz des zugrundeliegenden spanischen Stoffs - Schlegel zufolge - ein Trauerspiel „im antiken Sinne des Wortes" und in äschyleischer Manier sein soll." In Schillers Augen ist das Stück freilich nur ein „seltsames Amalgam des Antiken und Neuest-Modernen",12 in dem die Vorbildfunktion der Antike in der Tat nur in einer sich erfüllenden Prophezeiung zum Vorschein 4 5 6

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An Christian Gottfried Körner, 21. Januar 1802, NA 31, S. 89f. Ebd., S. 90. Vgl. u.a. Schadewaldt, Wolfgang: ,Antikes und Modernes in Schillers ,Braut von Messina'." In: JDSG 13 (1969), S. 286-307. Frick, Werner: „Schiller und die Antike." In: Schiller-Handbuch, hrsg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 1998, S. 91-116, hier S. 92. An Wilhelm von Humboldt, 17. Februar 1803, NA 10, S. 306. Vgl. Maurach, Bernd: „Die Affäre um Goethes Inszenierung des Schlegelschen Ion." In: Neophilologus 60 (1976), S. 542-550; Schulz, Gerhard: „Theater um Goethe und die Brüder Schlegel. Bemerkungen zu Demarkationslinien der Literaturgeschichte." In: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium, hrsg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1984, S. 194200. An Schiller, 19. Januar 1802, zit. nach NA 39,1, S. 175. Zit. nach: Eichner, Hans: „Einleitung." In: Friedrich Schlegel: Dichtungen, hrsg. und eingel. von Η. E. München u.a. 1962, S. LXXX, Anm. 44. An Goethe, 8. Mai 1802, NA 31, S. 129.

Erhaben und sinnlich

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kommt. Nicht der Alarcos, der ohnehin beim Publikum durchfällt, wohl aber der Ion ist fur Schiller sicherlich eine Folie, von der er seine andere und eigene Behandlung der antikischen Momente abhebt (auch dazu unten mehr).13 Was nun die Antike betrifft, so sieht Schiller deren „fremden Geist"14 vor allem in der dramatischen Form beschlossen und nicht als einen Gehalt. Auch sein berühmtes Wort über den Sophokleischen König Ödipus als eine „tragische Analysis" - „Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt"1S - zielt nicht zuerst auf etwas Gehaltliches, sondern auf die formalen Eigenarten eines analytischen Dramas und auf die dadurch ermöglichte Wirkung. Dementsprechend meint er, daß just aus „der strengsten griechischen Form"16 - einer Form, von deren Strenge er wiederholt schwärmt17 - die bei Goethe vermißte theatrale Wirkung hervorgehe. In diesem Sinne sollen im folgenden die formalen Eigentümlichkeiten unter dem Blickwinkel der intendierten theatralen Wirkung betrachtet werden. Das Stück spielt - mit einer gespielten Zeit von weniger als 24 Stunden - im 11. Jahrhundert. Der exotisch anmutende Spielort Messina rechtfertigt in Schillers Augen das religiöse Gemenge aus antiker Mythologie und Christentum mit islamischen Beigaben.18 Bei dem herrschenden Füstengeschlecht handelt es sich um Nachfahren der Normannen, die 1061 Sizilien erobert haben. Die Personen sind im einzelnen die Fürsten Don Manuel und Don Cesar, „die feindlichen Brüder", wie sie in dem etwas reißerischen Doppeltitel des Dramas genannt werden, weiterhin ihre Mutter Donna Isabella und ihre Schwester Beatrice sowie schließlich der alte Diener Diego, insgesamt also fünf selbständig handelnde Personen19 - wie in der Iphigenie.

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Lediglich erwähnt sei, daß in dieses intertextuelle Spiel auch noch Goethes „Natürliche Tochter", die gleichzeitig mit der „Braut von Messina" entsteht, mit hineinzunehmen wäre. Vgl. Verf.: „Die natürliche Tochter." In: Goethe-Handbuch. Bd. 2: Dramen, hrsg. von Theo Buck. Stuttgart 1996, S. 288-303, bes. S. 301 f. An Humboldt, 17. Februar 1803, NA 10, S. 306. An Goethe, 2. Oktober 1797, NA 29, S. 141. An Körner, 13. Mai 1801, NA 10, S. 301. „[...] nach der Strenge der alten Tragödie", an Cotta, 11. Februar 1803, NA 10, S.306; wörtlich ebenso an Iffland, 24. Februar 1803, ebd.; „Mein erster Versuch einer Tragödie in strenger Form", an Humboldt, 17. Februar 1803, ebd. Vgl. Albert, Claudia: „Sizilien als historischer Schauplatz in Schillers Drama ,Die Braut von Messina'." In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 226 (1989), S. 265-276; Vonhoff, Gert: „Der Geschichte eine Form. Schillers .Braut von Messina'." In: Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte, hrsg. von Thomas Althaus und Stefan Matuschek. Münster, Hamburg 1994, S. 71-99; Langner, Beatrix: „Der Name der Blume. Schillers Trauerspiel ,Die Braut von Messina' als Dramaturgie der geschichtlichen Vernunft." In: Schiller als Historiker, hrsg. von Otto Dann, Norbert Oellers und Ernst Osterkamp. Stuttgart, Weimar 1995, S. 219-242. Vgl. Bittrich, Burkhard: „Zur Konfiguration von Friedrich von Schillers Trauerspiel mit Chören ,Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder'." In: Die dramatische Konfiguration, hrsg. von Karl Konrad Polheim. Paderborn u.a. 1997, S. 91-100.

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Hinzu kommt freilich die eigentlich interessanteste persona dramatis, der Chor.20 Schiller meint in der Vorrede zur Braut von Messina, es gebe zwar Chöre „in der modernen Tragödie", aber der „Chor der alten Tragödie" sei seit deren Verfall „nie wieder auf der Bühne erschienen".21 Das ist nun freilich teils ein Irrtum, teils eine Frage der Definition dessen, was die ,moderne Tragödie' ist. Zum neuzeitlichen Chor im Sprechtheater ein kleiner Exkurs. Bereits die erste Renaissance-Tragödie, die sich als Wiederauferstehung des antiken Dramas sieht, die Tragödie Sofonisba des Italieners Giovan Giorgio Trissino aus dem Jahre 1515, bringt den Chor wieder auf die Bühne. In der Folgezeit tauchen dann überall Chöre auf, nicht nur in Italien, auch in Frankreich, in England, in Deutschland, zum Teil dann auch nur zwischen den Akten eingesetzt wie im Fall der Reyen im barocken Trauerspiel (also in einer Schwundform). In der französischen Klassik läßt Racine in zwei Dramen mit biblischen Stoffen Chöre auftreten,22 woraufhin Gottsched, wiewohl ein trockener Rationalist, dies in seiner Critischen Dichtkunst als nachahmenswert lobt.23 - Das Drama der Aufklärung kennt den Chor immerhin ausnahmsweise: in Johann Friedrich von Cronegks Olint und Sophronia. Klopstock schätzt Chöre in seinen ,Bardieten', den Hermann-Dramen.24 Gerstenberg,25 Herder,26 Maler Müller27 verwenden Chöre - nicht zuletzt unter dem Einfluß von Oper und Singspiel.28 Um die Nähe zur griechischen Dramatik bemühen sich die Brüder Stolberg in ihren „Schauspielen mit Chören".29 Auch Goethe übrigens liebäugelt verschiedentlich mit dem Chor und verwendet ihn dann u.a. im Helena-Akt (1827) von Faust //.30 Zurück zu Schiller, der sich mit seiner Entscheidung für den Chor deutlich von August Wilhelm Schlegel abhebt. Schlegel nämlich verzichtet nicht auf eine Göttererscheinung und auf das Motiv der einander scheinbar widersprechenden Orakel, streicht aber den Chor. Schiller dagegen hat es vordem bereits zustimmend als „ein wichtiges Experiment" bewertet,31 daß Goethe in seiner Übersetzung von Voltaires Tancrede eigentlich zwei Chöre auftreten lassen wollte. Andererseits ist er gegen Götterscheinungen und Orakel in einem mo20

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Vgl. Sergl, Anton: „Das Problem des Chors im deutschen Klassizismus. Schillers Verständnis der Iphigenie auf Tauris' und seine ,Braut von Messina'." In: JDSG 42 (1998), S. 165-194. Vorrede, NA 10, S. 14. „Esther" (1689), „Athalie" (1691). Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst [...]. Nachdr. der 4., veim. Aufl. Leipzig 1751. Darmstadt 1977, S. 610. 1769, 1784, 1787; vorher in dem biblischen Drama „Salomo" (1764). „Minona" (1785). „Brutus" (1774), ,Drama zur Musik'. „Niobe" (1778). Vgl. auch die Singspiele Wielands, darunter „Rosemunde" (1778). Erschienen 1787, darunter „Theseus" (1784) von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Das gilt auch für Herders spätere Stücke, in denen meist eine Mehrzahl von Chören auftreten („Admetus Haus", 1803). Auch in dem Festspiel „Des Epimenides Erwachen" (1814). An Goethe, 30. Juli 1800, NA 30, S. 182.

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demen Drama. Der Ödipus erscheint ihm unnachahmbar, weil es keine moderne Entsprechung zum Orakel gebe.32 Und er nimmt es als selbstverständlich hin, daß Goethe in der Iphigenie auf „Götter und Geister" und insbesondere auf die Erinnyen verzichtet hat.33 Dementsprechend ersetzt er, wie noch zu erläutern ist, das Orakel durch Träume, die erst von den Träumenden selbst und von deren Traumdeutern zu Orakeln erhoben werden. In der Vorrede „Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie" liefert Schiller eine teils literaturtheoretische, teils theaterpraktische Erläuterung. In der neueren Tragödie ist der Chor - als „ideale Person", wie Schiller sagt - ein Fremdkörper; er bricht daher erwünschtermaßen die Illusion und macht als ein Element der Stilisierung bewußt, daß auf der Bühne nur eine ideale, eine poetisch fingierte Welt vorgeführt wird. Schiller findet für diesen Gedanken Formulierungen, die wie ein Höhepunkt der Dramaturgie der Aufklärung erscheinen können, ein Höhepunkt, zu dem die Aufklärung eigentlich hätte gelangen müssen, aber nicht gelangt ist.34 Denn statt einmal mehr von einem noch unerzogenen und erziehungsbedürftigen Publikum auszugehen, entwirft Schiller hier das Bild eines mündigen Zuschauers, der nicht mehr mit Hilfe von Unterhaltungsangeboten geködert und übertölpelt wird und sich darum auch Belehrung und Erziehung gefallen läßt, sondern der souverän und Herr seiner selbst bleibt, selbst wenn das vorgeführte Geschehen geeignet sein könnte, ihn gänzlich in Bann zu schlagen und ihn in diesem Sinne zu entmündigen: [...] das Gemüth des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten, es soll kein Raub der Eindrücke seyn, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen [= emotionalen Wirkungen des Theaterstücks] scheiden, die es erleidet. Was das gemeine Urtheil an dem Chor zu tadeln pflegt, daß er die Täuschung [= Illusion] aufhebe, daß er die Gewalt der Affekte breche, das gereicht ihm zu seiner höchsten Empfehlung, denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der wahre Künstler vermeidet, diese Täuschung ist es, die er zu erregen verschmäht. 35

Es ist nicht leicht vorstellbar, wie der Zuschauer mitten „in der heftigsten Passion", also in völliger Aufgewühltheit, dennoch „seine Freiheit behalten" und sogar „klar und heiter" bleiben soll. Bemerkenswerter scheint mir aber, daß Schiller hier den Vorstellungen vom Erhabenen, wie er sie in seinen früheren Schriften fixiert hat, einen ganz besonderen Akzent gibt. Vordem nämlich ist in der Regel vom Verhalten des Menschen angesichts überlegener Mächte - Natur oder Schicksal zum Beispiel - die Rede. Als erhaben erweist sich dann regelmäßig derjenige, der zwar jenen Mächten erliegt, aber im Untergang die ver-

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An Goethe, 2. Oktober 1797, NA 29, S. 141 f. An Goethe, 22. Januar 1802, NA 31, S. 92. Vgl. Endres, Johannes: „.Nathan", entzaubert. Kontinuität und Diskontinuität der Aufklärung in Schillers ,Die Braut von Messina'." In: JFDH 2000, S. 164-188, hier S. 175. Vgl. auch Verf.: „Der Krieg gegen das Publikum. Die Rolle des Publikums in den Konzepten der Theatermacher des 18. Jahrhunderts." In: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung von Körper - Musik - Sprache, hrsg. von Erika FischerLichte und Jörg Schönert. Göttingen 1999, S. 483-502. Vorrede, NA 10, S. 14.

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nunftgegründete Überlegenheit des Geistwesens Mensch über das Naturwesen, das der Mensch eben auch ist, unter Beweis stellt. Und wenn der Schwung den Autor besonders hoch treibt, stellt er sich vor, der ehedem unbetroffene Betrachter katastrophaler Vorgänge könne, wenn er denn unversehens selbst zum Opfer wird, sich auf die prinzipielle geistige Überlegenheit des Menschen besinnen und sich damit, pointiert formuliert, geistig über die eigene physische Vernichtung hinwegsetzen. Es kann gelingen, so Schiller, daß der menschliche Geist endlich auch dann, wenn aus dem eingebildeten und künstlichen Unglück ein ernsthaftes wird, im Stande ist, es als ein künstliches zu behandeln, und, der höchste Schwung der Menschennatur! das wirkliche Leiden in eine erhabene Rührung aufzulösen. 36

Dies bezieht sich, wohlgemerkt, auf den Betrachter, der sich plötzlich mit der Chance konfrontiert sieht, im Untergang zum Helden zu werden. In der Vorrede zur Braut von Messina jedoch wird nun eine erhabene Haltung auch dem ungefährdeten Zuschauer als Möglichkeit zuerkannt: Als Naturwesen wird der Zuschauer das Opfer der Gewalt der Affekte, aber als Geistwesen kann er - mit Hilfe des Chors - „seine Freiheit behalten" und über dem Geschehen „schweben".37 So weit die theoretische Überlegung. - Dem begegnet aber nun die theaterpraktische Wirkung, die Schiller dem Chor auf der Bühne zutraut,38 denn, so die Vorrede, der Chor ist „eine sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert".39 Schiller gerät darüber geradezu in Begeisterung: Der Chor ist „mit der vollen Macht der Phantasie" und „mit einer kühnen lyrischen Freiheit" ausgestattet, in seinen Äußerungen verstärkt sich „die sinnliche Gewalt des Ausdrucks überhaupt", und er wird „von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet".40 Bei dem Wort „Musik" denkt Schiller wohl nicht nur an die immanente Musikalität der Sprache, sondern an die auch im Sprechtheater einsetzbare Musik. Im Gespräch,41 auch in einem Brief an den Komponisten Karl Friedrich Zelter liebäugelt er mit der Vorstellung einer Vertonung der lyrischen Passagen des Chors.42 Ob Robert Schumanns Ouvertüre zur Braut von Messina

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Ueber das Erhabene, NA 21, S. 38-54, hier S. 51. Vorrede, NA 10, S. 14. Schiller meint, er könne sich „auf den Brettern eine bedeutende Wirkung von dem Chore versprechen", auch der Weimarer Schauspieler und Regisseur Heinrich Becker sei „von der theatralischen Wirkung des Chors überzeugt", an Goethe, 5. Februar 1803, NA 10, S. 305; der Chor werde „gut gesprochen werden und Effekt machen", nach einer Leseprobe an Goethe, 28. Februar 1803, NA 10; S. 307. Vorrede, NA 10, S. 13. Ebd. Schiller soll sich gewünscht haben, daß „die ganz lyrischen Teile des Chors in Musik gesetzt" würden, so der Weimarer Gymnasialdirektor Karl August Böttiger, zit. nach: Dichter über ihre Dichtungen: Friedrich Schiller, hrsg. von Bodo Lecke. Bd. 2. München 1970, S.461. An Zelter, 28.2.1803, NA 10, S. 307.

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aus dem Jahr 1851 ihm gefallen hätte, mag angesichts der musikgeschichtlichen Weiterentwicklung offen bleiben. Auffallig ist jedenfalls in den zitierten Äußerungen die Feier desjenigen Sinnlichen, das der Iphigenie in Schillers Augen so sehr abgeht! Auch die Begriffe „Macht" und „Gewalt" lassen kaum einen Zweifel daran, daß der Theaterpraktiker - unbeschadet aller Überlegungen des Theoretikers - auf die Bannkraft der theatralen Darbietung setzt. Und wenn man nun noch einzelne der zitierten Formulierungen gewissermaßen kurzschließt - so vor allem die gepriesene „sinnliche Gewalt des Ausdrucks" und die verurteilte „blinde Gewalt der Affekte" - , dann wird erkennbar, daß die theoretische Rechtfertigung in der Vorrede dem Chor nachträglich eine erhabene Rolle zuweist, nachdem der Theaterpraktiker vorher dem sinnlichen Reiz des Chors erlegen ist. Der Chor soll eben erhaben und sinnlich erscheinen - beides zugleich. Als „ideale Person" ist der Chor quasi ein idealer Zuschauer auf der Bühne, der - als distanziert räsonierender Betrachter - dem realen Zuschauer im Parkett bestimmte intellektuelle und emotionale Reaktionen vorgibt, der also die Rezeption lenkt. Nun soll der Chor aber einen Doppelcharakter besitzen und nach seiner zweiten Seite hin ein in das Geschehen einbezogener Mit-Handelnder sein. Schiller teilt ihn daher in zwei Halbchöre, die als das Gefolge Manuels und Cesars in die Handlung verstrickt sind. 43 Während der nur zuschauende Chor einen „allgemein menschlichen" Charakter besitzt, 44 repräsentieren die mithandelnden Halbchöre die ursprüngliche Bevölkerung Messinas und erscheinen jeweils „als wirkliche Person und als blinde Menge", 45 ja sie sollen „die ganze Blindheit, Beschränktheit, dumpfe Leidenschaftlichkeit der Masse darstellen". 46 Da zittern sichtlich noch die Schrecken der Französischen Revolution nach. So weit das Personal einschließlich des Chors. Die Handlung wird von Schiller selbst als einfach bezeichnet. Sie ist dies, soweit - nach der Art eines analytischen Dramas - bedeutsame Momente des Gesamtzusammenhangs in der Vorgeschichte untergebracht sind. Nachdem die einander seit jeher befehdenden Brüder Manuel und Cesar sich miteinander versöhnt haben, enthüllt ihnen ihre Mutter Isabella die Existenz einer Schwester namens Beatrice, die im Verborgenen und ohne von ihrer Herkunft zu wissen aufgewachsen ist. Indessen sind was fur ein Zufall! - Manuel und Cesar unabhängig voneinander dieser Beatrice bereits begegnet und begehren sie jeweils für sich als Braut, und zwar Manuel mit ihrem, Beatrices, Einverständnis und Cesar, ohne sie weiter zu fragen. Das gehört in die Vorgeschichte. Als nun in der Gegenwartshandlung Cesar Beatrice im Beisein Manuels antrifft, ersticht er Manuel kurzerhand — Versöhnung hin,

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Vgl. Müller, Joachim: „Choreographische Strategie. Zur Funktion der Chöre in Schillers Tragödie ,Die Braut von Messina'." In: Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft, hrsg. von Helmut Brandt. Berlin, Weimar 1987, S. 431-^448. An Körner, 10. März 1803, NA 10, S.307. Vorrede, NA 10, S. 15. An Körner, 10. März 1803, NA 10, S. 308.

