Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung: Aufsätze - Studien - Vorträge 9783666359514, 9783647359519, 3525359519, 9783525359518

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Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung: Aufsätze - Studien - Vorträge
 9783666359514, 9783647359519, 3525359519, 9783525359518

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K R I T I S C H E Z U R

S T U D I E N

G E S C H I C H T S W I S S E N S C H A F T

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Christoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler

Band 1 Wolfram Fischer Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung

G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1972 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

W i r t s c h a f t i m d e r

u n d

Gesellschaft

Z e i t a l t e r

I n d u s t r i a l i s i e r u n g

Aufsätze - Studien - Vorträge

VON WOLFRAM

FISCHER

G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1972 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

ISBN 3-525-35951-9 © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1972. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist esnichtgestattet, das Buch oder Teile darauss auf foto- oder akustomechanischen Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübiagen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

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Dem Andenken Rudolf Stadelmanns (1902—1949) aus Anlaß seines 70. Geburtstages am 2 3 . 4 . 1 9 7 2 und Walther G. Hoffmanns (1903—1971) aus Anlaß seines 70. Geburtstages am 8 . 2 . 1 9 7 3

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Inhalt Einleitung

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I. Zur Problemstellung Ökonomische und soziologische Aspekte der frühen Industrialisierung. Stand und Aufgaben der Forschung Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Bemerkungen zu W. W. Rostows gleichnamigem Buch und anderen Beiträgen zur Wachstumsforschung Die Wirtschaftsgeschichte in den Vereinigten Staaten von Amerika. Bemerkungen zu ihrem gegenwärtigen Stand und ihren Entwicklungstendenzen . II. Staat und Wirtschaft Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung Planerische Gesichtspunkte bei der Industrialisierung in Baden . . Staat und Gesellschaft Badens im Vormärz . . . . . . . . Der Deutsche Zollverein. Fallstudie einer Zollunion Der Deutsche Zollverein, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Freihandelszone Das wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungsbild der preußischen Bergrechtsreform 1851—1865 Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform von 1851—1865 in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts . . . Die Bedeutung der preußischen Bergrechtsreform (1851—1865) für . den industriellen Ausbau des Ruhrgebietes Konjunkturen und Krisen im Ruhrgebiet seit 1840 und die wirtschaftspolitische Willensbildung der Unternehmer . . . . . . Staatsverwaltung und Interessenverbände im Deutschen Reich 1871—1914 III. Die soziale Problematik der Industrialisierung . . . . . . Arbeitermemoiren als Quellen für Geschichte und Volkskunde der industriellen Gesellschaft Soziale Spannungen in den Frühstadien der Industrialisierung . . Soziale Unterschichten im Zeitalter der Frühindustrialisierung . . Innerbetrieblicher und sozialer Status der frühen Fabrikarbeiterschaft

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Inhalt

IV. Das deutsche Handwerk im Zeitalter der Industrialisierung . . Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks Die redtliche und wirtschaftliche Lage des deutschen Handwerks um 1800 Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung Die Rolle des Kleingewerbes im wirtschaftlichen Wachstumsprozeß in Deutschland 1850—1914 Das deutsche Handwerk im Strukturwandel des 20. Jahrhunderts V. Regionale Studien zur Industrialisierung

. . . . . . . .

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Ansätze zur Industrialisierung in Baden 1770—1870 . . . . . 358 Handwerk und Industrie im Markgräflerland 392 Die Anfänge der Fabrik von St. Blasien (1809—1848). Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Industrialisierung 408 Drei Schweizer Pioniere der Industrie. Johann Conrad Fischer (1773 bis 1854). Johann Caspar Escher (1775—1859). Johann Georg Bodmer (1786—1864) . 428 Karl Mez (1808—1877). Ein badischer Unternehmer im 19. Jahrhundert 443 „Stadien und Typen" der Industrialisierung in Deutschland. Zum 464 Problem ihrer regionalen Differenzierung Verzeichnis der Abkürzungen

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Anmerkungen

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Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte

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Register

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Einleitung Die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Analyse spielt im deutschen Sprachgebiet trotz eines beachtenswerten Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg — und zwar in beiden Teilen Deuschlands, in Österreich und der Schweiz — noch längst nicht die selbstverständliche Rolle innerhalb der Geschichtswissenschaft wie beispielsweise in England oder Frankreich. In einer ihre Tradition überprüfenden, nach neuen Wegen und interdisziplinären Verknüpfungen suchenden historischen Forschung kann sie jedoch als „kritisches Element" dienen, um Fragestellungen, Methoden und Forschungsziele neu zu bedenken und zu ergänzen, Die hier vorgelegte Aufsatzsammlung möchte dazu beitragen. Es handelt sich um Forschungsergebnisse, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden und seit 1955 veröffentlicht worden sind. Alle kreisen sie um das Thema „Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung". Mein ursprüngliches Interesse an diesem Themenkreis war sozialgeschichtlich bestimmt. Im Sommersemester 1949 faszinierten mich, den Studenten der Geschichte an der Universität Tübingen, Selbstzeugnisse schwäbischer Pietisten — meist Kleinbürger und Kleinbauern —, auf die ich in großer Zahl in der Universitätsbibliothek Tübingen gestoßen war. Ein Gespräch mit meinem Lehrer Rudolf Stadelmann über die Möglichkeit, sie statt religions- und geistesgeschichtlich mehr sozialhistorisch zu interpretieren, ergab eine überraschende Kongruenz des wissenschaftlichen Interesses: Stadelmann erzählte mir von seinen Forschungen zur Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Handwerkers, die er im Anschluß an seine „Soziale und Politische Geschichte der Revolution von 1848" (München 1948) begonnen hatte. Er ermutigte mich, auf diesem Gebiet zu arbeiten. Als er kurz darauf, im August 1949, im Alter von 47 Jahren starb, ließ mich der Gedanke, diese Arbeiten fortzusetzen, nicht mehr los. Nach Abschluß meiner Dissertation 1951 beschäftigte ich mich im Anschluß an die hinterlassenen Papiere Stadelmanns mit der Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Handwerkers im Zeitalter der Aufklärung und des Vormärz, mit einer sozialen Gruppe also, die von dem Einbruch der Industrialisierung in besonderem Maße betroffen war. Die traditionelle Geschichtsschreibung und Wirtschaftswissenschaft sprach vom Niedergang des Handwerks, von seiner Proletarisierung. Rudolf Stadelmann hatte begonnen, ein sehr viel differenzierteres Bild zu zeichnen. Ich versuchte, seine unvollendeten Forschungen aufzunehmen und nach der wirtschaftsgeschichtlichen Seite zu ergänzen, wozu mir ein wirtschaftswissenschaftliches Zweitstudium nötig erschien. Das Ergebnis waren zwei Studien und eine Quellensammlung zur Geschichte des deutschen Handwerks vor und am Beginn der Industrialisierung1. Seitdem bin ich immer wieder, meist aus aktuellem Anlaß, auf Fragen der handwerklichen Wirtschaft im Zeichen fortschreitender Industrialisierung

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Einleitung

zurückgekommen. Die Ergebnisse dieser Forschungen bilden den Teil IV dieser Sammlung. Er beginnt mit der Einleitung zu meiner Quellensammlung, die einen Bogen bis zur Reformation schlägt, und einem Kapitel über die rechtliche und wirtschaftliche Lage des deutschen Handwerks vor und nach 1800 aus dem Buch über „Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers"; die späteren Studien schließen sich chronologisch an und reichen bis an die unmittelbare Gegenwart heran. Methodisch werden sie schärfer in der Fragestellung und quantitativer in der Durchführung; der Historiker mag sie zunehmend „technisch" und „eng" finden. Sie spiegeln jedoch einen Entwicklungsprozeß wider, den die Wirtschaftsgeschichte in Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten durchgemacht hat, indem sie wieder stärkeren Anschluß an die Wirtschaftswissenschaften suchte und von ihr wesentliche Anregungen für Problemstellung und Forschungstechnik empfing. Von den Auswirkungen der Industrialisierung auf eine traditionelle soziale Schicht wandte ich mich seit 1954 der Erforschung des Industrialisierungsprozesses selbst zu. Zunächst auf eine einzelne Region, das Oberrheingebiet, konzentriert, versuchte ich — der Rankeschen Forderung eingedenk, daß der Historiker zeigen solle, „wie es wirklich gewesen ist" —, neue Quellen zu erschließen und den wirtschaftlichen Prozeß in seinen vielen Verästelungen zu erfassen und im Detail darzustellen. Zahlreiche Probleme drängten sich dabei auf. Zunächst stellte ich, einer alten deutschen Tradition sowohl bei den Historikern wie bei den „Staatswissenschaftlern" folgend, die Rolle des Staates in den Mittelpunkt. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind großenteils in meiner Habilitationsschrift niedergelegt2. Im Zusammenhang damit sind die ersten drei Beiträge von Teil II dieses Sammelbandes entstanden. Zwei beschränken sich empirisch auf das Großherzogtum Baden, stehen aber in größeren Zusammenhängen. Der eine behandelt im Rahmen von Untersuchungen über den staatlichen Einfluß auf die Raumordnung des 19. Jahrhunderts, die der Ausschuß „Historische Raumforschung" der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 1963 und 1964 veranstaltete, die Frage, ob planerische Gesichtspunkte bei der Industrialisierung Badens eine Rolle gespielt haben3; der andere analysiert die gesellschaftlichen Kräfte im Staatsgefüge des vormärzlichen Baden als Beispiel für das Spannungsverhältnis von „Staat" und „Gesellschaft" im deutschen Vormärz, das der „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte" 1958/59 zum Thema seiner Arbeitstagungen gemacht hatte4. Die folgenden Beiträge über die Rolle, die die Gründung des Zollvereins für die deutsche Wirtschaft des 19. Jahrhunderts spielte, ergaben sich aus aktuellem wirtschaftspolitischem Anlaß, der Gründung der EWG, die zu einem Vergleich wirtschaftlicher und politischer Integrationsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert aufforderte. Der erste der beiden Aufsätze über den Zollverein (II,4), 1960 auf Englisch erschienen, geht auf einen Vortrag im Seminar Professor Meades an der „London School of Economics" über wirtschaftliche In© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Einleitung

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tegrationen im Winter 1952/53 zurück. Er wird hier erstmals in deutscher Übersetzung abgedruckt. Dem Zusammenhang von Gesetzgebung und wirtschaftlicher Entwicklung auf einem Sondergebiet, dem Ruhrbergbau, sind die drei nächsten Aufsätze gewidmet, die in engem Zusammenhang stehen, jedoch jeweils einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt stellen. Es geht um die gesetzliche Befreiung des Ruhrbergbaus von staatlicher Vormundschaft zwischen 1851 und 1865, das dieser Berggesetzgebung zugrundeliegende wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungsbild, um ihre spezifische Stellung in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für den industriellen Ausbau des Ruhrgebiets in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die in der Nachfolge Walter Euckens von der neo-liberalen Schule der Nationalökonomie entwickelten Kategorien für die Erfassung der Wirtschaftsordnung sind hier kritisch verwendet und einem empirischen Test unterzogen worden. Der Aufsatz über die Staatsverwaltung und Interessenverbände im Deutschen Reich — ursprünglich in der Festschrift für Gert von Eynern erschienen — steht schließlich im Rahmen einer lebhaften Debatte um die Rolle der organisierten wirtschaftlichen Interessen im Deutschen Kaiserreich, die in den letzten Jahren im Gefolge von Eckart Kehr und Hans Rosenberg von zahlreichen jüngeren Historikern, teils aus der Schule Fritz Fischers, teils aus der Schule Hans Rosenbergs, geführt worden ist. Am generellsten aber ist die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Wirtschaft in dem einleitenden Beitrag des Teiles II entwickelt, in dem vier Arten staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft untersucht werden, seine Rolle als Gesetzgeber, als Administrator, als Unternehmer und als Konsument. Dieser Aufsatz geht auf einen kürzeren, unvollständigen Beitrag zur Konstanzer Konferenz der International Economic Association (1960) zur Frage des Rostowschen Take-Offs zurück5. Diese Konferenz, deren Teilnahme ich einer freundlichen Einladung von Professor Walther G. Hoffmann (Münster) verdankte, brachte in mancher Hinsicht eine Erweiterung meines wissenschaftlichen Horizonts, wenn nicht einen Wendepunkt in meinem wissenschaftlichen Interesse. Einer Diskussion mit Professor Gerschenkron/Harvard über die Rolle des Staates bzw. der Banken in der deutschen Industrialisierung folgte eine Einladung nach Harvard und, durch einen anderen Teilnehmer der Konferenz, Professor David Landes, damals in Berkeley, eine Einladung an die University of California (Berkeley). Das in dem Amerikajahr 1961/62 in der Begegnung mit den vorherrschenden Richtungen der Wirtschaftsgeschichte der USA, einschließlich der „New Economic History" (sowohl der Gerschenkronschen wie der Kuznetschen Schule) und der „Entrepreneurial History" des Harvard Centers (Arthur H. Cole, Fritz Redlich, Ralph W. Hidy u.a.) gewonnene Problem- und Methodenbewußtsein hat seinen Niederschlag in allen Arbeiten des folgenden Jahrzehnts gefunden. Eine erste Reflexion über den Stand und die Entwicklungstendenzen der Wirtschaftsgeschichte in den USA erschien 1963 in einer Festnummer der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Einleitung

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft zum 60. Geburtstag von W. G. Hoffmann. Sie ist in Teil I, 3 abgedruckt*. Besprechungen von grundlegenden Werken zur modernen Wirtschaftsgeschichte, insbesondere solcher, die ökonomische und historische Analyse zu vereinigen suchen, folgten. Einige — zu Rostow, Klatt, Gerschenkron und Habakkuk — sind hier in Teil I, 2 wieder abgedruckt. Nicht minder beschäftigten mich in den folgenden Jahren jedoch weiterhin sozialgeschichtliche Fragestellungen, insbesondere die Konsequenzen der Industrialisierung für die Unterschichten. Das auf die Forschungen zum Handwerk zurückgehende Interesse wurde erweitert und geschärft in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten neuerer deutscher Soziologen (Helmut Schelsky, Ralf Dahrendorf, Friedrich Fürstenberg u. a.) und Sozialhistoriker (Otto Brunner, Carl Jantke, Werner Conze, Rudolf Braun). Die Arbeiten in Teil III über die sozialen Spannungen, die Arbeitermemoiren, die sozialen Unterschichten und den innerbetrieblichen und sozialen Status der frühen Fabrikarbeiterschaft sind Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen, ebenso wie das Arbeitsbuch „Die Soziale Frage", das auch die englische Lebensstandarddebatte dem deutschen Leser näherzubringen sucht7. Der Aufsatz über die „Sozialen Spannungen in den Frühstadien der Industrialisierung" ist für diesen Band aus dem Englischen übersetzt und leicht verändert worden. Die soziologische mit der ökonomischen Problemstellung zu vereinen und beide für die historische Forschung nutzbar zu machen, war schließlich das Bestreben des Vortrages, den ich am Beginn eines Berliner Forschungsschwerpunktes zur Geschichte der Frühindustrialisierung hielt und einer Edition von Berliner Gastvorträgen zu diesem Themenkomplex voranstellte8. Er ist als erster Beitrag zu diesem Band wieder abgedruckt. Der letzte Teil dieser Sammlung enthält schließlich eine Auswahl gelegentlicher Beiträge zur regionalen Industrialisierungsgeschichte, vor allem Badens und des Ruhrgebiets, aber — als letzten — auch einen Vergleich zwischen Sachsen und Rheinland-Westfalen als Versuch einer Typologie regionaler Differenzierung des Industrialisierungsprozesses, der bewußt die Terminologie W. G. Hoffmanns von den „Stadien und Typen der Industrialisierung" (1931) wieder aufnimmt. Wie die meisten hier abgedruckten Arbeiten, ist auch dieser als Vortrag entstanden und in Form wie Länge auf eine Vortragsstunde abgestellt. Insofern haftet der Mehrzahl etwas Zufälliges an. Außerdem ist das Interesse der Einladenden und des jeweiligen Publikums berücksichtigt — teils waren es Fakultäten, teils Historiker, teils Wirtschafts-, teils Sozialwissenschaftler. Ich hoffe jedoch, daß die Gedankenwelt und Arbeitsweise des Autors das gemeinsame Band bildet und als solches erkennbar bleibt. Bis auf geringe stilistische Verbesserungen und gelegentliche Hinweise auf inzwischen erschienene Literatur sind die Arbeiten in ihrer ursprünglichen Form abgedruckt. Sie auf den neuesten Forschungsstand zu bringen, hätte bedeutet, sich in jedes Thema von neuem einzuarbeiten. Das Ergebnis wäre vermutlich ein völlig anderer Band gewesen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Einleitung

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Die Beiträge sind nicht chronologisch geordnet, sondern nach Themenkreisen. Dem vorwiegend Probleme entwickelnden Teil I folgt der Themenkreis „Staat und Wirtschaft". An ihn schließen sich die Arbeiten zur sozialen Problematik und zur Handwerkerfrage an. Das Ende bilden regionale Studien, von denen sich einige dem Problemkreis „Unternehmer in der Frühindustrialisierung" zuordnen lassen, der aber hier nicht gesondert ausgewiesen ist, weil ein allgemeinerer Beitrag zu diesem Thema fehlt. Dieser Aufsatzband geht zusammen mit zwei Arbeitsbüchern zur „Industriellen Revolution"9 am Vorabend eines zweiten längeren Forschungsaufenthaltes in den USA in den Druck. Alle drei Bände bilden einen gewissen Abschluß einer Arbeitsphase, da ich mich in der Zukunft stärker Fragen der Weltwirtschaft und der neueren deutschen und europäischen Wirtschaftsgeschichte zuwenden will. Den Verlegern der ursprünglich in Büchern, Sammelbänden und ausländischen Zeitschriften erschienenen Beiträge danke ich für die Erlaubnis zum Wiederabdruck; Herrn Dipl. Kaufmann Papendieck und Herrn stud. rer. pol. Siebenbrock für die Anfertigung des Registers. Der Band ist dem Andenken an zwei Gelehrte gewidmet, die bei aller Verschiedenheit ihrer Denk- und Arbeitsweise der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg wichtige Anstöße gegeben und meine eigene Entwicklung in unterschiedlichen Phasen beeinflußt haben: dem Tübinger Historiker Rudolf Stadelmann (1902—1949), der die Verflechtung sozialer und politischer Kräfte in der neueren deutschen Geschichte zu studieren begann, und dem Münsteraner Wirtschaftswissenschaftler Walther G. Hoffmann (1903—1971), dem Pionier der quantitativ-vergleichenden Wirtschaftsgeschichte. Berlin, im Juli 1971

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Wolfram Fischer

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I. Z U R

PROBLEMSTELLUNG

Ökonomische u n d soziologische A s p e k t e der frühen Industrialisierung Stand und Aufgaben der Forschung* Das Phänomen der Industrialisierung als eines der Grundprobleme der modernen Wirtschaft und Gesellschaft zu betrachten, bedarf heute keiner umständlichen Rechtfertigung mehr. Es liegt vor aller Augen, wie immer weitere Teile der Welt in einen Prozeß der Rationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft hineingezogen werden, der mit dem Begriff der Industrialisierung zwar nicht umfassend, doch im Kern richtig bezeichnet ist. Dieser Industrialisierungsprozeß ist daher auch Gegenstand vielfältiger sozialwissenschaftlicher Analysen, die sich ihm von verschiedenen Ausgangspunkten her nähern. Als marktwirtschaftlicher oder staatlich gelenkter Wachstums- und Strukturwandlungsprozeß, der in einer offenbar typischen Weise verschiedene Stadien durchläuft, ist er seit mehreren Jahrzehnten Gegenstand ökonomischer Forschung, die ihn sowohl empirisch aufzuhellen wie theoretisch zu erklären sucht1. Seit dem Ersten Weltkrieg befassen sich auch Geographen mit dem Unterschied zwischen alt- und neuindustrialisierten Ländern und der Herausbildung einer industrialisierten Kulturlandschaft, die das Antlitz der Erdoberfläche stärker verändert hat als wohl je ein von Menschenhand ausgelöster Prozeß zuvor2. In den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg haben dann die Soziologen, Sozialanthropologen und Volkskundler immer stärker in die Diskussion um die Industrialisierung eingegriffen — obwohl sich dahinter ja auch für sie schon ein viel älteres, unter dem Begriff des „Kapitalismus" seit der Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiertes Phänomen verbirgt3. Die Veränderung sozialer Verhaltensweisen als Voraussetzung und Folge der Industrialisierung, der Umbau der sozialen Schichtung, der Wandel der Herrschafts- und der Wertordnung: Das alles interessiert den Sozialwissenschaftler nicht nur für die gegenwärtigen Entwicklungsländer, die gerade erst in den Prozeß eintreten, sondern ebensosehr auch für die westeuropäischen und nordamerikanischen Gebiete, deren Industrialisierung schon seit 150 oder gar 200 Jahren im Gange ist3a.

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Zur Problemstellung

Dabei kommen sie jedoch nicht ohne die Hilfe des Historikers aus. Oder umgekehrt formuliert: Wenn sie versuchen, ohne seine Hilfe auszukommen, ergibt sich — zumindest in den Augen dessen, der historisches Bewußtsein besitzt — unwillkürlich eine Verkürzung des Problems, wobei manches als „neu" und „einzigartig" erscheint, das in Wirklichkeit bereits eine Geschichte von mehreren Menschenaltern hinter sich hat. Der Historiker ist daher aufgerufen, die von Ökonomen, Soziologen und anderen der Gegenwart und Zukunft zugewandten Sozialwissenschaftlern entwickelten Hypothesen, Modelle und Schlüsse kritisch zu überprüfen. Aber nicht um diese Aufgabe geht es hier in erster Linie, sondern zunächst um die entgegengesetzte, die traditionellen Vorstellungen des Historikers von den Aufgaben und Methoden seiner Wissenschaft kritisch unter die Lupe zu nehmen. Mit anderen Worten: Es geht darum, die Geschichtswissenschaft an Hand einiger konkreter Beispiele — nicht abstrakt-methodologisch — den Fragen und Problemen der systematischen Sozialwissenschaften auszusetzen. Zuerst sollen dabei einige Fragen behandelt werden, die der Ökonom an den Historiker stellt, vor allem die nach der empirischen Erforschung des wirtschaftlichen Wachstums; im zweiten Teil werden dann einige Fragen des Soziologen an den Historiker diskutiert werden. Ökonomische Aspekte In der gegenwärtigen Ökonomischen Forschung spielt der Industrialisierungsbegriff eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Wachstumsbegriff. Gesamtwirtschaftliches Wachstum ist begrifflich — und als wirtschaftspolitisches Ziel — der Industrialisierung übergeordnet; diese wird z.B. definiert als eine spezielle Form des Wachstums, die gekennzeichnet ist durch zunehmenden Einsatz von Sachkapital im Verhältnis zum Einsatz der anderen beiden Produktionsfaktoren, Boden und Arbeitskraft4. Im Unterschied dazu hat die historische Forschung die Industrialisierung ursprünglich nicht so sehr als wirtschaftliches Wachstum gesehen, sondern eher als Teil oder Auslöser eines Prozesses der Strukturwandlung, und ihren gesamtwirtschaftlichen Effekt hat sie früher keineswegs eindeutig positiv (als Wachstum), sondern eher negativ (als Pauperisierung oder Entfremdung) oder mindestens als ambivalent gewertet. Dabei sind sich die Historiker nicht einig, was unter „Industrialisierung" zu verstehen sei. Industrialisierung ist einmal verstanden worden als Revolution der Produktionsverhältnisse, als eine Kette wirtschaftlich wirksamer technischer Neuerungen, die in der Schaffung neuer Produktionsverfahren resultieren. Industrialisierung in diesem Zusammenhang ist ein spezifischer Vorgang in der Geschichte von Technik und Gewerbe, ausgelöst von Erfindungen in der britischen Eisen-, Textil- und Maschinenherstellung und fortgesetzt durch die innere Logik von Naturwissenschaft und Technik und deren rationaler Anwendung für die Produktion. Industrialisierung ist zum anderen aber interpretiert worden als der große Komplex von Vorbedingungen und Konsequenzen, der die Revolutionierung der Produktionstechnik umgibt, als Summe zahlreicher tech© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Aspekte der frühen Industrialisierung

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nischer und wirtschaftlicher, aber ebenso zahlreicher sozialer, politischer und geistiger Vorgänge, die insgesamt zu dem geführt haben, was wir die „Moderne Welt" oder die „Moderne Industriegesellschaft" nennen. Je nachdem, ob wir den engeren Vorgang meinen, den man „Industrielle Revolution" im herkömmlichen Sinne nennen könnte, oder den weiteren Komplex, den man meines Erachtens mit „Industrialisierung" bezeichnen sollte, stellen sich der Forschung sehr verschiedenartige Probleme. Während man den engeren Prozeß in seinem Ablauf sowohl chronologisch wie kausal noch einigermaßen deutlich zu fassen vermag, verlieren sich die Konturen des anderen sehr leicht im Nebel, denn er besteht aus so vielen, in sich wiederum komplexen Interaktionen und Interdependenzen, daß man ihn als Ganzen kaum zureichend beschreiben noch gar erklären kann. Der Theoretiker hilft sich hier mit der Konstruktion eines Modells, in dem er beliebig viele Zusammenhänge außer acht läßt, um sich auf einige wenige beschränken zu können, genauer gesagt, indem er versucht, das vielfältig verflochtene Gewebe der wirklichen Geschichte aufzulösen in eine kleine Gruppe von unabhängigen und abhängigen Variablen, deren Funktionieren mit Hilfe einfacher logischer Schlüsse oder zuverlässiger mathematischer Verfahren ergründet werden kann. Es ist eine billige Kritik des Historikers, wenn er dieses Verfahren als lebensfremd, die Wirklichkeit vergewaltigend oder reine Spielerei abtut. Denn ihr Ergebnis ist zumindest, daß Fragen schärfer formuliert, daß mögliche Zusammenhänge ermittelt und unwahrscheinliche aufgedeckt werden. So ist, um ein besonders naheliegendes Beispiel zu nennen, die Frage nach der Wirkung der Industrialisierung auf das Handwerk von Historikern, den Quellen folgend, meist vorwiegend, wenn nicht eindeutig negativ beantwortet worden. Die Fabrik nahm dem Handwerker das Brot. So sagen es Tausende von Quellen aus: Klagen von Zünften und einzelnen Handwerkern, Reden von Sozialkritikern, Debatten von Parlamentariern, Schutzmaßnahmen von Regierungen. Auch der Zusammenhang scheint klar: Die Fabrik produzierte billiger und machte den Kleinproduzenten konkurrenzunfähig. Einige wenige Überlegungen genügen jedoch, um hinter diese Quellenaussagen ein Fragezeichen zu setzen, zum Beispiel Überlegungen wie: Worin besteht denn der Effekt des technischen Fortschritts, den die Fabrik mit sich bringt? Lediglich in der billigeren Konkurrenz gegenüber der Handarbeit? Oder nicht vielmehr und zuerst in der Erhöhung der Produktivität der Arbeit, d. h. des Ausstoßes pro Mann und Arbeitsstunde, damit aber entweder in der Verminderung der nötigen Arbeitsleistung oder — und das dürfte im Zeitalter der frühen Industrialisierung wichtiger gewesen sein — in der Erhöhung des Sozialprodukts bei gleichbleibendem Arbeitseinsatz? Und was geschieht mit dem erhöhten Sozialprodukt? Es wird verteilt, wenn auch nicht gleichmäßig oder gerecht, so doch vermutlich nicht ausschließlich zugunsten des Unternehmers, der die neuen Produktionsbedingungen schafft oder kombiniert, sondern so, daß wenigstens indirekt, als Verbraucher der billigeren Produkte oder Nehmer der vermehrten Arbeit, viele Schichten des Volkes, auch die Handwerker, Vorteil davon haben. Daran schließt 2 Fischer, Wirtschaft

