Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300-1000) 9783110345780, 9783110349436

The social transformation of the Roman world is a highly topical and much-discussed subject among historians. The import

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Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300-1000)
 9783110345780, 9783110349436

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Zur Einführung: Verwandtschaft als Ressource sozialer Integration im frühen Mittelalter
Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den ‚germanischen‘ gentes: Traditionen – Innovationen – Differenzen
Flavios Hypatios: der Mann, der Kaiser sein wollte
Familie und Verwandtschaft in der weströmischen Aristokratie der Spätantike (4. und 5. Jahrhundert n.Chr.)
Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit: eine sich durch Verwandtschaft reproduzierende Elite?
Wergeld und soziale Netzwerke im Frankenreich
Groß- und Kleinfamilien im frühmittelalterlichen Bayern
Wer waren die Agilolnger?
Zur Familie im 7. Jahrhundert im Spannungsfeld von verfassungsgeschichtlicher Konstruktion und kentischen Quellen
Personal names, identity and family in Benedictine Reform England
Verwandte, Freunde und Verschwägerte – „ottonische Neuanfänge“?
Per omnia patris ingressus vestigia, nomine, moribus et vita – Parenté, homonymie et ressemblance dans les sources narratives ottoniennes vers l’an mille
„Verwandtschaft“ um 1000: ein solidarisches Netzwerk?
Conclusion: The future of medieval kinship studies

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Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000)

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Heinrich Beck · Sebastian Brather · Dieter Geuenich Wilhelm Heizmann · Steffen Patzold · Heiko Steuer

Band 90

Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000) Herausgegeben von Steffen Patzold · Karl Ubl

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ISSN 1866-7678 ISBN 978-3-11-034578-0 e-ISBN 978-3-11-034943-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar © 2014 Walter de Gruyter GmbH, 10785 Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ? Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis fi VII Karl Ubl Zur Einführung: Verwandtschaft als Ressource sozialer Integration im frühen Mittelalter fi 1 Wolfgang Haubrichs Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den ‚germanischen‘ gentes: Traditionen – Innovationen – Differenzen fi 29 Mischa Meier Flavios Hypatios: der Mann, der Kaiser sein wollte fi 73 Hartwin Brandt Familie und Verwandtschaft in der weströmischen Aristokratie der Spätantike (4. und 5. Jahrhundert n. Chr.) fi 97 Conrad Walter und Steffen Patzold Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit: eine sich durch Verwandtschaft reproduzierende Elite? fi 109 Stefan Esders Wergeld und soziale Netzwerke im Frankenreich fi 141 Thomas Kohl Groß- und Kleinfamilien im frühmittelalterlichen Bayern fi 161 Roman Deutinger Wer waren die Agilolfinger? fi 177 Daniela Fruscione Zur Familie im 7. Jahrhundert im Spannungsfeld von verfassungsgeschichtlicher Konstruktion und kentischen Quellen fi 195 Catherine Cubitt Personal names, identity and family in Benedictine Reform England fi 223 Gerhard Lubich Verwandte, Freunde und Verschwägerte – „ottonische Neuanfänge“? fi 243

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Inhaltsverzeichnis

Laurence Leleu Per omnia patris ingressus vestigia, nomine, moribus et vita – Parenté, homonymie et ressemblance dans les sources narratives ottoniennes vers l’an mille fi 263 Hans-Werner Goetz „Verwandtschaft“ um 1000: ein solidarisches Netzwerk? fi 289 Constance B. Bouchard Conclusion: The future of medieval kinship studies fi 303

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Abkürzungsverzeichnis ae. afrk. afries. ags. ahd. an. as. burg. f. gallorom. Gem. germ. got. griech. idg. ital. Jh. kop.

altenglisch altfränkisch altfriesisch angelsächsisch althochdeutsch altnordisch altsächsisch burgundisch femininum galloromanisch Gemeinde germanisch gotisch griechisch indogermanisch italienisch Jahrhundert in Kopie

lat. lett. lgb. lit. Lkr. m. mhd. mndl. or. ostgerm. pl. PN rom. russ. vlat. westgerm. Z.

lateinisch lettisch langobardisch litauisch Landkreis maskulinum mittelhochdeutsch mittelniederländisch im Original ostgermanisch Plural Personenname romanisch russisch vulgärlateinisch westgermanisch Zeile

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Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung

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Zur Einführung: Verwandtschaft als Ressource sozialer Integration im frühen Mittelalter Verwandtschaft erfüllt in der Geschichtsschreibung zum frühen Mittelalter oft die Funktion eines Passepartouts. In einer Zeit, in der Quellen zu den Hintergründen von Ereignissen dünn gesät sind, dient der Hinweis auf Verwandtschaft oft zur Erklärung von politischen Konstellationen. Diesem Erklärungsmuster liegt die Intuition zugrunde, dass Verwandtschaft dann als universaler Faktor der sozialen Integration fungiert, wenn staatliche Strukturen, ein unabhängiges Rechtssystem und ein funktionierender Marktmechanismus entweder vollständig außer Kraft gesetzt oder zumindest auf ein Minimum sozialer Relevanz reduziert sind. Diese Bedingungen scheint das frühe Mittelalter zu erfüllen. Es ist allgemeiner Konsens der Forschung, dass die Komplexität gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen im Übergang von der Antike zum Frühmittelalter abnahm, wenn auch über die regionale Wirkung und die Schnelligkeit des historischen Wandels weiterhin heftig debattiert wird.1 Folglich ist es weit verbreitet, dem frühen Mittelalter eine prinzipielle Überordnung von verwandtschaftlicher Solidarität über die Interessen von Individuen zu unterstellen. Diese These ist meist eng mit entwicklungsgeschichtlichen Modellen verbunden: Entweder es wird dem frühmittelalterlichen Kollektivismus die spätere Entdeckung des Individuums gegenübergestellt; oder es wird die offene, kognatische Struktur der Sippe mit dem agnatisch geordneten und lokal verankerten Adelsgeschlecht der späteren Zeit konfrontiert; oder es wird eine sukzessive Unterwerfung der Verwandtschaft unter herrschaftliche Zwänge postuliert. Die Kritik an solchen entwicklungsgeschichtlichen Modellen ist fast so alt wie diese Modelle selbst. Bereits der Gründungsvater der englischen Rechtsgeschichte Frederic William Maitland widersprach mit Blick auf die angelsächsischen Quellen vehement der These eines germanischen Kollektivismus.2 In der neueren Forschung wird, wie weiter unten zu zeigen sein wird, sowohl an der Konstruktion als auch an der Destruktion solcher Entwicklungsmodelle weitergearbeitet. Die Tagung, deren Beiträge hier abgedruckt werden, griff diese Debatten auf und nahm insbesondere das Beziehungsgeflecht zwischen politischer Herrschaft und der Formation von Verwandtschaft in den Blick, um auf dieser Basis nach den Implikationen für die sprachwissenschaftliche und historische Beschäftigung mit Personennamen zu fragen. Dies bedeutete weitgehend eine Verengung des Fokus auf die Geschichte des Adels bzw.

1 Darüber geben die Bände der Reihe „Transformation of the Roman World“ Aufschluss sowie aus deutscher Perspektive Kölzer/Schieffer (2009). Unübertroffen ist die sozialgeschichtliche Synthese von Wickham (2005). 2 Maitland/Pollock (1898), S. 240–245. Zur Aktualität Maitlands vgl. Murray (1983), S. 27; White (1996).

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der politisch bestimmenden Elite. Als Referenzrahmen diente nicht das „germanische Altertum“, sondern die römische Spätantike:3 Damit wurde der Schwerpunkt bewusst nicht auf die Formulierung eines Entwicklungsmodells gelegt, sondern auf die Pluralität von Verwandtschaft sowie auf die unterschiedlichen Folgen der Transformation der römischen Welt. Die Idee zu dieser Tagung war aus dem Forschungsverbund „Nomen et Gens“ erwachsen, der sich zum Ziel gesetzt hat, eine Prosopographie der kontinentaleuropäischen gentes vom 4. bis zum 8. Jahrhundert zu erarbeiten.4 Dass im Rahmen eines solchen Forschungsprojekts Fragen der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit und der namenkundlichen Identifizierung immer wieder thematisiert werden, versteht sich von selbst. In der Einleitung zum Tagungsband soll in einem ersten Abschnitt die Frage nach dem Verhältnis von Verwandtschaft und sozialer Ordnung forschungsgeschichtlich verortet werden. Ein Verständnis der Debatten in der deutschen Mediävistik wird erleichtert, wenn man sich Rechenschaft darüber abgibt, welches Vorverständnis vom frühen Mittelalter dabei auf dem Spiel steht. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts vollzog sich die Diskussion in Deutschland vorwiegend fachintern, wie noch an dem Schlüsselwerk von Gerd Althoff über Verwandte, Freunde und Getreue5 zu ersehen ist. Erst mit einer gewissen Verspätung wurden die Fragestellungen und konzeptionellen Verschiebungen in der ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung für die Historiographie des frühen Mittelalters fruchtbar gemacht. Im zweiten Abschnitt soll daher nach den Konsequenzen und Ergebnissen gefragt werden, welche diese Rezeption nach sich gezogen hat.

1 Verwandtschaft in der deutschen Mittelalterforschung Die Ansicht, Verwandtschaft sei das primäre Mittel der Überwindung von Gewalt und der Herstellung sozialer Ordnung, war der historischen Erforschung früher Gesellschaften von Anfang an in die Wiege gelegt.6 Die Juristen Henry Sumner Maine und Lewis Henry Morgan betrachteten in ihren ethnologischen Pionierstudien Verwandtschaft als die einzige Bindungsform, die bei der Abwesenheit staatlicher Strukturen Zusammenhalt garantieren kann. Die deutsche Geschichtsschreibung zum frühen Mittelalter, an der sich ebenfalls Juristen und Rechtshistoriker maßgeblich beteiligten, vollzog sich während des 19. Jahrhunderts im regen Austausch mit diesen For-

3 Ein Vortrag zur Verwandtschaft im frühen byzantinischen Reich ist kurzfristig ausgefallen. 4 Geuenich/Haubrichs/Jarnut (1997); Jarnut (1999); Geuenich/Runde (2006); Siehe auch die Webseite www.neg.uni-tuebingen.de (19. Mai 2012). 5 Althoff (1990). 6 Kuper (2005), S. 3f.

Zur Einführung

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schungen. Sie ging jedoch von der Prämisse aus, dass der Zustand einer allein auf Verwandtschaft beruhenden Sozialordnung bereits in germanischer Frühzeit überwunden worden war. Es wurde nicht die Priorität von Verwandtschaft und die Absenz von Staat, sondern der durchgehend staatliche Charakter der Germanenreiche vorausgesetzt. Klassischen Ausdruck fand diese Prämisse in der epochalen Verfassungsgeschichte von Georg Waitz. Als führender Repräsentant der bürgerlich-liberalen Geschichtsschreibung zweifelte Waitz nicht am staatlichen Charakter der politischen Organisation im frühen Mittelalter. Angelpunkt seiner Theorie war die „Überzeugung von der Freiheit der germanischen Völker.“7 Freiheit war ihm zufolge in einer Verfassung verankert, die auf der Selbstregierung der Gemeinden und der Wahl von Fürsten und Königen beruhte. Waitz geht zwar auch von einem entwicklungsgeschichtlichen Modell aus, nach dem die staatliche Organisation aus der Familie hervorgeht.8 Er war allerdings der Meinung, dass die Gemeinden und damit eine rudimentäre staatliche Organisation bereits etabliert waren, als die ersten Quellen über die germanische Frühgeschichte berichten. Er folgert daraus: „Alle Verhältnisse des deutschen Lebens beruhen auf den zwei Grundlagen, der Familie und der Gemeinde. Wir fragen nicht wie diese geworden ist, die Geschichte beginnt erst da sie besteht. Nun führen die privatrechtlichen Verhältnisse auf jene zurück, aus dem Wesen der Gemeinde gehen alle Zustände des öffentlichen Lebens und Rechtes hervor; beide stehen aber nicht gesondert neben einander, sondern sind auf das engste verbunden, greifen auf das lebendigste in einander ein.“9 Wie dieses Zitat deutlich macht, berührte die Familie also nach Waitz vorwiegend den privaten Bereich. Waitz nennt die Erbschaft und die Vormundschaft als Bereiche, in denen die Familie uneingeschränkt das Sagen gehabt habe. Die Familie betrachtet er nicht als eine Form von Abstammungsgemeinschaft oder Verwandtschaftsverband, sondern als eine Spiegelung der modernen Kleinfamilie, die von rein privatrechtlichem Charakter gewesen sei. Darüber hinaus vermerkt Waitz eine Besonderheit der germanischen Völker, da die Familie auch eine Rolle bei Gericht übernommen habe. Bei der Zahlung des Wergelds, bei der Stellung von Eidhelfern und bei der Bürgschaft vor Gericht griff die frühe deutsche Gerichtsverfassung nach Waitz auf die Familie als Institution zurück. Waitz räumt also der Verwandtschaft durchaus eine große Bedeutung für die germanische Frühzeit ein. Dennoch besteht ihm zufolge kein Zweifel an dem Primat der staatlichen Organisation seit Tacitus. Der Staat wiederum habe nicht auf den Fami-

7 Böckenförde (1961), S. 102. 8 Waitz (1844), S. 216: „Die Familienbande wurden gelöst. Je grösser die Gemeinden wurden, je mehr das politische Bewusstsein der Zusammengehörigkeit in weiteren Kreisen sich geltend machte, desto mehr gingen die Mitglieder der einzelnen Familien auseinander, die Angehörigen trennten sich und das Prinzip der Nachbarschaft verdrängte das der Verwandtschaft; der Staat und seine Gliederungen traten ganz an die Stelle der natürlicheren Verbindungen“. 9 Waitz (1844), S. 223.

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lien beruht, sondern auf den bereits fest organisierten Gemeinden, die sowohl in der Heeres- als auch in der Gerichtsverfassung und der Siedlungsorganisation die Entscheidungen getragen hätten. Da er die Gemeinde als genossenschaftlich organisierte Einrichtung betrachtet, trug auch der Staat in den Augen von Waitz einen primär genossenschaftlichen Charakter. Die Familie habe in diesem Rahmen nur eine untergeordnete Stellung gehabt und den Erfordernissen des öffentlichen Rechts weichen müssen: „Der Begriff der Ordnung und des Rechts muss hier stärker gewesen sein als das Band der Familie.“10 In seinem Werk von 1844 spricht Waitz noch ausschließlich von „Familie“ und „Verwandtschaft“. In den Jahrzehnten danach fand durch eine intensive germanistische und rechtshistorische Forschung ein fundamentaler Wandel in der Terminologie statt. Historiker orientierten sich an den wieder belebten Begriffen von „Sippe“ und „Magschaft“.11 Im Mittelpunkt des Gelehrtenstreits stand die Frage nach der ursprünglichen Verwandtschaftsgliederung der Germanen sowie die Debatte um das sogenannte „Mutterrecht“.12 Ein monumentaler Beitrag von stupender Gelehrsamkeit sind die in sechs Bänden publizierten Untersuchungen zur Erbenfolge13 von Julius Ficker. Der in Innsbruck tätige Historiker stellte sich dabei die heroische Aufgabe, alle Praktiken der Vererbung im mittelalterlichen Europa nach der stemmatischen Methode auf eine urgermanische Form zurückzuführen. Ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge zog Ficker spanische, deutsche, skandinavische, isländische, fränkische und viele weitere Rechtsquellen heran, um systematisch die Zusammenhänge und Einflüsse der Rechtsbereiche zu untersuchen. Eine Rezeption seines Werkes fand allerdings kaum statt, da sich Ficker für die falsche Seite entschieden hatte: Er sah das Mutterrecht sowie die Ordnung nach Vetternschaften als ursprünglich germanisches Recht an und stieß damit auf breite Ablehnung. Heinrich Brunner konnte Fickers Unterfangen nicht viel abgewinnen,14 aber die Bedeutung von Verwandtschaft bestritt er nicht mehr im selben Ausmaß wie noch Georg Waitz. In seinem Standardwerk zur Deutschen Rechtsgeschichte bekannte er sich unmissverständlich zur Dominanz der verwandtschaftlichen Ordnung in der Frühzeit der Germanen: Die gesellschaftliche und die rechtliche Stellung des einzelnen Volksgenossen hatte in germanischer Zeit ihre Wurzeln in dem Kreis der Blutsverwandten, insbesondere in dem Geschlechtsverband, dem er durch seine Geburt angehörte. Die Bedeutung der Blutsverwandtschaft griff so tief

10 Waitz (1844), S. 209f. 11 Zur Kritik und Historiographie vgl. Genzmer (1950); Kroeschell (1960); Murray (1983), S. 11–31; Graus (1986); von See (2007). 12 Ausgelöst insbesondere durch Bachofen (1861). Zur Debatte in der Rechtsgeschichte vgl. Wesel (1980); Kuper (2005), S. 54. 13 Ficker (1891–1904). 14 Brunner (1900).

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in das Volks- und Rechtsleben ein, dass der verwandtenlose Mann tatsächlich sich wenig vom rechtlosen unterschieden haben mag.15

Anders als Waitz beschränkte Brunner die Funktion der „Sippe“ nicht auf den Bereich des Privatrechts. Er sah in ihr vielmehr das Rückgrat der Siedlungsgemeinschaft, der Heeresorganisation und der Gerichtsverfassung. Gegen Ficker argumentierte Brunner für eine agnatische Struktur der Sippe, die aus den Patriarchen der Hausgemeinschaften bestanden habe und in der Form einer Parentelenordnung16 organisiert gewesen sei. Nur durch die Verwendung des Begriffs „Volksgenossen“ lässt Brunner erahnen, dass auch für ihn diese verwandtschaftliche Ordnung von einer staatlichen Ordnung eingerahmt wurde. Dieser gebührt seiner Meinung nach der Vorrang: „Die Landesgemeinde ist der eigentliche Lebensnerv der germanischen Verfassung.“17 An der grundsätzlich eingeschränkten Bedeutung von Verwandtschaft wurde also auch dann nicht gerüttelt, als die rechtsgeschichtliche Forschung mit immer massiverer Gelehrsamkeit die Bedeutung der „Sippe“ hervorhob. Der Grund dafür war die Orientierung an den staatsrechtlichen Begriffen der Gegenwart. Die Abkehr vom Primat des Staates vollzog sich in der deutschen Mittelalterforschung erst nach dem Ersten Weltkrieg.18 Eine Pionierarbeit in diese Richtung waren die adelsgeschichtlichen Forschungen Otto von Dungerns. Sie mündeten in sein vielzitiertes Buch über Adelsherrschaft im Mittelalter,19 in dem er die These von der Kontinuität des Adels zwischen frühem und hohem Mittelalter aufstellte: Bis zu Kaiser Heinrich VI. sind in Deutschland durch einen kleinen Kreis von adeligen Familien […] alle Hoheitsrechte verwaltet worden. Die Familien dieses Adelskreises, der vom Niedergang der Karolinger bis Ende des 12. Jahrhunderts bei uns über alle öffentliche Gewalt kraft eigenen angeborenen Rechts gebot, waren untereinander verwandtschaftlich verbunden. Sie bildeten eine Blutsgemeinschaft. […] Der Blutsverband, den sie bildeten, war die natürliche Grundlage einer gleichen öffentlichen Vorzugsstellung.20

An einigen Stellen seines Buches suggerierte von Dungern sogar eine noch tiefer wurzelnde Kontinuität dieser Adelsschicht, da er „Karls des Großen vereinheitlichende Verfassung“ nur als einen „wohlgebildeten, aber römisch zugeschnittenen Mantel“ betrachtete, „den das deutsche Volk abgestreift hat, als die Karolinger die Macht verloren, um wieder auf alte eigene Einrichtungen zurückzugreifen.“21

15 Brunner (1906), S. 111. 16 Als Parentelenordnung bezeichnete man eine Reihung in der Erbfolge, nach der die Nähe zu einem gemeinsamen Stammvater ausschlaggebend ist. 17 Brunner (1906), S. 178. 18 Oexle (2002); Oexle (2005). Zu einer weiteren Figur dieser Debatte vgl. Esders (2009). 19 Dungern (1972). 20 Dungern (1972), S. 3. 21 Dungern (1972), S. 7.

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Dungerns Buch war in erster Linie eine Abrechnung mit der rechtsgeschichtlichen Forschung, insbesondere mit der Vorstellung der ursprünglichen germanischen Freiheit und des staatlichen Charakters des Königtums. Darüber hinaus gab er die Anleitung für ein Forschungsprogramm. Er lehnte die auf Normen und Institutionen fixierte ältere Geschichtsschreibung ab und plädierte für eine Rekonstruktion des Adels anhand von Zeugenlisten und anderem urkundlichen Material. Damit trug er wesentlich zur Herausbildung der genealogisch-besitzgeschichtlichen Methode bei, welche die Regeln der Namensgebung mit einer Analyse der Weitergabe von Grundbesitz kombinierte, um die Kontinuität der Adelsherrschaft unter Beweis zu stellen. In der zu dieser Zeit aufkommenden Landesgeschichte wurde diese Methode zur Vollendung gebracht.22 Josef Sturms Arbeit über „das Haus Preysing“23 markierte 1931 einen ersten Durchbruch. Es wäre aber falsch zu behaupten, dass der Struktur der Verwandtschaft durch das neue Paradigma der Adelsherrschaft automatisch mehr Beachtung geschenkt worden sei. Im Gegenteil, von den wichtigsten Protagonisten dieser sogenannten „Neuen Verfassungsgeschichte“ wurde weniger die horizontale als vielmehr die vertikale Ordnung der Gesellschaft in das Zentrum gestellt. Beispielhaft sei kurz auf das Werk von Walter Schlesinger verwiesen. Mit seinem Buch über die Entstehung der Landesherrschaft24 festigte er gemeinsam mit Otto Brunner die endgültige Abkehr von der bürgerlich-liberalen Geschichtsauffassung des 19. Jahrhunderts. In seinem programmatischen Aufsatz über „Herrschaft und Gefolgschaft“25 lässt er kein Interesse an Verwandtschaft erkennen. Er ordnet die Sippe den genossenschaftlichen Organisationsformen zu und vergleicht sie mit dem Kultverband und der Gemeinde. Den Aufbau von Herrschaft situiert Schlesinger dagegen auf einer anderen Ebene, da die Unterordnung von Freien unter Freie seiner Meinung nach nur durch eine vertikale Beziehung hervorgebracht werden konnte. Dies leistete in den Augen Schlesingers die Gefolgschaft, die während der Völkerwanderung eine neue vertikale Ordnung der Gesellschaft bewirkt habe. „Das ganze Volk“ betrachtete er während des frühen Mittelalters als „gefolgschaftlich organisiert“, ja er postulierte sogar einen „stufenartigen Aufbau von Gefolgschaften“,26 der später zur Hierarchie des Lehnswesens umgebildet worden sei. In der Geschichtsauffassung Schlesingers war folglich Verwandtschaft für den Herrschaftsaufbau nicht von Bedeutung. Das Paradigma der Adelsherrschaft ver-

22 Werner (2005). 23 Sturm (1931). Marksteine in der Frühmittelalterforschung sind ferner Mitterauer (1963); Störmer (1972); Wenskus (1976); Werner (1982). 24 Schlesinger (1941a). Ausführlich zu seinem Werk Nagel (2005). 25 Schlesinger (1951). 26 Schlesinger (1951), S. 240. Herrschaft und nicht Verwandtschaft wurde hinsichtlich des frühen Mittelalters ebenfalls akzentuiert von Mayer (1939) und Dannenbauer (1941).

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bannte dieses Thema deutlich in die vorgeschichtliche Zeit der Germanen.27 Anders dachte darüber der „Antipode“28 Schlesingers, Gerd Tellenbach. Sein Buch über Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches29 war der Frage nach den Anfängen der deutschen Geschichte gewidmet und überraschte die Forschung durch eine ungewöhnliche These. Der Zusammenhalt des ostfränkischen Reiches, der sich über die Dynastiewechsel von 911 und 919 hinweg manifestiert habe, war nach Tellenbach ein Resultat der engen verwandtschaftlichen Bindung der karolingischen „Reichsaristokratie“. Einer nationalen Motivation der Entstehung Deutschlands war damit der Boden entzogen. Tellenbachs Begriffsbildung war eine durchgehende Erfolgsgeschichte, das Konzept der Reichsaristokratie ist heute aus der Forschung nicht wegzudenken.30 Tellenbach betonte zwar das herrschaftliche Moment bei der Formierung dieser im ganzen Frankenreich tätigen Adelsschicht, da er ihre Entstehung auf den politischen Willen Karls des Großen zurückführt. Die Beziehungen, die dabei entstanden, erwiesen sich jedoch ihm zufolge als dauerhafter ‚Kitt‘ des Frankenreichs in seiner späteren Geschichte: „Eine prosopographische Betrachtung der Karolingerzeit […] wird sich als unentbehrlich erweisen für die Aufhellung der Entstehungsgeschichte des neuen Europa.“31 Die horizontale Organisation des hohen Adels erhält damit eine Bedeutung für die politische Geschichte, die sonst dem Königtum oder der „Gefolgschaft“ zugeschrieben wurde. So sehr Tellenbachs These auch anfangs angefeindet wurde,32 trug sie dennoch bald Früchte. Bereits 1942 griff Theodor Mayer die Anregung auf und beantragte Gelder bei der Forschungsgemeinschaft zur Erstellung einer „Germanischen Prosopographie“.33 Eine Kooperation mit Tellenbach, wohl dem geistigen Vater des Projekts, war geplant.34 Nach dem Ende des Dritten Reichs, als die universitäre Laufbahn Mayers abrupt beendet wurde, verblieb das Projekt in den Händen Tellenbachs, der daraus während seiner Tätigkeit in Freiburg das erste mediävistische Großprojekt machte.35 Tellenbach war sich der Probleme der Namensidentifikation bewusst und formulierte seine Ziele bescheiden. Das Ziel einer Prosopographie des Frankenreichs hielt er im Jahr 1957 für nicht realisierbar.36 Großer Optimismus verband sich dagegen mit der Aufarbeitung des uferlosen Namensmaterials in den Gedenkbüchern, welches er erst-

27 Für die germanische Frühzeit hielt Schlesinger bekanntlich an der Sippenstruktur fest: Schlesinger (1963). 28 Vgl. hierzu Nagel (2007), S. 80. 29 Tellenbach (1939). 30 Hierin stimmen selbst so divergente Bücher überein wie Le Jan (1995), S. 404, und Bouchard (2001), S. 69. Vgl. auch Airlie (1995), S. 433; Airlie (2012); Koziol (2012), S. 129. 31 Tellenbach (1939), S. 69. 32 Vgl. Lintzel (1942) sowie Schlesinger (1941b). Hierzu auch Keller (2005). 33 Darüber berichtet Nagel (2005), S. 148. 34 Tellenbach (1957), S. 954. 35 Moraw (2005), S. 129. Vgl. auch Keller (2005), S. 392. 36 Tellenbach (1957), S. 954.

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mals für die historische Forschung nutzbar machen wollte. Tellenbach sah in ihnen Quellen, „in denen die Art des Verwandtschaftsbewußtseins in der vordynastischen Zeit unmittelbar sichtbar wird.“37 Die von Tellenbach in Freiburg angestoßene Forschung zog somit erstmals eine Konsequenz, die in der Hinwendung zum Paradigma der Adelsherrschaft angelegt war. Tellenbach teilte mit Schlesinger die Kritik an der auf den Staat fixierten Historiographie des 19. Jahrhunderts.38 Im Unterschied zu Schlesinger sprach sich Tellenbach aber dafür aus, den Personenverband selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn weder ein Monarch noch Amtsträger die Ordnung der Gesellschaft garantierten, sondern der Adel, dann musste die Frage nach den Mechanismen der Weitergabe von Herrschaft in den adeligen Familien an Bedeutung gewinnen. Tellenbachs Schüler und Mitarbeiter Karl Schmid griff diese Fragestellung auf und thematisierte die interne Organisation des Adels. In seinem Vortrag über „Programmatisches zur Erforschung der mittelalterlichen Personen und Personengruppen“39 legte er ein Frageraster vor, welches – ohne ethnologische Forschung zu zitieren – bereits an ähnliche Diskussionen in den Sozialwissenschaften erinnert. Schmids eigener Beitrag in dieser Debatte ist breit rezipiert worden.40 Sein ursprüngliches Anliegen war kritischer Natur.41 Er stellte die Versuche im Rahmen der genealogisch-besitzgeschichtlichen Methode in Frage, präzise definierte Geschlechter während des frühen Mittelalters zu identifizieren. Diese Versuche, so Schmid, müssten alleine daran scheitern, dass der Adel nicht in Gruppen organisiert gewesen sei, die sich als ein an einem Ort lokalisiertes und durch die Weitergabe in männlicher Verwandtschaft definiertes Geschlecht verstanden hätten. Erst im hohen Mittelalter sei ein Wandel vom kognatischen Verband zum agnatischen, über den Mannesstamm definierten Geschlecht eingetreten. Für die Zeit der Einnamigkeit im frühen Mittelalter postulierte Schmid dagegen eine „weit in die Breite gehende Verwandtschaft“, die sich nicht durch Geschichte, sondern durch Gemeinschaft definiert habe. Das ge-

37 Tellenbach (1965), S. 877. 38 „Es ist immer deutlicher herausgearbeitet worden, wie das frühere Mittelalter sich in seiner Staatlichkeit fundamental von späteren Epochen unterscheidet und, arm an Institutionen, seine Ordnungen auf Beziehungen von Personen beruhen.“ Tellenbach (1957), S. 948. 39 Schmid (1974). 40 Einflussreich war die Akzeptanz durch Duby, der Schmids These über adeliges Selbstverständnis allerdings auf die Praktiken des Adels erweiterte und in seine Theorie des Wandels um 1000 einbaute: Duby (1961); Duby (1972), S. 812. Während Dubys Modell in die Kritik geraten ist, behauptete sich – trotz vereinzelter Nuancierungen – Schmids These eines allmählichen Wandels des adeligen Selbstverständnisses. Vgl. Leyser (1968); Freed (1986), S. 560–564; Oexle (1994); Geary (1994), S. 48–51; Mertens/Zotz (1998); Le Jan (1995), S. 423–426; Le Jan (2004); Stafford (1998); Aurell (2000); Bouchard (2007), S. 68–72; Bouchard (2007); Wareham (2001); Hummer (2005), S. 254–258; Zotz (2007); Mazel (2007); Lubich (2008), S. 138–146 und 220–222; Livingstone (2010), S. 234. Einen ausführlichen Überblick verschafft Hechberger (2005), S. 303–328. 41 Schmid (1957), S. 183–244.

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meinschaftliche Handeln dieser Gruppe habe sich in der Gedenkpraxis niedergeschlagen. In den Einträgen der Gedenkbücher spiegeln sich nämlich nach Schmid „die locker gefügten Sippengemeinschaften“ „rein und unverfälscht“ wider. „Die Struktur dieser Gesellschaftsschicht wird in ihrem natürlichen Dasein sichtbar […]“.42 Schmid folgert daraus: „Die Familie und der Verwandtenkreis bilden die Pfeiler des sozialen Lebens.“43 Wie jedoch diese horizontale Sicht der Gesellschaft mit der vertikalen Auffassung Schlesingers in Verbindung gebracht werden könnte, beschäftigte weder Tellenbach noch Schmid. Erst das diese Forschungen zusammenfassende Buch von Schmids Schüler Gerd Althoff über Verwandte, Freunde und Getreue brachte die lang erwartete Synthese. Althoff trieb die staatskritische Einstellung der deutschen Historiographie auf die Spitze. „Das Fehlen staatlicher Strukturen“ wird rundweg für das ganze Mittelalter diagnostiziert.44 Selbst die herrschaftliche Bindung lässt Althoff nur als eine radikal personalisierte Zweierbeziehung, eben als Gefolgschaft, gelten. Königreiche sind somit bloß eine „Summe vieler solcher Zweierbeziehungen zwischen Herrn und Mann.“45 Man würde vor dem Hintergrund dieser reduktionistischen Sicht auf Staatlichkeit und Herrschaft erwarten, dass die Verwandtschaft deutlich aufgewertet wird. Dies ist zum Teil auch richtig. Althoff spricht von Verwandten als „Kernzellen der politischen Willensbildung“46 und bescheinigt der Verwandtschaft eine hohe Bindungskraft: „Verwandtschaftsgruppen hielten wie Pech und Schwefel zusammen.“47 Nicht zufällig setzt das Buch mit den Verwandten ein und befasst sich hierauf mit Freunden und Getreuen. Trotz dieser Lippenbekenntnisse bezeugt Althoffs Buch allerdings eine Abkehr von der Fixierung auf Verwandtschaft als primären Modus der Gruppenbildung, und dies in dreierlei Hinsicht. Erstens lenkte er selbst in seinem Buch über Amicitiae und Pacta48 die Aufmerksamkeit auf Freundschaftsbündnisse als eine andere Form der genossenschaftlich strukturierten Personengruppen. Diesen Bündnissen – und nicht mehr der verwandtschaftlich organisierten Reichsaristokratie – schreibt er das Verdienst zu, die Kontinuität zwischen dem ostfränkischen Reich und dem entstehenden Deutschland gewährleistet zu haben. Zweitens greift Althoff in seinem Buch die Ergebnisse von Otto Gerhard Oexle auf, der die Rolle von kontraktuellen Bindungen wie Gilden und Coniurationes als alternative Formen der Vergesellschaftung zur Geltung

42 Schmid (1957), S. 202. Vgl. auch Schmid (1959), S. 253. 43 Schmid (1957), S. 230. 44 Althoff (1990), S. 2. 45 Althoff (1990), S. 213. Deutliche Kritik an dieser Position übte in ihrer Besprechung der englischen Übersetzung Reynolds (2005). Ihre eigene Position legte sie dar in Reynolds (1997). Zur aktuellen Debatte vgl. Pohl (2006); Pohl/Wieser (2009); Esders (2009a). 46 Althoff (1990), S. 81. 47 Althoff (1990), S. 32. 48 Althoff (1992). Vgl. auch Epp (1999). Grundsätzlich dazu Rexroth/Schmidt (2007).

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gebracht hat.49 Dieses Thema bringt ein weiteres Mal die horizontale Organisation der Gesellschaft zum Vorschein. Drittens markiert das letzte Kapitel von Althoffs Buch bereits eine Wendung hin zu Spielregeln und Ritualen als Mechanismen der Stiftung von Ordnung. Beiden Themen widmete Althoff später wegweisende Monographien.50 Das Buch über Verwandte, Freunde und Getreue steht somit an einer Wasserscheide. Zum einen resümiert es die Forschungen der sogenannten „Freiburger Schule“. Die Schmid-These über den Wandel von der kognatischen Sippe zum agnatischen Geschlecht wird beherzt verteidigt. Zum anderen relativiert Althoff die Rolle von Verwandtschaft, indem er andere Mechanismen der Herstellung von Ordnung in den Mittelpunkt stellt, die sich zwar an dem Modell der Verwandtschaft orientieren, aber unabhängig von familiärer Zugehörigkeit Verpflichtung generieren. Ausdrücklich warnt er daher vor einer Überwertung der „Sippe“.51 Wenn man Althoffs Buch ebenso als Schlusspunkt einer Forschungstradition betrachten will wie Brunners Deutsche Rechtsgeschichte, überrascht aber vor allem ein Befund: Die normativen Quellen, auf die Brunner in erster Linie seine Sicht des frühen Mittelalters gründete, werden von Althoff gänzlich außer Acht gelassen. Eine Zusammenführung alter und neuer Forschung findet nicht statt. Vielmehr verlässt Althoff nicht die Grundannahmen der „Neuen Verfassungsgeschichte“, die sich durch die Abwendung von den normativen Quellen konstituiert hatte. Wie Schlesinger ordnet er das frühe Mittelalter in einen germanischen Traditionszusammenhang ein, den er mit Tacitus beginnen lässt, und reduziert jede öffentliche Ordnung auf die Gefolgschaft. Römische Kontinuität wird für das frühe Mittelalter ganz ausgeblendet.

2 Der Einfluss der Sozialwissenschaften Seit dem Buch Althoffs hat sich die Erforschung von Verwandtschaft grundlegend gewandelt. Mit einer gewissen Verspätung öffnete sich die deutsche Historiographie den Fragestellungen, die in den Sozialwissenschaften diskutiert wurden und die bereits früher in der französischen und angelsächsischen Mediävistik Eingang gefunden hatten.52 Oexle hat dies als Erneuerung der „historischen Kulturwissenschaft“53 etikettiert. Als Vorreiter ist Michael Mitterauer zu nennen, der als erster deutscher Mediävist umfassend zu Goodys Thesen über „die Entwicklung von Ehe und Familie“54

49 Oexle (1981); Oexle (1985). 50 Althoff (1997); Althoff (2003). Gegen die These von der ordnungsstiftenden Kraft der Rituale wandte sich Buc (2001). Zur Diskussion vgl. zuletzt Vollrath (2007); Pössel (2009). 51 Althoff (1990), S. 212. Vgl. dagegen die Aussage bei oben Anm. 47. 52 Die Diskrepanz wird thematisiert in Guerreau-Jalabert/Le Jan/Morsel (2002); Jussen (2002). 53 Für diesen Begriff plädierte insbesondere Oexle (1996). 54 Goody (1983).

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Stellung nahm.55 Er ließ sich durch Goody zu interkulturellen Vergleichen sowohl innerhalb Europas als auch in Bezug auf außereuropäische Kulturen inspirieren und kombinierte diesen Ansatz mit einem starken Interesse für Namensgebung, das auf seine frühe Arbeit über die karolingischen Markgrafen zurückging. Auf ein eingehenderes Resümee dieser Diskussionen kann ich hier verzichten, da Bernhard Jussen die Ergebnisse unlängst in einem Forschungsbericht über die Perspektiven der Verwandtschaftsforschung56 zusammenfasste. Sein Fazit lautet, dass die Verwandtschaft schon früh durch andere soziale Organisationsformen wie Kirche, Gilden, Lehnswesen und Grundherrschaft entlastet worden sei. Jussen resümiert: „Die lateineuropäische Verwandtschaft scheint eine leistungs- und strukturschwache Institution gewesen zu sein.“57 Diese Folgerung fügt sich nahtlos in die Tendenz ein, die Janet Carsten unlängst für die Geschichte der Verwandtschaftsforschung innerhalb der Ethnologie nachgezeichnet hat. In ihrem Buch After Kinship58 von 2004 stellt sie fest, dass die einstige Dominanz des Themas der Verwandtschaft in der Ethnologie des 19. und 20. Jahrhunderts unwiederbringlich verlorengegangen sei. Der von Maine und Morgan postulierte Gegensatz von Staat und Verwandtschaft war eng mit einer Auffassung von der Evolution menschlicher Gesellschaft verknüpft, die man unter das Schlagwort „Von der Verwandtschaft zur Familie“ zusammenfassen kann. Große Verwandtschaftsverbände und Abstammungsgemeinschaften seien Zeichen einfacher Gesellschaften, während die Moderne die Kernfamilie als einen Raum der Privatheit von öffentlicher Organisation und staatlicher Zuständigkeit abgegrenzt habe. Dieses, hier zugegebenermaßen vereinfachte Bild ist in der ethnologischen Forschung der letzten fünfzig Jahre vermehrt in die Kritik geraten. Wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, haben geradlinige Entwicklungsmodelle einer Pluralisierung des ambivalenten Verwandtschaftsbegriffs und einer differenzierten Sicht des Verhältnisses von archaischen und modernen Gesellschaften Platz gemacht. Einen radikalen Bruch mit der älteren Sozialanthropologie führte das Buch von David Schneider über Kinship in America59 herbei. Für Schneider ist die anthropologische Forschung von europäischen Konstruktionen von Verwandtschaft durchsetzt,

55 Mitterauer (1990); Mitterauer (1993). 56 Jussen (2009). Jussen beruft sich u.a. auf seine eigenen Arbeiten zur Memorialkultur des Mittelalters und zur Konstruktion des Witwenstatus in der Spätantike. Als Ergebnis dieser Studien hält er fest, dass das familiäre Totengedächtnis seit der Christianisierung nicht mehr an die Rolle des Paterfamilias in agnatischer Linie gebunden worden sei. Die Witwe habe diese Rolle übernehmen, aber auch ihren Gedenkaufgaben nicht nachkommen und erneut heiraten können. Vgl. Jussen (2000). 57 Jussen (2009), S. 319; anders noch Jussen (1991), S. 14: „Verwandtschaft war das Medium der Gruppenbildung schlechthin“. Diese Ansicht hat er korrigiert in Jussen (2001). Zustimmend Lubich (2008), S. 231. Widerspruch bei Goetz (2008). Zum Streit innerhalb der Verwandtschaft vgl. jetzt Aurell (2010). 58 Carsten (2004), S. 10–16. Ähnlich Schweitzer (2000), S. 3. 59 Schneider (1968).

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die eine Einheit von Kategorien vortäuschen, welche in den untersuchten Gesellschaften selbst nicht existierte. Seine Ablehnung der bisherigen Forschung war radikal: The kinship-system, like totemism and the matrilineal complex, is a non-subject, since it does not exist in any culture known to man. The whole notion of „a kinship system“ as an isolable structure of sentiments, norms, or categorical distinctions is misleading because it assumes, or seems to assume that the ordering principles of a society are partitionable into natural kinds only adventitiously connected.60

Diese Kritik übte großen Einfluss aus, so dass das Thema der Verwandtschaft seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts dauerhaft aus dem Zentrum der angelsächsischen Sozialanthropologie verschwand. Erst in den letzten 15–20 Jahren ist ein neues Interesse an diesem Thema erwacht, das in erster Linie von den Umwälzungen in den westlichen Gesellschaften herrührt. Der Zerfall der Kernfamilie und der monogamen Ehe, das Aufkommen der sogenannten „Patchwork-Familie“, die Trennung von Reproduktion und Familie durch künstliche Fortpflanzung, die Legalisierung homosexueller Ehen: Diese Entwicklungen gaben neuen Stoff für die Diskussion der bisher üblichen Gegenüberstellung von „the West and the Rest“. In ihren wegweisenden Untersuchungen ziehen Marilyn Strathern und Janet Carsten insbesondere die Auffassung in Zweifel, in modernen westlichen Gesellschaften seien Fragen der Verwandtschaft prinzipiell von geringerer Relevanz. Trotzdem plädieren diese Studien nicht für eine Rückkehr zur Dominanz des Themas der Verwandtschaft innerhalb der Ethnologie, sondern sind der kulturalistischen Wende und der damit verbundenen Relativierung von Verwandtschaft als Erklärungsparadigma verpflichtet.61 In der französischen Ethnologie ist die Fokussierung auf Verwandtschaft durch die marxistisch inspirierte Kritik in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts untergraben worden.62 Abstammung und Allianz wurden nicht mehr als autonome Leistungsträger der sozialen Integration betrachtet, sondern den Produktionsverhältnissen untergeordnet. Dieser Wandel implizierte, dass die Familie als Einheit der Produktion und Besitzübertragung in das Zentrum gerückt wurde. Aus dieser Perspektive entwickelte Pierre Bourdieu seine Kritik der an Strukturen der Deszendenz und Allianz orientierten Ethnologie. Mit seiner Unterscheidung zwischen offizieller und praktischer Verwandtschaft legte Bourdieu den Schwerpunkt darauf, dass die Normen zwar einerseits offizielle Regeln über das Verhältnis zwischen Verwandten festlegen, dass es aber andererseits in der von ökonomischen Zwängen beherrschten Realität häufig darum geht, diese Regeln spielerisch und manchmal auch manipulativ einzusetzen, um individuellen Interessen zur Durchsetzung zu verhelfen. Bourdieu stellt fest: „Daran

60 Schneider (1972), S. 59. Zustimmend Needham (1971), S. 5; Geertz/Geertz (1975), S. 156. 61 Strathern (1992); Carsten (2000); Carsten (2004). 62 Schweitzer (2000), S. 12; Heran (2009), S. 1–13.

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zu erinnern, dass Verwandtschaftsverhältnisse eine Sache sind, die man macht und aus der man etwas macht, heißt nicht nur, wie die herrschenden Taxonomien glauben machen wollen, eine ,funktionalistische‘ Interpretation durch eine ,strukturalistische‘ ersetzen; es heißt die implizite Theorie der Praxis radikal in Frage stellen, durch die die ethnologische Tradition verleitet wird, Verwandtschaftsverhältnisse nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung zu erfassen, wie Marx sagt, anstatt in Gestalt der Praktiken, die sie produzieren, reproduzieren oder im Hinblick auf notwendig praktische Funktionen nutzen.“63 Ebenso von einer marxistischen Perspektive ausgehend polemisierte Maurice Godelier in den letzten Jahren gegen die Vorstellung, es gebe Gesellschaften, die nur auf Familie und Verwandtschaft beruhten: „Nulle société n’a jamais été fondée sur la famille ou la parenté.“64 Für Godelier konstituiert sich eine Gesellschaft nur, wenn die Verwandtschaftsverbände erstens dauerhaft von einem bestimmten Territorium Besitz ergreifen und wenn zweitens kollektive Mythen Platz greifen, die über den Ursprung der Gemeinschaft, über ihren Kontakt zum Göttlichen und über die Verbindung von Territorium und Familienverbänden Auskunft geben. In seinem Hauptwerk Métarmophoses de la parenté schreibt er: Die Verwandtschaft erzeugt Verwandtschaft und erzeugt niemals etwas anderes, nämlich politische oder religiöse Beziehungen. Wenn neue Formen der sozialen Organisation, wie Kasten oder Klassen, oder wenn neue Formen der Macht, wie der Staat oder das Reich, auftauchen, sind sie das Produkt der Evolution der politischen und rituellen Beziehungen, die sie ersetzen, und nicht das Produkt der Evolution des Verwandtschaftssystems, die vorausgegangen war. Nicht dass sich das Verwandtschaftssystem nicht wandelt in der Geschichte, aber diejenigen sozialen Kräfte und Widersprüche, die tiefreichende Änderungen der gesamten Gestalt der Gesellschaft hervorrufen, ruhen nicht im Schoß der Verwandtschaft.65

Nach Godelier ist Verwandtschaft also eine flexible Sozialform, die als Transmissionsriemen für politische, soziale und ökonomische Prozesse dient. Aus diesem hier nur ansatzweise skizzierten Wandel des Verständnisses von Verwandtschaft innerhalb der Ethnologie hat die Geschichtsschreibung mehrere Konsequenzen gezogen.