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Versöhnung her. Hernach über die Zusammenhänge aufgeklärt, entleibt er sich zur Sühne. Fast ein Schauerdrama, das denn auch keine Angst vor melodramatischen Motiven hat - man denke an das Fürstenkind, das in Unkenntnis seiner Herkunft aufwächst, oder an die Bruderfehde oder an den doppelt drohenden Inzest. Schiller verknüpft die Einzelvorgänge miteinander, indem er - zum Teil recht kunstvoll - die schrittweise Enthüllung der Vorgeschichte und den Fortgang der Handlung ineinander strickt. Indessen behandelt er die Frage der Plausibilität mitunter erstaunlich sorglos. Es grenzt geradezu ans Absurde, wie Cesar von Beatrice Besitz ergreift, indem er sie, als er sie zum zweitenmal sieht, als Braut reklamiert und dabei zunächst sie nicht zu Wort kommen läßt und dann, da es ihr die Sprache verschlagen hat, ihr sittsames Schweigen lobt, um anschließend sofort wieder abzutreten. Er kennt zu diesem Zeitpunkt ihren Namen noch gar nicht, ja, er hat möglicherweise noch nicht einmal ihre Stimme recht gehört, denn die einzigen Worte, die sie bei seinem Erscheinen gesprochen hat, waren: „Weh mir! Was seh ich?" (1109). Mit der Frage nach der Plausibilität der Motivierung bin ich freilich bereits im Bereich des Inhalts und nicht mehr nur der formalen Charakteristika. Das Drama legt keinen Wert auf eine detailliertere Psychologie. Es fixiert die Figuren weitgehend auf bestimmte Positionen, so daß die charakterlichen Eigenarten sich eher aus der Rollenverteilung ergeben und weniger als wirklich individuelle Qualitäten erscheinen. Am deutlichsten wird das bei den beiden Brüdern, die der etwas kolportagehafte Doppeltitel Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder ins Rampenlicht rückt, zumal mit dem auffalligen Gegensatz von ,Feind' und ,Bruder'. Manuel und Cesar sind nicht derart individualisiert, daß ihr unterschiedliches Naturell ihren Streit erklären würde. Sie werden vielmehr in typisierender Manier festgelegt auf die Positionen des älteren bzw. des jüngeren Bruders, und daraus ergeben sich dann ihre charakterlichen Grundzüge, die größere Besonnenheit bei dem älteren Manuel und die unbedachte Spontaneität bei dem jüngeren Cesar. Der zweite Titel des Dramas „die feindlichen Brüder" benennt gewissermaßen das Spielschema, nach dem diese beiden Figuren eingesetzt werden. Dabei springt ins Auge - und das ist einer der interessantesten Züge - , in welch hohem Maße die Auffassungen und Äußerungen der Personen relativ sind, d.h. subjektiv und situationsbezogen, und zwar aller Personen, denn Schiller hält zu allen Distanz. Wie er in einem Brief meint, gelte das Interesse eher der Handlung als den handelnden Personen (wie auch im Falle des Sophokleischen Ödipus), und das erzeuge „eine gewisse Kälte".47 Vielleicht hängt es damit zusammen, daß hier keine Figur - mit Ausnahme allenfalls der eher blassen Beatrice - sich der Neigung des Autors erfreuen kann. Die Reihe der Lieblinge - von Karl Moor und Fiesko über Marquis Posa, Max Piccolomini und - vielleicht - Maria Stuart und Johanna - , diese Reihe reißt ab: Hier hat

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An Körner, 13. Mai 1801, NA 10, S. 301.

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Schiller keinen mehr lieb. Insofern könnte man das Spiel kennzeichnen mit den Worten: jeder gegen jeden und der Autor gegen alle. Auch der Chor, weit davon entfernt, Schillers Sprachrohr zu sein, besticht selten durch überlegene Einsicht. Soweit er als die in das Geschehen verstrickte reale Person erscheint, ist seine Optik merklich von seiner untergeordneten sozialen Stellung bestimmt. Als die Brüder eingangs mit der Versöhnung noch zögern, empfiehlt der Chor: „Laßt es genug seyn und endet die Fehde, / Oder gefällts euch, so setzet sie fort." (435-436) - ein bezeichnender Verzicht auf eine eigene Überzeugung. - Aber auch als ideale Person schwingt der Chor sich nur gelegentlich auf zur Höhe erfahrungsgesättigter Einsichten von sinnlicher Bildkraft und Eindringlichkeit. Dafür seien ein paar Verse zitiert: Durch die Strassen der Städte Vom Jammer gefolget, Schreitet das Unglück - Laurend umschleicht es Die Häuser der Menschen, Heute an dieser Pforte pocht es, Morgen an jener, Aber noch keinen hat es verschont. [...] Wenn die Wolken gethürmt den Himmel schwärzen, Wenn dumpftosend der Donner hallt, Da da fühlen sich alle Herzen In des furchtbaren Schicksals Gewalt. Aber auch aus entwölkter Höhe Kann der zündende Donner schlagen, Darum in deinen fröhlichen Tagen Fürchte des Unglücks tückische Nähe. Nicht an die Güter hänge dein Herz, Die das Leben vergänglich zieren, Wer besitzt, der lerne verlieren, Wer im Glück ist, der lerne den Schmerz. (2267-2275, 2297-2308)

Dem Tonfall nach teils Prediger Salomo aus dem Alten Testament, teils römischer Stoizismus. Relativ im erläuterten Sinne, also abhängig von Sprecher und Situation, sind nicht zuletzt diejenigen Hinweise, die sich wie Schlüssel für das verhängnisvolle Geschehen geben. Damit berühre ich die in der Forschung lange Zeit umstrittene Frage: Wer ist schuld an dem ganzen Unglück? Der Chor unkt etwas vage von ,namenlosen Greuelthaten' und ,schwarzen Verbrechen' (967f.), auch Isabella spricht von einem ,alten Fluch' (1695), wohingegen Cesar ihre, Isabellas .Heimlichkeit' (2472) anprangert. Fragt Beatrice sich, „welch bösen Sternes Macht" (1893) über sie herrsche, so meint Diego beschwichtigend, es handle sich um die „Stimme der Natur" und die „Macht des Bluts" (1662). Aber just mit Hilfe solcher Formeln und Denkbilder versuchen alle Personen (einschließlich des Chors), sich die Dinge je nach ihrer eigenen Art zurechtzulegen. Dies gilt zumal für den Komplex der bislang noch nicht erwähnten Träume, die der Geburt Beatrices vorausgehen und in deren Folge Beatrice - wie Ödipus - eigentlich getötet werden soll, um dann, dennoch gerettet, in der Ferne aufzuwachsen. Diese Träume stellen eine bemerkenswerte Konzentration von lauter

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Zweideutigkeiten dar, sie sind keine Orakel, sondern werden von den Träumenden selbst erst zu Orakeln mit prophetischer Kraft erhoben. Aufgrund ihrer Unbestimmtheit müssen sie gedeutet werden, und dies geschieht teils durch einen arabischen Astrologen (1317f.), teils durch einen christlichen Mönch (1346) und somit also auch noch in der Konkurrenz verschiedener Religionen. Die Personen legen sich die erhaltenen Deutungen nochmals in einer bestimmten Weise aus, um daraus dann schließlich Verhaltensanweisungen abzuleiten, als wäre die Beziehung zwischen Traum und Handlung nicht mehrfach gebrochen. Hinsichtlich der erwähnten Frage nach der Schuld sucht die Forschung daher die Triebkräfte des Geschehens immer weniger in irgendeinem schicksalhaften Verhängnis, sondern in den Handelnden selbst und in deren Fehlhaltungen.48 Allein schon die erwähnte autoritär-egozentrische Art, in der Cesar von Beatrice Besitz ergreift, ohne sie zu Wort kommen zu lassen, zeigt augenfällig, daß hier ein individuell zurechenbares Fehlverhalten und nicht das Wirken eines Schicksals ausschlaggebend ist. Von Bedeutung ist insbesondere die Verschlossenheit und Täuschbarkeit der Personen; der Begriff .Geheimnis' begegnet wiederholt, Heimlichkeiten und Verbergungen häufen sich. Aber auch die Täuschbarkeit wird bisweilen sehr prägnant vorgeführt. Unruhig wartet Beatrice auf Manuel, dann endlich: Stimmen im Garten! Er ists, der Geliebte! Er selber! Jezt täuschte Kein Blendwerk mein Ohr [...] (1102-1105)

Doch. Es ist der Falsche, Cesar, nicht der Geliebte, sondern dessen Mörder. Und wenn Manuel bei anderer Gelegenheit in seiner Verblendung ein Omen nicht wahrhaben will - „Dieß Zeichen trifft nicht zu" (1659) dann belügt er sich. Das Zeichen trifft zu. Alle Personen neigen zur Selbsttäuschung. Als eingangs die miteinander versöhnten Brüder sich fragen, was sie eigentlich vordem entzweit habe, finden sie in geradezu lustspielhafter Borniertheit die Schuld alsbald bei anderen: So ists, die Diener tragen alle Schuld! Die unser Herz in bitterm Haß entfremdet. Die böse Worte hin und wieder trugen. [...] Wir waren die Verführten, die Betrognen! [Usw.] (489-491, 495)

Täuschbar sind die Personen, weil sie den Dingen willkürlich eine ihnen selbst zusagende Bedeutung geben - am krassesten, wenn Cesar seinen Bruder ersticht und dabei ausruft: „O eine Stimme Gottes war mein Haß! / Fahre zur Hölle fal48

Vgl. die überzeugende Darstellung von Karl S. Guthke: „Die Braut von Messina." In: Schiller-Handbuch [Anm. 7], S. 465-485, hier besonders S. 469-471. Von einer „ A m b i v a lenz der Schicksalsdarstellung" spricht Monika Ritzer: „Not und Schuld. Zur Funktion des ,antiken' Schicksalsbegriffs in Schillers .Braut von Messina'." In: Schiller heute, hrsg. von Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann. Tübingen 1996, S. 131-150, hier S. 149.

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sehe Schlangenseele!" (1902f.) Welch groteske Willkür, den eigenen Haß als Gottes Stimme zu deuten! Die Abhängigkeit von einer subjektiven Perspektive, mithin die erwähnte Relativität aller Standpunkte, führt zu einer verhängnisvollen Differenz zwischen Faktum und Einsicht, zwischen dem wirklichen Stand der Ereignisse und dem Kenntnisstand der Personen. Darin liegt die tragische Ironie, von der das Drama reichlich Gebrauch macht. Einen Höhepunkt bildet da sicherlich die Szene, in der die Mutter offenbart, sie werde den Brüdern demnächst beider Schwester präsentieren, und die Brüder antworten, sie brächten ihrerseits jeweils eine Braut mit, während der Zuschauer längst weiß, daß es sich in allen drei Fällen um Beatrice handelt. Den Beschluß des Dramas bildet Cesars Selbstmord. Nicht selten ist zumal in der älteren Forschung von dem „idealistischen Aufschwung" gesprochen worden, den ein zum „Idealisten" gewandelter Cesar nehme.49 Ich denke, daß der Selbstmord hier ebenso wenig als freier sittlicher Akt aufgefaßt werden kann wie deijenige Mortimers in der Maria Stuart.50 Keinesfalls kann man sich dazu auf Schillers theoretische Schriften berufen. Denn verherrlicht wird dort zwar die gegen den Lebenswillen gerichtete heroische Selbstpreisgabe in einer schicksalhaften Notsituation, nicht aber jeder beliebige Selbstmord. Im übrigen sind die Begleitumstände irritierend genug. Cesar scheint nach langwierigen Diskussionen endlich überredet, am Leben zu bleiben, da öffnen sich - im denkbar unpassendsten Augenblick - zwei Kirchentüren im Hintergrund, und der Sarg, in dem Manuel liegt, wird sichtbar. Die Theaterlogik ist zwingend: Der tote Bruder ruft mahnend aus dem Sarg, Cesar weiß, was sich gehört, und nimmt sich das Leben. Dabei beruft er sich auch noch in geradezu aberwitziger Weise auf Gott: Daß ein Mörder ungestraft weiterlebe, das „verhüte / Der allgerechte Lenker unsrer Tage" (2830f.). Selbstmord zu begehen, den Blick in eine Kirche gerichtet, und sich dabei auf den christlichen Gott zu berufen, ist religiös ganz unmöglich. Aber es ist auch logisch unsinnig, auf einen allgerechten Lenker zu verweisen und dennoch Selbstjustiz zu üben. Nicht zuletzt beruhigt der Schluß natürlich den Zuschauer, der es als unpassend empfunden hätte, wenn der Brudermörder in aller Seelenruhe die Herrschaft übernommen und bis ans Ende seiner Tage innegehabt hätte. Der Chor geht denn auch genau auf diese Zweideutigkeiten in seinen bekannten Schlußworten ein:

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Kluge, Gerhard: „Die Braut von Messina." In: Schillers Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer. 2., durchges. und bibl. erneuerte Aufl. Stuttgart 1983, S. 242270, hier S. 266. Vgl. u.a. Homann, Renate: Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller. München 1977, S. 104-174. Guthke hebt Schritt fur Schritt das Schwanken Don Cesars zwischen idealistischem Aufschwung und Rückfall „in die sinnliche Triebwelt der Eifersucht und des Neides" hervor, Guthke [Anm. 48], S. 4 7 8 ^ 8 4 , hier S. 483.

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Erschüttert steh ich, weiß nicht, ob ich ihn Bejammern oder preisen soll sein Loos. Dieß Eine fühl ich und erkenn es klar, Das Leben ist der Güter höchstes n i c h t , Der Uebel größtes aber ist die S c h u l d .

Der Schluß ein Cicero-Zitat.51 - Frei nach Kant bestünde das höchste Gut in der reinsten Tugend, belohnt mit der größten Glückseligkeit. Schillers Chor indessen vermag die Frage nach dem höchsten Gut nicht zu beantworten, dem Hinweis auf die Schuld fehlt das positive Pendant. Wie sollte es auch anders sein, am Ende eines Vorgangs, der nurmehr ratlose Erschütterung hervorruft - „Erschüttert steh ich, weiß nicht, ob ich ihn / Bejammern oder preisen soll sein Loos." Bejammern oder preisen, das schließt völlig entgegengesetzte Bewertungen ein, und Cesar kann danach ebensowohl als Gescheiterter wie als Sieger angesehen werden. Das Drama bleibt hier offen. Worauf es hinauswill, ist die wuchtigste theatrale Wirkung: die Erschütterung, wie der Chor sie vorexerziert. Bei einer Aufführung soll Schiller, als der tote Manuel hereingetragen wird, gesagt haben: „Das ist doch nun wirklich ein Trauerspiel."52 Und in einem Brief an Körner schreibt er, er habe tatsächlich in einer solchen Aufführung „zum erstenmal den Eindruck einer wahren Tragödie" bekommen. Und weiter: „Der Chor hielt das Ganze trefflich zusammen und ein hoher furchtbarer Ernst waltete durch die ganze Handlung. Goethen ist es auch so ergangen, er meint, der theatralische Boden wäre durch diese Erscheinung zu etwas höherem eingeweiht worden".53 Worin liegt also wohl das .wirkliche Trauerspiel' und die ,wahre Tragödie'? In der Präsenz des Todes. Schon Aristoteles hat auf die besondere Wirkung von Todesfällen auf offener Bühne hingewiesen.54 Schiller sieht das nicht anders, auch fur ihn ist dabei die bannende Wirkung der theatralen Vorführung ausschlaggebend. Von der Fixierung auf diese Wirkung her erklärt sich nicht zuletzt auch der Umgang des Dramas mit weltanschaulichen und religiösen Dingen. Die Erschütterung oder gar Schockierung des Zuschauers scheint mir wichtiger zu sein als die Frage der psychologischen Stimmigkeit, wenn Isabella - wie lokaste, die Mutter des Ödipus,55 aber dann doch weit noch über dieses Vorbild hinaus geradezu an den Rand des Nihilismus getrieben wird. An der Leiche Manuels bricht es aus ihr heraus:

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„fateor me [...] consolationem nullam invenire praeter illam [...], conscientiam rectae voluntatis maximam consolationem esse rerum incommodarum, nec esse ullum magnum malum praeter culpam." Cicero: Epistulae ad familiares VI 4,2. (M. Tulli Ciceronis Epistulae. Hrsg. von W. S. Watt. Vol. 1: Epistulae ad familiares. Oxford 1982, S. 170f.) Wolzogen, Karoline von: Schillers Leben [...]. Stuttgart, Berlin 1903, S.250, zit.nach: Dichter über ihre Dichtungen [Anm. 41], S. 459. An Körner, 28. März 1803, NA 10, S. 309. Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 11 (Aristoteles: Poetik. Griechisch / deutsch. Übers, u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S.36f.) (.Pathos' [= schweres Leid] als Teil der Fabel). Vgl. Sophokles: König Ödipus: V. 707ff„ 857f„ 946f. (Iokaste), vgl. auch V. 964ff. (Ödipus) (Sophokles: König Ödipus. Übers, u. Nachw. von Kurt Steinmann. Stuttgart 1989).