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Zur Problemstellung

sich eine andere, nicht minder wichtige Überlegung: Eine Fabrik deckt ja nicht nur Bedarf, sondern ruft auch Nachfrage hervor, Nachfrage nach Kapital und Arbeit, konkret gesprochen nach Maschinen und Menschen, die sie konstruieren, bauen, instand halten, bedienen können, nach Nebenleistungen, wie Gebäuden, Installationen, Energie, Beleuchtung, nach Absatz, nach Straßen, Wagen und schließlich nach Schulen und Verwaltung usw. Und an all dem soll das Handwerk keinen Anteil gehabt haben? Wenn eine mechanische Weberei den Handweber verdrängte, so schuf sie doch — abgesehen davon, daß auch sie Weber brauchte — Arbeit für Zimmerleute, Schreiner, Schlosser, Dreher, Maurer, Dachdecker, Installateure usw. Während sie also das eine Handwerk bedrängte, förderte sie viele andere Zweige. Kurzum, indem Industrialisierung das Sozialprodukt vermehrt und wirtschaftliches Wachstum hervorruft, vergrößert sie den „Kuchen", von dem alle sich herunterschneiden können, und selbst wenn der Anteil des einzelnen oder einer bestimmten Gruppe kleiner werden sollte, kann dieser prozentuale Verlust durch absolute Vergrößerung des Sozialprodukts mehr als gutgemacht werden. Damit kommen wir zurück auf den Begriff, der für die heutige Diskussion von Ökonomen und Historikern über das Phänomen der Industrialisierung von größter Bedeutung ist: Wirtschaftswachstum. Wirtschaftliches Wachstum ist definiert als reale Vergrößerung des Sozialproduktes insgesamt oder pro Kopf der Bevölkerung5. Wie das zu messen ist, braucht uns hier nicht zu interessieren. In unserem Zusammenhang wichtig ist vielmehr die Frage: Hängen Wachstum und Industrialisierung zusammen, und wenn ja, wie? Hier hat sich eine sehr interessante Auseinandersetzung zwischen Ökonomen und Historikern entsponnen, die praktisch auf jeder internationalen Tagung, die beide Gruppen von Wissenschaftlern zusammenführt, wieder aufflammt und für die als beispielhaft die Arbeitstagung der International Economic Association in Konstanz im Jahre 1960 über die Rostowschen Thesen vorn „take-off into self-sustained growth" gelten mag6. Der These Rostows liegt die Auffassung zugrunde, daß es heute ein sich selbst erhaltendes Wirtschaftswachstum gebe, einen kumulativen Prozeß, der irgendwann einmal einen Anfang genommen hat7. Rostow sieht diesen Anfang, den er mit dem Start eines Flugzeuges vergleicht, in verschiedenen Ländern verschieden, fast immer aber in der Periode, die wir traditionell als die der Industriellen Revolution bzw. des Beginns der Industrialisierung bezeichnen, in England z. Β. zwischen 1780 und 1800, in Frankreich zwischen 1830 und 1860, in den USA zwischen 1840 und 1860, in Deutschland zwischen 1850 und 1873, in J apan zwischen 1878 und 1900 und in Rußland zwischen 1890 und 1914. Wichtig daran ist Rostow jedoch nicht die Industrialisierung als technischer Prozeß, sondern die Feststellung, daß es in jeder dieser Volkswirtschaften jeweils einen oder mehrere „leading sectors" gegeben habe, die den Prozeß ausgelöst und die anderen Sektoren mit sich gerissen haben: in England die Eisen- und Textilindustrie, in Rußland den Staatsbedarf, in Dänemark und Australien die Landwirtschaft. Gegen diese These vom plötzlichen Beginn wirtschaftlichen Wachstums © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Aspekte der frühen Industrialisierung

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wie gegen die traditionelle von der Industriellen Revolution als dem auslösenden Vorgang haben mehrere statistisch arbeitende Nationalökonomen Protest erhoben, allen voran der Wegbereiter der empirisch-statistischen Erforschung langfristiger ökonomischer Prozesse, Simon Kuznets. Kuznets hat auf Grund seiner und der Ergebnisse anderer Forscher die für den traditionellen Historiker der Industriellen Revolution schockierende These aufgestellt, die sogenannte Industrielle Revolution sei weder industriell noch revolutionär gewesen, sondern Ergebnis eines langdauernden Kumulierungsprozesses, der viel früher und in ganz anderen Sektoren, z. Β. im Außenhandel, im Ausbau der sogenannten Infrastruktur, aber auch in Teilen der Landwirtschaft, sich angebahnt habe8. Es mag sein, daß hier der empirisch arbeitende Ökonom dem ebenfalls empirisch, wenn auch mit anderen Methoden arbeitenden traditionellen Historiker sehr nahekommt. Denn auch der Allgemeinhistoriker, der nicht auf das Phänomen der Industriellen Revolution spezialisiert und von ihm fasziniert ist, neigt gewiß dazu, den im Begriff der Industriellen Revolution als kurz und heftig auftretend definierten qualitativen Wandel im Produktionsprozeß eher als einen Vorgang anzusehen, der sich in der wirtschaftlichen Organisation und den sozialen Verhaltensweisen langfristig vorbereitet, der allmählich, wenn auch zuzeiten stoßweise, fortschreitet und den man nicht auf technologische Veränderungen in zwei oder drei Industriezweigen beschränken kann, sondern den man in seinen Voraussetzungen und Konsequenzen über weite Bereiche und lange Zeiträume beobachten muß. So wie man die Vorgeschichte der Renaissance bis weit ins Mittelalter zurückverfolgt hat, um sie wirklich zu verstehen, so kann man das Phänomen der Industrialisierung mit dem Zeitalter der Entdeckungen, der kopernikanischen Wendung in den Naturwissenschaften, dem Rationalismus Descartes' oder der Durchsetzung eines protestantischen Arbeitsethos in führenden Schichten Nordwesteuropas beginnen lassen9. Was führt nun aber der Nationalökonom an Gründen und Beweisen für die Entthronung der Industriellen Revolution zugunsten eines gesamtwirtschaftlichen, von anderen Sektoren der Wirtschaft mindestens mitgetragenen Wachstums an? Wenn wir die Diskussion vereinfachen — vielleicht über Gebühr —, so schälen sich drei Sektoren heraus, die man als „leading sectors" oder „strategic industries" betrachten kann: die Landwirtschaft, der Verkehr und der Außenhandel. Die Argumente für jeden der drei sind ähnlich, aber nicht gleich. Zugunsten der Annahme, daß die Landwirtschaft Träger des wirtschaftlichen Wachstums sei, spricht ihre überragende gesamtwirtschaftliche Position. Selbst in England, wo die Kommerzialisierung der Wirtschaft schon vor der Industriellen Revolution stärker fortgeschritten war als in jedem anderen Land der Erde, waren in der Landwirtschaft um 1800 noch etwa drei Viertel des Kapitals angelegt und mehr als ein Drittel der Beschäftigten tätig; knapp ein Drittel des Volkseinkommens wurde in ihr erarbeitet10. Selbst kleinere Änderungen in diesem Sektor, wenn sie nur ganz durchschlugen, etwa höhere Investitionen in Gebäuden oder Geräten, Verbesserungen des Bodens durch Dränagen usw., eine Erhöhung der Produktivität — sei es des Weizenertrages, sei 2*

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es der Milchleistung oder des Schlachtwertes von Vieh — konnten das Sozialprodukt sichtbar erhöhen, während Veränderungen in jedem anderen Sektor der Wirtschaft sehr viel größer sein mußten, sollten sie gesamtwirtschaftlich zu Buche schlagen. Die alte These, daß die landwirtschaftliche Revolution der industriellen in England nicht nur zeitlich voranging, sondern eine notwendige Bedingung für diese war, bekommt durch Schätzungen des Umfangs und der Bedeutung der einzelnen Sektoren der Wirtschaft Englands im 18, Jahrhundert neues Gewicht. Zugunsten des Verkehrssektors als „leading sector" spricht dessen Kapitalintensität. Der Ausbau von Chausseen, der Kanal- und Brückenbau und schließlich die Eisenbahnen erforderten einen solch großen Kapitalaufwand und induzierten ein so beträchtliches Mehr an Beschäftigung (und also an Einkommen) direkt an den Baustellen und indirekt bei den zuliefernden Industrien (besonders bei der Eisenindustrie und dem Baustoffgewerbe), daß hier, wenn irgendwo, sich eine Bestätigung der Rostowschen Hypothese finden läßt, daß der „Take-Off" mit einem plötzlichen, heftigen Steigen der Nettoinvestitionsrate zu erklären sei. Auch diese These ist allerdings in letzter Zeit nicht unbestritten geblieben, denn die Schätzungen der Wachstumsraten der wichtigsten Industrieländer zeigen keine plötzliche Beschleunigung in der Periode des Kanal- und Eisenbahnbaus, sondern nur einen langsamen, langfristigen Anstieg11. Selbst die Verlegung des eigentlichen Wachstumsimpulses in den Außenhandel überrascht nicht unbedingt, bedenkt man die älteren Forschungen über den mittelalterlichen Fernhandel, die Bedeutung des Kolonialhandels im Zeitalter des Merkantilismus und die Thesen über den sogenannten Früh- oder Handelskapitalismus, wie sie in Deutschland etwa Werner Sombart vertreten hat. Überraschend ist allenfalls das Ausmaß des Wachstums des englischen und nordamerikanischen Außenhandels, das neuerdings für die Periode der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege errechnet wurde und das sich später in der Take-Off-Periode anderer Länder, etwa Schwedens, wiederfindet. Kenneth Berrill und Phyllis Deane kommen zu dem Ergebnis, daß der britische Außenhandel — die Rohstoffe und Produkte der Industrien der technologischen Revolution, Baumwolle und Eisen, nicht eingerechnet — in den 1780er Jahren um die Hälfte und in den 1790er Jahren nochmals um ein Drittel gewachsen sei, schneller als je in einem Zeitraum zuvor; er habe die Tendenz zur Selbstverstärkung (self-reinforcing) besessen, weil ihm die Möglichkeiten gegeben waren, die Vorteile der Export- mit denen der Importmärkte zu kombinieren und schließlich auch noch aus den Kriegen der Periode direkten und indirekten Gewinn zu ziehen: direkten durch Lieferung von Kriegsmaterial usw., indirekten durch Gewinnung von Überseemärkten12. Gerade der politische Historiker wird mit Interesse zur Kenntnis nehmen, daß die beiden Ökonomen dabei zu dem Schluß kommen, daß zu dieser Ausweitung des Außenhandels die Macht der britischen Flotte mindestens ebenso beigetragen habe wie der Erfindungsgeist der britischen Industriellen. Die geforderte gesamtwirtschaftliche Wirkung hätte freilich der Außenhandel nicht haben © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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können, hätte er nicht schon damals für die englische Wirtschaft eine so bedeutende Rolle gespielt. Mindestens 10 % des Volkseinkommens dieser Zeit stammten aus ihm, d. h. eine durchschnittliche jährliche Zuwachsrate von 4,9 % im Außenhandel, wie sie Deane und Cole für die Jahre 1780 bis 1800 schätzen — im Unterschied zu durchschnittlich ca. 0,5 % in der ersten Jahrhunderthälfte —, bedeutete immerhin einen jährlichen Zuwachs von rund 0,5 % für die britische Gesamtwirtschaft. Allerdings wäre auch dieser Zuwachs für sich allein genommen, ohne den induzierten Zuwachs in anderen Wirtschaftssektoren, vom Bevölkerungswachstum, das gleichzeitig knapp 1 % jährlich betrug, noch mehr als wettgemacht worden13. Ganz ähnlich argumentiert Douglass North für die Periode der Frühindustrialisierung in den USA. Auch er schreibt dem internationalen und dem interregionalen Handel den entscheidenden Wachstumsimpuls zu14. Bleibt damit für die eigentliche Industrielle Revolution bei der Erklärung des Wachstumsphänomens der modernen Volkswirtschaften gar kein Platz mehr? Niemand würde wohl so weit gehen, das zu behaupten. Nach wie vor werden Textil- und Eisenindustrie, auch der Kohlenbergbau und der Maschinenbau als die eigentlich strategischen Industrien innerhalb des Sekundären Sektors der Gesamtwirtschaft betrachtet. Ihr Aufstieg, gemessen an physischer Produktion, Nettoproduktionswert oder Beschäftigten, sticht nach wie vor ab — nicht nur, aber vor allem in England in den entscheidenden Jahrzehnten zwischen 1780 und 1830. Nirgendwo sonst hat es Zuwachsraten gegeben, die mit denen der Baumwollspinnerei vergleichbar wären. Der Nettoproduktionswert in der Baumwollspinnerei versiebenfachte sich von 1770 bis 1805, und ihr Rohstoffverbrauch verfünfzehnfachte sich in der gleichen Zeit15. Nirgendwo sonst sind technische Fortschritte von dem Ausmaß und den Folgewirkungen erzielt worden wie in der Baumwollspinnerei und bei der Herstellung von Eisen und Stahl und der Konstruktion von Antriebs-, Arbeits- und Werkzeugmaschinen. Gerade weil diese Vorgänge als individuelle historische Ereignisse so hervorstechen, gilt es aber, das Augenmaß für ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung zu bewahren. Wenn die Baumwollindustrie in England 1770 nur 0,4% des Sozialproduktes erstellte und zusammen mit der Eisenindustrie 1780 höchstens 3 %16, so heißt das, daß auch ein rapides Ansteigen innerhalb dieser Sektoren zunächst keinen durchschlagenden Effekt auf die Gesamtwirtschaft haben konnte. Auch wenn in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts sich die Produktion in diesen beiden Industriezweigen zusammen etwa versechsfachte, so konnte dieses partielle Wachstum auf das Gesamtwachstum der britischen Wirtschaft sich noch nicht entscheidend auswirken. Für sich genommen — und die induzierten Effekte wiederum außer acht gelassen — brachten sie in diesen zwei Jahrzehnten nur einen Volkseinkommenszuwachs von 15 % zustande, während die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 20 % wuchs, d. h. mit anderen Worten: Textil- und Eisenindustrie allein hätten in der Periode der Industriellen Revolution das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung nicht einmal halten, geschweige denn verbessern können. Erst ab 1805, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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als Baumwolle und Eisen für ca. 12 % des britischen Sozialproduktes aufkamen, lassen sich gesamtwirtschaftliche Einkommenseffekte statistisch einigermaßen deutlich ablesen. Unbezweifelbar machen sie sich aber erst seit ca. 1830 geltend, als mit dem Eisenbahnbau sich der Ausstoß besonders der Eisenindustrie stürmisch vermehrte und die Baumwollindustrie weiterhin schnell wuchs. Diese Warnung vor einer Überschätzung des gesamtwirtschaftlichen Effekts der Industriellen Revolution „in the short run" besagt nichts gegen die langfristigen Auswirkungen der technologischen Fortschritte in den Schlüsselindustrien auf die Gesamtwirtschaft oder gegen den Demonstrationseffekt, den sie als Pioniere des Fortschritts ausübten. Aber man muß klar zwischen den kurzund zwischen den langfristigen Folgen unterscheiden, so wie man zwischen einer Betrachtung von einzelnen Regionen, Sektoren, Branchen oder gar Firmen, also einer mikroökonomischen Analyse, und einer Betrachtung der Gesamtwirtschaft, also einer makroökonomischen Analyse, unterscheiden muß, will man die Industrielle Revolution als Problem der Wirtschaftsgeschichte richtig einordnen. Für die deutschen Wirtschaftshistoriker folgt daraus der Schluß, daß auch sie sich, mehr als es bisher geschehen ist, mit den Thesen und Methoden der nationalökonomischen Wachstumsforscher auseinandersetzen müssen, daß sie ihre bisherigen Ergebnisse kritisch prüfen und ergänzen, daß sie vor allem das Ihre dazu beitragen müssen, das Urmaterial, das gerade für Deutschland nur sehr schwer zu gesamtwirtschaftlichen Größen zusammensetzbar ist, besser nutzbar zu machen, indem sie vor der Quantifizierung ihrer Ergebnisse nicht zurückschrecken, sei es im Bereich einzelner Regionen, wie einer preußischen Provinz, sei es im Bereich dessen, was man mit aller gebotenen Vorsicht eine deutsche Volkswirtschaft vor 1870 nennen könnte. Denn nur dann können Fragen wie die eben vorgetragenen nach den auslösenden Faktoren und Sektoren des modernen Wirtschaftswachstums auch für Deutschland zureichend beantwortet werden. Die Forderung des Nationalökonomen an den Wirtschaftshistoriker, die wir daraus ableiten können, lautet also: Mehr Präzision in der Fragestellung, genauere Durchdenkung des ökonomischen Wirkungszusammenhanges und mehr Mut zur Zusammenstellung und Analyse von Größenordnungen. Zusammengefaßt: Keine Angst vor Theorie und Statistik17. Daß eine solche schärfere Durchdringung des gesamtwirtschaftlichen Mechanismus und seiner Komponenten nicht nur für die Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinne von großem Gewinn wäre, sondern auch auf die Sozial- und allgemeine Geschichte weitreichende Auswirkungen haben würde, könnte an einem Problem dargestellt werden, das in der deutschen Geschichtsforschung traditionellerweise eine erhebliche Rolle spielt, der Frage nach der Entstehung der Fabrikarbeiterschaft bzw. der Frage nach der Natur des Pauperismus. Erst wenn wir wissen, ob in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesamtwirtschaftliches Wachstum stattgefunden hat oder nicht, in welcher Höhe die Zuwachsraten positiv oder negativ gelegen haben mögen, ob dieses Wachstum regional oder sektoral beschränkt gewesen ist und wie sich gleichzeitig dazu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die Bevölkerungsbewegungen verhielten, werden wir sagen können, ob es sich dabei um ein genuin ökonomisches Problem handelte, nämlich um das der Verarmung, ob diese Verarmung eine volkswirtschaftliche gewesen ist, weil die Bevölkerung schneller wuchs als das Sozialprodukt, oder ob sie nur einzelne Schichten oder Regionen betraf, weil wirtschaftliche und soziale Strukturwandlungen vor sich gingen, die die einen bevorzugten und die anderen benachteiligten, oder ob es sich schließlich bei der Diskussion des Pauperismus eher um ein geistes- und sozialgeschichtliches Phänomen handelte, um ein Erwachen des sozialen Verantwortungsbewußtseins, um eine Höherbewertung des Menschen auch der unteren Schichten, um ein Aufmerksamwerden auf längst vorhandene Tatsachen, die zuvor nur nicht gesehen worden waren18. Soziologische Aspekte Damit aber befinden wir uns mitten in der sozialgeschichtlichen Problematik der Industrialisierung. Mit ihr ist der Historiker in Deutschland gewöhnlich besser vertraut als mit der wirtschaftsgeschichtlichen; aber auch sie steckt noch voller ungelöster Fragen, vor allem, wenn man sie nicht nur mit den Augen des Historikers betrachtet, sondern sich zugleich der Brille des Soziologen bedient. Denn ähnlich wie der Ökonom bei der Erforschung der Industrialisierung mit bestimmten Fragen, ja Forderungen an den Historiker herantritt, so tut es auch der Soziologe, und auch sein Interesse dürfte vorwiegend von den aktuellen Auswirkungen des universalgeschichtlichen Vorganges motiviert sein. Auch seine Fragen beziehen sich vornehmlich auf den Stellenwert, den das historische Ereignis „Industrielle Revolution" im gesamtgesellschaftlichen Wandel der letzten zweihundert Jahre besitzt; sie beziehen sich auf die Funktion der Industriellen Revolution als Auslöser oder Katalysator oder auch nur als Symbol dieses Wandels. Sozialer Wandel zeichnet sich als Veränderung zunächst im Wertsystem der Gesellschaft, ihrer normativen Sphäre, ab, dann in den gesellschaftlichen Verhaltensformen und schließlich in der sozialen Struktur, dem vertikalen und horizontalen Aufbau der Gesellschaft. Der Soziologe will nun vom Historiker wissen, welchen Einfluß der konkrete Industrialisierungsvorgang auf diese langfristigen Veränderungen hat und ob es bestimmte soziale Vorbedingungen gibt, die erfüllt sein müssen, ehe er in Gang kommt. Muß beispielsweise eine gesellschaftliche Schicht von Unternehmern vorhanden sein und ein Wertsystem, das unternehmerisches Handeln belohnt? Muß eine „Reservearmee" von Un- und Unterbeschäftigten, eine soziale Unterschicht, bestehen, aus der sich die Arbeiter der Fabriken rekrutieren? Muß der Staat ein Rahmenwerk geschaffen haben mit einer unbestechlichen, der Sache dienenden Beamtenschaft? Sind wirtschaftliche Institutionen und Organisationen Vorbedingung, die den Kapitaleinsatz in die strategischen Industrien lenken oder den Preismechanismus der Marktwirtschaft in Gang bringen oder halten? Solche und Dutzende ähnlicher Fragen stellen sich, wenn man den Industrialisierungsprozeß im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Wir wollen wieder einige wenige herausgreifen und diskutieren. Da die Veränderungen im gesellschaftlichen Wertsystem und in den Verhaltensweisen der Menschen seit Max Weber relativ ausführlich behandelt worden sind19, wollen wir uns besonders dem dritten Komplex zuwenden, dem sozialen Strukturwandel im Industrialisierungsprozeß. Zunächst kann der Historiker mit Recht ablehnen, allgemeine Aussagen über notwendige Vorbedingungen oder Folgen zu machen. Wir können, ja müssen uns darauf beschränken, aus der bisherigen historischen Erfahrung typische Fälle herauszugreifen bzw. zu versuchen, einen im Zusammenhang überschaubaren Vorgang, z. Β. die Industrialisierung West- und Westmitteleuropas, als Ganzes zu begreifen. Für diesen Raum steht fest, daß die gesellschaftliche Schichtung durch die Industrialisierung tiefgreifend verändert worden ist. Ganz offensichtlich sind neue Schichten entstanden, ältere geschrumpft, ihre gegenseitige Zuordnung hat sich verändert, ihr Selbstverständnis und das Prestige, das sie bei anderen genießen, hat sich gewandelt. Karl Marx und andere Soziologen der industriellen Frühzeit haben diese Veränderungen gesehen und zu beschreiben, vor allem aber auch vorauszusagen versucht. Und die erste Frage, die sich wohl unwillkürlich stellt, ist die: Haben sie recht behalten, hat vor allem Karl Marx recht behalten mit seiner Voraussage einer immer tiefer werdenden Klassenspaltung zwischen zwei allein übrigbleibenden Schichten, der Bourgeoisie und dem Proletariat? Es ist heute unbestritten, daß diese Voraussage zumindest sehr simplifiziert war, und bei den meisten Soziologen besteht Einverständnis, daß sie auf lange Sicht nicht zutrifft. Manche versuchen, den Kern der Lehre zu retten, wenn sie, wie etwa Dahrendorf, Marxens Aussagen nur auf die Herrschaftsstruktur, nicht aber auf die Schichtung beziehen20. Dann ergibt sich mindestens scheinbar der Ausweg, sie für das eine, das Herrschaftssystem, gelten zu lassen, die Differenzierung der Schichtung jedoch anzuerkennen, denn diese ist nun einmal nicht abzuleugnen. Andere Soziologen, etwa Theodor Geiger und Hans Freyer, neigen dazu, Marxens Aussage für seine eigene Zeit gelten zu lassen, für das späte 19. Jahrhundert und das 20. Jahrhundert allerdings nicht. Sie konstruieren daher einen Umschwung im Trend der sozialen Entwicklung, so daß die Phase der Frühindustrialisierung zu einer Zwei-Klassen-Schichtung hin tendierte, die Phase der Hochindustrialisierung, in Deutschland etwa seit 1890, jedoch von ihr weg21. Wieder andere sehen die langfristige Entwicklung (ungeachtet, ob nun Marxens Thesen für die Frühzeit zutreffen oder nicht) eindeutig in der Vereinheitlichung der Sozialstruktur, in der Annäherung der Klassen zu einer mittleren Schicht, in der Verbürgerlichung auch des Arbeiters22. Dafür gibt es in der Tat zahlreiche Symptome in der Gegenwart. Als Beweis könnte man auch das Selbstverständnis der Menschen besonders in den angelsächsischen Ländern ansehen, in denen sich 80 bis 90 % aller Befragten als Angehörige der Mittelklassen bezeichnen und nur jeweils 5—10 % als Ober- oder Unterschicht23. Aber nicht nur für die Gegenwart läßt sich diese Tendenz feststellen. Ich glaube, der Nachweis ist möglich, daß diese „Verbürgerlichung" den Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterbewegung von Anfang an entsprochen hat. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Er ist neuerdings für Deutschland etwa durch die Forschungen von Frolinde Baiser und Wolfgang Schieder über die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung erbracht worden24. Aber auch damit ist das Wesentliche noch nicht erfaßt. Entscheidend scheint mir vielmehr zu sein, daß die soziale Bewegung der Moderne beides in sich schließt: Vereinheitlichung und Differenzierung. In einem echt dialektischen Vorgang entstehen und unterscheiden sich einerseits immer neue Schichten, insgesamt aber wird der Unterschied zwischen ihnen geringer, und statt schichtenspezifischer bilden sich gesamtgesellschaftlich-gemeinsame Verhaltensnormen und Werteskalen heraus. Die besonderen Ehrenkodices des Adels, des Offizierkorps, der Beamtenschaft, der Akademiker, Kaufleute oder Arbeiter verblassen; sie streifen das ihnen Besondere mehr und mehr ab und vereinen sich auf einer allen oder fast allen zugänglichen mittleren Ebene. Gleichzeitig aber bilden sich, bedingt durch die zunehmende Spezialisierung und Teilung der Arbeit, immer neue spezielle Funktionen heraus, die auch zur Gruppenbildung führen, besonders deutlich in der Arbeitswelt, in der immer neue Berufsgruppen erfunden werden. Die Zahl der wesentlichen Lehrberufe, um nur ein Beispiel zu nennen, ist von ein paar Dutzend auf mehrere hundert gestiegen und wird erst in jüngster Zeit durch geplante Maßnahmen reduziert25. Dem Historiker kommt es zu, solche allgemeinen Phänomene räumlich und zeitlich genauer zu beobachten. Sein von soziologischer Denkweise geschärftes Auge sollte in der Lage sein, interessante Umschichtungsvorgänge zu erkennen und feindifferenzierte Strukturen zu entdecken, wo man früher nur sehr schematische Gebilde erkannte. Wir wissen längst, daß es in Alteuropa mehr und feinere soziale Schichtungsphänomene gab als die drei Stände, von denen die ältere Ständetheorie gesprochen hat. Ebenso wissen wir, daß das 19. Jahrhundert eine viel kompliziertere Sozialstruktur besaß, als es die Zwei-KlassenTheorie von Marx oder die Rede Riehls von den Ständen der Beharrung und denen der Bewegung oder die geläufige Unterscheidung von Standes- und Klassengesellschaft vermuten lassen. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker sieht heute Ober- wie Mittel- wie Unterschichten in sich vielfach gegliedert, und er versucht, Methoden zu entwickeln, wie man diese Unterschiede nicht nur beschreiben, sondern auch messen kann. Beschreiben kann man sie schon anhand der Selbstzeugnisse der Zeitgenossen, die jene feinen sozialen Unterschiede sehr wohl empfanden — nicht nur in den oberen Schichten, beim Adel etwa, sondern ebenso, wenn auch vielleicht weniger raffiniert und reflektiert, innerhalb der Fabrikarbeiterschaft. Man muß nur die Memoiren früher Fabrikarbeiter aufmerksam lesen, und man wird Abgrenzungen solcher Art auf Schritt und Tritt finden, nicht nur die bekannten zwischen gelernten und ungelernten Kräften, sondern auch solche nach Herkunft, Nationalität, Sprache, Konfession und Bildung, vor allem aber nach Arbeitsfunktion, Leistung und Einkommen26. Beschreiben kann man sie auf Grund der Funktionsunterschiede, die in der frühindustriellen Fabrik in vielfacher Abstufung bestanden. Sie sind uns in zwar nicht zahlreichen, aber doch sehr aufschlußreichen Fällen aus den Quellen bekannt27. Übergänge vom handwerklichen, heimindustriellen oder manufakturel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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len zum eigentlichen Fabrikbetrieb, Umstrukturierungen, die durch technische oder organisatorische Neuerungen in einzelnen Industriezweigen bedingt sind, lassen sich finden und erklären. Messen können wir die Feinschichtung vorläufig fast nur an den Lohnskalen oder mit Hilfe zeitgenössischer Versuche einzelner Wirtschafts- und Sozialstatistiker, wie Dietericis für Preußen, oder der schichtenspezifischen Unterschiede im Aufwand für die Lebenshaltung28. Dabei zeigt sich schon für die frühindustrielle Welt deutlich, daß z. Β. die oberen Arbeiter­ gruppen weit in den unteren Mittelstand hineinreichen, daß sie gleich oder besser gestellt sein können als Meister und kleinere kaufmännische Angestellte oder als untere Beamte und Volksschullehrer. Die Verzahnung des „Bürgertums" mit dem „Proletariat" ist deutlich erkennbar, ebenso wie die des „gebildeten Bürgerstandes" mit den alten Oberschichten, z. B. dem Adel, Messen können wir auch bis zu einem gewissen Grade die kollektive Auf- und Abwertung, zumindest das zahlenmäßige Wachsen und Schrumpfen ganzer Berufsgruppen und sozialer Schichten, z. Β. die Umschichtungen innerhalb des Handwerks, das Heraufkommen der tertiären Berufsgruppen, der Dienstleistungsberufe sowohl innerhalb des Produktionssektors wie in Handel, Verkehr, Kreditwesen, den öffentlichen Verwaltungen und freien Berufen. So wie die ältere Neuzeit als wichtiges Phänomen sozialer Bewegung die Entstehung des in sich vielfach gestuften weltlichen und geistlichen Beamtenstandes kennt — eine Bewegung, die sich im Zeitalter der Industrialisierung fortsetzt und beschleunigt —, so kennt dieses Zeitalter nun die Entstehung einer „Industriebürokratie". Sie besteht zumindest aus zwei in sich sehr verschiedenen Gruppen, dem kaufmännischen Angestellten und dem Ingenieur und Techniker. In sich sind beide jedoch wieder vielfältig gegliedert29. Das Zeitalter der Industrialisierung bringt auch die Ausbreitung und Aufwertung des Arztes und des Lehrers vom Chirurgen, Bader und Schulmeister zum sogenannten Vollakademiker. Es bringt die sich schon lange vorbereitende soziale Heraushebung der Unternehmer als einer ihrer Funktion, wenn auch selten dem Prestige nach führenden sozialen Schicht, es bringt dann auch die vielfache Differenzierung dieser Schicht, die mit den Schablonen von der Entstehung des Managers oder dem idealtypischen Unterschied von „Herr im Hause" und dem „Mitbestimmer" nur ungenügend umschrieben ist. Es bringt schließlich eine enorme Umwandlung des Offiziers — in PreußenDeutschland vom junkerhaften Typ zum Quasi-Akademiker oder Manager und Techniker in Uniform30. Das alles sind Erscheinungen, die in eine Sozialgeschichte der Industrialisierung hineingehören. Sie müssen über die Andeutungen, die ich hier geben konnte, hinaus erforscht, beschrieben, erläutert, ja erklärt und gemessen werden. Daß der gesamt-gesellschaftliche Zusammenhang über dem einzelnen Phänomen nicht verlorengeht, darüber wacht das kritische Auge des Soziologen, der die Bemühungen des Historikers mit unmittelbarem Interesse verfolgt und dessen Anregungen, Mahnungen und Kritik sich der Historiker nicht verschließen sollte, sowenig er auch Anlaß hat, sich rein formalisierenden und schematisie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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renden Gedankengängen zu beugen, wie sie hier und da noch unter dem Titel „Soziologie" angeboten werden. Damit ist der Kreis möglicher oder notwendiger Aufgaben keineswegs erschöpft. Ich habe versucht, einige Probleme der Industrialisierung, die in das Arbeitsgebiet des Wirtschafts- und Sozialhistorikers fallen, herauszugreifen und mit den Fragen der systematischen Wissenschaften, in deren Ressort sie ebenfalls gehören, zu konfrontieren. Ich ließ mich dabei leiten von dem Wunsch, die Historie gegenüber diesen manchmal unbequemen, mitunter auch unzuständigen, öfters aber fördernden und jedenfalls aufreizenden Fragen offenzuhalten, so wie es umgekehrt mein Wunsch ist, in meiner Arbeit bei den Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlern dahin zu wirken, daß die historische Dimension, die jedem menschlichen Tätigkeitsbereich, auch dem wirtschaftlichen und sozialen, innewohnt, nicht vergessen oder nur oberflächlich angeklebt wird. In dieser Vermittlung zwischen den Fächern sehe ich den eigentlichen Reiz, den die Wirtschafts- und Sozialgeschichte heute ausüben kann. Als ein Arbeitsgebiet, das in mehrere methodisch und inhaltlich fest fundierte Wissenschaften hineinreicht, kann sie nicht für sich in Anspruch nehmen, einen eigenen Gegenstand oder eine eigene Methode zu monopolisieren. Sie bemüht sich vielmehr, solche Monopole aufzubrechen und die Methodenkonkurrenz für den Fortschritt der Wissenschaften fruchtbar zu machen. Am Beispiel der Industrialisierung, die ein zentrales Thema der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit ist, habe ich versucht darzustellen, wo die Möglichkeit zu einer solchen Konkurrenz besteht und in welcher Weise man sie benutzen kann. Die folgenden Arbeiten dieses Bandes sind fast alle der gleichen Aufgabe verpflichtet und sollen einen Eindruck davon geben, in welchem Bereich solche Forschungen heute vorangetrieben werden können und müssen.