63 Bourdieu (1980), S. 279, dt. S. 297. 64 Godelier (2004), S. 529. Vgl. die scharfsinnige Besprechung von Goody (2005). Ferner Barnes (2006). 65 Godelier (2007), S. 113.

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a. Gegen den Mythos vom Bedeutungsverlust Die neuere Historiographie schließt sich der Kritik am bisher üblichen Entwicklungsmodell eines allmählichen Bedeutungsverlusts von Verwandtschaft an.66 Zwei im Jahr 2007 publizierte Sammelbände zur Verwandtschaft in der neuzeitlichen Gesellschaft plädieren dafür, das Modell einer allmählichen Reduzierung der Bedeutung von Verwandtschaft im Europa der Neuzeit zu verabschieden und stattdessen Verwandtschaft als einen in den klassischen Modernisierungstheorien vernachlässigten Faktor zur Geltung zu bringen.67 Wegweisend ist insbesondere der Band Kinship in Europe. In der Einleitung weisen David Sabean und Simon Teuscher jedes geradlinige Entwicklungsmodell zurück, welches die Vielgestaltigkeit von Verwandtschaft nicht ernst nimmt.68 Unterschiedliche Gruppierungen von Verwandten formieren sich, wenn es um die Fehdeführung, um das Totengedächtnis, um die Vererbung von Gütern, um die Weitergabe von Ämtern oder um die Festigung von Allianzen durch Eheschließung geht. Die Verwandtschaft wiederum, die sich in den verschiedenen Praktiken konstituiert, muss nicht identisch sein mit dem Bild, das sich eine Verwandtschaftsgruppe selbst von sich gibt. Selbstverständnis und Organisation können durchaus in einer Spannung zueinander stehen. Als im Ansatz falsch verwerfen Teuscher und Sabean auch den vermeintlichen Gegensatz von Verwandtschaft und Staat.69 In der Zeit um 1500 beobachten sie vielmehr eine verstärkte Betonung von vertikalen Bindungen in der Verwandtschaft, die sie als eine Begleiterscheinung des Staatsbildungsprozesses deuten.70 David Sabean bezeichnet das 19. Jahrhundert als eine „kinship-hot society“71 und streicht die Rolle von Verwandtschaft auf allen Ebenen der Gesellschaft heraus. Am anderen Ende der Entwicklung ist die Bedeutung von Verwandtschaft für die Gesellschaft des frühen Mittelalters deutlich relativiert worden. Es ist besonders das Verdienst von Alexander Murray gezeigt zu haben, dass es keine überzeugenden Belege für eine Clanstruktur oder eine Ordnung in Sippenverbände bei den germanischen Völkern des 5. und 6. Jahrhunderts gibt.72 Murray räumte mit einer Voraussetzung auf, die noch der Memorialforschung von Karl Schmid zugrunde lag, nämlich dass große Sippenverbände charakteristisch für das frühe Mittelalter gewesen

66 Gegenläufig ist die These einer seit dem frühen Mittelalter einsetzenden „deparentalisation“ von Morsel (2008b). Am Ausgangspunkt dieser Entwicklungsthese steht allerdings ein unreflektiertes Vorverständnis vom frühen Mittelalter. 67 Lanzinger/Saurer (2007); Mathieu/Teuscher/Sabean (2007). 68 Sabean/Teuscher (2007). 69 Zur Dominanz dieses Gegensatzes in der französischen Geschichtsforschung vgl. Barthélemy (1986). Kritisch hierzu Morsel (2008a). 70 Sabean/Teuscher (2007), S. 26. Vgl. auch Teuscher (2011). 71 Sabean (2007). 72 Murray (1983).

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seien. Dagegen konnte Murray plausibel machen, dass es situativ sehr unterschiedliche Gruppen waren, die bei Erbschafts-, Ehe- und Kompensationsfragen herangezogen wurden. Vor dem Hintergrund dieser Neubewertung des Verhältnisses von Staat und Verwandtschaft erscheint auch die viel diskutierte Schaffung einer Reichsaristokratie durch die Karolinger in einem neuen Licht. In den Fußstapfen von Tellenbach untersuchte Régine Le Jan in ihrer monumentalen Monographie, wie die Karolinger die Integration ihres Großreichs betrieben, indem sie die Expansion der fränkischen Führungsschicht in die Randgebiete förderten und umgekehrt die periphere Aristokratie an der Machtverteilung am Hof teilhaben ließen.73 Die damit einhergehende Einschränkung des Heiratsmarktes führte, wie Constance Bouchard für das Westfrankenreich darlegte, zu einer Öffnung der Aristokratie und zum Aufstieg neuer Adelsschichten.74 Dies hatte eine schärfere Auseinandersetzung um Eherecht und Ehepolitik zur Folge. Die Prozesse vor Gericht, die daraus hervorgingen, sind zuletzt gründlich diskutiert worden.75 Analog dazu lässt sich die Ausweitung des Inzestverbots im frühen Mittelalter als ein Versuch verstehen, von königlicher und bischöflicher Seite den Einfluss auf den Heiratsmarkt zu intensivieren. Der Verwandtschaft eine Struktur zu geben, scheint dann wichtig zu werden, wenn Herrscher an der Festigung oder Bildung von Großreichen interessiert waren.76 Die Formierung von Verwandtschaft erscheint damit nicht im Widerspruch zur Etablierung überregionaler Machtstrukturen, sondern geradezu als wesentlicher Baustein für eine solche Strategie.

b. Pluralisierung von Verwandtschaft Ein weiterer Aspekt der Diskussion in der Ethnologie lenkte die Aufmerksamkeit auf die bereits angesprochene Pluralität von Verwandtschaftskategorien. Insbesondere zwei Themen setzten eine Diskussion über das Konzept der Verwandtschaft in Gang, welches in der bisherigen Forschung allzu oft ohne Reflexion vorausgesetzt wurde: die Mechanismen der Herstellung von künstlicher Verwandtschaft77 sowie die Geschichte der Semantik von „Verwandtschaft“.78

73 Le Jan (1995). 74 Bouchard (2001), S. 13–58. 75 Stone (2007); Patzold (2010); Heidecker (2010); Joye (2012). Siehe auch den Beitrag von Gerhard Lubich in diesem Band. 76 Ausführlicher hierzu Ubl (2008). 77 Bahnbrechend Lynch (1986); auf die politische Tragweite ausgerichtet Angenendt (1984). Ferner Jussen (1991) und Guerreau-Jalabert (1996) sowie zuletzt Mitterauer (2009). 78 Wegweisend Guerreau-Jalabert (1986–1987). Jones (1990); Le Jan (1995), S. 159–177; Réal (2001), S. 91–163; Lubich (2008); Goetz (2009).

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Die Hinwendung zur Erforschung der Patenschaft war vor allem deshalb ertragreich, weil damit die Aufmerksamkeit auf die Konstruktion von Verwandtschaft gelenkt wurde. Verwandtschaft erscheint damit als ein manipulierbares Beziehungssystem. In die gleiche Richtung weist die variable Semantik der Begriffe für Verwandtschaft wie consanguinitas, affinitas, agnatio, cognatio und propinquitas. Gerhard Lubich analysierte unlängst die Konjunktur dieser Begriffe im frühen Mittelalter und unterstrich ihre unterschiedliche Relevanz für die politische Gruppenbildung. Eine Beistandspflicht sei nicht automatisch mit jedem Verwandtschaftsterminus verbunden worden, vielmehr habe man dafür auf emotional aufgeladene Begriffe wie affinis zurückgegriffen, während andere Termini keine derartigen Implikationen aufgewiesen hätten. Lubich verwarf daher die These, im frühen Mittelalter habe es prinzipiell eine Solidarität zwischen Verwandten gegeben. Um diese Gedankenverbindung aus der Forschung fernzuhalten, plädierte Lubich für den neutralen und weniger durch alltägliche Gebrauchskontexte vorbelasteten Begriff des „Verwandtseins“.79 So schwierig es sein wird, einen neuen Fachbegriff durchzusetzen, der die bisher mit Verwandtschaft verbundenen Assoziationen abstreift, so wichtig erscheint die Problematisierung der vieldeutigen Begrifflichkeit. Wenn die Ab- oder Zunahme der Bedeutung von Verwandtschaft ganz generell behauptet wird, kann sich diese Aussage auf verschiedene Kontexte beziehen und ist daher mehrdeutig.80 Für das Frühmittelalter haben die Studien von Stephen White den Konstruktionscharakter von Verwandtschaft und zugleich die Gefahren eines strukturalistischen Ansatzes herausgestrichen. Sein Buch zur Laudatio parentum widmet sich der Urkundenformel, in der die Zustimmung der Verwandten zu einer Schenkung an die Kirche ausgedrückt wird.81 White erkennt in der Auflistung von Verwandten kein System der Verwandtschaft, sondern vielmehr eine Kernfamilie, die sich während eines Lebenszyklus verändert und sich nur in Einzelfällen auf die verwandten Vorbesitzer des geschenkten Landbesitzes erweitert. Im Anschluss an Bourdieu betrachtet White die Verwandtschaft gerade deshalb als eine omnipräsente Sozialform, weil sie flexibel, also strukturschwach war und deshalb den strategischen Einsatz durch die historischen Akteure ermöglichte. Statt fester Strukturen oder soziologischer Modelle streicht er die Sicht des Individuums hervor, das stets vor dem Problem stand, Verwandte zu vereinnahmen und für seine eigenen Interessen zu rekrutieren.

79 Lubich (2008), S. 12–20. Janet Carsten hat den übergeordneten Begriff der relatedness zur Diskussion gestellt: Carsten (2000). 80 Dieses Argument wird auch von Crouch (2005), S. 101–112, gegen die Konstruktion von Entwicklungsmodellen eingewandt. 81 White (1988).

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c. Formbarkeit von Verwandtschaft Eine weitere Folge der Pluralisierung des Verwandtschaftsbegriffs ist die Einordnung von Verwandtschaft in ein komplexes gesellschaftliches Beziehungsnetzwerk. Anstatt der Verwandtschaft ein festes Modell und eine autonome Entwicklung zuzuschreiben, wird in der jüngsten Forschung die Prägung durch dominante Faktoren der sozialen Umwelt hervorgehoben. In Zusammenhang mit dem Aufkommen der geistlichen Verwandtschaft seit dem 6. Jahrhundert schätzt Michael Mitterauer den Einfluss der christlichen Religion sehr hoch ein.82 Die Abstammungsfeindlichkeit des Christentums habe demnach zu einer Geringschätzung der Blutsverwandtschaft und zu einer Verlagerung auf geistliche Verwandtschaft sowie auf die Gemeinschaft der Ehegatten geführt. Einen starken Druck auf die Formierung von Verwandtschaft schreibt Mitterauer ebenfalls der Herrschaftsordnung zu. Auf der Ebene der Grundherrschaft wurden die Rahmenbedingungen für die Stabilität verwandtschaftlicher Gruppenbildung bestimmt.83 Mit einer ähnlichen Zielrichtung hat unlängst Julia Smith eine Geographie der europäischen Verwandtschaftsstrukturen im Frühmittelalter entworfen. Smith unterscheidet eine römisch-rechtliche Zone, in der Verwandte keinen Anspruch auf Unterstützung geltend machen konnten, von einer germanischen Zone mit ausgeprägter Verwandtensolidarität und einer Zone keltischer Clanstrukturen.84 Was die Formbarkeit von Verwandtschaft für die Erforschung des frühen Mittelalters bedeutet, haben die Regionalstudien von Matthew Innes und Hans J. Hummer unter Beweis gestellt.85 Demnach ist Verwandtschaft nicht eine Institution, die Leistungen erbringen soll, sondern eine Ressource, auf die die Akteure zurückgriffen und die in ihrer sich wandelnden Struktur die Veränderungen des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie im Frankenreich abbildet. Beide Historiker messen der Struktur und der Veränderung von Verwandtschaft hohe Bedeutung bei, da in den frühmittelalterlichen Gemeinwesen der Landbesitz die primäre Ressource politischer Macht gewesen sei und dieser in der Regel durch Vererbung in der Verwandtschaft oder durch Schenkung an eine kirchliche Institution weitergegeben worden sei. Innes und Hummer diskutieren eingehend die Mechanismen der Zentrale, über die Bildung einer

82 Mitterauer (1990); Guerreau-Jalabert (1996). Aufgenommen bei Godelier (2005), S. 351–363. 83 Kuchenbuch (1978); zusammenfassend Kuchenbuch (2009); Mitterauer (2003a); Mitterauer (2003b), S. 70–108; Morsel (2005). 84 Vgl. Smith (2005), S. 83–114. Für die Geschichte Kontinentaleuropas wäre zu diskutieren, ob ethnische Identitäten tatsächlich in diesem Ausmaß wirksam waren oder ob die Struktur der Verwandtschaft nicht in stärkerem Ausmaß von den politischen und herrschaftlichen Rahmenbedingungen abhing. Über Unterschiede innerhalb der keltischen Zone vgl. Charles-Edwards (1993), S. 471. Der regionale Vergleich ist jedenfalls ein wichtiges Korrektiv, vgl. bereits die Pionierarbeit von Phillpotts (1913). 85 Innes (2000), S. 85–93; Hummer (2005); Costambeys (2007), S. 208–249.

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Reichskirche auf die Weitergabe des Landbesitzes Einfluss auszuüben, sowie die Mechanismen in der Region, über Anbindung an Klöster der aristokratischen Dominanz einer Familie Dauerhaftigkeit zu verleihen. Hummer folgert daraus: In the early medieval period the acquisition of family power, and the family patterns that are believed to focus or diffuse that power, cannot be treated as autonomous processes, separate and distinct from the fate of ecclesiastical institutions […] because institutional mechanisms regulated long-term patterns in kinship and power.86

Damit sind einige wichtige, aber keineswegs alle Verschiebungen in der Diskussion der letzten Jahre benannt. Ein vollständiges Panorama hätte noch auf die reichen Forschungserträge zur Rolle von Frauen bei der Weitergabe von Besitz, Tradition und sozialer Stellung eingehen müssen.87 Welche Resultate zudem der Aufbruch in der Archäogenetik durch die Erforschung historischer DNA für das Thema der Verwandtschaft erbringen wird, muss zum jetzigen Zeitpunkt noch offengelassen werden.88 Andere Bereiche, wie die Untersuchung der Rechtsquellen sowie des namenkundlichen Materials,89 sind in den Überblicksdarstellungen der letzten Zeit weniger im Zentrum gestanden. Trotz vieler kontroverser Stellungnahmen und fortwährender Debatten lassen sich vielleicht drei Punkte festhalten, die nach gegenwärtigem Stand der Forschung nicht mehr zweifelhaft sind: a.

Die Verwandtschaft war in dem Zeitraum von 300–1000 prinzipiell bilateral, d.h. kognatisch. Die verwandten Personen änderten sich folglich mit jeder Generation, und jedes Individuum hatte einen individuellen Verwandtenkreis. b. Die Kernfamilie – und nicht die Sippe – war im frühen Mittelalter der primäre Bezugspunkt. Die weitere Verwandtschaft wurde immer nur situativ und punktuell einbezogen, ohne dass es dafür feste Regeln gegeben hätte. c. Verwandtschaft war im Vergleich zu anderen Sozialformen wie Patronage, Freundschaft und Koresidenz nicht besonders privilegiert, sondern vielmehr durch ihre Bilateralität flexibel und dynamisch einsetzbar.

86 Hummer (2005), S. 257. 87 Vgl. Stafford (1983); Stafford (2006); Bouchard (2001), S. 98–154; Wood (2004); Garver (2009), S. 68–121. 88 Grundsätzlich vgl. McCormick (2008), S. 87f.; Brown/Brown (2011), S. 168–189. Beispielhaft vgl. Gerstenberger (2002); Haak u.a. (2008). 89 Vgl. Mitterauer (1993); Mitterauer (2011); Geuenich (1997); Beech/Bourin/Chareille (2002); Bourin/ Martínez Sopena (2010).

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3 Fazit Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sich die Erforschung von Verwandtschaft im frühen Mittelalter seit dem Buch von Gerd Althoff entscheidend veränderte. Auf der Grundlage des Austausches mit den Sozialwissenschaften und mit der internationalen Mittelalterforschung erscheint eine neue Synthese dringend geboten. Das Ziel des vorliegenden Bandes ist bescheidener. Er soll das Verhältnis von Verwandtschaft, Name und sozialer Ordnung in das Zentrum stellen und für eine ganzheitliche Sicht auf das Phänomen der Verwandtschaft im frühen Mittelalter werben. Denn das Urteil von Bernhard Jussen über Verwandtschaft als „leistungs- und strukturschwache Institution“ sollte keinesfalls zur Folge haben, dieser Sozialform weniger Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Wenn damit die Abkehr vom Optimismus gemeint ist, welcher die genealogisch-besitzgeschichtliche Adelsforschung und die Anfänge der Memorialforschung inspiriert hatte, so ist dem wenig entgegenzusetzen. Die bisherige Forschung hat uns gelehrt, dass weder die Normtexte noch die Urkunden oder die Memorialquellen die Struktur der Verwandtschaft „unmittelbar sichtbar“ machen. Verwandtschaft verliert damit seinen Status als Passepartout für jene Fragen, die mangels Quellen von einem dichten ‚Schleier‘ umhüllt sind und dem Frühmittelalterhistoriker deshalb rätselhaft bleiben. Dies macht das Verständnis der Zusammenhänge zwar komplexer, aber dafür umso interessanter. Verwandtschaft scheint nämlich gerade deshalb besonders oft zum Objekt von Politik und Gesetzgebung gemacht worden zu sein, weil sie formbar war und deshalb für unterschiedliche ‚Leistungen‘ in den Dienst genommen werden konnte. Die Entdifferenzierung des frühen Mittelalters, also die Tatsache, dass Recht, Markt und politische Organe gegenüber der antiken Welt an Autonomie verloren, lässt demnach nicht die Verwandtschaft als Konkurrenzinstitution hervortreten. Vielmehr werden wir deshalb häufiger mit der Rolle von Verwandtschaft in den Quellen konfrontiert, weil die gesellschaftliche Komplexität insgesamt abgenommen hat und daher der Bedarf an sozialer Integration zurückgegangen ist. Die Leitfrage nach dem Verhältnis von sozialer Ordnung, Name und Verwandtschaft kann sich meines Erachtens als fruchtbar erweisen, wenn Verwandtschaft nicht als Institution, sondern als Ressource für individuelle Strategien und als Transmissionsriemen für politische und soziale Prozesse betrachtet wird.

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Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft

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Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den ‚germanischen‘ gentes: Traditionen – Innovationen – Differenzen Dass der Name, anscheinend etwas Äußerliches, von außen Gegebenes, dennoch bis in unsere Zeiten mit der Identität einer Person zusammenhängt, kann jeder für sich leicht testen. Wer Spott mit unserem Namen treibt, kann nicht auf unseren Beifall hoffen,1 sowenig wie der Langobarde *Ar-gaid es beifällig aufnahm, dass ein konkurrierender militärischer Führer seinen Namen durch falsche Abtrennung der Namenelemente als *arga- ‚feig‘2 plus *haidu- ‚Art und Weise, Wesen, Erscheinung‘3 (also im Sinne von Arg-(h)aid ‚böses Wesen‘) mit dem schon um 648 im ‚Edictus Rothari‘, dem langobardischen Gesetzbuch, als tödliche Beleidigung gekennzeichneten Wort arga4 in Verbindung brachte, worauf sich der so Gescholtene, um seinen Mut zu beweisen, mit einem Angriff auf eine slawische Bergfestung zu einem tödlichen Himmelfahrtskommando hinreißen ließ.5 Umgekehrt sah Venantius Fortunatus im Namen des merowingischen Königs Chilperik (561–584) < *Helpe-rı¯k, indem er – sprachlich völlig korrekt – die Bestandteile seines Namens als germ. *help-a ‚helfen‘6 und *rı¯kja ‚mächtig‘,7 also quasi im Sinne von ‚hilfreich‘ deutete, ein Vorzeichen seiner Taten als adiutor fortis, als „starker Helfer“ der Seinen.8 Solche praesagia oder veriloquia nominis waren weit verbreitet in der früh- und hochmittelalterlichen Adelskultur:9 König Gunthram von Burgund hebt Chlothar II. (a. 591) aus der Taufe, indem er während des Aktes das veriloquium nominis des wohlbedacht gewählten merowingischen Traditionsnamens beschwört: „Es gedeihe der

1 Johann Gottfried Herder trieb seinen Spaß mit dem Namen seines Freundes Goethe in Straßburg, als er ihn folgendermaßen anredete: „Der von Göttern du stammst, von Gothen oder vom Kothe, Goethe […].“ Der so Bewitzelte fand diesen Spaß allerdings noch in der Rückerinnerung Jahrzehnte später „freilich nicht fein“. Vgl. dazu Haubrichs (1995a). 2 Kluge/Seebold (2002), S. 58; Lloyd/Springer (1988), Sp. 321–324; Orel (2003), S. 23. 3 Kluge/Seebold (2002), S. 404; Orel (2003), S. 151. 4 Edictus Rothari (Bluhme 1868), S. 1–90, hier S. 88. Vgl. Van der Rhee (1970), S. 31–33 (2 Belege). 5 Paulus Diaconus, Hist. Lang. (Waitz 1878), VI, 24, S. 222f. Vgl. Arcamone (1985), S. 31–59; Princi Braccini (2001), S. 362f.; Francovich Onesti (1999), S. 200; Haubrichs (2005a), S. 84; Haubrichs (2009b), S. 221f.; Haubrichs (2010a), S. 161–163. 6 Kluge/Seebold (2002), S. 405; Orel (2003), S. 168. 7 Kluge/Seebold (2002), S. 753; Orel (2003), S. 305. 8 Venantius Fortunatus, Op. Poet. (Leo 1981), IV, 1, S. 201f. Vgl. George (1992), S. 48–57; Haubrichs (2004b), S. 87f. 9 Vgl. Haubrichs (1975); Haubrichs (1995a); ferner Tilliette (1997).

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Knabe und mache einst wahr, was sein Name besagt: auch blühe er in solcher Fülle der Macht, wie einst der, dessen Namen er erhalten hat“. Der Name Chlotharius < *Hludo-harjaz bedeutet ‚berühmter Krieger‘ und bezieht sich rück auf den mächtigen Chlodwig-Sohn Chlothar I. (511–561), den Großvater des Täuflings, so dass hier sowohl die Bedeutung des Namens als auch die Nachbenennung, der Sinn der imitatio des Ahnen hervorgehoben wird.10 Der langobardische König Kuni-pert ‚in der Sippe berühmt‘ (688–700) ändert seinen Namen selbst bedeutsam in Cuninc-pert ‚als König berühmt‘11 und benennt dementsprechend auch seine Tochter als Cuninc-perga.12 Kaiser Ludwig der Fromme (814–840), nachbenannt nach einem berühmten Merowingerkönig wie sein früh verstorbener Bruder Lothar und (neben dem Sohn Ludwig dem Deutschen) sein gleichnamiger Sohn Lothar I. und sein Enkel Lothar II., dem Namen nach also wie einstmals Chlod-wig (romanisierte Namenform) ein *Hludo-wı¯gaz, ein ‚berühmter Krieger‘, wird von seinem Geschichtsschreiber und Panegyriker Ermoldus Nigellus richtig nach den Elementen fama ‚Ruhm‘ (zu germ. *hluda- ‚laut, berühmt‘) und Mars (zu germ. wı¯ga ‚Kampf, Krieg‘) gedeutet.13 Wieder in einem Akt bedeutsamer Nachbenennung wird König Ludwig das Kind (900–911), Sohn des Arnulf, explizit nach seinem Großvater Ludwig dem Deutschen benannt, dies zugleich in bewusster memoria.14 Noch Notker Balbulus, dem Verfasser der auf Karl den Großen bezogenen ‚Gesta Karoli‘, erscheint der in den Awarenkriegen kämpfende alemannische Riesenkrieger Eishere < *Agis-hari, da sein Name aus den Namenelementen *agi(s)-, got. agis, ahd. egı¯, mhd. eise ‚Schrecken‘ und *harja-, ahd. hari, heri ‚Heer‘ besteht,15 in angemessener, seine militärischen Schwabentaten kennzeichnender kriegerischer Deutung als terribilis exercitus.16 Die christliche Gesellschaft hat die Vergabe des Namens im Laufe des frühen und hohen Mittelalters allmählich sakralisiert, indem sie einen immer engeren Zusammenhang zu Taufe und jüdischer Namengebungspraxis nach biblischem Vorbild herstellte. Man muss sich nur die Darstellung der Geburt des Johannes (Baptista), Sohnes der Elisabeth und des Zacharias (Luk. I, v. 57f.) in der altsächsischen, um 840/50 entstandenen Evangelienharmonie des ‚Heliand‘ (v. 198–239) und im poetischen, in fränkischer Sprache geschriebenen ‚Liber evangeliorum‘ (I, 9) des Otfrid von Weißenburg (863/72) vergegenwärtigen, um zu ermessen, welche Revolution diese Sakralisierung potentiell bedeutete. Die Verwandten der Zacharias-Sippe müssen nach heftigem Wi-

10 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 28, S. 520–522. Vgl. Haubrichs (2004b), S. 88f.; ferner Scheibelreiter (1997), S. 72. 11 Arcamone (1969), S. 23–29; Haubrichs (2005a), S. 92, Nr. 14; Haubrichs (2010b), S. 527, Nr. 45; Haubrichs (2010a), S. 164f. 12 Haubrichs (2010b), S. 527, Nr. 44. 13 Ermoldus Nigellus, Carmen (Dümmler 1884), I, S. 6, v. 41–52. Vgl. Haubrichs (2004b), S. 90. 14 Annales Fuldenses (Rau 2002), a. 893, S. 156f. Vgl. Haubrichs (2004b), S. 89. 15 Lloyd/Lühr/Springer (1998), Sp. 962–964; Orel (2003), S. 3. 16 Notker Balbulus, Gesta Karoli (Rau 2002), II, 12, S. 404.

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derstand, in den Volksepen noch über die biblische Vorlage hinaus gesteigert, auf ihre Mitsprache bei der Auswahl des Namens verzichten und das der Mutter in einer Vision offenbarte, bedeutungsvolle, aber in der Sippe unerhörte nomen, nämlich Johannes (‚Gott hat sich erbarmt‘) akzeptieren.17 So weit – in christlicher Semantisierung – hat die Sakralisierung der Namengebung im frühen Mittelalter nur teilweise bei den romanischen, oft als Heilsname auftretenden Personennamen (Donatus, Deodatus, Desiderius, Desiderata, Christinus etc.) und recht selten bei den germanischen Namen (etwa *Gode-thewaz ‚Gottesdiener‘ bzw. Godes-scalc ‚servus Dei‘) geführt.18 Erst eine spätere, hochmittelalterliche Phase bringt den Durchbruch christlicher Namengebung, vor allem mit den Bibel- und Heiligen-Namen wie Johannes, Jacobus, Martinus und Margaretha, Elisabeth, Katharina etc.19 Aber auch in unserer Gesellschaft sind Namen, insbesondere Vornamen (wie schon in der protestantischen Reformationsgesellschaft mit ihren Gottlieb, Traugott, Gotthelf, Fürchtegott usw.), nicht bedeutungsleer: Vornamen können die Traditionalität einer Familie spiegeln,20 sie imitieren mit Kevin Filmhelden, mit Naomi Top-Models, mit dem Namen der ‚Indianer-Prinzessin‘ Pocahontas zumindest Exotik. Selbst scheinbar ganz formale Spiele mit Initialen wie bei John W. Miller oder Ordnungszahlen wie bei John D(avison) Rockefeller the Third wollen soziale Geltung imitieren und reklamieren oder adelsgleiche genealogische Extensionen postulieren. Wer auf einen internationalen Namenkongress geht, kann dort von Namensystemen hören, von denen er sich nicht einmal hätte träumen lassen, wie von einem indonesischen, in dem die Namen zum Teil Akronyme bzw. Anagramme sind, zustande gekommen durch die Aneinanderreihung von zwei bis drei Individualnamen (keine Familiennamen), die wichtige und prestigeträchtige Begriffe mit Bestandteilen der Elternnamen verbinden.21 Z.B. ist bei den auf Sumatra lebenden Minangkabau Dina Meliariska Mirinda die Tochter von Lelly und Asrial. In Dina begegnet das arabische Lehnwort für ‚Religion, Glaube‘, während Meliariska „in freier Kombination aus den Namen der Eltern Lelly und Asrial gebildet“ wurde. „In Mirinda tritt dagegen wieder die individuell biographische, kombiniert mit der überindividuell-kulturbezogenen Ebene hervor, setzt er sich doch zusammen aus Minangkabau“, dem Ethnonym, und „Samarinda, einem Ort in Kalimantan, dem indonesischen Teil von Borneo“, wo die Tochter geboren wurde. Das System ins Lateinische übersetzt, könnte man also einen Namen bilden wie Fides Bauju Fratetia, Tochter des Franken Baudomeres und der Julia, geboren in Lutetia (Paris), woran sich Etymologen einige Zähne ausbeißen würden, die aber für

17 Vgl. Haubrichs (2004b), S. 91–96; Haubrichs (2005b), S. 53–59. Vgl. auch Jarnut (1997), S. 57f. 18 Vgl. Schramm (1957), S. 72ff.; Kaufmann (1968), S. 356; Haubrichs (2004a), S. 160, Nr. 19–21; Haubrichs (2006), S. 300–305; Geuenich (1997), S. 43 (zu theophoren PN). 19 Kunze (2004), S. 32ff. und 42ff. Zur im Frühmittelalter noch recht oberflächlichen Christianisierung der PN vgl. auch Jarnut (1997), S. 55ff. 20 Kunze (2004), S. 47. 21 Kohlheim (2002), S. 859.

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den Wissenden das Geheimnis des Glaubens und der Abstammung in sich tragen würde. Namen, Namengebung und Namensysteme sind kulturelle Ereignisse und Institutionen. Im Heldenepos der turkstämmigen Oghusen ‚Kitab Dede Korkut‘ werden die Namen von den Älteren gegeben und es heißt: „In jener Zeit [quasi im heroic age] bekam ein Junge keinen Namen, ehe er einen Kopf abgeschlagen und Blut vergossen hatte“.22 Im christlichen Biafra (Nigeria) etwa erhält ein Knabe bei der Taufe einen sprechenden Namen wie Ifeanyichukwu (‚Nichts ist unmöglich für Gott‘),23 womit er hebräischen Namen wie Johannes oder Michael (‚Wer ist wie Gott?‘) und ihren spätantiken Äquivalenten wie Quodvultdeus, Sperandeo, Talesperiam (‚So hoffen wir‘) gleicht.24 Solche Namen sind wirklich mit William F.H. Nicolaisen als das „öffentliche Gesicht privater Personen“ zu betrachten.25 Über den Hintergrund eines westfälischen Standesbeamten namens Hermenegild Krautwurst wird man freilich noch heute stutzig werden.26 Der französische Ethnologe Bernard Saladin d’Anglure bezeichnet den Namen des Menschen zu Recht als „fait social total“ (im Sinne von Émile Durkheim).27 Soziologen wie Gabriele vom Bruck und Barbara Bodenhorn betreiben inzwischen eine „anthropology of naming“.28

22 Boeschoten (2008), S. 67. 23 Die Akebu in Togo besitzen einen Ausdruck für die professionelle Kunst des „sculpter un nom“, die Namenkomposition. „Il s’agit en effet de faire correspondre le nom avec quelque chose: une pensée, une circonstance, un évènement, une description. La sculpture du nom est un art qui participe d’un système complexe de communication“. So entsteht etwa ein Name wie Adumaku mit der Bedeutung „Seul Dieu donne la grâce.“ Vgl. Akotia (2006), S. 47. Die Konzentration der germanischen PN, Namen einer Kriegergesellschaft, auf wenige semantische Felder lässt sich durchaus als Versuch der Namengeber bewerten, ‚Kommunikation‘ mit gesellschaftlich relevanten Sphären aufzunehmen. 24 Kunze (2004), S. 27; Haubrichs (2008), S. 108. Das kann bis zu gewollt komischen Effekten in Satznamen führen, wie bei dem Hörigennamen Teneursolu (‚Halt das Bärlein‘) in der Umgebung des Bischofs Remigius von Reims († 533). Vgl. Haubrichs (2009d), S. 314. 25 Nicolaisen (1999), S. 227. 26 Vgl. Debus (2007), S. 443. Bei Hermenegild handelt es sich übrigens um einen wisigotischen Königssohn († 585), der um seines katholischen Bekenntnisses willen zum Märtyrer wurde. Die Namenwahl der Eltern des Herrn Krautwurst war also eindeutig von einem Bekenntnis zum katholischen Glauben motiviert. 27 Saladin d’Anglure (2006). 28 Vgl. Bruck (2006); Bodenhorn (2006). In diesem ethnosoziologischen Werk spielt die Notation von „kinship“ mittels „naming“ eine bedeutsame Rolle (z.B. S. 20ff.).

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2 Personennamen besitzen eine semiotische Ikonizität und sie besitzen Funktionen. Zum Beispiel bilden die germanischen Personennamen (PN) Gender ab, einmal durch die Verwendung grammatisch maskuliner oder femininer Endglieder, zum andern durch die Movierung (grammatische Transformation) von maskulinen in feminine Elemente.29 So sind in westgermanischen, die Sprachgemeinschaften der Angelsachsen, Friesen, Sachsen, Franken, Thüringer, Alemannen, Baiern, Langobarden etc. umfassenden Namensystemen einige feminine Substantive als Endelemente oder Zweitglieder von Frauennamen überaus beliebt, die in ihrer Langform morphologisch und semantisch wie germanische oder deutsche und englische Komposita (All-macht, Dampfkraft, eigen-mächtig, free-dom, air-craft, steam-ship usw.) funktionieren: (1) (2) (3) (4)

*-hildi/*hildjo¯ ‚Kampf‘ (etwa Ger-hild)30 *-gunpi/*-gunpjo¯ ‚Streit‘ (etwa Kuni-gund)31 *-pru¯di ‚Kraft‘ (etwa Ger-trud)32 *-berga- < germ. *bergo¯ ‚Schutz, Berge‘ (etwa Kuni-berga)33

Ohne weiteres verwendbar waren auch feminine Formen von Adjektiven, mit – gegenüber maskulinen PN – ursprünglich oft speziellem semantischem Gehalt: (5) (6) (7) (8)

*-fle¯da- > ahd. fla¯d ‚sauber, hübsch‘ (z.B. Schwester Chlodwigs Albo-fledis)34 *-frı¯da- ‚schön‘ (z.B. Amala-frı¯da)35 *-niwja < *neuja- ‚jung, neu‘ (z.B. Adal-niuwa)36 *-lenpa > ahd. -lindi ‚mild, sanft‘ (z.B. in der bairischen Dynastie Theodo-linda)37

29 Zur Movierung vgl. u.a. Schramm (1957), S. 122–140; Sonderegger (1997), S. 15–18. Vgl. auch das Material bei Goetz (1996): Diese Arbeit bringt wichtige statistische Ergebnisse, die durch eine philologisch intensivere Neuinterpretation noch zu evaluieren wären. 30 Orel (2003), S. 168 (*heldiz, *heldjo¯); Kaufmann (1968), S. 185. 31 Orel (2003), S. 146 (*gunPz); Kaufmann (1968), S. 158f. 32 Orel (2003), S. 428 (*Pru¯Piz); Kaufmann (1968), S. 98f. 33 Orel (2003), S. 42; Kaufmann (1968), S. 58f.; Kluge/Seebold (2002), S. 111 und 407 (Herberge). Mit den Frauennamen sind zu vergleichen Bildungen wie ahd. as. heri-berga ‚Heer-Schutz, Herberge‘, ae. heáfod-beorg ‚Kopf-Schutz, Helm‘, ahd. hals-berga ‚Hals-Schutz‘ usw. 34 Kaufmann (1968), S. 117; Kluge/Seebold (2002), S. 942 (Un-flat). Es sind zu vergleichen ae. flaed, mhd. vla¯t ‚Sauberkeit, Glanz, Schönheit‘. 35 Orel (2003), S. 115; Kaufmann (1968), S. 125f. Es sind zu vergleichen an. frı¯dr ‚schön‘, ae. frı¯d-hengest ‚stattlicher Hengst‘. Westgerm. Frauennamen auf -frida können in einigen Fällen auch als Movierungen des maskulinen Elements *-fripu ‚Frieden‘ aufgefasst werden. 36 Orel (2003), S. 284f.; Kaufmann (1968), S. 267; Kluge/Seebold (2002), S. 650. 37 Orel (2003), S. 241; Kaufmann (1968), S. 237; Kluge/Seebold (2002), S. 576.

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In anderen, auch früh schon häufigen Fällen wurden grammatisch ursprünglich maskuline Endglieder in feminine grammatische Formen überführt, eben ‚moviert‘: (9) m. Adal-berht > f. *-berhta ‚die Glänzende‘38 (10) m. Hild-ra¯d/t > f. *-ra¯da ‚Rat‘ (vgl. auch Theodo-rata in der bairischen Dynastie der Langobarden)39 Wir dürfen also bei den femininen PN der germanischen Sprachwelt von einem gewollten Gleichlauf zwischen Gender und grammatischer Form sprechen. Überhaupt muss man, um die germanischen Namensysteme zu verstehen, die Bauformen germanischer PN verstehen, die grundsätzlich für Männer- und Frauennamen gelten.40 Man kann (in einer für unsere Zwecke ausreichenden Differenzierung) folgende Typen unterscheiden: a) zweistämmige (bithematische), also aus zwei lexikalischen Elementen zusammengesetzte PN (auch ‚Vollnamen‘ genannt), die morphologisch den Komposita gleichen, z.B.: (11) Hildi-brand < *hildjo¯, *hildi- ‚Kampf‘ + *-branda- ‚(flammende, brennende) Klinge, Schwert‘,41 was einen sprechenden Namen mit der Bedeutung ‚KampfSchwert‘ ergibt b)

einstämmige (monothematische), also aus einem lexikalischen Element mit Hilfe eines Suffixes abgeleitete PN (auch ‚Kurznamen‘ genannt), die morphologisch unseren Ableitungen, z.B. ahd. butil ‚Aufbieter, Büttel‘ < westgerm. *bud-ila-, Nomen agentis zu germ. *bud-a- ‚bieten‘42 plus l-Suffix,43 z.B.:

(12) Hild-ilo < *hildjo¯, *-hildi- ‚Kampf‘ + (hypokoristisches) Suffix -ilo c)

Beinamen, die durchaus den lat. cognomina, später supernomina gleichen, und sich zum alleinstehenden PN verselbständigen können:

38 Orel (2003), S. 42; Kaufmann (1968), S. 59. 39 Orel (2003), S. 303f.; Kaufmann (1968), S. 281; Kluge/Seebold (2002), S. 745. 40 Einen guten Überblick gibt Sonderegger (1997). 41 Orel (2003), S. 54; Kaufmann (1968), S. 70. Aus dem appellativen Wortschatz sind vor allem zu vergleichen ae. brand ‚Schwert‘, an. brandr ‚Schwertklinge‘, mhd. brant ‚Schwert‘ und – für das Langobardische zeugend – ital. brando ‚Schwert‘. Vgl. Cortelazzo/Zolli (1999), S. 244. 42 Kluge/Seebold (2002), S. 164. 43 Mit den Suffixvariationen eines gegebenen Wortstamms sind die spätantik-lateinischen Namenvariationen wie Valens – Valentinus – Valentinianus etc. durchaus zu vergleichen.

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(13) Hamar zu germ. *hamara- ‚Hammer‘44 (vgl. rom. Martellus im Beinamen des karolingischen Hausmeiers des 8. Jahrhunderts Karl Martell) Die Bauformen germanischer PN (Komposita, suffigale Ableitungen, Beinamen aus Appellativa) zeigen, dass diese als Wörter aufgefasst wurden, also potentiell Bedeutung generierten,45 was sich am Beispiel Chilperichs schon zeigen ließ, aber auch an der Benennung Chlothars II. nach seinem Großvater (Evokation von Namenbedeutung und zugleich Imitation des Namenträgers) deutlich wird. An dieser Stelle geht Bedeutungsgenerierung über in Funktionalität. Das germanische Namensystem kodiert – wie auch andere Namensysteme46 – u.a. Verwandtschaft. Dass es eine durchaus eigenständige Art und Weise der Codierung aufweist, zeigt ein vergleichender Blick auf das römische und das semitische Namensystem. Im römischen Namensystem wird die Notation der Verwandtschaft durch die Gentilnamen – etwa Cornelius, Iulius, Flavius – geleistet, später auch durch familiär vererbte cognomina, also etwa Cornelius Scipio.47 Im semitischen Namensystem wird Verwandtschaft (und zwar Deszendenz und Aszendenz) primär durch die Beigabe des Vaternamens, wie David ben Gurion (‚Sohn des G.‘) oder des Sohnnamens, wie etwa beim Namen des berühmten muslimischen Mathematikers Abu Dschaafar Muhammad Ibn Musa al Chwarizmi (‚Vater des D. M., Sohn des Moses, der Mann aus Choresmien‘) angezeigt,48 was auf weiter vorangehende Generationen ausgedehnt werden kann. Prinzipiell war im germanischen Sprachbereich auch eine patronymische oder metronymische Markierung möglich, wie es auch heute noch an der isländischen Namenpraxis Elmar Gunnarson (‚Gunnars Sohn‘) oder Helga Sigursdottir (‚Sigurds Tochter‘) und der gleichzeitigen und zu heutigen Familiennamen führenden norddeutschen und skandinavischen Praxis (Friedrichsen = ‚Sohn des Friedrich‘, Hansen = ‚Sohn des Hans‘) deutlich wird.49 Doch haben die frühen germanischen Namensysteme zu anderen, keineswegs selbstverständlichen oder trivialen Lösungen gegriffen, die in ihrer sprachlichen und geschichtlichen Besonderheit und Bedingtheit beschrieben und erklärt werden müssen. Gefordert ist also eine kleine Formentypologie der verwandtschaftsindizierenden Funktionen der germanischen Namen.

44 Orel (2003), S. 158; Kluge/Seebold (2002), S. 389. 45 Vgl. Debus (2007), S. 437ff. Die Bedeutsamkeit der Namen zeigt sich indirekt, damit aber umso charakteristischer, in der sog. Argait-Episode, in der durch falsche Abtrennung das ehrenrührige Schimpfwort arg(a)- ‚feige, weibisch‘ gegenüber einem langobardischen Krieger gewonnen wird, das von diesem so persönlich ernst genommen wird, dass er sich zu einer Verzweiflungstat hinreißen lässt. Vgl. oben Anm. 5 und 9. Bezeichnend ist, dass bei Prokop im 6. Jh. ein Soldat germanischer Provenienz sowohl *Hild-wulf ‚Streit-Wolf‘ als auch *Gund-wulf ‚Kampf-Wolf‘ genannt werden konnte. Vgl. Reichert (1987), 1, S. 401 und 431; Haubrichs (2004b), S. 87; Jochum-Godglück (2010), S. 211. 46 Vgl. dazu kulturvergleichend Mitterauer (1993), S. 367–403; Althoff (1997). 47 Vgl. Fränkel (1935); Doer (1937); Castritius (1997); Solin (2002). 48 Lerch (2011). Vgl. zu islamischer und jüdischer Namengebung Mitterauer (1993), S. 183–202. 49 Vgl. Kunze (2004), S. 72–83.