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S ο haltet ihr mir Wort, ihr Himmelsmächte? [...] Wehe dem, Der euch vertraut mit redlichem Gemüth! [···] Warum besuchen wir die heiigen Häuser, Und heben zu dem Himmel fromme Hände? [...] was gewinnen wir Mit unserm Glauben? [...] Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, Und kein Gebet durchbohrt den ehrnen Himmel. Ob rechts die Vögel fliegen oder links, Die Sterne s ο sich oder anders fügen, Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen. (2326-2328, 2382-2385, 2388-2393)

Diese Absage an den Himmel und die Götter ist selbstverständlich kein weltanschauliches Bekenntnis des Dramas, sondern die situationsgebundene Äußerung einer individuellen Person.56 Das Drama selbst hat gar keine Weltanschauung, es disponiert um theatraler Zwecke willen über weltanschaulich-religiöse Motive. Es erlaubt sich das schon erwähnte bunte Gemenge aus Christentum und griechischer Mythologie (mit islamischen Beigaben), bei dem nicht der Glaubensgehalt, sondern die theatrale Situation und die erforderliche Bühnenrhetorik ausschlaggebend sind - Schiller selbst spricht von einem „Ideencostüme".57 Mag die Strenge des Dramas im Formalen es Goethe hernach erlauben, die Braut von Messina quasi als Trainingstext seinen „Regeln für Schauspieler" zugrunde zu legen, mag diese Strenge es später noch Hauptmann ermöglichen, just dieses Drama um der Stilisierungen willen in den Ratten satirisch zu behandeln58 - wenn es um die theatrale Wirkung geht, scheut Schillers Drama vor effektvollen Mystifikationen durchaus nicht zurück. Ratsuchend schickt Isabella einen Boten zu einem frommen Einsiedler, der auf einem Berg lebt und von seiner erhabenen Warte aus ,,[h] inabsieht" auf das „Spiel / Des unverständlich krummgewundnen Lebens." (2103f.) Der Einsiedler gibt die von Isabella gewünschte Erläuterung, dann aber nimmt er eine geweihte Kerze, und „in Brand steckt' er die Hütte, / Worinn er Gott verehrt seit neunzig Jahren. [...] Und dreimal Wehe! Wehe! rufend, stieg er / Herab vom Berg" (2135-2139). Für den Gang der Handlung ist dieser ominöse Vorgang ohne Bedeutung; seine Funktion liegt darin, zu erschrecken und Spannung zu erzeugen. Es gibt in diesem Drama gelegentlich Stellen, an denen sich von ferne so etwas wie die Selbstreflexion des Mediums andeutet, und wenn nicht des Medi-

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Insofern würde ich hier auch nicht von der „Nähe des modernen Weltschmerz- und Verzweiflungsdramas" sprechen; so Friedrich Sengle: „Die Braut von Messina." In: Schiller. Zur Theorie und Praxis der Dramen, hrsg. von Klaus L. Berghahn und Reinhold Grimm. Darmstadt 1972, S. 249-273, hier S. 270. An Körner, 10. März 1803, NA 10, S. 308. Vgl. dazu Vormweg, Uwe: „Die verstoßene Tochter. Zum Schiller-Zitat in Gerhart Hauptmanns ,Die Ratten'." In: Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag, hrsg. von Günter Helmes u.a. Tübingen 2002, S. 161-172.

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ums Theater, so immerhin der Gattung Tragödie bzw. Trauerspiel. Das gilt nicht zuletzt fur manche quasi zitierenden Anspielungen auf Gemeinplätze der überkommenen Tragödientradition (wie zum Beispiel die tragische Fallhöhe). Auch liefert der Chor allerlei Reflexionen zur seelischen Lage eines Mörders und bezieht sich dabei ausführlich auf Orest und dessen Schicksal, indem er - implizit - den antiken, den erinnyengejagten Orest des Euripides gegen den nur ein wenig verrückten Orest Goethes ausspielt. Solche Verweise bringen mit der theatralen Gattung den Spielzusammenhang erneut zu Bewußtsein, dessen Gegenstand das „Spiel / Des unverständlich krummgewundnen Lebens" ist. Dies ich habe es erwähnt - ist das, was der greise Einsiedler erblickt, wenn er von seinem Berg auf das Leben herunterschaut. Unverständlich krummgewunden erscheint das Leben dem, dessen Deutungen versagen. Das ist die Situation des Hineinverstrickten. Als Spiel läßt sich das eigentlich nur aus einer anderen Sicht bezeichnen, aus der des Darüberstehenden, des Außenstehenden, des Zuschauers. Der Einsiedler ist ein solcher Zuschauer. Und wie mir scheint, fuhrt die auf seine Sicht bezogene Formel vom Spiel des unverständlich krummgewundnen Lebens abermals die Dominanz des Theatralen vor Augen. Zu guter Letzt mag einem vielleicht der Einsiedler ein bißchen leid tun, weil Schiller ihn, den Zuschauer, der für das Ganze nichts kann, schließlich doch noch in das Spiel mit hereinreißt. Dem kaltblütigen Autor ist es dabei um ein effektvolles ominöses Zeichen zu tun. Dennoch kann einem dieser Vorgang wie ein Bild für die - virtuell unentrinnbare - Bannkraft des theatralen Spiels erscheinen.

Ernst-Richard

Schwinge

„Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter"? Beobachtungen zu Hölderlins Hyperion

Nach der Schilderung seines ersten Abschieds von Diotima schreibt Hyperion an Bellarmin: Lieber Bellarmin! ich habe eine Weile geruht; wie ein Kind, hab' ich unter den stillen Hügeln von Salamis gelebt, vergessen des Schicksals und des Strebens der Menschen. Seitdem ist manches anders in meinem Auge geworden, und ich habe nun so viel Frieden in mir, um ruhig zu bleiben, bei jedem Blick ins menschliche Leben. Ο Freund! am Ende söhnet der Geist mit allem uns aus. Du wirsts nicht glauben, wenigstens von mir nicht. Aber ich meine, du solltest sogar meinen Briefen es ansehn, wie meine Seele täglich stiller wird und stiller. Und ich will künftig noch so viel davon sagen, bis du es glaubst. (115)1

Dieser Aussage ist jene genau konträr, mit der Hyperion sich an die Entfaltung der ersten Begegnung mit Diotima herantastet: [...] und einsam spielte das Mittagslicht im schweigenden Dunkel - / Hier - ich möchte sprechen können, mein Bellarmin! möchte gerne mit Ruhe dir schreiben! / Sprechen? ο ich bin ein Laie in der Freude, ich will sprechen! / Wohnt doch die Stille im Lande der Seligen, und über den Sternen vergißt das Herz seine Not und seine Sprache. / [...] Ο wer in die Stille dieses Auges gesehn, wem diese süßen Lippen sich aufgeschlossen, wovon mag der noch sprechen? / [...] Ich kann nicht sprechen von ihr, aber es gibt ja Stunden, wo das Beste und Schönste, wie in Wolken, erscheint, und der Himmel der Vollendung vor der ahnenden Liebe sich öffnet, da, Bellarmin! da denke ihres Wesens, da beuge die Knie mit mir, und denke meiner Seligkeit! aber vergiß nicht, daß ich hatte, was du ahnest, daß ich mit diesen Augen sah, was nur, wie in Wolken, dir erscheint. (59f.)

Das Erlebnis der Begegnung mit Diotima ist für Hyperion auch jetzt noch, da er es erzählen will, so umstürzend, affiziert ihn nach wie vor in einem solchen Maße, daß er nicht einmal mehr sprechen, geschweige denn „mit Ruhe dir schreiben" kann. Wie ist der Widerspruch zwischen den beiden Aussagen aufzulösen?

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Die Aussage über die Briefe, denen es Bellarmin ansehen sollte, „wie meine Seele täglich stiller wird und stiller", auf sämtliche Briefe zu beziehen, die Hy-

Die Zitate aus dem Hyperion mit Seiten- und gegebenenfalls Zeilenzahl nach: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde. Hrsg. von Jochen Schmidt. Bd. 2. Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 108).

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perion an Bellarmin richtet, gebietet der Folgesatz: „Und ich will künftig noch [!] so viel sagen, bis du es glaubst." Eine Musterung von Hyperions Briefen in solcher Perspektive indessen ergibt, daß sie, völlig in der Linie der an zweiter Stelle zitierten Äußerung, das genaue Gegenteil von einer kontinuierlich stiller werdenden Seele dokumentieren - : exakt diesem Umstand verdankt der Roman, den sie ausmachen, seine Qualität. Aber selbst wenn man ausschließlich die der behaupteten seelischen Befriedung folgenden, also die im weiteren mitgeteilten Briefe gemeint sähe, ergäbe sich kein anderes Bild: Auch sie bezeugen das Gegenteil dessen, was sie angeblich bezeugen sollen. Unmittelbar im Anschluß an die allgemeine Aussage über seine Briefe an Bellarmin schreibt Hyperion diesem zunächst, bis zum Ende des ersten Buches des zweiten Bandes, überhaupt keine Briefe. Er zitiert und schickt ihm stattdessen „Briefe von Diotima und mir", die sie sich seinerzeit nach der Trennung geschrieben haben. Der hohe emotionale Wert, den die Briefe nach wie vor für ihn haben, wird noch eigens benannt: „Sie sind das liebste, was ich dir vertraue. Sie sind das wärmste Bild aus jenen Tagen meines Lebens" (115f.). Und nach Beendigung der Briefzitationen: „Ich war in einem holden Traume, da ich die Briefe [...] für dich abschrieb" (137). Auf diesem Weg also, daß er die Briefe zitiert, konnte Hyperion sich (und Bellarmin) die Zeit nach der räumlichen Trennung von Diotima in der Vergangenheit, in der sie ihr vorausgegangenes Zusammensein auf die bestmögliche Weise zu prolongieren suchten, am intensivsten vergegenwärtigen. Das Zitieren der Briefe ist das Mittel, mit dem Hyperion sich selbst (und seinem Adressaten) die Vergangenheit am unmittelbarsten, weil rein und unverzerrt präsent machen kann. In den bisherigen Briefen an Bellarmin spielen Briefe aus der Vergangenheit kaum eine Rolle. Ein Brief wird indirekt wiedergegeben, der, mit dem Notara Hyperion zu sich nach Kaiaurea einlädt (57); ein anderer, kurzer, direkt zitiert, der, mit dem Alabanda ihn zur Teilnahme am Befreiungskampf ruft (106f.); ein knapper Briefaustausch mit dem Vater, über den Entschluß zur Teilnahme am Kampf, wird, in einem der Briefe an Diotima, gerade einmal erwähnt (132,33, vgl. 110,27), ebenso die drei Briefe an Alabanda nach Smyrna, die den abgebrochenen Kontakt wieder herstellen sollten, jedoch ohne Antwort blieben (53,7). Daß aus der Zeit nach der Trennung Hyperions von Diotima dagegen in großem Maßstab zwischen ihnen gewechselte Briefe zitiert werden - und es setzt sich das ja im zweiten Buch des zweiten Bandes, wenn dort auch innerhalb von Briefen an Bellarmin, massiv fort, mit zusätzlich noch einem Briefaustausch mit Notara ist kaum Zufall. Gerade für die Phase, da die Liebenden getrennt sind, war es für Hyperion (und den Dichter) entscheidend, den Versuch der Liebenden, die Gemeinsamkeit trotz Trennung zu leben, sowie dann den schließlichen Vollzug zunächst auch der inneren Trennung, darauf, nach deren Überwindung, den der endgültigen durch Diotimas Tod mit demjenigen Mittel sich zu verlebendigen, quasi noch einmal zu leben, nah an sich heranzuholen, das die größtmögliche Intensität garantierte, weil es alle Distanz zur Vergan-

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genheit aufhebt, die Vergangenheit als solche, also direkt und unverfälscht vergegenwärtigt.2 Was bei räumlicher Trennung der Partner das Briefgespräch, ist bei räumlicher Nähe der Personendialog. Von ihm, allgemeiner gesagt: von der direkten Personenrede macht Hyperion als einem Mittel, das eine absolute Vergegenwärtigung von Vergangenem ermöglicht, intensivsten Gebrauch. Wieder und wieder zitiert er gewissermaßen Reden von oder Gespräche mit vertrauten Personen: mit Adamas, Alabanda, Diotima, Notara und (auch bereits in seinen durchs Zitat vergegenwärtigten Briefen an Diotima) wiederum Alabanda. Wie bewußt das geschieht, zeigt eine der wenigen Passagen mit indirekter Rede. Nachdem sie beendet ist, verlautet: „So sprachen wir. Ich gebe dir den Inhalt, den Geist davon. Aber was ist er ohne Leben?" (63,34f.). Die direkte Wiedergabe von einst Gesprochenem hingegen ermöglicht eben ,Leben', unmittelbare Verlebendigung. Unter solchem Aspekt ist bemerkenswert, daß die direkte Rede quantitativ nicht nur die indirekte (vgl. noch 30,20; 33,21; 72,11; 112,11, auch 57,23), sondern, wie es scheint, auch die schiere Erzählung überwiegt, welche das Vergangene ja gleichfalls immer nur perspektivisch verzerrt wiedergibt. In jedem Fall gilt solche Relation, wenn man hinzunimmt, daß Hyperion sozusagen permanent Gebrauch macht von der .stummen' direkten Rede, dem sogenannten ,quoted monologue'. Ganze Gedankenabläufe werden durch dieses ja gleichfalls den zeitlichen Hiat aufhebende Mittel präsent gemacht. Solche Monologe werden in der Regel, nicht anders als die Dialoge, ausdrücklich als quoted monologue' markiert, durch Ein- oder/und Ausleitungen wie: „sagt' ich mir, zu (bei) mir selber" (46,16; 49,30; 59,32), „sprach ich oft im Geiste" (27,3), „rief ich (mein Herz)" (43,23; 53,11; 75,5; 107,21), „könnt' ich beginnen" (54,4), „fragt' ich oft" (49,32), „(so) dacht' ich (im Herzen, bei mir)" (44,4; 47,26/48,1/49,15; 55,31; 63,37; 81,14; 101,7; 174,12 und 175,93), „so träumt' ich (hin)" (50,29; 81,24). Doch auch unmarkierter ,quoted monologue' kommt vor (26,12; 58,1 lf.; 59,20; 82,9; 86,8ff.: Umspringen ins Präsens), der jedoch gegenüber der aus der gegenwärtigen Situation heraus vorgenommenen kommentierenden Bemerkung (dazu gleich) nicht immer eindeutig zu identifizieren ist. Wie sehr der Erzähler von dem in der Vergangenheit Geschehenen bei dessen erzählerischer Reproduktion affiziert ist, zeigt sich weiterhin an dem intensiven Gebrauch des Stilmittels der rhetorischen Frage und insbesondere an der praktisch permanent genutzten Form des Ausrufs. Sie wird in jeder Äußerungsform, derer sich die Erzählung bedient, verwendet: in den zitierten Briefen so-

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Das Problem einer reinen, unverzerrten Wiedergabe von Vergangenheit stellte sich natürlich auch bereits in den (nunmehr zitierten) zwischen Hyperion und Diotima gewechselten Briefen selbst. Dafür, bzw. fur das schon dort bestimmende Bestreben, das Problem so weit wie möglich zu überspielen, bietet einer der Hyperion-Briefe einen instruktiven Beleg. Im Zuge der Schilderung der Kampfvorbereitungen schreibt Hyperion: „[...] - aber das sind Worte und die eigne Lust von solchem Leben erzählt sich nicht." (125,22, meine Hervorhebung). Dazu s.u. S. 200.

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wohl wie in den Dialogen, in den .quoted monologues', der reinen Erzählung wie den kommentierenden Repristinationen des erzählten Geschehens. Mitunter sind ganze Passagen von der Form des Ausrufs bestimmt (vgl. etwa 54; 86; 139). Das Bestreben des Erzählers, die eigene vergangene Geschichte so nah wie möglich an sich heranzuholen, artikuliert sich schließlich in einer bestimmten Erscheinung, die nun bereits ihren Ausgangspunkt mehr in der gegenwärtigen Situation des Erzählers hat. Ich meine die (gerade schon erwähnten) vom Erzähler aus seiner gegenwärtigen Erzählsituation heraus vorgenommenen Kommentierungen des soeben erzählten Geschehens. Von ihnen ist die Erzählung regelrecht durchschossen, sie sind für die Erzählung geradezu konstitutiv. So leicht die kommentierenden Stellungnahmen, an dem in der Regel verwendeten Präsenstempus, zu erkennen sind, so verschiedenen Charakter können sie annehmen. Die größte Gruppe bilden Stellungnahmen zum erzählten Geschehen, welche sich zu Reflexionen zusammenziehen und dabei wenigstens den Charakter von Gnomen annehmen. Zunächst die reinen Gnomen. Geradezu programmatisch: „Es ist doch ewig gewiß und zeigt sich überall; je unschuldiger, schöner eine Seele, desto vertrauter mit den andern glücklichen Leben, die man seelenlos nennt" (66,8). Weiter: „Wie unvermögend ist doch der gutwilligste Fleiß der Menschen gegen die Allmacht der ungeteilten Begeisterung" (21,15), „Es ist erfreulich, wenn gleiches sich zu gleichem gesellt, aber es ist göttlich, wenn ein großer Mensch die kleineren zu sich aufzieht" usf. (19,18), „Ja! eine Sonne ist der Mensch, allsehend, allverklärend, wenn er liebt, und liebt er nicht, so ist er eine dunkle Wohnung, wo ein rauchend Lämpchen brennt" (85,17), „es ist gewiß nichts edler, als ein edles Mädchen, das die allwohltätige Flamme besorgt, und, ähnlich der Natur, die herzerfreuende Speise bereitet" (66,16). Sodann Kommentierungen mit eher nur gnomischem Charakter, oft in Form von Ausrufen: „Das eben, Lieber! ist das Traurige, daß unser Geist so gerne die Gestalt des irren Herzens annimmt, so gerne die vorüberfliehende Trauer festhält" usf. (48,3). „Wir bedauern die Toten, als fühlten sie den Tod, und die Toten haben doch Frieden. Aber das, das ist der Schmerz, dem keiner gleichkömmt, das ist unaufhörliches Gefühl der gänzlichen Zernichtung, wenn unser Leben seine Bedeutung so verliert" usf. (53,15). „Was ist alles, was in Jahrtausenden die Menschen taten und dachten, gegen Einen Augenblick der Liebe? Es ist aber auch das Gelungenste, Göttlichschönste in der Natur! Dahin fuhren alle Stufen auf der Schwelle des Lebens. Daher kommen wir, dahin gehn wir" (64,33). „Wer will die Traube nicht lieber voll und frisch, so wie sie aus der Wurzel quoll, als die getrockneten gepflückten Beere, die der Kaufmann in die Kiste preßt und in die Welt schickt? Was ist die Weisheit eines Buches gegen die Weisheit eines Engels?" (66,24). „O es ist ein seltsames Gemische von Seligkeit und Schwermut, wenn es so sich offenbart, daß wir auf immer heraus sind aus dem gewöhnlichen Dasein" (79,31). „O es ist doch wünschenswert, so aus Einem Kelche mit der Geliebten die Wonne der Welt zu trinken!" (80,34). „O Bellarmin! wer darf denn sagen, er stehe fest, wenn auch das Schöne seinem