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Stadien wirtschaftlichen Wachstums1 Bemerkungen zu W . W . Rostows gleichnamigem Buch und anderen Beiträgen zur Wachstumsforschuung A. Dieses Erfolgsbuch — es ist seit seinem Erscheinen in England 1960 in 11 Sprachen übersetzt und in Englisch binnen eines Jahres viermal nachgedruckt worden — ist nicht leicht einer fachwissenschaftlichen Kritik zu unterwerfen. Obwohl das Buch eines Wirtschaftshistorikers, will es doch, wenngleich nicht ebenso entschieden wie sein Vorgänger, der „Process of Economic Growth", einen Beitrag auch zur Wirtschaftsthorie geben und außerdem Lösungsmöglichkeiten für den heutigen Konflikt zwischen der westlichen und der kommunistischen Welt andeuten. Sein anspruchsvoller Untertitel kennzeichnet die Absicht des Verfassers gut: es geht ihm um nicht weniger als um eine Deutung der Weltgeschichte der letzten Jahrhunderte und um die Grundlegung für politische Entscheidungen aus dieser Deutung heraus. Eine Würdigung des Buches wird daher die drei Ebenen zu unterscheiden haben, auf denen es sich bewegt, auch wenn sie beim Verfasser durcheinanderfließen, und sie wird darlegen müssen, wie sie gedanklich miteinander verknüpft sind. I. Schon auf der Ebene wirtschaftsgeschichtlicher Analyse und Deutung zeichnet sich Rostows Studie durch die Weite seines Horizontes aus, durch den Mut, die wirtschaftliche Entwicklung der ganzen bewohnten Erde, wenn auch konzentriert auf die wichtigsten Länder, in die Betrachtung einzubeziehen. England, Frankreich, die USA, Deutschland, Schweden, Japan, Rußland, Kanada und Australien, China und Indien, aber auch die Türkei, Mexiko oder Argentinien werden als Beispiele herangezogen, die wichtigsten Daten ihres wirtschaftlichen Wachstums miteinander verglichen. Dieser Vergleich ergibt für den Verfasser, daß alle Nationen durch die gleiche Anzahl von Wachstumsstadien gegangen oder zu gehen im Begriffe sind: vom Zustand einer traditionellen Gesellschaft (1. Stadium), deren Wertsystem durch einen „langfristig wirksamen Fatalismus" bestimmt war, fanden sie den Weg zum wirtschaftlichen Aufstieg, indem sie zunächst eine Reihe von Vorbedingungen legten (2. Stadium), d. h. vor allem einen gesellschaftlichen Rahmen schufen und ein Wertsystem begründeten, in dem wirtschaftliches Wachstum als ein ständiger Prozeß Möglichkeit und Sinn hat. Hierher gehören die Schaffung eines wirksamen Staatsapparates mit einem nichtkorrupten Beamtentum, die Herausbildung einer Unternehmerschicht und die Aneignung technischer und naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Darauf folgt das dritte und entscheidende Stadium, dem Rostow den zugkräftigen Namen des „take-off" gegeben hat, die amerikanische Bezeichnung für den Start eines

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Flugzeugs, der inzwischen, wenn nicht zum Schlagwort, so doch zu einem festen Begriff in der angelsächsischen Ökonomischen Terminologie geworden ist. (Die deutsche Übersetzung Elisabeth Müllers gibt ihn sehr viel vorsichtiger und allgemeiner, aber auch unprägnanter als „wirtschaftlichen Aufstieg" wieder.) Die Periode des „take-off" ist für Rostow dadurch gekennzeichnet, daß in ihr der „Anteil der effektiven Investitionen und der Ersparnisse von sagen wir 5 % des Volkseinkommens auf 1 0 % oder mehr steigen", also durch eine rein quantitative Bestimmung, die sich allerdings vor anderen auszeichnet, weil sie sich nicht auf einen Sektor der Wirtschaft, etwa die Industrieproduktion, beschränkt, sondern den Stand der gesamten Wirtschaft mißt. Wie kommt diese Steigerung der Investitionsquote zustande? „Während des Aufstiegs breiten sich sehr schnell neue Industrien aus, die Gewinne erwirtschaften, von denen wieder ein großer Teil in neue Fabriken investiert wird. Und diese neuen Industrien führen ihrerseits durch die schnellwachsende Nachfrage nach neuen Arbeitskräften und den Dienstleistungen, die sie benötigen, und nach anderen industriellen Fertigwaren zu einer weiteren Ausdehnung in städtische Bezirke und zum Aufbau anderer Industrien . . . Wie in der Industrie werden neue Techniken in der Landwirtschaft eingeführt, während die Landwirtschaft kommerzialisiert wird, und eine wachsende Anzahl von Bauern ist bereit, die neuen Methoden anzuwenden und auch tiefe Veränderungen in ihrem Lebensstil zu akzeptieren." Rostow beschränkt den „take-off" auf die kurze Periode von 2—3 Jahrzehnten in jedem Land, für England auf die zwei Jahrzehnte nach 1783, für Frankreich und die Vereinigten Staaten auf die Jahrzehnte nach 1860, für Deutschland auf das 3. Viertel, für Japan auf das letzte Viertel des 19. Jhs., für Rußland und Kanada auf die drei Jahrzehnte vor 1914, für Indien und China auf die Gegenwart seit 1950. Auf den Absprung in das wirtschaftliche Wachstum folgt als viertes Stadium der „drive to maturity", für den Rostow wiederum genaue Zeiträume im Auge hat, nämlich ungefähr 40 Jahre (oder 60 Jahre seit dem Beginn des „take-off"). Die Kennzeichen des „take-off", vor allem eine hohe Investitionsrate, institutionalisieren sich in dieser Periode, der Kapitalstock wächst nach der Arithmetik des Zinseszinses, und die Gesellschaft absorbiert als Ganzes die technische Umwelt. Ist die Reife erreicht, so tritt eine Volkswirtschaft in das 5. Stadium, das des Massenkonsums, ein, in dem das Realeinkommen pro Kopf so gestiegen ist, daß „eine große Anzahl Menschen sich mehr als nur die elementaren Nahrungsmittel, Unterkunft und Kleidung leisten" kann. Es ist heute in den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien, den führenden Ländern Westeuropas, Schweden und Japan erreicht, und die USA und Schweden drängen als die ersten Länder schon wieder darüber hinaus in ein neues, noch unbekanntes Stadium jenseits des Massenkonsums, in dem die Gesellschaft frei ist zu entscheiden, welches Ziel sie anstreben will, einen Wohlfahrtsstaat für alle oder den Luxus vieler Kinder, den Ausbau reicher Vororte oder die Fahrt zum Mond. Obwohl diese deskriptiven Teile des Buches sicher seine besten sind, fordern doch schon sie zu erheblicher Kritik heraus. Solange man Rostows Stadien sehr © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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vage auffaßt, mag man ihnen durchaus zustimmen. Daß es so etwas wie eine Aufeinanderfolge von traditioneller Gesellschaft und verschiedenen Perioden der Industriegesellschaft gibt, ist sicher richtig. Sobald man aber an die konkreten Daten und Zahlen kommt, setzen die Zweifel ein. Die Sachkenner fast aller von Rostow behandelten Länder sind zu dem Ergebnis gekommen, daß sich z. B. eine Periode des „take-off", wie sie Rostow definiert, in ihrem Lande nicht sinnvoll aus dem Entwicklungsprozeß ausscheiden läßt2. Schon die genaue Datierung, vor allem die Beschränkung auf zwei Jahrzehnte, ist in keinem Land der Erde möglich, am ehesten noch in solchen, die wie Japan oder China sprunghaft in den Industrialisierungsprozeß eingetreten sind. Aber für England, Frankreich, Deutschland oder die USA ist eine take-off-Periode, die sich entscheidend von der der „preconditions" abhebt, nicht mit der Exaktheit nachzuweisen, die Rostows Stadienlehre verlangt, und das nicht nur, weil für so frühe Perioden der wirtschaftlichen Entwicklung meist die statistischen Daten noch fehlen, vor allem die gesamtwirtschaftlichen, sondern auch weil sich Rostows Kriterium der sprunghaften Steigerung der Investitionsquote nicht finden läßt. Man wird daher einen sehr viel längeren Zeitraum des Übergangs annehmen müssen, in dem sich die Herstellung der Vorbedingungen, das starke und kontinuierliche Wachstum einzelner strategischer Sektoren und das Verharren in traditionellen Formen von ganzen großen Teilen der Volkswirtschaft überschneiden. Der „take-off" im Rostowschen Sinne wird somit aus einer deskriptiven Kategorie zu einer analytischen, aus der Bezeichnung einer in der Geschichte tatsächlich zu findenden Periode zu einem gedanklichen Modell, mit Hilfe dessen verstreute Erscheinungen der wirklichen Welt interpretiert werden können; er nähert sich damit dem Max Weberschen Idealtypus, auf den freilich nirgends Bezug genommen ist. Damit erhebt sich aber die Frage nach dem theoretischen Charakter von Rostows Buch, nach dem Anspruch, den er selbst stellt: „Diese Stadien sind nicht nur deskriptiv. Sie haben eine innere Logik und Kontinuität. Sie haben ein analytisches Gerüst, das in einer dynamischen Theorie der Produktion verankert ist." Rostow selbst glaubt, eine solche Theorie in einem früheren Buch entwickelt zu haben3. Es ist hier nicht der Ort, näher darauf einzugehen. Nur soweit sie mit der Stadienlehre von Rostow im Zusammenhang steht, kann sie hier betrachtet werden. In der Tat ist beiden gemeinsam, daß sie versuchen, von der Geschichte her einen Beitrag zur ökonomischen Theorie zu leisten. Während aber im „process" ein Wirtschaftshistoriker versucht, sich selbst jene analytischen Werkzeuge zurechtzubauen, die er glaubt, für die historische Interpretation verwenden zu können, sinnvoller verwenden zu können als die der reinen ökonomischen Theoretiker, bilden die „Stadien" so etwas wie das Produkt aus diesen Bemühungen und der Anwendung der gefundenen Kategorien auf den konkreten Geschichtsprozeß. Die Stadien sind also Rostows Ansicht nach zugleich analytische Kategorien, mit deren Hilfe logische Schlüsse gezogen werden sollen, und das Konzentrat der geschichtlichen Beobachtung selbst. Ist diese Doppelfunktion aber möglich? Kann eine historische Erkenntnis zugleich den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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„operational value" haben, den der Ökonom von einem Theorem erwartet? Ist das Konzentrat historischer Beobachtung, wie es sich in Stadien, Perioden, Typen usw. ausdrücken laßt, geeignet, Hypothesen für logische Schlüsse abzugeben, wie sie der theoretische Nationalökonom vollzieht? Es scheint mir, daß das Experiment der historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland gezeigt hat, daß dies nicht möglich ist. Geschichtliche Kenntnis kann wohl dem Theoretiker helfen, seine Hypothesen und Prämissen wirklichkeitsnäher zu machen als er sie ohne diese Kenntnis vielleicht machen würde; sie kann ihn auch davor behüten, Modelle für Abbildungen der Wirklichkeit zu halten. Andererseits kann die Kenntnis theoretischer Zusammenhänge dem Historiker einen besseren Schlüssel für das Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge geben. Aber der theoretische Denkprozeß selbst folgt doch seiner eigenen Logik und die historische Erfahrung hat darauf keine unmittelbare Einwirkung. Umgekehrt sind die gedanklichen Hilfskonstruktionen der Theorie, mögen sie noch so wirklichkeitsnah konzipiert sein, keine angemessene Beschreibung historischer Wirklichkeit. So wenig selbst die beste Deskription des Historikers dem Theoretiker genügt, so wenig genügt ein logisch noch so konsistentes und empirisch noch so gesättigtes Modell dem Historiker. Beider Erkenntnisziele und Erkenntnismethoden sind zu verschieden, als daß man sie einfach verschmelzen könnte. Das Ergebnis kann nur Ungenügen auf beiden Seiten sein. In Deutschland scheint mir diese Erfahrung durch die historische Schule (sofern sie mehr zu sein beabsichtigte als reine Wirtschaftsgeschichte) schon vor Jahrzehnten gemacht worden zu sein. Daß Rostow von dieser Erfahrung keinen Gebrauch gemacht hat, ist eine entscheidende Schwäche seines Buches. Insofern ist es bei aller Unorthodoxie doch ein typisch angelsächsisches Produkt. Nirgends findet sich ein Niederschlag früherer Bemühungen um Wirtschaftsstufen oder -Stadien, die gerade von den am rein deduktiven Denkprozeß der klassischen Nationalökonomie kein Genüge findenden deutschen „Staatswissenschaftlern" in so reicher Zahl hervorgebracht worden sind und deren Bedeutung für das ökonomische Denken Bert F. Hoselitz der englischsprechenden Welt erst unlängst dargelegt hat4. Eine Kenntnis dieser Bemühungen hätte Rostow manchen Irrweg erspart und hätte ihn lehren können, die Grenzen historischer Analyse und theoretischer Überlegung genauer abzustecken. Da er das nicht getan hat, bleibt sein Gedankengang oft unklar, wirkt sprunghaft und unausgegoren. Einiges ist gewiß der Tatsache zuzuschreiben, daß sein Buch aus einer Vortragsreihe entstanden ist, in der es mehr darauf ankam, Ideen vorzutragen als eine runde Beweisführung zu liefern. Der wesentliche Grund scheint mir aber tiefer zu liegen, nämlich darin, daß der Verfasser zwei verschiedenartige Ziele miteinander zu verbinden sucht, daß er einen Entwurf der Geschichte versucht hat, der zugleich ein rationales Handlungsmodell sein soll. Letzteres ist er gewiß nicht; als Interpretation der Wirtschaftsgeschichte der letzten Jahrhunderte kann man ihn dagegen, trotz aller Verzerrungen und Überspitzungen5, nicht nur gelten lassen, sondern muß ihn zu den interessantesten und anregendsten Deutungsversuchen der letzten Jahre zählen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ganz ist Rostows Absicht aber erst zu verstehen, wenn man sie als eine wesentlich politische auffaßt. „Ein nicht-kommunistisches Manifest" nennt der Verfasser sein Buch selbst, was in der deutschen Übersetzung mit „Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie" in bezeichnender Weise auf die Ebene innerwissenschaftlicher Diskussion verschoben worden ist. Rostow, inzwischen zu einem der außenpolitischen Berater des amerikanischen Präsidenten geworden, hat nach seinen eigenen Worten aus den Wachstumsstadien Lehren für die amerikanische Außen- und Militärpolitik zu ziehen gesucht6. Seine langjährige Tätigkeit in Verbindung mit dem „Center for International Studies" am Massachusetts Institute of Technology, dessen wirtschaftshistorischen Lehrstuhl Rostow vor seiner Berufung ins Weiße Haus innegehabt hat, hat ihm dafür weltweites Material und die Erfahrung einer großen Zahl amerikanischer Forscher der verschiedensten Zweige der Sozialwissenschaften zur Verfügung gestellt. Der weite Blick, den wir eingangs gerühmt haben, hat in dieser politischen und politikwissenschaftlichen Orientierung seine eigentliche Motivation. Im Grunde sind es nicht die zwei Jahrhunderte westeuropäisch-nordamerikanischer Wirtschaftsgeschichte, die Rostow zu seiner Theorie veranlaßt haben, sondern die Probleme der sogenannten Entwicklungsländer in Asien und Afrika, die sich in einem Prozeß des Übergangs zwischen traditionellem Lebensstil und Anpassung an die Normen der Industriegesellschaft befinden. Für diesen Prozeß Erklärungen und Leitbilder zu finden und damit dem handelnden Politiker Einsichten zu vermitteln, die es ihm ermöglichen, sein Tagewerk in einem größeren Zusammenhang zu sehen, scheint mir die eigentliche Motivation, aber auch die eigentliche Rechtfertigung dieses Buches zu sein. Es ist somit aus Zeitproblemen geboren und wird, wenn diese Voraussage gewagt werden darf, mit ihnen vergehen. Das gilt in noch viel stärkerem Maße von jenen Partien, die dem Vergleich des amerikanischen mit dem russischen Wirtschaftswachstum gewidmet und die trotz aller Bemühungen des Verfassers, sie in dem Zusammenhang der Wachstumsstadien zu halten, doch ein Fremdkörper geblieben sind, in dem der Rüstungswettlauf und die „Gefahr für die westliche Welt" eine größere Rolle spielen als die verschiedenen Formen wirtschaftlichen Wachstums bei unterschiedlichen politischen Systemen und Wirtschaftsverfassungen. So verwundert es nicht, daß das, was Rostow uns präsentiert, keine epochemachenden wissenschaftlichen Einsichten sind, sondern eher nachdenkliche und bedenkenswerte Reflektionen eines mit den Problemen der gegenwärtigen Politik ringenden Historikers und Ökonomen. Sie mit Marx zu vergleichen, berechtigt nicht die Originalität oder Tiefe des Gedankengangs, sondern die Herausforderung, der die westliche Welt durch die Erhebung der Marxschen Lehre zur Doktrin des Kommunismus gegenübersteht. An philosophischer Gründlichkeit kann sich Rostow mit Marx nicht messen, aber angesichts der Tatsache, daß Millionen von Menschen an die Marxsche Entwicklungslehre glauben oder sie zumindest für die einzige in sich kohärente halten, ist es sicher ein Verdienst, ihr die nüchter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nen Beobachtungen vergleichender Wirtschafts- und Sozialgeschichte entgegenzuhalten7. B. Sigurd Klatt, Zur Theorie der Industrialisierung. Hypothesen über Bedingungen, Wirkungen und Grenzen eines vorwiegend durch technischen Fortschritt bestimmten wirtschaftlichen Wachstums. Köln 1959. In der angelsächsischen Nationalökonomie hat sich das Schwergewicht der Diskussion seit ungefähr zwanzig Jahren immer mehr von der Betrachtung des kurzfristigen Wirtschaftskreislaufes auf eine Analyse des langfristigen volkswirtschaftlichen Wachstumsprozesses verlagert. Seit einigen Jahren ist auch die deutsche Wirtschaftswissenschaft bestrebt, sich in diese Diskussion einzuschalten. Das vorliegende Buch ist eine der umfangreichsten deutschen Arbeiten dazu und der erste Versuch, den Industrialisierungsprozeß, den man als den Kern des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses bezeichnen kann, als Ganzen theoretisch zu erfassen. Frühere deutsche Arbeiten auf diesem Gebiet, vor allem W. G. Hoffmanns bekanntes Buch über die „Stadien und Typen der Industrialisierung" (1931), gingen mehr von der empirisch-statistischen Seite aus und suchten den wirklichen historischen Ablauf an Hand von Schlüsselgrößen wie dem Nettoproduktionswert vergleichend zu erfassen. Beide Arten der Untersuchung unterscheiden sich nach Erkenntnisziel und -methode grundsätzlich. Sie zu einer einheitlichen Methode zu verschmelzen, ist trotz beachtenswerter Ansätze (z. B. bei W. W. Rostow, The Stages of Economic Growth, Oxford 1960) noch nicht befriedigend gelungen. Auch das anzuzeigende Werk bemüht sich, von der Theorie her eine solche Verbindung voranzutreiben. Es will eine Brücke zur empirisch-statistischen Betrachtungsweise schlagen, indem es den bisher hohen Abstraktionsgrad der Wachstumstheorie — eigentlich alle Wachstumstheoretiker bedienen sich der mathematischen Methode — vermindert und eine ganze Reihe zusätzlicher Annahmen in die Modellanalyse aufnimmt, um sie wirklichkeitsnaher zu machen. K. beschäftigt sich daher sehr ausführlich mit den ökonomischen Konsequenzen außerökonomischer Faktoren beim Industrialisierungsprozeß. Dem Historiker und Soziologen sehr vertraute Kräfte wie der Staat, die soziale Gruppenbildung, das Recht, die Religion, die Erziehung werden in ihrer Bedeutung für den Industrialisierungsprozeß untersucht. K. faßt sie unter dem Begriff der aktiven „Regler" zusammen, von denen er die „passiven Regler", die natürlichen Gegebenheiten, unterscheidet. Die Regler lenken den Industrialisierungsprozeß, der von bestimmten „Impulsen" ausgelöst und vorangetrieben wird, in feste Bahnen und sind dafür verantwortlich, daß er in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen oder unter verschiedenen politischen Regimen unterschiedlich verläuft. Auch sie verändern sich im Verlaufe des Prozesses in charakteristischer Weise und dürfen daher in die ökonomische Analyse langfristig nicht als Konstante eingeführt werden. Das gleiche gilt für die „Impulse". Darunter versteht K. „jene nichtökonomischen Fakten, die durch ihre Veränderung in den Wirtschaftsbereich einwirken und zu den eine Industrialisierung kennzeichnenden Prozessen des zusätzlichen und 3 Fischer, Wirtschaft

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überwiegenden Sachkapitaleinsatzes unmittelbar Anlaß geben" (S. 91). Das sind besonders das Bevölkerungswachstum (und die sich daraus ergebenden Wandlungen der Bevölkerungsstruktur) und der technische Fortschritt. Auch sie sind keine festen Größen, sondern Variable, die in den verschiedenen Stadien des Prozesses mit verschiedenartiger Intensität wirken. K. übernimmt von Hoffmann den Begriff der „Stadien", um damit zeitlich aufeinanderfolgende Abschnitte im Industrialisierungsprozeß zu kennzeichnen. In seinem eigenen theoretischen System unterteilt er den Prozeß jedoch nach formalen Gesichtspunkten in drei „Phasen": die Prozeßauslösung, den Prozeßablauf und die Prozeßstagnation. Diese „Phasen" haben modelltheoretischen Charakter; sie bedeuten jeweils verschiedene Wirkungszusammenhänge, die sich im konkreten historischen Ablauf zeitlich überlagern können. In der gleichen Volkswirtschaft können gleichzeitig prozeßauslösende, -regelnde und -hemmende Faktoren am Werke sein. Diesen Unterschied muß man beachten, wenn man die Ausführungen in den drei Hauptabschnitten des Buches nicht mißverstehen will. In ihnen unterzieht K. nun die bisherigen Wachstumstheoreme einer kritischen Bestandsaufnahme, versucht sie in ein umfassenderes System einzuordnen und (vorsichtig) zu ergänzen. Dabei ist zu beachten, daß er nicht den gesamten wirtschaftlichen Wachstumsprozeß untersuchen will, sondern lediglich das relative Wachstum des sogenannten sekundären Sektors, d. h. im wesentlichen das Anwachsen der kapitalintensiven und dem technischen Fortschritt besonders zugänglichen Industrie (zu der er übrigens im Unterschied zu C. Clark u. a. auch das Verkehrswesen rechnet, das Handwerk dagegen nicht — eine Abgrenzung, die die Übertragung seiner theoretischen Erkenntnisse auf statistische Einheiten erschwert, da die Statistik regelmäßig Industrie und Handwerk gemeinsam, den Verkehr aber gesondert ausweist). Beim Stand der gegenwärtigen theoretischen Diskussion wundert es nicht, daß die einzelnen Teile dieser Bestandsaufnahme sehr unterschiedlich ausfallen. Während K. für die Prozeßauslösung fast nur einen Katalog zu beachtender Kräfte aufstellt, ohne deren Interdependenz im einzelnen zu erfassen, kann er für den eigentlichen Ablauf auf eine Reihe sehr verfeinerter Modelle besonders von Domar, Harrod und Hicks zurückgreifen, und seine Analyse erreicht in diesen Partien einen sehr viel höheren Abstraktionsgrad. Die Stagnation wird dagegen nur kurz behandelt. Hier setzt er sich von denjenigen Theoretikern ab, die einen absoluten Stagnationsprozeß behandeln, weil sie ihn als wahrscheinlich oder unausweichlich für die westlichen Volkswirtschaften ansehen. Gemäß seiner Definition des Industrialisierungsprozesses als eines relativen Wachstumsprozesses, der theoretisch bei wachsender, stagnierender und schrumpfender Gesamtwirtschaft erfolgen kann, ist es einfach, die Phase der Stagnation als systemnotwendig nachzuweisen, da der sekundäre Sektor nicht endlos auf Kosten der anderen beiden Sektoren wachsen kann. Eine Beurteilung des sehr anspruchsvollen und umfassenden Buches muß natürlich in erster Linie auf der Würdigung des Fortschritts beruhen, den es der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ökonomischen Theorie bringt. In einer historischen Zeitschrift mag es jedoch berechtigt sein, es vor allem nach seinem Wert für den Historiker zu befragen, der bei der Theorie um Hilfe für seine eigenen Arbeiten nachsucht, weil er analytische Kategorien braucht, um die Masse des ihm vorliegenden Stoffes sinnvoll zu gliedern und zu interpretieren. Hier ist der Eindruck zwiespältig. Einerseits scheinen mir die von K. entwickelten und hier kurz referierten Kategorien im wesentlichen sinnvoll und hilfreich zu sein. (Daß manchmal eine größere Berücksichtigung der in der Statistik üblichen Ressorts für eine Übertragung der Modelle in die Wirklichkeit nützlich gewesen wäre, wurde schon erwähnt.) Andererseits bleibt, was bei dem gegenwärtigen Stand der dynamischen Wirtschaftstheorie nicht verwunderlich ist, noch so viel bruchstückhaft, daß „Ergebnisse", die dem NichtÖkonomen von Nutzen sein könnten, sich nur wenig finden. Man muß den Gedankengang selbst nachvollziehen, d. h. die theoretische Diskussion selbst mitmachen, um wirklich einen adäquaten Nutzen aus dem Buch ziehen zu können. Das aber ist nur dem ökonomisch Geschulten möglich, da der Abstraktionsgrad großenteils noch immer so hoch ist, daß der Autor ohne die mathematische Symbolsprache nicht auskommt. Ein wirklicher Brückenschlag zwischen Theorie und Geschichte ist also nicht gelungen, und es erscheint mir zweifelhaft, ob er auf diesem Wege in absehbarer Zeit gelingen kann, selbst wenn der Historiker seinerseits einen Brückenkopf errichtet, indem er seine Untersuchungen so umfassend wie möglich anlegt, um auf dem Wege des Vergleichs der verschiedenen Industrialisierungsabläufe zu einer Typologie der Industrialisierung zu kommen. Er wäre erst dann gesichert, wenn aus dem Vergleich der tatsächlichen Vorgänge mit den Modellen der Theorie eine zusätzliche Erkenntnis entspringt. Zum Schluß sei ausdrücklich erwähnt, daß auch für den, der sich der theoretischen Denkarbeit nicht unterziehen will, die dem Buch beigegebene sehr eingehende, auch historische Arbeiten berücksichtigende Bibliographie zur Industrialisierung von Nutzen sein wird. C, Alexander Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective. Cambridge Mass. 1962. Wenige Wirtschaftshistoriker der Gegenwart verfügen über einen solchen Reichtum des Wissens, solche Schärfe der Fragestellung und solche Eleganz des Stils wie der Inhaber des wirtschaftshistorischen Lehrstuhls am Department of Economics der Harvard University. Die Sammlung seiner wichtigsten Essays aus dem letzten Jahrzehnt ist daher eine Fundgrube von Anregungen, Warnungen und Beispielen. Der Obertitel trifft die meisten der 14 Stücke gut; nur die letzten beiden, „Reflections on Soviet Novels" und „Notes on Doctor Zhivago", fallen etwas außerhalb des Gesamtthemas. Sie repräsentieren Gerschenkrons literarische Interessen und philologische Fähigkeiten, die freilich auch in den streng wirtschaftshistorischen Arbeiten immer wieder durchschimmern, ihnen vor allem den Glanz wirklicher Essays verleihen. Von den verbleibenden zwölf Aufsätzen gelten drei und das Postskriptum 3*