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3 Der wichtigste diese Funktionen wahrnehmende Form-Typus besteht beim germanischen Namensystem in der Va r i a t i o n , die wieder verschiedene Möglichkeiten eröffnet.50 Die Namenvariation ist nicht auf das germanische PN-System begrenzt. Gerade im spätantiken Kontaktsystem der römischen Namen gibt es ähnliche (auch semantisierte), freilich – den Gesetzen der lateinischen Sprache gemäß – auf Suffixvariation beschränkte Tendenzen. Man vergleiche z.B. parentale Reihenbildungen wie Constant-ius, Constant-inus, Constans, Constant-ia etc. (zum Adjektiv constans ‚beständig‘), oder Valens, Valent-inus, Valent-in-ianus (zum Adjektiv valens ‚kräftig‘).51 A) Typ 1 ist die Front-Variation, d.h. die manchmal in Familien ausschließlich geübte Variation des Erstelements eines Namens. Schon das althochdeutsche ‚Hildebrandslied‘ (um 830/40 in Fulda nach Vorlage des 8. Jahrhunderts aufgezeichnet)52 liefert uns eine klar über drei Generationen verteilte Serie dieses Variationstypus: Großvater Heri-brand (‚Heer-Schwert‘), Vater Hilde-brand (‚Kampf-Schwert‘), Sohn Hadu-brand (‚Streit-Schwert‘).53 Wir finden Front-Variation aber deutlich auch in der realen Praxis, z.B. bei der Familie des langobardischen Königs Liutprand (712–744):54

50 Eine der Möglichkeiten, die die Variation eröffnet, ist die Berücksichtigung der mütterlichen Linie der Verwandtschaft in der onomastischen Repräsentation. Hierzu Le Jan (1995), S. 186. Oft wird ferner behauptet, dass die Variation als Instrument der Verwandtschaftsindikation die semantische Durchsichtigkeit der Namen auflöse. Vgl. z.B. Geuenich (1997), S. 36. Dies ist jedoch nur in einem sehr eingeschränkten Sinne der Fall. Sicher hat das Spiel mit der Variation zunehmend auch sinnleere Namen hervorgebracht. Doch grundsätzlich ließ auch die Variation, die von Anfang an auch im Zeitalter primär sprechender Namen gebraucht wurde, die Bildung sinnvoller PN zu – wie etwa die Reihe des ‚Hildebrandliedes‘ Heribrand, Hilde-brand, Hadu-brand (vgl. unten bei Anm. 53) deutlich zeigt. Für das allmähliche Unverständlichwerden der ‚germanischen‘ PN war mindestens ebenso stark der Umstand verantwortlich, dass die archaischen und erlesenen Wörter, welche diese Namengebung verwandte, oft schon im Althochdeutschen selten wurden oder gar ausstarben. 51 Vgl. z.B. die Inschrift des Grabbaus von Widdertshäuschen, Gde. Serrig (Kr. Trier-Saarburg): Familie mit M. Restionius Restitutus, M. Restitutius Auroria(nus) und Restituatia Auro(riana). Vgl. Kuhnen (1999), S. 142. In CIL (Mommsen 1873), 3, 1, Nr. 8018, S. 1421, sind als Kinder von Julius Herculanus und Julia Vivenia genannt Julius Marcianus, Julius Marcellinus, Julia Marcia und Julia Eraclia (griech. Entsprechung zu Hercules). Vgl. Kajanto (1966), S. 20. Der Konsul des Jahres 371 mit Namen Sextus Claudius Petronius Probus hat als Vater Petronius Probinus und als Großvater Petronius Probianus; mit seiner Frau Anicia Faltonia Proba hat er die Namenelemente der Eltern aufnehmenden und variierenden Kinder Anicia Proba, Anicius Hermogenianus Olybrius (mit Einbezug der Namen der beidseitigen Großväter) und Anicius Patronius Probus. Vgl. Heinzelmann (1977), S. 23. 52 Steinmeyer (1916), S. 1–15. 53 Vgl. Haubrichs (1995b), S. 116–127. 54 Jarnut (1982), S. 80–101; Haubrichs (2005a), S. 90. Francini (2007) analysiert Liut-prand als „spada degli uomini (del seguita)“ zu germ. *leuda- ‚freier Mann‘, im Plural ‚Volk‘. Die weiteren speziellen Folgerungen zur Namenmotivation, insbesondere zur Verbindung mit König Liut-pert, dessen nutritor Ansprand, der Vater Liutprands war, sind möglich, aber nicht zwingend. – Eine Parallele zur Varia-

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Die variierten langobardischen -brand-Namen – darin vergleichbar dem ‚Hildebrandslied‘ – ergeben durchaus mentalen Sinn in der Werte-Welt einer kriegerischen Adelsgesellschaft: Ans-prand ‚Helden- oder Götter-Schwert‘, Sigi-prand ‚SiegSchwert‘, Liut-prand ‚Volks-Schwert‘, Hildi-prand ‚Kampf-Schwert‘ und Agi-prand ‚Schreckens-Schwert‘. Daneben steht in dieser sicherlich schon bilingualen Familie ein römischer, zu lat. aurum ‚Gold‘ abgeleiteter Frauenname, d.i. Aur-ona. Und hier kann man dann beim Sohn Au[r]-funs mit seinem Hybridnamen (zu germ. *-funsa‚aptus, bereit‘) sehen, wie die dem römischen Namensystem einzig mögliche End-Variation mittels Suffix beibehalten wird. Das Element lat. aurum konnte um so leichter ins germanische Namensystem diffundieren, als ihm germ. *auza- > westgerm. *aura‚Glanz‘ nahestand.55 Eine ausgeprägte Frontvariation finden wir auch in einer ostgermanischen, wisigotischen Königsfamilie, der Familie des Königs Leovigild (568–586) und seines Vorgängers (und eventuellen Verwandten) Liuva:56 (15)

tion im Königshaus bietet ein Urkundenregest von 770/71 aus dem Dukat von Benevent (CDL [Zielinski 1986–2003], 5, Nr. 10) mit Ansprand, Vater des Anso und des Aliprando. 55 Francovich Onesti (1999), S. 183f. 56 Vgl. Kampers (2008), S. 173–182.

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Das stabile, invariante Element in dieser Familie ist ostgerm. *-gilda- ‚Belohner, Vergelter‘ zu germ. *gelda-, das auf die Fürstentugend der Freigebigkeit und die Pflicht zur Belohnung von Diensten zielt,57 so dass sich in diesem Falle eine semantisch durchaus deutbare Variationsreihe Athana-gild (zwei Personen) ‚eifriger, beständiger Spender‘ (mit n-Erweiterung zu germ. *aPa ‚continuus‘),58 Leovi-gild (zu germ. *leuba- ‚lieb, geliebt‘, got. liufs), gespiegelt im sprachlich ostgerm. Brudernamen Liuva,59 Ermene-gild ‚erhabener Spender‘ (zu germ. *ermena- ‚groß, erhaben, augustus‘)60 ergibt. Die Frontvariation war außerordentlich beliebt. Im durch viele reichhaltige Originalurkunden ausgezeichneten langobardischen Namenbestand61 kann man sie in mindestens 52 Fällen vor 774 nachweisen,62 von denen hier – da schon an anderem Ort publiziert63 – nur ein einziger Fall (a. 773 or. Lucca) erwähnt wird, und zwar wegen seiner Systematizität: (16)

Ob sich in dieser Variationsreihe mit dem invarianten Element lgb. -pert < germ. *berhta- ‚leuchtend, illustris, berühmt‘ noch eine sinntragende Namenreihe herstellen lässt, erscheint – vor allem auch wegen des Hybridnamens Dulci-pert zu lat. dulcis ‚süß‘ – durchaus fraglich. Zwar ließe sich der PN des Vaters als ‚berühmt als Held‘ (zu germ. *ansu- ‚Halbgott, heros‘; vgl. die gotischen ansis des Jordanes)64 interpretieren; doch zu heterogen erscheinen die Erstelemente in den Namen der Söhne, so dass wir hier schon mit reiner Indikation der parentela rechnen müssen. Im fränkisch-elsässischen Bereich besitzen wir aus den Weißenburger Urkunden für Elsass und Saargau im 8. Jahrhundert ein ähnlich gutes Beispiel mit der Familie

57 Orel (2003), S. 130f.; Kluge/Seebold (2002), S. 343; Lloyd/Lühr/Springer (2009), 4, Sp. 152–155; Kaufmann (1968), S. 146f. Neben der Bedeutung ‚vergelten, rächen‘ und (wohl selten) ‚opfern‘ hat das Zweitglied als Grundart eines Kompositums wohl vor allem die Bedeutung ‚geben, belohnen, bezahlen‘ im Sinne der Fürstentugend der Freigebigkeit. 58 Vgl. Wagner (1989); Wagner (1999), S. 256. 59 Orel (2003), S. 241; Kluge/Seebold (2002), S. 574; Kaufmann (1968), S. 229–231. Die Formen mit spiegeln die gotische Lautung, ist latinisierend archaische Schreibung. 60 Schönfeld (1911), S. 76f.; Kaufmann (1968), S. 108f. 61 CDL (Schiaparelli 1929–1933); CDL (Brühl 1973–1984); CDL (Zielinski 1986–2003). 62 Vgl. Haubrichs (2009b), S. 224–228. 63 Vgl. auch wegweisend bereits die Sammlungen von Jarnut (1972). 64 Orel (2003), S. 21; Kluge/Seebold (2002), S. 35f.; Bammesberger (1996). Vgl. dazu ae. e¯sa (Gen. Plur.), an. áss ‚Götter‘, aber bereits Jordanes, Getica (Mommsen 1882), S. 146, gotolat. ansis < got. *anseis ‚Halbgötter, heroi‘.

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um die Brüder Wic-bald (mit Söhnen Rich-bald und Ger-bald) und Rat-bald (mit Sohn Sigi-bald).65 B) Typ 2 ist die End-Variation, d.h. die Variation des Zweitelements eines PN. Zumindest in dem überwiegend aus dem 8. Jahrhundert stammenden langobardischen Material ist sie ebenso verbreitet wie Typ 1, mit 51 Belegen vor 774,66 von denen hier nur wenige als Beispielfälle angeführt seien, z.B. in zwei Urkunden a. 730 Pavia (kop. 753/57 Lucca) und 739/40 or. Lucca: (17)

Auch hier ist kaum noch eine sinnvolle Variationsreihe rund um das invariante Element *hro¯Pa-/*hro¯da- ‚Ruhm‘67 herzustellen. Aus der ‚Historia Langobardorum‘ des Paulus Diaconus68 stammen Informationen zur Familie des friaulischen dux Bemmo und seiner zum Königtum gelangten Söhne Ratchis (744–749) und Haistulf (749–756):69 (18)

Hier ist ganz offensichtlich das Namengut der wohl aus vornehmer Familie stammenden Gattin des Bemmo (für die Söhne) mit dem invarianten Element rat ‚Rat, consi-

65 Vgl. Alter (1959); Haubrichs (1983), S. 269f., Nr. 45, und S. 271, Nr. 50/51; Staab (1980), S. 83ff.; Le Jan (1995), S. 197 (mit problematischer Rekonstruktion); neuerdings Hummer (2005), S. 111–113 (leider mit unzureichender Kenntnis der neueren Forschung). 66 Haubrichs (2009b), S. 228–231. Ein weiteres beachtliches Beispiel für die Verbreitung der Endvariation im langobardischen Italien findet sich in einer Urkunde a. 787 (or.) aus Iustiniano bei Populonia; ausgestellt von Lup-ulo, Sic-ulo, Sichi-prand, Söhne des Sichi-pert, mit um das feste Element *sigu‚Sieg‘ gruppierten Variationen. Vgl. Wickham (1978), S. 185–188. 67 Orel (2003), S. 188; Kaufmann (1968), S. 202f. 68 Paulus Diaconus, Hist. Lang. (Waitz 1878), VI, 26, S. 224. 69 Menghin (1985), S. 198–200; Jarnut (1982), S. 106–111; Haubrichs (2009b), S. 228. Vgl. CDL (Brühl 1973–1984), 3/1, S. 311.

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lium‘ < *raeda aufgenommen (kaum hra¯d ‚schnell‘)70 und mit den im langobardischen Namensystem häufigen Bezeichnungen der arma sacra *gis(il)- und *gaida- ‚Schaft und Spitze des Pfeils‘71 in langobardischer Orthographie verbunden, später auch im Namen der Tochter König Ratchis’ aufgenommen worden. Erneut freilich muss man daran zweifeln, dass außer bei den Frauennamen Rat-berga ‚Schützerin des Rats‘ und Rat-trud ‚Rat-kraft‘ noch volle Bedeutung tragende PN intendiert waren. Auf der Grenze zwischen Frankenreich und Italien im pagus von Grenoble wird 739 im Testament des Abbo eine Familie bekannt, die der liberta Sanctitilda (Hybridname aus lat. sanctus und – assimiliert mit dem [t] des Erstelements – aus germ. *hilda < *hildjo¯ ‚Kampf‘), deren erste vier Kinder die in Endvariation gehaltenen, um das stabile Element -sigu ‚Sieg‘72 gruppierten Namen Sicu-fredus, Sigi-ricus, Sicu-mares und Sigi-lina (Hybridname mit rom. Suffix) tragen, während die zweite Tochter den Traditionsnamen Helena hat.73 Ebenfalls aus komplexem Milieu stammt das Beispiel einer hybriden und romanisierten Namengebung, aufgezeichnet im Polyptique de Saint-Germain-des-Prés für einen Ort in der Normandie (Boissy-Maugis), das Beispiel der Familie der Anastasia,74 deren Eltern die Namen Frot-veus (mit rom. Lautersatz [fr] für [hr] aus germ. *Hro¯P(a)-wı¯ga- ‚Ruhm-Krieger‘) und Ans-fringa (zu einem wohl ebenfalls schon romanisierten Zweitelement) trugen. Da Anastasia, das im Polyptichon auch als Anstasia verschriftet wird, der realen Aussprache nach als Ans-tasia segmentiert werden konnte, lässt sich eine Beziehung knüpfen zu Ans-fringa, wo das Erstelement eigentlich zu germ. ansu zu stellen ist,75 aber offenbar auch mit den initialen Elementen des graecolateinischen Namens der Tochter verbunden werden konnte. Man sieht deutlich, wie sich die Regeln der germanischen Namengebung allmählich zugunsten von etwas Neuem, Galloromanischem auflösen. Bei den Kindern vollzieht sich dann etwas an noch gewusster Variation, wobei zunächst das schon romanisierte Element *frot- des Großvaternamens festbleibt, bei den Söhnen Frot-bertus, Frot-landus und der Tochter Frot-berta, während die zweite Tochter Ans-berta den Namen der Mutter/Großmutter aufnimmt und zugleich das Zweitelement *-bert- der Geschwister.76 C) Typ 3 ist die Kreuz-Variation, d.h. eine familiäre Kombination von Variationen des Erst- und des Zweitelements. Sie tritt im langobardischen Material in deutlich gerin-

70 Orel (2003), S. 303; Kluge/Seebold (2002), S. 745; Kaufmann (1968), S. 281. 71 Haubrichs (2005a), S. 84. 72 Orel (2003), S. 322; Kluge/Seebold (2002), S. 847; Kaufmann (1968), S. 311–313. 73 Geary (1985), S. 66. 74 Vgl. Schorr (2009), S. 889. 75 Vgl. oben Anm. 64. 76 Schorr (2009) vertritt die Ansicht, dass -bert möglicherweise zu diesem Zeitpunkt (frühes 9. Jh.) bereits auf dem Wege zu einem gallorom. Suffix war.

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gerer Frequenz auf (8 Fälle vor 774), was zum Teil aber auch daran liegen kann, dass sie erst in mehr als zwei Generationenabfolgen deutlicher wird und solche Filiationen auch in den langobardischen Quellen selten überliefert sind.77 Als Beispiel mag die Familie des Waltpert dux, fassbar in zwei Urkunden von a. 727/28 (kop. Pugnano, Pisa) und a. 754 (kop. 755/58), dienen: (19)

Eigentlich sind in dieser Familie – in zwei Generationen – alle Typen der Variation vertreten: Endvariation zwischen Vater Walt-pert und dem später zum Bischof arrivierten Sohn Walt-prand, Frontvariation zwischen den Brüdern Walt-prand und Pertprand sowie die Kreuzvariation des Namenelements *berhta- zwischen Vater und den Söhnen Perti-funs und Per[t]-prand. Es ergibt sich der Eindruck einer intensiven onomastischen Integration der Familie durch das differenzierte Spiel mit den drei möglicherweise in der Familie traditionellen lexikalischen Elementen *walda- ‚Herrscher‘, *berhta- ‚leuchtend, berühmt‘ und *branda- ‚Schwert‘. In drei Urkunden (a. 755 or. Griciano, a. 755 or. bei Lucca, a. 758 or. Lucca) lässt sich die Familie des Gauspert rector der Kirche von San Frediano in Lucca fassen, wobei ausgerechnet er – soweit ersichtlich – außerhalb der onomastischen Integration der Familie bleibt: (20)

77 Haubrichs (2009b), S. 231f. Eine für die Kombination matrilinearen und patrilinearen Bewusstseins in frühmittelalterlichen Familien aussagekräftige Abart ist die Kombination von Namenelementen der Mutter und des Vaters: So heißt der Sohn der Theude-sinda und des Grim-oald (Sohn Pippins II.) folgerichtig Theud-oald. Vgl. Collins (1994), S. 229–235. – Eine besondere Abart der Kreuz-Variation ist die Inversion von PN, z.B. bei Helm-gaud, Graf von Meaux um 750, mit Sohn Gauzhelm, Enkel Helm-gaud und Urenkel Gauz-helm; oder in der bairischen Dynastie der Langobardenkönig Hari-bert mit Sohn Bert-hari. Vgl. Le Jan (1995), S. 206.

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Wieder sind es drei wohl traditionelle lexikalische Elemente, welche die Onomastik der Familie bestimmen: die arma sacra der Langobarden, das sind *gaida- ‚Pfeilspitze‘ und *branda- ‚Schwert‘, schließlich *hro¯d- ‚Ruhm‘. Eine noch vielfältigere Variation zeigt die mit sieben Söhnen gesegnete Familie des Magnifrid Russus (8. Jh. Paterno), der einen langobardisch-romanischen Doppelnamen trägt:78 (21)

Während die invarianten Elemente lgb. *tan- < germ. *danwo¯ ‚Tanne, Lanze‘ (?)79 in Tan-ulo (rom. Suffix) und Tani-fred und *theuda- ‚Volk‘ in Teud-ulo, Teut-pert sowie Teu[t]-frid mit Endvariation bedacht wurden, ist das Zweitelement des Vaternamens *fridu- ‚Frieden‘ nur im Erstelement variiert worden. Wir haben also eine Mischung von Front- und Endvariation vor uns, an der auch romanische Elemente (Suffix -ulus) beteiligt sind. Der einzige romanische PN Maurus in der Familie ist wiederum dem Vaternamen Magni-frid durch Alliteration verbunden.

4 Der Verwandtschaftsindikation dient in den germanischen Namensystemen auch ein ursprünglich aus der Dichtung ‚germanischer‘ gentes stammendes, quasi poetisches Mittel, eben die A l l i t e r a t i o n (Stabreim), d.h. die Bindung der Namen durch gleiche Anlaute.80 Diese Technik war – zusätzlich zur Frontvariation – bereits beim H-Stabreim der Hildibrand-Familie festzustellen: Heribrand, Hildibrand, Hadubrand. Sie zeigt sich auch beim Brüderpaar Hengist (‚Hengst‘) und Horsa (‚Ross‘), den kentischen Landnahme-Heroen.81 Als Cassiodor im frühen 6. Jahrhundert (vor 526) aus ver-

78 Vgl. CDL (Brühl 1973–1984), 3/2, premessa di Theo Kölzer, S. XI. 79 Kluge/Seebold (2002), S. 905; Kaufmann (1968), S. 91: „[…] würde unser PN-Stamm sich gut einreihen in die Stammgruppe, die den Stoff nennt, aus dem Waffen gefertigt werden (Esche, Linde, Eibe usw.)“. Auch lat. abies ‚Tanne‘ bedeutet zugleich ‚Lanze, Speer‘. Auf den Volksnamen der Dani ‚Dänen‘ geht die Mehrzahl der Dan-/Tan-PN jedenfalls kaum zurück. 80 Vgl. zum Gebrauch der Alliteration in frühen germanischen Namensystemen auch Goetz (1987), S. 874; Geuenich (1997), S. 42 (wo der CH-Anlaut – eigentlich H-Anlaut – leider fälschlich mit dem K-Anlaut in Carolus, Carlmann zusammengebracht wird); Haubrichs (2009b), S. 213. 81 Beda Venerabilis, Hist. eccl. (Spitzbart 1982), S. 58–61.

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schiedenen Traditionen die bis zu einem göttlichen Spitzenahn heraufführende Genealogie der gotischen Königsfamilie des Theoderich (471–526) konstruierte, fügte er auch eine mit W-Stabreim versehene Namensequenz ein, die mit dem mit innerem Stabreim versehenen, also besonders markierten Wult-wulf ‚Glanz-Wolf‘ (zu got. wulPus ‚Herrschaft, maiestas‘)82 beginnt und über Wala-ravans ‚Walstatt-Rabe‘ zu den parallel gebauten Winit-harius ‚Wenden-Krieger‘ und Wandal-harius ‚Wandalen-Krieger‘ führt.83 Berühmt ist die burgundische, im 5. Jahrhundert aufscheinende Königsfamilie der Gibichungen,84 die sich auf einen sonst nicht näher fassbaren Spitzenahn Gibica (‚Geber, Spender‘) zurückführt und in Rechtstradition und Heldensage Spuren bis ins 13. Jahrhundert und darüber hinaus hinterlassen hat:85 (22)

82 Orel (2003), S. 474; Kaufmann (1968), S. 417. 83 Jordanes, Getica (Mommsen 1882), XIV, 79, S. 77. Vgl. Wolfram (2001), S. 26–30. 84 Vgl. Kaiser (2004), S. 26–37. In Trier, auf einem Grabstein des späten 4. oder frühen 5. Jhs. (Kaiser [2004], S. 24), erscheint fragmentarisch eine weitere Königssippe mit dem kaiserlichen Leibwächter (protector dominicus) namens Hariulfus, Sohn des Hanhavaldus regalis gentis Burgundionum, samt seinem Onkel Reudilo (< *Hreud-ilo?), anscheinend ebenfalls mit Stabreim ausgezeichnet, diesmal mit einem H-Stabreim. 85 Kaiser (2004), S. 176–205. Vgl. Haubrichs (im Druck).

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Der direkte Zusammenhang zwischen älteren und jüngeren Gibichungen ist nicht ganz klar, aber letzten Endes angesichts der Berufung des Burgundenkönigs Gundobad auf die namentlich genannten antecessores im Königsamt im burgundischen Rechtsbuch des ‚Liber Constitutionum‘ (a. 517) doch gesichert. Es fällt auf, dass neben dem Stabreim auch die Variation, ja volle Nachbenennung eine bedeutsame Rolle spielen: *gisla- ‚Pfeil‘ (3x), *go¯da- ‚gut‘ (3x) und vor allem *gundi- ‚Kampf‘ (5x), das auch in der merowingischen Deszendenz der burgundischen Könige auf G aufgenommen wird. Auch im angelsächsischen Heldenepos ‚Beowulf‘ (v. 57ff.) begegnen durch Stabreim (und Variation) verbundene Genealogien, etwa der Skylding Healf-dene (‚Halb-Däne‘) mit den Söhnen Heoro-ga¯r (‚Schwert-Speer‘) – mit Sohn Heoro-veard (‚Schwert-Wart‘) –, Hro¯th-ga¯r (‚Ruhm-Speer‘) – mit Söhnen Hro¯th-rı¯c (‚Ruhm-Herrscher‘) und Hro¯th-mund (‚Ruhm-Schützer‘) – und Halga (‚der Unverletzliche‘) mit Sohn Hro¯th-ulf (‚Ruhm-Wolf‘). Auch Hygd (v. 1929) ist mit ihrem Vater Hereth (‚Harude‘) durch Alliteration verbunden. Weitere Beispiele ließen sich anfügen. Es ist den Techniken der Variation und der Alliteration zu verdanken, dass die verwandtschaftlichen Bindungen von Menschen den Zeitgenossen zumindest für die Oberschicht offenbar werden konnten, so wie es die bekannte Stelle des ‚Hildebrandliedes‘ (v. 8–13) in den Worten des Protagonisten ausdrückt:86

frohem uuortum, fireo in folche, ibu du mi enan sages, chind, in chunincriche

her fragen gistuont wer sin fater wari ‚eddo welihhes cnuosles du sis. ik mi de odre uuet, chud ist mir al irmindeot‘.

(Er begann zu fragen mit kargen Worten, wer sein Vater wäre, unter den Menschen im Volke, ‚oder welchen Geschlechtes bist du? Wenn du mir einen nennst, weiß ich die andern schon, Jüngling, kund ist mir alles Großvolk im Königreich‘.)

5 Ein Beispiel der Nutzung des Stabreims in der langobardischen Königssippe der Lethinge im Umkreis des in Böhmen residierenden Königs Wacho († 540)87 verweist auf einen weiteren Typus von Verwandtschaftsindikation, den der s e m a n t i s c h e n Va r i a t i o n , d.h. der Variation der lexikalischen Basen von Namen in ein und dem-

86 Steinmeyer (1916), Nr. 1, S. 1–15. Vgl. auch Jarnut (1997), S. 52. 87 Vgl. Menghin (1985), S. 32f.

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selben Wortfeld, wie wir es bei der Pferd-Variation der kentischen Landnahme-Heroen Hengist und Horsa bereits kennengelernt haben:88 (23)

Es wechseln also über drei Generationen Namen aus dem Wortfeld kriegerischer Tat und Gesinnung bei Claffo ‚Schläger‘ (mit Tenuesverschiebung zu *klap- ‚schlagen‘, ae. clappian ‚schlagen‘ (ahd. klapfo¯n)89 mit Söhnen Tato ‚Täter‘,90 Zuchilo ‚der (das Schwert) zückt‘ (zu ahd. zucken, mndl. tucken)91 und Enkel Wako ‚der Wache, der Tapfere‘ (zu germ. *wak-ae ‚wachen‘, got. wakan, as. wakon).92 Mit dem Vater des bedeutenden Langobardenkönigs Wacho93 tritt Stabreim an die Stelle der semantischen Va-

88 Haubrichs (2004b), S. 86–91, mit weiteren Beispielen. Besonders interessant für das auch semantische Verständnis früher germ. PN ist der Fall jenes germanischen Soldaten (6. Jh.) des byzantinischen Heeres, der einmal Hildulf (‚Kampf-Wolf‘) zu germ. *hildjo¯ ‚Kampf‘ und ein andermal Gundulf (‚Streit-Wolf‘) zu germ. *gunpo¯- ‚Streit, Kampf‘ heißen konnte (vgl. oben Anm. 45). Ein weiterer – freilich langobardisch-romanischer – Fall ist jener Audipertus qui et Argentio vocatur aus Pisa a. 765, dessen germ. PN als „der für seinen Besitz, Reichtum Berühmte“ zu deuten ist, dessen romanisches supernomen aber zu argentum (‚Silbergeld, Geld‘) zu stellen ist. Vgl. CDL (Schiaparelli 1929–1933), 2, Nr. 183. Ein rein romanischer Fall bietet sich mit Papst Deusdedit I. (‚Gott gab ihn‘), Sohn des Subdiakons Stephanus, der auch Adeodatus (‚von Gott gegeben‘) hieß (615–618). Vgl. Liber pontificalis (Duchesne 1886–1892), 1, S. 319f. – Dass noch lange bedeutungstragende Namen neu geschaffen werden konnten, zeigt neben christlichen Neuschöpfungen des 8. Jhs. im bairischen Raum und anderswo Störmer (1997), S. 218: den Kriegen gegen die mit den Hunnen identifizierten Ungarn verdankten sich die „noms de guerre“ des Hunin-ger (‚Hunnen-Speer‘) und seiner Söhne Hunin-wê (‚HunnenSchmerz‘), Hunin-leit (‚Hunnen-Leid‘) und Hunin-tot (‚Hunnen-Tod‘) um 980. 89 Vgl. Kluge/Seebold (2002), S. 491f., zu ae. clappian, ahd. klapfo¯n ‚schlagen‘. 90 Kluge/Seebold (2002), S. 907, zu germ. *daedi-, ahd. ta¯t ‚Tat‘; hier ein Nomen agentis auf -o¯n. 91 Kluge/Seebold (2002), S. 1017. 92 Kluge/Seebold (2002), S. 966; Kaufmann (1968), S. 372f. 93 Jarnut (1982), S. 20–22.

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riation: seinen Sohn nennt er Walt-hari ‚herrschender Krieger‘, seine Töchter Wisi-garda und Walde-ra¯da. Der neue, erfolgreiche Zweig der Dynastie gibt sich eine neue Onomastik.94 Ein ähnliches Muster – verbunden mit der Variation – ergibt sich bei den Franken in der Familie der Gründer des Klosters Rebais (a. 635), Aut-harius und seiner Nomina agentis tragenden Söhne Ado (‚der Beständige‘ zu germ. *ada- ‚continuus‘), Rado (‚der Ratgeber‘ zu germ. *raedi-, ahd. ra¯t, as. ra¯d ‚Rat‘) und Aud-oenus Dado (‚der Täter‘ zu germ. *daedi-, ahd. ta¯t, as. da¯d ‚Tat‘), des späteren Bischofs von Rouen (641–684). Alle drei Namen sind in semantischer Variation im Wortfeld adliger Werte angesiedelt.95

6 Die Techniken der Verwandtschaftsindikation durch Variation, Stabreimbindung und die später noch genauer zu behandelnde Nachbenennung werden – wie zu erwarten war – in den Sippen der Herrschaftsträger, besonders in den stirpes regiae, politisch instrumentalisiert.96 Onomastische K o n t i n u i t ä t e n – schon zu sehen an der burgundischen Königssippe – werden benutzt zur Identitätsbildung und zur Sichtbarmachung politischer, verwandtschaftsgestützter Koalitionen. So lässt sich die politische Allianz zwischen dem langobardischen Königsgeschlecht der Gausen (langobardische Form für ‚Gauten‘), welches das der Lethinge ablöste und mit Audoin († um 560) die Expansion der Langobarden nach Pannonien vollzog,97 und den Merowingern Chlothars I. (511–561) auch onomastisch deutlich machen:98 (24)

94 95 96 97 98

Vgl. zu den Etymologien ferner Haubrichs (2005a), S. 86, Anm. 97. Vgl. Ebling (1974), Nr. CXLI, S. 124–126; Nr. CCLVII, S. 201; Le Jan (1995), S. 195. Vgl. zur „policy of naming“ Bodenhorn (2006), S. 11ff. Vgl. Menghin (1985), S. 57ff.; Jarnut (1982), S. 22–26. Vgl. Ewig (1991).

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In beiden Familien war die Namenvariation Praxis: Der Gause Audoin < *Auda-wini (‚Freund des Reichtums‘) gab das Zweitelement germ. *winiz ‚Freund‘99 an seinen Sohn Alboin < *Alb-wini- (‚Freund der Alben, Elfen‘) weiter. Chlothar < *Hlud-hari (‚Ruhm-Krieger‘), Sohn des Chlodwig, gab sein traditionelles Erstelement an die Tochter Chlot-swinda (‚Ruhm-Stärke‘) weiter.100 Sie wird als Garantin der langobardisch-fränkischen Allianz Gattin Alboins. Die gemeinsame Tochter erhält den programmatischen Namen Alpswinda < *Alb-swinPa (‚Alben-Stärke‘), wobei man sich dabei offensichtlich noch des dämonischen Wesens des Geschlechts der Alben bewusst war. Ähnlich ist die Aufnahme burgundischen Namenguts in der Deszendenz Chlodwigs zu bewerten:101 (25)

Sehr deutlich wird hier, dass die Chlodwig-Familie zunächst das onomastische Erbe der burgundischen Königsfamilie, vermittelt durch Chilperichs Tochter Chrodechild, nicht aufnahm, sondern vielmehr das merowingische Namenerbe Chlodios und Childerichs, des Vaters Chlodwigs, mit den Namenelementen *hluda- ‚berühmt, laut‘, *hildi- ‚Kampf‘ und *me¯r- ‚berühmt‘. Erst in der Enkelgeneration der Chrodechild erscheinen in Nachbenennung der Name des Urgroßvaters Chilperich und zwei Mal das Kenn-Element *gundi- ‚Kampf‘, aber dieses in erstaunlicher Abwandlung: mit dem Namen des unglücklichen, von des Aetius Hunnen seinerzeit vernichteten

99 Orel (2003), S. 455 (weniz); Kaufmann (1968), S. 404–406. 100 Vgl. zu germ. *swinPa- Orel (2003), S. 394f. (*swenPaz, got. swinPs); Kluge/Seebold (2002), S. 351f. (ge-schwind); Kaufmann (1968), S. 336–338. 101 Vgl. Ewig (1991), S. 28f.; Scheibelreiter (2000), S. 249f.

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Vorzeitkönigs Gund-hari/Gunther, der wohl längst durch die Heldensage heroisiert war, aber in der burgundischen stirps regalis auffällig gemieden worden war; dazu die Neukreation Gunthram < Gund-hraban ‚Kampf-Rabe‘. Die in Burgund aktualen Namen Gundo-bad und Gundo-wech werden ihrerseits bei den Merowingern zunächst gemieden. Dennoch ist zu fragen, ob nicht die Anknüpfung an das Namengut der Gibichungen erst in der zweiten Generation auf die zunehmenden Aspirationen des Frankenreiches auf Burgund, die 534 zum Erfolg führten, zurückgeht. Es ist übrigens Gunthram, der 561 das Erbe der Burgunden in ihrem regnum antritt.102 Identitätsbildung durch onomastischen Systemwechsel lässt sich in der sog. ‚bairischen‘ Dynastie des langobardischen regnum beobachten.103 Sie nimmt ihren Ausgang von Garibald/Garoald, dem dux oder rex Baioariorum, dessen Tochter Theodolinda zunächst den langobardischen König Authari († 590) und nach dessen Tod den Herzog von Turin, Agilulf, einen Thüringer († 616), heiratet. Nach dem Tode des gemeinsamen Sohnes Adaloald († 626) kommt jedoch ein zweiter Zweig der Familie zum Zug, die Nachkommen von Theodolindes Bruder Gundoald († 612), der ins Langobardenreich emigriert war und dort das Amt des dux von Asti übernommen hatte. Während die Nachkommen der Theodolinde die alte Namenvariation um das invariante Element *-walda- ‚Herrscher‘ und die auch im Namen des Bruders präsenten Namenelemente *gundi- und *gar- < *gaira- ‚Speer, Ger‘ (mit ihrem G-Stabreim) bewahren, führen die Nachkommen Gundoalds eine über fünf Generationen reichende Genealogie mit Namen auf -bert (lgb. -pert) ein, in der einmal auch eine Kreuzvariation (Inversion)104 vorkommt (2x Haripert, Perthari, 2x Gundobert, Godepert, Cunipert, Reginpert).105

102 Ewig (1991), S. 56, Nr. 21; S. 57f., Nr. 23f. und 26; S. 60, Nr. 34: Gunthram hat um 548 einen Sohn mit Namen Gundo-bad. 103 Vgl. Menghin (1985), S. 109ff.; Jarnut (1982), S. 55–79; Haubrichs (2005a), S. 87f. 104 Es handelt sich dabei um Pert-hari, dessen Namen eine Inversion von (H)Ari-pert, dem Namen seines Vaters, darstellt. Die Form Pertharit ist nichts anderes – wie analog beim König Rothari (auch Rotharit) – als eine hyperkorrekte Form, die auf dem Hintergrund des Verstummens von auslautenden Konsonanten im Italoromanischen zu interpretieren ist. 105 Haubrichs (2005a), S. 87.

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Dass diese onomastische Identitätsgebung ein bewusster Akt war, sieht man gerade an der nicht maskulinen Deszendenz. Hariperts († 661) Tochter Theodo-rata, Gattin Grimoalds I., Herzog von Benevent, König 662–671, gibt ihrem Sohn, der im Jahre 671 für kurze Zeit König wird, den an die originäre Namentradition der bairischen Dynastie anknüpfenden Namen Garibald. Man war sich also um die Mitte des 7. Jahrhunderts beider Traditionen der bairischen Dynastie bewusst. Eine komplexe, aber von politischen Intentionen durchsetzte Struktur bietet die über acht und mehr Generationen beobachtbare Genealogie der Herzöge von Friaul und Benevent, die hier nur in Grundzügen erläutert werden kann:106

106 Haubrichs (2009b), S. 233.

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Die Familie beginnt, soweit wir beobachten können, mit in der germanischen Anthroponymie durchaus geläufigen -wulfa-PN, freilich z.T. mit besonderen Erstelementen versehen: Bill-ulf ‚Schwert-Wolf‘, Gis-ulf ‚Pfeil-Wolf‘, Gras-ulf ‚Schrei-Wolf‘ (mit Tenuesverschiebung zu germ. *gra¯t-, as. gra¯tan ‚weinen‘, mhd. gra¯zen ‚schreien, erregt sein‘).107

107 Kaufmann (1968), S. 434f.; Müller (1970), S. 122; anders Francovich Onesti (1999), S. 197.

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Als Hintergrund dieser Bildungen ist dabei die Vorstellung vom Krieger als Kampftier stets mitzudenken.108 Mit dem Paar Gisulf II. († 610) und Romilda < *Hro¯m-hild- (‚Ruhm-Kampf‘) beginnt Neues: Die Söhne tragen teils Kurznamen wie Taso und Cacco, aber auch zum ersten Mal Namen auf germ. *walda- ‚Herrscher‘: Rad-uald, dux in Benevent († 647), und Grim-uald, nach seinem Bruder ebenfalls zunächst dux in Benevent, später – nach Heirat mit der Königstochter Theodorata aus der bairischen Dynastie – auch rex der Langobarden († 671).109 In dieser zweiten Ehe erhält – wie schon erwähnt – der Sohn Garibald einen Traditionsnamen der bairischen Dynastie. Doch bei den Kindern aus erster Ehe mit einer Ita hat Grimuald I. mit den Namenelementen *(h)ro¯m- und *giswieder altes onomastisches Gut der eigenen Familie aufgenommen, in der nächsten Generation neben der Nachbenennung nach dem avus Grimuald sogar Vollnamen der Frühzeit: den Namen des Urahnen Gis-ulf und den Namen des cognatus [H]Ari-chis, dux von Benevent (um 590–640), der die Familie in verzweifelter Situation gerettet und die Position des Geschlechts in Benevent im 7. Jahrhundert vorbereitet hatte. Er war der paedagogus der Brüder Radoald und Grimoald: filiorum loco sunt habiti.110 Diese Namengebung setzt eine bewusste onomastische memoria der Familie voraus. Als besonders aussagekräftig erweist sich die Wahl des Namens Rom-uald (‚Ruhm-Herrscher‘) für seinen Sohn und Erben111 (dux in Benevent 687/89), eines Namens, der – genauso wie Gisulf – weiterwirken wird. Damit wird das Namenelement der Großmutter Rom-ilda < Hro¯m-hildis (‚Ruhm-Kampf‘) wiederaufgenommen. Paulus Diaconus erzählt nun aber von dieser Herzogsgattin eine Geschichte über die Katastrophe des Geschlechts, in der bei einem Einbruch der Awaren ins Friaul Herzog Gisulf II. im Jahre 610 umkommt und die überlebende Gattin als Verräterin von gens und Familie dargestellt wird, die sich mit einem Heiratsangebot beim Khan der Awaren anbiedert, letztendlich aber von diesem verschmäht, entehrt und auf grausamste Weise hingerichtet wird.112 Ihren Kindern freilich gelingen Flucht und Rückkehr. Es ist klar, dass Paulus Diaconus die Handlungsweise der Romilda scharf missbilligt. Doch war dies die einzige Möglichkeit, die Handlungsweise der Herzogsgattin nach dem Tod von dux und Gatten sowie nach der Vernichtung der Krieger aufzufassen? Keineswegs. Ihr angeblicher Verrat ließ sich auch als Versuch interpretieren, ihre acht Kinder vor der Auslöschung zu bewahren und damit die Fortexistenz des Geschlechts,

108 Schramm (1957), S. 77–79. 109 Menghin (1985), S. 131–135; Jarnut (1982), S. 58–61. 110 Paulus Diaconus, Hist. Lang. (Waitz 1878), IV, 39, S. 167. 111 Kluge/Seebold, S. 775: as. hro¯m, ahd. (h)ruom ‚Ruhm‘. Im Langobardischen ist das [h] in der Lautgruppe [hr] früh geschwunden. Eine Verknüpfung mit dem entlehnten Namen der Stadt Roma ist möglich, aber eher unwahrscheinlich, da der Stadtname als Ru¯ma entlehnt wurde (z.B. as. Ru¯maburg). Vgl. Francovich Onesti (1999), S. 237. 112 Vgl. Paulus Diaconus, Hist. Lang. (Waitz 1878), IV, 37, S. 161–164. Positiver interpretiert das Geschehen Menghin (1985), S. 131–135.

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der genealogia, zu sichern, als Opfertat also. Mir scheint, dass die Wiederaufnahme des Namenelements der Großmutter in Abhebung von der onomastischen damnatio memoriae erfolgloser Ahnen in anderen Sippen113 signalisiert, dass die Familie die Tat positiv bewertete. Zur politischen Instrumentalisierung der Namengebung gehören auch die zunehmende Aufnahme von romanischem Namengut in langobardischen Adelsfamilien seit dem 7. und 8. Jahrhundert114 und die Mischung der jeweiligen onomastischen Methoden der Verwandtschaftsindikation.115 Dies lässt sich gut bei der Familie der letzten langobardischen Könige Desiderius († 774) und Adhelgis beobachten, in der der überlieferungsmäßig frühest greifbare Protagonist sogar einen romanischen Namen trägt:116 (28)

113 Vgl. z.B. oben bei Anm. 85 Gunther bei den Gibichungen, der in der zweiten sapaudischen Dynastie im Gegensatz zu anderen Traditionsnamen und zu sonstigen Namenkompositionen mit *gundnicht rezipiert wird. 114 Beispiele schon bei Jarnut (1972), S. 403–427; Jarnut (1997), S. 61ff. Freilich ist gerade auch im langobardischen Adel bewusst traditionsgebundene Namengebung wie auch Benennung mit erweiterten Namenelementen („Prunknamen“) üblich. Vgl. Haubrichs (2005a), S. 91–93; Haubrichs (2010b), S. 522f. 115 Vgl. oben bei Anm. 77–79 etc. 116 Vgl. CDL (Brühl 1973–1984), 3/1, Nr. 31 (a. 759 kop. Brescia). Im Allgemeinen, ausgehend von der Autorität des Herausgebers, werden Verissimus und seine Söhne Arichis und Domnolus als Vater und Brüder der Ansa aufgefasst. Vgl. Helbling (1961), S. 360f. Doch sind die Verwandtschaftsangaben socerus und genitor in der Urkunde nicht klar auf eine Person des königlichen Paares spezifiziert; der Ausdruck avio ‚Ahne, Großvater‘, mit dem der ausstellende König Adhelchis den Verissimus bedenkt, ist sowohl auf die Mutter- wie auch auf die Vaterseite beziehbar. Die Sache ist eigentlich unentscheidbar, doch sprechen die romanischen Namen Verissimus und Domnolus eher für einen Anschluss an die Familie des Desiderius. Wie immer man sich entscheidet, bedeutsam bleibt, dass in der Generation der Kinder des Desiderius bewusst langobardische Onomastik eingesetzt wird.

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Aus dem germanischen Repertoire brauchte man die Frontvariation und die Endvariation: die Frontvariation beim Bruder des Desiderius Are-chis < *Hari-gı¯s (‚HeerPfeil‘) und seinem Sohn Adhel-gis (‚adliger, edler Pfeil‘), sowie bei den Töchtern Ansil-berga (‚Helden-Berge, -Schutz‘), Adel-berga (‚adliger, edler Schutz‘), evtl. Gerberga (‚Speer-Schutz‘) und Liut-berga (‚Volks-Schutz‘).117 Ansil-berga nimmt aber gleichzeitig in Endvariation die Namen ihrer Mutter Ansa und deren cognata Ans(h)ilda auf, Adel-berga den Namen ihres Bruders. Die romanischen Namen Desiderius und Domnolus (zu lat. dominus ‚Herr‘ mit diminutivem -ulus-Suffix) sind aber zugleich durch das eigentlich germanische Bindemittel des Stabreims (Alliteration) verbunden. Die außerordentlich gute und oft originale langobardisch-italienische Überlieferung gewährt uns weitere Beispiele eines langobardisch-romanischen onomastischen Synkretismus in Familien: (29)

In der Familie des Albinus aus Pistoia bzw. Pavia,118 die zunächst ganz romanisch geprägt scheint, kommt es über den Namen der Gattin des Senator zu einem bemerkenswerten Fall von Kreuz-Variation. Der Name der Tochter Sine-linda ist kombiniert aus dem Zweitelement des mütterlichen Namens *lind- (‚sanft‘) und dem Erstelement des väterlichen Namens, *sen- (zu senex ‚alt‘), der in einem Akt zwischensprachlichen Austausches, wie er nur in einer bilingualen Gesellschaft möglich erscheint, mit dem gleichbedeutenden germanischen Element *sen-, *sin- (‚alt‘) identifiziert wird (vgl. got. burg. sinista ‚Ältester‘, ahd. sene-scalc, afrk. *sini-skalk ‚ältester Knecht‘).119

117 Vgl. Neff (1908), S. 41–48 (zum Epitaph auf Königin Ansa); ferner Nelson (1998) (Stammbaum auf S. 173), die vor allem die Töchter mit dem geradezu systematisch gegebenen Zweitelement -berga (langobardisch mit Medienverschiebung [b] > [p]) behandelt und mit guten Argumenten um Gerperga, 770 mit Karl dem Großen verheiratet, 772 aber verstoßen, vermehrt. Eine früher Desiderius als Tochter zugeschriebene Desiderata scheint sich (trotz der onomastischen Anknüpfungsmöglichkeiten) als Fehlinterpretation eines Epithetons herauszustellen. Das Stemma in Haubrichs (2005a), S. 91, ist dementsprechend zu korrigieren. 118 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 1, Nr. 18 (a. 714 kop. Pistoia/Pavia); Rugo (1975–1980), hier 5, Nr. 112. Vgl. Jarnut (1997), S. 50f.; Jarnut (2008), mit Stammtafel auf S. 688. 119 Vgl. Orel (2003), S. 324; Feist (1939), S. 422f.; Kluge/Seebold (2002), S. 842 (Seneschall); Kaufmann (1968), S. 315; Haubrichs (2009c), S. 74; Haubrichs/Pfister (2008), S. 76.