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Schicksal so entgegenreift, wenn auch das Göttliche sich demütigen muß, und die Sterblichkeit mit allem Sterblichen teilen!" (106,14, vgl. 31,4; 110,1; 68,16 eine abgelehnte Gnome). Gelegentlich sind die gnomischen Reflexionen auch dem Geschehen, aus dem sie gefolgert werden, vorangestellt, sie bilden dann den Anfang eines Briefes. Besonders deutlich die Einleitung zu dem berühmten Athenerbrief: Es gibt große Stunden im Leben. Wir schauen an ihnen hinauf, wie an den kolossalischen Gestalten der Zukunft und des Altertums, wir kämpfen einen herrlichen Kampf mit ihnen, und bestehn wir vor ihnen, so werden sie, wie Schwestern, und verlassen uns nicht. (87,1)

Weiter: Es gibt ein Vergessen alles Daseins, ein Verstummen unsers Wesens, wo uns ist, als hätten wir alles gefunden. / Es gibt ein Verstummen, ein Vergessen alles Daseins, wo uns ist, als hätten wir alles verloren, eine Nacht unsrer Seeele, wo kein Schimmer eines Sterns, wo nicht einmal ein faules Holz uns leuchtet. (51,1, vgl. 51,29, s. auch 18,1; 48,26)

Die ratio all dieser Reflexionen auf erzähltes (oder noch zu erzählendes) Geschehen, die zumindest den Charakter von Gnomen annehmen, ist evident: Das Geschehen wird durch sie auf seinen Grundcharakter, seine Grundstruktur hin durchdrungen, gewissermaßen auf den Begriff gebracht, und auf diese Art wird es, als allfällig gültig, insbesondere eben an die Gegenwart dessen angeschlossen, in sie hineingezogen, der sie anstellt. Es sind die gnomisch reflektierenden Kommentar-Bemerkungen kondensierte Repristinationen, ja Repetitionen des vergangenen Geschehens in der Gegenwart - und damit wird auch an ihnen wahrnehmbar, wie intensiv der Erzähler das vergangene Geschehen an sich heranzieht, wie sehr er durchgängig den zeitlichen Hiat annihiliert, daß also eine Distanz für ihn zu dem in der Vergangenheit Geschehenen praktisch nicht existiert. Dasselbe liegt dort zugrunde, wo Vergangenes nun ganz direkt und konkret als sich in der Gegenwart wiederholend imaginiert wird: „Zuweilen wenn ein Gewitter über mir hinzieht, [...] kann mein Herz sich regen, als wäre mein Alabanda nicht fern [...]" (35,7; 97,36: „O ihr Haine von Angele, wo der Ölbaum und die Zypresse, umeinander flüsternd, mit freundlichen Schatten sich kühlen, [...] euch werd' ich nimmer vergessen"; 123,28; 168,16; praktisch die ganze Scheltrede auf die Deutschen 168-171, vgl. auch 50,30). Und auch die bewertende Einordnung von Vergangenem aus dem Mehrwissen einer späteren Stufe heraus läßt dieses nahe an die Gegenwart heranrücken: „O ihr Söhne der Sonne! ihr freieren Seelen! es ist viel verloren gegangen in diesem Alabanda. Ich suchte umsonst und flehte das Leben an, seit er fort ist; solch eine Römernatur hab' ich nimmer gefunden" usf. (139,14, vgl. 110,16: „O meine Diotima, hätte ich damals gedacht, wohin das kommen sollte?"; 86,32: „Ich seh', ich sehe, wie das enden muß. Das Steuer ist in die Woge gefallen und das Schiff wird, wie an den Füßen ein Kind, ergriffen und an die Felsen geschleudert"; auch 67,22: „O ich hätte mögen Diotima sein, da sie dies sagte!"). Der aufschlußreichste Beleg für das Bestreben des Erzählers, das vergangene Geschehen in die Gegenwart einzuholen, ist die erzählerische Entfaltung der

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Epiphanie Diotimas („das Göttliche, das mir erschien!", 60-62, vgl. schon die Antizipation in der Vergangenheit, 31,20, s. auch die Du-Anrede 72,8). Die Art, wie sich hier die Erzählung formt, ist singulär. Nirgendwo sonst findet als Konsequenz des Ergriffenseins des Erzählers von dem zu erzählenden Geschehnis eine solche Amalgamierung von Vergangenheit und Gegenwart statt, ja eine solche Transsubstantiation von Vergangenem in Gegenwärtiges. Vergangenes wird hier nicht lediglich an die Gegenwart herangeholt; es vermittelt sich mit ihr, ja konstituiert sie: wird Gegenwart. In welchem Maße das der Fall ist, zeigt sich bereits bei dem Versuch, das genannte Phänomen an einzelnen Elementen konkret aufzuweisen und diese voneinander zu scheiden. Die Verflechtung ist so dicht, daß die Eigenart der Passage nur zugänglich wird, wenn man sie als ein Ganzes wahrnimmt. Was wir bislang an bestimmten Erscheinungen der Erzählung festgemacht haben: daß der Erzähler bestrebt ist, seine vergangene Geschichte so authentisch wie möglich zu reproduzieren, wird zweimal durch eine gleichsam abstrakte Aussage regelrecht beglaubigt. Als erstens Diotima Hyperion bittet, ihr „zu erzählen, wie du gelebt hast, ehe wir uns kannten", heißt es, in Wendung an den Adressaten Bellarmin: „mein Herz warf sich gerne auf das, und ich erzählte ihr nun, wie dir, von Adamas" usw. (meine Hervorhebung). Der Inhalt der Erzählung wird hier natürlich nur noch stichwortartig zusammengefaßt. Doch daß vorausgesetzt ist, die Erzählung sei alles andere als in distanzierter Haltung entfaltet, ist sinnfällig gemacht: es zeigt das die Art, wie Diotima auf sie reagiert (76,12ff.). Und so gilt umgekehrt für die an Bellarmin gerichtete Erzählung dasselbe. Wie im übrigen grundsätzlich eine distanzierte Erzählung, eine mehr ruhige Registrierung von Vergangenem sich ausnimmt, dafür halten die Briefe gleichfalls immerhin zwei Beispiele parat: Hyperions Bericht über die Schlacht bei Tschesme (137f.) und Alabandas Schilderung seiner Vergangenheit (150ff, vgl. 39,15). Zweitens ist relativ zu Beginn des Romans noch die Unmöglichkeit der absoluten Realisierung des Angestrebten so formuliert, daß, was intendiert ist, unmißverständlich, und unmißverständlich als das alles Bestimmende, sichtbar wird: Lieber Bellarmin! ich hätte Lust, so pünktlich dir, wie Nestor, zu erzählen; ich ziehe durch die Vergangenheit, wie ein Ährenleser über die Stoppeläcker, wenn der Herr des Lands geerntet hat; da liest man jeden Strohhalm auf. (22,28)

II Wenn es das insistente Bemühen des Erzählers Hyperion ist, seine eigene Geschichte in der Erzählung so nah und direkt wie nur irgend möglich an sich und seinen Adressaten Bellarmin (und die Leser generell) heranzuholen, so intensiv wie möglich zu verlebendigen, so unmittelbar, so ungebrochen und unverzerrt

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wie möglich zu vergegenwärtigen, wenn der Erzähler sich dem Affizierungspotential des vergangenen Geschehens so vollkommen überläßt, ja dieses geradezu sucht - worin findet solches Verhalten seinen Grund? Aus seiner gegenwärtigen Situation heraus äußert sich der Erzähler nicht nur (in kommentierenden Bemerkungen) im Zuge von dessen Erzählung zum Geschehen der Vergangenheit. Er macht auch Äußerungen, die sich primär auf diese gegenwärtige Situation selbst beziehen, wobei das vergangene Geschehen, besser: dessen erzählerische Aktualisierung nunmehr den Hintergrund bildet: Der Erzähler äußert sich zu seinem gegenwärtigen seelischen Status angesichts der von ihm jetzt erzählten Vergangenheit. In einigen dieser Äußerungen geschieht das in der Form, daß er die Funktion seiner Erzählung thematisiert. Gleich zu Beginn der Erzählung, unmittelbar bevor sie einsetzt, heißt es: Ich danke dir, daß du mich bittest, dir von mir zu erzählen, daß du die vorigen Zeiten mir ins Gedächtnis bringst. / Das trieb mich auch nach Griechenland zurück, daß ich den Spielen meiner Jugend näher leben wollte. (17,4)

Der Dank an Bellarmin gilt dem Umstand, daß dieser ihn mit seiner Erzähl-Aufforderung dazu animiert, sich einen Wunsch zu erfüllen, den Wunsch, wie ,den Spielen seiner Jugend näher zu leben', so „auch" ,die vorigen Zeiten' sich ,ins Gedächtnis', also nahe an sich heranzubringen. Das Motiv des Wunsches wird an anderer Stelle benannt: „Ich baue meinem Herzen ein Grab, damit es ruhen möge; ich spinne mich ein, weil überall es Winter ist; in seligen Erinnerungen hüll' ich vor dem Sturme mich ein" (72,16, schon als er noch mit Diotima zusammen war, hatten sie sich der Erinnerung hingegeben, 105f.). Und: Ich will dir immer mehr von meiner Seligkeit erzählen. / Ich will die Brust an den Freuden der Vergangenheit versuchen, bis sie, wie Stahl, wird, ich will mich üben an ihnen, bis ich unüberwindlich bin / [...] Ich will nicht zagen; ja! ich will stark sein! ich will mir nichts verhehlen, will von allen Seligkeiten mir die seligste aus dem Grabe beschwören. / [...] Ο bin ich doch hundertmal vor diesen Augenblicken, dieser tötenden Wonne meiner Erinnerungen geflohen und habe mein Auge hinweggewandt, wie ein Kind vor Blitzen! und dennoch wächst im üppigen Garten der Welt nichts lieblichers, wie meine Freuden, dennoch gedeiht im Himmel und auf Erden nichts edleres, wie meine Freuden. / Aber nur dir, mein Bellarmin, nur einer reinen freien Seele, wie die deine ist, erzähl' ich's. (79)

Hier wird zugleich deutlich: Voraussetzung für die angestrebte Wirkung der Erinnerung scheint das ausdrückliche Bekenntnis zur Vergangenheit zu sein, die Offenheit für sie, das bewußte Akzeptieren des bisherigen Lebens. Pointierter noch in diesem Sinne an anderer Stelle: Warum erzähl' ich dir und wiederhole mein Leiden und rege die ruhelose Jugend wieder auf in mir? Ists nicht genug, Einmal das Sterbliche durchwandert zu haben? warum bleib' ich im Frieden meines Geistes nicht stille? / Darum, mein Bellarmin! weil jeder Atemzug des Lebens unserm Herzen wert bleibt, weil alle Verwandlungen der reinen Natur auch mit zu ihrer Schöne gehören. Unsre Seele, wenn sie die sterblichen Erfahrungen ablegt und allein nur lebt in heiliger Ruhe, ist sie nicht, wie ein unbelaubter Baum? wie ein Haupt ohne Locken?(115)

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Gerade die volle Hinwendung in die Vergangenheit aber fuhrt dann in der Tat zu einer echten und wirklichen Befriedung, wie deutlicher noch als die Fortsetzung des eben Zitierten (s.u. S. 195) eine Stelle ziemlich vom Anfang zeigt: Wohin könnt' ich mir entfliehen, hätt' ich nicht die lieben Tage meiner Jugend? / Wie ein Geist, der keine Ruhe am Acheron findet, kehr' ich zurück in die verlaßnen Gegenden meines Lebens. (25)

Das erinnernde Erzählen also, wie sich zeigt, als Therapeutikum, als Mittel der Beruhigung und inneren Stabilisierung (vgl. auch 48,18ff.). 4 Solcher Sicht scheint sogar grundsätzliche Bedeutung zu eignen: Dieselbe Rolle wird zwei Erzählungen in der Erzählung zugeschrieben. Hyperion soll auf Diotimas Bitten hin von Agis und Kleomenes erzählen: „Ich erzählte und am Ende fühlten wir uns alle stärker und höher" (112,19). Und Alabanda, der dabei ist, seine Vergangenheit aufzurollen, sagt: Laß mich dir erzählen [...]. Ich habe noch nie dir ganz von einer gewissen Sache gesprochen. Und dann - so stillt es auch dich und mich ein wenig, wenn wir sprechen von Vergangenem. (151,9)

Das ,Sich-stärker-und-höher-Fühlen' infolge erzählender Beschwörung bedeutsamer Vergangenheit kann schließlich auch über grundsätzlichere Einsicht hinsichtlich der Vergangenheit laufen, wie zunächst eine Äußerung zu Beginn des zweiten Buches des ersten Bandes verdeutlicht: Oder schau' ich a u f s Meer hinaus und überdenke mein Leben, sein Steigen und Sinken, seine Seligkeit und seine Trauer und meine Vergangenheit lautet mir oft, wie ein Saitenspiel, wo der Meister alle Töne durchläuft, und Streit und Einklang mit verborgener Ordnung untereinanderwirft. (56,22)

Und gleich der nächste Brief immerhin beginnt: Mir ist lange nicht gewesen, wie jetzt. / Wie Jupiters Adler dem Gesänge der Musen, lausch' ich dem wunderbaren unendlichen Wohllaut in mir. Unangefochten an Sinn' und Seele, stark und fröhlich, mit lächelndem Ernste, spiel' ich im Geiste mit dem Schicksal und den drei Schwestern, den heiligen Parzen. Voll göttlicher Jugend frohlockt mein ganzes Wesen über sich selbst, über Alles. Wie der Sternenhimmel, bin ich still und bewegt. / Ich habe lange gewartet auf solche Festzeit, um dir einmal wieder zu schreiben. Nun bin ich stark genug; nun laß mich dir erzählen. (57)

Die erinnernde Beschwörung der Vergangenheit also, so suggeriert die Abfolge, beschert befriedende Einsicht, die Einsicht, daß die asymmetrischen Gegenbegriffe Freude und Leid, Seligkeit und Trauer als Pole zu begreifen sind und damit in einer höheren Einheit aufgehoben erscheinen - und mit dieser Einsicht

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Unter den Überschriften ,Lebenserzählungen' und ,Therapeutische Funktion des Erzählens' diskutiert, wie ich nachträglich sehe, eine Reihe der einschlägigen Stellen auch Brigitte Haberer, allerdings in einem deutlich weiter gesteckten Rahmen (Haberer, Brigitte: Sprechen, Schweigen, Schauen. Rede und Blick in Hölderlins ,Der Tod des Empedokles' und .Hyperion'. Bonn, Berlin 1991, S. 271-284).

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Kraft zu neuerlicher Initiative und Aktivität, so auch zum Erzählen, bzw. zum Fortfahren im Erzählen. Ähnlich die Äußerung zu seiner seelischen Lage unmittelbar nach der erzählerischen Entfaltung von Diotimas Tod. Hatte ein früherer Brief, mit Blick auf die Vergangenheit, begonnen: „Frägst du, wie mir gewesen sei um diese Zeit?" (74), so heißt es jetzt: „So schrieb Notara; und du fragst, mein Bellarmin! wie jetzt mir ist, indem ich dies erzähle?" Und dann, im Hinblick auf die Gegenwart, die Mitteilung: „Bester! Ich bin ruhig" (164,25). Ruhe hatte Hyperion, wie er erzählt, auch in der Vergangenheit einmal beherrscht: als er nach der Alabanda-Enttäuschung aus Smyrna nach Tina zurückgekehrt war. Aber damals war das die Ruhe der Apathie und Resignation: Ich war nun ruhig geworden. Nun trieb mich nichts mehr auf um Mitternacht. Nun sengt' ich mich in meiner eignen Flamme nicht mehr. / Ich sah nun still und einsam vor mich hin, und schweift' in die Vergangenheit und in die Zukunft mit dem Auge nicht. Nun drängte Fernes und Nahes sich in meinem Sinne nicht mehr, (usf., 51,8, vgl. schon 49,3ff.)