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dem Begriffsapparat, der Methode und den Möglichkeiten vergleichender Forschung auf dem Gebiet der Industrialisierung, die übrigen sind einzelnen europäischen Ländern gewidmet: zwei Italien, einer Bulgarien und sechs Rußland. Schon diese Auswahl zeigt, daß sich Gerschenkron innerhalb der europäischen Länder vor allem für die mit „verspäteter" oder „abortiver" Industrialisierung interessiert, während das Gros der Wirtschaftshistoriker sich ja stets mehr zu den führenden Nationen der Weltwirtschaft hingezogen fühlte, zu England, den USA, Frankreich, Deutschland oder Japan. Deren Industrialisierung bildet freilich auch bei Gerschenkron den Hintergrund, auf dem sich der verspätete Prozeß der anderen um so deutlicher abhebt. Die wichtigste Arbeitsthese ist, daß sich die Art der Industrialisierung — Wachstumsrate, Struktur der Industrie, Instrumente des Prozesses und Rückwirkungen auf die Gesellschaft — direkt von dem „Grad der Rückständigkeit" ableiten läßt. Und er formuliert vor allem sechs Ergebnisse seiner Arbeit: 1. Je rückständiger ein Land, desto wahrscheinlicher ist ein diskontinuierlicher Start und ein plötzlicher großer Spurt, der zu einer relativ hohen Wachstumsrate der Industrieproduktion führt. 2. Je rückständiger ein Land, desto stärker die Tendenz zu größeren Betriebsund Unternehmenseinheiten. 3. Je rückständiger ein Land, desto stärker die Betonung der Kapitalgüterproduktion. 4. Je rückständiger ein Land, desto größer der Zwang zum Konsumverzicht. 5. Je rückständiger ein Land, desto stärker die Rolle von Institutionen, die die Kapitalbildung und Unternehmensführung der Industrie leiten (Banken in Mitteleuropa, der Staat in Osteuropa). 6. Je rückständiger ein Land, desto unwahrscheinlicher, daß die Landwirtschaft eine aktive Rolle bei der Industrialisierung (als wachsender Markt für Industrieprodukte infolge Erhöhung der eigenen Arbeitsproduktivität) spielt. Es wäre jedoch falsch, in diesen Schlüssen „Naturgesetze" zu sehen. Gerschenkron beschränkt seinen Erfahrungsbereich streng auf Europa — selbst Japan ist ausgeschlossen — und würde sich dagegen wehren, wollte man seine Ergebnisse ohne weiteres auf heutige Entwicklungsländer übertragen. Welche Abweichungen für sie gelten mögen, deutet er selbst kaum an; am ehesten wird man aber aus seinen Studien dafür vom Beispiel Bulgariens lernen können, dessen vergebliche Industrialisierungsversuche zwischen den Weltkriegen er mit dem Stichwort der „verpaßten Gelegenheit" bezeichnet. Zu untersuchen, welche Umstände typischerweise beim Steckenbleiben von Industrialisierungsversuchen im Spiele sind, deutet er zum Schluß als das nächste Ziel seiner Forschungen an und schließt nicht aus, daß dafür ganz andere Begriffsbildungen nötig sein könnten. In der Tat scheint mir hier ein wichtiges Problem angesprochen, denn nicht wenige Länder — wie Indien, das vorkommunistische China und die wichtigsten Staaten Südamerikas — wird man unter die Beispiele der „verpaßten Gelegenheiten" rechnen müssen, was nicht ausschließt, daß — um in Gerschenkrons Bild zu bleiben — auch später noch ein Bus für sie abfährt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Warum sie aber den ersten verpaßten, warum die punktuelle Industrialisierung, die bei ihnen bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht, bisher sich nicht zu einem generellen Industrialisierungsprozeß verdichtete, der sich selbst speist und damit einen „eingebauten Automatismus" erhält, ist eine Frage, bei der die Wirtschaftsgeschichte der Nationalökonomie vermutlich manchen Aufschluß geben kann, wenn sie sich einmal der genaueren Untersuchung dieser Gebiete zuwendet. Der Ökonom wird die Frage an Gerschenkron stellen, welchen „operational value" sein Konzept der relativen Rückständigkeit hat. Kann man damit wirklich mehr geben als eine einleuchtende Erklärung bereits abgelaufener Prozesse? Kann es mehr sein als eine Interpretationshilfe für die europäische Wirtschaftsgeschiente? Hier ist gewiß Skepsis am Platze. Immerhin schreibt ihnen Gerschenkron selbst wohl mit Recht einen größeren Erklärungswert zu als Rostows Stadientheorie, schon weil er sich auf die Industrialisierung im engeren Sinne beschränkt, nicht den gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozeß erklären will und daher schon seine empirischen Daten — Industrieproduktion — genauer sind als die für das Volkseinkommen es sein können. Welche Schwierigkeiten sich aber überhaupt der Konstruktion von Modellen in der Wirtschafegeschichte entgegenstellen, das macht Gerschenkron in seinen ersten drei Essays am Beispiel seines eigenen Konzepts der „relativen Rickständigkeit", an dem der „Vorbedingungen" der Industrialisierung und an dem Zusammenhang von sozialen Normen und unternehmerischer Initiative deutlich. Sie sind Prachtstücke wirtschaftshistorischer Methodik und als solche vorzüglich zur Diskussion mit fortgeschrittenen Studenten geeignet. Der Historiker wird umgekehrt fragen, ob Gerschenkron nicht die Schematisierung und Typisierung kontinuierlicher Vorgänge bereits zu weit getrieben hat. Indem er entgegen Kuznets und anderen Wachstumsforschern am Begriff der „Industriellen Revolution" festhält, betont er die Diskontinuität, das Plötzliche, den „großen Spurt". Das führt zu einer Vernachlässigung der meist langen Vorbereitungszeit, in der nicht nur punktuell bereits Industrie entsteht, sondern auch jene Vorbedingungen wie die Sammlung technischer Erfahrung, die Ausbildung unternehmerischer Talente, die Umkanalisierung der Kapitalreserven von traditionellem zu industriellem Gebrauch, die Verbesserung des Schulwesens, die Veränderung der Normen sozialen Verhaltens usw, sich herausbilden. Es ließe sich am Beispiel Frankreichs, Belgiens* Deutschlands, der Schweiz, Österreichs und Norditaliens zeigen, wie hier schon vor dem „großen Spurt" in der Mitte des 19. Jahrhunderts Industrialisierung beginnt, noch nicht so sehr statistisch sichtbar, aber doch als ein in nuce fast alle späteren Entwicklungskeime zeigender Prozeß. Das Hinzutreten der großen Banken seit den fünfziger Jahren erklärt dann nicht den plötzlichen Sport, sondern ist nur eines unter vielen Momenten, eine Zusammenfassung der bisher aufgesplitterten Kräfte zu größerer Wirkung. Umgekehrt nimmt die direkte Einwirkung des Staates ab, nachdem er am Anfang bei der Schaffung punktueller Industrien durchaus aktiv und bewußt tätig war und mindestens unbewußt» das heißt vor© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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wiegend wegen anderer, nicht direkt auf die Industrialisierung gerichteter Ziele, an der Ausbildung eines industriegünstigen sozialen Rahmenwerkes gearbeitet hat. Gewiß ist es richtig, daß Banken in Mitteleuropa und der Staat in Osteuropa manche Voraussetzungen ersetzten, die in England durch die Kapitalakkumulation im Außenhandel, eine allmähliche gewerbliche Verdichtung und kontinuierlichen sozialen Wandel in Richtung auf eine „offene Gesellschaft" gegeben waren. Aber so überragende Instrumente der Industrialisierung, als die sie bei Gerschenkron erscheinen, waren sie doch nicht. Solchen Ausstellungen wird jedoch jeder Versuch ausgesetzt sein, den universalen Vorgang der Industrialisierung zu typisieren und mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Kategorien erklärbar zu machen. Gerschenkrons Versuch gehört jedenfalls zu den geistvollsten und ist sich seiner Möglichkeiten und Grenzen sehr stark bewußt. D. H. J . Habakkuk, American and British Technology in the Nineteenth Century. The Search for Labour-Saving Inventions, Cambridge 1962. Obwohl es fast zum Gemeinplatz geworden ist, daß die Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis großenteils auf den Grenzgebieten stattfinden, bleibt es eine undankbare Aufgabe, sich wirklich auf ihnen zu bewegen, denn nur zu leicht wird ungewiß, ob man noch sicheren Boden unter den Füßen hat. Das mag auch der Autor des vorliegenden Werkes, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Oxford, gespürt haben, als er sich in das strittige „Grenzgebiet zwischen Geschichte, Technologie und Ökonomie" begab, um nachzuforschen, wie einige der bekannteren Unterschiede in der technisch-ökonomischen Entwicklung Großbritanniens und der USA theoretisch besser zu erklären seien als bisher. Ohwohl der Ausbildung nach Historiker des Mittelalters, hat Habakkuk — einer der führenden Männer der Wirtschaftsgeschichte in der westlichen Welt — eine „Ehe von Geschichte und Theorie" zustande zu bringen gesucht, von der zwar viele reden, die aber nur wenige verwirklichen. Das Ergebnis ist ein Buch, das auch dem literarischen Genre nach schwer einzuordnen ist. Habakkuk selbst nennt es einen Essay. Besser wäre wohl zu sagen, daß es aus einer Reihe von Essays besteht, die in immer neuem Anlauf das Grundproblem zu fassen suchen, warum im 19. Jahrhundert die amerikanische Industrie früher, stärker und umfassender arbeitssparende Maschinen eingesetzt hat als die britische. Die plausible Erklärung, die zur Standardausrüstung des Wirtschaftshistorikers gehört, daß in den USA Arbeitermangel herrschte, auch die Landwirtschaft bessere Chancen bot, daher die Löhne höher lagen und der ökonomische Anreiz zum Einsatz arbeitsparender Maschinen entsprechend stärker war als in England mit seiner größeren, gleichmäßigeren und billigeren Arbeiterschaft, befriedigt ihn nicht. Er weist sie zwar nicht zurück, ja bestätigt sie immer wieder selbst, aber er möchte doch genauer wissen, über welche Mechanismen dieser Effekt zustande kam, welche Nebenbedingungen herrschten und wo und warum Abweichungen festzustellen sind. Nach einem kurzen Referat der herrschenden Lehrmeinungen stellt er sich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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zunächst das theoretische Problem: Angenommen, Arbeiterknappheit war die entscheidende Ursache, wie kann sie auf die Wahl der Technik und die Investitionsquote wirken, wie verhält sich der Arbeitsmarkt in den zyklischen Bewegungen, welche Rolle spielen Marktunvollkommenheiten und die Ausdehnung des Marktes? Er benutzt dabei die Methoden der Theorie, soweit er sie zu verstehen glaubt, aber — und das ist das Charakteristische — überprüft nahezu jeden einzelnen Schritt der Argumentation an der Wirklichkeit. Aus dem „ist das denkmöglich" wird fast immer ein „kann es so gewesen sein?". Und umgekehrt wird jede in den Quellen vorgefundene Aussage befragt, ob ihre Erklärung überhaupt möglich, und wenn, ob sie wahrscheinlich ist. Hier scheint mir ein für die Wirtschaftsgeschichtsforschung ungemein wichtiger Weg beschritten zu sein. Viele Historiker übersehen nämlich, daß in dem, was für sie Quelle und damit letzte Instanz ist, meist implicite, oft auch explicite eine Erklärung des Geschehenen enthalten ist, die solcher Nachprüfung bedarf. Bei der Prüfung der „Echtheit" der Quellen hat die Geschichtswissenschaft viel philologischen, ja kriminalistischen Scharfsinn entwickelt, z. Β. bei der Prüfung des Wahrheitsgehalts diplomatischer Stellungnahmen oder politischer Kundgebungen. Bei Aussagen über Wirtschaftsabläufe und deren Ursachen verlassen sich Historiker hingegen viel zu oft auf die Meinungen von Beteiligten oder Beobachtern, wie sie in den zeitgenössischen Quellen berichtet werden. So ist es für Habakkuk nicht ausgemacht, daß es tatsächlich und immer die Knappheit von Arbeitern und die höheren Löhne waren, die die amerikanischen Unternehmer zu höheren Investitionen und zum Einsatz arbeitssparender Maschinen führten, sondern daß eine ganze Reihe anderer, außerökonomischer wie ökonomischer Gründe dafür angeführt werden können: Die Lust am Fortschritt an sich, der unspezialisiertere Bedarf, höhere Gewinnchancen bei höherem Risiko und anderes mehr. Wir können hier die vielen Gedankengänge und Belege im einzelnen nicht rekapitulieren. In drei Kapiteln werden nach der Exposition der Fragestellung und der Darlegung der überhaupt möglichen Erklärungsweisen einige Hauptunterschiede der industriellen Geschichte in beiden Ländern herausgearbeitet, auch sie jedoch nicht in gewohnter Weise historischer Erzählung, sondern in Form einer Durchmusterung zahlreicher Belege auf ihre logische Konsistenz und historische Wahrscheinlichkeit. Das Ergebnis ist ebensowenig eine Theorie des technischen Fortschritts wie eine Geschichte der industriellen Technik in Amerika und England, sondern eine Problem- und Materialsammlung für beide. Insofern scheint die „Ehe zwischen Geschichte und Theorie" zwar begonnen, aber noch nicht unbedingt gelungen. Wahrscheinlich sind beide Teile vorerst noch nicht ganz zufrieden. Der Theoretiker wird die Durchführung des Denkansatzes bis zum logisch geschlossenen Modell vermissen, der Historiker die Anschaulichkeit der Darstellung trotz bewundernswerter Weite der Kenntnisse durch zuviel Raisonnement unterbrochen finden. Vielleicht deutet aber gerade das darauf hin, daß Habakkuk auf dem richtigen Wege ist, dies unendlich schwierige Grenzgebiet wirklich zu erforschen. Ein Buch jedenfalls nicht für Anfänger, sondern für Anspruchsvolle. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Die Wirtschaftsgeschichte in den Vereinigten Staaten von A m e r i k a Bemerkungen zu ihrem gegenwärtigen Stand und ihren Entwicklungstendenzen Vorbemerkung: In Heft 4/1961 der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft hat Paul A. Samuelson einen kurzen Überblick über die Traditionen und gegenwärtigen Tendenzen der Wirtschaftswissenschaft in den USA gegeben. Er schöpft aus der lebenslänglichen aktiven Zugehörigkeit zu ihr. Demgegenüber kann der folgende Bericht sich nur auf Erfahrungen und Beobachtungen stützen, die im Laufe eines knappen Gastjahres gewonnen wurden. Wenn er trotzdem gewagt wird, so in der Hoffnung, daß er einen Beitrag zur Annäherung angelsächssischer und kontinentaleuropäischer Wissenschaftstraditionen zu leisten vermag1. Welchen Platz die Wirtschaftsgeschichte im Kosmos der Wissenschaften einnehmen soll, ist eine alte Streitfrage. Als typisches Grenzgebiet fügt sie sich keinem der großen sozial- bzw. geisteswissenschaftlichen Fächer ganz ein und überschneidet sich in ihren Gegenständen wie in ihren Arbeitsmethoden mit mehreren. Die wichtigsten sind die Nationalökonomie und die Geschichte. In Deutschland hat sich zudem — ähnlich wie in Frankreich — die seit langem gepflegte Union mit der Sozialgeschichte so durchgesetzt, daß heute fast nur von dem einen Fach der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gesprochen wird 2 und daß die Soziologie als dritter Grenzbereich hinzutritt3. Wenn die Selbständigkeit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vor allem gegenüber dem Gesamtfach Geschichte auch aus grundsätzlichen wie methodischen Erwägungen heraus oft bestritten wird4, so herrscht doch allgemein die Überzeugung, daß die Beschäftigung mit ihr mehr und mehr ein volles Arbeitsleben beansprucht und sie sich daher im Zuge der Spezialisierung praktisch von den größeren Mutterfächern aussondern muß. In England und den USA wird hingegen im allgemeinen nur von der Wirtschaftsgeschichte als einem selbständigen Fach gesprochen. Es besitzt eine relativ gut fundierte Stellung im System der Wissenschaften, während die Sozialgeschichte mehr als Teil der allgemeinen Geschichte betrachtet wird, sei es als bloße Ergänzung der politischen Historie, sei es als ein mehr fundamentaler, aller Ereignisgeschichte unterliegender Strukturzusammenhang5. Der Unterschied, der sich daraus ergibt, ist zwar nicht so grundlegend, wie er nach einer strengen wissenschaftstheoretischen Analyse sein müßte, denn praktisch werden in der angelsächsischen „economic history" auch viele soziale Phänomene, z. Β. die Bevölkerung, mitbehandelt; doch er existiert und resultiert in verschiedenartigen Akzentsetzungen. Während in Deutschland (und wohl auch in Frankreich) die Sozialgeschichte als die umfassendere angesehen wird, die zur Erklä-