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Ähnliches lässt sich an der Familie des Ursus, des Gründers der Kirche S. Maria in Lucca (a. 722/39?) ablesen:120 (30)

Ursus hat in direkter Nachbenennung eine Tochter Ursa und einen Sohn mit dem sprechenden christlichen Satznamen Talesperianus (‚Solches hoffen wir‘), der es bis zum Bischof von Lucca bringt, daneben aber, vielleicht onomastisch aus der Linie der uns unbekannten Mutter stammend, eine Tochter mit dem langobardischen Namen Ans-trud (‚Helden-Kraft‘). Dafür spricht, dass das Element *-trud < *Prudi- ‚Kraft‘ in der wohl mütterlicherseits anzubindenden neptis Magni-trud-ula, die selbst mit dem nepos (ihr Bruder?) Magni-fred-ulu mittels des stabilen Elements Magni- (aus lat. magnus? oder aus rom. Adaptation von germ. *magan ‚Kraft‘) verbunden ist.121 Eine ähnliche Mischung zwischen romanischen und germanischen Prinzipien der Namengebung zeigt a. 713/14 die Familie des Fortunatus zu Lucca:122 (31)

Fortunatus findet sich (gegen die Etymologie, aber im Einklang mit germanischer Segmentation) variiert wieder in seinem Sohn Benenato; in den Söhnen wird um die Invariante *-walda- (‚Herrscher‘) das Erstglied variiert (auch mit einem Hybridnamen wie Bon-uald). Alle Namen der Söhne, ob romanisch oder germanisch, sind durch den Stabreim auf B und R verbunden. Stabreim und Pseudovariation zwischen romanischen und germanischen Namen bietet auch die Familie der Natalia a. 745 zu Verona, Gründer des Klosters S. Maria in Solaro:123

120 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 1, Nr. 30 (a. 722/39? or. Lucca). 121 Orel (2003), S. 252f.; Kluge/Seebold (2002), S. 626f. (mögen); Kaufmann (1968), S. 243f. 122 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 1, Nr. 16 (a. 713/14 or. Lucca). 123 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 1, Nr. 83 (a. 745 kop. Verona).

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Nachbenennung und germanische Endvariation zeigt sich in der fast gleichmäßig von romanischen und langobardischen Namen geprägten Familie des vir magnificus Rotopert a. 745 aus Agrate (Monza):124 (33)

Es ist freilich nicht immer möglich, bei nur zwei Generationen die onomastische Konstruktion der Verwandtschaft völlig zu entschlüsseln. Kompakter ist die germanischromanische Hybridnamen einschließende Variation, wie sie in bilingualen Gesellschaften gelingen kann, bei der Familie des Floripert aus Lucca (a. 757 und a. 772)125 angelegt: (34)

Einfach nebeneinander stehen romanische und germanische Namenvariation bei der Familie des Filipert und seiner Brüder a. 759 aus Lucca, zu der sich noch ein Verwandter Gaus-pert mit gleichem Namen-Zweitelement gesellt:126

124 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 1, Nr. 82 (a. 745 kop. Agrate). 125 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 1, Nr. 127; 2, Nr. 259 (a. 757 or. Lucca, a. 772 or. Lucca). 126 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 1, Nr. 138 (a. 759 or. Lucca).

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Die römischen Satznamen der Brüder Deus-dedit (‚Gott gab‘) und Deus-dona (‚Gott gib‘) wurden dabei in derselben Weise variiert, wie es für germanische PN üblich war. Die Familie des Baroncellu a. 770 im Umkreis von Chiusi variiert nach germanischem Brauch langobardische PN und Hybridnamen:127 (36)

Bemerkenswert ist, dass die Kinder von einer ancilla des Bruders Audi-pert stammen, und dennoch sowohl das Namengut (*-berhta-) der Familie als auch das Hybridelement (boni-) im Namen der unfreien Mutter aufgenommen werden. Ähnlich verfährt man in der Familie des David a. 773 (or.) in Lucca, ohne dass wir alle Relationen der Namen entschlüsseln können:128 (37)

Verwandte sind wohl die Zeugen Gun-prand, Agi-prand und Al-prand. Dass solche Interferenzen zwischen romanischem und germanischem Namensystem, geboren aus einer bilingualen Situation, nicht nur in Italien, sondern auch im Frankenreich, und zwar schon früher, im 6. Jahrhundert, begegnen, zeigt uns das in

127 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 2, Nr. 248 (a. 770 or. bei Chiusi). 128 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 2, Nr. 287 (a. 773 or. Lucca).

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merowingischer Reichsaristokratie anzusiedelnde Beispiel der Familie des Lupus, dux der Champagne:129 (38)

Hier stehen nebeneinander das lateinische Wort für ‚Wolf‘, also Lupus, und Namenkomposita mit germ. *-wulfa- ‚Wolf‘: Magn-ulfus < *Magan-wulfa- ‚Macht-Wolf‘ (hybrid auch als mit magn(o) ‚groß‘ zusammengesetzt interpretierbar) und Rom-ulfus < *Hro¯ma-wulfa ‚Ruhm-Wolf‘ (hybrid auch als mit Roma ‚Rom‘ zusammengesetzt interpretierbar).130 Ähnlichen „mixage anthroponymique familial“ hat man auch für die Welt der coloni in der Provence des 9. Jahrhunderts nachgewiesen:131 So haben Dade-bertus und Martina die Kinder Genesia, Adal-bertus, Ermesinda und die Enkel Berta, die den Namen des Großvaters und des Onkels aufnimmt, und Martina, die nach der Großmutter benannt ist.

7 Die normale Richtung systemverändernder Namengebung in der merowingischen Gesellschaft war die vom lateinischen Namensystem hin zum germanischen, mit dem Resultat, dass im 8. Jahrhundert im Norden, Osten und in der Mitte der Gallia die romanischen PN auf 10 bis 22 % Anteil absinken, während sie etwa im langobardischen Italien noch ca. 32 %, in der Raetoromania ca. 75 %, in der Provence und in Aquitanien

129 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 19, S. 510–513; Venantius Fortunatus, Op. Poet. (Leo 1981), VII, 9, S. 163f.; Selle-Hosbach (1974), S. 130, Nr. 144; S. 127f., Nr. 139; S. 112, Nr. 126; S. 153, Nr. 181; Jochum-Godglück (2011), S. 459. 130 Vgl. zur Hybrid-Interpretation Haubrichs (2008), S. 109, Anm. 8; Francovich Onesti (1999), S. 236f. Doch muss man in allen Fällen, auch den italoromanisch-langobardischen, mindestens mit der Möglichkeit doppelter Interpretation rechnen. 131 Bourin/Chareille (2009), S. 256f.

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immerhin ca. 60 % Anteile haben.132 Es lässt sich in den Anfängen im frühen 6. Jahrhundert gut beobachten, dass auch hinter der Germanisierung von PN in romanischen Familien die politische Instrumentalisierung von Namen steht (neben bald aufkommenden Heiratsallianzen natürlich).133 Ein frühes und signifikantes Beispiel bietet die Vorfahrenschaft Gregors von Tours, in dessen Familie man an bedeutsam motivierte Namen (wie Sacerdos, Euphronius, Florentius, Petrus, Gregorius, Georgius usw.) gewöhnt war. Nun war es in der Linie von Gregors Mutter bald nach 500 zu einem merkwürdigen Vorfall gekommen. Der aus vornehmem romanischem Geschlecht stammende Florentinus, dessen Bruder mit dem programmatischen Namen Sacerdos Bischof von Lyon († 552) werden sollte, war ca. 513 zum Bischof von Genf gewählt worden. Da passierte Artemia, der Gattin des electus, das ‚Missgeschick‘, schwanger zu werden. Die Aspirationen des Prätendenten auf das Amt des episcopus waren damit zerstört. Dem bald geborenen Sohn gab das Ehepaar in bewusster Reflexion, von der Gregor von Tours134 berichtet, in Anklang an künftig erwartete geistliche victoria den graecolateinischen Namen Nicetius (zu griech. niké ‚Sieg‘). Nicetius wurde 552 tatsächlich der Nachfolger seines Onkels als Bischof von Lyon. Einem anderen Sohn, den ihm Artemia gebar, gab man den germanischen Namen Gundulf-us < *GunPo¯-wulf- (‚Kampf-Wolf‘). Es war und blieb der einzige germanische PN in der genealogia Gregors von Tours. Sicherlich handelt es sich bei diesem Namen um eine Art geistiger Ansippung an die burgundische Königssippe der Gibichungen, deren prominentestes Namenelement eben *gunPo¯ ‚Kampf‘ war (vgl. Königsnamen wie Gunda-har, Gundo-mar, Gundo-wech, Gundo-bad, Gundegisil). Auch die Merowinger hatten gerade – wie oben gezeigt – dieses Namenelement gewählt, um ihre auf Abstammung gegründeten Ansprüche auf das 534 eroberte Burgundenreich auch onomastisch zu repräsentieren. Der Genfer Gundulf hat übrigens nach dem Ende des regnum Burgundionum Karriere am merowingischen Königshof

132 Vgl. zu den Statistiken Haubrichs (2008), S. 122f.; Haubrichs (2009a). In der Raetoromania lassen sich schöne Beispiele für das Eindringen germanischer PN in romanisch geprägte Familien finden: Der Sohn Berfredus des Paares Libucio und Ampelia trägt einen romanisierten germanischen PN; auffallend auch die Nachbenennung in einer sonst völlig romanisch geprägten Familie, wo sich der romanisierte germ. PN des Großvaters Balfredus ? Evalia beim Sohn seiner Tochter wiederholt, die wiederum mit Priectus < *Praiectus, Sohn der Scolastega, verheiratet ist und den zweiten Sohn Onoratu < *Honoratus nennt. Vgl. zu Statistiken aus weiteren Regionen Jarnut (1997), S. 49f. 133 Vgl. Haubrichs (2008), S. 95ff. 134 Gregor von Tours, Lib. vitae patrum (Krusch 1885), VIII, 1, S. 241. Vgl. Heinzelmann (1994), S. 19f., wo die Meinung vertreten wird, dass „Florentinus mit einer Familie des Burgunderadels liiert war“. Er denkt dabei an den comes Gundulf, der 517 den ‚Liber Constitutionum‘ Gundobads unterschrieb: „er könnte ein Bruder des Florentinus gewesen sein“. Dies ist freilich in der romanisch-senatorischen Familie des Florentinus doch recht unwahrscheinlich. Vgl. weiter Jarnut (1997), S. 50; Haubrichs (2008), S. 96f.

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gemacht und ist anscheinend noch 581 als domesticus und dux Childeberts II. aus senatorischer Familie belegt.135 Politische Instrumentalisierung liegt sicherlich auch bei einem anderen Fall vor, der um 500 zu datieren ist.136 Nach der ‚Vita S. Domitiani‘ hatten ein im Lyonnais zu verortender dux Latinus und seine Gattin Syagria einen Sohn namens Gondo-badus (‚Kampf-Krieger‘), komponiert mit dem vornehmlich in ostgermanischen Sprachen als Personennamen-Grundwort genutzten germ. *badwo¯ (ae. beadu) ‚Kampf, Streit‘.137 Dieser Spross einer romanischen Oberschichtfamilie wurde also nach dem a. 472/73 als patricius und als Neffe des magister militum Rikimer genannten Gundobad bzw. nach dem gleichnamigen und vermutlich mit dem patricius identischen burgundischen König Gundobad (476/77?–516) benannt. Vor dem 6. Jahrhundert können wir freilich bei der Militäraristokratie germanischer Provenienz deutlich die Attraktivität des römischen Namensystems erkennen.138 So trug ein Franke und General unter Konstantin den lateinischen Namen Bonitus, sein Sohn, Heermeister a. 352–355, hieß Silvanus. Der kaiserliche Usurpator Flavius Magnus Magnentius (a. 350–353) war teils britischer, teils germanischer Abstammung, trug aber wie seine Brüder Decentius und Desiderius und seine Gattin Justina einen römischen Namen. Seine ganze Familie war onomastisch latinisiert. Unter Kaiser Constantius diente a. 351 ein General alemannischer Abstammung namens Latinus. Der spektakulärste Fall betrifft jedoch den römischen Heermeister Stilico (393–408) wandalischer Herkunft. Sein Vater war Kommandeur einer Reitertruppe des Kaisers Valens (364–378) gewesen, seine Mutter Römerin. Er selbst aber wurde noch germanisch benannt.139 Stilico wurde der wichtigste Staatsmann unter Kaiser Theodosius I. (378–395) und war mit Serena, einer Nichte des Kaisers vermählt, der ihm bei seinem Tode die Sorge für die Kaisersöhne Honorius und Arcadius übertrug. Die Bindungen wurden noch verstärkt durch die Verheiratung seiner explizit christlich benannten Tochter Maria 397/98 und nach deren Tod 408 der Schwester Aemilia Materna Thermantia mit dem Westkaiser Honorius (395–423). Auch der Sohn Eucherius – zu griech. eu-chere¯s (ey-xer‹«) ‚indifferent to danger or suffering‘ – trug140 einen „nom de bon augure“, der christlich interpretierbar war.141

135 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 11, S. 281. 136 Vgl. Haubrichs (2008), S. 98f. 137 Vita S. Domitiani, c. 15f., AA SS Iuli 1, Sp. 53. Vgl. Heinzelmann (1982), S. 619; Mathisen (1993), S. 135. 138 Vgl. Waas (1965); Demandt (1980); vgl. Haubrichs (2008), S. 88ff. (mit weiterer Lit.). 139 Vgl. vor allem Wagner (1984), S. 274–278; Haubrichs (2008), S. 88–91. 140 Wagner (1984), S. 277f. 141 Die christliche Signifikanz dieser Namengebung wird auch explizit imaginiert in der Komposition der Namen der Kaiserfamilie und der Familie Stilicos um ein XP-Kreuz auf der amulettartigen Schmuckkapsel der Kaisergattin Maria, die in ihrem römischen Sarkophag gefunden wurde. Vgl. Haubrichs (2007a), S. 216f.

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Die Namen der Kinder des Stilico und der Serena sind aber zugleich Zeugnisse der onomastischen Integration in die kaiserliche Familie, indem sie deren Benennungssitten und Namen aufgriffen. So heißt Maria nach der Mutter der Serena und Thermantia nach deren Tante (Schwester der Maria); Eucherius aber wurde nach einem Oheim des Theodosius I., den dieser „wie ein Vater verehrte“ (N. Wagner) und der 395 noch am Leben war, benannt. Die Kernnamen der Kaiserfamilie Honorius, Theodosius und Arcadius blieben freilich von Stilico unberührt. Fazit bleibt: Auch in der Annahme lateinischer Namen in Familien germanischer Provenienz haben wir Zeugnisse politischer Instrumentalisierung und eines fortschreitenden Akkulturationswillens zu sehen, der jedoch mit dem Niedergang des weströmischen Reiches erlischt.

8 Im Grunde sind wir mit den Fällen des Gondobadus, Sohn des dux Latinus, und der Kinder des Stilico bereits bei einem weiteren und zukunftsreichen Typ der onomastischen Verwandtschaftsindikation angekommen, der N a c h b e n e n n u n g , d.h. der vollständigen Weitergabe des Namens eines Vorfahren oder eines Vorbildes.142 Bei den eben erwähnten Fällen handelte es sich freilich zum Teil um extrafamiliäre Nachbenennung – wie sie auch bei der Benennung nach Heiligen und später bei der hochmittelalterlichen Benennung nach berühmten Königen (z.B. Konrad, Heinrich, Fried-

142 In diesem Sinne wird Nachbenennung auch verstanden und unterschieden von der Namenvariation bei Wagner (1984). Man sollte die Nachbenennung, anders als dies Goetz (1985) tat, streng von der in der Morphologie der germ. Namen begründeten Variation (s.o.) trennen. Die Nachbenennung ist ein Phänomen sui generis, das auch im lateinischen und in anderen Namensystemen begegnet. Problematisch ist es auch, bei zweistämmigen (bi-thematischen), d.h. also aus zwei Wortstämmen zusammengesetzten germ. PN für das erste Element von „Stammsilbe“ und für das zweite Element von „Endsilbe“ zu sprechen. Das sind unzutreffende, ja zum Teil Verwirrung stiftende phonetische Kriterien, während es sich bei der Variation um ein morphologisches und semantisches Phänomen handelt. Morphologisch ließe sich wie bei den Determinativkomposita von Bestimmungswort und Grundwort sprechen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass nicht alle PN Determinativkomposita sind. Die Bezeichnung „Stammsilbe“ suggeriert zudem, wie auch die Darlegungen von Goetz zeigen, dass in ihr, wie in Wörtern der Gemeinsprache, das Wichtigste, die Hauptbedeutung gespeichert sei, was nicht zutrifft, sondern eher (in germanischen Sprachen) für das Zweitelement. Neben den Determinativkomposita gibt es in der germanischen Namengebung auch Possessivkomposita, etwa Hartmut (‚der einen starken Sinn hat‘) und Kopulativkomposita, in denen sich Bedeutungen addieren, etwa Bald-hart (‚der tapfer und stark ist‘). Vgl. auch mit ähnlichen terminologischen Problemen Le Jan (1995), S. 200ff., mit weiteren Beispielen aus Adelsfamilien des frühen Mittelalters, z.B. auch zur Nachahmung karolingischer Nachbenennung bei den über die weibliche Linie von Ludwig dem Frommen abstammenden Unruochingern (S. 183); ferner Geuenich (1997), S. 40ff.

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rich) begegnet.143 Hier soll der Frühgeschichte der Nachbenennung nachgegangen werden. Die Technik der Nachbenennung hat möglicherweise ihre Wurzeln in römischer Namengebung, wo sie (neben der Variation) vorkommt, z.B. in Kaiserfamilien und senatorischen Familien. So heißen in der julisch-claudischen Familie die Töchter der Octavia aus ihrer Ehe mit C. Claudius Marcellus nach der Vaterseite Marcella (maior/ minor) und ein Sohn Marcellus; ein Sohn der Marcella minor aus der Ehe mit M. Valerius Messalla ebenso, die Enkelin aber Messalina.144 In der konstantinischen Familie hatte Constantius Chlorus aus seiner Ehe mit Helena einen Sohn Constantinus (306–337), dieser wiederum die Söhne Constantinus, Constantius und Constans; aus seiner Ehe mit Theodora hatte Constantius Chlorus einen Sohn Julius Constantius und einen Sohn Dalmatius (mit einem gleichnamigen Sohn), dieser Julius Constantius aber aus seiner Ehe mit Galla einen Sohn Gallus.145 Georgius Florentius Gregorius († 594/95) hatte seinen die römischen tria nomina imitierenden Vollnamen nach seinem Vater Florentius, Senator aus der Auvergne, dem avus väterlicherseits Georgius (ebenfalls senatorischer Abkunft) und nach dem proavus mütterlicherseits Gregorius, erst Graf in Autun, dann Bischof von Langres, wohl im Jahre der Geburt (538/39) des späteren Bischofs von Tours gestorben, empfangen.146 Die Tochter der mit einem Justinus verheirateten Schwester Gregors von Tours, spätere Pröpstin in Poitiers, heißt in direkter Nachbenennung Justina.147 Im germanischen Bereich lassen sich – wohl auf besonderen Vorstellungen vom Wiedererstehen des ano im Enkel (ahd. eniklı¯n, mhd. eninkel ‚kleiner Ahn‘) beruhend148 – für die Nachbenennung zunächst vorwiegend Großvater-Enkel-Beziehungen (gelegentlich auch Onkel-Neffe-Beziehungen) feststellen: In der burgundischen Königssippe heißt Chilperich II. nach seinem Onkel, ebenso Godomar III.; aber Gundobad II. nach seinem Großvater.149 In der merowingischen Königsfamilie wurde – wie oben dargelegt150 – Chlothar II. (584–629) nach seinem be-

143 Kunze (2004), S. 31 und 44f. 144 Vgl. Heuß (1964), S. 614f. 145 Heuss (1964), S. 615. 146 Vgl. oben Anm. 134. Über Leitnamen in spätantiken römischen Familien siehe Heinzelmann (1977), S. 19–24. 147 Die einzige mir bekannte frühe direkte Nachbenennung im germ. Namenbereich ist der um 532 genannte Sigivaldus, Sohn des Sigiwald, eines Verwandten des merowingischen Königs Theuderich (511–534), die anscheinend auf romanische Vorbilder zurückgeht: Gregor von Tours, Hist. (Krusch/ Levison 1951), III, 23, S. 122f.; vgl. auch die wohl auf Nachbenennung beruhenden Vorlieben für die lat. PN Profuturus und Praetextatus in der Familie und der familia des Bischofs Remigius von Reims: Haubrichs (2009d), S. 292f. und 313. 148 Vgl. Erben (1985); Beck (1989), S. 302f.; Nedoma (2006); Haubrichs (2002); Haubrichs (2007b), S. 147. 149 Kaiser (2004), S. 265. 150 Vgl. oben bei Anm. 9.

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rühmten Großvater Chlothar I. benannt,151 Chlothar III. (657–673) aber nach seinem Großvater Chlothar II., Dagobert II. (656–679) nach seinem avus Dagobert (623–639), Chlodwig III. (691–694) nach seinem Großvater Chlodwig II. (639–657).152 Ähnlich sieht es im langobardischen Hochadel aus, wo zunächst die Variation dominiert, aber z.B. im 8. Jahrhundert Raginpert II., Graf von Orléans, den Namen seines Großvaters, des dux von Turin († 701) aufnimmt, König [H]Aripert II. (703–712) aber den seines proavus [H]Aripert I. († 601).153 Romuald II., dux von Benevent (ca. 725) filium nomine sui patris Gisulfum appellavit.154 Schon Romuald war nach dem avus Romuald I. (671/87) benannt worden, ebenso wie sein Onkel Grimoald (a. 687/89).155 Der Bruder des Paulus Diaconus, aus einer bedeutenden Familie des Friaul stammend, wurde Arichis genannt, qui nostrum avum cognomine retulit.156 Auch bei den Karolingern (Arnulfingern) dominiert zunächst die Nachbenennung nach dem avus, so bei Pippin dem Mittleren († 714) nach Pippin dem Älteren († 639); beim dritten Pippin, König von 751–768 nach dem zweiten, ebenso bei Pippin, dem Sohn des Drogo; und nach dem dritten (in einer spektakulären, politisch auf das Langobardenreich und das Papsttum zielenden Umbenennung von 781) heißt wiederum Pippin (ursprünglich Karlmann), König von Italien, Sohn Karls des Großen; Pippins des Mittleren Sohn Grimoald († 714) ist benannt nach dem Großonkel († 657/62), Sohn Pippins des Älteren; Karl (der Große) aber – etwa 747/48 geboren – nach seinem Großvater Karl Martell († 741).157 Schon dieser Großvater zeigt dabei Ansätze zu einer vaterbezogenen Nachbenennung, indem er einem Sohn den Namen Karl-mann gibt, der seinen eigenen außergewöhnlichen Namen mit einem suffixartigen Element variiert. Aber mit Pippin I., dem ersten König aus dem neuen Geschlecht, setzt eine neue Entwicklung ein: Seinen unter der Königswürde geborenen dritten Sohn nennt Pippin 759 nach seinem eigenen Namen: Natus est Pippino regi filius, cui supradictus rex nomen suum imposuit, ut Pippinus vocaretur sicut et pater eius.158 Die-

151 Vgl. ferner Scheibelreiter (2009), S. 263. Der Autor macht sich ein Problem daraus, ob bei den Zeitgenossen der ursprüngliche Sinn des Namens Chlot-har < *Hlud-harjaz (‚berühmter Krieger‘) respektive des Elements *hlud ‚laut, berühmt‘, oder der mythische, die merowingische genealogia charakterisierende Qualität dieses Lexems im Vordergrund stand. Dies ist eine unnötige Alternative: Sicherlich konnte beides zugleich im Bewusstsein der Zeitgenossen evoziert werden. 152 Vgl. Ewig (1991), S. 27ff.; Mitterauer (1988), S. 396f.; Scheibelreiter (2009), S. 249f. 153 Vgl. oben bei Anm. 105 (mit genealogischem Stemma). 154 Paulus Diaconus, Hist. Lang. (Waitz 1878), VI, 50, S. 235. 155 Vgl. oben bei Anm. 106 und 111 (mit genealogischem Stemma). 156 Paulus Diaconus, Hist. Lang. (Waitz 1878), VI, 37, S. 166. 157 Vgl. Hlawitschka (1967); Hlawitschka (1979); Schieffer (1992), S. 244–250; Riché (1983), tables; Jarnut (1985); Le Jan (1995), S. 200ff.; ferner Mitterauer (1988); Becher (1999), S. 32 und 112; Becher (1989); Wood (2004), S. 236–238. 158 Vgl. Ann. reg. Franc. (Pertz/Kurze 1895), a. 759, S. 16. Vgl. auch Mitterauer (1988), S. 386–390, mit starkem Akzent auf dem für ihn revolutionären Charakter einer Nachbenennung – bei Pippin und Karl dem Großen – nach Lebenden.

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ser lebte freilich nur zwei Jahre. Indem dessen Bruder Karl seinen ältesten Sohn ebenfalls Karl nennt,159 übt er zum zweiten Mal und in plakativer Form (um 771) die direkte Nachbenennung nach dem Vater, wie wir sie vorher in spätantiken römischen Kaiserfamilien und anderen romanischen Familien hohen Ranges feststellen konnten.160 Dieser neue Brauch setzt sich in der Familie schnell durch, war also sicherlich intentional geplant: Ludwig der Deutsche (840–876) ist der Sohn Ludwigs des Frommen (814–840), Ludwig der Jüngere († 882) wiederum dessen Sohn; im westfränkischen Bereich ist Ludwig III. (879–882) der Sohn Ludwigs des Stammlers (877–879); im Mittelreich ist Lothar II. der Sohn Kaiser Lothars († 855).161 Daneben kommen freilich auch weiterhin Nachbenennungen nach dem Großvater und überhaupt ein nahezu exklusiver Gebrauch weniger Namen (Karl, Karlmann, Pippin, Ludwig, Lothar) in den Hauptlinien vor. Dabei verdanken sich Ludwig und Lothar bewusster Aufnahme merowingischen Namenguts durch Karl den Großen im Jahre 778 in althochdeutscher Form, sind also erneut ein Beleg für die politische Instrumentalisierung von Namengebung. Ein Nebeneffekt der onomastischen Verdichtung ist, dass diese wenigen Namen allmählich gewissermaßen wie reserviert wirken und außerhalb des karolingischen Verwandtenverbandes kaum noch verwandt werden.162 Woher stammte dieser neue Benennungsbrauch?163 Oder ist es eine Innovation der karolingischen Familie? Wohl eher nicht: Es sei darauf aufmerksam gemacht, dass die Nachbenennung von Söhnen nach dem Vater bereits seit 762 in der Langobardia nachzuweisen ist, freilich nicht in den Kreisen des Hochadels oder gar der stirps regia.164 Die Geburtsfälle und Akte der Nachbenennung müssen freilich weitaus früher angesetzt werden:

159 Ann. reg. Franc. (Pertz/Kurze 1895), a. 811, S. 135: Carolus filius domni imperatoris, qui maior natu erat […] obiit. Vgl. Einhard, Vita Karoli Magni (Pertz/Waitz 1911), c. 18f., S. 22–25. 160 Vgl. oben bei Anm. 134; ferner Wagner (1984), mit Hinweisen auf Germanus, den Vetter Kaiser Justinians, dem a. 551 Matasuintha, Enkelin Theoderichs des Großen, einen Sohn gebar, den man ebenfalls Germanus nannte, und auf Gregor von Tours (vgl. oben Anm. 134), der unter seinen tria nomina auch den Namen seines Vaters Florentius trug. 161 Vgl. oben Anm. 157. 162 In der Langobardia sieht das anders aus: a. 772 unterzeichnet in Roselle in der Toskana (Grosseto) der vir devotus Karolus eine Urkunde (CDL [Schiaparelli 1929–1933], 2, Nr. 264); schon a. 765 unterzeichnet in Chiusi ein Pipinus als Zeuge (CDL [Schiaparelli 1929–1933], 1, Nr. 187). 163 Für die aus altrömischer Tradition entwickelte byzantinische Namengebung nach Lebenden verweist Mitterauer (1988), S. 393, auf das Beispiel Konstantins VI., der 771 nach seinem noch lebenden Großvater benannt wurde. Beispiele der Nachbenennung nach dem Vater fehlen aber. 164 Nicht in Anschlag gebracht werden kann die Genealogie des Paulus Diaconus, wo der Stammvater Leupchis einen Sohn mit Namen Lopichis hatte, den Urgroßvater des Paulus. Es handelt sich nicht um das selbe Erstelement, wie etwa Dahn (1876), S. 7, und nach ihm andere annahmen. Es handelt sich bei *leuba ‚lieb, geliebt‘ und dem semantisch nahestehenden *luba- ‚Lob, Preis‘ um zwei verschiedene Lexeme. Vgl. Haubrichs (2005a), S. 85. Es handelt sich auch nicht um einen im 6. Jh. völlig anachronistischen Hybridnamen mit lat. lupus, vlat. *lopo-, obwohl Paulus zweifellos den Namen etymologisch 180 Jahre später so verstanden hat. Vgl. Francovich Onesti (1999), S. 236. In der Forschung

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(39) Teudepert f Teutopert < *Peudo-berhta- a. 762 Lucca165 (40) Cunimund de Sermione f Cunimund a. 765 Sermione (Brescia)166 und a. 765167 (41) Guntifrit f Gumfrit assimiliert < *Gundi-frid- a. 769 Pisa168 (42) Oto de Cateriaco f Oto a. 769 bei Como169 Eine Nachbenennung einer Tochter Ursa nach dem Vater Ursus lässt sich – wie schon beobachtet – bereits 722/39 für Lucca nachweisen. Für Alemannien – in Abhebung zu anderen Landschaften – kann Hans-Werner Goetz in der Karolingerzeit bis zu 30 % Nachbenennung, darunter aber nur ganz wenige nach dem Vater nachweisen:170 beginnend mit dem nicht ganz einwandfreien und deshalb nicht verwertbaren Beispiel a. 766 Marulf f Liutulf, Merolf, Piscolf, bei dem es sich aber eher um einen Fall von Frontvariation handeln dürfte;171 es folgt ein zweiter, einwandfreier Fall a. 778 Theotrih f Theotrih.172 Die alemannischen Beispiele erscheinen freilich erst nach den langobardischen. Stammt die neue Sitte aus Italien? Diese These freilich bedarf weiterer Untersuchungen.173

wird durchweg Grasulf II., dux von Friaul (nach 625–um 653) nach den Angaben des Paulus Diaconus, Hist. Lang. (Waitz 1878), IV, 39, S. 133, als Bruder Gisulfs II. (590ff.) und Sohn Grasulfs I. (581ff.) angesehen, womit ein früher Fall der Nachbenennung nach dem Vater gewonnen wäre. Vgl. Jarnut (1972), S. 354–357. Da jedoch Paulus nicht zwischen den früheren und späteren Herzögen namens Gisulf und Grasulf unterscheidet, kann sich die Bruderangabe ebensogut auf das erste ‚Paar‘ von Friauler duces beziehen. Somit ist die Nachbenennung ungesichert und dem onomastischen Usus nach sogar unwahrscheinlich. 165 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 2, Nr. 61 (a. 762 or. Lucca). 166 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 2, Nr. 188 (a. 765 kop. Sermione). 167 CDL (Brühl 1973–1984), 3/1, Nr. 36 (a. 765 kop.). 168 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 2, Nr. 230 (a. 769 kop. Pisa). 169 CDL (Schiaparelli 1929–1933), 2, Nr. 234 (a. 769 or. Como). 170 Goetz (1985), S. 10, 13, 15 und 16. Vgl. auch Goetz (1987). Die dort diskutierte Quelle (Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés) stammt freilich erst aus dem 9. Jh. 171 Urkundenbuch der Abtei St. Gallen (Wartmann 1863), 1, Nr. 49, S. 49. Das Erstelement von Marulf gehört zweifellos zu germ. *mærja-, ahd. ma¯ri ‚berühmt‘; in Alemannien lässt sich für Merulf jedoch kaum ein genuines archaisches *me¯r- im späten 8. Jh. annehmen, wohl jedoch ein aus Westfranken übernommenes, eventuell an den Geschlechtsnamen der Merowinger anschließendes Element. Vgl. Kaufmann (1968), S. 257f. 172 Urkundenbuch der Abtei St. Gallen (Wartmann 1863), 1, Nr. 83, S. 79. 173 Vgl. zu den sprachhistorischen und sozialgeschichtlichen Auswertungsmöglichkeiten frühmittelalterlicher PN Goetz/Haubrichs (2005).

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Flavios Hypatios: der Mann, der Kaiser sein wollte Wahrscheinlich um die Mitte des 6. Jahrhunderts beschäftigte sich in Italien ein anonymer Chronist mit der Frage, wie sich in Konstantinopel der Übergang von der Herrschaft des oströmischen Kaisers Anastasios (491–518) auf seinen Nachfolger Justin I. (518–527) vollzogen haben mochte:1

1 Anon. Vales., c. 74–78: Eodem itaque tempore habebat Anastasius imperator tres nepotes, id est Pompeium, Probum et Hypatium: cogitans, quem de ipsis faceret post se imperatorem, quodam die iussit eos secum prandere et intra palatium post prandium meridiari et singula lecta eis sterni. et in uno lecto iussit ad caput regnum poni, et quis de ipsis in eodem lecto elegisset dormire, in hoc se debere cognoscere, cui regnum postea traderet. unus quidem in uno lecto se iactavit, duo enim in alio amore fraterno se conlocaverunt. et ita contigit, ut in illo lecto, ubi regnum positum erat, nullus eorum dormiret. dum haec vidisset, coepit cogitare intra se et dicere eo, quod nullus eorum regnaret, coepit orare Deum, ut illi relevatio fieret, ut scire posset, dum adviveret, qui post occasum eius regnum susciperet. haec eodem cogitante et orante ieiunio, quadam nocte vidit hominem, qui ita eum admonuit: ‘crastino qui tibi primus intra cubiculum nuntiatus fuerit, ipse accipiet post te regnum tuum.’ ita factum est, ut Iustinus, qui comes erat excubitorum, dum advenisset, ubi directus fuerat ab imperatore, renuntiaret: ipse ei nuntiatus est primus per praepositum cubicula. cumque haec cognovisset, coepit gratias Deo referre, qui ei dignatus est revelare successorem. cumque haec apud se tacite habuisset, quadam die procedens imperator, dum festinus vellet a latere imperatoris transire, obsequium ordinare. nolens calcavit chlamydem imperatoris. cui imperator hoc tantum dixit: ‘quid festinas?’. – Mir ist bewusst, dass Überlegungen und Kommentare zu den Excerpta Theodericiana grundsätzlich problematisch sind, da fundamentale Fragen zu diesem Text (bei dem nicht einmal sicher ist, ob er vorbehaltlos als ‚Werk‘ bezeichnet werden kann) weiterhin nicht vollständig geklärt sind (ein neuerer Überblick bei Croke [2003], S. 352–358). Dazu gehören das Datierungsproblem und der Entstehungsort, Fragen nach der konzeptuellen und literarischen Einheit sowie die komplexe Quellenproblematik (insbesondere für die Einschübe zu Ereignissen und Entwicklungen im Osten). In der Forschung zeichnet sich zumindest für die Entstehungszeit ein Konsens ab, der entweder den Text selbst oder doch zumindest sein Grundsubstrat in das 6. Jahrhundert datiert – wobei allerdings mit erheblichen Überarbeitungen durch den Exzerptor im 9. Jahrhundert (Datierung der Handschrift) zu rechnen ist (vgl. Croke [2003], S. 353–357). Die von König (1997) wieder aufgegriffene Datierung der Schrift in das frühere 7. Jahrhundert (S. 57–63) erscheint mir demgegenüber nicht hinreichend abgesichert. Sie gründet sich auf die von Ensslin (1940) vertretene These, die bekannte Anekdote zur Illiteralität Theoderichs (Anon. Vales., c. 79) habe sich ursprünglich auf Kaiser Justin I. bezogen und sei lediglich durch Textausfall im Überlieferungsprozess der Excerpta später mit Theoderich in Verbindung gebracht worden. Ensslin führt zur Illustration seiner Vermutung eine ähnlich lautende, tatsächlich gegen Justin I. gerichtete Episode aus Prokops Anekdota (Prok. HA 6, 11–16) an. Daran ist zunächst einmal nichts auszusetzen. König jedoch (miss)versteht Ensslins Ausführungen dahingehend, dass er aus diesen schließen zu können meint, die Inlitteratus-Anekdote stelle einen Beleg dafür dar, dass der Verfasser der Excerpta Kenntnis der Anekdota gehabt haben müsse, und baut auf diesem Missverständnis Spekulationen zum Zeitpunkt der Publikation von Prokops Pamphlet auf, die ihm wiederum als Nachweis für die Spätdatierung der Excerpta dienen. Dass der Verfasser der Excerpta Prokops Anekdota gelesen haben muss, erscheint

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Zu jener Zeit also besaß Kaiser Anastasius drei Neffen, nämlich Pompeius, Probus und Hypatius. Als er nun überlegte, wen von den dreien er zu seinem Nachfolger machen sollte, ordnete er eines Tages an, sie sollten mit ihm speisen und nach dem Mahle im Palast Mittagsruhe halten; jedem ließ er ein eigenes Ruhebett herrichten. Weiter befahl er, am Kopfende eines der Betten das Herrschaftsabzeichen (regnum) niederzulegen: Derjenige von ihnen, der sich dieses Bett zum Schlafen aussuchte, in dem glaubte er den erkennen zu müssen, dem er später die Herrschaft hinterlassen solle. Einer warf sich zwar auf ein einzelnes Bett, zwei jedoch legten sich in brüderlicher Zuneigung gemeinsam auf das andere. Und so geschah es, dass keiner von ihnen in jenem Bett schlief, wo das Herrschaftsabzeichen niedergelegt war. Als Anastasius dies sah, machte er sich Gedanken und sagte sich, dass keiner von ihnen regieren werde; er begann Gott zu bitten, ihm ein Zeichen zu geben, an dem er noch zu Lebzeiten erkennen könnte, wer nach seinem Tode die Herrschaft erhalten werde. Während er daran dachte und unter Fasten betete, sah er eines Nachts (im Traum) einen Mann, der ihm folgenden Hinweis gab: ‚Derjenige, der dir morgen früh als erster in deinem Schlafgemach gemeldet wird, wird es sein, der nach dir die Herrschaft erhalten wird.‘ Da geschah es, dass Justinus, der Befehlshaber der Leibgarde war, kam, um, wie er vom Kaiser angewiesen war, Bericht zu erstatten. Er wurde ihm daher als erster vom Oberkämmerer gemeldet. Als Anastasius dies vernahm, begann er Gott zu danken, dass er ihn gewürdigt habe, ihm seinen Nachfolger zu offenbaren. Und während er darüber Schweigen bewahrte, wollte Justinus, als der Kaiser eines Tages in der Öffentlichkeit erschien, in aller Eile an der Seite des Kaisers vorbeigehen, um das Gefolge zu ordnen; unabsichtlich trat er dabei auf den Mantel des Kaisers. Der Kaiser aber sprach nur dies zu ihm: ‚Was eilst du?‘2

Die geschilderte Begebenheit gehört zu einem Bündel von Träumen bzw. Visionen, die im Zusammenhang mit der Person des Anastasios überliefert sind,3 und präsen-

mir aber keineswegs zwingend, da das Gegenargument einer Wanderanekdote nicht zu entkräften ist, die Anekdota mithin nicht das einzige Medium gewesen sein müssen, das die ursprünglich auf Justin I. bezogene Geschichte in den Westen vermittelt haben könnte. – Als möglicher Entstehungsort der Excerpta kommt Ravenna infrage, was aber nicht sicher ist – vieles spricht jedenfalls für einen italischen Hintergrund (Croke [2003], S. 355f.). Für die hier zitierten Kapitel ist in Rechnung zu stellen, dass sie zwischen dem Theoderich gegenüber wohlwollenden Teil und jenen Passagen der Excerpta stehen, in denen der Gotenherrscher deutlich kritischer gesehen wird (vgl. König [1997], S. 47–53). Dass die Schrift dennoch von einem einzigen Autor verfasst worden sein dürfte, hat Adams (1976) wahrscheinlich gemacht (vgl. auch König [1997], S. 50: „einigermaßen schlüssig“); spätere eventuelle Kürzungen und Veränderungen im Text sind dadurch natürlich nicht ausgeschlossen. Über die Quellen der Passage zur Nachfolge des Anastasios lässt sich nur spekulieren (König [1997], S. 54); die Anekdote ist sonst auch nirgendwo belegt. 2 Übersetzung: Ingemar König. 3 Vgl. etwa den Traum, der Anastasios kurz vor seinem Tod in Unruhe versetzt haben soll: Malal., S. 334, 42–335, 58 Thurn (vgl. Chron. Pasch., S. I 610, 10–611, 10 Dindorf; Joh. Mosch. Prat. Spirit. 38 Migne, Sp. 2888f.; Theoph. a.m. 6010, S. I 163, 31–164, 8 de Boor; Sym. Mag. 102, 5; Kedren. 635f. Migne, Sp. 692C–D; Zon. 14, 4, 22). Ebenfalls kurz vor seinem Ende soll der Kaiser durch eine Traumerscheinung daran gehindert worden sein, seine Nachfolger Justin und Justinian wegen eines angeblichen Attentatsversuches hinzurichten, vgl. Kedren. 635 Migne, Sp. 692B–C. Auch die unter Anastasios erfolgte Errichtung der Grenzfestung Dara soll von einem Traum begleitet worden sein, vgl. Theod. Anagn. fr. 558 S. 157 Hansen. Zu den Träumen des Anastasios vgl. Weber (2000), S. 406 und 486–489; Haarer (2006), S. 246–249; Meier (2010a), S. 53–56 und 319f.

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tiert sich zugleich als Variante der omina imperii Justins I.4 Sie diente offenkundig dazu, einem italischen Publikum im 6. Jahrhundert eine Erklärung für den sonderbaren Umstand zu bereiten, dass nach dem Tod des Anastasios keiner seiner Verwandten an die Herrschaft gelangt war, sondern ausgerechnet Justin, der Kommandeur der Leibwache (comes excubitorum).5 Zumindest in Italien war man also davon ausgegangen, dass einer der drei Anastasios-Neffen die Nachfolge hätte antreten müssen. Doch auch im Osten wurde anscheinend längere Zeit darüber gerätselt, wie es zu diesem bemerkenswerten Herrscherwechsel kam. Das so genannte Krönungsprotokoll Justins I. – ein Text, der im Wesentlichen auf Aufzeichnungen des Petros Patrikios im 6. Jahrhundert zurückgeht und im 10. Jahrhundert noch einmal überarbeitet worden ist6 – lässt immerhin noch erkennen, welches Chaos nach dem Tod des Anastasios in der berühmten Gewitternacht zum 9. Juli 518 im Kaiserpalast zu Konstantinopel geherrscht haben muss. Ein Kandidat nach dem anderen wurde aus der Versenkung hervorgeholt, um sogleich wieder darin zu verschwinden – manche mussten um ihr Leben fürchten, es kam zu Scharmützeln.7 Erst Justin gelang es schließlich, den strukturellen Vorteil, den er als Kommandeur der anwesenden Gardetruppen ohnehin auf seiner Seite hatte, durch Bestechungsgelder (die ihm eigentlich anvertraut worden waren, um die Soldaten für einen anderen Kandidaten zu gewinnen) vollends auszunutzen und sich selbst auf den Thron zu bringen.8 All dies fasst der Berichterstatter im ‚Krönungsprotokoll‘ mit vornehmer Zurückhaltung unter der Formulierung „eine gewisse Unordnung“ ($taj›a ti«) zusammen.9 Dabei hätte man doch eigentlich davon ausgehen können, dass ein Herrscher, der – je nach Quellenzeugnis – zwischen 88 und 90 Jahren alt war,10 einige Gedanken an die Regelung seiner Nachfolge verschwendet hätte. Das war aber offenkundig nicht geschehen. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Ich selbst gehe davon aus, dass Anastasios sich als Endzeitkaiser und letzter irdischer Herrscher verstand – was dann in der Tat jegliche weitere Überlegung hinsichtlich einer möglichen Nach-

4 Prok. HA 6, 5–10; Kedren. 635 Migne, Sp. 692B–C; Zon. 14, 4, 20–21. Dazu Weber (2000), S. 230–233; Meier (2010a), S. 320. Vasiliev (1950), S. 66–68 und 88. 5 Seine Bedeutung war damals möglicherweise größer, als es mitunter erscheint; Justin hatte nicht nur in den Kriegen gegen die Isaurier und Perser militärische Ämter inne (comes rei militaris), sondern ihm kam möglicherweise auch ein maßgeblicher Anteil an der Niederringung des Rebellen Vitalian 515 zu, vgl. PLRE 2, S. 648–650 (bes. S. 649f.); Greatrex (1996), S. 134f.; Croke (2007), S. 13–56. 6 Trampedach (2005a), S. 275–290, bes. S. 277f. mit Anm. 8. 7 De caerim. 1, 93, S. 426–430 Reiske. Vgl. Lilie (1994), S. 16–19; Croke (2007), S. 16–19. 8 Justin soll vom cubicularius des verstorbenen Anastasios, Amantios (PLRE 2, S. 67f. [A. 4]), Geld erhalten haben, um die nötige Unterstützung für dessen Vertrauten Theokritos (PLRE 2, S. 1065) zu gewinnen, habe diese Mittel dann aber für sich selbst eingesetzt, vgl. Euagr. HE 4, 2. Bezeichnenderweise ließ Justin Amantios kurz nach seiner Thronbesteigung beseitigen, vgl. Croke (2007), S. 26. 9 De caerim. 1, 93, S. 426 Reiske. 10 Zu den Zeugnissen vgl. Meier (2010a), S. 322 und 429, Anm. 222.