Jetzt hingegen verdankt sich die Ruhe der Erkenntnis der Struktur des Seins, der Erkenntnis der dialektisch sich vermittelnden Einheit von Freude und Leid, Leben und Tod. Und diese Erkenntnis hat sich ihm über das Erzählen, durch die Erzählung vermittelt: [...] und du fragst, mein Bellarmin! wie jetzt mir ist, indem ich dies erzähle? / Bester! ich bin ruhig, denn ich will nichts bessere haben, als die Götter. Muß nicht alles leiden? Und je trefflicher es ist, je tiefer! Leidet nicht die heilige Natur? Ο meine Gottheit! Daß du trauern könntest, wie du selig bist, das könnt' ich lange nicht fassen. Aber die Wonne, die nicht leidet, ist Schlaf, und ohne Tod ist kein Leben [...] Ja! ja! wert ist der Schmerz, am Herzen der Menschen zu liegen, und dein Vertrauter zu sein, ο Natur! Denn er nur fuhrt von einer Wonne zur andern, und es ist kein andrer Gefährte, denn er. - (164)

III Insbesondere die letzten beiden Äußerungen suggerieren, daß die über die Erzählung gewonnene Ruhe deren umfassend, universal gültige Wirkung ist. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn wir jene Äußerung hinzunehmen, die mit Blick auf den kurz zuvor erzählten ersten Abschied von Diotima vorgenommen wird (und von der wir ausgegangen waren): Lieber Bellarmin! ich habe eine Weile geruht; wie ein Kind, hab' ich unter den stillen Hügeln von Salamis gelebt, vergessen des Schicksals und des Strebens der Menschen. Seitdem ist manches anders in meinem Auge geworden, und ich habe nun so viel Frieden in mir, um ruhig zu bleiben, bei jedem Blick ins menschliche Leben. Ο Freund! am Ende söhnet der Geist mit allem uns aus. Du wirsts nicht glauben, wenigstens von mir nicht. Aber ich meine, du solltest sogar meinen Briefen es ansehn, wie meine Seele täglich stiller wird und stiller. Und ich will künftig noch so viel davon sagen, bis du es glaubst. (115,20)

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So intensiv also die genannte Suggestion ist (und so sehr sie fur lange Zeit, praktisch bis heute, die Hyperion-Forschung in ihre Perspektive gezwungen hat),5 es empfiehlt sich gerade im Gegenteil, sowohl die zuletzt angeführte Beschreibung des seelischen Zustande Hyperions wie auch die anderen als nur für den jeweiligen Augenblick, den Augenblick ihrer Artikulation gültig anzusehen und ihnen nicht weiterreichende, geschweige denn grundsätzliche Bedeutung zuzuerkennen. Entsprechend ist speziell in der letzten die Aussage über den Charakter der Briefe lediglich als aus diesem Moment des inneren Friedens und der inneren Ruhe heraus gemacht, als aus einer Perspektive formuliert zu verstehen, die vom augenblicklichen Seelenzustand dominiert wird. Grundsätzlich sollte man also eher so verfahren, wie Hyperion selbst es tut, wenn er innerhalb einer Äußerung über eine momentane verzweiflungsvolle seelische Lage, in die Vergangenheit zurückblickend, verständnislos konstatiert: „Mein Herz war doch so stille geworden, und meine Liebe war begraben mit der Toten, die ich liebte" (70,5). Für solche Sichtweise spricht, daß Hyperion generell aus seiner gegenwärtigen Situation heraus gleichfalls Äußerungen macht, die unter Absehung von der Funktion der Erzählung seinen derzeitigen seelischen Zustand ganz für sich reflektieren und die als solche, an den verschiedensten Stellen aufscheinend, jene über die erlangte innere Ruhe deutlich konterkarieren - was der ästhetischen Qualität des Romans nur zugute kommt. 6 Auch diese Äußerungen sind häufig mit einer Apostrophe an Bellarmin verknüpft (wie auch schon solche im Hinblick auf vergangenes Geschehen) 7 , also in ausdrücklicher Wendung an den Adressaten (d.h. den Leser generell) gemacht, welcher damit zum Teilhaber an

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Wie jetzt auch Bay (s.u.) zutreffend hervorhebt, wird die Hyperionforschung seit Ryan (Ryan, Lawrence: Hölderlins ,Hyperion'. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965; Germanistische Abhandlungen 7) von dem teleologischen Deutungsparadigma beherrscht, demgemäß Hyperion insbesondere durch seine die eigene Vergangenheit vergegenwärtigende Erzählung eine folgerichtige Entwicklung zu immer größerer Reife (welcher Art immer) durchmacht, vgl. Ryan: „Hölderlins .Hyperion': Ein .romantischer' Roman?" In: Über Hölderlin, hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfürt/M. 1970, S. 175-212; Gaier, Ulrich: „Hölderlins .Hyperion': Compendium, Roman, Rede." In: HJb21 (1978/79), S. 88-143; ders.: Hölderlin. Eine Einführung. Tübingen, Basel 1993, S. 57-220, bes. 203ff; Schmidt in seiner souveränen Gesamtwürdigung des Romans [Anm. 1], S. 940-965, bes. 959ff. Im weiteren dann etwa Hühn, Helmut: Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken. Stuttgart, Weimar 1997, S. 23-66 (der mich jedoch auch sonst nicht gefordert hat). - Erst nachdem ich meine Überlegungen fixiert hatte, wurde ich aufmerksam auf: Bay, Hansjörg: „Hyperion ambivalent." In: Hyperion - terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman, hrsg. von dems., Opladen, Wiesbaden 1998, S. 66-93 (s. auch dessen Vorwort, ebd., S. 9-15), mit dem ich mich in der Grundintention treffe, die traditionelle Forschungsperspektive zu hinterfragen. Eine andere Sicht bei Schmidt [Anm. 1], S. 960: Die Erzählerkommentare, in denen sich das „ruhig erkennende Bewußtsein" artikuliert, zeigen, wie dieses Bewußtsein „sich Stufe um Stufe höherbildet, wenn auch nicht in starrer Linearität, da der Erzähler ein lebendiger Erzähler bleibt und gelegentlich in den Strudel des erzählten früheren Lebens wieder hineingezogen wird. Doch bleiben solche Momente eines Rückfalls in die Unmittelbarkeit episodisch." Vgl. etwa 14,29; 48,1 u. 3; 67,23; 78,25; 86,30; 112,35; 138,29; 168,14; 171,29.

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dem hinsichtlich des seelischen Zustande Mitgeteilten gemacht wird und dieses so um so intensiver rezipiert. Mit der ersten dieser Äußerungen beginnt gleich der Roman. Sie erfolgt, in den ersten beiden Briefen, noch bevor die eigentliche Erzählung einsetzt. Gleichwohl ist auch in ihr bereits die im weiteren dann erzählerisch entfaltete Vergangenheit präsent. Der erste Satz: „Der liebe Vaterlandsboden gibt mir wieder Freude und Leid" bezeichnet mit den beiden antithetischen Begriffen epigrammatisch zugespitzt deren Inhalt. Das „Leid" gründet im desolaten Zustand Griechenlands, aber auch in der eigenen Vergangenheit Hyperions: daß er für Griechenland „gehandelt" hat und dabei so tief enttäuscht wurde („O hätt' ich doch nie gehandelt! um wie manche Hoffnung wär ich reicher! - " , 15,5, vgl. 130), daß er jetzt vollends allein ist: „Fern und tot sind meine Geliebten [...] Ruhmlos und einsam kehr' ich zurück" (15,13, vgl. 137,5: „mein Bellarmin! [...] du letzter meiner Lieben!", zu ,einsam' vgl. 23,35; 34,30; 114,2; 131,12; 150,16). Die „Freude" rührt von einem pantheistischen Erlebnis der Natur, einer Vision der All-Einheit der Welt. Doch sogleich folgt wieder der Rückfall ins „Leid": „meines Herzens Asyl, die ewigeinige Welt, ist hin; [...] bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur" (16,23). Ausschließlich Freude erfüllt Hyperion, als er von der Erscheinung Diotimas erzählt: Ich war einst glücklich, Bellarmin! Bin ich es noch? War' ich es nicht, wenn auch der heilige Moment, wo ich zum erstenmale sie sah, der letzte wäre gewesen? (61)

Daß die vorhin zitierte Äußerung zu Beginn des zweiten Buches des ersten Bandes, die die asymmetrischen Gegenbegriffe Freude und Leid als Pole auffaßt und in einer höheren Einheit aufgehoben sieht (56), nur eine punktuelle Sicht artikuliert, der keineswegs übergreifende Gültigkeit eignet (und die also auch das bislang herrschende Verständnis von Freude und Leid als einander ausschließende Größen nicht grundlegend überholt), zeigt sich wenig später. Es verdeutlicht das eine längere, in den Diotima-Teil eingestückte Beschreibung des seelischen Status, wie er den Erzähler, von einem späteren Punkt des zu erzählenden Geschehens her gesehen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestimmt. Hyperion greift hier, was das von ihm erzählerisch entfaltete Geschehen angeht, weit über den bisher erreichten Stand hinaus, bezieht bereits Tod und Grab Diotimas mit ein (68-70): Ο ich war' ein glücklicher, ein trefflicher Mensch geworden mit ihr! / Mit ihr! aber das ist mißlungen, und nun irr' ich herum in dem, was vor und in mir ist, und drüber hinaus, und weiß nicht, was ich machen soll aus mir und andern Dingen. (68,35)

Und dann der gesamte nächste kurze Brief: Ich kann nur hier und da ein Wörtchen von ihr sprechen. Ich muß vergessen, was sie ganz ist, wenn ich von ihr sprechen soll. Ich muß mich täuschen, als hätte sie vor alten Zeiten gelebt, als wüßt' ich durch Erzählung einiges von ihr, wenn ihr lebendig Bild mich nicht ergreifen soll, daß ich vergehe im Entzücken und im Schmerz, wenn ich den Tod der

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Freude über sie und den Tod der Trauer um sie nicht sterben soll. (69, meine Hervorhebungen)

Und im folgenden Brief dann geradezu die Absage an das Aufgehobensein von Freude und Leid in polarer Einheit, die Absage an den „Geist", also das höhere Bewußtsein, welchem nicht viel später in jener Äußerung, von der wir ausgegangen sind (115), umfassende Harmonisierungs- und Beruhigungskraft zugeschrieben wird: Wohin ich auch entfliehe mit meinen Gedanken, in die Himmel hinauf und in den Abgrund, zum Anfang und an's Ende der Zeiten, selbst wenn ich ihm, der meine letzte Zuflucht war, der sonst noch jede Sorge in mir verzehrte, der alle Lust und allen Schmerz des Lebens sonst mit der Feuerflamme, worin er sich offenbarte, in mir versengte, selbst wenn ich ihm mich in die Arme werfe, dem herrlichen geheimen Geiste der Welt, in seine Tiefe mich tauche, wie in den bodenlosen Ozean hinab, auch da, auch da finden die süßen Schrecken mich aus, die süßen verwirrenden tötenden Schrecken, daß Diotima's Grab mir nah ist. / [...] Du weißt, mein Bellarmin! ich schrieb dir lange nicht von ihr, und da ich schrieb, so schrieb ich dir gelassen, wie ich meine. / Was ist's denn nun? / Ich gehe ans Ufer hinaus und sehe nach Kaiaurea, wo sie ruhet, hinüber, das ist's, (usf., 69, meine Hervorhebungen)

-,wie ich meine': daß Hyperion Bellarmin ,gelassen' geschrieben habe, ist, was er wünscht, was aber so nirgendwo statthatte, und genauso wenig wird es ihm im weiteren möglich sein zu „vergessen, was sie ganz ist", sich zu „täuschen, als hätte sie vor alten Zeiten gelebt, als wüßt' ich durch Erzählung einiges von ihr". Stattdessen wird, wie bisher, „ihr lebendig [!] Bild" ihn „ergreifen" und er es entsprechend in seiner Erzählung (,wenn er von ihr spricht') neu erstehen lassen. Daß das Erzählen vom Zusammensein mit Diotima Hyperion eher in erregte Unruhe stürzt, zeigt sich eindrucksvoll auch wenig später: Und nun kein Wort mehr, Bellarmin! Es wäre zuviel für mein geduldiges Herz. Ich bin erschüttert, wie ich fühle. Aber ich will hinausgehn unter die Pflanzen und Bäume, und unter sie hin mich legen und beten, daß die Natur zu solcher Ruhe mich bringe. (84,22, vgl. 73f.; 86)

Und auch die ziemlich am Ende des Romans und da nun gerade unmittelbar nach der geschehenschronologisch korrekten erzählerischen Entfaltung von Diotimas Tod gewonnene Erkenntnis der Struktur des Seins als der dialektischen Einheit von Freude und Leid und die durch sie gewonnene Ruhe (164) trägt nicht weit. Zwar war solche Erkenntis dem Erzähler über die angeführten Bezeugungen hinaus gelegentlich auch bereits sozusagen en passant aufgeleuchtet: Ich trauerte; aber ich glaube, daß man unter den Seligen auch so trauert. Sie war die Botin der Freude, diese Trauer, sie war die grauende Dämmerung, woran die unzähligen Rosen des Morgenrots sprossen - . (81,6)

Aber gleich im nächsten Brief nach jener scheinbar definitiv seinen Ruhestatus besiegelnden Äußerung, dem vorletzten Brief des Romans, ist die Scheltrede Hyperions auf die Deutschen (168-171), die er, kaum daß er begonnen hat, völ-

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lig aus seiner gegenwärtigen Erzählsituation heraus formuliert, deutlicher Beleg dafür, daß er sogleich wieder in den Zustand erregtester Unruhe verfällt. Zwar ist hier von der seelischen Situation des Erzählers nicht unmittelbar die Rede, aber er formuliert die Scheltrede in Erinnerung an seinen Aufenthalt bei den Deutschen (wie ganz direkt der Schluß zeigt: „Ich sprach [sc. in der gerade gehaltenen Rede] [...] fur alle, die in diesem Lande sind und leiden, wie ich dort gelitten." 171,30, meine Hervorhebung), und in ihnen, den Deutschen, hatte er immerhin seine „Tröster" (168,15) gesucht und dann bei ihnen eben nur „gelitten".8

IV Wie sich zeigt, erzählt Hyperion Bellarmin seine vergangene Geschichte, um sich aus dem durch sie heraufbeschworenen Zustand der Verzweiflung und Unruhe in einen Zustand der Ruhe und des inneren Friedens zu retten. Und es gelingt ihm das auch, insbesondere dank der tieferen Einsicht in die Struktur des Seins (und damit auch seiner Geschichte), die sich ihm im Wege der erinnernden Erzählung erschließt. Indessen, es gelingt ihm das nur punktuell. Eben das Mittel, durch das er Ruhe, Frieden, innere Stabilität zu erlangen sucht und punktuell auch erlangt, die Erzählung seiner Vergangenheit, läßt ihn auch stets erneut in jene Unruhe und Erregung zurückfallen, die ihn bereits bestimmte, bevor er mit dem Erzählen begann. Die Ursache ist der Modus des Erzählens: Er macht, daß die Wirkung der Erzählung ambivalent gerät. Gerade die so intensiv wie möglich realisierte Verlebendigung der Vergangenheit ist es, die einerseits namentlich die tiefere

Das genau gegenteilige Verständnis der Scheltrede in den (überlegten) Ausführungen von Roche (Roche, Mark William: Dynamic Stillness. Philosophical Conceptions of ,Ruhe' in Schiller, Hölderlin, Büchner, and Heine. Tübingen 1987, S. 63-119, bes. S. 80ff.): Dem teleologischen Deutungsparadigma gleichfalls verpflichtet, sieht Roche in der Scheltrede den Gipfelpunkt von Hyperions Entwicklung, weil Hyperion in ihr Ruhe und Bewegung miteinander vermittele („Hyperion's coupling of dynamism and repose", S. 98): „Hyperion's pinnacle of stillness, his consciousness of the whole, fulfils itself in the particularity of the ,Scheltrede'", S. 106; ablehnend zu Recht Bay ([Anm. 5], S. 84 [Anm. 36]), ebd. auch der Hinweis auf das im Prinzip richtige Verständnis bei Aspetsberger (Aspetsberger, Friedbert: Welteinheit und epische Gestaltung. Studien zur Ichform von Hölderlins Roman .Hyperion'. München 1971, S. 301ff.), der allerdings hinsichtlich Hyperions „grundsätzlicher Einstellung" (S. 315) in der Tat ein zu statisches Bild entwirft. - Zur Scheltrede und Schlußvision zuletzt Ryan, Lawrence: „,So kam ich unter die Deutschen.' Hyperions Weg in die Heimat." In: HJb31 (1998/99), S. 99-125. Dort auch zu Recht die Ablehnung der These von Gaier (Gaier, Hölderlin [Anm. 5] S. 218 (vgl. ders.: Compendium [Anm. 5] S. 141 ff.)), mit der Scheltrede trete „der Roman aus seiner fiktionalen Geschlossenheit heraus", der Autor erscheine „einen Moment authentisch hinter seiner Figur" (was Bay ([Anm. 5], S. 84) zustimmend übernimmt; Bay (ebd., S. 82-85) glaubt im übrigen, Hyperions Nicht-Bewältigung seiner Leiderfahrungen bleibe auf deren „politische Hälfte" beschränkt).

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Erkenntnis der Grundstruktur des Seins ermöglicht, die andererseits jedoch eine solche Affizierung des Erzählers bewirkt, daß diese die ihm Ruhe schenkende Erkenntnis immer wieder einholt und übergreift und sie so nur punktuell volle Gültigkeit gewinnen läßt. Es wiederholt sich mithin in der ambivalenten Wirkung der Erzählung auf den Erzähler, nur auf höherer Ebene, das entscheidende Strukturmoment des vergangenen Geschehens, welches die erinnernde Erzählung vergegenwärtigt: der ständige Wechsel von Freude und Leid, innerem Frieden und ruheloser Zerrissenheit. So gesehen bringt Hyperions „Schicksalslied" nicht nur seine Vergangenheit gewissermaßen auf den Begriff, sondern durchaus auch seine Gegenwart. Nun hat freilich Hölderlin selbst in der Vorrede als Inhalt für seinen Roman „die Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter" benannt (13,10). Indessen, da es bekanntermaßen grundsätzlich hermeneutisch problematisch ist, die Selbstinterpretation eines Autors zum Maßstab der Deutung von Dichtung zu machen, legt diese Bestimmung den Interpreten nicht automatisch auf das teleologische Verständnismodell fest. Richtiger sollte er sich durch sie genau umgekehrt gehalten sehen zu fragen, ob überhaupt und wenn ja, wie der Text die Ankündigung einlöst. Daß es in der am Ende des Romans als letztes erzählerisch entfalteten Naturvision, die Hyperion noch in Deutschland hatte, schließlich heißt: Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. (175,4)

ist unerheblich. Die Vision gehört ganz der Erlebniszeit an, und der Erzähler Hyperion distanziert sich sogar noch explizit von ihr: Er habe sich, erklärt er von seinem in und mit der Erzählung bis zum Ende erreichten Status aus, „der seligen Natur [...] fast zu endlos" hingegeben (173,15). Und was er als die, vager Erinnerung nach, ihn seinerzeit bewegenden Gedanken entfaltet, das rückt er als inzwischen überholt von sich ab, indem er es durch ein „so dacht' ich" ein- wie ausleitet und zusätzlich noch das Ganze in Anfuhrungszeichen setzt (174,12ff.). 9 Folgt man also der hier vorgeschlagenen Lesart des ,Hyperion', kann statt von einer umfassenden Auflösung der Dissonanzen, wie sie augenscheinlich intendiert war, nur - der Dichter überspielt ersichtlich den Denker - von einer eingeschränkten und partiellen die Rede sein. Allerdings nicht in dem Sinn, daß Hyperions bereits recht weit fortgeschrittener, ja im Prinzip realisierter Bewußtseinswerdungs- und Reifeprozeß per se unabschließbar ist und nur in unendlicher Annäherung sich vollenden kann (was grundsätzlich natürlich richtig ist). Gemeint sein kann damit vielmehr allein, daß die Auflösung der Dissonanzen Für Gaier (Gaier, Hölderlin [Anm. 5], S. 217-220; vgl. Compendium [Anm. 5], S. 142) ist „die in Anfuhrungszeichen gesetzte Schlußrede [...] auf eine unerhörte Weise nur da, [...] es handelt sich um reine Sprache, Monolog, momentane Anwesenheit des Logos mit ungeheurer Präsenz, [...] jenseits der Subjektivität Hyperions." Zustimmend Bay ([Anm. 5], S. 69-71), ablehnend zu Recht Ryan ([Anm. 8] S. 100 [Anm. 1]); zur Schlußvision überzeugend (abgesehen von dem teleologischen Ansatz) ders.: ebd., S. 114-118.