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rung des wirtschaftlichen Prozesses das meiste beiträgt, tendiert die angelsächsische Wirtschaftsgeschichte sehr viel stärker zu einer Isolierung der ökonomischen Faktoren und zu ihrer Analyse mit Hilfe moderner wirtschaftswissenschaftlicher Kategorien und Arbeitsmethoden. Obwohl auch hier mehrere Tendenzen miteinander streiten und besonders von der Geschichte her der Aussonderung des Wirtschaftlichen widerstrebt wird, existiert doch eine ausgesprochen nationalökonomisch orientierte Wirtschaftsgeschichte, von der in Deutschland erst geringe Ansätze zu spüren sind6. Daraus ergibt sich von selbst eine Dominanz der Ökonomie über die Geschichte. Sie ist zwar in den Ergebnissen nicht so stark wie in der Absicht, doch ist sie über das Programmatische längst hinaus und erweist sich in den Themen und Methoden vor allem der jüngeren Generation der amerikanischen Wirtschaftshistoriker mit großer Deutlichkeit7. Damit ist bereits die Haupttendenz der gegenwärtigen Wirtschaftsgeschichte in den USA angedeutet. Über ihre Stärke, Berechtigung und Dauerhaftigkeit urteilen zwar Beobachter aus verschiedenen Lagern unterschiedlich, vor allem empfinden manche der älteren Wirtschaftshistoriker sie als unglücklich oder zumindest übertrieben8, doch wird ihre zentrale Bedeutung für die heutige Situation in der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte wohl kaum bestritten9. Sie soll daher zunächst genauer betrachtet werden. I. Die nationalökonomische (makro-ökonomische) Wirtschaftsgeschichte Die nationalökonomische Geschichtsbetrachtung ist selbstverständlich nicht gleichzusetzen mit marxistischen und anderen „materialistischen" Geschichtsauffassungen, nach denen das Ökonomische die „ultima causa" aller Geschichte ist — obwohl eine solche Weltanschauung natürlich bei einzelnen Vertretern dieser Richtung vorhanden sein kann —, sondern sie wird konstituiert durch das Vorherrschen des Interesses an der systematischen Analyse des Wirtschaftsprozesses in der Zeit und durch die Anwendung von Werkzeugen der modernen Wirtschaftswissenschaft bei dieser Analyse. Fragestellung und Arbeitsweise stammen aus der Welt der Ökonomik, nicht der Historie. Die historische Umwelt wird vernachlässigt zugunsten einer scharfen Herausarbeitung der Ökonomischen Logik. Der Ablaufmechanismus des Wirtschaftsprozesses soll möglichst modellgetreu zutage treten, alle nicht erklär- oder meßbaren Umweltsfaktoren werden daher als „störend" beiseite gelassen. Es geht nicht um die Totalität des konkreten Verlaufs der Geschichte, sondern um das Herausfinden der Eigenart und Arbeitsweise einzelner isolierter Faktoren. Daher wird wie in der ökonomischen Theorie von endogenen und exogenen Faktoren, von unabhängigen und abhängigen Variablen, von notwendigen und genügenden Bedingungen gesprochen. Welche Faktoren als endogen, welche Variablen als abhängig, welche Bedingungen als notwendig anzusprechen sind, wird weniger von dem tatsächlichen historischen Prozeß als von der Erkenntnisabsicht des Beobachters bestimmt. Für eine Untersuchung der Bevölkerungsbewegung werden z. Β. andere Faktoren ausgesucht als für die Bestimmungsgründe der Kapitalakkumulation, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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für eine Analyse des technischen Fortschritts andere als für die Frage nach den Bewegungen in der Zahlungsbilanz. Da, sofern es sich nicht um gedankliche Modelle, sondern um tatsächliche Prozesse handelt, nach wirtschaftlichen Größen gefragt wird, deren Verhalten zu erklären ist, beruht eine Hauptaufgabe der nationalökonomischen Wirtschaftsgeschichte in der Quantifizierung, und sie wird von der traditionellen Betrachtungsweise als der „qualitativen" auch hauptsächlich durch dieses Merkmal unterschieden — je nach dem Standpunkt des Betrachters entweder mit einem positiven oder negativen Akzent. Das ist zwar nicht ganz korrekt, denn an sich ist auch eine rein qualitative, den „Mechanismus" des Geschehens ohne Rücksicht auf seine Größenordnung herausarbeitende Erklärungsweise möglich, da sie aber mit ihren willkürlichen Annahmen weitgehend im geschichtslosen Raum operieren müßte, wird ihr Erkenntniswert mit Recht nicht sehr hoch eingeschätzt. Immerhin ist den ökonomischen Wirtschaftshistorikern soviel an ursprünglichem Geschichtssinn eigen, daß sie wissen wollen, wie es (annähernd) wirklich gewesen ist, nicht nur, wie es hätte sein können, wenn gewisse Bedingungen wirklich existiert hätten. Daher ihre Betonung der Quantitäten. Nach ihrer eigenen Auffassung unterscheiden sie sich von den „traditionellen" Historikern hauptsächlich darin, daß sie sich ihrer Methoden bewußter sind und daß sie die Erklärungselemente, die implizit auch jeder „bloßen" Beschreibung innewohnen, explizit machen, damit auf „unerklärbare" Elemente verzichten, in der Gesamtinterpretation besdieidener sind, in der Erklärung einzelner Elemente und Vorgänge hingegen sehr viel exakter zu sein versuchen. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß das Wissenschaftsideal dieser Richtung an der klassischen Naturwissenschaft geformt ist oder richtiger, daß es das einer positivistischen, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisweisen der Natur- und Sozialwissenschaft nicht anerkennenden Erkenntnistheorie ist. Das Ziel einer solchen auf rationale Erklärbarkeit des Geschichtsprozesses zielenden Wissenschaft ist jedoch sehr viel schwerer erreicht als gestellt. Schon das Problem der Quantifizierung ist voller Tücken. Bleibt selbst für die gegenwärtigen Wirtschaftsprozesse, für die ein enormes Quantum an statistischen Informationen verschiedenster Art zur Verfügung steht, der Schritt vom Modell zur Wirklichkeit mit vielen Verzichten auf Eindeutigkeit und Genauigkeit verbunden, so bedeutet das Zurückgehen auch nur um hundert Jahre, daß entweder nur wenige Stränge des gesamtwirtschaftlichen Prozesses, z. B. das Bevölkerungswachstum oder die physische Produktion einzelner Industriezweige, zuverlässig genug verfolgt werden können, oder daß die Zahl der groben Schätzungen so vermehrt werden muß, daß man mit Recht fragen kann, ob die Fehlerquellen nicht untragbar werden, insbesondere wenn auf solchen groben Schätzungen weittragende Theorien des wirtschaftlichen Prozesses aufgebaut werden sollen. Man wird jedoch sagen können, daß die meisten der in den USA aktiv arbeitenden „quantitativen" Wirtschaftshistoriker sich dieser Gefahr bewußt sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Wie weit sie in ihren Schätzungen gehen, hängt weitgehend vom persönlichen Temperament, aber auch der Art der angewandten Methode ab, wobei man vergröbernd sagen kann, daß mit der zunehmenden Feinheit der statistischen und mathematischen Methoden auch die Unbekümmertheit um die Armut der zugrunde liegenden Fakten zu wachsen scheint. Jedenfalls gibt es hier viele Variationen und eine temperamentvolle Diskussion im Lager der aktiv Arbeitenden selbst10. Praktisch handelt es sich bei dem größten Teil dieser Arbeiten um die Rekonstruktion von makroökonomischen Größen über eine möglichst lange Zeitspanne und, noch selten versucht, um die Re-Interpretation der Wirtschaftsgeschichte auf Grund der so gewonnenen Daten und Funktionszusammenhänge. Das Hauptfeld der Untersuchung ist die amerikanische Ökonomie des 19. Jahrhunderts11, einzelne Arbeiten sind jedoch auch der britischen Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert gewidmet worden12, und neuerdings nimmt das Bestreben, möglichst viele Länder gleichartig und schließlich vergleichend zu behandeln, unverkennbar zu13. Die meisten dieser Arbeiten sind als „vorläufige Bausteine" zu betrachten. Sie tragen Material zusammen und suchen es methodisch abzusichern. Soweit es sich um Schätzungen handelt, ist viel Raum der Diskussion und Begründung der angewandten Techniken gewidmet. Von der herkömmlichen Geschichtsschreibung, sei es einer mehr erzählenden, sei es einer mehr analysierenden, jedenfalls aber einen Gesamtprozeß darstellenden, ist wenig übriggeblieben, bzw. es führt ein weiter Weg von der Erarbeitung solcher Bausteine bis zur Errichtung eines ganzen Gebäudes. Um so wichtiger ist es, ein solches Gebäude zu untersuchen, wo es zu errichten versucht wurde. Das anspruchsvollste und am meisten diskutierte Werk dieser Art ist Douglass C. North' amerikanische Wirtschaftsgeschichte von 1790 bis 186014. Schon der Titel zeigt, daß es nicht Wirtschaftsgeschichte im herkömmlichen Sinn, sondern eine Analyse des ökonomischen Wachstumsprozesses bieten will. Ausdrücklich stellt es den Anspruch, ein theoretisches Gerüst für diesen Prozeß gefunden und angewandt zu haben. Dieses Gerüst nun ist überraschend traditionell. Es ist der klassische Fall einer Marktwinschaft mit annähernd vollkommenem Wettbewerb, jedenfalls noch ohne wesentlich monopoloide Machtverhältnisse und damit undurchschaubar für den einzelnen Wettbewerber. Jedoch ist diese Marktwirtschaft erst im Werden, eine noch lose Verbindung von drei fast selbständigen Marktwirtschaften: der — bereits hinreichend diversen — des amerikanischen Nordostens, der einseitig auf einen Exportartikel, die Baumwolle, abgestellten stark klassenunterscheidenden Wirtschaft des Südens und der sich aus einer Subsistenz- zu einer Marktwirtschaft entwickelnden des wachsenden Westen. Alle drei sind Bestandteil eines größeren atlantischen Marktes, in dem England sowohl als Händler und Financier wie als industrieller Produzent und technischer Neuerer wie als Kriegführer und damit die wirtschaftlichen Daten verändernder Faktor die entscheidende Rolle spielt. Indem die amerikanische Volkswirtschaft mit ihm und gegen es mit dem übrigen Europa in wirtschaftlichen Austausch tritt, indem sie auf die von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ihm ausgehenden Datenänderungen aktiv reagiert, gerät sie selbst in den Prozeß des wirtschaftlichen Wachstums, der wesentlich von dem Außenhandel als dem „strategischen Sektor" ausgeht und in Gang gehalten wird. Wie dieser Außenhandel auch zwischen den drei amerikanischen Marktwirtschaften selbst als strategischer Faktor funktioniert — und zwar wesentlich zugunsten des Nordens, der seine wirtschaftliche Aktivität intensiviert und differenziert, und zuungunsten des einseitigen Südens — ist vielleicht der interessanteste Teil von North's Konzept. Da die Daten für den Außenhandel in den USA wie in anderen Ländern relativ weit zurückreichen, gelingt es ihm, seine These weitgehend quantitativ zu stützen. Hier müssen aber auch die grundsätzlichen Zweifel einsetzen. Hat nicht die Verfügbarkeit von Daten den Verfasser dazu verführt, einen — bei gleidimäßigem Bekanntsein anderer makroökonomischer Großen — nicht zu erweisenden Funktionszusammenhang zu konstruieren? Ist die Tatsache, daß der Exportsektor der amerikanischen Wirtschaft nachweisbar gewachsen ist, sowohl absolut als relativ auch im Vergleich zu anderen Sektoren, schon ein Beweis, daß er auch die strategische Rolle gespielt hat, die North ihm zuweist? Wäre es nicht möglich, einen ganz ähnlichen Wachstumsprozeß mit Hilfe der ebenfalls zur Verfügung stehenden Größen des Bevölkerungswachstums zu konstruieren, bei dem dieser dann die gleiche strategische Rolle übernehmen könnte? Oder wäre es nicht denkbar, um einen anderen treibenden Faktor der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte zu nennen, daß der technische Fortschritt diese strategische Rolle gespielt hätte, der nur quantitativ nicht so genau zu messen ist wie der Export und Import von Waren und Kapital15? Hier berühren wir eine Kernfrage des Verhältnisses von Wirtschaftstheorie und -geschichte, an der alle Bemühungen nationalökonomischer Wirtschaftsgeschichte zu messen sind, nämlich die Tatsache, daß ein logisch konsistentes Modell, das für die theoretische Analyse ausreicht, noch nichts Endgültiges über den tatsächlichen Wirtschaftsprozeß aussagt, weil dieser notwendigerweise viel komplizierter als das beste Modell ist. Der Theoretiker wird hier einwerfen, daß auch das physikalische Modell kein getreues Abbild der Natur ist. Ob es hinreichend getreu ist, ob es vor allem den Funktionszusammenhang richtig wiedergibt, kann jedoch experimentell nachgewiesen oder zumindest statistisch hinreichend wahrscheinlich gemacht werden. Die Sozialwissenschaften, auch wenn ihr Gegenstand den gleichen logischen Gesetzen unterliegen sollte wie die Natur, haben die Möglichkeit des Laboratoriumsexperiments jedoch nicht16. Das bedeutet, daß ein theoretisches Konzept nur auf seine logische Konsistenz nachgeprüft werden kann. Ob der Funktionszusammenhang der Gesamtwirtschaft jedoch wirklich der ist, den es annimmt, kann nur dann hinreichend schlüssig gemacht werden, wenn genügend gesamtwirtschaftliche Daten vorliegen, um Alternativen „durchzuspielen". Für unseren Fall heißt das, daß man bei gleichen Grundannahmen anderen Sektoren die strategische Stellung zuweisen müßte, die North dem Außenhandel gegeben hat. Solange dies nicht geschehen ist17, bleibt seine Argumentation ohne letzte Überzeugungskraft, ja man kann sogar sagen, daß er einem Zirkelschluß erlegen ist: er nahm an, daß © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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der Exportsektor die strategische Rolle in der amerikanischen Marktwirtschaft vor dem Bürgerkrieg gespielt hat, und, da andere Annahmen entweder nicht möglich waren oder nicht gemacht wurden, blieb keine andere Wahl, als nach dem benutzten Material die Annahme als bewiesen anzunehmen. Damit erhebt sich allerdings die Frage, was diese „neue" Wirtschaftsgeschichte der „traditionellen" eigentlich voraushat, wenn es ihr nicht gelingt, den Funktionszusammenhang des Wirtschaftsprozesses zweifelsfrei zu klären? Hat der Wirtschaftshistoriker, auch wenn er nicht als Geschichtsphilosoph auftrat wie Marx, Sombart oder Lamprecht, nicht immer beabsichtigt, einen historischen Prozeß zu erklären, zu deuten, zu interpretieren? Sind es nicht immer die wesentlichen, die treibenden Kräfte, die er bloßlegen will, auch wenn er ihren Funktionszusammenhang im einzelnen nicht erklären kann? Was hat denn besonders die ältere historische Schule in Deutschland bis hin zu Bücher anderes versucht als rationale Kategorien zu finden, mit deren Hilfe das Ganze des wirtschaftlichen Prozesses über Jahrhunderte hin zu erklären sei? In der Tat scheint mir der Gewinn, den eine bewußt nationalökonomische Wirtschaftsgeschichte unserer Erkenntnis von den wirtschaftlichen Vorgängen der Vergangenheit bringen kann, nicht so groß zu sein, wie einige unter ihren Enthusiasten annehmen. Beschränkten wir uns nur auf sie und ihre Möglichkeiten, so wäre vielleicht der Verlust an deutbarer und verstehbarer Geschichte größer als der Gewinn an Erklärbarkeit, den wir für einige Teilprozesse erzielen. Trotzdem ist sie, soweit sie die Grenzen der rationalen und quantitativen Analyse erkennt, von großem Nutzen, gerade weil sie Teilprozesse in ihrem Funktionieren erklären, weil sie, als Kärrnerarbeit verstanden, unser Faktenwissen enorm verbreitern kann, und weil sie, als Mittel der Interpretation benutzt, uns eine Fülle von Möglichkeiten zur Verfügung stellt, das Ganze des komplizierten Wirtschaftsprozesses in seinen wesentlichen Faktoren und bewirkenden Mechanismen klarer zu machen als das einer „bloß" historischen Detailschilderung je gelingen kann. Ein eindrucksvoller Beweis für den Wert der Aufarbeitung aller vorhandenen Daten mit modernen statistischen Methoden für die Erklärung des Wirtschaftsprozesses scheint mir die Auffindung der sogenannten „langen Schwingungen", der nach einem ihrer ersten Entdecker und verdienstvollsten Interpreten auch „Kuznetszyklen" genannten, ca. zwanzigjährigen Auf- und Abschwünge des volkswirtschaftlichen Wachstumsprozesses18. Wahrscheinlich durch die Anlaufsperiode langfristig wirksamer Investitionen, wie Eisenbahn- und Kanalbauten, Elektrizitätsanlagen und Kohlengruben bedingt, überdecken sie die kurzfristigen Konjunkturzyklen und sind am deutlichsten im Baugewerbe selbst erkennbar, ohne sich jedoch auf es zu beschränken19. Ihre chronologische Festlegung und Interpretation ermöglicht es, den Prozeß wirtschaftlichen Wachstums im Zeitalter des industriellen „Kapitalismus" sehr viel besser zu verstehen, wenigstens für die Perioden, in denen keine überwältigenden exogenen Störungen den „normalen" Ablauf störten, d. h. konkret für die Zeit von 1815 bis 1914. Daß solche quantitative Forschung nicht die einzige für die Wirtschafts© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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geschichte relevante sein kann, liegt auf der Hand. Allein die Tatsache, daß sie für ganze „Nationalwirtschaften" nur selten über das 19. Jahrhundert zurückgeführt werden kann, daß sie, selbst wenn man sich auf kleinere Einheiten wie Territorien und Städte beschränkt, mit wenigen Ausnahmen nur für das neuere Europa und dessen koloniale Anhängsel mit einigem Erfolg betrieben werden kann, beweist, daß sie der Ergänzung durch andere, der herkömmlichen Geschichtswissenschaft näherstehende Methoden bedarf. Und auch die neuere und neueste Wirtschaftsgeschichte begäbe sich weitergehender Interpretationsmöglichkeiten, wollte sie sich darauf beschränken, Exerzierfeld ökonomischer Wachstumstheorien und statistischer Techniken zu sein. Jeder einsichtsvolle quantitative Wirtschaftshistoriker in den USA wird diesem Urteil zustimmen, aber er wird sofort hinzufügen, daß sich die Geschichtswissenschaft nichts vergibt, wenn sie sich neuere sozialwissenschaftliche Methoden und mathematisch-statistische Techniken aneignet, um zu erproben, was damit an zusätzlicher Erkenntnis gegenüber unserem bisherigen Wissen gewonnen werden kann20. Es bleibt die Frage, ob dies nicht eher die Aufgabe der angewandten Wirtschaftswissenschaft ist als die der Wirtschaftshistorie. Einer der Großen der Wirtschaftsgeschichte unseres Jahrhunderts, John H. Clapham, hat in der Tat schon vor dreißig Jahren diese Aufgabenteilung gemacht und beide Disziplinen als aufeinander angewiesen bestimmt21. Für die meisten europäischen Länder, selbst für England, dürfte das auch heute noch zutreffen. In den USA scheint jedoch der Einbruch der induktiven Ökonomen in die eigentliche Wirtschaftsgeschichte vollzogen und wird, wenn nicht alles täuscht, in nächster Zeit noch rapide Fortschritte machen. Ob Deutschland diese Entwicklung mitmachen soll, wird vermutlich in den nächsten Jahren heftig diskutiert werden22, ob es sie mitmachen kann, wird allerdings wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, genügend in modernen sozialwissenschaftlichen und statistischen Methoden trainierte Forscher für historische Arbeiten zu interessieren, und Forschungs- und Ausbildungsschwerpunkte zu bilden, in denen die für diese Arbeiten unumgängliche Zusammenarbeit und ständige Diskussion gedeihen kann. Das ideale Ziel, daß beide Arbeitsweisen, die „quantitative" und die „qualitative", und beide Interessenschwerpunkte, der ökonomische und der historische, sich in einer Person vereinen, wird nur selten zu erreichen sein und ist auch in den USA eine seltene Ausnahme. Der Weg, den einige führende amerikanische Universitäten beschritten haben, zwei oder mehrere Wirtschaftshistoriker verschiedener Richtung und meist verschiedenen „Departments" angehörig, in gemeinsamen Forschungs- und Ausbildungszentren zusammenzuschließen, ist vermutlich der einzig praktikable und wird daher auch für Deutschland beschritten werden müssen23. II. Die mikro-ökonomische Wirtschaftsgeschichte, besonders „Business History" Der Einbruch der Nationalökonomie als Makroökonomik ist nur ein Aspekt der heutigen amerikanischen Wirtschaftsgeschichte. Ein anderer ist der Auf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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schwung der „Business History". Die „Business History", ein ins Deutsche kaum übersetzbarer Terminus, ist die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Geschäftslebens, oder genauer gesagt, die Kunde von der Rolle von „Business" in Gesellschaft und Wirtschaft. Man kann sie daher auch im weiteren Sinn als mikroökonomische Wirtschaftsgeschichte ansprechen. Sie entspricht in gewisser Weise der „Labor History", einer ebenfalls in dieser Kürze nicht ins Deutsche zu übersetzenden Bezeichnung für eine traditionellere Branche der allgemeinen Sozialund Wirtschaftsgeschichte. „Business History", obwohl in ihren Ursprüngen, wie Fritz Redlich mehrfach nachgewiesen hat, wesentlich auf der Arbeit deutscher Gelehrter wie Richard Ehrenberg fußend24, ist eine eminent amerikanische Erscheinung. Sie ist verknüpft mit der besonderen Rolle, die „Business" im amerikanischen Gesellschafts- und Geistesleben seit langem spielt, und nicht minder wichtig mit der Institution der „Business Schools" an vielen amerikanischen Universitäten25. Ist die quantitative Wirtschaftsgeschichte die Wirtschaftsgeschichte der Volkswirte, so ist — überspitzt gesagt — die „Business History" die der Betriebswirte. In Deutschland scheint es nötig, zwei Mißverständnisse, denen die „Business History" immer wieder begegnet, sogleich abzuwehren: 1. handelt es sich keineswegs um eine unseriöse, tendenziöse, wissenschaftlich nicht ernst zu nehmende Disziplin, und 2. ist sie mit der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, trotz ihrer zunehmenden institutionellen und personellen Verselbständigung mit vielen Fäden verknüpft, ja die führenden „Business"-Historiker sind teilweise nicht einmal in den Business-Schools tätig, sondern in den historischen und nationalökonomischen Departments. Von den quantitativen oder ökonomischen Wirtschaftshistorikern unterscheiden sie sich vor allem dadurch, daß sie den Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung nicht so sehr in gesamtwirtschaftlichen Funktionen als in einzelwirtschaftlichen Entscheidungen sehen, die es in ihren Motivationen, ihren soziologischen und sozialpsychologischen Voraussetzungen zu erklären gilt. Daraus geht schon hervor, daß „Business History" nicht einfach mit der in Deutschland und Frankreich üblichen Bezeichnung „Firmen- und Unternehmergeschichte" (Histoire des entreprises et des entrepreneurs) identisch ist. Sie schließt diese vielmehr ein, ohne sich auf sie zu beschränken. Historisch ist sie zwar vielfach aus dem Interesse an der Firmengeschichte und Unternehmergeschichte entstanden, und ein großer Teil der heute führend in der „Business History" Tätigen war früher mit dem „Research Center in Entrepreneurial History" in Harvard verknüpft (z. B. Arthur H. Cole, Fritz Redlich, und, um einen Jüngeren zu nennen, Hugh Aitken). Auch bestand eine Zeitlang so etwas wie eine Konkurrenz zwischen den „Business Historians", die sich mehr der institutionellen Seite des Geschäftslebens zuwandten, und den „Entrepreneurial Historians", die die menschlichen Kräfte im Geschäftsleben zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machten, inzwischen ist aber allgemein anerkannt, daß sich beide Aspekte ergänzen müssen und daß die Disziplin sinnvoll nur arbeiten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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kann, wenn sie zu einer echten Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Geschäftslebens selbst, nicht nur seiner einzelnen Glieder, wird26. Ein Kennzeichen dafür ist, daß sie außer den noch immer im Vergleich zu Deutschland sehr viel zahlreicheren wissenschaftlichen Firmengeschichten und Unternehmerbiographien mehr und mehr die Darstellung ganzer Industriezweige, vor allem der Erdölindustrie27, unternimmt, daß sie andererseits die Wandlungen wichtiger Funktionen im Unternehmensbereich z. Β. des Manage­ ments und der Betriebsorganisation untersucht28 und daß sie sich stärker der Frage nach der Bedeutung des Geschäftslebens für die soziale Welt und des Einflusses dieser Umwelt auf das Geschäftsleben zuwendet29. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so werden in Zukunft auch auf die „Business History" zwei Merkmale zutreffen, die für die allgemeine amerikanische Wirtschaftsgeschichte gelten, nämlich daß sie mehr und mehr zur „exakten" quantitativen und analysierenden Arbeitsweise übergehen und daß sie vergleichende Studien aufnehmen wird30. Die Frage, ob auch in Deutschland in absehbarer Zeit eine ähnliche Entfaltung der „Business History" eintreten wird, muß wohl verneint werden. Dazu fehlen schon die institutionellen Voraussetzungen, da, mit nur noch einer Ausnahme, selbständige Ausbildungsstätten für „Geschäftsleute" nicht mehr bestehen, sondern volks- und betriebswirtschaftliche Ausbildung so zusammengelegt worden sind, daß sich die Vorherrschaft der gesamtwirtschaftlichen vor den einzelwirtschaftlichen Gesichtspunkten für die dort lehrenden Historiker von allein ergibt. Zwar wird es angeraten sein, mehr noch als bisher die Fragestellung der Business History in Forschung und Lehre aufzunehmen, doch erscheint es schon wegen der geringen Zahl der überhaupt auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aktiv Arbeitenden unwahrscheinlich, daß eine größere Anzahl von Gelehrten ihren Schwerpunkt auf dieses Arbeitsgebiet verlegen kann. Das ist jedoch nur auf den ersten Blick ein Gewinn. Wie schon erwähnt ist auch in den USA die Verselbständigung der Business History nicht soweit gegangen, daß sie keine Verbindung mehr mit der allgemeinen Geschichte oder der nationalökonomischen Wirtschaftsgeschichte hätte. Im Gegenteil: viele der bedeutendsten Arbeiten werden auch dort von den allgemeinen Wirtschaftshistorikern unternommen. Doch gestattet es die noch immer wachsende Zahl von Professuren für „Business History", daß sich doch eine ansehnliche Zahl von Fachleuten auf diesen Aspekt der Wirtschafts- und Sozialgeschichte konzentriert. Eine sehr erfreuliche Folge davon ist, daß ein beträchtlicher Teil auch der „im Auftrag" geschriebenen Firmen- oder Verbandsgeschichten von Gelehrten verfaßt ist und wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, während das in Deutschland immer noch ein verschwindender Prozentsatz ist. Der Gewinn auch für die allgemeine Wirtschaftsgeschichte liegt auf der Hand. Vor allem aber begibt sich die Wirtschaftsgeschichte eines ihrer wichtigsten Aspekte, wenn sie versäumt, eben dasjenige zu tun, was sich die amerikanische „Business History" heute zum Ziel gesetzt hat: „History of Business and Business in History"31 in ihrer Wechselwirkung zu studieren und ihre Rolle für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die moderne Welt mit Hilfe vergleichender und analytischer Methoden zu erforschen. III. Die „traditionelle" Wirtschaftsgeschichte Über der Betonung neuer Entwicklungen in der Wirtschaftsgeschichte in den USA sollte nicht vergessen werden, daß die „alte", „traditionelle" Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Historiker nicht verloren gegangen ist, sondern daß sie kräftig blüht und in der Tat für einige der repräsentativsten zusammenfassenden Darstellungen der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte verantwortlich zeichnet32. Sie herrscht noch immer in den meisten Universitäten und Colleges vor, zumindest in den Departments of History. In ihren Themata, Methoden, Ansprüchen und Ergebnissen besitzt sie eine große Variationsbreite. Allgemein mag auf sie zutreffen, was Thomas C. Cochran vor einigen Jahren feststellte, daß die Zahl der außerordentlichen Werke abgenommen, die Zahl der guten und soliden Gelehrtenarbeit dagegen unerhört gestiegen ist33. Ebenso richtig ist seine Feststellung, daß die Mehrzahl dieser Arbeiten von Gelehrten geschrieben wurde, die sich selbst nicht als Wirtschaftshistoriker, zumindest nicht hauptsächlich als Wirtschaftshistoriker bezeichnen würden. Das hängt mit der oft beobachteten Tatsache zusammen, daß die allgemeine Geschichte in den angelsächsischen Ländern (und auch in Frankreich) sehr viel stärker sozial- und wirtschaftsgeschichtlich orientiert ist als in Deutschland. Gewiß gibt es auch in Amerika die politische Ideengeschichte — und sie hat, nicht zuletzt infolge der Immigration aus Deutschland in den letzten Jahren stark gewonnen —, die politische Institutions- und Verfassungsgeschichte und die diplomatische Historie, und doch besteht die Behauptung zu Recht, daß der „allgemeine Historiker", d. h. derjenige Historiker, der sich der Gesamtdarstellung einer Zeit in Lehre oder Forschung zuwendet, den sozialen und wirtschaftlichen Aspekten weit größere Aufmerksamkeit schenkt als das in Deutschland zumindest bis vor wenigen Jahren üblich war. Am deutlichsten ist das für die frühen Perioden der amerikanischen Geschichte selbst. Hier liegen die Gründe auch offen zutage. Das koloniale Amerika und auch die USA im 19. Jahrhundert spielen keine große Rolle im „Konzert der Mächte". Amerika ist viel weniger Staat als Gesellschaft. Amerikanische Geschichte bedeutet für viele Jahrzehnte vor allem Besiedlung und Erschließung, Formierung von Wirtschaft, Gesellschaft und selbstverständlich auch der Politik. So faszinierend gewiß diese politische Formation einer neuen Nation ist — und lehrreich zudem in einem Zeitalter, in dem neue Nationen jedes Jahr entstehen — noch faszinierender ist ohne Zweifel das Epos von Einwanderung, Besitzergreifung, Selbstbehauptung und innerem Aufbau dieser Nation. Wer Zweifel daran hat, daß die Sozialgeschichte aller politischen Geschichte zugrunde liegt, daß ohne sie auch die Politik eines Landes unverständlich bleibt, wird sie beim Studium der amerikanischen Geschichte sicherlich ver4 Fischer, Wirtschaft