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folge erübrigt hätte.11 Aber Anastasios stand nicht allein, sondern war eingebunden in ein komplexes Netz aus Ratgebern, Interessenvertretern und Einflüsterern. Was auch immer in diesen Kreisen geplant war – das Ergebnis, die Thronbesteigung Justins I., sorgte jedenfalls für allgemeine Verwunderung. Denn die Zeitgenossen hatten offensichtlich damit gerechnet, dass einer der Neffen des Kaisers die Herrschaft übernehmen würde.12 Prokop jedenfalls merkt in justinianischer Zeit an: „Justin kam zur Regierung, nachdem er sämtliche Anverwandte des Anastasios, trotz ihrer großen Zahl und ihrer glänzenden Stellungen, davon ausgeschlossen hatte“.13 Und noch im späten 6. Jahrhundert hebt der Kirchenhistoriker Euagrios hervor: Er erlangte die Alleinherrschaft wider alles Erwarten, denn es gab viele hervorragende und zu großem Ansehen gekommene Verwandte des Anastasios, die all die Macht hatten, die geeignet war, ihnen eine solche Herrschaft zu verschaffen.14

Wer damit vor allen anderen gemeint war, ist nicht allzu schwer zu erraten: Flavios Hypatios, der älteste der drei Neffen des Anastasios, der die skythischen Völker von den Ufern des Hister verjagt hat, den der Perser als Gewaltigen kennengelernt hat und als Furchterregenden zu spüren bekam,

wie der Anastasios-Panegyriker Priskian es (wohl im Jahr 502) in Worte gefasst hat.15 Das war ein wenig übertrieben angesichts der Tatsache, dass Hypatios im Verlauf seiner überaus glänzenden Karriere nicht nur nie eine Schlacht erfolgreich geschlagen hat, sondern wahrscheinlich nicht einmal überhaupt je Teil einer siegreichen römischen Einheit war, wie die Forschung mittlerweile bemerkt hat.16 Trotz allem: Hätte allein die militärische Erfolglosigkeit des Hypatios eine Übernahme der Kaiserherr-

11 Vgl. Meier (2010a), S. 322. 12 Vgl. Haarer (2006), S. 247. 13 Prok. BP 1, 11, 1: […] ’IoystÖno« tÎn basile›an parwlaben, $pelhlamwnvn a\tá« tân [nastas›oy jyggenân 4pˇntvn, ka›per pollân te kaÏ l›an ãpifanân òntvn. – Übersetzung: Otto Veh. 14 Euagr. HE 4, 1: periwùeto dÍ tÎn $rxÎn tÎn a\tokrˇtora pˇsh« Épwrteron ãlp›do«, ƒti ge polloÏ kaÏ öjoxoi kaÏ prÌ« p»san e\daimon›an ûkonte« kaùeist‹keisan tá« [nastas›oy syggene›a«, p»sˇn te d÷namin ãfelkfimenoi tÎn tosa÷thn a\toŒ« $rxÎn peribaleÖn ãjisx÷oysan – möglicherweise basierend auf Prokop, vgl. Allen (1981), S. 173. – Übersetzung: Adelheid Hübner. 15 Priscian. Pan. v. 299f.: qui Scythicas gentes ripis depellit ab Histri, / quem vidit validum Parthus sensitque timendum. Zur umstrittenen Datierung Priskians (502/03 oder 512–515) vgl. Cameron (1974), S. 313–316 (503); Chauvot (1977), S. 539–550 (513); Chauvot (1986), S. 98–107 (513); Coyne (1991), S. 7–16 (513); Ballaira (1989), S. 21–27 (513); Haarer (2006), S. 272–277 (502); Motta (2003), S. 199f., Anm. 20 (Literatur). Trotz der einem argumentum e silentio inhärenten Problematik spricht meines Erachtens vor allem die Tatsache, dass Priskian weder den Abschluss des Perserkrieges noch die im Anschluss daran begonnene umfangreiche Bautätigkeit im Osten (Dara) erwähnt, für die Frühdatierung seines Panegyricus auf 502; als gesichert kann dies aber nicht gelten. 16 Greatrex (1996), S. 120.

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schaft verhindern können? Wohl kaum. Denn in diesem Fall hätten sich Zeitgenossen nicht derartig darüber wundern müssen, dass Hypatios die Anastasios-Nachfolge nicht antrat. Ganz offenkundig galt er jedoch durchaus als denkbarer Kandidat, und im Nika-Aufstand gegen Justinian (Januar 532) wurde er dementsprechend von der tobenden Menge zum Augustus erhoben (s.u.). Die Tatsache, dass es in der Todesnacht des Anastasios nicht geklappt hat, dass offenbar nicht einmal sein Name unter den verschiedenen Kandidaten ins Spiel gebracht wurde, bedarf daher einer Erklärung; eine solche muss über das simple Argument, Hypatios habe sich möglicherweise in den entscheidenden Stunden nicht in Konstantinopel befunden,17 hinausgehen. Denn auch dafür hätte man angesichts des fortgeschrittenen Alters des Anastasios Vorsorge treffen können – wenn denn Hypatios tatsächlich ernsthaft zu den Kandidaten gezählt hätte. Das aber war wohl nicht der Fall. Stattdessen treffen wir auf eine erklärungsbedürftige Differenz zwischen einer allgemeinen Erwartungshaltung (die sich in den Quellen hinreichend spiegelt) und dem Ablauf des Geschehens: Der auf den ersten Blick aussichtsreichste Verwandte des Herrschers wird nicht dessen Nachfolger. Ich möchte dieses Problem im Folgenden in zwei Schritten diskutieren: Im ausführlichen ersten Abschnitt soll ein Blick auf die Laufbahn des Hypatios im Kontext der oströmischen hofnahen Oberschicht der Zeit um 500 geworfen werden, um Faktoren zu erörtern, die für sein Fortkommen bzw. für die Stagnation seiner Karriere in entscheidenden Momenten möglicherweise von Bedeutung waren. Anschließend gilt es in ganz kurzen Strichen die dabei gewonnenen Ergebnisse vor einem allgemeineren Hintergrund, der grundsätzlich nach der Bedeutung von Verwandtschaft (im Sinne von Dynastiebildung) für Herrschaft bzw. für politischen Einfluss in der römischen Spätantike – insbesondere in den Jahren um 500 – fragt, zu diskutieren. Eine wichtige Einschränkung ist dabei allerdings gleich zu Beginn vorauszuschicken: Weiterhin fehlen für die oströmische Aristokratie des 5. und 6. Jahrhunderts grundlegende Untersuchungen, so dass noch immer nur sehr wenig über Netzwerke, Personalbeziehungen, Zentrum-Peripherie-Bezüge, typische Karrieremuster, prosopographische Details usw. bekannt ist. Die hier vorgetragenen Überlegungen müssen dementsprechend holzschnittartig bleiben.

1 Caesaria, die Schwester des Anastasios, war verheiratet mit Sekundinos, den Anastasios anlässlich eines Aufruhrs 491 zum Stadtpräfekten von Konstantinopel befördert und 511 zum Konsul ernannt hatte. Dieser Ehe entstammten drei Brüder – die berühm-

17 So Greatrex (1996), S. 121; Haarer (2006), S. 247 und 249; Croke (2007), S. 16; Meier (2010a), S. 322.

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ten Neffen des Anastasios: Hypatios, Pompeios und Probos.18 Sie wurden nacheinander durch die Verleihung des Konsulats ausgezeichnet, Hypatios im Jahr 500, Pompeios 501, Probos 502. Die großzügige Ausstattung von Verwandten mit hohen Titeln und Ämtern, namentlich mit Konsulaten, ist ein Charakteristikum der Herrschaft des Anastasios;19 dies bildete mit eine der Grundlagen dafür, dass die Familie trotz des dynastischen Wechsels im Jahr 518 bis weit in das 6. Jahrhundert hinein höchst einflussreich blieb.20 Das bekannteste Mitglied dieser Familie war der Kaiserneffe Hypatios. Nach einer möglichen Beteiligung im Bürgerkrieg gegen die Isaurier 491–49821 und seinem Konsulat wirkte er erstmals prominent als magister militum praesentalis im römisch-persischen Krieg 502–506, wo er in enger Kooperation mit dem Phryger Patrikios, seinem Mitkonsul aus dem Jahr 500, agierte,22 aber keine nennenswerten Erfolge verzeichnen konnte – ganz im Gegenteil: Ihrem Mitfeldherrn Areobindos, der sich in höchst gefährlicher Lage befand, kamen die beiden Kollegen zu spät zur Hilfe (was tiefe Verwerfungen in der römischen Oberschicht zur Folge gehabt haben muss, s.u.), im Sommer 503 erlitten sie eine schwere Niederlage.23 Beiden haftete von nun an der Makel der Feigheit an,24 und Anastasios zog seinen Neffen folgerichtig zunächst erst einmal aus dem Verkehr, indem er ihn nach Konstantinopel zurückbeorderte.25 Sein Gefährte Patrikios durfte hingegen auf dem Kriegsschauplatz verbleiben (s.u.). Die von den Misserfolgen im römisch-persischen Krieg offenbar nur temporär beeinträchtigte Karriere des Hypatios setzte sich – für uns erkennbar – etwa ein Jahrzehnt nach seiner Rückberufung fort. Mit dem homonymen magister militum per Thracias des Jahres 513, dessen rigide Umsetzung kaiserlicher Maßnahmen zu den Auslösern der Revolte Vitalians 513–515 gehörte, ist er (entgegen der „Prosopography of the Later Roman Empire“)26 wahrscheinlich nicht identisch,27 wohl aber mit jenem

18 Caesaria: PLRE 2, S. 248 (Caesaria 1) – Sekundinos: PLRE 2, S. 986 (Secundinus 5) – Hypatios: PLRE 2, S. 577–581 (Fl. Hypatius 6) – Pompeios: PLRE 2, S. 898f. (Pompeius 2) – Probos: PLRE 2, S. 912f. (Fl. Probos 8). Entgegen der PLRE (vgl. auch Stemma 9, S. 1314) war Probos nicht Cousin, sondern wohl Bruder der beiden Erstgenannten, vgl. Cameron (1978), S. 259–262. 19 Cameron (1978), S. 260f.; Haarer (2006), S. 193: Anastasios bekleidete das Konsulat 492, 497 und 507 selbst; seine Neffen Hypatios, Pompeios und Probos erhielten diese Auszeichnung 500, 501 und 502, Anastasios’ Bruder Paulos 496, Caesarias Mann Sekundinos 511 (also bezeichnenderweise erst ein Jahrzehnt nach seinen Söhnen); 517 amtierte Anastasios’ Großneffe Flavios Anastasios Paulos Probos Sabinianos Pompeios Anastasios, 518 folgte dessen Bruder Flavios Anastasios Paulos Probos Moschianos Probos Magnos; Flavios Moschianos, ein Verwandter des letzteren (evtl. dessen Vater), war Konsul im Jahr 512. Für eine Übersicht vgl. Bagnall u.a. (1987), S. 516–571. 20 Dazu im Einzelnen Cameron (1978), S. 263–276. 21 Dies legt Mich. Syr. 9, 11, S. II 168 Chabot nahe. 22 Zu Patrikios (PLRE 2, S. 840–842 [Fl. Patricius 14]) s.u. 23 Zu den Einzelheiten des römisch-persischen Krieges vgl. Greatrex (1998). 24 Marc. Com. a. 503, S. 96 Mommsen (sine audacia); Joh. Lyd. mag. 3, 53, S. 214, 11f. Bandy; Prok. BP 1, 8, 19. 25 Jos. Styl. 88, S. 89 Luther; Malal., S. 326, 47–50 Thurn; Theoph. a.m. 5998, S. I 148, 2–6 de Boor. 26 PLRE 2, S. 578f.

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unglücklichen Heerführer, der den Aufrührer an der Spitze einer riesigen Armee ausradieren sollte, dabei aber vernichtend geschlagen wurde, in Gefangenschaft geriet und sich gezielte Demütigungen zumuten lassen musste, weil er angeblich Jahre vorher die Frau Vitalians vergewaltigt haben soll. Erst gegen eine beträchtliche Lösegeldzahlung durch Anastasios kam er wieder frei,28 um kurze Zeit darauf gleich in die nächste peinliche Affäre verstrickt zu werden: Im Herbst des Jahres 516 traf er in Jerusalem ein, wo er ein Gelübde einzulösen gedachte, das er nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft Vitalians geleistet hatte. Damals herrschte in der heiligen Stadt gerade beträchtliche Unruhe; chalkedonische Mönche widersetzten sich erbittert dem Versuch des Kaisers, einen miaphysitischen bzw. Severos-freundlichen Patriarchen zu installieren. Hypatios stolperte mitten in die Tumulte hinein, wurde von den chalkedonischen Mönchen aufgegriffen und fand sich einmal mehr als Geisel wieder. Für seine Freilassung zwang man ihn offensichtlich, ein Bekenntnis zum Chalcedonense abzugeben, und obwohl er zuvor der miaphysitischen Identifikationsfigur Severos von Antiocheia freundschaftlich verbunden gewesen war,29 behauptete er nun eifrig, mit diesem nichts zu tun zu haben, und bekräftigte dies auch noch durch überaus großzügige Geschenke an die chalkedonischen Mönche.30 Dennoch hielt Anastasios weiterhin seine schützende Hand über den Unglücksraben. Als magister militum per Orientem traf Hypatios 517 im kilikischen Aigai mit Severos von Antiocheia zusammen, den er eben noch verleugnet hatte und von dem er sich nunmehr in einem Hymnos feiern ließ.31 Bei der Thronfolge wurde er – wie gesagt – übergangen, aber auch Justin I. hielt Hypatios in hohen Ehren, was dafür spricht, dass er in ihm keine allzu große Konkurrenz oder gar Gefahr sah. Es ist ohnehin bezeichnend, dass das neue Regime Justins und Justinians32 nicht die Neffen des

27 Zur Diskussion vgl. Cameron (1974), S. 313f.; Greatrex (1996), S. 132 und 140–142; Haarer (2006), S. 167, Anm. 245. Ein vorsichtiges Angebot macht PLRE 2, S. 577 (Hypatius 5). 28 Iord. Rom. 358f.; Marc. Com. a. 515, 3, S. 99 Mommsen; Vict. Tunn. a. 511, S. 195 Mommsen; Ps.Zach. HE 7, 13, S. 137, 3–18 und 8, 2, S. 141, 31–35 Ahrens/Krüger; Kyrill. Skyth. V. Sabae, S. 151, 13–15 Schwartz; Joh. Ant. fr. 311, Z. 46–85 Roberto; Theod. Anagn. fr. 503, S. 143 Hansen; Theoph. a.m. 6005, S. I 157, 16–19; Theoph. a.m. 6006, S. I 160, 28–31 de Boor. Verwirrend, weil zu stark zusammenfassend und verkürzend, sind die Berichte Malal., S. 329, 14–18 Thurn (darauf basierend Joh. Nik. 89, 73, S. 130 Charles), und Euagr. HE 3, 43. Vgl. auch Greatrex (1996), S. 132f.; Haarer (2006), S. 170–172; Meier (2010a), S. 299f., sowie ausführlich, in den Schlussfolgerungen aber nicht überzeugend, Peeters (1950). 29 Greatrex (1996), S. 122 mit Anm. 9 (Belege aus den Schriften des Severos) und S. 136ff. 30 Kyrill. Skyth. V. Sabae, S. 151, 15; 152, 6–12 Schwartz; vgl. Theod. Anagn. fr. 518, S. 149 Hansen; Theoph. a.m. 6005, S. I 159, 1–5 de Boor. Greatrex (1996), S. 122f.; Trampedach (2005b); Haarer (2006), S. 161; Meier (2010a), S. 315f. 31 Sev. Ant. hymn. 198, S. 661f. Brooks. 32 Wenn hier vom „Regime Justins und Justinians“ gesprochen wird, so ist damit keine Aussage darüber getroffen, ob und in welchem Maße Justinian schon unter Justin I. die kaiserliche Politik bestimmt hat. Während man noch bis in die neuere Forschung zumeist von einem hohen Einfluss Justi-

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Anastasios als mögliche Rivalen ansah und gezielt ausschaltete, sondern vielmehr dessen erbittertsten Gegner, den Usurpator der Jahre 513–515 Vitalian, mit dem Justin und Justinian immerhin das gemeinsame Bekenntnis zu Chalkedon verband.33 Im Übrigen verblieb Hypatios lediglich in jenen Jahren, in denen sich der Einfluss Vitalians (cos. 520) besonders bemerkbar machte, ohne höheres Amt: 518–520.34 Seit August 52035 – also unmittelbar nach der wohl von Justinian betriebenen Ermordung des damaligen Konsuls Vitalian im Juli desselben Jahres36 – ist er wieder als magister militum per Orientem bezeugt und wurde nach einigen ruhigen Jahren prompt 525 in eine Korruptionsaffäre verwickelt. Justin soll daraufhin einige Verwandte des Hypatios besonders hart (pikrfitata) gefoltert haben, aber die Untersuchungsergebnisse blieben dürftig, so dass der Beschuldigte, der inzwischen den patricius-Titel trug,37 zwar sein Amt verlor, sonst aber unbehelligt blieb.38 In den Jahren 527–529 erhielt er die Würde eines magister militum per Orientem wieder zurück, verhandelte ohne Erfolg mit den Persern und wurde durch Belisar abgelöst.39 Den Höhepunkt seiner Karriere markiert indes seine kurzfristige Ausrufung zum Augustus am 18. Januar 532 während des Nika-Aufstandes in Konstantinopel.40 Auch diese Episode nahm für Hypatios allerdings keinen günstigen Ausgang: Noch bis zum Abend des 17. Januar hatten er und sein Bruder Pompeios sich gemeinsam mit anderen Senatoren im Palast beim Kaiser befunden, wurden dann aber entlassen – dem Chronicon Paschale (um 630) zufolge, um ihnen die Gelegenheit zu geben, ihre Anwesen vor Plünderungen zu schützen; Prokop allerdings behauptet, der eigentliche Grund für diesen gefährlichen Schritt habe in Justinians Misstrauen gegenüber Hypatios bestanden.41 Letzterer selbst sah das Verhängnis ohnehin voraus und bat den Kai-

nians im Hintergrund ausgegangen ist, vertritt Croke (2007), passim, neuerdings die These, dass Justin weitestgehend selbständig agiert habe. 33 Dies hebt zu Recht Greatrex (1996), S. 134, hervor. Zu Vitalian, den Justin zunächst durch die Verleihung hoher Ehren (comes et magister militum praesentalis, Konsulat) an sich zu binden versuchte, vgl. PLRE 2, S. 1171–1176 (Fl. Vitalianus 2); Greatrex (1996), S. 132–136; Meier (2007b), S. 203–209; Ruscu (2008). 34 Damals wurde er als magister militum durch Diogenianos (PLRE 2, S. 362 [Diogenianus 4]) abgelöst, dem er dann 520 seinerseits wieder nachfolgte, vgl. Croke (2007), S. 23 und 35f. Zu Vitalians hoher politischer Bedeutung in den ersten Jahren der Herrschaft Justins I. vgl. jetzt PLRE 2, bes. S. 26ff. Gerade im Kontext der Verhandlungen zwischen Rom und Konstantinopel über die Aufhebung des Akakianischen Schismas kommt Vitalian eine zentrale Rolle zu. 35 Conc. Constantinop. (Straub 1971), S. 199, 22–200, 27. 36 Dazu Meier (2004), S. 186f.; Croke (2007), S. 33–35, der eine erneute Rebellion Vitalians als Grund für dessen Beseitigung vermutet. 37 Prok. BP 1, 11, 24; Malal., S. 352, 59 und 373,41 Thurn; Theoph. a.m. 6016, S. I 170, 30; Theoph. a.m. 6021, S. I 178, 19 de Boor; Mar. Avent. a. 532, S. 235 Mommsen. 38 Prok. BP 1, 11, 31–39; PLRE 2, S. 580. 39 Malal., S. 373, 37–45 Thurn; Theoph. a.m. 6021, S. I 178, 18f. de Boor. 40 Zum Nika-Aufstand vgl. Greatrex (1997); Meier (2003), jeweils mit der älteren Literatur. 41 Chron. Pasch., S. I 624, 3f. Dindorf; Prok. BP 1, 24, 19–21.

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ser, in seiner Nähe bleiben zu dürfen – was dieser allerdings nicht gestattete.42 Folgerichtig verließen Hypatios und Pompeios daraufhin den Palast, und Hypatios wurde am nächsten Tag von den Aufrührern zum Kaiser ausgerufen. Als dann auch noch die falsche Nachricht umging, Justinian sei geflohen, fand Hypatios zunehmend Gefallen an seiner neuen Rolle als Augustus. Wie üblich, ging das Unternehmen aber auch dieses Mal für Hypatios schief: Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen; etwa 30000–35000 Tote blieben im Hippodrom zurück. Justinian ließ Hypatios und Pompeios am Morgen des 19. Januar exekutieren und ins Meer werfen.43 Mit aller gebotenen Vorsicht – insbesondere hinsichtlich der Repräsentativität – lassen sich aus der Karriere des Hypatios einige Rückschlüsse auf die politische Bedeutung von Verwandtschaft im Oströmischen Reich um 500 ziehen – wohlgemerkt: Es geht hier lediglich um die Verwandten eines Kaisers. Auf den ersten Blick mag man den Eindruck gewinnen, dass Anastasios seine Neffen wo irgend möglich protegiert und befördert hat: Dies erstreckt sich von ihrer Auszeichnung durch Konsulate in den Jahren 500–502 bis hin zur wiederholten Ernennung des Hypatios zum magister militum (trotz aller Erfolglosigkeit!); seine Abberufung nach den wiederholten Missgeschicken im Krieg gegen die Perser 503 kann vor diesem Hintergrund auch dem Schutz des Feldherrn gedient haben, der offenbar scharfer Kritik ausgesetzt war (s.o.). Dem steht allerdings weiterhin der Sachverhalt gegenüber, dass der Kaiser offenbar überhaupt nichts dafür getan hat, Hypatios oder einen seiner Brüder so systematisch zu seinem Nachfolger aufzubauen, dass ein reibungsloser Übergang möglich gewesen wäre, ja wenigstens überhaupt einer ihrer Namen in der fraglichen Nacht hätte genannt werden können. Zu berücksichtigen ist überdies, dass der auf den ersten Blick glanzvollen Karriere des Hypatios Laufbahnen von Zeitgenossen entgegengehalten werden können, die mindestens ebenbürtig erscheinen: So wurde z.B. Patrikios nach den militärischen Fehlschlägen im Osten, die er immerhin gemeinsam mit Hypatios zu verantworten hatte, nicht wie dieser zurückberufen und konnte fast zwei Jahrzehnte lang, von 500 bis 518, das Amt des magister militum praesentalis bekleiden.44 Zugleich diente er – und nicht einer der Kaiserneffen – Anastasios als Vermittler in schwierigen Situationen, so etwa im Zusammenhang mit der Absetzung des Patriarchen von Konstantinopel Makedonios 511, während des gefährlichen Staurotheis-Aufstandes 512 oder auch als Verhandlungsführer während der Revolte Vitalians 513.45 All dies mag

42 Prok. BP 1, 24, 20f. 43 Prok. BP 1, 24, 22–58; Malal., S. 397, 73–400, 6 Thurn; Chron. Pasch., S. I 624, 4–627, 18 Dindorf; Theoph. a.m. 6024, S. I 185, 3–30 de Boor; Exc. de insid. 46, S. 172, 14ff. de Boor. Nach Vict. Tunn. a. 530 (sic), S. 198 Mommsen, erfolgten die Ermordung der Brüder und die Beseitigung der Leichen noch in der Nacht. 44 Zu Patrikios vgl. PLRE 2, S. 840–842 (Fl. Patricius 14); Greatrex (1996), S. 125f.; Meier (2007b), S. 190–195. 45 Vgl. Meier (2007b), S. 193–195 mit den Belegen; Dijkstra/Greatrex (2009), S. 230–239.

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mit ein Grund dafür gewesen sein, dass Patrikios – und nicht etwa Hypatios – in der Todesnacht des Kaisers als potentieller Nachfolger gehandelt wurde. Den Exkubitoren behagte dieser Vorschlag jedoch ganz und gar nicht; sie gingen auf Patrikios los, und nur das beherzte Eingreifen Justinians (der ebenfalls als Kandidat ins Gespräch gebracht wurde, aber damals noch dankend ablehnte) rettete ihm das Leben.46 Gleichfalls eine wichtige Rolle – allerdings nicht als Thronprätendent, sondern als ordnende Hand – spielte in jener turbulenten Nacht der Vorsteher der Palastverwaltung und Konsul des Jahres 508 Keler.47 Auch er wurde dadurch ausgezeichnet, eine der höchsten Würden kontinuierlich behaupten zu dürfen, und amtierte – mindestens seit 503 – bis zum Jahr 518 als magister officiorum; er wird in der Überlieferung als des Kaisers vertrautester Freund präsentiert.48 Anastasios setzte Keler, der im Übrigen häufig gemeinsam mit Patrikios agierte, nach den anfänglichen, u.a. von Hypatios mitverursachten Misserfolgen im Krieg gegen die Perser ein, und mit Keler wandte sich tatsächlich das Blatt zugunsten der Römer.49 Er überwachte die sichere Rückkehr des Severos von Konstantinopel nach Syrien und war gemeinsam mit Patrikios in die Exilierung des Patriarchen Makedonios involviert. Obwohl Justin I. den mächtigen Palastchef 518 absetzte, blieb dieser dennoch einflussreich und schaltete sich – wie auch Patrikios – in die Verhandlungen um die Aufhebung des Akakianischen Schismas mit Rom ein. Schließlich Marinos von Apameia50 – ein Finanzfachmann, der mit verschiedenen wichtigen administrativen Reformmaßnahmen des Anastasios in Verbindung gebracht werden kann und unter diesem Kaiser kontinuierlich aufstieg; er scheint ähnlich wie Keler sein besonderes Vertrauen genossen zu haben und erfreute sich dementsprechend einer außergewöhnlichen Nähe zum Herrscher. Nach dem Staurotheis-Aufstand im November 512 wurde er zum praefectus praetorio Orientis befördert; Justin I., der sich durch ihn angegriffen fühlte, entließ ihn 519.51 Verglichen mit anderen prominenten Mitgliedern der oströmischen Aristokratie gestaltet sich die Laufbahn des Hypatios also keineswegs sonderlich exzeptionell; Patrikios jedenfalls, der mit ihm gemeinsam im Jahr 500 das Konsulat bekleidete, konnte das Amt des magister militum bis 518 kontinuieren, während Hypatios phasen-

46 De caerim. 1, 93, S. 427f. Reiske. 47 Zu Keler vgl. PLRE 2, S. 275–277 (Celer 2); Greatrex (1996), S. 126f.; Meier (2007b), S. 190–195; Dijkstra/Greatrex (2009), S. 230–239 – dort jeweils auch die Belege zum Folgenden. 48 Joh. Lyd. mag. 3, 17, S. 160, 9f. Bandy. 49 Greatrex (1998), S. 108ff. 50 Zu Marinos vgl. PLRE 2, S. 726–728 (Marinus 7); Greatrex (1996), S. 129; Meier (2007b), S. 182–188; Meier (2007a) – dort jeweils auch die Belege zum Folgenden. 51 Marinos hatte es gewagt, auf einem öffentlichen Gebäude den Aufstieg Justins aus niedrigsten Verhältnissen bildlich darstellen zu lassen (Ps.-Zach. HE 8, 1, S. 140, 4–24 Ahrens/Krüger), was der Kaiser als massive Beleidigung empfand. Hinzu kam, dass Marinos konspirative Kontakte zu Amantios gepflegt haben soll (Exc. de insid. 43, S. 170, 18–171, 5 de Boor [aus Malal.]).

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weise Absetzungen zu verkraften hatte. Dass sich das Verhältnis des Anastasios zu seinen Neffen indes auch grundsätzlich ausgesprochen differenziert gestaltete, verrät ein Blick auf Probos und Pompeios. Ersterer52 bleibt in der Überlieferung insgesamt recht schattenhaft; er wurde zwar 502 – als letzter der drei Anastasios-Neffen – mit dem Konsulat ausgezeichnet, begegnet unter seinem Onkel aber nirgendwo in höheren Ämtern. Bezeichnenderweise erscheint er erst unter Justin I. als Heerführer (magister militum?), ohne sich dabei aber größere Meriten zu erwerben.53 Dies spricht dafür, dass Anastasios’ Nachfolger auch ihn nicht als Gefahr ansahen, ja man kann sogar noch weiter gehen: Als Probos um das Jahr 528 wegen Majestätsbeleidigung angeklagt wurde, erschien Justinian persönlich vor dem Senat, zerriss demonstrativ die Prozessunterlagen und verkündete dem Beschuldigten, dass er ihm verzeihe – woraufhin die Senatoren eifrig dem Kaiser akklamierten.54 Probos war also unbedeutend genug, um an ihm ostentative Gesten der Milde zu vollziehen. Pompeios55 hingegen, der gemeinsam mit seinem Bruder Hypatios im Nika-Aufstand den Tod fand (s.o.), war schon mit Anastasios aneinandergeraten: Der Konsul des Jahres 501 war ein bekennender Anhänger des Chalcedonense, was zu Spannungen mit seinem Onkel geführt haben soll. Gemeinsam mit Vitalian und Justinian gehörte er nach Anastasios’ Tod zur Delegation der sublimes et magnifici viri, die im Zuge der Unionsverhandlungen mit Rom 519 die päpstlichen Gesandten feierlich vor Konstantinopel empfingen.56 Bereits unter der Herrschaft des Anastasios hatte er den exilierten Patriarchen Makedonios unterstützt, was der Kaiser mit gezielten Demütigungen gegenüber seinem Neffen quittiert haben soll (ãtape›noy).57 Seine Frau Anastasia verkehrte mit dem Mönchsvater Sabas, als dieser, eine Identifikationsfigur der Chalkedonier, sich 511/12 in Konstantinopel aufhielt.58 Trotz dieser religiösen Differenzen erscheint Pompeios aber um 517 als magister militum per Thracias; er hat sich in diesem Amt offenbar jedoch nicht bewährt.59 Anastasios förderte also seine nächsten Angehörigen in Maßen, aber er hob sie nicht in herausragender Weise aus den übrigen Mitgliedern der höchsten Reichseliten hervor und sorgte – um dies noch einmal zu betonen – auch nicht dafür, dass ihm einer von ihnen auf dem Thron nachfolgen konnte. Im Fall des Hypatios könnte man

52 PLRE 2, S. 912f. (Fl. Probus 8). Zu ihm vgl. auch Greatrex (1996), S. 129. 53 Sev. Ant. epist. 79, S. 125f. Brooks. Vgl. Prok. BP 1, 12, 6–9; Ps.-Zach. HE 7, 12, S. 255, 10–26 Ahrens/ Krüger. 54 Malal., S. 367, 95–98 Thurn. 55 Zu Pompeios vgl. PLRE 2, S. 898f. (Pompeius 2); Greatrex (1996), S. 129–131; Meier (2007b), S. 200–202. 56 Coll. Avell. 163, S. 614f.; Coll. Avell. 167, S. 619; Coll. Avell. 174, S. 630f.; Coll. Avell. 223, S. 683 Guenther. Vgl. Vitiello (2005). 57 Theod. Anagn. fr. 505, S. 144 Hansen; Theoph. a.m. 6005, S. I 158, 4–8 de Boor. 58 Kyrill. Skyth. V. Sabae 53, S. 145, 7–13 Schwartz. 59 Iord. Rom. 356.

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allenfalls die Tatsache hervorheben, dass der Kaiser seinen Neffen trotz dessen notorischer Erfolglosigkeit nie ganz fallenließ. Für die Frage nach der politischen Bedeutung der Verwandten des Kaisers ist aber nicht nur der Herrscher selbst als Bezugspunkt relevant, sondern auch andere Gruppen verdienen gesonderte Aufmerksamkeit – insbesondere die übrigen Mitglieder der Oberschicht. Im Fall des Hypatios ergeben sich hier interessante Gesichtspunkte. Wie bereits angemerkt, begingen Patrikios und Hypatios während des römisch-persischen Krieges 503 einen schweren Fehler, als sie der Aufforderung ihres Mit-Feldherrn Areobindos nicht nachkamen, ihm in höchster Bedrängnis raschen Entsatz zuzuführen, so dass dieser sich gedemütigt zurückziehen musste und im Anschluss daran den Kriegsschauplatz demonstrativ verlassen wollte, um seiner Kränkung sichtbaren Ausdruck zu verleihen; nur den Beschwichtigungen seines Unterfeldherrn Apion war es zu verdanken, dass er schließlich doch vor Ort verblieb.60 Flavios Areobindos Dagalaiphos61 war nicht irgendwer: Als Enkel Ardaburs (cos. 447)62 und Urenkel des Flavius Ardabur Aspar (cos. 434)63 gehörte er einer Familie des höchsten oströmischen Militäradels an,64 die vor allem um die Mitte des 5. Jahrhunderts – vor dem Aufstieg der Isaurier – höchsten Einfluss genossen hatte. Durch die Heirat mit Anicia Iuliana65 war es ihm gelungen, diese namhafte Ahnenreihe noch zusätzlich zu veredeln, denn Iuliana war die Tochter des weströmischen Kaisers Olybrius (472), eine Enkelin Valentinians III. (425–455) und Urenkelin Theodosios’ II. (408–450) und Eudokias, konnte ihre Abstammung also bis auf die theodosianische Dynastie zurückführen66 und verfügte damit über ein Kapital, das Anastasios und seinen Nachfolgern abging. Aus ihrer Abkunft bezog die patricia67 offensichtlich eine gewisse Unabhängigkeit von den jeweils herrschenden Kaisern, die sich insbesondere in ihrer strikt chalkedonischen Haltung und ihrer regen Stiftungsaktivität manifestiert. Ebenso wie Anastasia, die Frau des Anastasios-Neffen Pompeios, unterhielt sie enge Kontakte zum Mönchsvater Sabas,68 der allerdings auch von Anastasios mit hoher Achtung empfangen wurde.69 Obwohl der Kaiser und auch Patriarch Timotheos erheblichen Druck auf sie ausübten, blieb Anicia Iuliana ihrer theologischen Position treu70 und zählte dann

60 Theoph. a.m. 5997, S. I 146, 21–24 de Boor. Vgl. Greatrex (1998), S. 98; Haarer (2006), S. 59. 61 Zu ihm vgl. PLRE 2, S. 143f. (Fl. Areobindus Dagalaiphus Areobindus 1); Meier (2007b), S. 196–200. 62 PLRE 2, S. 135–137 (Ardabur iunior 1). 63 PLRE 2, S. 164–169 (Fl. Ardabur Aspar). 64 Vgl. das Stemma PLRE 2, S. 1310. 65 PLRE 2, S. 635f. (Anicia Iuliana 3); Capizzi (1968); Pazdernik (1999). 66 Vgl. das Stemma PLRE 2, S. 1309, Nr. 3 (mit dem Stemma S. 1308); Capizzi (1968), S. 193ff.; Croke (2007), S. 16: „the living legacy of the Theodosian imperial family“. 67 Vgl. PLRE 2, S. 636, mit den Belegen. 68 Kyrill. Skyth. V. Sabae 53, S. 145, 7–13 Schwartz. 69 Kyrill. Skyth. V. Sabae 51, S. 141, 24–143, 15; Kyrill. Skyth. V. Sabae 52, S. 143, 16–144, 28; Kyrill. Skyth. V. Sabae 54, S. 145, 14–146, 23 Schwartz. 70 Theod. Anagn. fr. 504, S. 144, 5–8 Hansen; Theoph. a.m. 6005, S. I 157, 34–158, 4 de Boor.

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ihrerseits unter Justin I. zu jenen Mitgliedern der oströmischen Oberschicht, die sich an den Verhandlungen um die Beilegung des Akakianischen Schismas aktiv beteiligten, wobei sie unabhängig mit Papst Hormisdas korrespondierte.71 Besondere Berühmtheit erlangte Anicia Iuliana aufgrund ihrer zahlreichen Kirchenbau-Initiativen. Mehrere Gotteshäuser wurden von ihr finanziert, darunter der monumentale Neubau der Polyeuktos-Kirche (524–527), der ausdrücklich an den Tempel Salomons gemahnen sollte und sogar Justinian in einen aristokratischen Wettstreit trieb, der selbst im fernen Westen literarische Reflexe gefunden hat:72 Die von ihm 532–537 neu errichtete Hagia Sophia sollte u.a. die Polyeuktoskirche Anicia Iulianas übertreffen.73 Das von Patrikios und Hypatios zu verantwortende Missgeschick im Jahr 503, das Areobindos zu seiner schmählichen Flucht vor den Persern zwang, erlangt vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung: Hier kollidierten ein Mitglied und ein enger Vertrauter der aktuellen Herrscherfamilie mit einem Angehörigen des prominenten Militäradels des 5. Jahrhunderts, im weiteren Sinne mit den letzten Nachkommen der großen theodosianischen Dynastie. Das war mehr als nur ein inneraristokratischer Konflikt, und die Begebenheit scheint dementsprechend Spuren hinterlassen zu haben: So wie man Patrikios und Hypatios seitdem Unerfahrenheit und Feigheit vorwarf (s.o.), galt Areobindos seinen Widersachern fortan als geldgierig, als Luxusmensch, als Freund von Flötenspiel und Gesang, während seine Anhänger ihn durchaus zu schätzen wussten;74 es ist denkbar, dass entsprechende Nachrichten die gegenseitigen Vorhaltungen aus den beiden Lagern reflektieren. Anastasios musste vor diesem Hintergrund die Balance wahren. Er durfte Areobindos und seinen Anhängern keine allzu großen Spielräume gewähren, musste aber gleichzeitig auch darauf achten, die Bindung zu diesem ebenso einflussreichen wie angesehenen Teil der oströmischen Elite nicht zu verlieren. Dass die Situation rasch gefährliche Eskalationsstufen erreichen konnte, illustrieren die Ereignisse des Staurotheis-Aufstandes (512): Es war sicherlich kein Zufall, dass die Aufrührer ausgerechnet Areobindos zum Gegenkaiser ausriefen. Dass dieser wiederum rechtzeitig von seinem Anwesen geflohen war und damit für eine Kaisererhebung nicht zur Verfügung stand, deutet darauf hin, dass er dem Kaiser gegenüber grundsätzlich loyal zu bleiben gedachte.75 Den Fehltritt seiner beiden Truppenführer Hypatios und Patrikios gegenüber Areobindos kompensierte dieser offenbar dadurch, dass er dem gekränkten magister militum per Orientem für das Jahr 506 das Konsulat verlieh – noch vor dem

71 Coll. Avell. 164, II S. 615; Coll. Avell. 179, S. 635; Coll. Avell. 198, S. 657f. Guenther. 72 Vgl. Gregor von Tours, Glor. mart., c. 102 [103] (Krusch 1885), S. 555, 20–557, 5. 73 Zu Justinian, Anicia Iuliana und der Polyeuktoskirche vgl. Harrison (1983); Harrison (1990), bes. S. 36, 40 und 137ff.; Meier (2004), S. 66, Anm. 94, und S. 188f.; Alchermes (2005), S. 343–375, hier S. 364f.; Brubaker (2005), S. 439f. 74 Joh. Lyd. mag. 3, 53, S. 214, 9–11 Bandy; Greatrex (1996), S. 127. 75 Marc. Com. a. 512, 4, S. 98 Mommsen; Malal., S. 334, 28–31 Thurn; Joh. Nik. 89, 65, S. 129 Charles; Chron. Pasch., S. I 610, 1–6 Dindorf.

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eigentlichen Sieger im Perserkrieg, dem magister officiorum Keler, der erst 508 diese Auszeichnung erhielt. Weitere höhere Ämter sind für Areobindos hingegen nicht bezeugt. Als magister militum agierte er lediglich 503–504 (evtl. 505); in den Konsulardiptychen erscheint er darüber hinaus als comes sacri stabuli.76 Anders als seine Frau Anicia Iuliana erhielt er wohl nicht den patricius-Titel, der besondere Kaisernähe signalisierte. Nach dem Staurotheis-Aufstand verschwindet Areobindos aus der Überlieferung.77 Immerhin: Olybrios (cos. 491), der Sohn des Areobindos und der Anicia Iuliana, wurde mit Anastasios’ Nichte Irene vermählt und könnte vereinzelt sogar als potentieller Nachfolgekandidat gegolten haben.78 Der Kaiser versuchte sich also in einer Gratwanderung, was den Umgang mit der Familie des Areobindos anging: Nähe und Distanz hielten sich die Waage. Die Situation um 500 war indes wesentlich komplizierter, als dass sie sich mit einem einfachen Zwei-Lager-Modell erfassen ließe, wenngleich für eine auch nur annähernde Rekonstruktion der Beziehungsgeflechte nicht nur das erforderliche Quellenmaterial, sondern auch – um es noch einmal zu wiederholen – grundsätzliche prosopographische Studien fehlen. Offenkundig ist aber, dass verschiedene Netzwerke interagierten und sich gegenseitig auch überlappten – und dass dabei die Verwandtschaft zum Kaiser nur einen von verschiedenen handlungsleitenden Faktoren ausmachte. So scheint z.B. über das gemeinsame chalkedonische Bekenntnis eine Verbindung zwischen dem Kaiserneffen Pompeios (bzw. seiner Frau Anastasia) und Anicia Iuliana bestanden zu haben, deren Bezugspunkt der palästinische Mönch Sabas während seines Konstantinopel-Aufenthaltes 511/12 bildete.79 Patrikios wiederum kooperierte eng mit dem Kaiserneffen Hypatios, war aber auch mit dem späteren Rebellen Vitalian befreundet, was Anastasios insofern ausnutzte, als er Patrikios während des Aufstands in diplomatischer Mission zu dem Aufrührer entsandte; als Patrikios später sogar gegen seinen Freund Vitalian ins Feld ziehen sollte, erbat er sich hingegen vom Kaiser Dispens.80 Auch Keler erscheint mehrfach in enger Nähe zu Patrikios – insbesondere in religionspolitischen Kontexten, aber auch während des Staurotheis-Aufstandes –, doch in der Todesnacht des Anastasios scheint er dem Phryger keine nennenswerte Unterstützung zukommen lassen zu haben.

76 Vgl. PLRE 2, S. 143. 77 PLRE 2, S. 144; Greatrex (1996), S. 127; Capizzi (1968), S. 221f. 78 PLRE 2, S. 795 (Olybrius 3). Er ist identisch mit jenem Olybrios, der – wie Hypatios, Pompeios und zahlreiche weitere Mitglieder der oströmischen Oberschicht – im Jahr 532 in den Strudel der Ereignisse um den Nika-Aufstand gerissen wurde. Justinian verbannte ihn, gestattete ihm (ebenso wie Probos) aber bereits 533 die Rückkehr, vgl. Malal., S. 403, 43–45 Thurn. Zu seinen möglichen Hoffnungen auf die Anastasios-Nachfolge vgl. Alexander (1967), S. 126f., Anm. 15. 79 Kyrill. Skyth. V. Sabae 53, S. 145, 7–13 Schwartz. 80 Malal., S. 331, 48–55 Thurn; Exc. de insid. 103, S. 144, 4–9 de Boor [aus Joh. Ant.]. Vgl. Greatrex (1996), S. 125.