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lediglich - in den Momenten der Erkenntnis der dialektischen Struktur des Seins - punktuell erfolgte, sich indessen nicht, alles dominierend, durchhielt, vielmehr von Zuständen unreflektierter Spontaneität immer wieder dementiert wurde. Das letzte Wort des Erzählers Hyperion: „Nächstens mehr", dessen Bezugsgröße nicht das zuletzt erzählte Ereignis der Erlebniszeit, sondern die Erzählzeit, und zwar in ihrer Gesamtheit, ist, klagt also ein, daß, was an Bewußtseinswerdung bisher nur punktuell statthatte, zunehmend universal wird. Für eine Fortsetzung des Romans (die Hölderlin denn auch nie damit hat ankündigen wollen) gäbe das allerdings nur ein wenig dankbares Sujet ab.

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Identität als aporetisches Projekt Kleists Erzählung Der Findling

Das Problem der Identität steht schon im Zentrum des Amphitryon: Alkmenes innere Gefühlsgewißheit wird erschüttert, und Amphitryon fühlt sich durch seinen göttlichen Doppelgänger „entamphitryonisiert", wie es in Anlehnung an Molieres scherzhafte Prägung heißt. Die Unverwechselbarkeit des Individuums, das seine existentielle Selbstgewißheit nur gewinnt, indem es sich als singulare und konsistente Person erfahrt, gerät in Zweifel, und dies in einer Zeit, die sich dem Kult des Individuums und des .Subjekts' verschrieb. Das Geschehen des Amphitryon konzipierte Kleist so, daß an der Titelgestalt selbst eine mehrfach geschichtete Identität, die des siegreichen thebanischen Feldherrn, die des stolzen Ehemanns und die des Herrn, der im Vollgefühl der Autorität mit seinen Dienern verkehrt, so gründlich und so lange angefochten wird, bis am Ende alle diese Schichten abgetragen sind. Alles, woraus Amphitryon bisher sein Selbstbewußtsein ableitete und worauf er seine Identität gegründet glaubte, verflüchtigt sich. Schließlich erscheint er als ein „Mann ohne Eigenschaften" avant la lettre. Nachdem sich alle .Eigenschaften', samt denjenigen, die er in der Rolle des Ehemanns beanspruchte, aufgelöst haben, stellt sich am Ende des Stücks immer mehr heraus, daß sein letzter und einziger Halt Alkmenes Liebe ist. Identität, so läßt das Geschehen erkennen, kann es nur in der gefuhlshaft vollkommenen Selbsterfahrung durch die Liebe eines anderen Menschen und in der Liebe zu einem anderen Menschen geben. .Eigenes' gibt es nur scheinbar. Deshalb glaubt Amphitryon ins Bodenlose zu stürzen, als er gegen Ende befurchten muß, daß er Alkmenes Liebe verliert, indem sie sich für seinen göttlichen Doppelgänger entscheidet. Seine innere Balance gewinnt er erst zurück, als er erkennt, daß sie in Jupiter letztlich doch ihn selbst liebt, allerdings seine von ihr „ins Göttliche verzeichnet[en]" Züge - bei pessimistischer Lektüre: ihre eigene Liebesillusion. Im Findling entwirft Kleist die entgegengesetzte literarische Versuchsanordnung. Hier geht er nicht von einer schon fixierten und gesellschaftlich-rollenhaft konfektionierten Identität aus, um sie Stück für Stück zu demontieren, vielmehr setzt er umgekehrt bei der Leerstelle einer identitätslosen Existenz an, wie sie später die Phantasie der Dichter in der Gestalt Kaspar Hausers herausforderte. Der Findling ist aus allen Lebenszusammenhängen herausgefallen, ohne Eltern, ohne Heimat, dem bloßen Zufall überlassen - „Gottes Sohn", wie man dem Güterhändler Piachi sagt, als er sich näher erkundigt, bevor er ihn mit auf die Reise und dann in sein Haus nimmt. Indem man ihm noch versichert, daß „nie-

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mand ihn vermissen würde", erscheint der Findling selbst als ein Niemand. Wie wird sich die Gesellschaft in dieses personale Neutrum einschreiben? Kann sich dabei Identität herausbilden? Wie um die vom Naivitätskult des 18. Jahrhunderts grundierte zeitgenössische Verherrlichung des Kindes und seiner „grenzenlosen Bestimmbarkeit"1 zu widerrufen, präsentiert Kleist den Findling Nicolo in einer rätselhaften Fremdheit: Offenkundig nicht leicht „bestimmbar", sitzt er in einer „etwas starren Schönheit" da, wobei er „seine Mienen niemals veränderte" (266f.);2 „ungesprächig und in sich gekehrt", vermag er sich nur auf sich selbst zu beziehen; während der alte Piachi um seinen gestorbenen Sohn weint, knackt er Nüsse. Hypothetisch käme es darauf an, diese bezugslose und beziehungsunfahige Existenz in ein authentisches Familien- und Gesellschaftsleben - ob es dies überhaupt gibt, bleibt bei Kleist allerdings grundsätzlich zweifelhaft - einzuordnen und aufgrund genuiner Identifikations- und Beziehungserfahrungen Identität zu bilden. Das Gegenteil geschieht. In einem Abschnitt von kaum mehr als einer Seite (267f.) fuhrt Kleist vor, wie der Findling Nicolo in das System der familiären und gesellschaftlichen Normen eingewiesen wird. Man bietet ihm das Bett des verstorbenen Sohns „zum Lager" an; man schenkt ihm „sämtliche Kleider desselben"; man schickt ihn „in die Schule, wo er Schreiben, Lesen und Rechnen lernte"; man stellt ihn im Kontor an, wo er alsbald die „Geschäfte" auf „das tätigste und vorteilhafteste verwaltete"; man verheiratet ihn mit einer Nichte der Stiefmutter, damit das „Übel" einer fehlgeleiteten Sexualität „an der Quelle verstopft" wird. Schließlich erklärt ihn Piachi zum Erben seines „Vermögens". Nicht umsonst stellt Kleist diesen Sozialisationsprozeß als beinahe mechanische Abfolge von Maßnahmen dar, die lediglich der Rollenzuweisung dienen und immer wieder geradezu instrumenteilen Charakter haben. Der Grundzug des Unauthentischen verschärft sich, indem schon in der Sphäre der Primärsozialisation alles das Stigma des Sekundären trägt:3 Nicolo schlüpft in das Bett und in die Kleider des verstorbenen Sohnes, und die gefühlsmäßige Zuwendung, die er erfahrt, ist ein kompensatorischer ÜbertragungsVorgang: Der alte Piachi, so heißt es, hatte „den Jungen in dem Maße lieb gewonnen, als er ihm teuer zu stehen gekommen

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Schiller, Friedrich: „Über naive und sentimentalische Dichtung." In: Schiller, Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Otto Dann u.a. Bd. 6: Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf Peter Janz. Frankfurt/M. 1992, S. 709. Zitate nach der Ausgabe: Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormans und Hinrich C. Seeba, Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hrsg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990. Auf die bloßen Stellvertreterfunktionen des Findlings weist Jürgen Schröder in seinem bahnbrechenden Aufsatz: ,Kleists Novelle ,Der Findling'. Ein Plädoyer für Nicolo." In: Kleist-Jahrbuch 1985, S. 109-127. Im Unterschied zu Schröders Ausführungen versuche ich allerdings das Geschehen nicht als Automatik einer „Erzählmaschine", vielmehr durchgehend psychologisch und ideologisch-historisch zu verstehen. Trotz zahlreicher Beiträge zum Findling hat die Forschung seit Schröders Abhandlung keinen nennenswerten Fortschritt erzielt.

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war". So ist Nicolo von Anfang an nie er selbst, er kann keine eigene Identität gewinnen, und dies nicht etwa, weil ihn die Menschen schlecht behandeln, sondern weil die Verhältnisse alles schon fixiert haben. Wie um den Zug des Sekundären oder jedenfalls Austauschbaren noch zu pointieren, ist davon die Rede, daß der alte Piachi mit einem Handelsgehilfen unzufrieden ist und „statt seiner" Nicolo in dem Kontor anstellt. In diesem Horizont eines unauthentischen Daseins inszeniert Kleist nicht bloß eine einmalig verhängnisvolle Extremsituation. Gleichsam unter Laborbedingungen holt er zerstörerische Potentiale des menschlichen Daseins ans Licht. Im Vorfeld seiner destruktiven Aktivitäten zeigt der Findling sowohl eine Tendenz zur „Bigotterie" wie auch einen früh sich auswirkenden „Hang für das weibliche Geschlecht". Wenn in seinem Leben alles unauthentisch und sekundär ist, dann liegt es nahe, daß er seine Defizite im Bereich des Imaginativen und Emotionalen kompensiert. In dieser Perspektive erscheint die „Bigotterie" als unbewußter Versuch Nicolos, in der Religion einen Ersatz für das ihm in der Realität Vorenthaltene zu gewinnen, und in seinem „früh" sich verratenden „Hang zum weiblichen Geschlecht" kommt nicht bloß seine Triebstruktur zum Vorschein - er bricht auch aus dem emotionalen Vakuum des Hauses Piachi aus. Drastisch gibt Kleist zu erkennen, daß der Findling selbst bei solchen Ausbruchsversuchen schon wieder in einen festgelegten Interessen- und sogar Mißbrauchszusammenhang gerät: Die Karmeliter-Mönche beziehen ihn in ihren „Umgang" ein, weil sie es auf sein Erbe, die „Hinterlassenschaft des Alten", abgesehen haben, und nicht umsonst wird er „schon in seinem fünfzehnten Jahre" „bei Gelegenheit dieser Mönchsbesuche, die Beute der Verführung einer gewissen Xaviera Tartini, Beischläferin ihres Bischofs" (267f.). Nach der Verheiratung Nicolos und nachdem er das Erbe des alten Piachi angetreten hat, ist die Schwelle zwischen dem nunmehr abgeschlossenen Sozialisationsprozeß und der Entladung der zerstörerischen Energien erreicht, die sich in ihm herausgebildet haben. Das katalysatorische Medium hierfür sind die häuslich-familiären Verhältnisse, in denen Nicolo lebt. Denn nicht nur er selbst bleibt darin von Anfang an ohne eigene Identität; ohne Substanz ist auch die Ehe zwischen dem alten Piachi und seiner jungen Frau Elvire. Die Unerfülltheit dieser Ehe, die bloß eine äußere Form bürgerlichen Zusammenlebens ist, führt dazu, daß Elvire einen jungen Genueser namens Colino, der ihr im Alter von dreizehn Jahren das Leben rettete und dabei selbst ums Leben kam, „in heimlicher Ergebung vergöttert" (276) - eine Idolatrie im Wortsinn, denn sie betet in ihrem Schlafgemach das von ihr hinter einem Vorhang verborgene lebensgroße Bild des Toten an. Daß der Tote in Elvirens Imagination verklärt wiederauflebt und ihre sonst nirgends Erfüllung findenden Gefühle auf sich zieht, hat etwas tief Zerstörerisches. Kleist diagnostiziert damit auch eine romantische Grundgefahr: die Flucht aus dem Ungenügen an einer - tatsächlich defizienten - Wirklichkeit in die Imagination, die sich dann bis zu dem Grade verselbständigt, daß sie auf die Wirklichkeit zerstörerisch zurückschlägt. Durch eine Konfiguration, die weit jenseits realistischen Erzählens geradezu Merkmale eines Chiffren-Spiels aufweist und über die Grenzen des Wahr-

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scheinlichen hinaus geht, setzt Kleist das psychische Drama in Gang, als Nicolo in diese phantasmatisch zerrütteten Verhältnisse tiefer hineingerät. Das erste, jedes realistische Erzählkonzept sprengende Element ist die Ähnlichkeit seiner äußeren Erscheinung mit Colino. Als er eines Nachts in der Maske eines genuesischen Ritters vom Karneval zurückkehrt, sieht er dem genuesischen Lebensretter so ähnlich, daß er Elvires Phantasma auf sich zieht; aber auch fur andere und ohne Verkleidung gleicht er ihm verblüffend. „Signor Nicolo, wer ist das anders, als Sie?", ruft die kleine Klara aus, als sie das Bild des genuesischen Ritters erblickt. Und von Xaviera heißt es: „Das Bild, in der Tat, je länger sie es ansah, hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit ihm" (275). Das zweite Element ist die untergründige Identität seines Namens - Nicolo - mit dem des genuesischen Ritters: Colino. Ebenfalls in einer zufalligen Situation wird er dieser, wie Kleist sagt, „logogriphischen" Eigenschaft seines Namens inne. Sowohl Erscheinung wie Name also deuten in dieser Konfiguration auf eine geheimnisvolle Identität des Nichtidentischen. Indem Kleist damit bewußt gegen das realistische Gebot der Wahrscheinlichkeit verstößt, überbietet er, wie mit einer ähnlichen Doppelgänger-Konstellation im Michael Kohlhaas, Boileaus Diktum „Le vrai peut quelque fois n'etre pas vraisemblable".4 Vor allem aber kommt diesem provozierenden Verstoß gegen das Gesetz der äußeren Wahrscheinlichkeit die Aufgabe zu, die innere, psychologische Wahrheit in gleichsam reiner Form herauszukristallisieren. Der konzeptionelle Sinn des weiteren Geschehens ergibt sich aus dem Versuch des Findlings, des aufgrund seiner Sozialisation nicht Liebesfahigen, sich Liebe in der Gestalt eines anderen zu erschleichen. Schon bei seiner ersten Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht war er zur bloßen „Beute" einer Verfuhrung geworden, später hatte er in einer kurzen Ehe an seiner „liebenswürdigen" (268) früh verstorbenen jungen Frau „nur mit geringer Liebe und Treue [...] gehangen" (271). Nun versucht er mit pervertierter „Begierde" Elvire zu verfuhren. Als seine Hoffnungen scheitern, dies in seiner eigenen Person zu erreichen, schlüpft er unter Ausnutzung seiner Ähnlichkeit mit dem von ihr heimlich vergötterten Colino in dessen Identität, um sie in ihrem Schlafzimmer zu überwältigen. Als figurative Projektion eines inneren Vorgangs gewinnt die Verwendung des Doppelgänger-Motivs eine geradezu abstrakt-zeichenhafte Qualität. Sie kommt im Begriff des „Logogriphischen" zum Ausdruck. Von Elvires Liebesproblematik her gelesen, signalisiert die logogriphische Identität der beiden Namen Colino-Nicolo, daß die aus der Unerfulltheit der Ehe resultierende „Vergötterung" Colinos in das „satanische" (279) Unternehmen Nicolos umschlägt. Der reale Liebes- und Lebensmangel läßt sich durch die kompensatorische Projektion eines Ideal-Geliebten nicht ausgleichen, vielmehr führt er im „[...] wie denn die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist", heißt es im Michael Kohlhaas (134). E.T.A. Hoffmann setzt immer wieder programmatisch die innere „Wahrheit" gegen die äußere „Wahrscheinlichkeit". Explizit zitiert er Boileaus Ausspruch im Fräulein von Scuderi (Hoffmann, E.T.A.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Bd. 4: Die Serapionsbrüder. Hrsg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. Frankfurt/M. 2001, S. 842).