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lieren. Das erklärt jedoch weitgehend, warum nicht nur die Darstellung der amerikanischen Geschichte selbst, sondern auch die Sicht amerikanischer Historiker überhaupt so viel stärker wirtschafts- und sozialhistorisch orientiert ist wie die kontinentaleuropäische, wo die „Haupt- und Staatsaktionen" über Jahrhunderte hinweg den eigentlichen Inhalt aller Geschichte auszumachen schienen. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, die wichtigsten Ergebnisse der Geschichtswissenschaft dieses großen Kontinents im Hinblick auf die Wirtschaftsund Sozialgeschichte sowohl des eigenen Landes wie anderer Kontinente ausreichend würdigen zu wollen. Es mag daher genügen, auf einige Merkmale aufmerksam zu machen, in denen sie sich meines Erachtens von der deutschen unterscheidet. Außer der genannten stärkeren Durchdringung der allgemeinen Geschichte mit wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten34 ist es vor allem die Abschaffung des europazentrischen Geschichtsbildes. Diese zwar auch in Europa längst als Forderung erhobene, jedoch noch kaum verwirklichte Neuorientierung der Geschichte ist in den USA schon deshalb weiter fortgeschritten, weil die sehr viel stärkere Spezialisierung auch die Berücksichtigung der nichteuropäischen Kontinente durch volle Arbeitskräfte gestattet. Das scheint mir jedoch nur die Folge des grundsätzlich weiteren Horizontes zu sein, den die amerikanische Geschichtswissenschaft besitzt. Die amerikanische Geschichte kann selbst zwar bis zu einem gewissen Grade ebenso wie die kanadische, australische oder neuseeländische als eine Fortsetzung der europäischen auf anderen Kontinenten betrachtet werden. Aber sie ist eben doch nicht mehr die europäische selbst und der Weg von ihr zu einer asiatischen und afrikanischen ist kürzer und leichter als der von Europa, besonders seinen nichtkolonialen Ländern. Zu dieser sozusagen „natürlichen" Voraussetzung kommt jedoch noch die geistige eines bewußt weltweiten Blicks. Das an Paradoxen gewiß reiche Land besitzt auch dasjenige, daß Isolationismus und Weltweite nahe beieinander wohnen. Indem der Isolationismus eher ein bewußter Nicht-Europäismus ist als ein „Kantönligeist", ermöglicht er die Öffnung zur nichteuropäischen Welt35. Tendiert schon die europäische Geschichte in amerikanischen Augen eher zu einer „History of Western Civilization" denn zu einer Geschichte des europäischen Gleichgewichts, so ist die „Weltgeschichte" einer eigentlich globalen Geschichte viel näher als in Europa, wo sie eben noch immer vorwiegend entweder den Gang des „Weltgeistes" von den alten orientalischen Kulturen über die klassische Antike zum christlichen Abendland bezeichnet, wie er in Hegels Philosophie der Geschichte seinen klassischen Ausdruck fand, oder eine Geschichte der „romanisch-germanischen Völker", für die Ranke nicht nur für Deutschland den Markstein gesetzt hat. Es wäre verhängnisvoll, wollten wir den Grund für diesen weiteren Horizont und die bessere Versorgung der amerikanischen Universitäten mit Fachleuten für nichteuropäische Geschichte nur in den größeren finanziellen Mitteln der amerikanischen Universitäten suchen. Es gibt Beweise genug, daß, in Deutschland zumindest, schon im 19. Jahrhundert zur Glanzzeit des Historis© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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mus gerade manche der bedeutendsten Fakultäten die Ausweitung der historischen Lehre auf nichteuropäische Staaten und Völker, die manche Ministerien und akademische Außenseiter durchaus anstrebten, verhindert haben36. In einer Zeit schneller Expansion der akademischen Institutionen in Deutschland erscheint es daher angebracht, auf die notwendige Wiedergutmachung von Versäumnissen hinzuweisen, die zum Teil über hundert Jahre alt sind. Es würde zu weit führen, hier die Gründe für diese Versäumnisse eingehend zu diskutieren. Sie sind sowohl wissenschaftstheoretischer wie konkret politischer Natur. Zusammen mit der Gegenbewegung gegen den Rationalismus und Pragmatismus der Staatslehre und Historie des 18. Jahrhunderts, die durchaus universalistisch angelegt waren, und in Abwehr gegen den gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Westen eindringenden Positivismus haben die in Deutschland vorherrschenden romantischen und idealistischen Geistesbewegungen eine Verengung des Horizonts eingeführt, der bis heute nachwirkt. Infolge ihres Bündnisses mit dem entstehenden nationalen und konservativen Kleindeutschland hat sich auch das politische Bedürfnis für ein über Europa hinausreichendes Geschichtsbild kaum ausbilden können, es sei denn in — ebenfalls wieder provinziellen — Kolonial-Träumen, über denen das für die deutsche Geschichte so verhängnisvolle „zu spät" stand37. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte hat sich diesem Verengungsprozeß der politischen Historie zwar nie voll angeschlossen, aber ganz freizuhalten vermochte doch auch sie sich nicht. Heute scheint sie einen besonders guten Ansatzpunkt zu bieten, ihn vollends zu überwinden. Die großen Themen der modernen Wirtschaftsgeschichte, die Industrialisierung, das wirtschaftliche Wachstum und der damit verbundene soziale Strukturwandel sind wahrhaft universale Themen. Sie verlangen nach weltweiter und vergleichender Behandlung. Wenn die deutsche wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung den Anschluß an die führenden Länder gewinnen will, die heute ohne Zweifel England und die USA sind, so wird sie darin ein wichtiges Arbeitsfeld finden, für das sie überdies mindestens in einer Hinsicht hervorragende Voraussetzungen mitbringt. Ein Vorzug, den sie mir nämlich zusammen mit der französischen vor der angelsächsischen Wissenschaft aufzuweisen scheint, ist ihre nun schon eine gute Tradition besitzende Beschäftigung mit den Problemen der Sozial- und Wirtschaftsverfassung und der Bedeutung, die diese für den Ablauf des Sozial- und Wirtschaftsprozesses haben. Seit den epochemachenden Arbeiten Otto Hintzes und Otto Brunners in Deutschland und Marc Blochs und der Schule der Annales in Frankreich ist auf die Darstellung und Analyse der spezifischen alteuropäischen Sozialstrukturen viel Arbeit verwendet worden. Der Umbruch zur modernen Welt ist als eine entscheidende Zäsur der Weltgeschichte erkannt, seine Voraussetzungen und Folgen sind vielfach untersucht worden. Die Merkmale sowohl der modernen Industriegesellschaft wie der traditionellen Agrargesellschaften — um dieses ganz grobe und schematische Gegensatzpaar zu nennen — können von daher sehr viel besser herausgearbeitet werden als es die von sehr viel unkomplizierteren Verhältnissen ausgehende und mit einem massiven ratio© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nalen Vorurteil belastete angelsächsische Sozialwissenschaft mit den Mitteln der quantitativen Forschung zu leisten vermag. Hier könnte daher ein wesentlicher Beitrag der kontinentaleuropäischen Wissenschaft liegen, die ihren besten Traditionen treu bleibt. Wir sollten uns jedoch nicht täuschen in der Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit, mit der sich die amerikanischen Sozialwissenschaftler in den letzten Jahren in die besonderen historischen Voraussetzungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in vielen Teilen der Welt eingearbeitet haben. Der ungeheure Aufschwung, den diese Studien durch das Interesse an dem Problem des wirtschaftlichen Wachstums und des sozialen Wandels gehabt haben, der Einsatz großer Mittel durch Regierung, Universitäten und Stiftungen, die Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit, die Nutzung eines großen Reservoirs immigrierter Gelehrter mit unterschiedlichem geistigem Hintergrund und diversen Sprachkenntnissen hat zu einer solchen Ausweitung des geistigen Horizontes, des Themenkreises und der Methoden der Forschung auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und seinen Nachbarfächern — Ökonomie, Soziologie, Ethnologie, Psychologie — geführt, daß jeder etwa noch vorhandene Vorsprung kontinentaleuropäischer Gelehrsamkeit schnell dahinschwinden kann. Schon haben auf einem von der einheimischen Wissenschaft wahrlich nicht vernachlässigten Gebiet, der neueren französischen Wirtschaftsgeschichte, amerikanische Gelehrte Pionierarbeit geleistet und neue Wege gewiesen, die auch zur Auffindung neuer Quellen, z. B. Bankarchive, für die deutsche Wirtschaftsgeschichte geführt haben38. Der Vergleich der westeuropäischen Volkswirtschaften im 19. und 20. Jahrhundert und die Herausarbeitung der spezifischen Unterschiede ihrer Entwicklungsfaktoren ist in Europa nirgends so gründlich bearbeitet worden wie in den USA39. Auch die neuere Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, obwohl gegenüber der Englands und Frankreichs offensichtlich vernachlässigt, zieht eine zunehmende Zahl jüngerer Gelehrter an40. Vor allem aber arbeiten zahlreiche Forscher auf Gebieten, für die wir in Deutschland nur wenige oder gar keine Spezialisten besitzen: Italien, Rußland, Japan, China41. Der vergleichenden empirischen Sozialwissenschaft, in der die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte neben Ökonomie, Soziologie, Ethnologie und Psychologie zwar noch in der Rolle einer Hilfswissenschaft erscheint, sind eine Reihe von Instituten, Forschungszentren, Arbeitskreisen und Zeitschriften gewidmet, deren Bedeutung für Forschung und Lehre der Winschaftsgeschichte im letzten Teil dieses Aufsatzes noch kurz beleuchtet werden soll. IV. Institutionen für Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte Noch weniger als die vorangegangenen Bemerkungen über den Stand der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung in den USA und erkennbare Trends in ihrer Entwicklung können diese Bemerkungen über die der Forschung und Lehre dienenden Institutionen Anspruch auf Vollständigkeit machen42. Sie sol© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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len lediglich einige Hinweise geben, wo und auf welche Weise sich besondere Schwerpunkte abheben und wie die aus der eigentümlichen Grenzstellung des Faches sich ergebenden Probleme angegangen werden. Wie in der Methodik, so zeigt sich auch in der Lehre der Wirtschafts- (weniger der Sozial-)geschichte ein Dualismus von ökonomischem und historischem Denken. Während die Mehrzahl der spezifisch wirtschaftsgeschichtlichen Vorlesungen wahrscheinlich in den „Departments of History" und somit vorwiegend von Historikern und für Historiker gehalten wird, während jedenfalls die Masse des wirtschaftsgeschichtlichen Stoffes in den allgemeinen Kursen der Historiker dargeboten wird, ist zumindest in den großen und führenden Universitäten eine Neigung vorhanden, den Schwerpunkt von Lehre und Forschung der Wirtschaftsgeschichte in die „Departments of Economics" zu verlegen, deren Veranstaltungen zwar teilweise von Historikern, meist jedoch von Ökonomen und jedenfalls hauptsächlich für Ökonomen gehalten werden43. Außerdem gibt es hier eine Reihe von Unterrichtsgegenständen, die enge Verwandtschaft zur Wirtschaftsgeschichte haben, und zwar nicht nur die historischen Veranstaltungen von Spezialisten in „Labor Economics", „Agricultural Economics" etc., von denen einige regelmäßig Geschichte der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewegung, Agrargeschichte etc. lehren, sondern vor allem Kurse wie „Economic Development" oder „Comparative Economic Systems". In den größeren Universitäten zeigt sich dabei eine Arbeitsteilung zumindest zwischen europäischer und amerikanischer Wirtschaftsgeschichte, die in den ganz großen Universitäten noch viel weiter ins einzelne geht44. Die Spezialisierung ist jedoch nur eine Seite der Sache, die Zusammenarbeit die andere. Sie ist, das kann wohl verallgemeinert werden, zwischen Personen größer als zwischen Institutionen. Das heißt selbst dort, wo Wirtschaftshistoriker unabhängig voneinander an verschiedenen Departments oder sogar „Schools" (z. Β. den Business Schools) lehren und zum Teil fast genau dieselben Kurse für verschiedene Gruppen von Studenten halten, kann man im allgemeinen mit enger Kooperation besonders in Fragen der Forschung rechnen. An einigen führenden Plätzen ist diese Zusammenarbeit institutionalisiert, was entweder in der interdepartementalen Ernennung einzelner Professoren (so in Berkeley an der Universität von Kalifornien oder an der Universität von Wisconsin in Madison) zum Ausdruck kommt, oder in der Abhaltung gemeinsamer Kurse, dem planmäßigen Austausch von Studenten oder der Errichtung eines Ausbildungs- und Forschungszentrums. Am weitesten sind in dieser Richtung wohl die Universitäten von Wisconsin und Pennsylvania gegangen. Sie haben „Ph. D. Programs" in Wirtschaftsgeschichte ausgearbeitet, die bewußt darauf abzielen, die Antinomie von Ökonomie und Historie zu überwinden. Wegen ihrer Beispielhaftigkeit sollen sie hier eingehend dargestellt werden45. An beiden Universitäten wird dies Programm gemeinsam vom Department of Economics und dem Department of History getragen. Die leitende Idee ist, den von der Historie herkommenden Studenten soweit in Ökonomie und den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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von der Nationalökonomie herkommenden Studenten soweit in Geschidite auszubilden, daß beide — ohne ihre ursprünglichen Unterschiede und Interessen notwendigerweise zu verwischen — das für den Wirtschaftshistoriker notwendige Handwerkszeug beider Fächer erlernen. Das technische Mittel ist das „Kreditsystem", dem jeder amerikanische Doktorand ebenso unterliegt wie der Kandidat für einen Bachelor- oder Masters-Degree: er muß den mittels Prüfungen gemessenen erfolgreichen Besuch einer bestimmten Anzahl von Vorlesungen, Übungen und Seminaren aus bestimmten Fachgebieten nachweisen. Für die Promotion eines Wirtschaftshistorikers in Wisconsin sind 5 Semester von „graduate studies" vorgesehen, in denen er insgesamt 56 Kredite aus vier Feldern beizubringen hat: 15 in Wirtschaftsgeschichte, die in mittelalterliche und frühneuzeitliche, moderne (18.—20. Jh.) und amerikanische untergeteilt ist. 15 Kredite sind aus verwandten Gebieten zu erbringen, wobei der Student von sechs Fächern mindestens drei wählen muß: Sozialgeschichte, Arbeiter- oder Agrargeschichte, Geschichte der Wissenschaften oder Geistesgeschichte, beliebige andere historische Kurse, wirtschaftliche Entwicklung oder vergleichende Wirtschaftssysteme, Bevölkerungslehre oder historische Geographie oder Kulturanthropologie. Das dritte große Gebiet, aus dem 18 Kredite zu erbringen sind, besteht aus Wirtschaftstheorie und Statistik, einschließlich der Geschichte des Wirtschaftsdenkens. Studenten der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte können in 2 der 5 Semester statt Theorie Latein belegen, solche, die ihre Dissertationen auf dem Gebiet der Sozialgeschichte schreiben, für ebenfalls zwei Semester statt Wirtschaftstheorie Soziologie. Schließlich sind noch je ein Jahr ein allgemeines Methoden- und Quellenseminar und ein Spezialseminar aus dem Gebiet der Doktorarbeit zu belegen, für die es je vier Kredite gibt. Fin solches Programm mag dem» dem die deutsche Studienfreiheit lieb ist, als gegängelt erscheinen. Doch abgesehen davon, daß es nur Richtlinien gibt und genügend Spielraum für individuelle Unterschiede in der Vorbildung und den Interessen des Studenten läßt, scheint es mir den heilsamen Zwang zu zeigen, der unerläßlich ist, wo zwei in ihrem Ansatz und ihrem Anspruch an den Studenten so verschiedenartige Gebiete integriert werden müssen wie die strikte Wirtschaftstheorie und Statistik und das weite Feld empirischer Historie. An der University of Pennsylvania kann schon der Magister-Grad in Wirtschaftsgeschichte erworben werden. Hierzu ist eine Prüfung in amerikanischer und europäischer Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie nötig, eine schriftliche Arbeit (Master's thesis) ist nicht erforderlich. Von dem Minimum von 8 Kursen, die für den Magister-Grad belegt werden müssen, sollen 6 aus den Gebieten Wirtschaftsgeschichte und -theorie sein, doch sind Abweichungen von diesen Erfordernissen möglich. Für den Doktorgrad in Wirtschaftsgeschichte wird die Teilnahme an fünf historischen und sieben ökonomischen Kursen erwartet, darunter mindestens zwei verschiedenen historischen Seminaren. In der Nationalökonomie sollen neben allgemeiner und einer speziellen Wirtschaftstheorie vor allem Statistik, Dogmengeschichte und Kurse in „Comparative Economic Systems", „Economic Development" oder „Economics of Undeveloped © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Areas" belegt werden. Der Kern der Ausbildung ist auch hier ein wirtschaftshistorisches Seminar, das von Historikern und Ökonomen gemeinsam abgehalten wird und darauf abzielt, die beiderseitigen Methoden für die Erforschung wirtschaftshistorischer Probleme fruchtbar zu machen. Einen besonderen Akzent hat das Pennsylvania Programm in der Möglichkeit, die in dieser Universität ausgezeichnet vertretene historische Demographie in das Programm einzubeziehen. Auch für das Pennsylvania-Programm sollte im Auge behalten werden, was der Katalog der Universität den Studenten der Wirtschaftsgeschichte ans Herz legt: „The student is urged not to think of his program of studies primarily in terms of course requirements, but rather to attempt the mastery of a field of knowledge, and to gain proficiency in methods of research."46 Andere Universitäten haben zur Förderung ihrer wirtschaftshistorischen Doktoranden sogenannte „Workshops" oder „Research Centers" eingerichtet47. Sie stellen Arbeitsräume und -materialien und meist auch Forschungsstipendien zur Verfügung und sind zugleich der Kern des Seminars auf ihrem Fachgebiet. Aus ihnen geht besonders der Nachwuchs für die wissenschaftliche Forschung und Lehre hervor. Während der „Workshop" besonders für Doktoranden gedacht ist, die in ihm zugleich eine intime Diskussions- und Arbeitsgemeinschaft bilden, beherbergen die „Research Centers" hauptsächlich voll ausgebildete junge Gelehrte oder Professoren anderer Universitäten, die ein Urlaubsjahr mit Forschung an einer der großen Universitäten verbringen. Ihre Organisation ist meist sehr locker. Ihre wichtigste Funktion ist die Koordinierung und Finanzierung der individuellen Forschung und die Bildung einer regelmäßigen Diskussionsgruppe. Die „Research Centers" sind im allgemeinen nur auf begrenzte Zeit (5 bis 10 Jahre) geplante und von Stiftungen finanzierte Einrichtungen; einen Schritt weiter in der Institutionalisierung gehen dagegen die Institute, deren Grundausgaben meist von der Universität selbst getragen werden. Auch sie unterscheiden sich jedoch im allgemeinen von dem traditionellen deutschen Institut, da sie, wenigstens in den Sozialwissenschaften, meist nicht um einen Direktor gruppierte hierarchisch gegliederte Einheiten bilden, sondern aus einer Gruppe von Fakultätsmitgliedern bestehen, denen das Interesse an interdisziplinärer Forschung gemeinsam ist. In ihrer Organisation variieren sie stark. Gemeinsam mit dem Research Center ist ihnen jedoch, daß ihre Hauptaufgabe darin bestehe, den Fakultätsmitgliedern technische und finanzielle Hilfe für ihre individuellen Forschungen zu bieten. Entgegen einer in Europa weitverbreiteten Anschauung spielt nämlich das Teamwork in seiner strengen Form in den amerikanischen Sozialwissenschaften keine große Rolle. Selbst wo zwei oder mehrere Gelehrte an dem gleichen Projekt arbeiten, sind die individuellen Verantwortungsbereiche meist getrennt, und selbst ein so großes, mit Filialen in Übersee behaftetes Institut wie das „Institute for International Studies" am MIT legt großes Gewicht darauf, daß jeder Mitarbeiter einen eigenen Verantwortungsbereich bekommt und daß seine Forschungen, so sehr sie in vorläufigen „Papers" und Forschungsberichten in die Institutsarbeit integriert erscheinen, letzten Endes doch in einer Monographie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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resultieren, die den Namen des Verfassers trägt. Nur so, das ist die allgemeine Überzeugung, ist produktive wissenschaftliche Leistung möglich. Lediglich für vorbereitende wissenschaftliche Hilfsleistungen (Zusammenstellung von Bibliographien, empirische Erhebungen, statistische Auswertungen etc.) ist die Verwendung von Forschungsassistenten, die meist Graduate Students sind, üblich. Der Betonung der individuellen Verantwortung jedes, auch des jüngsten Forschers, steht jedoch die Bereitschaft zur Kooperation gegenüber, die sich in der gemeinsamen Planung und Ausführung von großen Forschungsprojekten, aber auch in der selbstverständlichen Übergabe der fertigen Manuskripte an Kollegen des eigenen und der Nachbarfächer zur Kontrolle und Kritik zeigt. Es erscheint in den USA wohl kein wissenschaftliches Buch, das vorher nicht von einer Reihe von Kritikern ausführlich kommentiert und vom Autor entsprechend verbessert worden ist. Zu veröffentlichende Aufsätze werden oft in Arbeitsgruppen zur Diskussion gestellt und danach umgeschrieben. Ebenso selten wie die anonyme Institutsarbeit ist so das Werk, das in völliger Einsamkeit entstanden ist. Vom vorläufigen Manuskript bis zur Druckreife vergehen oft Jahre der Diskussion und des Umschreibens. Team-Work, mit anderen Worten, ist wesentlich Kooperation von gleichberechtigten Individuen und Diskussion von Forschern verschiedener Sparten48. Die Wirtschaftsgeschichte gewinnt in diesen Forschungsgruppen besonders dadurch, daß sie ständig der Kritik der analytischen, systematischen und exakten Sozialwissenschaftler ausgesetzt ist. Das scheint mir ein wesentlicher Grund dafür zu sein, daß sie selbst im Durchschnitt so viel stärker analytisch vorgeht wie die deutsche oder französische. Obwohl es selbstverständlich auch in den USA den Ästheten gibt, dem Geschichte vor allem Darstellung ist, wird sie von den meisten Forschern doch, schon in den Doktorarbeiten, um ein „analytical framework" gebaut, und das Vorhandensein oder die Abwesenheit eines solchen entscheidet über die Aufnahme oder Abweisung eines Werkes besonders bei den benachbarten Sozialwissenschaften. Das gibt ihr die größere Strenge in Methode und Argumentation, aber auch die größere Enge bei der Auswahl der Gesichtspunkte. Der Hang zur monokausalen Erklärung bei vielen Arbeiten ist unverkennbar; die These, die es zu beweisen gilt, steht viel stärker im Mittelpunkt als die Ausbreitung des Materials. Neben den lokalen „Workshops", „Centers", „Groups" und „Institutes" gibt es eine Reihe von überregionalen und zentralen Institutionen, die die Forschung der Sozialwissenschaftler, auch der Wirtschaftsgeschichte anregen, fördern und manchmal leiten. Die umfassendsten und losesten sind die Zusammenschlüsse der Gelehrten eines Fachgebiets in Fachverbänden, wie sie auch die europäischen Länder kennen, die aber in den USA mehrere Aufgaben übernommen haben, die die deutschen Verbände im allgemeinen nicht ausüben. Die wichtigste davon ist die Herausgabe der führenden wissenschaftlichen Zeitschrift des Faches49. Dadurch, daß der oder die Herausgeber vom Vorstand der Verbände gewählt werden und die Vorstände selbst wiederum der Wahl unterliegen, in manchen Fällen auch ein häufiger Wechsel stattfindet, kommt die jeweilige „Politik" der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Mehrheit der Mitglieder in der Gestaltung der Zeitschrift eher zum Vorschein. Eine andere zusätzliche Aufgabe, die viele Verbände ausüben, ist die Ausschreibung von Themen für Preisarbeiten und die Verteilung von Preisen, worin ebenfalls eine gewisse Stimulierung des Interesses für bestimmte Arbeitsgebiete liegt. Selbstverständlich haben die meisten Verbände auch ständige Arbeitsgruppen, in denen sich die wissenschaftliche Arbeit des Verbandes kristallisiert. Darüber hinaus haben verschiedene zentrale Stellen bedeutenden Einfluß auf die Auswahl und Förderung bestimmter Arbeitsgebiete. Für die quantitative Wirtschaftsforschung ist das seit langen Jahren das „National Bureau of Economic Research" in New York, das trotz seines Namens keine öffentliche Anstalt, sondern eine private Stiftung ist, die von führenden Männern der Wirtschaftswissenschaft und der Wirtschaft des Landes beraten wird. Die Förderung gewisser Schwerpunkte der Wirtschaftsgeschichte ist außerdem vor allem dem „Social Science Research Council" und dem „Council on Research in Economic History" zu verdanken, das als „Committee on Research in Economic History" unter der Leitung von Arthur H. Cole ursprünglich eine Unterabteilung des „Social Science Research Council" war. Beide haben wesentlich bei der Herausgabe der „Historical Statistics of the United States" mitgewirkt, das alte „Committee" darüber hinaus manche Forschungsrichtung angeregt, z. Β. die erneute Untersuchung der Rolle des Staates für die wirtschaftliche Entwicklung Amerikas50 oder die Unternehmergeschichte, die ein Jahrzehnt lang ihren Mittelpunkt in dem von Arthur H. Cole geleiteten „Harvard Center in Research in Entrepreneurial History" fand51. Heute nimmt sich von den Abteilungen des „Social Science Research Council" besonders das „Committee on Economic Growth" der quantitativen Wirtschaftsgeschichtsforschung an. Kritischer wird von den Amerikanern selbst im allgemeinen der Einfluß der großen Stiftungen (Ford, Rockefeller, Carnegie, Guggenheim etc.) auf die Förderung einzelner Forschungsgebiete beurteilt, obwohl fast jeder zum einen oder anderen Zeitpunkt von diesen Stiftungen entscheidende Forschungs- oder Reisebeihilfen erhielt. Sie werden oft dafür verantwortlich gemacht, daß die amerikanische Sozialwissenschaft stärker als die europäische bestimmten „Moden" unterliegt, in den 1950 und frühen 1960er Jahren vor allem den Themen „Economic Development" bzw. „Economic Growth" und „Social Change" bzw. „Cultural Adjustment", seit den späteren 1960er Jahren mehr und mehr Themen, die um „Urban Renewal", „Race-Relations" oder „Environmental Protection" kreisen. In der Tat fällt bei der Betrachtung der Themen wie der Methoden und der Sprache auf, daß sich bestimmte „patterns" in Amerika offenbar stärker durchsetzen als in Europa und eine Zeitlang regieren. Die Stiftungen mit ihren großen Forschungsfonds, die sie verständlicherweise zum Teil lieber auf Schwerpunkte legen52 als wahllos überallhin zu vergeben, scheinen mir aber nur in sehr beschränktem Umfang die Ursache hierfür zu sein. Sie unterliegen vielmehr offenbar den gleichen „Moden" wie die Gelehrtenwelt und die Regierungsstellen und vermögen als Institutionen sie wohl zu verstärken und zu verlängern, nicht eigentlich aber zu schaffen. Abgesehen davon, daß sie sehr große Teile © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ihrer Mittel auf Anforderung von wissenschaftlichen Institutionen und individuellen Gelehrten vergeben, werden die zentralen Themen einer Zeit sicher nicht von ihnen gemacht, sondern viel eher von den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen, die eine Epoche stellt53. Daß die amerikanische Wissenschaft und ihre finanzkräftigen Förderer auf solche Probleme offenbar stärker eingehen als die europäische, scheint mir ein interessantes Phänomen. Es rührt offenbar daher, daß die amerikanischen Universitäten „lebensnäher" (vielleicht damit auch gefährdeter) sind als die europäischen, daß sie sich stärker der Praxis zuwenden und sich der Gesellschaft stärker verpflichtet fühlen, auch daß sie sich selbst sehr viel stärker als „Motoren des Fortschritts" verstehen als ihre europäischen Partner54. Gewiß gibt es auch konservative Institutionen unter ihnen, im ganzen gesehen ist aber die amerikanische Gelehrtenwelt weit eher als progressiv einzustufen und das nicht nur im Vergleich mit dem konservativeren Europa, sondern im Vergleich mit anderen großen Gruppen des Landes, z. B. der Industrie. Progressiv zu sein bedeutet aber, neue Themen aufnehmen, sie erproben und wieder fallen lassen, wenn andere, dringendere am Horizont erscheinen. Hier scheint mir die letzte Erklärung zu liegen, warum die amerikanische Sozialwissenschaft, auch die Wirtschaftsgeschichte, sehr viel stärker auf die Fragen der Zeit anspricht, sie en bloc ausdiskutiert und so kollektiven Moden unterliegt, die dem Außenseiter weniger Chancen lassen, gehört zu werden, die aber auch verhindern, daß die wissenschaftliche Diskussion aus unzusammenhängenden Monologen besteht und die Gelehrtenwelt aus einer Reihe großer Individuen, die sich geistreich mit sich selbst unterhalten. Indem die amerikanische Wissenschaft sehr wesentlich dialogisch orientiert ist, scheint sie mir eine der Grundvoraussetzungen aller Wissenschaftlichkeit seit Plato zu erfüllen. Das Fach der Wirtschaftsgeschichte, in ständiger Auseinandersetzung mit seinen großen Mutterfächern und zwischen seinen einzelnen Richtungen und Vertretern, ist ein lebendiges Beispiel dafür. Nachwort 1972: Kein anderer Aufsatz dieses Bandes erwies sich bei der Lektüre als so zeitgebunden, so überholungsbedürftig im Faktischen wie dieser Bericht, der die Situation in den frühen 1960er Jahren reflektiert. Um den ursprünglichen Charakter nicht zu verwischen, habe ich mich darauf beschränkt, einige überholte Fakten zu streichen und in den Anmerkungen einige neuere Entwicklungen nachzutragen, jedoch nicht den Versuch gemacht, den Stand zu Beginn der 1970er Jahre ausführlich zu diskutieren. Als Hauptergebnis wäre vermutlich festzuhalten, daß die amerikanischen Universitäten als Institutionen und die Sozialwissenschaften in ihrem Wissenschaftsverständnis die große Auseinandersetzung mit der studentischen Generation seit 1964 sehr viel unversehrter überstanden haben als die deutschen Universitäten. Weder die „Machtstruktur" noch die Wissenschaftsorganisation sind wesentlichen Veränderungen (etwa durch „Mitbestimmung" der Studenten und Angestellten) unterworfen worden. Der Marxismus als Weltanschauung mit dem Anspruch, die richtige sozialwissenschaftliche Theorie zu besitzen, und als politische Bewegung ist Randerscheinung geblieben. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Gegenüber dem fortschrittsfreudigen Optimismus der Kennedy-Ära herrscht jedoch zu Beginn der 1970er Jahre ein selbstkritischer Pessimismus vor und finanziell ist die Zeit schneller Expansion einem Stadium der Einsparungen gewichen, das Innovationen sicherlich erschwert. Auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte hat sich die „New Economic History" weiter durchgesetzt. Sie ist jedoch auch selbstkritischer geworden und einige ihrer führenden Vertreter fragen sich, ob sie nicht zu viele Energien in kleine, unwichtige Probleme investiert und die großen Themen, weil zu komplex, den „Traditionalisten" und den „Radikalen" überlassen haben.

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II. S T A A T U N D

WIRTSCHAFT

D a s V e r h ä l t n i s v o n S t a a t u n d Wirtschaft i n D e u t s c h l a n d a m B e g i n n d e r Industrialisierung Daß das Verhältnis von Staat und Wirtschaft heute zu den Kernproblemen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gehört, dürfte kaum zu bestreiten sein. Nicht ganz so unbezweifelt scheint mir die These zu sein, daß dieses Verhältnis nicht nur heute, sondern zu allen Zeiten, in denen man überhaupt von „Staat" und „Wirtschaft" sprechen kann, das Wirtschaftsleben entscheidend geprägt hat — ist doch die Auffassung noch immer nicht ausgestorben, daß im 19. Jahrhundert zumindest in England, Nordamerika und den führenden Staaten des europäischen Kontinents die Regierung sich auf die Rolle eines Nachtwächters zurückgezogen und die wirtschaftliche Entwicklung sich selbst überlassen habe. Im Vergleich sowohl zu den staatlichen Lenkungsmaßnahmen des 20. Jahrhunderts wie auch zu der voraufgehenden Epoche des Merkantilismus mit ihrer Präponderanz des staatlichen Willens erscheint das 19. Jahrhundert dann als das Zeitalter der freien Wirtschaft, als die Verwirklichung der liberalen Ökonomie, die seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts die herrschende in Westeuropa geworden war. Diese Auffassung zu überprüfen und auf ihren richtigen Kern zurückzuführen, soll die Aufgabe der folgenden Ausführungen sein. I Eine tiefer dringende Analyse von Staat und Wirtschaft müßte zunächst fragen, was unter diesem Begriffspaar zu verstehen sei. Beide Begriffe sind durchaus nicht so selbstverständlich, wie sie uns erscheinen mögen. Sie sind, worauf besonders Otto Brunner hingewiesen hat1, selbst Produkte der modernen Zeit, nämlich der sich im 17. und 18. Jahrhundert ausbildenden Staats- und Wirtschaftslehre. Die Staatstheoretiker der Neuzeit, die Merkantilisten und Kameralisten, die Physiokraten und liberalen Theoretiker haben gleichzeitig mit der Ausbildung der modernen Flächenstaaten und ihrem Wirtschaftskreislauf die Lehre vom Staat als einer eigenen, von Gesellschaft und Wirtschaft getrennten, den „Allgemeinen Willen" gleichsam rein verkörpernden Institution