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Insgesamt präsentiert sich die oströmische Oberschicht der Jahre um 500 als komplexes Gewebe, in dem unterschiedliche, mitunter variable Interessengruppen interagierten – das klassische Bild einer hofnahen Aristokratie. Welche Faktoren dabei entscheidend waren, lässt sich angesichts des eher diffusen Gesamtbildes nur schwer ausmachen. Verwandtschaft spielte offenbar eine Rolle, und auch genealogische Argumente scheinen mitunter angeführt worden zu sein (Anicia Iuliana, Areobindos) – aber dies allein genügte noch nicht, um entscheidende Vorteile gegenüber möglichen Konkurrenten zu gewinnen. Geoffrey Greatrex hat vor einiger Zeit die These vertreten, dass Religion bzw. das ‚richtige‘ religiöse Bekenntnis von zentraler Bedeutung für politisches Fortkommen gewesen seien, indem er auf die auffällige, in verschiedenen Situationen zum Ausdruck kommende Wandlungsfähigkeit einiger Protagonisten in religiösen Fragen hinwies:81 Hypatios etwa, zunächst als Anhänger der Severianer bekannt, behauptete in den Händen der chalkedonischen Mönche, mit Severos nichts zu schaffen zu haben (s.o.). Patrikios, der sein Haus für Streitgespräche zwischen Severos und Johannes von Klaudiopolis zur Verfügung stellte,82 war unter Anastasios an der Absetzung des (in seiner Spätphase) chalkedonischen Patriarchen Makedonios beteiligt (s.o.)83 und exilierte unter dem chalkedonischen Kaiser Justin I. den Chalkedon-feindlichen Bischof Paulos von Edessa, da dieser sich weigerte, das Chalcedonense anzunehmen.84 Ähnliches lässt sich für Keler anführen, der unter Anastasios tatkräftig am Sturz des Makedonios beteiligt war (s.o.), unter Justin I. aber beflissen die Unionsverhandlungen mit Rom begleitete und damit zur chalkedonischen Wende im Osten beitrug. Zuletzt wurde sogar vermutet, dass selbst Justin I., traditionell Inbegriff eines Chalkedoniers, vor dem Jahr 518 tendenziell auf miaphysitischer Seite gestanden und erst mit dem Tod des Anastasios aus reinem Machtkalkül die Hinwendung zum Chalcedonense vollzogen habe85 – meines Erachtens jedoch eine wenig überzeugende These, die jeglicher Grundlage in den Quellen entbehrt, ja deren Vetorecht sogar konsequent ignoriert. Greatrex’ Hinweise auf die bemerkenswerte ‚Flexibilität‘ einiger prominenter Akteure in religiösen Fragen sind von hoher Bedeutung, weil sie mit zur Erklärung zentraler Funktionsmechanismen von Politik im Oströmischen Reich um 500 beitragen. Doch auch damit lässt sich kein Passepartout für universale Deutungen gewinnen. Denn möglicherweise tendiert die Forschung dazu, Religion als Faktor in der Konkurrenz um politischen Einfluss mitunter zu überschätzen. Zweifelsohne spielte bei Keler, Patrikios und auch Hypatios ein kreativer Umgang mit religiösen Haltungen

81 Greatrex (1996), passim, bes. S. 138: „the key lies in the attitudes to the council of Chalcedon“. 82 Sev. Ant. epist. 1, 1, S. 3–11 Brooks. 83 Ps.-Zach. HE 7, 8, S. 122, 20–29; S. 124, 28–125, 24 Ahrens/Krüger; Joh. Vita Sev., S. 237 Kugener. 84 Chron. Edess. a. 831, S. 9, 14–29 Guidi; Chronik von Zuqnîn (Witakowski 1996), S. 25–27; (Harrak 1999), S. 55f. 85 Menze (2008), S. 18–30. Zu Recht gegen diese These Croke (2007), S. 19.

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eine Rolle. Aber bereits unter Anastasios – dessen religionspolitischer Standpunkt ohnehin weit weniger eindeutig ist, als zumeist gemutmaßt wird86 – war Patrikios offensichtlich eng mit dem rigorosen Chalkedonier Vitalian befreundet (s.o.). Anastasios’ Neffe Probos hielt seine miaphysitische Haltung auch unter dem chalkedonischen Regime Justins I. und Justinians aufrecht; seiner ohnehin recht blassen Karriere scheint dies nicht geschadet zu haben (im Gegenteil: Erst unter Justin scheint er ein höheres militärisches Kommando erhalten zu haben, s.o.). Pompeios konnte nach 518 kein Kapital aus seiner standhaften chalkedonischen Haltung schlagen, die er bereits unter Anastasios unter schwierigen Bedingungen bewiesen hatte, und wurde als magister militum per Thracias zunächst abgelöst.87 Gänzlich unabhängig von den Wechseln der Kaiser und ihrer jeweiligen Religionspolitik agierten hinwiederum die Chalkedonier Areobindos und Anicia Iuliana; Marinos von Apameia dagegen wurde zwar von Justin I. abgesetzt, aber offenkundig nicht aufgrund seiner miaphysitischen Haltung, sondern weil er den Kaiser beleidigt hatte.88 Keler hingegen schwenkte zwar nach Anastasios’ Tod auf die Seite der Chalkedonier, verlor aber trotzdem sein Amt als magister officiorum. Man könnte die Beispielreihe noch verlängern. Aber schon jetzt sollte deutlich geworden sein, dass – ebenso wie die Verwandtschaft zum Kaiser – auch das jeweils ‚richtige‘ religiöse Bekenntnis keine Garantie für politisches Fortkommen darstellte. Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt für das Handeln der hofnahen Oberschicht muss meines Erachtens in der Bevölkerung von Konstantinopel gesehen werden. Dass sie einen politischen Faktor von mitunter entscheidender Bedeutung darstellte und die Repräsentation sowie die Aktionen der in der Hauptstadt residierenden Kaiser nachhaltig beeinflusste, ist in den letzten Jahren verschiedentlich herausgearbeitet worden und braucht nicht mehr eigens begründet zu werden.89 Als Kollektivakteur tritt das Volk insbesondere bei größeren Aufständen gegen die Kaiser in Erscheinung, so im Staurotheis-Aufstand 512 gegen Anastasios und im Nika-Aufstand 532 gegen Justinian. Für den Staurotheis-Aufstand scheint mir klar erkennbar zu sein, dass die Konstantinopolitaner nicht nur den Kaiser stürzen wollten, sondern auch eine möglichst große Distanz zu seiner gesamten Familie aufbauten. Dass sie das Haus des Marinos in Brand setzten, lässt sich einerseits aus dessen Nähe zum Kaiser, aber in der konkreten Situation 512 vor allem aus dessen Rolle bei den Ereignissen, die den Aufruhr auslösten, erklären (Marinos und der Stadtpräfekt Platon hatten im Auftrag des Anasta-

86 Dies aufzuzeigen, war eines der wesentlichen Ziele meines Anastasios-Buches, vgl. Meier (2010a), passim. Zur verbreiteten einseitigen Sichtweise, die den Kaiser als überzeugten Miaphysiten erscheinen lässt, vgl. exemplarisch Capizzi (2000). 87 Erst 528 erscheint er wieder in einer höheren militärischen Funktion (wobei unklar ist, um welches Amt es sich konkret handelte), vgl. Malal., S. 369, 73–75 Thurn; PLRE 2, S. 899. 88 S.o. Anm. 51. 89 Verwiesen sei etwa auf Diefenbach (1996); Diefenbach (2002); Leppin (2003); Pfeilschifter (2013).

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sios eine Glaubensformel verkündet, die von der Mehrheit der Stadtbevölkerung als miaphysitisch abgelehnt wurde); im Verlauf des Aufstandes wurde Marinos in die Rolle des miaphysitischen Einflüsterers des Kaisers gedrängt. Interessanter ist indes der Umstand, dass offensichtlich auch das Anwesen des Kaiserneffen Pompeios, eines beherzten, auch Konflikte mit dem Kaiser nicht scheuenden Chalkedoniers (s.o.), niedergebrannt wurde.90 Die Forschung hat versucht, diese Merkwürdigkeit entweder als schlichten Unfall abzutun91 (was meines Erachtens wenig überzeugend ist) oder als Folge einer missglückten Ausrufung des Pompeios zum Kaiser: Man habe ihn nicht angetroffen und daraufhin wutentbrannt sein Haus in Trümmer gelegt.92 Diese These scheitert allerdings an dem Umstand, dass in der gesamten (recht umfangreichen) Überlieferung zum Staurotheis-Aufstand nirgendwo von einer versuchten Kaiserproklamation des Pompeios gesprochen wird. Ich habe bereits an anderer Stelle versucht, eine meines Erachtens plausiblere Interpretation zu begründen: Der Grund für den Angriff auf die Villa des Pompeios muss in dessen Verwandtschaft zum verabscheuten Kaiser Anastasios gesehen werden.93 Die Konstantinopolitaner wüteten gegen ihn als Neffen des Kaisers und versuchten im Gegenzug eine Person auf den Thron zu heben, die innerhalb der oströmischen Oberschicht nicht nur als Kristallisationspunkt der Gegner der Anastasios-Familie galt, sondern die zugleich auch ihrerseits auf eine ehrwürdige Ahnenreihe zurückblicken konnte und eine Neubegründung der theodosianischen Dynastie in Aussicht zu stellen vermochte: Areobindos. Für die stadtrömische Bevölkerung war Verwandtschaft somit offenkundig ein zentraler, handlungsleitender Faktor: Als man im Jahr 512 Anastasios vom Thron stürzen wollte, richtete sich die Wut der Empörer auch gegen Mitglieder seiner Familie, die nur aus diesem Grund in den Sog der Geschehnisse hineingezogen wurden. Eine Bestätigung findet diese These, wenn man – gleichsam als Gegenprobe – einen Blick auf den Nika-Aufstand 532 wirft. Nunmehr richtete sich der Grimm gegen Justinian, und die Konstantinopolitaner besannen sich (wie im Fall der Ausrufung des Areobindos 512) auf Alternativen aus einer hochstehenden, ehemals kaiserlichen Familie: Man verfiel zunächst auf den Anastasios-Neffen Probos, der – wie angedeutet – bis dahin politisch unbedeutend gewesen war und seine ‚Qualifikation‘ lediglich aus seiner Verwandtschaft mit dem verstorbenen Kaiser bezog; und in der hektischen Situation des Januar 532 störte es die Konstantinopolitaner nun nicht einmal mehr, dass Probos weiterhin dem Miaphysitismus anhing. Probos aber hatte vorgesorgt; so wie 20 Jahre zuvor Areobindos hatte auch er sich rechtzeitig abgesetzt, so dass die Menge

90 Marc. Com. a. 512, 5, S. 98 Mommsen. Die Inbrandsetzung von Pompeios’ Anwesen ist nur hier bezeugt, was Spekulationen angeregt hat, Pompeios sei möglicherweise mit dem Stadtpräfekten Platon verwechselt worden; dagegen vgl. aber Meier (2007b), S. 200. 91 Greatrex (1996), S. 131, Anm. 25; Dijkstra/Greatrex (2009), S. 233, Anm. 37. 92 Greatrex (1996), S. 130f.; Dijkstra/Greatrex (2009), S. 233, Anm. 37. 93 Meier (2007b), S. 202; Meier (2010a), S. 282f.

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nach einem anderen Kandidaten Ausschau halten musste.94 Man verfiel nun auf den ältesten der drei Neffen des Anastasios – Hypatios. Und damit nahm dessen oben beschriebene Tragödie ihren Lauf. Justinian hingegen sah ein, dass er die Verwandten seines Vorgängers Anastasios, auch wenn sie politisch keine nennenswerte Bedeutung mehr besaßen, nicht vollständig isolieren durfte, denn das hätte offensichtlich erheblichen Unmut bei der Bevölkerung verursacht. Schon ein Jahr nach der Niederschlagung der Nika-Revolte durfte daher Probos zurückkehren, der damals exiliert worden war, und selbst Hypatios und Pompeios wurden rehabilitiert, die Familie erhielt das konfiszierte Vermögen zurück.95 Und Justinian ging sogar noch weiter: Im Jahr 548/49 verheiratete er seine Nichte Preiecta96 mit Johannes,97 einem Enkel des Hypatios.98 Damit war die Familie des Anastasios mit dem aktuellen Kaiserhaus verbunden, und Johannes konnte sich nunmehr sogar Hoffnungen machen, Justinian zu beerben. Dass der Kaiser seine einzig verfügbare Nichte ausgerechnet mit dem ansonsten vollkommen bedeutungslosen Johannes vermählt hat, kann indes als deutliches Signal verstanden werden: „His claim on Praiecta’s hand evidently rested on his distinguished family and […] his ancestral wealth“.99 Aus all dem ergibt sich für die Frage nach der politischen Bedeutung von Verwandtschaft zum Kaiser im späten 5. und 6. Jahrhundert ein recht diffuses Bild: Für die Entscheidungsträger stellte sie einen einzukalkulierenden Faktor dar – aber mehr auch nicht; ausschließlich die Zugehörigkeit zur Kaiserfamilie garantierte jedenfalls keineswegs unweigerlich eine glänzende politische Karriere. Andererseits ist aber zu beobachten, dass entsprechende Erwartungshaltungen in der Bevölkerung durchaus existierten: Die eingangs vorgestellten Zeugnisse belegen dies, aber auch unser Blick auf die Aufstände der Jahre 512 und 532, in denen Verwandtschaft zu bestimmten Kaisern ein zentrales handlungsleitendes Element für die Bevölkerung Konstantinopels war.

94 Marc. Com. a. 532, S. 103 Mommsen; Chron. Pasch., S. I 622, 2–6 Dindorf; Theoph. a.m. 6024, S. I 184, 21–24 de Boor. 95 Malal., S. 403, 43–45 Thurn; Prok. BP 1, 24, 57f.; vgl. Theoph. a.m. 6024, S. I 185, 30–186, 1 de Boor; Exc. de insid. 46, S. 172, 26–28 de Boor; Marc. Com. a. 532, S. 103 Mommsen. 96 PLRE 3B, S. 1048f. (Praeiecta 1). 97 PLRE 3A, S. 665 (Ioannes 63). 98 Dazu vgl. Cameron (1978), S. 267f., auf Basis von Anth. Graec. 7, 590. 99 Cameron (1978), S. 268.

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2 Ich möchte für dieses auffällige Phänomen abschließend nur ganz kurz einen möglichen Erklärungshorizont eröffnen: In der Forschung ist darauf hingewiesen worden, dass Verwandtschaft bzw. dynastisches Denken für die Kontinuität des römischen Kaisertums eine wichtige Rolle gespielt hat.100 Das zeigt sich bereits beim Scheitern der von Diokletian eingeführten Tetrarchie, die gezielt die leiblichen Söhne der Herrscher von der Nachfolge ausschließen sollte und damit lediglich eine Usurpation nach der anderen generierte;101 das zeigt sich aber auch an den relativ stabilen Dynastien des 4. (konstantinische) und 5. (theodosianische) Jahrhunderts; und es zeigt sich an dem Umstand, dass kein dynastiefremder Usurpator sich in der Spätantike durchzusetzen vermochte.102 Auch Justinian scheint ein ausgeprägtes dynastisches Bewusstsein besessen zu haben, und mit Herakleios (610–641) etabliert sich im 7. Jahrhundert auch im Osten wieder eine über längere Zeit stabile Dynastie: Die aus ihr hervorgegangenen Kaiser herrschten nahezu über das gesamte 7. Jahrhundert: 610–695 und 705–711. Im von uns betrachteten Zeitraum, dem späten 5. und frühen 6. Jahrhundert, zeigen sich hingegen die beschriebenen gegenläufigen Tendenzen. Ich führe dies auf massive Störungen im Gefüge der oströmischen Aristokratie zurück, die bereits unter Leon I. (457–474), insbesondere aber unter Zenon (474–491) zu beobachten sind. Zu keinem Zeitpunkt der römischen Geschichte finden wir in vergleichbarem Maße Loyalitätsaufkündigungen, Seitenwechsel, Verrat und eine prinzipielle Unzuverlässigkeit, was die Stabilität politischer Bündnisse angeht, wie in diesen Jahrzehnten. Die permanent sich neu auftuenden Frakturen machen auch nicht vor der Familie des Kaisers halt, führen auch dort zu wiederholten Umorientierungen und scheinen die oströmische Aristokratie insgesamt erheblich erschüttert zu haben. Den Grund für dieses Phänomen sehe ich – ich habe dies an anderer Stelle ausführlicher dargelegt103 – im Ende des Kaisertums im Westen, das auch im Osten ein Bewusstsein für die Möglichkeit von Herrschaft über Römer ohne einen römischen Kaiser geschaffen und damit ganz offenkundig eine ungeheure Dynamik in die politischen Aktionen ambitionierter Mitglieder der Oberschicht bzw. der gleichzeitig aktiven Warlords gebracht hat. Dies hat die Institution des Kaisertums im Osten nicht nur temporär geschwächt, sondern in ihrer Existenz gefährdet; erst mit Anastasios setzte ein nachhaltiger Konsolidierungsprozess ein, der auch unter Justinian noch anhielt. Innerhalb dieses Konsolidierungsprozesses muss es unweigerlich auch zu einer Neukonfiguration der Führungsschicht gekommen sein, die offenbar auch mit einer Neudefinition bzw. -gewichtung derjenigen Faktoren, die für politisches Fortkommen entscheidend

100 Vgl. etwa Martin (2009), S. 544f. 101 Kolb (1987), S. 139–143; Kolb (2001), S. 59–61. 102 Vgl. Martin (2009), S. 545. 103 Meier (2010b).

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waren, einhergegangen ist. Dass dabei insbesondere unter Anastasios Verwandtschaft zunächst von geringerer Bedeutung war, ist angesichts der Ereignisse unter Zenon, welche die Unzuverlässigkeit selbst der engsten Familienangehörigen aufgezeigt hatten, nicht sonderlich verwunderlich; man darf auch nicht außer Acht lassen, dass bereits Anastasios selbst unter Umgehung von Zenons Bruder Longinos auf den Thron gelangt war – was einen der Gründe für den nachfolgenden Bürgerkrieg gegen die Isaurier schuf.104 Demgegenüber zeigen die Entwicklungen unter Justinian und der folgenden Jahrzehnte, dass der Faktor Verwandtschaft danach allmählich wieder größeres Gewicht gewann – die Verwandten wurden gewissermaßen rehabilitiert. In der Bevölkerung hingegen, also innerhalb jener Milieus, die nicht explizit in die machtpolitischen Rivalitäten involviert waren, war Verwandtschaft auch unter Anastasios ein bedeutsamer Faktor geblieben. Das erklärt die skizzierte Differenz zwischen den Stimmen in unseren Zeugnissen und dem davon ganz unabhängigen Handeln der politischen Akteure.

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104 Vgl. Meier (2010a), S. 75–84.

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In Browns knapper Skizze des „solid mesh“ fehlt ein entscheidendes Element, welches die italischen und gallischen Aristokraten erst tatsächlich zu „agents of continuity“ werden ließ: die Familie beziehungsweise die Verwandtschaft. Schon der von Brown leider nicht gewürdigte Karl Friedrich Stroheker hatte in seiner grundlegenden, 1948 erstmals publizierten Monographie Der senatorische Adel im spätantiken Gallien konstatiert, dass gallische Adelshäuser […], die im vierten und fünften Jahrhundert groß geworden, sich auch unter westgotischer und burgundischer Herrschaft behaupten konnten und dann im sechsten Jahrhundert im Leben des Frankenreiches erneut eine bedeutende Stellung einnahmen.3

Stroheker hat seine zahlreichen Detailbeobachtungen über die zweifellos im späten 5. Jahrhundert „in ihrer Gesamtheit“ christlich gewordene Aristokratie Galliens4 in Form einer beigegebenen Prosopographie dokumentiert und abgesichert,5 und eben-

1 Salzman/Rapp (2000), S. 315–468. – Die Vortragsfassung ist weitgehend beibehalten und nur durch wenige Zusätze erweitert worden, die sich aus der Diskussion auf der Tübinger Tagung ergaben. Mein herzlicher Dank richtet sich an Steffen Patzold und Karl Ubl für die vortreffliche Organisation dieses stimulierenden Zusammentreffens. 2 Brown (2000), S. 324, mit Zitat aus Matthews (1975), S. 387. 3 Stroheker (1948), S. 3. 4 Stroheker (1948), S. 93; so auch Mathisen (1993), S. 89ff. 5 Stroheker (1948), S. 137–227.

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diese personengeschichtliche Datensammlung wurde von Martin Heinzelmann in seiner zum Standardwerk avancierten Dissertation über Bischofsherrschaft in Gallien an entlegener Stelle kritisiert:6 Strohekers Liste, so Heinzelmann, enthalte bis zum Ende des 7. Jhs. insgesamt nur 73 Bischöfe senatorischer Herkunft (für 4 Jahrhunderte!). Diese 73 Bischöfe machen im Verhältnis zu den bei Duchesne (Bde. 1–3) für den gleichen Zeitraum aufgeführten 1415 Prälaten (die ihrerseits nur einen Teil aller gallischen Bischöfe repräsentieren) ganze 5 % aus!

Und Heinzelmann kündigte an: „Ich habe vor, sämtliche Belege für den gallischen Episkopat bis zum Jahr 1000 zusammenzustellen.“7 Meines Wissens hat Heinzelmann dieses Vorhaben nur zum Teil realisiert8 und, wenn ich recht sehe, soll auch dieses Desiderat im Rahmen des internationalen Projektes „Nomen et Gens“ behoben werden. Es bleibt freilich abzuwarten, ob dabei die – von vielen Gelehrten geteilten – Beobachtungen Strohekers (und auch diejenigen Heinzelmanns) tatsächlich einer Revision unterzogen werden müssen, wie Peter Brown schon jetzt mutmaßt: I suspect that the sheer weight of research devoted by scholars such as Martin Heinzelmann to the Roman imperial and aristocratic origins of the ‚Bischofsherrschaften‘ of early medieval Gaul has endowed the Roman elites of post-imperial Gaul with a kinetic energy which they did not possess. Such studies posit an almost unbroken continuity, at least within the Christian church, between the ruling elites of late antique and those of early medieval Gaul […] Put briefly: I think that we lose something of our understanding of sixth-century Gaul if we see it, always, under the sign of unproblematic aristocratic dominance.9

Da mein hier zu behandelndes Thema (glücklicherweise) das 6. Jahrhundert nicht mehr einschließt, muss ich meine eigene Position zu dieser Einlassung Peter Browns nicht näher begründen, sondern kann mich auf den bereits von Stroheker intensiv traktierten Zeitraum des 4. und 5. Jahrhunderts konzentrieren, womit ich nun zu meinem eigentlichen Thema komme. Am Anfang stehe Alexander Demandts knappes Diktum: „Die spätrömischen Senatorenfamilien waren alle irgendwie versippt.“10 Dies trifft zweifelsohne zu, aber was genau heißt „irgendwie“? Und gilt dies reichsweit oder nur auf bestimmte Reichsteile und/oder Regionen bezogen? Und schließlich: Gilt dies für die gesamte Spätan-

6 Heinzelmann (1976), S. 212f., Anm. 166, unter Verweis auf Duchesne (1907–1915). 7 Heinzelmann (1976), S. 212f., Anm. 166. 8 Heinzelmann (1982), S. 531–718. Einleitend zu seiner darin vorgelegten gallischen Prosopographie äußert Heinzelmann (S. 531), „dass der Zeitpunkt für eine abschließende Prosopographie der Personen des öffentlichen Lebens in Gallien zwar nähergerückt, aber bei weitem noch nicht erreicht“ sei, das „Endziel einer gallischen Gesamtprosopographie“ (S. 532) also weiterhin bestehe. 9 Brown (2000), S. 336. 10 Demandt (2007), S. 333.

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tike (4.–6. Jh.) oder gar noch darüber hinaus? Gewiss gilt es für „das bedeutendste der späten Senatorengeschlechter“,11 die gens Anicia, um mit dieser zu beginnen. Bereits in tetrarchisch-konstantinischer Zeit stellten die aus Africa stammenden Anicii mehrfach höchste Magistrate, darunter vier Konsuln. Der berühmte Sextus Petronius Probus, als Konsul, Prätorianerpräfekt für Illyricum, Africa und Italien sowie als praefectus praetorio Galliarum belegt und als Anicianae domus culmen gepriesen,12 bildete durch seine Tätigkeit in Gallien möglicherweise ein wichtiges Verbindungsglied in diese Region. Denn im 5. und 6. Jahrhundert finden wir unter den Bischöfen von Limoges zwei Ruricii,13 die nicht nur mit anderen gallo-römischen Aristokraten versippt waren, sondern, wie ihr von Venantius Fortunatus verfasstes Epitaph belegt, auch ihre Verwandtschaft mit den berühmten Anicii offenbar bewusst in ihrer familiären und der kollektiven memoria bewahrt hatten: Ruricii gemini flores, quibus Aniciorum iuncta parentali culmine Roma fuit.14

Wenn bei Venantius erneut das Wort culmen begegnet, so muss das kein Zufall sein, sondern kann vielleicht die erfolgreiche Wirkung der genannten Erinnerungskultur belegen. Heinzelmann konnte überdies durch den Nachweis der Namen (H)Ermogenianus und Adelphius im onomastischen Material der Anicii wie in demjenigen der Bischöfe von Limoges weitere gallo-römische Verzweigungen dieses berühmtesten spätantiken Geschlechtes aufzeigen, und Settipani vermochte weitere familiäre Verbindungslinien der Ruricii zu anderen exponierten gallischen Geschlechtern zu identifizieren15 – nomen et gens erweisen sich mithin als konstitutive Teile eines über Jahrhunderte funktionsfähigen, soziopolitische Führungspositionen garantierenden familiären Netzes, was bereits Hieronymus deutlich herausstellte:

11 Demandt (2007), S. 342. Siehe auch Wickham (2005), S. 159: „Rome’s senate was dominated by half-a-dozen great family clans, all interrelated: the Anicii above all, linked to the Petronii, the Symmachi, and probably the Acilii; the Caeionii and their fifth-century heirs the Decii and probably the Rufii Festi; and so on. How to distinguish them is very difficult. This is particularly so with the Anicii, whose status was sufficiently high that all kinds of lesser senators (like Cassiodorus) and parvenus could claim kinship with them on the most tenuous of grounds, the marriage of a cousin to a minor Anician or whatever.“ 12 ILS 1267: Sexto Petronio Probo Anicianae domus culmini, proconsuli Africae, praefecto praetorio quater Italiae Illyrici Africae Galliarum, consuli ordinario, consulum patri, Anicius Hermogenianus Olybrius v.c., consul ordinarius, et Anicia Iuliana c.f. eius, devotissimi filii, dedicarunt. 13 Heinzelmann (1976), S. 215ff. 14 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 5, S. 7f.; dazu siehe auch Settipani (1991), S. 195. 15 Settipani (1991).

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scilicet nunc mihi Proborum et Olybriorum clara repetenda sunt nomina et inlustre Anicii sanguinis genus, in quo aut nullus aut rarus est, qui non meruerit consulatum […]16

Von Petronius Probus im 4. Jh. über den Kaiser des Jahres 472, Olybrius, bis zu Gregor dem Großen erstreckt sich die Erfolgsgeschichte der Anicii.17 Die mit Konsulaten und Stadtpräfekturen in Rom hervortretenden Symmachi18 reichten in ihrer Bedeutung nicht an die Anicii heran.19 Aufgrund der erhaltenen Korrespondenz des berühmtesten Vertreters dieser Familie, des praefectus urbi (384) und Konsul (391) Quintus Aurelius Symmachus (ca. 345–402),20 können wir ein ungewöhnlich detailliertes Bild von den innerfamiliären Verhältnissen einer senatorischen gens gewinnen.21 Zuletzt hat sich Michele R. Salzman diesem Thema erneut zugewandt und insbesondere die Beziehung zwischen Symmachus und seinem Vater Avianius Symmachus (praef. urbi 364/5)22 näher in Augenschein genommen.23 Ausgangspunkt von Salzmans Überlegungen ist die gewiss zutreffende Beobachtung von Antti Arjava, dass auch noch im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. patria potestas continued to be the cornerstone of Roman family law, and also an essential element of the law of property and inheritance.24

Folglich kann auch für die aristokratischen gentes der Spätantike von einer weitgehend ungebrochenen Dominanz des pater familias und einer besonderen Bedeutung der Vater-Sohn-Beziehungen ausgegangen werden. Letztere nun waren, wie Salzman gegen weit verbreitete Auffassungen zeigen kann, keinesfalls (nur) durch die unausweichliche Subordination des filius und spannungsreiche Rivalität mit dem Vater beziehungsweise soziopolitische Instrumentalisierung durch den pater gekennzeichnet, sondern durchaus auch durch „affective ties“, wechselseitige kulturelle Interessen, aber natürlich auch durch das gemeinsame Streben nach dem Erhalt von Wohlstand, gesellschaftlicher Erstrangigkeit und der Bekleidung der höchsten Äm-

16 Hieronymus, Epist. (Hilberg 1996), CXXX, 3, S. 177., dazu und zu weiteren, christlichen Zweigen der Anicii siehe Cracco Ruggini (1988), S. 69–85, sowie Mratschek (2002), S. 73ff. 17 Demandt (2007), S. 342, mit weiteren Hinweisen. 18 Zu deren Wurzeln siehe nur Cameron (1999), S. 477–505. 19 Allerdings kam es auch zu Verbindungen zwischen Anicii und Symmachi, wofür stellvertretend der Name des praefectus urbi von 418–420, Aurelius Anicius Symmachus, genannt sei, siehe Settipani (1991), S. 219. 20 Jones (1971), S. 865–870. 21 Zu neueren Ausgaben der kritisch von Seeck (1883) edierten Briefe des Symmachus siehe die Hinweise bei Demandt (2007), S. 39f. 22 Jones (1971), S. 863–865. 23 Salzman (2006), S. 357–375; zu ähnlichen Ergebnissen war bereits (der von Salzman nicht herangezogene Beitrag von) Gervas (2000), S. 203–222, gelangt. 24 Arjava (1998), S. 165; siehe auch Mathisen (2003), S. 71, zur ungebrochenen Bedeutung der Familie in der Sozialstruktur des spätantiken Gallien sowie Mathisen (1993), S. 116ff. („Family Ties“).

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ter.25 Der langfristige Erfolg derartiger Stabilisierungsstrategien lässt sich im Falle einer günstigen Quellenlage prosopographisch überprüfen, und für die Symmachi wie für die Anicii gilt, dass diese bis ins 6. Jahrhundert hinein ihre exponierte Position zu bewahren vermochten.26 Die Christianisierung auch lange pagan gebliebener gentes hat diese grundlegenden Verhältnisse offenbar nicht entscheidend modifiziert, auch wenn man vielleicht aus einer bekannten Ermahnung des Hieronymus auf eine Schwächung der patria potestas würde schließen wollen: honora patrem tuum, sed, si te a vero patre non separat.27 Augenscheinlich hat jedoch die Stellung des pater familias kaum eine Schwächung erlebt, und auch die nun bischöflichen aristokratischen gentes haben ersichtlich vor allem in der Bewahrung (inner)familiärer Stabilität und in der Erziehung zur väterlichen Nachfolge befähigter Söhne ihre entscheidenden Aufgaben gesehen, wie erneut einer brieflichen Äußerung des Hieronymus zu entnehmen ist: Heli sacerdos offendit dominum ob vitia liberorum; episcopus fieri non potest, qui filios habuerit luxuriosos et non subditos.28

Ob dieser Grundsatz stets und auch für die besonders gut dokumentierten gallischen episcopi gegolten hat, mag dahinstehen, aber zweifellos haben gerade die letzteren in vielen Fällen erfolgreich über Generationen hinweg familiären Rang, Einfluss und Zusammenhalt konservieren, wenn nicht gar ausbauen können. Typisch in dieser Hin-

25 Exakt diese „key components of aristocratic status“ treffen auch für die christlichen Bischöfe des 4. und 5. Jahrhunderts zu: „wealth, nobilitas, family ties, friends, influence through patronage, service to the state, honor:“ Salzman (2000), S. 355. Einen weiteren instruktiven Beleg für die Dominanz von Vater-Sohn-Beziehungen, die auf die Zukunft gerichtete familiäre Strategie und die überragende Bedeutung einer anspruchsvollen klassischen Ausbildung auch für die bischöfliche Aristokratie bietet der von Mathisen (2003), S. 79f., übersetzte und kommentierte Brief des Bischofs Ruricius von Limoges an den Rhetor und Erzieher seiner Söhne, Hesperius (Ruricius von Limoges, Epist. [Engelbrecht 1883], I, 3, S. 355f.), in welchem Ruricius in blumigen Worten sowohl seine Hoffnungen als auch seine Erwartungen mit Blick auf seine Söhne, die er Hesperius anvertraut habe, formuliert: „To you, indeed, to you alone, I have entrusted all my prayers, my hope in the present life and my consolation, if the divinity assents, for the future. I have chosen you as the stimulator and shaper of my noble jewels, you as the assayer of gold, you as the discoverer of hidden springs, you, who knows how to restore the gems concealed in stones to their unique excellence …“ (tibi enim spem posteritatis meae, tibi solatium vitae praesentis et levamen, si divinitas annuerit, futurae, tibi uni omnia mea vota commisi. te elicitorem et formatorem lapillorum nobilium, te rimatorem auri, te repertorem aquae latentis elegi, qui sciris abstrusas lapidibus gemmas propriae reddere generositati …). 26 Für die Symmachi dokumentiert dies etwa Q. Aurelius Memmius Symmachus, cos. 485 und einer der prominentesten Senatoren unter Theoderich d. Gr. (Jones [2001], S. 1044–1046); zu den Anicii siehe oben S. 100 und Barnish (1988), S. 125, table 2A. 27 Hieronymus, Epist. (Hilberg 1996), LIV, 4, S. 468. 28 Hieronymus, Epist. (Hilberg 1996), CVII, 4–6, S. 297. Mit vollem Recht insistiert Salzman gegen kritische Einwände auf ihrer Meinung, „that there are good reasons … to see men in the post-Constantinian period in the role of leaders of their families in adopting Christianity“: Salzman (2005), S. 135.

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sicht ist der bekannte, triumphierende Hinweis Gregors von Tours, dass alle Bischöfe von Tours, mit Ausnahme von nur fünf Würdenträgern, seiner Familie entstammten,29 und damit komme ich noch zu einigen weiterführenden Bemerkungen mit Blick auf Gallien. Die eben formulierten Beobachtungen bestätigt besonders eindrucksvoll die Familie des Ausonius, des um 310 in Bordeaux geborenen, am Kaiserhof in Trier als Erzieher Gratians zum engsten Umfeld des Kaiserhauses gehörenden und ab 377 als praefectus praetorio Galliarum tätigen berühmten gallischen Rhetors und Dichters.30 Die bekannten und prosopographisch näher zu bestimmenden Verwandten in der ausonischen gens übersteigen die Zahl von sechzig.31 Zwar verbrachte der Enkel des um 393/4 gestorbenen Ausonius, Paulinus von Pella (ca. 376/7–nach 459/60), als verarmter Greis ein christlich-frommes Leben in südgallischer Abgeschiedenheit, nachdem er „eine fortlaufende Geschichte der Vertreibung und Enteignung“32 in den Wirren der Goteneinfälle durchlitten hatte,33 aber abgesehen von dieser Biographie eines Gescheiterten zeigt die ausonische gens über lange Zeit a high capacity for self-replacement; its marriages are consistent with its social standing, made mostly within that class of educated, landed and established gentry of curial and secondary rank from within it had originated.34

Hier wie in etlichen anderen Fällen lassen sich für aristokratische gallo-römische Familien „long-term social and demographic stability“ nachweisen,35 und dies spiegelt sich auch im Namensmaterial wider, trotz aller bekannten methodischen Probleme

29 Gregorius Turonensis, Hist. (Krusch/Levison 1937), V, 49, S. 262.: Ignorans miser, quod praeter quinque episcopos reliqui omnes, qui sacerdotium Turonicum susceperunt, parentum nostrorum prosapiae sunt coniuncti. Um diese Äußerung Gregors und die Bedeutung von prosapia und coniunctus entstand eine lebhafte Diskussion in Tübingen, da Steffen Patzold und Conrad Walter in ihrem Vortrag geltend machten (siehe auch in diesem Band S. 117 f.), Gregor habe nicht zwingend sagen wollen, mit Ausnahme von fünf Amtsvorgängern seien alle anderen Mitglieder seiner gens, seiner Familie, gewesen. Mir scheint jedoch weiterhin keine andere Möglichkeit der Übersetzung gegeben zu sein als die folgende, die sich an diejenige von Wilhelm Giesebrecht in der Freiherr vom Stein-Ausgabe anlehnt (Buchner [2000], 1, S. 379): „Der Elende (sc. Riculfus) bedachte nicht, dass mit Ausnahme von fünf Bischöfen alle die anderen, welche das bischöfliche Amt zu Tours übernahmen, mit meinem Hause verwandt waren.“ So versteht zuletzt auch wieder Chris Wickham diesen Satz (Wickham [2005], S. 172): „He (sc. Gregor) claimed once that all his predecessors but five were ‚related to the familiy of our kin‘ (parentum nostrorum prosapiae coniuncti).“ Selbstverständlich ist damit beileibe nicht bewiesen (und soll hier auch keineswegs behauptet werden), dass Gregor mit dieser Einschätzung exakt das Richtige trifft – es geht hier ausschließlich darum, wie Gregors Aussage zu verstehen ist. 30 Stroheker (1948), S. 150ff., Nr. 51; Barnish (1988), S. 136f.; Demandt (2007), S. 12. 31 Barnish (1988), S. 136f. 32 Mratschek (2002), S. 40. 33 Stroheker (1948), S. 202f., Nr. 292. 34 Barnish (1988), S. 137. 35 Barnish (1988), S. 137.

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aufgrund der Polyonymie spätantiker Aristokraten36 und des Gebrauchs immer wiederkehrender nomina auch in unterschiedlichen gentes. So kann man für diverse Familien „Leitnamen“ identifizieren,37 die einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad bei der Zuweisung einzelner Namensträger an bestimmte gentes ermöglichen. Dies gilt zum Beispiel für die im 5. Jahrhundert als Bischöfe von Arles belegten Honoratus und Hilarius, die mit dem gallischen Präfekten von 355/7, Honoratus, und einem Prätorianerpräfekten des Jahres 396 sowie einem praefectus urbi von 408, beide mit dem Namen Hilarius versehen, in Verbindung gebracht werden.38 Ein älterer Bruder des Bischofs Honoratus von Arles hieß Venantius.39 Ob deswegen die beiden Letztgenannten, der gallische Präfekt Hilarius und der Konsul von 453, Fl. Venantius Opilio, alle derselben gens Venantia zuzuordnen sind, ist bislang nicht definitiv zu klären, scheint aber doch zumindest möglich.40 Ein weidlich genutztes Quellenmaterial für prosopographische und sozialgeschichtliche Studien stellt die Korrespondenz des Sidonius Apollinaris dar, der im 5. Jahrhundert in seiner Biographie senatorische Abkunft, Nahverhältnisse zu römischen Kaisern, die Bekleidung hoher weltlicher Ämter und schließlich die Bischofswürde in Clermont vereinigte.41 An seinen Freund Leo von Narbonne schrieb Sidonius: perorandi illud quoque celeberrimum flumen, quod non solum gentilicium sed domesticum tibi quodque in tuum pectus per succiduas aetates ab atavo Frontone transfunditur.42

Hier konstatiert Sidonius also eine Parallelität von familiärem und literarischem Erbe über viele Generationen hinweg (bis zurück zu dem berühmten Rhetor und Briefpartner des Kaisers Mark Aurel im 2. Jahrhundert, Fronto). Bildung, (tatsächliche oder auch nur fiktive) Abkunft und familiäre Zusammengehörigkeit schaffen Zusammenhänge, die sich (auch) in politischen wie kirchlichen Karrieren niederschlagen:43

36 Cameron (1985), S. 164–182. 37 Heinzelmann (1976), S. 216. 38 Heinzelmann (1976), S. 76 mit Anm. 91. 39 Stroheker (1948), S. 226, Nr. 404. 40 Zu den unterschiedlichen Positionen bei Stroheker und Heinzelmann siehe die in den Anmerkungen 38 und 39 genannten Hinweise; zu den Venantii (Opiliones) und weiteren Verbindungen zu anderen gentes siehe Barnish (1988), S. 134f. 41 Stroheker (1948), S. 217ff., Nr. 358; auf die freilich seiner Meinung nach nur begrenzt verallgemeinerbare Aussagekraft des Œuvre von Sidonius weist Mathisen (1993), S. 23f. hin. Vgl. zur Frage der Repräsentativität von Vita und Werk des Sidonius jetzt auch Rebenich (2008), S. 153. 42 Sidonius Apollinaris, Epist. (Luetjohann 1887), VIII, 3, 3, S. 129; vgl. Mathisen (1993), S. 117. 43 Vgl. zur kaum zu überschätzenden Bedeutung von Herkunft und Ahnenstolz auch die treffenden Bemerkungen von Rebenich (2008), S. 170.

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Many of these Gallic literati were interrelated. Avitus of Vienne, Ruricius of Limoges, and Ennodius, for example, all were related to Sidonius.44

Wer zu den boni gehört, der hat verdientermaßen bona, und er kann dann auch – bei Vorliegen der entsprechenden charakterlichen Disposition – gut (bene) handeln; so ergänzen sich im (von Faustus von Riez moralisierend angemahnten) Idealfall weltliche und kirchliche Exzellenz: esto bonus, qui habes bona. bonae sunt divitiae, bonum est aurum, bonum et argentum, bonae familiae, bonae possessiones. omnia ista bona sunt, sed unde facias bene?45

Weitere Beispiele aus Gallien hier anzuführen, erübrigt sich, denn sie sind in Heinzelmanns Monographie von 1976 in aller erwünschten Ausführlichkeit nachzulesen, und ich habe demgegenüber nichts wirklich Neues anzubieten. Mögen auch bisweilen in prosopographischen Details Unsicherheiten bestehen bleiben, so behalten meines Erachtens dennoch die folgenden wesentlichen Beobachtungen Heinzelmanns zur Kontinuität der gallo-römischen Aristokratie zumindest im 4. und 5. Jahrhundert weiterhin ihre Berechtigung:46 1. Auch für die christlich gewordenen aristokratischen Familien Galliens blieb es ein bevorzugtes Ziel, „irdische fama und gloria zu verbreiten.“47 2. Zu diesem irdischen Ruhmstreben gehören vor allem die Pflege familiärer Verbindungen und die in aller Öffentlichkeit proklamierte Herausstellung von decus splendorque parentum, von de germine patrum herrührender nobilitas und eines ab origine abzuleitenden und stets bewahrten altum nomen.48 Denn wenn es um die Wahl eines neuen Bischofs ging, bildeten Herkunft, Verbindungen, die Bekleidung geistlicher und weltlicher Ämter weiterhin die entscheidenden Kriterien, wie sich einem Brief des Sidonius Apollinaris entnehmen lässt, in welchem es um einen Kandidaten für die Besetzung des Bischofsstuhls von Bourges geht: […] parentes ipsius aut cathedris aut tribunalibus praesederunt. inlustris in utraque conversatione prosapia aut episcopis floruit aut praefectis.49

44 Mathisen (1993), S. 117. 45 Faustus Reiensis, Serm. (Engelbrecht 1891), 5, S. 241f.; Mathisen (1993), S. 91. 46 Heinzelmann (1976), S. 233ff. 47 Heinzelmann (1976), S. 234; bestätigt von Salzman (2005), S. 350ff. 48 Heinzelmann (1976), S. 236 mit Einzelnachweisen in den Anm. 11 und 12. Vgl. auch die beiden Zitate, die Mathisen (1993), S. 9, in seinem Kapitel über „The aristocratic background of late Roman Gaul“ voranstellt: qui genus, unde domo? (Sidonius Appollinaris, Epist. [Luetjohann 1887], I, 11, 5, S. 17) und qui genus, unde patres? (Avitus Viennensis, Carm. [Peiper 1883], IIII, 90, S. 238). 49 Sidonius Apollinaris, Epist. (Luetjohann 1887), VII, 9, 17, S. 115, und dazu Baumgart (1995), S. 136f.

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Man kann also mit großer Berechtigung davon ausgehen, dass jede Gemeinde versuchte, den nach den weltlichen Rangklassen jeweils ranghöchsten Kandidaten zum Bischof zu wählen.50

3. Auch die in Epitaphien und Elogien gallischer Bischöfe gepriesenen virtutes entsprechen weitgehend dem traditionellen Wertekanon der römischen laudatio funebris. Und mit Claudia Rapp lässt sich hinzufügen: Insbesondere das weitgehende Fehlen kaiserlicher Präsenz und die prekäre Sicherheitslage im südlichen Gallien des 5. Jahrhunderts ermöglichte es den senatorisch-bischöflichen gentes to reinforce their social status in accustomed ways. In the absence of an emperor who could confer titles and privileges, the Gallic aristocrats seized the opportunity offered by the highest ministry in the Church to gain the recognition they craved and which allowed them to continue in the pursuits that had traditionally been associated with their station in society: patronage of building and other works that benefited the community, presiding over public festivals, as well as private study, and the composition of literary works.51

Ob dies tatsächlich, wie Peter Brown neuerdings annimmt, im 6. und 7. Jahrhundert anders aussieht,52 müsste und sollte Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.

Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Avitus Viennensis: Epistulae Homiliae Carmina, ed. Peiper, Rudolf (1883): MGH Auctores antiquissimi, 6/2. Berlin. Eusebius Hieronymus: Epistulae, ed. Hilberg, Isidorus (1996): Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 54. Wien. Eusebius Hieronymus: Epistulae, ed. Hilberg, Isidorus (1996): Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 55. Wien. Eusebius Hieronymus: Epistulae, ed. Hilberg, Isidorus (1996): Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 56. Wien. Faustus Reiensis: Praeter sermones pseudo-eusebianos opera, ed. Engelbrecht, August (1891): Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 21. Wien. Gregorius Turonensis: Decem Libri Historiarum, ed. Krusch, Bruno/Levison, Wilhelm (1951): MGH Scriptores rerum Merovingicarum, 1/1. Hannover. Inscriptiones Latinae Selectae 1, ed. Dessau, Hermannus (1974). Dublin.