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Zuge eines psychischen Polarisationsprozesses vollends ins Zerstörerische. Von Nicolos Identitätsproblematik her gelesen ergibt sich, daß er, der Identitätslose und deshalb Liebesunfahige, der von Anfang an immer nur Rollen zu übernehmen hatte, nun die Rolle eines anderen usurpiert, der die Ideal-Version seiner selbst ist (daher die doppelgängerhafte Ähnlichkeit), um in dieser Rolle ,Liebe' zu erzwingen. Der äußere Eindruck des moralisch und individuell zurechenbaren Bösen erweist sich als trügerisch, denn der doppelten Untat Nicolos, der sich zuerst der Frau Piachis und dann, „eines Tartuffe völlig würdig" (280), seines Besitzes bemächtigt, liegt eine psychisch transformierte, aber schon depravierend wirkende Realität zugrunde: Nicolo spielt als Besitzer der Frau und des Eigentums die beiden Hauptrollen, welche die Gesellschaft zu bieten hat, bis zum zerstörerischen Exzeß. Seinem generellen Interesse für pathologische Deformationen der menschlichen Psyche folgend, entwirft Kleist hier mit dem analytischen Scharfsinn des Vivisekteurs eine Anatomie des ,Bösen' jenseits von Gut und Böse. Wenige Jahre zuvor hatte Jean Paul dies im Titan an der Figur des Roquairol vorgeführt, den ebenfalls das Verhängnis des Unauthentischen und der Rollenfixierung in zerstörerische Perversionen treibt. Immer wieder macht Kleist nicht nur religiöse, sondern auch moralische Wertungen zum Ziel seiner Vorurteilskritik. In der Marquise von O. .. führt er alle moralischen Urteile aus Anlaß einer im landläufigen Sinn .unmoralischen' Tat ad absurdum. Dies gilt auch für die sich mit ihnen verbindenden religiösen Absolutsetzungen durch die Marquise, die den Grafen bald für einen „Engel", bald für einen „Teufel" hält. Auch im Findling verbindet sich die moralische Wertung mit der religiös-metaphysischen Dimension. Deren Fragwürdigkeit liegt ebenfalls in Extremurteilen, die Erkenntnisflucht oder Erkenntnisunfahigkeit signalisieren. Der Erzähler nennt Nicolo einen „höllischen Bösewicht" (281) - und nur zu gerne stimmt man ihm zu, denn im Vergleich mit der schweren Verfehlung, deren sich der russische Graf in der Marquise von O... schuldig macht, handelt es sich hier um eine „Bosheit". Den spezifischen Charakter des Perversen erhält sie dadurch, daß der Findling die Wohltaten, die er von der existentiellen Rettung über die Adoption bis zur Einsetzung als Erbe empfangen hat und die eigentlich größten Dank verdienen, mit größtem Undank vergilt. Aber gerade darin wird ein psychischer Rückschlagsmechanismus wirksam, wie schon in der Verlobung in St. Domingo, wo der „fürchterliche" alte Neger Congo Hoango die „Wohltaten", mit denen ihn sein weißer Herr überhäuft, schließlich damit vergilt, daß er ihn ermordet. Der Mensch, der Wohltaten empfangt, die seine ganze Existenz bestimmen, wird dadurch zum Geschöpf eines anderen und vermag keine eigene Identität auszubilden, da er sich selbst nichts zurechnen kann. In einem Akt radikaler Zerstörung kann er das Abhängig-Sekundäre seines Daseins bloß negieren. Den Akteuren selbst bleibt der psychische Untergrund des destruktiven Geschehens verborgen. Wie Marionetten sind sie ihm deshalb ausgeliefert. Kleist macht die Unfähigkeit zur Selbstregulierung und zur gegenseitigen Regulierung durch markante Symptome sichtbar. Alle Bewohner des Hauses Piachi leben ihr

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Leben für sich, isoliert und ohne menschlichen Zugang zueinander. Bezeichnenderweise bleiben die Türen der Zimmer meist verschlossen;5 was dahinter vorgeht, kann nur in Ausnahmesituationen wie etwas Fremdes und Rätselhaftes beobachtet werden - am deutlichsten im Fall Elvirens. Man lebt gespenstischmonadisch nebeneinander her in einem entfremdeten, durch Verdrängung, Kompensation und Eskapismus bestimmten, im übrigen steril bloß organisierten Dasein, dessen Arrangement schließlich chaotisch zusammenbricht. Schon in seinem Erstlingsdrama hat Kleist die Zerstörung kommunikativer Zusammenhänge zum Symptom einer katastrophischen Disposition gemacht. In seiner aus dem Geist der Aufklärung stammenden Hochwertung des .Gesprächs' läßt er zugleich eine romantische Affinität erkennen, welche die Kehrseite zum Vorschein bringt. E.T.A. Hoffmann exponiert immer wieder, so im Sandmann und in den Bergwerken zu Falun, eine romantisch radikalisierte, in Selbstverfallenheit übergehende Innerlichkeit, um daraus einen selbstzerstörerischen Realitätsverlust abzuleiten. Er äußert sich auch darin, daß Kommunikationsprozesse unterbleiben oder fehlgeleitet werden. Während es sich bei Hoffmann um eine poetologisch perspektivierte Krise der romantisch absolutgesetzten Subjektivität handelt, konzentriert sich Kleist auf einen anderen Aspekt: Das Erliegen der Kommunikation ist bei ihm zwar auch, wie das Beispiel Elvirens zeigt, Folge einer subjektiven, in einer Sonderwelt sich wahnhaft entfaltenden Imagination, diese selbst aber erscheint als Symptom der aporetischen familiären Situation, die auf gesellschaftlich-allgemeine Gefahren hin durchsichtig wird. Anstelle eines positiven, regulierenden oder sogar heilenden Miteinanders entsteht ein in Heimlichkeiten, Absonderungen und kommunikationsloser Verschlossenheit sich immer gefährlicher aufstauendes Potential des Gegeneinanders. Es kommt zu einer pervertierten, radikal negativen Art der Kommunikation: Nach bezeichnenderweise „sprachlosen" Konfrontationen und reaktiven Zerstörungsimpulsen findet das Geschehen schließlich in ungeheuerlichen Racheakten sein desaströses Ende. Dabei hat Kleist das vom Erstlingsdrama bis zum Michael Kohlhaas charakteristische Moment der Selbstzerstörung pointiert. In der an Dante erinnernden Inszenierung des Finales strebt der alte Piachi, nachdem er dem Findling „das Gehirn an der Wand" eingedrückt hat, in unersättlicher Wut zum „untersten Grund der Hölle", um dort in alle Ewigkeit „Rache" zu nehmen. Dabei verfallt er einem pathologisch-selbstzerstörerischen Reaktionsmechanismus, der nicht mehr beherrschbar ist. Schon Nicolo wurde nicht nur durch „Beschämung" und „Wollust" zur Ausführung seines „satanischen Plans" an Elvire getrieben, sondern auch vom Verlangen nach „Rache". Wie in der Verlobung in St. Domingo kommt eine eigenartige Gefühls- und Triebmischung zustande. Sie läßt eine irrational-explosive Psychodynamik entstehen, die der Mensch selbst nicht mehr zu durchschauen und zu regulieren vermag. In der Erzählung Die Verlobung in St. Domingo treibt eine Mischung von äußerster Angst, von Verlangen nach Rettung und zugleich eine dadurch

Zum Motiv der Verschlossenheit und zu der entsprechenden Schlüsselsymbolik, welche die Novelle auffällig durchzieht, vgl. Schröder [Anm. 3], S. 125.

Identität als aporetisches Projekt

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stimulierte erotische Gefühlswallung den Protagonisten zu einer Liebesnacht mit dem jungen Mädchen, die ihm anschließend unverantwortlich erscheint: „Er schwor ihr, [...] daß nur, im Taumel wunderbar verwirrter Sinne, eine Mischung von Begierde und Angst, die sie ihm eingeflößt, ihn zu einer solchen Tat habe verführen können" (239). Er selbst erscheint hier nicht etwa als Verfuhrer, sondern als der von der „Mischung" der Gefühle Verführte! Von Nicolo heißt es: „Beschämung, Wollust und Rache vereinigten sich jetzt, um die abscheulichste Tat, die je verübt worden ist, auszubrüten" (279). Grammatikalisch genau genommen sagt dieser Satz, daß nicht Nicolo, vielmehr die Vereinigung seiner Gefühle die Tat „ausbrütet". Unkontrollierbare Reaktionsbildungen, die ihr Extrem in Rachehandlungen erreichen, und das Zusammenschießen heterogener Gefühls- und Triebintensitäten stürzen die Menschen in chaotische Verhaltensweisen, die sie als völlig unfrei, ja sogar als selbstzerstörerisch erweisen. Daß der alte Piachi die Absolution verweigert, daß er in die Hölle hinabzufahren wünscht, um sich dort an Nicolo bis ins Unendliche fort zu rächen, daß er die „ganze Schar der Teufel" herbeiruft - das alles signalisiert in den Vorstellungsformen religiöser Mythologie eine rettungslose Verfallenheit. Ihre destruktive Binnenlogik liegt in der Unmöglichkeit begründet, sich von den Erfahrungsund Handlungsbedingungen zu lösen, die den Menschen nicht bloß existentiell bestimmen, sondern ihn geradezu überwältigen, so sehr, daß er sich entstellen und in der Selbstvernichtung enden muß. Damit konfrontiert dieses Werk den Leser radikal mit dem Problem menschlicher Freiheit. Wie in manchen seiner anderen Dichtungen erscheint Kleist als Antipode von Schillers idealistischen Freiheits- und Moral-Konzepten. Zwar geht er nirgends so weit wie später Büchner, der in der für die Jahre nach 1830 typischen Weltschmerz-Stimmung den „gräßlichen Fatalismus der Geschichte" mit der Erfahrung ausweglosen Leidens verbindet. Aber auch Kleist bringt einen extremen Pessimismus zum Ausdruck, indem er den Menschen zuerst in einer unaufhebbaren Abhängigkeit von Vorgeschichten zeigt, die ihn an der Identitätsfindung hindern und ihn dann in einem unaufhaltsamen Depravierungs- und Zerstörungsprozeß untergehen lassen. Wenn sich im Findling Identität allenfalls negativ, im Akt der Zerstörung manifestiert, so ist im Rückblick auch nach der historischen Grundierung dieser Konzeption zu fragen. Identität wird ja gerade nicht als synthetisches Ergebnis eines auf Anpassung angelegten Sozialisationsprozesses begriffen, sie ist nicht durch die normierende Einfügung in vorgegebene Rollenangebote zu erlangen. Sie entschwindet ins Utopische, und Kleist übersteigt damit das Natur- und Ursprünglichkeitspostulat Rousseaus, aus dessen Perspektive er alles gesellschaftlich Vermittelte als entfremdet und depraviert wertet. Allerdings besteht die experimentelle Eigenwilligkeit der Findlings-Erzählung auch darin, daß sie auf den von Rousseau in seinem Emile vertretenen Ansatz einer ursprungshaften .guten' Natur ganz verzichtet, indem sie den Knaben Nicolo am Anfang lediglich als beziehungsloses und eigenschaftsloses Neutrum einführt. Ohne Identität und auch ohne Kennzeichen von Authentizität, markiert die Figur des Findlings eine anthropologische Leerstelle, welche die Familie als Sozialisationsmedium

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der Gesellschaft mit Rollenmustern besetzt, die vor dem Hintergrund des Authentizitätspostulats immer schon entfremdet erscheinen. Mit anderen Worten: Das Authentizitätspostulat gelangt hier nur per negationem zur Geltung. Daher ist es konsequent, daß Identität sich allein in destruktiven Handlungen kundtut und die menschliche Realität unter den extremen Bedingungen dieser erzählerischen Versuchsanordnung in der „Hölle" endet. Historisch gesehen annulliert Kleist damit das optimistische aufklärerische Denkmuster, in dem der Mensch als anfangliche tabula rasa alle Chancen der Erziehung zum Höheren bietet. In seiner weit über Rousseau hinausgehenden pessimistischen Perspektive sind auch die Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen immer schon gesellschaftlich korrumpiert, und dies mit geschichtlicher Notwendigkeit.

Waltraud Wiethölter

„Dieses Hokuspokus-Leben" oder Jean Pauls Konjektural-Biographie Zur Geschichte der , anderen' Autobiographie

Oft weiß ich kaum, was ich eigentlich aus mir machen soll als Bücher. Jean Paul, Aufzeichnung aus dem Nachlaß

„Gattungsbegriffe", so heißt es ganz richtig in einer der jüngsten Publikationen zum Thema Autobiographie, „dienen der Strukturierung des literaturwissenschaftlichen Feldes."1 Doch wie schwierig das Ordnungsgeschäft auf eben diesem - dem autobiographischen - Feld ist, zu dem neben der sogenannten Selbstbiographie2 eine Reihe weiterer, nach den Kautelen der klassisch-aristotelischen Gattungslehre eher im Grenzbereich der Literatur angesiedelten Textsorten gehört - zum Beispiel der Brief, das Tagebuch, die Memoiren3 - zeigt der Blick auf den Diskussionsverlauf während der letzten (rund) fünfundzwanzig Jahre. Kaum war nämlich, am Ende einer Phase erstaunlichen Desinteresses, mittels Engführung der literaturgeschichtlich und erzähltheoretisch relevanten Aspekte der Versuch unternommen worden, die Autobiographie als eine für die Aufnahme fiktionaler Elemente zwar prinzipiell offene, im wesentlichen aber durch die Authentizität ihres Stoffes definierte Zweckform zu beschreiben, die, als Wirklichkeitsaussage und Zeugnis eines ,echten' Aussagesubjekts, dem Zwang zur Objektivierung und allen daraus abzuleitenden Darstellungsmaximen (zirkulär angelegte Retrospektive, vollständige Chronologie, Sukzession der Ereignisse zur Schreibgegenwart hin etc.) unterliegt,4 ist es auf breiter, sprach-, schrift- und subjektkritischer Front zu Einsprüchen gekommen, die das Konzept unter Hinweis auf seine unhaltbaren Vorannahmen nicht nur abgewie1 2

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Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000, S. 6. Unter diesem Lemma fand sich die Autobiographie noch 1958 in der 2. Auflage des von Paul Merker und Wolfgang Stammler begründeten, von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr herausgegebenen Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte abgehandelt. Vgl. Nickisch, Reinhard M.G.: „Der Brief und andere Textsorten im Grenzbereich der Literatur." In: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 357-364; Wuthenow, Ralph-Rainer: .Autobiographic und autobiographische Gattungen." In: Fischer Lexikon Literatur, hrsg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt/M. 1996, S. 169-189. Vgl. Müller, Klaus-Detlef: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, bes. Kap. Π: „Die Autobiographie als Zweckform", S. 27ff.

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sen, die insbesondere auch die Argumente fur eine bis dahin nicht denkbare Gegenstandskonstituierung geliefert haben. Angesichts der „phänomenologischen NichtUnterscheidbarkeit von Autobiographie und fiktiver Lebenserzählung im Ich-Roman" und der damit einhergehenden, merklich zugespitzten Referenzproblematik 5 steht sehr in Zweifel, ob die Autobiographie überhaupt als Gattung eigener Provenienz zu betrachten sei. Man zieht es vor, in ihr eine Rede- respektive Lese- und Verstehensfigur zu sehen, die im Sinne der fiktionalen Implikationen eines jeden sprachlichen Weltentwurfs ihren Referenten erzeugt mit der Konsequenz, daß die Autobiographie nicht per se beanspruchen kann, autobiographischer als der große Rest der Literatur zu sein, der auf ein solches Etikett verzichtet, 6 und daß über die Qualität des autobiographischen Textes anhand derselben Parameter: der Kriterien rhetorischer, poetologischer und grammatologischer Art entschieden werden muß, wie sie im Kern für die Literatur aller Sparten entwickelt worden sind. Die Autobiographie, so lautet die Pointe, ist nicht „be-schriebenes", sie ist „ge-schriebenes Leben", in der die Frage nach dem Urheber des Textes und seiner Funktionalisierung im Rahmen einer Autorschaft nicht eigentlich anders, aus Gründen der Logik - der logischen Unvereinbarkeit dieser Produktionsprämisse mit dem memorialen Identitätsformular von Hauptfigur, Erzähler und Verfasser - jedoch ungleich schärfer gestellt wird. 7 Eine erneute Debatte um die angemessene Kategorisierung der Autobiographie erscheint also wenig aussichtsreich. Und dennoch markiert ironischerweise diese Konfliktlage genau den Punkt, an dem sich der Ball zurückspielen und über den Titel einer Zweckform abermals nachdenken läßt - wenn auch nicht im Zeichen irgendeines Objektivismus, sondern nach Maßgabe jener strukturellen Effekte, die mit dem Phänomen der Autorschaft verbunden sind. Unbestreitbar hat sich in dieser Hinsicht, im Anschluß an Foucaults diskursanalytische Skizze zum Gebrauchswert des Autorbegriffs und ihrer provokanten Eingangsfrage „,Wen kümmert's, wer spricht?'", ein beachtenswerter Klärungsprozeß vollzogen. 8 Erkannt wurde, daß Autorschaft - oder abstrakter gesagt: Auktorialität - generell über eine sie spaltende, die gängigen Repräsentationsvorstellungen aus den Angeln hebende „Doppelstruktur von An- und Abwesenheit" verfugt. 9 Ist Autorschaft einerseits das im Text Repräsentierte, das zugleich Medium dieser Repräsentation ist, so ist sie andererseits das in der sprachlichen Verausgabung Getilgte, das nicht einmal dann zur Legitimation ei5 6 7 8

9

Wagner-Egelhaaf [Anm. 1 ], S. 5. Vgl. Wagner-Egelhaaf [Anm. 1], S. 80f. Wagner-Egelhaaf [Anm. 1], S.16; vgl. S. 9f. Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?" In: Foucault, Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin von Hofer und Anneliese Botond. Frankfurt/M. u.a. 1979, S. 7 31; hier S. 7. - Dieser Klärungsprozeß hat inzwischen offenbar einen Grad erreicht, der die Neopositivisten auf den Plan ruft. Davon zeugt jedenfalls der mit großer Innovationsgeste, aber geringem Sachertrag ausgestattete Sammelband: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hrsg. von Fotis Jannidis u.a. Tübingen 1999. - Vgl. außerdem den Tagungsband des DFG-Symposiums: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart 2002. Kleinschmidt, Erich: Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen, Basel 1998, S. 10.

Jean Pauls „Konjektural-Biographie"

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ner Ursprungserzählung taugt, wenn es - was es seit der Erfindung des Namens Homer jahrhundertelang tatsächlich getan hat - die Rolle eines Phantasmas übernimmt, mit dessen Hilfe „die disparat erlebte Wirklichkeit der Texte" noch in nachmythischer Zeit Zusammenhang gewinnt.10 Obwohl sie sich durchaus imstande zeigt, Selbstdarstellung zu stimulieren, ersetzt Autorschaft „keine fehlende personale Präsenz", „kein abwesendes Subjekt"; als Ergebnis einer ,,metonymische[n] Maskierung", die das Maskierte unwiederbringlich hinter sich läßt, ist der Text allemal die „Sache selbst",11 um die es zu tun ist - und zwar exklusiv und ohne die Chance einer wie immer gearteten Totenbeschwörung. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, und das bedeutet: bis zum epochemachenden Auftritt der Genieästhetik und ihrer Individualisierungsansprüche dürfte daran freilich auch niemand ernsthaft gedacht haben. Wer sich literarisch betätigte - sei's in wissenschaftlicher, sei's in poetischer Absicht - , tat dies vor der Kulisse einer ,,kollektive[n], streng traditionalistische[n] Überlieferung" und als „Teil einer Kette"12 oder „Formulierungsgemeinschaft",13 in der er - selten sie (!) - , zu topologischer Wiederholung angeleitet, nichts weiter als „eine mediale Funktion" zu versehen,14 die auktoriale Rede den Charakter einer „treuhänderisch" artikulierten Verlautbarung hatte.15 Jäh verändert präsentierte sich dieser Handlungshorizont jedoch nach der Inthronisation des Genies und der Entlassung der Kunst in die Autonomie: Statt institutioneller Beglaubigung war Originalität, statt abrufbarer rhetorischer Register waren Strategien der Singularisierung, statt gedächtnisbildender Vermittlungsformen Gesten emphatischer Unmittelbarkeit gefragt. An die Stelle des mäeutischen Rückgriffs auf die auctoritates sollte, durch subjektive Erfahrung gerechtfertigt, das Unverwechselbare treten - zwecks ideologisch geforderter Selbstbehauptung und der davon zunehmend abhängigen Subsistenzsicherung des mäzenatisch .befreiten' Schriftstellers freilich nicht allein in Gestalt des Werks, sondern auf eine Weise, die der Kenntlichkeit des Autors diente. Sozusagen über Nacht war die Leere am Ort der Autorschaft, war der Autorname als Signet einer methodischinstrumentell beschreibbaren „Leistungsgröße"16 zum Problem geworden, und man hatte sich, zum ersten Mal in der Geschichte der Literatur, um die aus dem off der Texte kommende , Stimme' zu bemühen und nach Wegen zu suchen, die es erlaubten, die Metonymie des Schöpfungsaktes in umgekehrter - gewissermaßen retrograder - Richtung zu aktivieren. Damit sich der bloß lexikalisch, nicht essentialistisch17 verankerte Autorname auf dem Markt der Geistesgüter Geltung verschaffen konnte, mußte ihm, mit anderen Worten, Leben einge-

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Kleinschmidt [Anm. 9], S. 33. Kleinschmidt [Anm. 9], S. 61. Kleinschmidt [Anm. 9], S. 23. Kleinschmidt [Anm. 9], S. 22. Kleinschmidt [Anm. 9], S. 23. Kleinschmidt [Anm. 9], S. 28. Kleinschmidt [Anm. 9], S. 22. Vgl. Kleinschmidt [Anm. 9], S. 47, und - noch immer - Kripke, Saul Α.: Name und Notwendigkeit. Frankfurt/M. 1981.