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entwickelt, Gesellschaft und Wirtschaft aber als Gegenbegriffe dazu geprägt, die nun den staatsfreien Bereich verkörpern, in dem die Menschen sich unabhängig von der politischen Machtbildung und -ausübung assoziieren und dissoziieren. Noch bis ins 17. Jahrhundert galten die älteren, in Griechenland geprägten Begriffe der „Politik" als der Lehre von der Gesamtheit aller menschlichen Lebensäußerungen im öffentlichen Raum, also als gemeinsame Grundlage von Staats-, Gesellschafts- und Volkswirtschaftslehre, der „Ökonomik" als der Lehre „vom Hause", d. h. als Betätigungsfeld des Menschen im kleinen Verband, und der „Chrematistik", der eigentlichen Erwerbswirtschaftslehre. Erst seitdem begann die Ökonomik sich zu einer Wirtschaftslehre schlechthin zu entwickeln, Chrematistik und Teile der älteren Ökonomik in sich vereinend, und die „Politik" sich zu spalten in Staats- und Gesellschaftslehre. Es ist hier nicht der Ort, diese, übrigens sehr vereinfachenden Andeutungen weiter zu verfolgen. Festgehalten sei nur, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts der „Staat" im modernen Verstande sowohl begrifflich als real in Europa genügend ausgebildet war, um als etwas Eigenes, in sich Verständliches, besonderen Gesetzen Gehorchendes begriffen werden zu können, während „Gesellschaft" und „Wirtschaft" noch sehr viel vager bestimmt erscheinen, eine selbständige, von Gesellschaft und Staat losgelöste Wirtschaft sich erst in Umrissen abzeichnet. Während man also sagen kann, daß man unter Staat im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die einigen dreißig vom Wiener Kongreß zu souveränen Herrschern erhobenen Fürstenhäuser mit ihrem Beamtenapparat und ihren teilweise schon in Verfassungen niedergelegten Rechten und Pflichten versteht, ist kaum genau zu definieren, was diesem Staat nun an „Wirtschaft" gegenübertrat. Eigene Organisationsformen für sie gab es noch kaum; sie wurden erst im Laufe des Jahrhunderts nach westeuropäischem Vorbild geschaffen. Bisher war der Bürger in seiner Eigenschaft als Wirtschaftender in die ältere Herrschaftsverfassung eingeordnet. Der städtische Handwerker oder Kaufmann zum Beispiel war als Zunftmitglied nicht etwa nur Mitglied eines Kartells oder Interessenverbandes — obwohl die Zünfte auch solche Funktionen ausübten —, sondern vor allem Angehöriger einer sozialen Gliederung der Stadt und Teilhaber am städtischen Regiment. Der Landbewohner war, je nach der Form seiner Freiheit oder Unfreiheit, Bestandteil einer grundherrschaftlichen Organisation, die zuerst eine durch lehnsrechtliche Beziehungen ausgedrückte Herrschaftspyramide darstellte, nicht so sehr Eigentümer, Pächter oder Landarbeiter. Selbst der von den traditionellen Organisationsformen freie, privilegierte Unternehmer des 18. Jahrhunderts besaß seinen sozialen Status und sein wirtschaftliches Betätigungsfeld nur auf Grund einer direkten Beziehung zur „Herrschaft", zum Landesherrn. Daß seine „Freiheit" eine Befreiung von den allgemeingültigen Gesetzen, zum Beispiel den Zunftordnungen, darstellte, daß er unter Ausnahmerecht stand, zeigt, wie wenig der wirtschaftende Bürger als solcher schon einen eigenen Status gefunden hatte. Es ist nun für die deutsche Geschichte von entscheidender Bedeutung gewesen, daß hier nicht wie in Frankreich das ganze Geflecht älterer Sozialformen in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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einem einzigen revolutionären Akt aufgehoben, sondern nur langsam über mehr als ein Jahrhundert hinweg abgebaut wurde. Wenn es in dieser Entwicklung auch einzelne kräftige Schübe gab — die Reformgesetze der napoleonischen Zeit, die der 48er-Revolution und schließlich die von 1918/19 —, so bleibt das hervorstechende Kennzeichen in Deutschland doch das Überleben älterer, „feudaler" Elemente bis in unser Jahrhundert. Dazu gehört aber die enge Verflechtung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Elemente. So kann zum Beispiel ein Bauer in einem süddeutschen Verfassungsstaat vor der 48er-Revolution, obwohl wahlberechtigt und wählbar zum Landtag, einer typisch modernen Institution der Staatsverfassung, gleichzeitig der Polizeigewalt und niederen Gerichtsbarkeit eines Grund- oder Standesherrn unterworfen sein; er zahlt dem Staat seine Grund- oder auch Gewerbesteuer, dem Grundherrn außerdem aber Abgaben, die aus der Institution der Grund- oder Gerichtsherrschaft herrühren. Wer Bürgermeister, Pfarrer oder Lehrer in seinem Ort wird, bestimmt ebenderselbe Patronatsherr, oder zumindest behält er ein Bestätigungsrecht. Auch der städtische Handwerker bleibt, teilweise bis in die 60er Jahre, Mitglied seiner Zunft, die zwar ihrer politischen Funktionen entkleidet, in ihren sozialen und wirtschaftlichen beschränkt ist, trotzdem aber seine Bewegungsfreiheit hemmt, vor allem die Entwicklung seiner Werkstätte zu einer Fabrik behindert, weil er dazu der staatlichen Konzession, d. h. einer Ausnahmegenehmigung bedarf, die gerade dem zünftlerischen Handwerker weniger leicht gewährt wurde wie dem zunftfreien Kaufmann oder „standeslosen" Neubürger2. Die Tatsache, daß in Preußen die Befreiungsgesetze der Reformzeit solche Hemmungen fast völlig entfernten, hat zu der These geführt, daß Preußen politisch zwar konservativ, wirtschaftlich aber liberal gewesen sei, während Süddeutschland sich politisch liberal, wirtschaftlich aber konservativ gezeigt habe3. Das stimmt, sofern man die statische Ordnung, die Staats- und Wirtschaftsverfassung betrachtet. Der Gegensatz löst sich aber auf, sobald man die dynamischen Faktoren betrachtet, d. h. die praktische Handhabung der Gewerbepolitik durch die Verwaltung und die allgemeine Politik der Regierungen. Hier zeigt sich nämlich, daß die süddeutschen Regierungen im Rahmen, den ihnen die Verfassungen setzen, politisch durchaus konservativ handelten, während sie in wirtschaftlichen Fragen ebenso wie die preußische Verwaltung zunehmend liberal dachten. Was dort in einem einzigen Akt der Gesetzgebung geschehen war, suchten die süddeutschen Verwaltungen Schritt für Schritt nachzuholen, und in den sechziger Jahren haben sich die Grundsätze des wirtschaftlichen Liberalismus überall durchgesetzt — freilich nur für zwanzig Jahre, denn 1879 begann mit der wirtschaftspolitischen Wendung Bismarcks, die sich in den Schutzzöllen ausdrückt, schon die Gegenbewegung, die auf einen größeren Einfluß des Staates auf die Verfassung und Entwicklung der Wirtschaft hinsteuerte und die neben dem Schutz einheimischer Industriezweige oder der ostdeutschen Landwirtschaft gegenüber ausländischem Wettbewerb u. a. auch die Wiedereinführung der Handwerksinnungen zur Folge hatte. Dieser Tendenz zur Wiedereinmischung des Staates in die Fragen der Wirt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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schaft kam der Assoziationsdrang der Wirtschaft selbst entgegen. Nachdem sie in ihren neuen Unternehmens- und Betriebsformen relativ gefestigt erschien, suchte sie, freiwillige Verbände an die Stelle älterer Zwangskorporationen zu setzen, und schuf im Laufe von wenigen Jahrzehnten eine Fülle von neuen Organisationen: die Berufsvereine, die wirtschaftspolitischen Interessenverbände, die sozialpolitischen Arbeitgeberorganisationen, die Kartelle in ihren verschiedenen Spielarten, die Syndikate und Konzerne. Mit ihnen trat „die Wirtschaft" als solche, vor allem die neuerstandene Fabrikindustrie, selbständig dem Staat als Partner gegenüber, fordernd zumeist, aber auch Hilfestellung gebend in allen Fragen, die der Staat für die Wirtschaft zu lösen hatte, handle es sich nun um Handelsgesetze, Währungs- oder Zollfragen, Schiffahrtsangelegenheiten oder Handelsverträge. In den Handelskammern, die teils aus älteren Korporationen hervorgegangen waren, teils auf französischen Gründungen der napoleonischen Zeit beruhten, begegneten sich Staat und Wirtschaft auf institutioneller Ebene. Als staatlich gesetzte, regionale Zwangsinstitutionen, die die Interessen eines Wirtschaftsraumes nach freien Entschlüssen wahrzunehmen hatten, vermittelten sie zwischen Staat und Wirtschaft, nahmen für diesen hoheitliche Funktionen wahr und vertraten die Wünsche jener auf legalem, institutionalisiertem Wege4. Wie dieses neue Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft zustande kam, möchte ich nun für die Periode des Ansatzes der Industrialisierung, d. h. für Deutschland für den Zeitraum zwischen 1815 und 1870, vorwiegend zwischen 1815 und 1848, an einigen Beispielen genauer zeigen. II Die Periode des Ansatzes (von Rostow Take-Off genannt)5 ist besonders wichtig, weil die Formen, in denen sich der Ansatz der Industrialisierung vollzieht, für die weitere Ausbildung der industriellen Gesellschaft und Wirtschaft von entscheidender Bedeutung sind. Je nachdem, ob er auf einer reinen Agrargesellschaft oder auf einem starken gewerblichen Unterbau aufbaut, ob er vorwiegend binnenländisch, d. h. ohne Hilfe von entwickelteren Ländern durchgeführt wird oder im Rahmen der Weltwirtschaft vor sich geht, ob er den wirtschaftenden Kräften selbst überlassen bleibt oder vom Staat initiiert wird, ob er sprunghaft vorankommt — sei es infolge Bevölkerungsdruckes oder politischen Ehrgeizes oder überlange aufgestauter Energien — oder in gemächlicher Evolution dahinschreitet: je nachdem werden sich Tempo und Ausmaß, auch Richtung und Organisationsform der Industrialisierung unterscheiden. Die ökonomische Theorie hat dafür verschiedene Wachstums- und Industrialisierungsmodelle entwickelt6. Soweit sie das Ganze des Prozesses im Auge haben, vergessen sie nicht, unter die Faktoren des Wachstums auch den Staat einzureihen. Umstritten bleibt jedoch, welche Rolle man ihm zubilligt. Es mag für die angelsächsische Form des industriellen Wachstums bezeichnend sein, daß in den englischsprachigen Lehrbüchern „The rôle of government" meist an letzter Stelle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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steht. Man vergißt ihre Bedeutung durchaus nicht, aber zuvor kommen alle die anderen natürlichen, technischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren wie Bodenschätze, Bevölkerungsdruck, Arbeitskräftepotential, Kapitalformation, Unternehmertum und technischer Wandel, Konsumfragen, Wanderungsbewegungen und auch die sogenannten kulturellen Faktoren wie die religiösen Verhaltensnormen, der Bildungsstand usw.7. Wer von kontinental-europäischen Verhältnissen ausgeht, wird dem Staat als Faktor der Industrialisierung eine weit größere, jedenfalls frühere (zeitlich sowohl wie funktional frühere) und auch tiefer eingreifende Rolle zuweisen. Insofern kann gerade das Beispiel der Industrialisierung Zentraleuropas für heutige aktuelle Fragen der Entwicklungsländer weit interessanter sein als das klassische Beispiel Englands, das sich eigentlich als einziges Land ganz aus eigener Kraft zum Industriestaat wandelte, während überall sonst in der Welt, vor allem in dem traditionsgebundeneren Mittel- und Osteuropa schon im 19. Jahrhundert nicht nur fremde Hilfe in Anspruch genommen werden mußte, sondern auch spezifische, in traditionellen Verhaltensnormen und Wirtschaftsweisen liegende Hemmnisse zu überwinden waren, die in England in einem sehr langen Prozeß der Liberalisierung des Landes, d. h. der Wandlung in Richtung auf eine „open society", bereits vor dem Einbruch der technischen Revolution weithin abgebaut worden waren. Hier ging der technischen Revolution die wirtschaftliche, soziale und politische Evolution voraus8 und machte die Einführung neuer Produktionsmethoden gleichsam zu einem „natürlichen" Prozeß, während in den heutigen Entwicklungsländern die Technik des 20. Jahrhunderts oft in eine geschlossene, „mittelalterliche", unvorbereitete Gesellschaft einbricht. Kontinentaleuropa nimmt so eine Mittelstellung ein. Es kennt weder eine Industrialisierung aus sich selbst heraus noch das überstürzte Nachholen langer technischer und sozialer Entwicklungen, das sich meist im Überspringen von Zwischengliedern äußert. Deutschland insbesondere hatte zwar eine fühlbare Lücke zu England, auch zu Belgien, Teilen von Frankreich oder der Schweiz zu schließen, aber es befand sich nicht so hoffnungslos im Rückstand, daß es seine sämtlichen Traditionen über Bord werfen mußte, wollte es den Anschluß finden. Man kann vielleicht sagen, daß es nur der stärkeren Nachhilfe des Staates bedurfte, um im Verlaufe von zwei bis drei Generationen den Vorsprung Englands aufzuholen. Das aber blieb durchaus im Rahmen des Herkömmlichen; es war ohne politische, soziale und wirtschaftliche Revolution zu bewältigen, und deshalb konnte das hochindustrialisierte Deutschland der Jahrhundertwende dem westlichen Beobachter trotz seiner technischen und wirtschaftlichen Erfolge in seiner sozialen und politischen Verfassung als rückständig erscheinen. Um es überspitzt zu sagen: Deutschland war zwar industrialisiert, nicht aber liberalisiert und demokratisiert worden9. Am deutschen Beispiel (wie übrigens auch an dem des vorrevolutionären Rußlands und Japans) mag zuerst die Erkenntnis erwachsen sein, daß diese drei Prozesse, die in England parallel gelaufen waren, nicht notwendig zusammengehören, daß die Industrialisierung auch unter den Bedingungen einer nicht-liberalen Wirtschaft und eines nicht-demokratischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Staates zu erreichen sei. Diese Erkenntnis aber mußte grundlegend werden für die übrige Welt, als sie sich unter den veränderten Verhältnissen des 20. Jahrhunderts nun ebenfalls an die Nachholung des Industrialisierungsprozesses machte und damit das wirtschaftliche Wachstum zu institutionalisieren begann, weil allein ein regelmäßiges Wachstum die mit Bevölkerungsvermehrung, geistiger und politischer Emanzipation der kolonialen Völker verbundenen Probleme zu lösen vermag. Es mag überraschen, wenn hier angedeutet wird, die Industrialisierung Deutschlands sei unter nicht-liberalen Bedingungen vor sich gegangen. War nicht das wilhelminische Deutschland ein vollgültiger Partner der liberalen Weltwirtschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts? Hielt es sich nicht an die von diesem System entwickelten Spielregeln wie freien Güter-, Geldund Menschenverkehr, Goldstandard und Vertragsfreiheit? Waren seine großen Industrien, Banken und Landgüter nicht in Privatbesitz? Enthielten sich nicht Reich und Bundesstaaten aller lenkenden Eingriffe in den Wirtschaftsablauf? Waren nicht die Arbeiter von aller Form der Mitbestimmung ausgeschlossen, lediglich passive Partner der bestimmenden Unternehmerschaft? Das alles ist richtig, und doch erkennt man bei genauerem Zusehen, daß der Obrigkeitsstaat in Deutschland nicht verschwunden war, daß Reste von Bevormundung des Bürgers blieben, daß aber, um es positiv zu wenden, der Staat auch die ordnungssetzende Macht geblieben war, die um des Allgemeinwohls und auch der Staatsräson willen sich nie so weit von der Wirtschaft entfernt hatte, daß es ihm nicht möglich gewesen wäre, im Ernstfall ihre Weichen zu stellen10. Kaufte doch Preußen seit den fünfziger Jahren private Eisenbahnen auf, um über dieses wichtigste Netz der „Infrastruktur" für den Kriegsfall verfügen zu können und begann es doch aus den gleichen Gründen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder private Kohlengruben in Besitz zu nehmen, um einen genügend großen Rückhalt in der Grundstoffindustrie zu haben. Aber wichtiger als diese späten Erscheinungen, die als Reaktionen auf zu große Liberalisierung oder als Ausfluß eines imperialistischen Machtwillens gedeutet werden können, sind für unseren Zusammenhang die Formen der staatlichen Aktivität zu Beginn der Industrialisierung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, ehe sich der wirtschaftliche Liberalismus wenigstens für zwei bis drei Jahrzehnte voll Bahn gebrochen hatte. Diese sind nun so mannigfaltiger Natur, daß sie hier nur im Überblick aufgezählt werden können. III Es waren im wesentlichen vier Funktionen, die der Staat, besser die Regierungen, im Verhältnis zur Wirtschaft ausübten11: 1. a) b) c)

Der Staat als Gesetzgeber Die Reform der Gewerbe- und Handelsgesetze Der Beginn einer Patentgesetzgebung Die Ausarbeitung einer Zoll- und Steuergesetzgebung

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2. Der Staat als Administrator a) Finanzpolitik, besonders Steuer- und Zollpolitik b) Allgemeine Wirtschaftspolitik, insbesondere Gewerbeförderung und gewerbliches und technisches Schulwesen c) Der Ausbau der „Infrastruktur" (Straßen, Kanäle, Brücken, Eisenbahn) 3. a) b) c)

Der Staat als Unternehmer Land- und forstwirtschaftliches Eigentum Bergwerks- und Industrieeigentum Staatliche Banken und Versicherungsgesellschaften

4. a) b) c)

Der Staat als Konsument und Investor Bedarf von Hof und Verwaltung Militärbedarf Bedarf für die Entwicklung der Infrastruktur

Daß der Staat als Gesetzgeber in die Ordnung und den Ablauf der Wirtschaft eingreift, mag als seine „natürlichste" Funktion angesehen werden, die ihm überall und zu allen Zeiten zukommt. In unserem Falle ist diese Tätigkeit allerdings von grundsätzlicher, teilweise revolutionärer Natur. Denn gerade die ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts sind es, in denen die ältere obrigkeitlich-genossenschaftliche Gewerbeverfassung abgelöst wird durch eine Gewerbeordnung, die nicht mehr auf dem Prinzip der Solidarität, sondern der Konkurrenz beruht. Diese Gewerbeordnung ist freilich sehr viel komplizierter als es das Schlagwort von der Gewerbefreiheit verrät. Sie findet sich, wenn man Deutschland als Ganzes betrachtet, in sehr vielen Abstufungen, manchmal bis zur Unkenntlichkeit mit Restbeständen älterer Ordnungen vermischt. So total, wie sie im ersten Anlauf der Reformzeit geplant war, wurde sie nicht einmal in Preußen verwirklicht, und auch dort begann in den vierziger Jahren schon wieder eine Gegenbewegung, die zu einer Einschränkung der Gewerbefreiheit führte. In den anderen deutschen Staaten war aber das Prinzip der Gewerbefreiheit mit wenigen Ausnahmen nie rein angestrebt, geschweige denn verwirklicht worden. Man fürchtete es, das französische und das preußische Beispiel vor Augen, sogar und zog es vor, stückweise und langsame Reformen anzusetzen. Einzelne Staaten wie Hamburg, Bremen, Kurhessen oder Hannover widerriefen sogar ausdrücklich die Gesetze der napoleonischen Ära12. Ähnlich stand es mit der Entwicklung einer Patentgesetzgebung. Auch hier waren es nur die drei wichtigsten Industriestaaten in Deutschland — Preußen, Sachsen und Österreich — die erkannten, daß das ältere Patentwesen, das kommerzielle und technische Privilegien nicht unterschied, abgelöst werden müsse durch ein Gesetz, das auf dem Prinzip des Schutzes des geistigen Eigentums an der technischen Neuerung beruhe. Die meisten Staaten des Zollvereins haben ein eigenes Patentgesetz nicht erlassen, sondern nur Verwaltungsgrundsätze ausgesprochen, nach denen sich die Behörden zu richten hatten. Preußen aber behielt in seinem Gesetz, im Gegensatz zu Sachsen und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Österreich und im Gegensatz auch zu den westlichen Nationen, der staatlichen Verwaltung eine Schlüsselfunktion bei der Patentverleihung vor. Indem eine Behörde, die Technische Deputation für Gewerbe, die Patentverträge nicht nur zu registrieren, sondern ihre Patentwürdigkeit zu prüfen hatte, bestimmte der Staat, nicht die Konkurrenz der Erfinder, wer eines Schutzes würdig sei13. Daß die Zollgesetzgebung des frühen 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Verhältnisse zu revolutionieren geeignet war, ist schon lange erkannt worden. Das preußische Zollgesetz von 1818, auf dem dann das System des Zollvereins aufbaute, machte zum erstenmal in Mitteleuropa mit dem Prinzip ernst, Zölle nur an der Landesgrenze zu erheben, binnenwirtschaftlich aber Freizügigkeit zu gestatten. Jetzt erst wurde die Ausbildung einer wirklichen Volkswirtschaft möglich. So selbstverständlich uns das heute ist, für das Deutschland an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts war es ein Bruch mit aller Tradition. Hier zogen die anderen deutschen Staaten für den Bereich ihres Territoriums schnell nach. Die Beseitigung aller binnendeutschen Zölle brauchte aber noch zwei Drittel des Jahrhunderts. Erst einige Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches wurde das kleindeutsche Zollsystem durch den Beitritt der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck vollständig14. Inzwischen hatten die deutschen Regierungen in ihrer Funktion als Verwaltungsbehörden freilich das Zollsystem ebenso wie das Steuersystem in mannigfacher Weise zur Förderung der Wirtschaft des Landes benutzt. Die Erhöhung oder Erniedrigung einzelner Zollpositionen gehörte ebenso zu dem ständigen Tagesordnungspunkt der Zollvereinsverhandlungen wie die Gewährung von Ausnahmen an einzelne Unternehmer zu dem täglichen Geschäft der Finanzverwaltungen. Lange Zeit wurde zum Beispiel die Einfuhr von ausländischen Maschinen zollfrei gestattet, um die Konsumgüterindustrie der Zollvereinsstaaten zu fördern, und als diese Regel nach dem Protest der sächsischen und preußischen Maschinenfabriken auf das Betreiben ihrer Regierungen aufgehoben wurde, nahmen die süddeutschen Staaten den Zollverlust, den eine Weitergewährung der Vergünstigung an ihre Fabrikanten hostete, auf eigene Rechnung15. Unendlich reichhaltig waren die Mittel der allgemeinen Wirtschaftspolitik, auf das Gedeihen der Wirtschaft des Landes Einfluß zu nehmen Verpönt wurden freilich von den liberal gesinnten Verwaltungen mehr und mehr die Mittel des Merkantilstaates, die direkte Subvention oder Privilegierung einzelner Unternehmer, obwohl auch sie noch bis weit ins 19. Jahrhundert selbst bei so liberal gesinnten Regierungen wie der preußischen oder badischen vorkamen16. Aber alle anderen Mittel, wie die Bereitstellung von Krediten, die Garantie von Zinsen, die Ausleihe von Maschinen, die Gewährung von Stipendien, die Empfehlung neuer Verfahrensweisen, ja selbst die Vermittlung ausländischer Fachkräfte, blieben erhalten und wurden weiter ausgebaut. Preußen führte für seine Industrie sogar eine amtliche Industriespionage durch. Vor allem entwickelten die Staaten nun eine Reihe von Institutionen zur Gewerbeförderung, die ein wichtiger Bestandteil jedes industrialisierten Landes werden sollten. Hier 5*