50 Baumgart (1995), S. 137. 51 Rapp (2000), S. 393f. 52 Brown (2000), S. 336, mit Verweis auf „significant discontinuities between the sixth and the seventh centuries“. Ähnlich bereits Barnish (1988), S. 138.: „And, c. 600, what Gregory of Tours calls the ‚senatores‘ were a blend of the old curial and clarissimus Gallic families with men, who had risen through the devious and dangerous channels of Frankish service.“

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Quintus Aurelius Memmius Symmachus: Opera quae supersunt, ed. Seeck, Otto (1883): MGH Auctores antiquissimi, 6/1. Berlin. Ruricius von Limoges: Epistulae, ed. Engelbrecht, Augustus (1891): Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 21. Wien. Sidonius Apollinaris: Epistulae et carmina, ed. Lütjohann, Christian (1887): MGH Auctores antiquissimi, 8. Berlin. Venantius Fortunatus: Carmina, ed. Friedrich Leo (1881): MGH Auctores antiquissimi, 4/1. Berlin.

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Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit: eine sich durch Verwandtschaft reproduzierende Elite? 1 Einleitung Annahmen über Verwandtschaft spielen in der reichen Forschungsliteratur zur sozialen Stellung und zur Macht von Bischöfen in Gallien im Übergang zwischen Spätantike und Frühmittelalter eine wichtige Rolle. Die Forschung geht ziemlich einmütig davon aus, dass seit dem 5. Jahrhundert immer mehr Angehörige der senatorischen Aristokratie in Gallien das Bischofsamt übernommen und es schließlich sogar quasi monopolisiert hätten: Der gallische Episkopat des 6. Jahrhunderts gilt den meisten Historikern als eine sozial nahezu homogene Gruppe aus besten Kreisen.1 Erst jüngst hat Jamie Kreiner noch einmal hingewiesen auf „the aristocracy’s turn toward the episcopate“: „the Gallic episcopate was clearly dominated by aristocrats“.2 Umstritten ist lediglich, warum die Aristokraten das Bischofsamt überhaupt attraktiv fanden: Friedrich Prinz beispielsweise nahm an, dass das Bischofsamt im 5. Jahrhundert bereits ein erhebliches Prestige gehabt habe; außerdem seien die Bischofskirchen durch Schenkungen reich geworden. So habe sich der Griff danach in Zeiten des Zusammenbruchs der römischen Ordnung für die senatorische Aristokratie

1 Heinzelmann (1976), S. 244, geht davon aus, „dass in Gallien die Aristokratie einen Anteil hatte, der zumindest bei den bedeutenderen Bistümern bis zur Ausschließung aller anderen sozialen Schichten gegangen sein dürfte“; die „Tätigkeit der Bischöfe im politischen Bereich“ entspricht aus dieser Perspektive ihrer hohen sozialen Abkunft; vgl. ähnlich auch Heinzelmann (1988), S. 24f. und 27. – Jussen (1995), S. 686, geht der Frage nach: „Warum haben aristokratische Familien im 5. Jahrhundert an unterschiedlichen Orten Galliens sich das Bischofsamt angeeignet und für die alte Reichsaristokratie praktisch monopolisiert?“ – Vgl. in diesem Sinne auch Gauthier (2000), S. 195 und 197, mit dem Fazit auf S. 199: „Aux Ve et VIe siècles, l’aristocratie gallo-romaine a un quasi-monopole dans l’épiscopat, à côté d’une sphère dirigeante politico-militaire constituée de barbares. […] De fait, en s’investissant dans l’épiscopat, la classe sénatoriale gallo-romaine a mis au service de l’Église ses qualités ancestrales de dévouement à la chose publique et en particulier à la ‚petite patrie‘“. – Baumgart (1995), S. 152, konstatiert: „Nahezu alle Bischöfe stammten gegen Ende des 5. Jahrhunderts aus dem Senatsadel […]“. – Anton (1996), S. 465, formuliert sogar: „Die Bischöfe des 6. Jahrhunderts entstammten durchweg der Senatorenaristokratie […]“. – Wiesheu (2000), S. 20, sieht erst das 7. Jahrhundert als eine Zeit, in der „sich der Episkopat nicht mehr ausschließlich aus dem romanischen Senatorenadel rekrutiert […]“. – Auf den sehr engen sozialen Zusammenhang zwischen dem gallischen Episkopat und der Aristokratie verweisen auch Gassmann (1977), S. 50–71; Prinz (1976), S. 6–14; Mathisen (1981), S. 112; Mathisen (1993), S. 89–104; Scheibelreiter (1983), S. 49; Settipani (1991), S. 195; Geary (1996), S. 128–139; Beaujard (1996), S. 130; Gasparri (2008), S. 144f. 2 Kreiner (2011), S. 334 und 337.

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gelohnt und sei zur Basis geworden für jene Usurpation weiterer Rechte, aus der schließlich die frühmittelalterliche Bischofsherrschaft erwachsen sei.3 Martin Heinzelmann ist dagegen stärker von Kontinuitäten zwischen dem Imperium Romanum und den Nachfolgereichen in Gallien überzeugt; er hat dementsprechend darauf verwiesen, dass der römische Staat schon seit dem 4. Jahrhundert Rechte und Aufgaben an Bischöfe delegiert habe, die dann das Amt seit dem 5. Jahrhundert auch für senatorische Adlige attraktiv gemacht hätten. Aus Heinzelmanns Perspektive bildete also nicht eine Usurpation, sondern die kaiserliche Delegation von Rechten die Grundlage der weiteren Entwicklung bischöflicher Herrschaft im Gallien des 5. und 6. Jahrhunderts.4 In jüngerer Zeit hat Bernhard Jussen die Alternative von „Usurpation“ vs. „Delegation“5 verworfen und die Attraktivität des Bischofsamts für die Aristokratie anders begründet: Im Zuge der politischen Umwälzungen des 5. Jahrhunderts sei für die Aristokraten in Gallien der Kaiser als Referenz für Legitimation und Repräsentation ausgefallen. Erst dadurch sei ein lokales Amt, wie es das Bischofsamt war, überhaupt für Aristokraten attraktiv geworden, die es bis dahin gewohnt waren, reichsweit zu denken und zu handeln. Konkret habe vor allem zweierlei das Amt interessant gemacht: Erstens war seine Legitimation, so Jussen, in Zeiten politischen Umbruchs über jeden Zweifel erhaben, da sie nicht vom Rahmen des imperium abhängig war, sondern vom Rahmen der ecclesia. Zweitens sei das Bischofsamt zwar lokal beschränkt, zugleich aber frei ausgestaltbar gewesen, weil ein Bischof sich innerhalb der ecclesia nicht den Vorgaben einer Zentralgewalt habe beugen müssen.6 Die Thesen gehen jeweils von unterschiedlichen Vorannahmen über Kontinuität und Bruch zwischen Spätantike und Mittelalter in Gallien aus; und sie sind geleitet von je unterschiedlichen Grundauffassungen über den Zusammenhang zwischen Macht, Recht und Kultur. Alle drei Thesen aber fußen letztlich doch auf einer gemeinsamen Basis: Sie setzen voraus, dass die Bistümer in Gallien seit dem 5. Jahrhundert von der Aristokratie „praktisch monopolisiert“ worden seien.7 Dies ist die Basis für alle weiteren, dann auch kontroversen Überlegungen. Die gleiche Grundannahme findet sich nicht nur in der deutschen Literatur über den Episkopat in Gallien, sondern auch in italienischen, französischen und englischen Beiträgen8 – und das, obwohl zumindest mancher englische Historiker die Reichweite bischöflicher Herrschaft durchaus skeptischer beurteilt als seine deutschen Kollegen.9

3 Prinz (1976) und Prinz (1981). 4 Heinzelmann (1988). 5 Prinz (1988), S. 2–9, hat versucht, beide Positionen miteinander zu verbinden. 6 Jussen (1995), Jussen (1997) und Jussen (1998). 7 Das Zitat bei Jussen (1995), S. 686. 8 Vgl. oben Anm. 1. 9 Vgl. etwa Wood (1983), S. 50; Coates (2000), S. 1131; Leyser (2002), S. 285 und 294; zuletzt wieder Kreiner (2011), S. 334.

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Die These, die weitaus meisten Bischöfe in Gallien seien seit den Jahren um 500 Angehörige der (senatorischen) Aristokratie gewesen, stützt sich im Kern auf zwei Beobachtungen: (1) Es lässt sich leicht zeigen, dass eine ganze Reihe von Bischöfen in Gallien in der Tat dem höchsten Adel entstammte. Schon Helene Wieruszowski und Karl Friedrich Stroheker haben einschlägige Listen veröffentlicht.10 Diese älteren Listen führen allerdings insgesamt nur etwas mehr als 70 Bischöfe auf, für die sich zwischen 300 und 700 in Gallien einigermaßen sicher aufgrund expliziter Quellenaussagen eine senatorische Abkunft nachweisen lässt. Seitdem hat die prosopographische Spezialforschung diese Liste zwar noch um einige Fälle erweitern können. Wir müssen jedoch annehmen, dass im selben Zeitraum insgesamt deutlich mehr als 2000 Bischöfe in Gallien amtierten. Das heißt: Der Anteil der Bischöfe mit nachweisbarer Herkunft aus dem ordo senatorius bleibt in jedem Falle klein; er liegt bei weniger als fünf Prozent.11 Wieruszowski und Stroheker selbst hatten bezeichnenderweise aus ihren Befunden auch gar nicht auf eine soziale Homogenität des gallischen Episkopats schließen wollen. Strohekers bis heute vielzitierte Studie hatte tatsächlich ein anderes Beweisziel: Er verfolgte, wie der senatorische Adel in Gallien in das Frühmittelalter hinüberfand – und zeigte als einen Weg neben anderen auf, dass Angehörige dieser Elite seit dem 5. Jahrhundert auch Bischof wurden. Stroheker ging es mithin nicht um die soziale Herkunft des Episkopats, sondern um die späte Geschichte des ordo senatorius in Gallien. Bei aller Vorsicht vor Quantifizierung in quellenarmer Zeit bleibt deshalb festzuhalten: Eine Herkunft aus der senatorischen Aristokratie lässt sich nur für sehr wenige der ehedem amtierenden Bischöfe unmittelbar aus den Quellen heraus nachweisen. (2) Hier kommt nun das Argument der Verwandtschaft ins Spiel: Zwar lässt sich der Nachweis einer Abkunft aus senatorischem Adel nicht direkt erbringen, es bleibt aber doch ein anderer, indirekter Beweisgang möglich, der über die Verwandtschaft führt. Schon Wieruszowski und Stroheker haben eine Reihe von Bischöfen aufgelistet, die mit anderen Bischöfen verwandt waren.12 Seitdem haben Martin Heinzelmann, Ralph Mathisen, Christian Settipani und andere mehr noch etliche weitere Verwandtschaftsverhältnisse im Episkopat rekonstruiert (oder postuliert) – und so die Verwandtschaft zwischen Bischöfen für das Gallien der Transformationszeit geradezu als Normalfall zu erweisen versucht.13 Im Kern lautet das Argument also: Wenn sich zumindest für einige Bischöfe sicher eine Herkunft aus der senatorischen Aristokratie nachweisen lässt und wenn sich zugleich zeigen lässt, dass Bischöfe in der Regel untereinander verwandt waren, – dann folgt daraus, dass die senatorische Aristo-

10 Wieruszowski (1922), S. 44–83; Stroheker (1948). 11 Dazu ausführlich Patzold (2010), S. 126–129. 12 Wieruszowski (1922), S. 50–56; Stroheker (1948), S. 137–227. 13 Heinzelmann (1976), S. 211ff.; Mathisen (1979), S. 544ff.; Settipani (1991), S. 195ff.; vgl. zusammenfassend auch Patzold (2010), S. 130f.

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kratie das Bischofsamt seit dem 5. Jahrhundert zunehmend monopolisiert hat. Für die Verallgemeinerung des schmalen prosopographischen Befunds zur senatorischen Abkunft einzelner Bischöfe ist das Argument der Verwandtschaft zwischen Bischöfen geradezu entscheidend. An dieser Stelle setzt unsere Kritik an. Unser Argument ist zweigeteilt: Zum einen ist unseres Erachtens die Forschung zur sozialen Herkunft des Episkopats im Gallien des 5. bis 7. Jahrhunderts dort, wo sie Verwandtschaft zum Argument macht, nicht mehr kompatibel mit Grundannahmen der jüngeren geschichtswissenschaftlichen Verwandtschaftsforschung. Zum anderen möchten wir am Beispiel eines enger umrissenen Raums deutlich machen, welche Befunde unsere Überlieferung konkret überhaupt ermöglicht, sofern man nicht schon bei der prosopographischen Analyse selbst Verwandtschaft zwischen Bischöfen als Normalfall voraussetzt. Ein solches Verfahren ist üblich, führt aber zu einem Zirkelschluss: Die Annahme weitverbreiteter Verwandtschaft zwischen Bischöfen wird zum Argument gemacht für eine – sonst nicht handfest belegbare – verwandtschaftliche Beziehung zwischen zwei bestimmten Bischöfen; dieser konkrete Fall dient dann seinerseits wieder als Argument für die Annahme einer weitverbreiteten Verwandtschaft zwischen Bischöfen.14 Wir haben für diese Fallstudie mit Bedacht die Bischöfe der Kirchenprovinz Tours gewählt: Die Oberhirten von Tours gelten als Musterbeispiel senatorischer Adliger, die noch zudem fast alle untereinander verwandt gewesen seien. Ihr Beispiel wird regelmäßig in der einschlägigen Literatur als Beleg angeführt. Es lohnt sich deshalb, gerade für diesen Fall einmal strikt Quellenaussagen und prosopographische Rekonstruktionen zu trennen.

2 Die jüngere Verwandtschaftsforschung Die bisherige prosopographische Forschung zum Episkopat der Übergangszeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter in Gallien hat sich dort, wo sie Verwandtschaft thematisiert, im Wesentlichen darauf beschränkt, Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Bischöfen aus der Rückschau zu rekonstruieren. Die historische Wirksamkeit und Bedeutung dieser verwandtschaftlichen Beziehungen hat sie dann kaum mehr eigens untersucht, sondern in der Regel einfach vorausgesetzt. Etwas zugespitzt: Der Nachweis einer gemeinsamen Abstammung zweier Bischöfe galt als hinreichend, um

14 Scheibelreiter (1983), S. 166, meint, dass es „fast methodisch berechtigt erscheint, Bischöfe, deren Familienzugehörigkeit unbekannt ist, nicht nur aus dem Namen, sondern auch von ihrem Bischofssitz her einem Geschlecht zuzuweisen“; vgl. auch Heinzelmann (1976), S. 231, demzufolge „in vielen Fällen die Amtsnachfolge als ein erstes, wenn auch nicht schlüssiges Indiz für die Verwandtschaft von Bischöfen untereinander gewertet werden kann“.

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erst konkret den Weg in das geistliche Amt im Einzelfall und dann allgemein die Hinwendung der Aristokratie zum Episkopat zu erklären. Dieses Verfahren ist methodisch gleich in zweierlei Hinsicht bedenklich. Erstens übersieht es, dass das Bischofsamt im Kirchenrecht stets unabhängig von Verwandtschaft blieb und schon deshalb immer auch andere Kriterien bei der Besetzung der Bistümer eine Rolle spielen konnten. Es fällt heute nicht schwer, Historiker zu benennen, deren Väter oder Vorfahren ebenfalls schon Historiker waren: Theodor Schieffer war der Vater von Rudolf Schieffer, Theodor Schieder der Vater von Wolfgang Schieder, Theodor Mommsen der Großvater von Wolfgang Mommsen, Karl Leyser der Vater von Conrad Leyser. Die Verwandtschaft erklärt aber nicht den Weg des Sohns oder Enkels in den Beruf des Historikers oder gar auf eine Professur. Denn sie übersieht großzügig das Problem kontingenter Entscheidungen; und sie blendet aus, welche rechtlichen Rahmenbedingungen das Verfahren einer Berufung auf eine Professur regulieren. Wichtiger ist in unserem Kontext allerdings das zweite Problem: Die jüngere Forschung zur Verwandtschaft hat die Hoffnung aufgegeben, man könne das Handeln von Personen allein damit erklären, dass man ihre gemeinsame biologische Abstammung rekonstruiert. Verwandtschaft gilt heute zu Recht als ein soziales Konstrukt: Constance Brittain Bouchard hat Historiker gemahnt, sich bewusst zu machen, „that ‚family‘ does not and did not reside only in biological connections“. Vielmehr sei zu fragen: Welche Leute betrachtete eine einzelne Person jeweils als Mitglieder ihrer eigenen Gruppe? Und wie beeinflusste diese Zuschreibung das Verhältnis zu und den Umgang mit diesen anderen Personen? Für jedes einzelne Mitglied einer Familie kann sich somit ein eigenes Bild von wahrgenommenen und damit historisch wirksamen Verwandtschaftsbeziehungen ergeben.15 Die Definitionen für Verwandtschaft in der jüngeren Literatur belegen, dass eine Perspektive, die Verwandtschaft als Konstrukt begreift, mittlerweile weithin akzeptiert ist.16 Bernhard Jussen hat zudem mit einigem Nachdruck darauf hingewiesen, dass erstens im Mittelalter neben der fleischlichen Verwandtschaft gerade auch die geistliche Verwandtschaft soziale Beziehungen strukturiert habe und zweitens neben

15 Bouchard (2001), S. 3f., das Zitat auf S. 4. 16 Vgl. etwa Lubich (2008), S. 14: „Verwandtschaft ist die vermittels eines bestimmten Begriffsfeldes geäußerte Vorstellung davon, dass mindestens zwei Menschen über Abstammung, Heirat oder soziale Praktiken miteinander in Beziehung stehen“; Rexroth/Schmidt (2007), S. 11: „In der Geschichtswissenschaft hat sich seit einigen Jahren die Ansicht etabliert, dass Verwandtschaft nicht als biologische Tatsache zu begreifen ist, die ‚objektiv‘ aus Abstammung und Heirat resultiert, sondern als eine kulturspezifische Denkform, als ein Mittel zur gedanklichen und sprachlichen Strukturierung sozialer Beziehungen“; Jussen (2001), S. 40: „Langsam, aber immerhin, haben Historiker akzeptiert, dass Verwandtschaft keine biologische Tatsache ist, sondern eine Denkweise sozialer Beziehungen. Sie ist ein kulturspezifisches, universal einsetzbares System, um soziale Beziehungen aller Art zu strukturieren“.

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der Verwandtschaft auch andere Formen sozialer Gruppenbindungen in hohem Maße menschliches Handeln strukturiert hätten.17 Und schließlich dürfte allgemein akzeptiert sein, dass Verwandtschaft in der Praxis durchaus nicht immer auch eine politische Bündnis- und Friedensgemeinschaft bedeutete: Verwandte konnten genauso blutig untereinander streiten wie Nicht-Verwandte.18 Nimmt man diese Perspektiven der jüngeren Verwandtschaftsforschung ernst, dann vermag die Rekonstruktion von biologischen Abstammungsgemeinschaften durch den Historiker für sich genommen noch nichts zu erklären. Stattdessen wäre erst in jedem Einzelfall der Beweis zu führen, dass eine Verwandtschaftsbeziehung in einer konkreten Situation – wie etwa bei der Besetzung eines Bistums – eine Entscheidung der Akteure wesentlich beeinflusst hat. Vor diesem Hintergrund sei nun am Beispiel der Bischöfe der Kirchenprovinz Tours verdeutlicht, welche Aussagen auf der Grundlage unserer lückenhaften Überlieferung zu diesen Fragen überhaupt möglich sind.

3 Die Kirchenprovinz Tours 3.1 Statistisches Wir kennen für die Kirchenprovinz Tours im 5. bis 7. Jahrhundert 161 Bischöfe mit Namen, von denen aber rund 30 in ihrer zeitlichen Einordnung sehr unsicher sind.19 Bei einigen steht nicht einmal fest, ob es sich um historische Personen handelt. Das Gros dieser unsicheren Fälle stammt aus den Randbistümern der Bretagne, deren Bischofslisten schlecht überliefert sind – vor allem aus Dol, Quimper und St. Pol-de-Léon.20 Die folgende Analyse beschränkt sich deshalb auf die besser dokumentierten Bistümer Tours, Le Mans, Nantes, Rennes und Angers.21 Hier lassen sich zumindest für bestimmte Zeiträume konkretere und einigermaßen sichere Aussagen treffen.

17 Jussen (2001), S. 54–56; Jussen (2002), S. 456f.; auch Jussen (2009), S. 313–319 (zur Konkurrenz nicht-verwandtschaftlicher Gruppenbindungen bei der Totensorge). 18 Goetz (2008), S. 559–565. 19 Vgl. die Listen im Anhang dieses Beitrags. 20 Zu Dol, Quimper und St. Pol-de-Léon sowie ihren Bischöfen vgl. u.a.: Albert (2000), Sp. 46; Albert (1999), Sp. 773; Bourges (1998); Fawtier (1921/23), S. 137–186; Fawtier-Jones (1925), S. 3–56; Grémont (1971), S. 131–166; Le Grand (1901); Leguay (1986); Leguay (1989); Leguay (1995); Olson (2000), S. 123–133; Poulin (1977), S. 1–26; Poulin (1978), S. 610–615; Poulin (1990); Poulin (1995); Poulin (2009); Tanguy/Tanguy (1997); Turck (1959). 21 Zu Tours, Le Mans, Nantes, Rennes und Angers vgl. u.a.: Aupest-Conduché (1972); Aupest-Conduché (1977); Bratton (1979); Delumeau (1979); Durand (1985); Goffart (1966); Goffart (1969); Lebrun (1981); Lédru (1913); Leveel (1993); Mathisen (1984), S. 83–95; McDermott (1975); Pietri (1982); Pietri (1983); Tonnerre (1983); Weidemann (1986); Weidemann (2002).

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Schauen wir zunächst auf die Größenordnungen, mit denen wir es zu tun haben. Dabei müssen wir unterscheiden zwischen einer minimalen und einer maximalen Lesart: Die Minimalwerte ergeben sich, wenn wir nur die in den Quellen ausdrücklich bezeugten Verwandtschaftsverhältnisse berücksichtigen. Die Maximalwerte beziehen auch alle von der Forschung bisher rekonstruierten Verwandtschaftsverhältnisse mit ein. Außerdem wird man unterscheiden müssen, ob Bischöfe auch mit anderen Bischöfen ihres eigenen Bistums verwandt waren oder ausschließlich mit Bischöfen anderer Bistümer. Die Ergebnisse sehen für Tours, Le Mans, Nantes, Rennes und Angers folgendermaßen aus: Für das Bistum Tours lässt sich eine verhältnismäßig hohe Zahl an Bischofsverwandtschaften ermitteln. Von den 34 Bischöfen waren immerhin mindestens sieben untereinander verwandt;22 diese sieben Bischöfe hatten alle jeweils auch im übrigen gallischen Episkopat Verwandte. Allerdings lassen sich andererseits für mindestens 24 Bischöfe aus Tours gar keine bischöflichen Verwandten nachweisen;23 das betrifft vor allem die Zeit nach 594, nach dem Tod Gregors von Tours. Aber selbst unter den Bischöfen, die in Gregors Werken genannt werden, liegt die Quote der von Gregor ausdrücklich angesprochenen Verwandtschaftsbeziehungen bei nur 37 % (dagegen bei 58 %, wenn man auch alle von der Forschung bisher erwogenen Verwandtschaften mitberücksichtigt). In Le Mans ist die Quellenlage ungünstiger. Hier lassen sich für denselben Zeitraum von insgesamt zwölf Bischöfen nur zwei nachweisen, die untereinander verwandt waren.24 Zwei weitere Bischöfe hatten Verwandte im gallischen Episkopat außerhalb von Le Mans.25 Insgesamt können wir also in Le Mans für ein Drittel der Bischöfe eine Verwandtschaft zu Amtsbrüdern nachweisen. In Nantes finden sich unter

22 Nämlich Eustochius, Perpetuus, Volusianus, Ommatius, Francilio, Euphronius und Gregor: Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 26, S. 71; IV, 15, S. 147; X, 31, S. 529ff. 23 Das betrifft Brictius, Iustinianus, Armentarius, Verus, Licinius, Theodorus, Proculus, Dinifius, Iniuriosus, Baudinus, Guntharius, Pelagius, Leupacharius, Aigiricus, Gwalachus, Leobaldus, Medigisilus, Latinus, Charegisilus, Rigobercthus, Papolenus, Chrodebertus, Peladius, Ebarcius. – Von der Forschung konstruierte Verwandtschaften ohne Quellenbelege sind in dieser Aufzählung bewusst außen vor gelassen. 24 Es handelt sich hierbei um Victurus und Victurius von Le Mans. Zur Problematik dieses Falls vgl. aber unten, Anm. 51. 25 Badegisel und Berthramn: Eindeutig durch die Quellen belegte bischöfliche Verwandte: Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 30, S. 24; 48, S. 35; 66, S. 43; Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VIII, 32, S. 400; Scheibelreiter (1983), S. 125, konstruiert für Badegisel eine Verwandtschaft zu Domnolus von Le Mans. Weitreichende Verwandtschaftskonstruktionen für Berthramn finden sich bei Weidemann (1986), S. 125ff. Unter Hinzunahme der von ihr rekonstruierten Verwandtschaften beläuft sich die Zahl der bischöflichen Verwandten Berthramns auf mindestens zehn Personen. Durch die Quellen eindeutig belegt sind hingegen nur die mit Berthramn verwandten Bischöfe Chaimoald und Avitus.

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16 Bischöfen drei bzw. vier, die mit anderen Bischöfen in Nantes verwandt waren;26 Verwandtschaft zu auswärtigen Kollegen ist gar nicht nachzuweisen. Für Rennes lassen sich nur für einen, höchstens für zwei von elf Bischöfen episkopale Verwandte finden,27 beide außerhalb des Bistums. In Angers kennen wir – möglicherweise – einen einzigen Bischof, der mit einem Kollegen andernorts verwandt war.28 Als Ergebnis können wir also festhalten: Wir besitzen nur für ein Viertel der Bischöfe, für höchstens 23 von 88, überhaupt Indizien für eine Verwandtschaft mit anderen Bischöfen; und der Anteil fällt sogar noch geringer aus, wenn wir die nur postulierten Verwandtschaften erst einmal außen vor lassen und uns auf die expliziten Quellenbefunde beschränken: Dann liegt die Quote bei nur einem Sechstel. Man mag dem entgegenhalten, dass dort, wo die Quellenlage besser ist, auch mehr Fälle von Verwandtschaft sichtbar werden. Allerdings kommen wir selbst für Tours vor dem Ende des 6. Jahrhunderts, wenn wir streng sind, nur auf eine Quote von etwas über einem Drittel. Die These vom Nepotismus im gallischen Episkopat behauptet ein mehr oder minder flächendeckendes Phänomen. Die Fälle, die wir handfest nachweisen können, sind dagegen vergleichsweise punktuell. Die Zahlen verringern sich nun aber sogar noch weiter, wenn wir Folgendes mitbedenken: Für die These, dass die (senatorische) Aristokratie die Bistümer der Gallia quasi monopolisiert habe, sind strenggenommen gar nicht alle bischöflichen Verwandtschaftsverhältnisse von Bedeutung. Einschlägig sind hierfür allein diejenigen Fälle, bei denen wir es mit Verwandtschaft zwischen Bischöfen aus der Aristokratie zu tun haben. So schwierig die Abgrenzung hier im Einzelnen sein mag, ergibt sich insgesamt aber doch ein einigermaßen sicherer Befund: Es lassen sich nämlich nur sieben Bischöfe nachweisen, die der Aristokratie entstammten und zugleich episkopale Verwandte hatten: Das sind bezeichnenderweise genau diejenigen, die Gregor in seiner Bischofsliste ausdrücklich als senatores aufführt.29 Für drei weitere Bischöfe ist es immerhin einigermaßen wahrscheinlich, dass es sich um Angehörige einer Verwandtschaftsgruppe des senatorischen Adels handelt; sie alle amtierten in

26 Nonnichius I. ist in den Quellen lediglich durch seine Teilnahme am Konzil von Vannes (461–491) bezeugt: Vgl. Conc. Veneticum a. 461–491 (Munier 1963), S. 157. – Zu Eumerius vgl. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 1, S. 80. – Zu Felix und Nonnichius II.: Gregor von Tours, Hist. (Krusch/ Levison 1951), VI, 16, S. 285f.; zur familiären Nachfolge in Nantes ausführlich auch unten, S. 122f., bei Anm. 68. 27 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VIII, 32, S. 400f., bezeugt die Verwandtschaft zwischen Victurius von Rennes und Badegisel von Le Mans; zu Haimoald vgl. Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 30, 66, S. 24ff.; außerdem Weidemann (1986), S. 130; Nonn (1975), S. 192. 28 Zu Eustochius: Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 529. Für eine Verwandtschaft zu Eustochius von Tours plädiert Mathisen (1979), S. 304f. 29 Strenggenommen besagt der Begriff allein allerdings noch nicht, dass es sich um Angehörige der alten senatorischen Aristokratie handelte: Vgl. gegen Stroheker (1942) die Beiträge von Gilliard (1979), S. 696f.; Barnish (1988), S. 138.

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Nantes.30 Wenn wir nach bischöflichen Verwandten aus dieser Elite fragen, haben wir es also mit einer noch deutlich kleineren Zahl von Fällen zu tun, die noch zudem auf Tours und Nantes beschränkt bleiben. So darf man konstatieren: Dass aristokratischer Nepotismus im gallischen Episkopat weithin verbreitet gewesen wäre, lässt sich für die Kirchenprovinz Tours zumindest nicht beweisen. Wir sehen kein flächendeckendes Phänomen; wir sehen, dass Angehörige der Aristokratie ihren Verwandten nur zu bestimmten Zeiten und auf bestimmten sedes im Bischofsamt nachfolgten.

3.2 Qualitatives: Rekonstruktion von Verwandtschaftsverhältnissen Angesichts dieses Befundes mag es erlaubt sein, auch die bisherigen Rekonstruktionen von Verwandtschaften noch einmal in den Blick zu nehmen. Das Standardbeispiel schlechthin für Nepotismus im gallischen Episkopat der Merowingerzeit ist die Familie Gregors von Tours. Nun ist an Gregors erlauchter Abkunft und Verwandtschaft nicht zu rütteln; allerdings hat Martin Heinzelmann bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Turoner Bischof selbst sich in seinen Historien mitnichten als der familienstolze Aristokrat präsentiert hat, als der er in der älteren Literatur oft charakterisiert worden ist.31 Immerhin erlaubt sein Bischofskatalog im 10. Buch der Historien eine lückenlose Rekonstruktion der Turoner Bischöfe bis zu Gregor selbst, zum Teil sogar mit detaillierten Angaben zu Stand, Herkunft und Verwandtschaft. Dass Gregor mit anderen Bischöfen seines Bistums verbunden war, ist gar nicht zu bezweifeln. Die Frage lautet allerdings: wie eng und mit welchen? Immer wieder wird als Selbstaussage Gregors zitiert,32 er sei mit allen Bischöfen von Tours, außer mit fünfen, „verwandt“ gewesen. Die berühmte Quellenstelle ist tatsächlich aber weniger eindeutig formuliert. Die Passage ist eine Verteidigung gegen die Polemik des aufrührerischen Priesters Rikulf, der sich rühmt, er habe die civitas Tours von den Arverni populi befreit. Gregor sucht dieses Argument zu entkräften und notiert in diesem polemischen Zusammenhang den folgenden Satz: Ignorans miser, quod praeter quinque episcopos, reliqui omnes, qui sacerdotium Turonicum susceperunt, parentum nostrorum prosapiae sunt coniuncti.33

30 Eumerius, Felix und Nonnichius: Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 1, S. 80; Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 15, S. 285. 31 Heinzelmann (1994), S. 8ff. 32 Vgl. etwa Leveel (1993), S. 44; Settipani (1991), S. 211, Anm. 107; Gauthier (2000), S. 197; Heinzelmann (1994), S. 21f. 33 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 49, S. 262.

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Wörtlich übersetzt lautet Gregors Aussage zu den Turoner Bischöfen also: Außer fünf Bischöfen sind alle anderen, die das Turoner Bischofsamt empfangen haben, dem Geschlecht (prosapia) unserer Vorfahren (parentes) verbunden (coniuncti).

Im Erzählzusammenhang geht es Gregor an dieser Stelle nicht um den sozialen Stand seiner Familie oder der Bischöfe von Tours. Er argumentiert vielmehr in der kirchenrechtlich wichtigen Frage, ob ein „fremder“ Kleriker aus Clermont (wie er selbst) überhaupt in Tours Bischof werden sollte – oder nicht vielmehr ein Geistlicher der Kirche von Tours selbst, wie es der Archidiakon Rikulf war. Zeigen musste Gregor angesichts dieses kirchenrechtlichen Problems aber nicht zwangsläufig Verwandtschaft (die keine kirchenrechtliche Kategorie bei der Besetzung eines Bistums war), sondern irgendeine Art von Verbindung zu Tours. Schon Ralph Mathisen hat nun darauf aufmerksam gemacht, dass sich Gregor hier einigermaßen schwammig ausdrückt, ja sich geradezu um eine konkrete Aussage herumzudrücken scheint.34 Hätte Gregor eine Verwandtschaft ausdrücken wollen, hätte er jedenfalls einfacher sagen können, dass diese Bischöfe seiner prosapia angehörten oder entstammten. Tatsächlich verwendet Gregor in seinen Historien insgesamt an 54 Stellen das Wort „coniunctus“, in keinem einzigen Fall aber bringt er damit eine leibliche Verwandtschaft zum Ausdruck. In der Regel meint „coniunctus“ bei ihm ganz allgemein „verbunden“, „verbündet“ oder „versammelt“,35 speziellere Verwendungen beziehen sich auf militärische Bündnisse,36 auf Synoden37 und auf Eheverbindungen.38 Man muss Gregors Aussage also gar nicht zwingend dahingehend deuten, dass er mit allen Bischöfen von Tours bis auf fünf verwandt gewesen ist; möglicherweise wollte er nur zum Ausdruck bringen, dass seine Familie schon seit langem politische und soziale Verbindungen zu den Bischöfen von Tours unterhalten hatte. Für eine derartige Interpretation spricht nicht zuletzt auch ein weiterer Befund: Es lässt sich nämlich nur für zwei weitere Bischöfe von Tours eine Verwandtschaft zu Gregor handfest nachweisen, nämlich erstens für Euphronius, der als „nepus“ Gregors von Langres bezeichnet wird39. Dieser Euphronius wiederum stammt zweitens ex

34 Mathisen (1984), S. 85. 35 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 9, S. 141; IV, 11, S. 141; IV, 42, S. 176; V, 11, S. 206; V, 17, S. 216; V, 20, S. 227ff.; V, 28, S. 234; V, 33, S. 237; VI, 14, S. 284; VI, 36, S. 307f.; VII, 2, S. 327; VII, 3, S. 328; VII, 29, S. 347; VII, 33, S. 353; VII, 47, S. 366ff.; VIII, 15, S. 380ff.; IX, 10, S. 424; IX, 27, S. 446; IX, 35, S. 456; IX, 39, S. 460ff.; X, 9, S. 491; X, 13, S. 497; X, 31, S. 532. 36 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 7, S. 50; III, 4, S. 100; III, 6, S. 103; III, 31, S. 128; IV, 22, S. 155; IV, 45, S. 180; IV, 49, S. 185; V, Kapitelverzeichnis, S. 191; VI, 1, S. 265; VI, 18, S. 287; VI, 24, S. 291; VI, 42, S. 314; VII, 32, S. 352; VIII, 6, S. 375. 37 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 18, S. 216; V, 20, S. 227ff.; VI, 36, S. 307; VI, 38, S. 309; VIII, 9, S. 376; VIII, 30, S. 395; X, 8, S. 490; X, 15, S. 503. 38 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 3, S. 197; VI, 13, S. 283; IX, 33, S. 453; IX, 39, S. 463. 39 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 15, S. 213.

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genere illo, quod superius senatores nuncupavimus.40 Der letztgenannte dieser senatores ist, der Reihenfolge des Bischofskatalogs nach, Francilio. Während die „Senatoren“ und Bischöfe Ommatius, Volusianus, Perpetuus und Eustochius unzweifelhaft als untereinander verwandt gekennzeichnet werden,41 lässt sich aus Gregors Text selbst keine Verbindung zwischen dieser Gruppe und Francilio herstellen (und damit auch nicht zu Gregor). Die einzige Schnittmenge zwischen der ‚Gregor-Gruppe‘ und der ‚Ommatius-Gruppe‘ ist die civitas Clermont, der sowohl Gregor als auch Ommatius entstammten. Diese lokale Übereinstimmung gilt seit Helene Wieruszowski als Indiz für die Verwandtschaft sämtlicher senatorischer Bischöfe von Tours.42 Gregors Selbstaussage im 49. Kapitel des fünften Buches hat die Forschung dazu verleitet, zum Teil auch auf unsicherer Basis weitere Verwandtschaften der Turoner Bischöfe zu behaupten. Bestes Beispiel hierfür sind Theodorus und Proculus: Beide stammten aus Burgund, beide waren dort Bischöfe gewesen und vertrieben worden, beide waren hochbetagt und beide wurden schließlich um 521 von Chrodechilde in Tours als Bischöfe eingesetzt – und zwar gegen alle Normen des Kirchenrechts zeitgleich, parallel.43 Gregors Bericht besagt also erst einmal nur, dass Chrodechilde hier zwei greise Exilbischöfe in Tours versorgt wissen wollte. Ralph Mathisen aber hat angenommen, dass Theodorus und Proculus erstens Brüder und zweitens mit Gregor von Tours verwandt gewesen seien. Mathisens einziges Argument für eine solche Verwandtschaft zu Gregor ist allerdings der Hinweis darauf, dass es wahrscheinlich in der Gegend von Clermont im 5. Jahrhundert zwei Personen mit Namen Theodorus gegeben habe. Dass Theodorus und Proculus außerdem Brüder gewesen seien, folgert Mathisen aus der unkanonischen, gemeinsamen Einsetzung in Tours.44 Ein handfester Nachweis für all diese Vermutungen fehlt. Interessant ist vielmehr, dass die burgundische Prinzessin Chrodechilde mit Dinifius später noch einen dritten Mann aus Burgund in Tours als Bischof eingesetzt hat.45 Das weist eher darauf hin, dass sie dieses Bistum mehrfach dazu genutzt hat, um ihre eigene Klientel aus Burgund zu versorgen.

40 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 534. 41 Die Verwandtschaft zwischen Eustochius, Perpetuus und Volusianus geht hervor aus: Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 529ff.; die Verbindung zwischen ihnen und Ommatius besteht in der Person des Ruricius von Limoges, der sowohl mit den drei erstgenannten als auch mit Ommatius verwandt war: Ruricius von Limoges, Ep. (Engelbrecht 1891), I, 18, S. 370f.; II, 28, S. 412; II, 57, S. 437f.; II, 65, S. 441f. 42 Wieruszowski (1922), S. 52f.; dem folgend u.a. auch Mathisen (1979), S. 309; Pietri (1983), S. 136; Heinzelmann (1994), S. 13. 43 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 532. 44 Mathisen (1979), S. 305f. 45 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 532.

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Ähnlich verhält es sich mit Iustinianus und Armentius von Tours:46 Auch sie wurden von Mathisen allein aufgrund von Namensähnlichkeiten zu Angehörigen Gregors als dessen Verwandte betrachtet.47 Wie problematisch Namensgleichheit allein aber als Indiz sein kann, zeigt die Existenz eines Armentarius Iudaeus, eines jüdischen Geldverleihers, der in den Historien ebenfalls erwähnt wird.48 Zumindest von diesem Mann wird niemand behaupten wollen, er sei mit Gregor verwandt gewesen. Zusammengefasst: Es ist nicht möglich, für die Mehrzahl der Turoner Bischöfe eine Verwandtschaft zu Gregor zweifelsfrei nachzuweisen. Der prosopographische Befund und der begriffsgeschichtliche Befund zu „coniunctus“ deuten vielmehr in dieselbe Richtung: Diejenigen, die Gregors Familie coniuncti waren, müssen durchaus nicht alle seine Verwandten gewesen sein; sie könnten seiner prosapia auch in anderer Weise sozial „verbunden“ gewesen sein, ihr nahegestanden haben. Wir wollen damit eine Verwandtschaft nicht ausschließen; wichtig ist uns aber doch, dass die Stelle keinesfalls dazu zwingt, weitere Verwandtschaftsverhältnisse auf hypothetischer Basis zu postulieren. Das Problem ungesicherter Verwandtschaftsverhältnisse besteht natürlich nicht nur in Tours selbst: Ralph Mathisen hat beispielsweise auch eine Verwandtschaft zwischen Eustochius von Tours und Eustochius von Angers erwogen.49 Auch sie beruht aber letztlich allein auf der Namensgleichheit. Wir können über den Bischof Eustochius von Angers tatsächlich nämlich nichts anderes sagen, als dass er an der Synode von Orléans 511 teilgenommen hat.50 Streicht man die Verwandtschaft zwischen Eustochius von Angers und Eustochius von Tours, dann bleibt in Angers übrigens kein einziger Bischof mehr, für den es auch nur das Indiz einer Verwandtschaft zu einem Kollegen gäbe. In Le Mans fände sich mit den Bischöfen Victurus und Victurius ein geradezu lehrbuchhaftes Beispiel für die Bistumsweitergabe vom Vater zum Sohn; aber die Überlieferung hierzu ist fragwürdig und stammt erst aus dem späteren 9. Jahrhundert.51 Bei Berthramn von Le Mans wiederum stellt sich zwar nicht die Frage, ob er mit anderen Bischöfen verwandt war; die Existenz solcher Verwandtschaftsbeziehungen

46 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 1, S. 38; X, 31, S. 528. 47 Mathisen (1979), S. 419; Mathisen (1984), S. 86. 48 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VII, 23, S. 343; diese Problematik räumt Mathisen (1979), S. 419, übrigens auch selbst ein. 49 Mathisen (1979), S. 304f.; zu Eustochius von Tours: Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 529. 50 Conc. Aurelianense a. 511 (De Clerq 1963), S. 13. 51 Vita Victuri et Victurii Cenomannensis (AA SS Aug., 5), Sp. 146f.; Actus pontificum Cenomannis (Weidemann 2002), V, S. 42. Zu den Viten vgl. Goffart (1966), S. 56ff. – Weidemann (2002), 1, S. 46, hält die verwandtschaftliche Verbindung für eine Erfindung des 9. Jahrhunderts; Mathisen (1979), S. 154, erachtet sie dagegen für ernstzunehmend und meint darüber hinaus, Victurus eventuell mit einem von Sulpicius Severus erwähnten, zum Mönchtum konvertierten Soldaten identifizieren zu können.

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ist nicht zu bezweifeln.52 Immerhin bleibt aber zumindest in einem Fall der Grad seiner Verwandtschaft zu einem anderen Bischof unsicher. Das Berthramn-Testament erwähnt einen Chaimoald,53 der in der Literatur üblicherweise als Haimoald von Rennes identifiziert wird.54 Das Testament bezeichnet ihn als episcopus,55 als consanguineus56 Berthramns, sowie als domnus et frater.57 Daneben nennt das Testament zwei Brüder Berthramns: Ermenulf und Berthulf; sie werden allerdings nicht als Berthramns fratres bezeichnet, sondern als seine germani.58 Margarete Weidemann hat daher in dem domnus et frater Haimoald einen Halbbruder Berthramns sehen wollen, in Abgrenzung zu seinen beiden germani.59 Allerdings benutzt Berthramn die Wendung domnus et frater auch für Arnulf von Metz, der sicherlich nicht als sein leiblicher Bruder oder sein Halbbruder gelten kann.60 Domnus et frater wird auch in anderen Quellen formelhaft und ohne verwandtschaftliche Grundlage benutzt, so etwa in den Briefen des Ruricius von Limoges.61 Haiomald bleibt deshalb zwar ein consanguineus Berthramns, aber dass er sein Halbbruder gewesen wäre, darf man bezweifeln. Noch unsicherer ist der Fall des Felix und des Eumerius von Nantes. Eumerius gilt Teilen der Forschung aufgrund einer Formulierung in einem Gedicht des Venantius Fortunatus als Vater des Felix: Demnach „hinterließ“ Eumerius den Felix auf der sedes von Nantes, und in den „Verdiensten des Erben“ lebte der Vater in der Welt.62 In der Tat könnte der Dichter gemeint haben, dass Eumerius der leibliche Vater des Felix gewesen ist.63 Sicher ist die Aussage der Stelle jedoch nicht. Karl Friedrich Stroheker und William McDermott zum Beispiel haben eine solche leibliche Vaterschaft angezweifelt.64 Es ist kein Vergnügen, solche prosopographischen Details darzulegen und nachzuvollziehen. Doch bleibt derartige Detailbeobachtung wichtig: Denn die Vorannahme,

52 Zu Berthramn allgemein vgl. u.a. Weidemann (1986); Weidemann (2002), 1–3; Nonn (1975). Zu weitergehenden, teils stark hypothetischen Verwandtschaftsrekonstruktionen zwischen Berthramn von Le Mans, Berthramn von Bordeaux, Desiderius von Auxerre und Siglaicus von Tours vgl. Weidemann (1986), S. 130ff. 53 Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 30 und 66, S. 24 und 43. 54 Weidemann (1986), S. 127; Nonn (1975), S. 192. 55 Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 30 und 66, S. 24 und 43. 56 Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 66, S. 43. 57 Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 30, S. 24; in Verf. 66, S. 43, wird er nur als domnus bezeichnet. 58 Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 28, 29, 69, S. 24ff. 59 Weidemann (1986), S. 124. 60 Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 50, S. 36. 61 Vgl. z.B. Ruricius von Limoges, Ep. (Engelbrecht 1891), II, 14, S. 394; Ennodius, Ep. (Hartel 1882), VII, 28, S. 194; Mapinius von Reims, Ep. (Gundlach 1892), 11, S. 126. 62 Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), IV, 1, S. 80: felix ille abiit, Felicem in sede reliquit, heredis meritis vivit in orbe pater. 63 Dafür sprechen sich u.a. aus: Mathisen (1979), S. 459, und Aupest-Conduché (1977), S. 124. 64 Stroheker (1948), S. 169; McDermott (1975), S. 5.