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haucht werden - was, wie bereits der Fall Klopstocks exemplarisch demonstrierte, durch den Einsatz subtiler und weniger subtiler Mittel zu bewirken war. Zu den weniger subtilen zählte zum Beispiel die Flankierung des autorisierten Werks durch (halb-)öffentlich gemachte (bzw. schon im Ansatz für diese Öffentlichkeit entworfene) Privatbriefe, die sich als relativ umstandslos anzuschließende Prä- oder Postskripte empfahlen,18 während die Substitutions- und Rahmungsverfahren, die in Klopstocks poetologischen Essays den Austausch repräsentationslogischer respektive (affekt-)rhetorischer Kategorien zugunsten anthropologisch-subjektivistisch fundierter Begriffe regelten und einem Text wie der nachmals berühmt gewordenen Frühlingsfeier eine die Personalpronomina identifikatorisch fokussierende autobiographische Fiktion voranstellten,19 zweifelsfrei unter die Subtilitäten fielen. Genaugenommen ist es erst jüngst gelungen, das Raffinement dieser Techniken zu durchleuchten,20 was diese Techniken aber nicht daran gehindert hat, die offensichtlich in sie gesetzten Erwartungen prompt und zuverlässig zu erfüllen. Das bezeugte nicht allein der spektakuläre Erfolg, den Klopstock anläßlich der Subskription seiner Deutschen Gelehrtenrepublik verbuchen konnte; das bezeugte bekanntlich kein Geringerer als Goethe, der Klopstock im Rückblick auf diese Umbruchzeiten „das völlige Recht" bescheinigte, „sich als eine geheiligte Person anzusehn",21 und der dies selbstverständlich im Rahmen des autobiographischen Projektes tat, das unter der Doppeldevise von Dichtung und Wahrheit gleichfalls angetreten war, das „Hervorgebrachte":22 die sprichwörtlichen „Bruchstücke einer großen Konfession",23 „wieder als Stoff zu behandeln und zu einem Letzten zu bearbeiten", auf daß der „Künstler" aus dem funktionalen Schatten der Autorschaft als der Genius hervortrat, der das Werk in seiner ebenso einmaligen wie unnachahmlichen Lebens-Begabung zu besiegeln vermochte.24 Nichts spricht deshalb dagegen, die Autobiographie eine Zweckform zu nennen, die sich den Erfordernissen eines spezifischen, historisch einigermaßen 18

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Vgl. die Hinweise - auch auf weitere Forschungsliteratur - bei Nickisch, Reinhard M. G.: Brief. Stattgart 1991, S.44ff. Vgl. die erste Fassung der Frühlingsfeier, die Klopstock, parallel zu seinen poetologischen Beiträgen und noch deutlich spürbar im Einzugsbereich der Anakreontik, 1759 im Nordischen Aufseher unter dem Titel Eine Ode über die ernsthaften Vergnügungen des Landlebens veröffentlichte, in: Klopstock, F. G.: Oden. Textauswahl nach der 1889 von Franz Muncker und Jaro Pawel besorgten Ausgabe der Oden Klopstocks. Stuttgart 1966, S. 58ff. u. Anm. S. 144ff. Berndt, Frauke: „Die Erfindung des Genies. F.G.Klopstocks rhetorische Konstruktion des Au(c)tors im Vorfeld der Autonomieästhetik." In: Autorschaft [Anm. 8], Stuttgart 2002, S. 24-43. Goethe, Johann Wolfgang: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit." In: Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abtl. Bd. 14, hrsg. von KlausDetlef Müller. Frankfurt/M. 1986, S. 435. - Vgl. Berndt [Anm. 20], Goethe [Anm. 21], S. 12. Goethe [Anm. 21], S. 310. Goethe [Anm. 21], S. 12. - Daß sich dieser Plan nicht ungebrochen realisieren ließ, steht auf einem anderen Blatt und macht aus heutiger Sicht eine der wesentlichen Qualitäten von Dichtung und Wahrheit aus.

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exakt zu lokalisierenden Autorschaftskonzepts verdankt. Auf den strukturbedingten Mangel an personaler Präsenz, der jedwede Sorte von Autorschaft charakterisiert, als solcher aber erst unter dem Erwartungsdruck des am Exzeptionellen ausgerichteten bürgerlichen Kunstbetriebs fühlbar geworden ist, reagiert die Autobiographie mit dem Versprechen - der Verheißung - , diesen Mangel beheben zu können, indem sie die Matrix der Beichte - die Aufspaltung der ersten Person Singular in ein erzählendes und ein erzähltes Ich sowie deren Reintegration im Namen Gottes - zu einem Forum von Verhandlungen macht, die ihre ganze Energie auf die Herstellung einer Dreieinigkeit im Namen des Autors konzentrieren. Wo sich in den Confessiones des Augustinus eine .Stimme' zu Wort meldet, die sich rückhaltlos als Gottes Werkzeug, ihr Sprechen als Lob Gottes begreift, ist die Autobiographie bemüht, alles abzuwehren, was den (Kurz-)Schluß vom Erzähler auf den Autor zu behindern oder gar die Apotheose des Autors zu vereiteln droht. Gleichzeitig zögert die Autobiographie allerdings nicht, sich der Topik zu bedienen, die mit den augustinischen Bekenntnissen seit Jahrhunderten ihr unübertroffenes Muster hat. Neben den Regularien der Erinnerungsarbeit, inventio und dispositio, betrifft das insbesondere die topoi im Sinne der loci α persona25 wie im Sinne eines Rasters, das durch Plazierung gewisser Inhalte an gewissen (exponierten) Orten die konkrete textuelle Topographie bestimmt.26 Angesichts dieser Umstände erklärt sich nicht nur, warum das 18. Jahrhundert - einschließlich einer Nachgeschichte, deren Ende noch keineswegs abzusehen ist - eine explosiv anwachsende Autobiographienproduktion zu verzeichnen hat; es erklärt sich außerdem, warum die Autobiographie in doppelter Hinsicht, im Blick auf ihre Architektur nicht minder als im Blick auf ihr genealogisches Interesse, eine konservative, um nicht zu sagen: eine restaurative Literaturform ist. Als Epiphänomen: als Werk zu einem Werk, in dem der Autor funktionsgemäß untergeht, in dem er sich - mit einem Vergleich Roland Barthes' zu reden - auflöst wie die Spinne in den „konstruktiven Sekretionen ihres Netzes",27 hat die Autobiographie den Auftrag, den Autornamen in das Passepartout eines Bildes zu verwandeln und dieses Bild mit einem Lebenslauf zu belegen, der ihm auf der Koordinatenachse .wirklicher' Zeit und ,wirklichen' Raums den Status eines Abbilds verleiht. Das Anliegen der Autobiographie ist, wenn man so will, testamentarischer, notarieller, jedenfalls urkundlicher Art - ein Sachverhalt, der vor Jahren dem Theorem vom .autobiographischen Pakt' zu einiger Popularität,28 der Autobiographie selbst zu einer 25

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Vgl. Ueding, Gert und Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte - Technik Methode. 3., Überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 1994, S. 234ff., und - als einer der ersten, wegweisenden Versuche, moderne Autobiographien im Lichte der antiken memoria zu lesen - Goldmann, Stefan: „Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie." In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart, Weimar 1994, S. 660-675. Vgl. Wagner-Egelhaaf[Anm. 1], S. 14. Barthes, Roland: Die Lust am Text. 8.Aufl. Frankfurt/M. 1996, S. 94. Vgl. - auf der Grundlage der (vermeintlichen) Namensidentität von Autor, Erzähler und Protagonist - Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M. 1994 (frz. Ausgabe 1975).

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relativ überraschungsarmen Geschichte verholfen hat. Daß man aus heutiger Sicht dennoch von einer Geschichte der ,anderen' Autobiographie sprechen kann - keiner Gegen-, sondern einer Geschichte des Aus- und Abweichens, der lateralen Attacken - , hat mit den nicht sehr zahlreichen Texten zu tun, die sich diesem Korsett durch das formale Experiment und dessen fast zwangsläufige Folgen: durch Selbstthematisierung und Selbstreferenzialisierung dann doch entwunden haben. Natürlich ist auch das eine Geschichte mit offenem Ausgang; was sich aber zweifelsfrei identifizieren läßt, ist der Text, der im deutschsprachigen Raum an ihrem Anfang und - nicht eben verwunderlich - an der Schnittstelle besagter Autorschaftsparadigmen steht: Jean Pauls Konjektural-Biographie, die mit ihrer digressiven Schreibweise nicht zufallig Montaignes Essais, mit dem Fragmentarismus ihrer sieben .poetischen Episteln' die Miniaturen von Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert ins Gedächtnis ruft,29 zum Schaden der Autobiographieforschung jedoch viel zu lange in ihrer Bedeutung unterschätzt worden ist.30 Denn es findet sich so leicht kein anderer (selbst-)kritisch verfahrender Text - vor allen Dingen nicht im unmittelbaren Einzugsbereich der Genieästhetik - , der sich mit vergleichbarer analytischer Präzision der beschriebenen Problematik stellt und über dieser Auseinandersetzung das Ansehen eines profunden theoretischen Beitrags gewinnt. Zur Plausibilisierung dieser These und der Behauptungen, die sie impliziert: daß Jean Pauls Konjektural-Biographie das Spiel durchschaut und die Zweckform Autobiographie einer gründlichen Desillusionierung unterzogen hat, noch bevor die einschlägigen Großprojekte des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen waren, erscheint es indessen unerläßlich, zunächst einen Blick auf den Werkzusammenhang zu werfen, aus dem das kleine Opus in den Wintermonaten 1798/99 als eine Art Gefälligkeitsarbeit hervorgegangen ist.31 Dieses Werk

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Auf den „Selbst-Lebensbeschieiber Montaigne" nimmt explizit nicht nur Pelz, der Erstbiograph von Fibels Leben (6,483; siehe Anm. 31), sondern mehrfach auch das Vita-Buch Bezug; im Hinblick auf Jean Pauls eigene Pläne, „Chapitres a la Montaigne" zu publizieren, heißt es dort zum Beispiel nach Auskunft von Helmut Pfotenhauer: „Mach' es aus lauter Digress[ionen]; setz' es aus Versuch[en] ä la Montaigne zusammen"; „Das Leben sei nach Montaigne; Versuch zu reden über alles und sich nur daneben" (Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. 125). - Zu Montaigne vgl. im übrigen Graevenitz, Gerhart von: Das Ich am Rande. Zur Topik der Selbstdarstellung bei Dürer, Montaigne und Goethe. Konstanz 1989; zu Benjamin das Schlußkapitel in Berndt, Frauke: Anamnesis. Studien zur Topik der Einnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz - Keller - Raabe). Tübingen 1999, S. 413ff. („Zur Topik der Erinnerung ,um neunzehnhundert': Walter Benjamins .Berliner Kindheit'"). Selbst bei Müller [Anm. 4] bleibt sie ausgespart. Erwähnt wird lediglich Jean Pauls Selbstlebensbeschreibung im Sinne eines summarischen Hinweises auf die humoristische Kontrafaktur von Goethes Dichtung und Wahrheit. Zur Entstehungsgeschichte der Konjektural-Biographie die Anmerkungen in Jean Paul: Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Darmstadt 1967 (Bd.2: 1971); Abtl.II: Jugendwerke und vermischte Schriften. Hrsg. von Norbert Miller und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd.4. Darmstadt 1974ff., S. 1212f. - Im folgenden werden Jean Pauls Texte unter Angabe von

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zeichnet sich nämlich durch eine Besonderheit aus, die fur die Konstitutionslogik seiner Texte von denkbar größtem Gewicht ist. So gibt es seit der Unsichtbaren Loge und dem Hesperus bekanntermaßen nicht nur einen Jean Paul, sondern deren zwei, neben Jean Paul, dem Autor — oder besser gesagt: dem label der Autorschaft, das für den Schriftsteller Johann Paul Friedrich Richter die Rolle eines Pseudonyms übernimmt32 - , den Historien- und Lebensbeschreiber gleichen (nicht desselben!) Namens, dessen Tätigkeit im wesentlichen darin besteht, Papiere mehr oder weniger geheimnisvoller Herkunft zu empfangen und auf dem Wege des Sichtens, Kopierens und Panaschierens zu einer lesbaren ,Geschichte' zu arrangieren.33 Ohne Frage ist die Erfindung dieser Figur, auf die der Jean Paul-Leser allerorts zu treffen pflegt, und sei es bloß in diversen Zwischenkapiteln oder Appendices, ebenfalls dem genieästhetischen Unverwechselbarkeitsdogma geschuldet und eine Möglichkeit, der Herausforderung produktiv zu begegnen, kalkuliert diese Namensgleichheit doch unübersehbar mit dem Identitätseffekt, mit dem die Autobiographie kalkuliert. Durch ,Jean Paul' erhält Jean Paul ein Gesicht, ja mehr noch: Der Autorname bekommt, was man einen Sitz im Leben nennt. Und dieser Schleichhandel - er beginnt, wundersame Wirkungen zu entfalten, wenn Johann (Hans) Paul Friedrich Richter, „nur 1/4 [s]eines Namens" übersetzend,34 auch im ,realen' Leben als Jean Paul posiert - was er vom 9. Mai 1792 an tatsächlich und in alle Zukunft tut35 - oder sich umgekehrt ,Jean Paul' als „Büchermacher und Biograph in H o f präsentiert (4,347f.; vgl.2,29) und, als sei das nichts Ungewöhnliches, einem Vorredner das Wort überläßt, der einmal mit, einmal ohne akademischen Titel, aber jederzeit flexibel als ,Jean Paul Fr. [bzw. Friedr./Friedrich] Richter' unterzeichnet (vgl.1,13; 2,14 u. 29). Die Spuren dieser Vexationen sind bis in die jüngste Forschungsliteratur hinein zu verfolgen, die sich schon hinsichtlich ihrer Formulierungen schwertut, das Knäuel zu entwirren. Am eindrucksvollsten zeigen sich die Blockaden dort, wo als „integrierendes, produzierendes ,Zentrum aller Texte'" ein „Generalautor Jean Paul" ausgerufen und für das „Rollenspiel der Autor-Instanz" wie für die „Selbst[!]imagination" eines nicht näher definierten „Jean Pauls" haftbar gemacht wird. Denn wer da wen imaginiert und was in die-

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Band- und Seitenzahl (die Bände der E. Abteilung mit dem Zusatzzeichen Π) nach dieser Ausgabe zitiert. Zum Begriff des labels im Rahmen der Autorschaftsdebatte vgl. den Vorschlag von Niefanger, Dirk: „Der Autor und sein ,Label'. Überlegungen zur .fonction classificatoire' Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)." In: Autorschaft [Anm. 8], hrsg. von Heinrich Detering, Walter Erhart, Christine Lubkoll und Ernst Osterkamp. Stuttgart 2002, S. 521-539. Vgl. Wilke, Christian-Hartwig: „Der Romanautor Jean Paul Friedrich Richter und sein .Biograf Jean Paul." In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft (JdJPG) 5 (1970), S. 85-104; Erb, Andreas: Schreib-Arbeit. Jean Pauls Erzählen als Inszenierung .freier' Autorschaft. Wiesbaden 1996, S. 38ff. („Die Erzählkonzeption des Hesperus"). Jean Paul: Ideen-Gewimmel. Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß. Hrsg. von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel. München 2000, S. 86 [454]. Vgl. Jean Paul-Chronik. Daten zu Leben und Werk, zusammengestellt von Uwe Schweikert, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Gabriele Schweikert. München 1975, S. 31.

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sem Zuschreibungslabyrinth „als pragmatisches Ich Jean Paul in Erscheinung treten" soll - der Sachbezug solcher Fragen wird durch derartige kategoriale Verunklärungen erst recht zum Rätsel.36 Dabei liegt die Lösung auf der Hand, sobald man den operativen Gewinn dieser sich gleichsam bilateral fortpflanzenden Substitutionen ins Auge faßt. Im Gegensatz zu einer Autorschaft, die sich auf den realen Namen des Verfassers stützte, hat im Falle Johann Paul Friedrich Richters eine Autorschaft Jean Paul keine Mühe, den Verfassernamen so ins Spiel zu bringen, daß sich zum Identitätseffekt wie von ungefähr ein Realitätseffekt gesellt und dennoch nichts geschieht, was sich poetisch nicht verantworten ließe. Der Erzähllogik nach ist diese Implantation ein wohlerwogener Fiktionalisierungsakt, der den Namenszug ,Jean Paul Fr(iedrich) Richter' - im bürgerlichen Leben ohnehin so gut wie funktionslos geworden - zum Ana- oder Kryptogramm und alter ego nicht von Jean Paul, sondern, so enttäuschend das im Wortsinne sein mag, von ,Jean Paul' macht. Zur Bestätigung genügt, um ein Beispiel unter vielen herauszugreifen, ein Blick in die Vorrede zur ersten Auflage des Siebenkäs. Alles scheint darin ordnungsgemäß vonstatten zu gehen: Es signiert, in Geberlaune fast vollständig, „Jean Paul Friedr. Richter", Ort und Datum sind durch „//