122

Conrad Walter und Steffen Patzold

der Nepotismus sei im gallischen Episkopat ein geradezu flächendeckendes, jedenfalls aber weit verbreitetes Phänomen gewesen, hat die Forschung offensichtlich dazu verleitet, Aussagen in Quellen für eindeutiger zu halten, als sie es bei näherem Hinsehen sind; und sie hat überdies immer wieder dazu verleitet, auf schmaler Quellenbasis oder gar nur auf der Basis von Namensgleichheit Verwandtschaften zwischen Bischöfen zu postulieren. Der quantitative Befund bestätigt die Vorannahme, auf der das Ganze ruht, aber nicht: Zumindest für die Kirchenprovinz Tours im 5. bis 7. Jahrhundert ist nicht nachzuweisen, dass die weit überwiegende Mehrzahl der Bischöfe der senatorischen Aristokratie entstammte und untereinander verwandt gewesen wäre. Wir sollten deshalb über eine Namensgleichheit hinaus gute Gründe und stichhaltige Quellenbelege haben, ehe wir eine Verwandtschaft zwischen zwei Bischöfen annehmen.

3.3 Der Weg ins Bischofsamt: Verwandtschaft als Grundlage? Wenn der Nepotismus in der Provinz von Tours nicht flächendeckend verbreitet war, wenn gleich mehrere postulierte Verwandtschaften zudem fragwürdig erscheinen, dann stellt sich umso drängender die Frage, welche expliziten Aussagen sich hier zur Bedeutung von Verwandtschaft für den Weg ins Bischofsamt finden lassen. Für die Provinz von Tours ist sicherlich Felix von Nantes das interessanteste Beispiel: Von Gregor erfahren wir nämlich, dass Felix 581 oder 582, bereits schwer erkrankt, seinen 25-jährigen nepus Burgundio aus dem Laienstand heraus zum Nachfolger designieren wollte und zu diesem Zweck sogar schon eine Wahlurkunde der civitas hatte herstellen lassen.65 (Wir gehen davon aus, dass es sich bei diesem Burgundio um einen Neffen handelte und nicht, wie McDermott vermutet hat, einen Enkel;66 andernfalls ginge jedenfalls die Aussage des Venantius Fortunatus, Felix sei nur mit seiner ecclesia verheiratet gewesen, in die Irre.67) Gregor führt weiterhin aus, dass auch die benachbarten Bischöfe den Burgundio bereits als Nachfolger akzeptiert hätten. Gregor selbst, als Metropolit von Nantes, weigerte sich dagegen, den jungen Mann zu ordinieren. Er berief sich dabei auf das Kirchenrecht, das eine Besetzung der Nachfolge noch zu Lebzeiten eines Bischofs verbot; und er forderte, dass Burgundio zunächst die kirchlichen Weihegrade durchlaufen solle. Von einem erneuten Versuch des Bischofs von Nantes, seine Nachfolge zu regeln, hören wir nichts. Felix starb kurz darauf, ihm folgte 582 sein consobrinus Nonnichius nach, und zwar rege ordinante, wie Gregor betont.68 So ergibt sich insgesamt aus diesem recht gut dokumentierten Fall ein differenziertes Bild: Einerseits lässt sich hier in Nantes tatsächlich eine familiäre Tradition bei

65 66 67 68

Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 15, S. 285. McDermott (1975), S. 18. Venantius Fortunatus, Carm. (Leo 1881), III, 8, S. 28ff. Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 16, S. 285f.

Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit

123

der Bistumsvergabe beobachten.69 Doch kannte diese Tradition Grenzen und traf auf Widerstand: Verwandtschaft konkurrierte mit Normen des Kirchenrechts; einen unter 30-jährigen Laien wollte Gregor nicht in Nantes zum Bischof weihen, während dessen eigener Onkel noch selbst amtierte. Allerdings dürfte Gregors Verhalten hier über die Achtung vor dem Kirchenrecht hinaus noch weitere Gründe gehabt haben: Sein Versuch, die Verwandtennachfolge zu verhindern, lässt sich nämlich zugleich auch aus seiner persönlichen Feindschaft zu Felix erklären. Sein schlechtes Verhältnis zu dem Bischof von Nantes ist notorisch;70 es liegt daher nahe, dass ihn nicht nur kirchenrechtliche Bedenken zur Ablehnung Burgundios veranlasst haben. Eine andere Situation können wir in Le Mans beobachten: Domnolus, der Abt von St. Laurentius in Paris, erhielt das Bistum nicht aufgrund familiärer Ansprüche, sondern, wie Gregor ausdrücklich betont, aufgrund seiner Loyalität gegenüber Chlothar I. Ursprünglich sollte er die sedes von Avignon übernehmen, bekam dann aber auf eigenen Wunsch Le Mans zugeteilt. Der Grund war ein ‚Bildungsdefizit‘. Domnolus befürchtete nämlich, wegen seiner simplicitas unter den senatores sophistici und iudices philosophici von Avignon nicht bestehen zu können.71 Das Beispiel spricht für eine gewisse königliche Willkür in der Vergabe der Bistümer, zugleich wohl auch für regional durchaus unterschiedliche Ansprüche an den Bildungsgrad eines Bischofs. Vor allem aber spricht der Fall recht deutlich gegen die Annahme, Domnolus sei selbst einer jener senatores gewesen, deren Sophisterei er sich nicht gewachsen fühlte!72 Eine Nachfolgeregelung in seinem Sinne konnte Domnolus dann später in Le Mans übrigens nicht durchsetzen. Er favorisierte den Abt Theodulf (von dem über eine eventuelle Verwandtschaft zu Domnolus nichts bekannt ist); aber dieser Kandidat wurde von König Chilperich bei der Bistumsvergabe übergangen. Stattdessen vergab der König das Amt an seinen maior domus Badegisel.73 Badegisel seinerseits starb

69 Zumindest über drei Generationen, sofern man Eumerius tatsächlich als Vater des Felix betrachtet. Eine über 200-jährige Familientradition, wie Heinzelmann (1976), S. 214f., und Mathisen (1979), S. 459f., sie annehmen, basiert nur auf der Gleichheit eines einzigen Namens in der Bischofsliste von Nantes; sie findet sonst in den Quellen keinerlei Stütze. 70 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), V, 5, S. 196f.; V, 49, S. 258ff. 71 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 9, S. 279. 72 Der Angabe der Actus pontificum Cenomannis (Weidemann 2002), IX, 1, S. 56, Domnolus sei nobilibus ex parentibus ortus gewesen, ist dagegen wenig Aussagekraft zuzumessen. Zum einen liegt die Abfassungszeit der Quelle erst im 9. Jahrhundert, zum anderen wird das Attribut einer vornehmen Herkunft dort als Topos verwendet. Zudem scheinen die Verfasser auch keine Kenntnis von Gregors Bericht gehabt zu haben: Vgl. dazu auch Weidemann (2002), 1, S. 59. Mathisen (1979), S. 245, zieht den Topos der nobilitas nicht in Zweifel und nimmt an, Domnolus habe das Bistum Avignon aufgrund der großen Entfernung abgelehnt. Das widerspricht allerdings dem Wortlaut der Quelle. 73 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 9, S. 279; die Urkundenüberlieferung von Le Mans kennt einen Theodulfus peccator, den Weidemann als eben jenen Abt Theodulf identifiziert: Vgl. Urk. Nr. 1a und 2 (Weidemann 2002), S. 193ff.

124

Conrad Walter und Steffen Patzold

überraschend. Es spricht wenig dafür, dass er Zeit hatte, seine Nachfolge im Sinne einer Familientradition zu regeln.74 Dass zwischen Badegisel und seinem Nachfolger, Berthramn, eine Verwandtschaft bestand, ist ohnehin wenig wahrscheinlich. In Berthramns Testament wird sein Dienst für die Könige Chlothar und Charibert erwähnt.75 Dies, wie auch seine spätere, unerschütterliche Loyalität zum neustrischen Königshaus76 deuten darauf hin, dass auch er das Bistum Le Mans als Lohn für Loyalität zum König erhalten hatte. In Berthramns Testament deutet dann wiederum nichts auf seinen Nachfolger Hadoindus hin, der demnach kaum derselben Familie entstammt sein dürfte. Insgesamt ist Le Mans also ein gutes Beispiel für familiäre Diskontinuität, und zwar gleich über mehrere Generationen: Mit dem Bistum Le Mans, so könnte man zugespitzt formulieren, haben fast ein Jahrhundert lang merowingische Könige verdienstvolle Anhänger versorgt, die wohl nicht untereinander verwandt waren. Eine ähnliche Praxis lässt sich in Tours beobachten: Wir haben gesehen, wie Chrodechilde das Bistum gleich mehrfach mit Personen aus Burgund besetzte. Aber auch andere Vertreter des Turoner Episkopats hatten sich wohl nicht in erster Linie qua Verwandtschaft oder Stand für ihr Amt qualifiziert, jedenfalls wenn man Gregors Argumente beim Wort nimmt: Gunthar und Licinius hatten zuvor als Äbte das Kloster St. Venantius in Tours geleitet, Gunthar hatte sich durch seine Funktion bei königlichen Gesandtschaften hervorgetan, Licinius durch sein religiöses Verdienst als Jerusalem-Pilger.77 Baudinus war referendarius, bzw. domesticus unter Chlothar I. gewesen,78 Leo hatte als Abt in St. Martin amtiert und war ein begabter Holzhandwerker, wie Gregor betont.79 (Ob Gregor mit dieser Bemerkung wirklich einen senatorischen Aristokraten charakterisieren wollte, sei einmal dahingestellt.) Für Iniuriosus von Tours bezeugt Gregor eindeutig, dass er seiner Herkunft nach inferior, wenn auch ingenuus gewesen sei.80 Anders als Ralph Mathisen gemeint hat, wertete ihn diese niedrigere Herkunft in Gregors Augen jedoch keineswegs ab, im Gegenteil: Der Historiograph betonte die Verdienste und die Qualitäten des Iniuriosus gleich mehrfach. Für ihn war Iniuriosus nicht nur de inferioribus, sondern auch beatus!81 Die Beispiele ließen sich auch für die Provinz von Tours noch vermehren, aber schon so sollte deutlich geworden sein: Wenn wir konkret danach fragen, welche Gründe und Kriterien ein wohlinformierter Zeitgenosse wie Gregor von Tours als bedeutsam für den Weg ins Bischofsamt betrachtete, dann stand Verwandtschaft hier-

74 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), VI, 9, S. 279; VIII, 39, S. 405. 75 Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 1, 3, S. 8 und 10f. 76 Berthramn von Le Mans, Testament (Weidemann 1986), Verf. 10, 25, S. 15ff.; Verf. 4, S. 11f. 77 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 531 und 533; vgl. auch Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), II, 39, S. 89f. 78 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 3, S. 136; X, 31, S. 533. 79 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 532. 80 Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), X, 31, S. 533. 81 Mathisen (1984), S. 90; Gregor von Tours, Hist. (Krusch/Levison 1951), IV, 2, S. 136.

Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit

125

bei jedenfalls nicht an erster Stelle. Wichtiger war Gregor die persönliche Qualifikation. Gleich mehrere Fälle bezeugen, dass in der Praxis die Nähe zum Königtum und der Dienst bei Hof den Weg ins Bischofsamt ebnen konnten. Für Le Mans lässt sich zudem nachweisen, dass es mehrere Generationen lang bei den Bischofserhebungen gerade keine familiäre Kontinuität gegeben hat. Dazu passt, dass sich in der Kirchenprovinz Tours Bischöfe wie Domnolus von Le Mans und Iniuriosus von Tours nachweisen lassen, für die sich eine Herkunft aus der senatorischen Aristokratie geradezu ausschließen lässt.

4 Fazit Das Fazit kann kurz ausfallen: Die Befunde aus der Kirchenprovinz Tours sprechen zwar dafür, dass es sowohl Bischöfe aus der senatorischen Aristokratie gab als auch senatorische Familien, die mehr als einen Bischof gestellt haben. Allerdings sind beide Phänomene weniger verbreitet nachweisbar, als es die Forschung gemeinhin annimmt. Sie lassen sich handfest für Tours und Nantes beobachten, auch hier aber nicht für das gesamte 5. und 6. Jahrhundert, sondern jeweils nur in bestimmten Phasen. In Le Mans lässt sich eine längere familiäre Tradition für das Jahrhundert von ca. 550 bis 650 sogar mit einiger Wahrscheinlichkeit ausschließen. Und überall finden wir auch Bischöfe, die von ihrem Profil her schlecht in die senatorische Aristokratie passen. Alle weiteren unmittelbaren Schlüsse von prosopographischen Befunden auf politische Strategien der Akteure sind angesichts dessen fragwürdig. Wenn sich die Befunde aus der Provinz Tours in ihrer Differenziertheit verallgemeinern lassen, dann wären wir gut beraten, das prosopographische Fundament der jüngeren Thesen zur Entstehung der Bischofsherrschaft noch einmal zu überdenken: Die Vorstellung, dass Familien hier in Zeiten von Not, Bedrohung und Krise einer politischen Ordnung zusammengerückt seien und gleichsam eine neue, familiäre Strategie der Machterhaltung entwickelt hätten, ruht auf schmaler Basis. Die These dürfte richtig sein für einzelne Familien der senatorischen Aristokratie, für relativ eng umrissene Zeiträume (zwei, drei Generationen) und für bestimmte, besonders attraktive Bistümer – etwa für Clermont, Tours, Limoges, Arles, Vienne. Sie muss deshalb aber noch lange nicht richtig sein für Bistümer wie Rennes oder Angers, geschweige denn für Dol oder Quimper. Insgesamt spricht demnach vieles dafür, dass der Episkopat in Gallien seinen Amtsbrüdern in Italien ähnlicher war, als es zuletzt noch Stefano Gasparri angenommen hat:82 Auch für Gallien müssen wir mit erheblichen regionalen Unterschieden in der familiären Herkunft der Bischöfe rechnen.

82 Vgl. Gasparri (2008), passim.

126

Conrad Walter und Steffen Patzold

Anhang: Bischofslisten Tours Name

Datierung

Brictius

um 397–444

Von L. Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe83

Iustinianus

um 430

*Armentius von Tours

Armentius

um 430–437

*Iustinianus von Tours *Gregor von Tours

Eustochius

um 444–460

Perpetuus von Tours Volusianus von Tours *Gregor von Tours *Eustochius von Angers

Perpetuus

um 460–491

Eustochius von Tours Volusianus von Tours *Gregor von Tours

Volusianus

491–498

Eustochius von Tours Perpetuus von Tours *Lycontius von Lyon *Volusianus von Trier *Ruricius von Limoges *Gregor von Tours

Verus

498–506

Licinius

507–521

Theodorus

um 521–523

*Proculus von Tours *Gregor von Tours

Proculus

um 521–523

*Theodorus von Tours *Gregor von Tours

Dinifius

um 523?

Ommatius

um 523–526

Leo

um 526

Francilio

526–529

Iniuriosus

529–546

Agrestius Baudinus

Ruricius von Limoges *Gregor von Tours *Volusianus von Tours

*Euphronius von Tours *Gregor von Tours *Ommatius von Tours

x 547–553

83 Das Sternchen (*) bedeutet hier und in den folgenden Listen: ohne Beleg rekonstruiert.

Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit

Name

Datierung

Guntharius

553–556

Euphronius

556–573

*Francilio von Tours Gregor von Tours Gregor von Langres

Gregor

573–594

Euphronius von Tours Gregor von Langres Tetricus von Langres Silvester von Langres Gallus von Clermont Nicetius von Lyon Sacerdos von Lyon Armentarius von Langres * Francilius von Tours *Ommatius von Tours *Proculus von Tours *Theodorus von Tours *Volusianus von Tours *Eustochius von Tours *Perpetuus von Tours *Armentius von Tours

Pelagius

594–602

Leupacharius

602–614

Aigiricus

614–619

Gwalachus

um 619

Sigilaicus

620–622

Leobaldus

622–626?

Medigisilus

626/7–639

Latinus

639–652

Charegisilus

652–654

Rigobercthus

(654–?)

Papolenus Chrodebertus

(nach 654–nach 679)

Bertus (vielleicht identisch mit Chrodebertus)

2. Hälfte 7. Jh.

Peladius

Ende 7. Jh.

Ebarcius

um 697

Von L. Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

*Berthramn von Le Mans

127

128

Conrad Walter und Steffen Patzold

Nantes Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

Desiderius

vor 453–nach 453

Leo

nach 453–vor 461

Eusebius

vor 461–nach 461

Nonnichius I.

vor 461–nach 461

Cariundus

490er Jahre

Ceraunius

um 500

Clematius

vor 511

Epiphanius

um 511

Eumerius (II.)

vor 533–549

*Eumerius I. von Nantes (um 374) *Nonnichius I. von Nantes *Felix von Nantes *Nonnichius II. von Nantes

Felix

549–582

*Eumerius I. von Nantes (um 374) *Nonnichius I. von Nantes *Eumerius II. von Nantes Nonnichius II. von Nantes *Victorius von Rennes

Nonnichius II.

582–nach 591

Felix von Nantes *Eumerius I. von Nantes (um 374) *Nonnichius I. von Nantes

Euphronius

nach 591–nach 614

Leobardus

nach 614–nach 627

Salapius

nach 627–nach 653

Pascharius

nach 653–vor 688/9

Taurinus

vor 688/9?

*Eumerius I. von Nantes (um 374) *Eumerius II. von Nantes *Felix von Nantes *Nonnichius II. von Nantes

Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit

Le Mans Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

Liborius

375–424

Victurus

424–449

Victurius von Le Mans

Victurius

449–490

Victurus von Le Mans

Turibius

490–496

Principius

496–nach 511

Innocentius

vor 533–559

Domnolus

559–581

Badegisel

581–586

Victorius von Rennes *Domnolus von Le Mans

Berthramn

586–623

Chaimoald (von Rennes?) Avitus (von Clermont?) *Berthramn von Bordeaux *Sigilaicus von Tours *Agiulf (“Egulf”) von Metz *Arnoald von Metz *Lupus von Sens *Erminulf von Evreux *Felix von Bourges *Desiderius von Auxerre

Hadoindus

623–653

Berarius

nach 653–669

Aiglibertus

um 670–698

Rennes Name

Datierung

Febediolus (vermutl. um 439? unhistorisch) Sarmatio/ Chariato/ Rumoridus/ Viventius

um 453

Athenius

nach 453–nach 461

Von Duchesne nicht akzeptiert x

Verwandte Bischöfe

129

130

Conrad Walter und Steffen Patzold

Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

Amandus (vermutl. unhistorisch)

nach 461–vor 511

x

Melanius

vor 511–530

Febediolus

vor 549–nach 549

Victorius

vor 567–vor 585

Badegisel von Le Mans

Haimoald (Chaimoald)

vor 614–nach 616

Berthramn von Le Mans Avitus (von Clermont?) *Berthramn von Bordeaux *Sigilaicus von Tours *Agiulf (“Egulf”) von Metz *Arnoald von Metz *Lupus von Sens *Erminulf von Evreux *Felix von Bourges *Desiderius von Auxerre

Rioterus

nach 616–nach 653

Guilielmus (vermutl. Mitte 7. Jh. unhistorisch) Desiderius (nicht sicher als Bf. von Rennes identifizierbar)

Ende 7. Jh.

Angers Name

Datierung

Prosperius

um 400?

Maurilio

(432?–453)

Renatus (vermutl. unhistorisch)

vor 453

Thalassius

vor 453–nach 461

Eumerius

nach 461–vor 511

Eustochius

vor 511–nach 511

Adelfus

nach 511–528

Eutropius (vermutl. unhistorisch)

Von Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

x

*Perpetuus von Tours *Volusianus von Tours *Eustochius von Tours

x

Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit

Name

Datierung

Albinus

vor 536–vor 556

Domitianus

vor 556–nach 573

Baudigysel

vor 581

Audoveus

vor 581–nach 590

Licinius

nach 590–vor 610

Chaidulfus

vor 610?

Magnobod

610–nach 627

Niulfus

nach 627

Lupus

Mitte 7. Jh.?

Aiglibert

um 686?

Von Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

Von Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

Vannes Name

Datierung

Sarmatio/ Chariato/ Rumoridus/ Viventius

um 453

Paternus

vor 461–nach 491

Mansuetus um 461? (unsicher als Bf. von Vannes)

x

Modestus

um 511

Macliavus

nach 549–553

Maracharius (vermutl. unhistorisch)

Mitte 6. Jh.?

Eunius

um 577–nach 580

Regalis

um 590

Guenninus (vermutlich unhistorisch)

Anfang 7. Jh.?

x

Budocus (vermutlich unhistorisch)

Mitte 7. Jh.?

x

x

131

132

Conrad Walter und Steffen Patzold

Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

Hinguetenus (vermutlich unhistorisch)

7. Jh.?

x

Mereadocus (vermutlich unhistorisch)

7. Jh.?

x

Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Verwandte Bischöfe

Samson

um 565

x

Maglorius von Dol

Maglorius

Ende 6. Jh.

x

Samson von Dol

Budocus

um 600?

x

Genevus

Anfang 7. Jh.?

x

Leucherus

Anfang 7. Jh.?

x

Dol

Rostaldus

7. Jh.?

x

Armealus

7. Jh.?

x

Jumahel

7. Jh.?

x

Turiavus

Ende 7. Jh.

x

Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Machutus

bis 620

x

Gurval

7. Jh.?

x

Coalfinit

7. Jh.?

x

Enogat

7. Jh.?

x

Alet Verwandte Bischöfe

Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit

Tréguier Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Tugdual

6. Jh.

x

Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Briocus

Anfang 6. Jh.?

x

Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Sarmatio/ Chariato/ Rumoridus/ Viventius

um 453

Albinus/Liberalis

vor 461–nach 491

Corentinus

um 500?

Goennoc (vermutlich unhistorisch)

5. Jh.?

x

Allorus (vermutlich unhistorisch)

5. Jh.?

x

Bindicus (vermutlich unhistorisch)

5. Jh.?

x

Gurthebedus (vermutlich unhistorisch)

5. Jh.?

x

Harvieto (vermutlich unhistorisch)

5. Jh.?

x

Morguetenus (vermutlich unhistorisch)

um 500?

x

Verwandte Bischöfe

St. Brieuc Verwandte Bischöfe

Quimper Verwandte Bischöfe

133

134

Conrad Walter und Steffen Patzold

Name

Datierung

Von Duchesne nicht akzeptiert

Trimerinus (vermutlich unhistorisch)

Anf. 6. Jh.?

x

Ragianus (vermutlich unhistorisch)

Anf. 6. Jh.?

x

Corentinus II. (vermutlich unhistorisch)

6. Jh.?

x

Salomon (vermutlich unhistorisch)

6. Jh.?

x

Alurettus (vermutlich unhistorisch)

6. Jh.?

x

Gulhoëtus (vermutlich unhistorisch)

7. Jh.?

x

Hugo (vermutlich unhistorisch)

7. Jh.?

x

Verwandte Bischöfe

St. Pol-de-Léon Name

Datierung

Sarmatio/ Chariato/ Rumoridus/ Viventius

um 453

Albinus/Liberalis

vor 461–nach 491

Paulus Aurelianus

Anf. 6. Jh.

Jahoevius

6. Jh.

Von Duchesne nicht akzeptiert

Tigernomaglus Cetemorinus Golvenus (vermutlich unhistorisch)

6. Jh.?/10. Jh.?

x

Verwandte Bischöfe

Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit

Tenenanus (vermutlich unhistorisch)

6./7. Jh.?

x

Houardon (vermutlich unhistorisch)

6./7. Jh.?

x

Goernove (vermutlich unhistorisch)

6./7. Jh.?

x

Gilbert (vermutlich unhistorisch)

7. Jh.?

x

Omene (vermutlich unhistorisch)

7. Jh.?

x

Guyomark (vermutlich unhistorisch)

7. Jh.?

x

Leonorus (vermutlich unhistorisch)

7. Jh.?

x

135

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Wergeld und soziale Netzwerke im Frankenreich Seit vor 30 Jahren Alexander C. Murray in seinem Buch Germanic kinship structure die bis dahin noch vorherrschende Auffassung, frühmittelalterliche Verwandtschaftsstrukturen seien durch klan- oder sippenartige Großverbände geprägt gewesen, endgültig widerlegen konnte,1 scheint die Bedeutung von „Verwandtschaft“ als Erklärungsmodell sozialer Kohäsion frühmittelalterlicher Gesellschaften auf ein normalmenschliches Maß geschrumpft zu sein.2 Zugleich eröffnete diese Destruktion der Forschung viel Raum, um – vor allem seit den 1980er Jahren und in Ergänzung klassischer Beiträge zu „feudalen“ Personenbeziehungen3 – herauszuarbeiten, wie bedeutend bereits im Frühmittelalter künstliche Verwandtschaft,4 Freundschaft,5 Schwureinungen,6 Fidelität7 und Patronat8 für die Stiftung von Bindungsverhältnissen und für die Strukturierung politischer Zusammenhänge gewesen sind. Dieser Paradigmenwechsel ist auch für die Interpretation der Rechtsquellen bedeutsam, aus denen frühmittelalterliche Sozialgeschichte zu wesentlichen Teilen rekonstruiert werden muss, hängen doch der Regelungsanspruch und die Ausdifferenzierung von „Recht“, wie Studien von Rechtsethnologen zeigen, in erheblichem Maße von der Reichweite verwandtschaftlicher Bindungen innerhalb einer Gesellschaft ab.9 Vor diesem Hintergrund bedeutet für die Erforschung des Frühmittelalters die Infragestellung von Klanstrukturen in gewisser Weise eine Aufwertung der Funktionen des Rechtes in dieser Zeit. Natürlich nehmen die normativen Quellen auch klare rechtliche Strukturierungen von Verwandtschaft vor, etwa im Erbrecht10 oder bei der Eheschließung,11 aber gerade wenn man die Art und Weise untersucht, in der Konflikte beigelegt und Verbindlichkeit hergestellt wurde, also das, worin man gemeinhin die primären Funktionen von „Recht“ erblickt,12 wird die Rolle von Netzwerken und Allianzen erkennbar, die keineswegs nur auf Verwandtschaft rekurrierten und die in

1 Murray (1983). Wegweisend war bereits der zu seiner Entstehungszeit umstrittene Aufsatz von Kroeschell (1960), S. 1–25; wiederabgedruckt in: Kroeschell (1995), S. 13–34. 2 Guichard/Cuvillier (1997), S. 13–87; Lubich (2008). 3 Bloch (1999), S. 173–370. 4 Lynch (1986); Jussen (1991). 5 Althoff (1990); Epp (1999). 6 Oexle (1981), S. 284–354; Oexle (1985), S. 151–213. 7 Kolmer (1989), S. 72–124; Holenstein (1991), S. 101–146; Becher (1993); Esders (2008), S. 239–255. 8 Andersen (1974); Esders (2010). 9 Vgl. etwa Wesel (1985), S. 189–214. 10 Kroeschell (1982), S. 87–116; wiederabgedruckt in: Kroeschell (1995), S. 35–64. 11 Mikat (1994); Ubl (2008). 12 Lautmann (1970), S. 120–155; Roberts (1981), S. 17–29.

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manchen Feldern – wie etwa der Auswahl von Eidhelfern und Zeugen – mitunter per definitionem nicht auf Verwandtschaft beruhen durften.13 Im folgenden Beitrag sollen die Relevanz und Wirkmächtigkeit solcher Netzwerke und Allianzen am Beispiel des Wergeldes aufgezeigt werden, jener Geldsumme also, die im Mittelalter für die Tötung einer Person zu entrichten war. Die im Frühmittelalter durchweg übliche Ahndung von Tötungsdelikten mit Geldbußen stellte einen Bruch mit der Tradition des römischen Rechts dar, welches Tötungsdelikte nicht pekuniär, sondern weitaus häufiger mit peinlichen Strafen geahndet hatte.14 Daher galt das Wergeld gerade der älteren Forschung als sichtbarer Ausdruck einer für genuin germanisch gehaltenen Eigenheit, nämlich dass der Einzelne nur im Schutz seiner Sippe eine Überlebenschance hatte, weil diese ihn, sollte es zu einem Angriff auf seine Person kommen, gegebenenfalls rächen würde. Aus demselben Grund glaubte man es auch beim Wergeld mit dem typischen Ausdruck einer primär segmentär organisierten Sozial- und Rechtsordnung zu tun zu haben. Nach dieser Auffassung fungierte auch das Wergeld hauptsächlich zwischen zwei Verwandtschaftsverbänden und sollte eine Gesellschaft befrieden, die kaum über wirksame Mittel verfügt habe, zwischenfamiliäre Gewalt zu unterbinden.15 Je genauer man sich jedoch mit der Funktionalität des Wergeldes beschäftigt, desto deutlicher wird auch hier das Ineinandergreifen verwandtschaftlich und nicht verwandtschaftlich organisierter Gruppen. Als Ausgangshypothese lässt sich daher formulieren, dass die Forschung, nachdem sie sich vom Glauben an die Existenz großer Sippen und Klans verabschiedet hat, auch für das Wergeld eine neue Vorstellung von seiner Funktionalität entwickeln muss, welche den Bezugsrahmen von Verwandtschaft konsequent überschreitet: Nur wenn die Funktionsweise des Wergeldes zwischen verwandtschaftlichen und nichtverwandtschaftlichen Gruppen sowie im Kontext der Gesellschaft insgesamt erklärt wird, ist zu verstehen, warum dieses zu einer so zentralen Kategorie innerhalb des frühmittelalterlichen Rechtslebens werden konnte und es über Jahrhunderte bleiben sollte. Vor diesem Hintergrund erscheinen Schlagwörter wie gesellschaftliche Solidarität, Kohäsion und Netzwerkbildung am ehesten dafür geeignet, um die Funktionalität des Wergeldes zu ergründen. Denn zunächst einmal wurde das Wergeld in aller Regel an eine Gruppe von Personen entrichtet, die zumeist aus den engsten Verwandten eines Opfers bestand, aber durchaus auch andere Personen involvieren konnte. Weiterhin konnte eine Person, die einen Mord oder Totschlag verübt hatte, die Summe des Wergeldes im Regelfall wohl kaum allein aus eigenen Mitteln aufbringen, sondern musste zu diesem Zweck finanzielle Unterstützung durch vermögende Personen in Anspruch nehmen, wobei bei letzteren keineswegs nur an Verwandte und Freunde zu

13 Esders (2007a), S. 55–77. 14 Vgl. Mommsen (1899), S. 897–1049. 15 Brunner (1931a), S. 104–208.

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denken ist, sondern an alle Personen und Institutionen, die als potentielle Geldleiher und Bürgen in Betracht kamen. Und schließlich musste dieselbe Person noch ganz andere soziale Netzwerke aktivieren, um sicherzustellen, dass die Gegenseite überhaupt bereit sein würde, das aufgebrachte Wergeld anzunehmen und damit auf einen gewaltsamen Konfliktaustrag zu verzichten. Je mehr man sich also mit dem Wergeld als Teil der sozialen Praxis beschäftigt,16 umso offensichtlicher wird die Einbeziehung und Verflechtung von nicht miteinander verwandten Personen und Personengruppen und desto dringlicher erscheint die Aufgabe, die Funktionalität des Wergeldes innerhalb einer politisch organisierten Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Die Zahlung des Wergeldes löste in frühmittelalterlichen Gesellschaften eine hohe innere Dynamik aus, in deren Folge fortlaufend unterschiedliche Solidargruppen aktiviert oder sogar neu geschaffen wurden. Diese Funktion des Wergeldes, Gruppenbildungen zu aktivieren, soll im Folgenden skizzenhaft veranschaulicht werden, indem danach gefragt wird, wer das Wergeld zahlte, wovon die Höhe des Wergeldes abhing und an wen das Wergeld entrichtet wurde. In allen drei Fällen wird es darum gehen aufzuzeigen, wie die Zahlung des Wergeldes soziale Mechanismen in Gang setzte und Gruppenbildungen forcierte, die den Rahmen von Verwandtschaft überschritten und damit jenes gesamtgesellschaftliche Kräftefeld eröffneten, in dem das frühmittelalterliche „Recht“ als soziales Normierungs- und Regulierungssystem seine charakteristischen Funktionen entfalten konnte.

1 Wergeldzahlung als Aktivierung sozialer Netzwerke Betrachtet man das Wergeld als ein gesamtgesellschaftlich relevantes Rechtsinstitut, dann kann man vielleicht sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Zahlung von Wergeld als Ausgleich für ein Tötungsdelikt überhaupt erst dann einen Sinn ergab, wenn die fälligen Beträge vom engeren Verwandtenkreis nicht ohne weiteres aufzubringen waren. Anderenfalls wäre die von den Wergeldsätzen ausgehende präventive Kraft nicht hoch genug gewesen. Dies gilt umso mehr, wenn man die Existenz von Klanstrukturen nicht mehr voraussetzen darf. Nehmen wir dafür als Ausgangspunkt den bekannten Titel 58 der Lex Salica, der die Überschrift De chrenecruda trägt.17 Hier ging es darum, dass jemand, der ein Wer-

16 Erste Überlegungen auf diesem Feld wurden an anderer Stelle entwickelt, vgl. Esders (2011), S. 266–268. Der vorliegende Beitrag nimmt einige dort angestellte Überlegungen auf und führt sie unter Einbeziehung weiteren Quellenmaterials weiter. 17 Pactus Legis Salicae (Eckhardt 1962), 58, c. 1–6, S. 218ff.: Si quis hominem occiderit et, tota facultate data, non habuerit, unde totam legem impleat, XII iuratores donet, quod nec super terram nec subtus terram plus de facultate non habeat,quam iam donauit. Et postea sic debet in casa sua

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geld schuldete, weil er das Leben einer Person auf dem Gewissen hatte, nicht solvent genug war, um allein die zu zahlende Geldsumme aufzubringen. Offenbar war damit zu rechnen, dass auch „die Verwandtschaft“ des Täters wenig Lust verspüren würde, ihm beizustehen und für den fehlenden Betrag aufzukommen. In diesem – offenkundig keineswegs seltenen und daher mittels einer generellen Norm regulierten – Fall sollte ein seltsames Ritual zur Anwendung kommen, mit dem der Wergeldschuldner seine unwilligen Verwandten dazu zwingen konnte, ihm finanziell beizustehen: Hatte er mit Hilfe von zwölf Eidhelfern einen Offenbarungseid geleistet, so konnte er danach in einem zweiten Schritt seine Verwandten zum Beistand verpflichten, indem er aus den vier Ecken seines Hauses Erde nahm und damit Vater, Mutter, Tante mütterlicherseits und deren Söhne bewarf, damit diese ihm aus der Klemme halfen. Natürlich sollte er sie nacheinander bewerfen, und selbstverständlich sollte auch die väterliche Seitenverwandtschaft von diesem dreckigen Spektakel nicht ausgenommen sein. Daraufhin sollte der Schuldner über den Zaun springen und diejenigen benennen, die für ihn zahlen sollten. War einer von ihnen nicht solvent, so sollte er seine Erde weiterwerfen und so fort. Dieses rundum unerfreuliche Ritual sollte also das Funktionieren einer verwandtschaftlichen Solidarität erzwingen, die offenbar nicht selbstverständlich war. Auch verwandtschaftliche Bindungen existierten nicht dauerhaft in gleicher Intensität, sondern „schlummerten“ häufig und mussten erst in bestimmten Situationen aktiviert und stabilisiert werden. Das chrenecruda-Ritual setzte eine grundsätzliche Beistandspflicht der Verwandten voraus, die jedoch nach Nähe und Zahlungsfähigkeit im konkreten Fall erst priorisiert werden musste.18 Doch wer konnte ein Interesse daran haben, dass dies erfolgte und sogar als allgemeine Norm fixiert wurde? Die Verwandtschaftsgruppe sicherlich auch, mehr noch der Wergeldschuldner, dem Tod oder Knechtschaft drohten, falls sich niemand fand, aber am meisten doch wohl die Gesellschaft, die ein vitales Interesse daran besaß,

intrare et de quattuor angulos terrae [pulverem] in pugno colligere et sic postea in duropello, hoc est in limitare, stare debet, intus in casa respiciens, et sic de sinistra manu de illa terra trans scapulas suas iactare super illum, quem proximiorem parentem habet. Quod si iam pro illo et mater et frater solserunt, tunc super sororem matris aut super suos filios debet de illa terra iactare. , id est super tres de generatione matris , qui proximiores sunt. Et sic postea in camisa discinctus discalcius, palo in manu sepe sallire debet, ut pro medietate, quantum de conpositione diger est aut quantum lex addicat, et illi tres soluant [de materna generatione]; hoc et illi alii, qui de paterna generatione ueniunt, similiter facere debent. Si quis uero de illis quicumque pauperior fuerit, ut non habeat, unde integrum debitum soluat, quicumque de illis plus [alio] habet, [exsoluat et] iterum super illum chrenecruda ille qui pauperior est, iactet, ut ille totam legem soluat. Quod si uero nec ipse habuerit, unde totam legem soluat, tunc illum qui homicidium fecit, qui eum sub fide habet, in mallo praesentare debet, et sic postea eum quatuor mallos ad suam fidem tollant. Et si eum in conpositione nullus ad fidem tulerit, hoc est ut eum redemat de , quod non persolsit, de sua uita conponat. 18 Vgl. auch Murray (1983), S. 149.

Wergeld und soziale Netzwerke im Frankenreich

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dass der Konflikt nicht weiter eskalierte. Schon hier wird also deutlich, dass hinter solchen altertümlich anmutenden Ritualen möglicherweise weitaus mehr „gemeinschaftlicher“ oder sogar „staatlicher“ Regelungswille gesteckt haben muss, als häufig angenommen worden ist. Was den Erdwurf angeht, so haben schon vor längerer Zeit Franz Beyerle19 und ihm folgend Ruth Schmidt-Wiegand vermutet, dass dieser Titel nicht auf alte germanische Rechtstradition zurückgereicht haben könne, sondern eine Neuschöpfung der Merowingerzeit gewesen sein müsse.20 Die Höhe der Wergeldbeträge wird in den meisten Fällen nicht nur das Vermögen eines einzelnen bei weitem überstiegen haben, sondern auch dasjenige seiner engsten Verwandten. Häufig genug, so wird man daher vermuten dürfen, wird die Familie nicht oder nur zu Teilen eingesprungen sein, weil die Höhe der Buße ihre finanziellen Möglichkeiten überstieg. In jedem Fall ist das Chrenecruda-Ritual ein sichtbarer Ausdruck der Tatsache, dass die Grenzen der verwandtschaftlichen Solidarität vielfach eng gezogen waren. Sachliche Zusammenhänge bestehen zu den folgenden Titeln der Lex Salica, in denen es um den Kreis der Erbberechtigten ging, sowie um die Möglichkeit, sich aus der Verwandtschaft zu lösen, also den Solidarverband der eigenen Familie aufzukündigen.21 Doch selbst dort, wo die Familie zur Solidarhaftung gezwungen werden konnte, dürfte dies in vielen Fällen nicht ausgereicht haben. Hier kommen nun die nicht-familialen Netzwerke ins Spiel. In der karolingischen Überlieferung, vor allem in Formularen und lokalen Urkundenbeständen, finden wir häufig Kirchen und Klöster in die Abwicklung von Wergeldangelegenheiten involviert. Das Vermögen und die flexiblen Handlungsmöglichkeiten kirchlicher Einrichtungen scheinen außerordentlich wichtig gewesen zu sein, um einen Konflikt, der in eine Gewaltspirale zu eskalieren drohte, in friedliche Bahnen zu lenken. An Beispielen aus der St. Galler und Freisinger Urkundenüberlieferung lässt sich zeigen, wie vermögende Klöster und Kirchen nicht nur Wergeldschuldnern Geld liehen (nicht selten nach vorheriger Übertragung von Land an die geistliche Institution), sondern überdies auch im Sinne einer Art Tauschbörse solche Zahlungsmittel bereitstellten, welche die Opferseite anzunehmen bereit war.22 Dies fügt sich gut zu der jüngst von François Bougard herausgestell-

19 Beyerle (1938), S. 805. 20 Schmidt-Wiegand (1980), S. 252–273. Dem ist zwar widersprochen worden, vgl. Kaufmann (1986), S. 374–390. Doch erscheinen mir die Argumente gegen ein hohes Alter weitaus stichhaltiger zu sein. Vgl. auch Murray (1983), S. 144–149, bes. S. 146. 21 Vgl. Pactus Legis Salicae (Eckhardt 1962), 59, S. 222, sowie 60, S. 225: 1. Si quis de parentilla tollere se voluerit, in mallo ante tuncginum aut centenarium ambulet et ibi IV fustes alninos super caput suum frangat; et illas IV partes in mallo iactare debet et ibi dicere, ut et de iuramento et de hereditate et detota illorum se ratione tollat. 2. Et si postea aliquis de parentibus suis aut moriatur aut occidatur, nihil ad eum de eius hereditate vel de conpositione pertineat 3. Si autem ille occiditur aut moritur, conpositio aut hereditas eius non ad heredes eius, sed ad fiscum pertineat aut cui fiscus dare voluerit. 22 Dazu ausführlicher Esders (2011), S. 274–276.

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Stefan Esders

ten Bedeutung des Kredites in der frühmittelalterlichen Gesellschaft.23 Eine Wergeldzahlung konnte vielfältige finanzielle Transaktionen auslösen. Manchmal scheinen die Dinge noch wesentlich komplizierter gewesen zu sein, wie ein Pergamentblatt vom Inselkloster Reichenau aus dem 9. Jahrhundert zeigt, auf das bereits in anderem Zusammenhang hingewiesen wurde.24 Die auf dem Blatt befindliche Liste behandelt das, was man in diesen Tagen vielleicht einen finanziellen Rettungsschirm nennen würde. Sie nennt vier Personen namens Undolf, Ekihart, Altman und Nithard, die sich verpflichtet hatten, jeweils 30 Pfund zu zahlen (wadiavit). Darauf folgt für jede dieser vier Personen eine Reihe von Bürgen (fideiussores), zwischen 16 und 20 an der Zahl, die sich ihrerseits offenbar jeder einzeln dazu bereit erklärt hatten, für einen bestimmten Teilbetrag der Gesamtschuld, zumeist ein oder zwei Pfund, einzustehen; deren Bürgschaftsbeträge addierten sich zusammengenommen genau auf 30 Pfund (in einem Fall ist die Summe etwas höher); abschließend folgt jeweils der Hinweis: „und für den Grafen Adalbert 60 solidi.“25 Auch wenn die Identität der Personen hier nicht eindeutig zu klären ist und damit eine nähere zeitliche Einordnung des Blattes innerhalb des 9. Jahrhunderts nicht möglich erscheint, so sind Inhalt und Struktur des Textes in höchstem Maße aufschlussreich. Unterschieden werden darin Pfänder (wadia) in Höhe von 30 Pfund (librae), für die andere Bürgschaft leisteten, und eine Zahlung an den Grafen, deren Höhe von 60 solidi wahrscheinlich macht, dass es sich hierbei um den Königsbann handelte. Dabei ist es wohl so zu verstehen, dass die versprochenen 30 Pfund an einen anderen Empfänger gehen sollten als die 60 solidi, die an den Grafen als Wahrer der „öffentlichen Ordnung“ zu entrichten waren. Offenkundig akzeptierte der Graf jedoch nur die Zahlung in solidi, also wahrscheinlich in Münzen, ganz so, wie man es oft in Kapitularien vorgeschrieben findet, dass bestimmte Gebühren wie z.B. der Bann, nicht in Natural-, sondern in Geldabgaben zu entrichten waren. Im Unterschied dazu erleichterte die

23 Bougard (2010), S. 439–478. 24 Vgl. Esders (2011), S. 278–280, mit genaueren Nachweisen. 25 Schwarzmeier (1974), S. 20: wadiavit lib. XXX et isti sunt fideiussores eius: Atto lib I. Uuigleoz lib. II. Uoluine lib. I. Fricho Nidhart lib. I Altman lib. II. Oto lib. I. Hupreht lib. I. Otto lib. I. Ruadoloh lib. I. Thiotpold lib. I. Isanpreht lib. II. Ekihart lib. II. Egilolf lib. II. Hartpreht lib. II. goz lib. . Peretrat lib. II. Reginpreht lib. II. Iring lib. . Hiltprand lib.