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ist zu denken an den Ausbau des gesamten Schulwesens, besonders aber des gewerblichen und technischen Mittelteils. Gewerbe- und Handelsschulen, das Polytechnikum und später die Technische Hochschule gehören hierher. Sie haben sehr wesentlich zu dem später so schnellen Aufbau der deutschen Industrie beigetragen. Berühmte Industrielle und Erfinder, wie August Borsig, Ferdinand Schichau und Gottfried Daimler, sind ohne die Hilfe, die sie als kleine Handwerksgesellen in diesen Schulen fanden, nicht zu denken. Vor allem aber bekam hier die namenlose Mittelschicht der Ingenieure und Kaufleute zum großen Teil ihre berufliche Fortbildung. Dann sind die technischen Beratungsbehörden zu nennen, die besonders in Preußen und Württemberg einen großen Einfluß auf die industrielle Entwicklung des Landes nahmen: das Gewerbeinstitut in Berlin unter Beuth (seit 1821) und die Zentralstelle für Handel und Gewerbe in Stuttgart (seit 1848)17. Welchen Einfluß der Ausbau des Straßen- und Kanalystems auf den Einsatz der Industrialisierung hatte, ist bisher noch nicht annähernd quantifiziert worden. Erst wenn man bedenkt, welches Problem die Entwicklung der Infrastruktur für die Entwicklungsländer heute bedeutet, kann man ermessen, welche Vorarbeit der Staat auch im 18. Jahrhundert in Europa schon geleistet hatte und welche Hilfe er das ganze 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich der Wirtschaft bei der Fortentwicklung des Verkehrsnetzes gab. Im Unterschied zu England, wo auch dies vielfach der Initiative privater Gesellschaften überlassen blieb, war der Straßenbau in Deutschland von jeher Sache des Staates und der Kommunen. Zugegeben, daß den Staat dabei oft nichtwirtschaftliche, zum Beispiel militärische Zwecke leiteten, der Effekt war jedenfalls auch wirtschaftlicher Natur, und es gehört durchaus zu den ältesten Traditionen der deutschen Territorialstaaten, ihr Land dem Verkehr zu erschließen. Wie wichtig das für die Entwicklung von Handel und Gewerbe auch im 19. Jahrhundert war, zeigt die Tatsache, daß der Bau von Umgehungsstraßen das letzte und sicherste Mittel Preußens beim Anschluß seiner kleinen Nachbarn an sein Zollsystem war. Wenn alle Versprechungen und Drohungen nichts nützen, der Straßenbau half dem Widerstand schnell ab, denn er drohte dem kleinen Staat die für ihn zentralen Zolleinnahmen zu entziehen18. Es widerspricht dieser Tradition scheinbar, wenn die meisten deutschen Staaten den Eisenbahnbau, den wichtigsten und revolutionärsten Teil des Verkehrsnetzes, privaten Gesellschaften überließen. Doch abgesehen davon, daß einzelne Staaten, zum Beispiel Baden, auch den Eisenbahnbau von Anfang an in staatliche Regie nahmen, war der Staat auch in den anderen Ländern nicht so unbeteiligt, wie es den Anschein haben mag. Nicht nur daß er die Konzessionen zu vergeben hatte und damit den entscheidenden Einfluß auf die Trassierung ausübte: er setzte den Gesellschaften auch sonst Auflagen im Allgemeininteresse und beteiligte sich, wenn nötig, finanziell. 1849—1851 war die preußische Regierung an fünf Eisenbahngesellschaften mit über fünf Millionen Talern beteiligt. Zur gleichen Zeit baute sie auf eigene Rechnung vier neue Linien. Schließlich verstaatlichten fast alle deutschen Staaten ihre Bahnen zu einem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Zeitpunkt, an dem an eine allgemeine Verstaatlichung noch nicht zu denken war 19 . Daß der Staat mit Hilfe von wirtschaftlichem Eigentum, vor allem sogenannten Pionierunternehmungen die Industrialisierung eines Landes bestimmen kann und soll, gehört heute zu den allgemein anerkannten Grundsätzen der Nationalökonomie — auch für die Gegner einer Verstaatlichung der ganzen Wirtschaft. In Deutschland bedurfte es keiner solchen grundsätzlichen Erkenntnis, da sich die deutschen Staaten überall im Besitz beträchtlicher Teile des Nationalvermögens, nicht nur an Landbesitz, sondern auch an Gewerbeunternehmen befanden20. Das beruht auf der älteren Herrschaftsstruktur, die die Nutzung der Bodenschätze dem Landesherrn als Regalien vorbehielt und die das private Eigentum des Fürsten nicht von dem staatlichen getrennt hatte. Bei der Aufgliederung des Vermögens zwischen Herrscherhaus und Staat zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die meisten der fürstlichen Unternehmungen dem staatlichen Bereich zugeordnet worden, und so verfügten denn die Finanzministerien der meisten Länder über einen reichen Besitz besonders an Salinen, Bergund Hüttenwerken, Hammer- und Pochwerken, Geschützgießereien, Blaufarbenwerken, Porzellan- und Tuchmanufakturen. Wenngleich die Tendenz vorherrschte, einen möglichst großen Teil davon abzustoßen oder zu verpachten, blieb in Wirklichkeit doch das Staatsvermögen nahezu ungeschmälert, da es oft nicht nur unmöglich war, die Werke an Private zu verkaufen, sondern Neuerwerbungen und Neugründungen von Staats wegen oder mit staatlicher Beteiligung aus den verschiedensten Gründen nötig wurden. Einzelne Regierungen bzw. beauftragte Beamte schufen und leiteten derartige Unternehmen durchaus in dem Bewußtsein, damit dem industriellen Bürgertum ein Vorbild zu geben oder Industriezweige einzuführen, die aus privater Initiative nicht oder unvollkommener eingeführt worden wären. So hat der Leiter der Preußischen Seehandlung in den dreißiger und vierziger Jahren eine ganze Reihe von Fabriken in entlegenen Teilen des Landes gegründet oder sich an der Gründung beteiligt, um neue industrielle Regionen zu schaffen oder strukturelle Erwerbslosigkeit zu beseitigen. Die Mittel, die die Seehandlung dafür aufwandte, belaufen sich auf viele Millionen Taler21. Die Tätigkeit der Seehandlung unter Christian von Rother ist zudem das hervorragendste Beispiel staatlicher Betätigung auf dem Gebiet des Bank- und Finanzierungswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Ursprünglich war die Aufgabe dieser 1772 durch Friedrich den Großen ins Leben gerufenen Anstalt die Verwaltung der Staatsschulden gewesen. Während der napoleonischen Jahre hatte sie vor allem bei der Aufbringung der Kriegskosten zu helfen. Danach aber begann sie ein zweites Hauptaufgabengebiet zu übernehmen, das man heute als das einer Entwicklungsbank bezeichnen kann. Mit einer dynamischen Unternehmerpersönlichkeit an der Spitze trat sie überall auf, wo die wirtschaftliche Entwicklung großzügige Hilfe brauchte. So führte sie in den zwanziger Jahren den Bau von einigen 600 Meilen Chaussee in eigener Regie durch und beschäftigte dafür 1825 gegen 15 000 Mann. Obwohl © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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er dem Eisenbahnbau erst opponierte, kaufte von Rother schließlich für einige Millionen Taler Eisenbahnanteile. Um den Verkauf der kaum noch konkurrenzfähigen westfälischen, sächsischen und schlesischen Leinenstoffe zu unterstützen, richtete er Warenhäuser in Stettin und New York ein und charterte Schiffe der Amerika- und Fern-Ost-Route. In den vierziger Jahren verkehrten zwei Segler, die der Seehandlung gehörten, regelmäßig zwischen Hamburg, Indien, China, Brasilien und Westindien. Vor allem aber richtete die Seehandlung ihr Augenmerk auf die Entwicklung der Fabrikindustrie selbst. Schließlich reformierte von Rother, nachdem er 1837 neben der Seehandlung auch noch die Königliche Bank in Berlin übernommen hatte, das preußische Banksystem. 1846 wandelte er die Königliche Bank in die Bank von Preußen um, eine Zentralbank, die die Vorläuferin der Reichsbank von 1875 wurde22. Auch der Einfluß, den der Staat als Konsument auf die wirtschaftliche Entwicklung übte, darf nicht unterschätzt werden. In früheren Jahrhunderten waren dadurch ganze Industriezweige, besonders Luxuswarenindustrien wie Porzellanmanufakturen usw. entstanden. Im 19. Jahrhundert trat der Bedarf des Militärs in den Vordergrund, der schon früher etwa zur Einrichtung staatlicher Eisen- und Geschützgießereien geführt hatte. Der Aufstieg des Hauses Krupp im Zusammenhang mit der Entwicklung der preußischen Militärmacht ist weltbekannt geworden und braucht hier nur erwähnt zu werden23. Für die Grundstoffindustrien ist aber auch der Einfluß nicht zu unterschätzen, den Straßen-, Kanal- und Eisenbahnbau ausübten. Er läßt sich am besten da verfolgen, wo auch die Eisenbahnen staatlich waren, so in Baden. Zwei der ältesten und größten badischen Maschinenfabriken, die Firma Kessler in Karlsruhe und die Firma Vögele in Mannheim verdanken ihren Aufstieg in den vierziger Jahren fast ausschließlich dem Bedarf der badischen Eisenbahnverwaltung an Lokomotiven, Schienen und Weichen. IV Welche Kräfte stellte nun die „Wirtschaft" dieser mannigfaltigen staatlichen Aktivität gegenüber, um ihrerseits die Industrialisierung und das wirtschaftliche Wachstum anzuregen und zu erhalten? Es war zunächst eine kleine, aber ständig wachsende, aus sehr verschiedenen Traditionen kommende und unterschiedlich sich verhaltende Schar von wirtschaftenden Bürgern, großen und kleinen Unternehmern, fleißigen Technikern und aufstrebenden Handwerkern. Sie verteilten sich auf alle Landschaften, gewiß mit manchen Schwerpunkten, etwa im Rheinland oder in Sachsen. In den älteren Gewerbestädten, etwa in Wuppertal, Krefeld, Leipzig oder Augsburg gehörten sie zu der bürgerlichen Honoratiorenschicht, die das Kommunalwesen wesentlich trugen. Viele von ihnen übernahmen darüber hinaus größere politische Verantwortung, indem sie sich in die Landtage der Bundesstaaten, in Preußen in die Provinziallandtage wählen ließen. So sind führende Kölner Bankiers, wie Mevissen und Hansemann, zugleich die Sprecher des rheinischen Bürgertums, und im Verlaufe der 48er-Revo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lution übernehmen einige von ihnen, wie David Hansemann, Ludolf von Camphausen, Karl August Milde und August Freiherr von der Heydt in Preußen oder Karl Mathy in Baden, Ministerämter und führen damit zum ersten Male auf sichtbare Weise Unternehmertum und Staat zusammen24. Wichtig für die Herausbildung eines eigenen Lebensbereiches der „Wirtschaft" ist, daß diese aufstrebende bürgerliche Schicht seit den dreißiger Jahren des Jahrhunderts damit beginnt, sich in mancherlei Weise zu assoziieren. Vorläufer dieser freien Bürgervereinigungen waren die aufgeklärten Lesevereine und Patriotischen Gesellschaften gewesen, die sich nach englischem Vorbild im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gebildet hatten25. Teils der reinen Geselligkeit dienend, öfters aber „gemeinnützige" Zwecke verfolgend, hatten sie die Lehren der Aufklärung, des auf sich selbst stehenden freien Mannes, in die Breite getragen. Zu diesen geselligen, literarischen und gemeinnützigen Vereinen traten nun seit den zwanziger Jahren solche spezielleren Charakters, etwa die Gewerbevereine, die sich in vielen Städten bildeten, um die fachlichen Kenntnisse des gewerbetreibenden Bürgers zu erhöhen, ihm durch Vorträge, Bücher, Zeitschriften, Modelle und Ausstellungen die Voraussetzungen für den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt an die Hand zu geben. Von diesen Gewerbevereinen gingen vielfach Anregungen aus, die der Staat dann aufnahm; sei es, daß er die Vereine bei ihren Bestrebungen finanziell unterstützte, sei es, daß er auf deren Wunsch selbst Maßnahmen ergriff: Ausstellungen veranstaltete oder Gewerbeschulen gründete, Stipendien und Preise verteilte26. Der bekannteste dieser Vereines, der preußische „Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes", wurde freilich wiederum sehr wesentlich von hohen Staatsbeamten getragen — fast ein Drittel seiner 367 Gründungsmitglieder waren Beamte und Universitätsprofessoren. Ein knappes Jahrzehnt später entstanden, initiiert von einigen führenden Industriellen, etwa zur gleichen Zeit die ersten Interessenverbände und die ersten modernen Kartelle. Während in den Gewerbevereinen Staat und Bürger noch im Sinne der Obrigkeitsverhältnisse miteinander arbeiten, stellen sich diese neuen Organisationen dem Staat als etwas Eigenwüchsiges, Freies, als unabhängige Partner gegenüber. Es ist bezeichnend, daß den Anlaß zu ihrer Gründung meist bestimmte Wünsche einzelner Interessengruppen an den Staat bildeten. So ging es den Vereinigungen der Baumwollfabrikanten und der Zukkerfabrikanten des Zollvereins, die sich 1841 zusammenfanden, um die Änderung von Zoll- und Steuerpositionen in den Zollvereinsverträgen. So wollten regionale Gesamtverbände wie der badische Industrieverein des gleichen Jahres die Interessen der Industrie eines Landes gegenüber der Regierung wahrnehmen27. Auch die Kartelle, oft als „Kinder der Not" bezeichnet, suchten neben der Selbsthilfe die Unterstützung des Staats, um die Existenz ihrer Mitglieder zu retten. In den vierziger Jahren schlossen sich zunächst die nassauischen, später die süddeutschen Hüttenwerke überhaupt zusammen, um sich gegen die überlegene englische und rheinische Konkurrenz zu wehren. Sie arbeiteten noch mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Holzkohlen statt mit Koks, was ihre Produktionskosten, je stärker die Preise beider auseinanderklafften, in hoffnungsloser Weise gegenüber der Konkurrenz überhöhte28. Die fünfziger Jahre bringen dann mit dem ersten großen Ausbau der deutschen Industrie auch eine Reihe wichtiger Zusammenschlüsse von Industriezweigen. Am weitesten reichten Aufgabe, Ziele und Einflüsse dieser Vereinigungen dort, wo wie im Kohlenbergbau eine Fülle von besonderen Problemen zwischen Unternehmern und Staat zu regeln waren. So wurde der 1858 gegründete Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund bald zu einem unentbehrlichen Gesprächspartner der preußischen Bergverwaltung. Denn seit sie nach jahrzehntelangen Diskussionen um das Prinzip, nach dem der Bergbau geführt werden sollte, 1851 dazu überging, an die Stelle der staatlichen Direktion nur noch die polizeiliche Aufsicht zu setzen, brauchte sie ein Organ, mit dem die Fragen, die über ein einzelnes Werk hinausreichten, verhandelt und abgestimmt werden konnten. So negativ die staatlichen Verwaltungen, in der Tradition der Selbstherrlichkeit befangen, die wirtschaftlichen Verbände daher auch zunächst betrachten mochten, so sehr waren sie doch bald auf die Zusammenarbeit mit ihnen angewiesen, denn in ihnen versammelte sich nun die Fachkenntnis, die bei der Vorbereitung von Gesetzen und Verordnungen oder bei der Durchführung von Maßnahmen etwa der Steuer- oder Zollverwaltung unentbehrlich waren. Das amtliche Organ für diese Vermittlung wurden mehr und mehr die Handelskammern. Gleich den unteren Verwaltungsbehörden regional, nicht funktional gegliedert, konnten sie in allen praktischen Fragen die Wünsche der Gewerbetreibenden den Behörden vortragen und für diese eine Fülle von Dienstleistungen übernehmen, die ohne besondere Fachkenntnis nicht zu erledigen waren. Maßgebend für ihren rechtlichen Status wurde eine preußische Verordnung vom 11. Februar 1848, die sie zu Veranstaltungen des Staates machte29. Aber nicht nur die Unternehmer, auch die zweite tragende Schicht des industriellen Bürgertums, die Techniker, assoziierten sich. 1856 wurde der Verein Deutscher Ingenieure gegründet, der der fachlichen Fortbildung und beruflichen Betreuung, aber auch der Durchsetzung gemeinsamer Interessen diente. 1860 folgte, um nur noch ein Beispiel zu nennen, der Technische Verein für das Eisenhüttenwesen (der heutige Verein Deutscher Eisenhüttenleute), der sich vor allem der Förderung neuer Methoden auf dem Gebiet der Grundstoffindustrien annahm. Es kann hier nicht mehr verfolgt werden, wie weit diese Assoziationen sich nach unten fortsetzten und auch die wirtschaftlich Unselbständigen erfaßten. Auch hier liegen die Anfänge zu Beginn der vierziger Jahre (in der Schweiz noch früher). Zunächst entstehen meist bürgerlich geführte Handwerker- und Arbeiterbildungs- oder Gesangvereine, die sich schon im Vormärz teilweise von ihrem Ursprung emanzipieren. Während der 48er-Revolution schießen dann die Assoziationen aller Art wie Pilze aus dem Boden. Handwerksmeister und -gesellen halten parallel zur Frankfurter Nationalversammlung eigene Kon© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gresse ab und versuchen, auf die Ausarbeitung einer Reichsverfassung und einer Reichsgewerbeordnung Einfluß zu nehmen, indem sie zum Beispiel das Recht auf Arbeit oder die „Organisation der Arbeit" und der Gewerbe mit Hilfe von Kammern, Gerichten oder Räten fordern. Durch die Koalitionsverbote der Reaktionszeit teils unterdrückt, teils unter staatliche Vormundschaft gestellt, erwachen sie erst in den 6Öer Jahren wieder zu neuem Leben und stehen an der Wiege der Gewerkschaften30. Was sich aus diesem Assoziationsbedürfnis soziologisch schließen läßt, ist die Erkenntnis, daß die bürgerliche Gesellschaft auf dem Wege der Emanzipation aus den Bindungen des älteren Herrschaftssystems bereits sich neue Bindungen auferlegt, daß die Atomisierung, die man dem liberalen 19. Jahrhundert so gern vorwirft, gar nicht stattgefunden hat — ist doch gerade das klassische Land des Liberalismus, England, auch das Land der bürgerlichen Vereinigungen, Klubs und Gesellschaften. Aber auch hier zeigt sich die charakteristische Tatsache, daß sich in Deutschland der Staat nie ganz aus dem Felde bürgerlicher wirtschaftlicher Tätigkeit zurückgezogen hat. Haben sich etwa in England die Handelskammern als freiwillige Vereinigungen erhalten, so sind sie in Deutschland Körperschaften des öffentlichen Rechts geworden. Die Kartelle hat das Deutsche Reich sogar so weit sanktioniert, daß es sie teilweise zu Zwangskartellen machte. Die Wiederzulassung von Zwangsinnungen seit 1897 ist ein weiteres Beispiel. Auf die Arbeitnehmerorganisationen hat der Staat zeitweise vorwiegend negativ eingewirkt, durch Koalitionsverbot, Polizeiaufsicht und Ausnahmegesetze. Zugleich hat er aber mit der Entwicklung der Sozialpolitik, die am Anfang im wesentlichen eine Arbeiterschutzpolitik ist, einen neuen Weg der Regulierung von Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsablauf gefunden, so daß man sogar sagen kann, er sei auf dem Wege über die Sozialpolitik wieder zu seiner alten Rolle eines aktiven Gestalters des Wirtschaftslebens zurückgekehrt. Jedenfalls aber hat er seinen Bürgern selten wirklich jenen ganz freien Spielraum gelassen, den die Theorie des älteren Liberalismus eigentlich verlangt. V Vergessen wir zum Schluß nicht zu erwähnen, daß diese vielfache Einwirkung des Staates auf die Wirtschaft nicht nur fördernd, sondern auch hemmend gewirkt hat. Wenngleich die Beamtenschaft grundsätzlich bemüht war, den Nationalreichtum zu steigern, so blieben doch ihre Methoden noch oft in den veralteten Formen des Bevormundens und Reglementierens stecken. Die Akten sind voller Klagen einzelner Gewerbetreibender, die sich durch alte Zöpfe in Gesetzgebung und Verwaltung behindert fühlen — sie sind allerdings ebenso voll von Klagen solcher Gewerbetreibender, die die liberale Grundhaltung der Bürokratie bemängeln, sich einer tödlichen Konkurrenz ausgesetzt sehen und lieber heute als morgen zu der alten Ge- und Verbotspraxis zurückkehren würden. Man darf daher nicht allzuviel auf diese subjektiven Äußerungen geben, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sondern muß sie richtig zu gewichten wissen. Es bleiben jedoch so beachtliche Erscheinungen wie das jahrelange Anrennen der Pioniere des Ruhrbergbaus gegen die Fesseln der älteren Berggesetzgebung. Schließlich brauchte es in Preußen, das schon 1810 den übrigen Gewerben im wesentlichen die freie Konkurrenz gestattete, noch vierzig Jahre, bis den Eigentümern der Kohlengruben des Ruhrreviers überhaupt die freie wirtschaftliche Verfügung über ihr Eigentum eingeräumt wurde. Gewiß wird seit 1826 an dieser Reform gearbeitet, aber die konservativen und liberalen Stimmen in der Bergverwaltung halten sich in etwa die Waage, und bei jedem neuen Entwurf schlägt das Pendel wieder in der einen oder der anderen Richtung aus, bis sich schließlich zur Jahrhundertmitte der Grundsatz durchsetzt, daß das Bergrecht dem allgemeinen Gewerberecht soweit wie möglich anzugleichen sei31. Es ist bezeichnend, daß einer der frühesten Großindustriellen des Ruhrgebiets, Franz Haniel, dem als erstem die Abteufung und wirtschaftliche Ausbeutung von Tiefbauzechen gelang, seine führende Stellung als Bergbauunternehmer der Tatsache verdankte, daß er eine frappierende Kenntnis des Bergrechts besaß. Er hatte sich in jahrelanger Arbeit ein Archiv aller Gesetze und Gerichtsentscheide angelegt, das ihm eine Überlegenheit in Rechtsstreitigkeiten gab und das schließlich sogar von den preußischen Bergbeamten in Anspruch genommen wurde, weil es mehr enthielt als ihre eigenen Unterlagen32. Hier kämpft sich also ein Unternehmer gegen den Staat seinen Weg. Und für Naturen dieser Art war freilich die wohlwollende Förderung, die der Beamte des früheren 19. Jahrhunderts dem Gewerbetreibenden noch immer entgegenbrachte, nicht mehr geeignet. In solchen Gestalten hatte die industrielle Wirtschaft endgültig ihre Mündigkeit erlangt, und sie werden es sein, die ihr in der zweiten Jahrhunderthälfte mehr und mehr den Stempel aufdrücken.

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Planerische Gesichtspunkte bei d e r Industrialisierung in B a d e n I. Für den Geographen stehen bei der Frage nach Planung bzw. Nichtplanung des Industrialisierungsprozesses die Auswirkungen auf die räumliche Gliederung einer Industrielandschaft im Vordergrund; den Historiker beschäftigen hingegen in erster Linie die planerischen Gesichtspunkte, die Zielsetzungen und Motive einer Industrialisierungspolitik, denn er fragt zuerst nach den politischen, auch wirtschaftspolitischen Aktionen der Menschen und ihrer Begründung. Im Vergleich zu den Beiträgen von H. G. Voigt und H.-G. Steinberg über die Konsequenzen einer im wesentlichen ungeplanten oder nur sehr punktuell geplanten Industrialisierung in zwei Ballungsräumen verändert dieser Beitrag daher die Perspektive. Er analysiert nicht einen wirtschaftsgeographischen Befund, sondern sucht die Motive von wirtschaftspolitischen Entscheidungen auf. Er fragt danach, ob und in welcher Weise sich die badischen Behörden im 19. Jahrhundert bei solchen Entscheidungen von planerischen Gesichtspunkten leiten ließen. Dabei konzentriert er sich im wesentlichen auf die ersten sechs Jahrzehnte bis zur Einführung der Gewerbefreiheit in Baden, also auf die Zeit, in der die Behörden sich vor allem durch das Mittel der Konzession die letzte Entscheidung über die Gründung von Industriebetrieben vorbehielten, ja mit ihr oft bestimmte Auflagen verbanden, und er konzentriert sich zugleich auf die Entscheidungen der Ministerien, also der Zentralregierung. Die für die tatsächliche Gestaltung eines industrialisierenden Raumes so wichtigen Maßnahmen der kommunalen und bezirklichen Instanzen können hingegen nur am Rande berücksichtigt werden1. Versucht man, sich der Motive der badischen Staatsregierung bei Entscheidungen über Industrieansiedlung zu vergewissern, so scheint auf den ersten Blick die Frage nach planerischen Gesichtspunkten verfehlt. Nicht nur lag ihr die Einführung einer „Planwirtschaft" im Sinne der modernen Volkswirtschaftslehre, also die Planung und Lenkung des Wirtschaftsablaufes durch eine zentrale Instanz, naturgemäß völlig fern, sondern auch die Gesichtspunkte einer „Landesplanung", die die gesamte Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur des Landes ins Auge faßt, kannte sie noch nicht. Bewußte Planung der Industrialisierung in Baden, wie sie im 20. Jahrhundert in vielen entwicklungsbedürftigen Regionen betrieben wird, gab es nicht. Bei genauerem Zusehen modifiziert sich dieser erste Eindruck jedoch. Zwar gibt es keine Gesamtplanung, weder für die wirtschaftliche Entwicklung, noch für die Sozialstruktur, noch für die Raumordnung; es gibt auch keine ausgesprochene Industrialisierungspolitik, wohl aber gewisse Fördernngsmaßnahmen

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und bestimmte wirtschafts- und gesellschaftspolitische Entscheidungen, denen feste Grundsätze und wenigstens punktuelle planerische Gesichtspunkte zugrunde lagen. Die beiden wichtigsten Motive dafür sind in der Arbeitsbeschaffung und in der Stärkung des Mitteistandes zu sehen, die beide zu den erklärten Zielen der badischen Regierung gehörten. Beide Motive spielten zusammen in dem, was man bis heute Gewerbeförderung nennt. Darüber hinaus kamen in der Verkehrspolitik, besonders bei der Planung des Eisenbahnnetzes, bereits gesamtwirtschaftliche Vorstellungen zutage, die privatwirtschaftlichen deutlich vorgeordnet wurden. Es ging dabei zwar nicht in erster Linie um die Erschließung des langgestreckten badischen Staatsgebietes für Industrieansiedlung oder Fremdenverkehr, sondern um die Sicherung des Durchfuhr- und Außenhandels, aber die Entscheidung von Regierung und Landtag, die badische Eisenbahn von vornherein als Staatsbahn zu bauen und zu betreiben, ist deutlich von dem Wunsch bestimmt gewesen, privatwirtschaftliche Sonderinteressen (besonders solche von „Ausländern", z. B. Kölner oder Frankfurter „Kapitalisten", die als Träger einer Priyatbahn vor allem in Frage gekommen wären) auszuschließen2. Staatliche Planung geschah hier nicht so sehr, weil man von ihrer Überlegenheit gegenüber privater Initiative überzeugt war, sondern aus Furcht vor Überfremdung — ein Motiv, das in vielen und besonders kleineren Entwicklungsländern immer wiederkehrt. Das wichtigste Verkehrsnetz der Zukunft sollte nicht von Entscheidungen Landesfremder abhängig sein, und da die Bewältigung der Aufgabe durch Einheimische, vor allem die interne privatwirtschaftliche Kapitalaufbringung nicht gewährleistet schien, entschied man sich für Bau und Betrieb des Netzes durch die öffentliche Hand. Diese Entscheidung aus den Jahren 1840/41 scheint, wenn man sie retrospektiv betrachtet, weit in die Zukunft zu weisen, war sie doch die erste „Verstaatlichung" eines Eisenbahnnetzes in Deutschland, die sich später dann ja ganz durchsetzte. In Wirklichkeit steht sie aber durchaus in der Tradition kontinentaleuropäischer Wirtschaftspolitik, die im Gegensatz zu der angelsächsischen die Erhaltung und den Ausbau des Verkehrsnetzes ja als Aufgabe „öffentlicher Instanzen", von Landesherren und Städten, ansah, nicht zuletzt, weil bei ihr stets auch militärische Gesichtspunkte eine große Rolle spielten. In Baden ging ihr überdies noch die Sorge um Schiffbarmachung und -erhaltung des Rheins voraus, für die der badische Staat der nachnapoleonischen Zeit mit der Rheinregulierung Tullas Beachtliches geleistet hatte. Auch diese Rheinregulierung kann man durchaus als eine planerische Maßnahme betrachten, die allerdings mit der Industrialisierung direkt nichts zu tun hat, denn das Motiv einer Standortverbesserung für mögliche Industrieansiedlung hat dabei keine Rolle gespielt. Um das Vorhandensein oder Fehlen und die Reichweite planerischer Eingriffe in den eigentlichen Industrialisierungsprozeß im frühen 19. Jahrhundert gerecht beurteilen zu können, müssen wir uns klarmachen, von welchen Voraussetzungen die Gewerbepolitik dieser Zeit ausging, welche Erfahrungen und Ideen ihr zugrunde lagen und welche praktischen Möglichkeiten sie hatte. Aus zwei sehr verschiedenen Gründen ist nämlich eine bewußte Planung der Indu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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strialisierung von vornherein kaum zu erwarten. Zum einen sind die ersten zwei Drittel des Jahrhunderts Zeiten wachsender Durchsetzung liberaler Ideen. Der Staatseingriff, der im 18. Jahrhundert als „normal" gilt, wird immer mehr zur anormalen Ausnahme gestempelt. Erst seit den siebziger Jahren ist eine Umkehrung dieser Tendenz festzustellen, und auf dem Wege über die Sozialpolitik beginnt der Staat wieder planmäßig Einfluß auf die Wirtschaft zu nehmen. Die Tatsache wachsender Anerkennung liberaler Grundsätze beruht nun aber nicht auf irgendwelchen isolierbaren ideengeschichtlichen Konstellationen, sondern auf der ganz elementaren Erfahrung der Staatsverwaltungen, daß sie zu einer angemessenen Lenkung des volkswirtschaftlichen Prozesses, ja auch nur zur Führung einzelner Unternehmen nicht die geeigneten Mittel besaßen. Das Ergebnis merkantilistischer Politik war die Anerkennung der Unzulänglichkeit dieser Politik gewesen. Diese Erkenntnis setzte sich zwischen 1770 und 1830 in den deutschen Staatsverwaltungen schrittweise durch; in Baden beginnt sie relativ früh, früher wahrscheinlich als in Preußen, schon unter Karl Friedrich, aber sie schreitet nur langsam fort. Die napoleonische Zeit stellt hier keinen Bruch dar. Eine der preußischen entsprechende grundsätzliche Reform hat es nicht gegeben, aber die schon länger eingeschlagene Richtung wird beibehalten. Das wird aus zahlreichen Referentenbemerkungen und Entscheidungen in Gewerbesachen deutlich. Die „neueren Grundsätze" werden immer häufiger beschworen, und selten fehlt der Hinweis auf fehlgeschlagene staatswirtschaftliche Experimente hier und anderswo. Zunächst betreffen die „neueren Grundsätze" vor allem die Privilegien- und Konzessionspolitik. Das alte „Privilegium exclusivum" verliert schon Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung und wird durch die bloße Konzession eines Gewerbebetriebs ersetzt. Zwar stellt der Staat oft genug noch — vor allem durch seine unteren Behörden — sowohl die Bedürfnis- wie die Vermögensfrage, d. h. er macht die Erteilung der Konzession von dem Bedarf nach einem Gewerbebetrieb und von der nachgewiesenen Finanzkraft des oder der Unternehmer abhängig; Privilegien im alten Umfang, d. h. zeitlich und räumlich, z. Τ. auch sachlich beschränkte Monopole, gewährt er aber nicht mehr. Dann werden die „neuen Grundsätze" auch auf Nebenbedingungen ausgedehnt. Immer weniger wird die Erlaubnis zu einem Gewerbebetrieb an bestimmte Auflagen, z. B. einen nicht zu unter- oder überschreitenden Holzverbrauch oder das Verbot einer bestimmten Unternehmensform geknüpft, und schließlich schwindet auch die Vorprüfung des Bedürfnisses und der Vermögensumstände, in den sechziger Jahren schließlich die staatliche Konzession überhaupt. Die immer mehr sich durchsetzende Überzeugung, daß die Wirtschaft am besten dem tätigen Bürger in eigener Verantwortung überlassen bleibe, ist also der erste entscheidende Grund, warum planerische Gesichtspunkte bei der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nur wenig zum Zuge kommen konnten. Der andere Grund ist das Fehlen einer Konzeption für eine spezifische Industrialisierungspolitik oder, um einen noch moderneren Terminus zu nehmen, für eine Politik des wirtschaftlichen Wachstums. Mit anderen Worten: Indu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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strialisierung ist kein Ziel staatlicher Politik, zumindest nicht in Baden; es ist auch kein Mittel zur Ankurbelung eines wirtschaftlichen Wachstumsprozesses. Die entstehende Industrie wird zwar hingenommen, sie wird in Einzelfällen auch gefördert, ja staatliche Mittel werden für Industriegründungen direkt und indirekt eingesetzt; das Ziel ist aber nicht die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Hilfestellung bei der Herausbildung einer industriellen Gesellschaft, sondern viel allgemeiner, altmodischer, auf den selbständigen Kleinbetrieb zugeschnitten, eine Förderung des „Gewerbefleißes" und des „Nahrungsstandes" der Bevölkerung. Man könnte nun fragen, ob das nicht letzten Endes auf das gleiche herauskomme, ob es sich hier nicht lediglich um eine altertümliche Terminologie handele, die in ihrer Weise das meint, was man heute als Industrialisierungs- oder Wachstumspolitik bezeichnen würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Wir werden später noch sehen, daß es sich dabei im wesentlichen um Mittelstandspolitik handelt (wenn man dafür einen modernen Terminus verwenden will), noch genauer gesagt, um Bewahrung der alten agrarisch-kleingewerblichen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur. Gefördert wird theoretisch nur, was ihrer Stärkung dient, was sie jedenfalls nicht zu sprengen droht. Erst in den sechziger Jahren mit dem Sieg des politisch-wirtschaftlichen Liberalismus in Baden, der am stärksten mit dem Namen Karl Mathys verknüpft ist, wird diese konservative, konservierende Grundrichtung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik verlassen. — Ein bemerkenswertes Zwischenspiel gab es allerdings schon 1848, als der gleiche Mathy, kurze Zeit Minister, seine Pläne zur „Wiederbelebung der volkswirtschaftlichen Betätigung" in Baden verkündete und durchzusetzen versuchte. Trotz dieser grundsätzlich auf Konservierung des Bestehenden gerichteten Geisteshaltung sind praktisch doch auch industrielle Unternehmen vom Staat gefördert worden, die die überlieferten Dimensionen sprengen mußten. Hier tritt ein Gegensatz auf zwischen den theoretischen Anschauungen und den praktischen Erfordernissen, den man ja bei allen Entscheidungen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik beachten muß. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Krisensituation zu Beginn des Jahres 1848, faßten Regierung und Mehrheit des Landtags den schweren Entschluß, den drei größten Fabriken des Landes, der Zuckerfabrik Waghäusel, der Spinnerei und Weberei Ettlingen und der Maschinenfabrik Keßler in Karlsruhe, mit einer staatlichen Zinsgarantie für die Gläubiger zu Hilfe zu kommen, um nicht ihren Bestand zu gefährden und dadurch — und das ist für die meisten der entscheidende Punkt — mehr als zweitausend Arbeitern ihren Arbeitsplatz zu rauben. II. Damit aber kommen wir zu dem ersten von uns herausgestellten Motiv für gestaltende Eingriffe des Staates (auch der Bezirk- und Lokalbehörden) in das Wirtschaftsleben. Wenn auch von einer Industrialisierungs- oder Wachstums© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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oder Vollbeschäftigungspolitik im Sinne des 20. Jahrhunderts keine Rede sein kann, so sehen sich doch die staatlichen Instanzen auch des 19. Jahrhunderts verpflichtet, den Bewohnern ihres Landes in allen seinen Teilen zu einem die Existenz sichernden Unterhalt zu verhelfen. „Verdienst- und Nahrungslosigkeit" sind zwei Geißeln, die sie von ihren Untertanen abzuhalten versuchen. Das zeigt sich schon gleich zu Beginn des Jahrhunderts, als die Säkularisierung den Hoheitsbereich des badischen Staates beträchtlich ausdehnt, zugleich aber mit der Aufhebung der Klöster den Bewohnern vieler dieser neuen Gebietsteile die wichtigste Nahrungsquelle zu verschließen droht. Denn die Klöster waren in diesen breisgauischen und schwarzwälder Regionen wichtige Arbeitgeber und Armenfürsorger gewesen. Beide Funktionen fielen nun fort, und der badische Staat bzw. die Gemeinden mußten in die Bresche springen. Sowohl von der Zentral- wie von den Lokalbehörden wie übrigens auch von Pfarrherren der ehemaligen klösterlichen Gebiete ging daher die Initiative für eine Politik der Industrieansiedlung — wie wir es heute sagen würden — im hohen Schwarzwald aus. Die „Verdienst- und Nahrungslosigkeit der armen Schwarzwälder", deren gewerbliche Hauptverdienstquelle, das Handspinnen für Schweizer Verleger, übrigens zur gleichen Zeit zu versiegen drohte, war also das Hauptmotiv dieser freilich sehr zaghaften Ansätze zu einer Industriepolitik. Für den Staat kam als mächtiges zweites Motiv ein fiskalisches hinzu: die nutzbringende Verwendung der ihm zugefallenen Klostergebäude. Schon im 1. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts finden wir eine lebhafte Tätigkeit auf den verschiedenen Ebenen der Verwaltung mit dem Ziel, fähige Unternehmer in die Schwarzwaldtäler und -höhen zu ziehen. Die Klöster Ettenheimmünster, Allerheiligen, Frauenalb, St. Peter, Günterstal, Waldkirch und vor allem St. Blasien sind für kürzere oder längere Zeit für die Einrichtung von Manufakturen und Fabriken zur Verfügung gestellt worden, und private Unternehmer haben hier, vom Staat ideell und materiell unterstützt, mit wechselndem Erfolg ihr Glück versucht, fast alle übrigens in der Textilbranche, sei es mit Webmanufakturen, sei es mit der Anlage mechanischer Spinnereien (Ettenheimmünster, Frauenalb, Günterstal, St. Blasien)3. Bei der Verwertung dieser Klöster kam es zu einigen interessanten Entscheidungen, die zeigen, wie primär die Arbeitsbeschaffung das Handeln der Regierung bestimmte. So waren Gebäude und Ländereien von Waldkirch zunächst an einen Unternehmer verpachtet worden, der sie dann als Ganzes zu kaufen wünschte. Doch auch die größeren Bauern der Gegend wollten ihren Landbesitz abrunden. Sie fürchteten, der Unternehmer werde das Land nur kaufen, um es ihnen nachher parzellenweise zu Wucherpreisen weiterzugeben. Die Regierung entschied sich jedoch nach langem Hin und Her für den geschlossenen Verkauf, weil nur so garantiert sei, daß die „armen Waldbewohner" eine Arbeitsmöglichkeit (Manufaktur und Landwirtschaft) erhielten. Bei der Wahl zwischen einer agrarischen und einer Arbeitsbeschaffungspolitik wurde der letzteren der Vorzug gegeben, großenteils, weil es sich dabei um das elementarere, dringendere Problem handelte, um die Beseitigung unmittelbarer Armut. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Noch deutlicher ist dieses Motiv bei der Gründung der Fabrik in St. Blasien. Schon das Gutachten des Karlsruher Baudirektors Weinbrenner über die zweckmäßigste Verwendung des Klosters kulminierte in dem Vorschlag: Arbeitsbeschaffung durch Gewerbeansiedlung. Das Finanzministerium schrieb daher das Kloster zur Verpachtung aus. Als Schweizer Interessenten sich meldeten, wurde der St. Blasische Forstmeister beauftragt, deren Solidität zu prüfen. Er schließt seinen Bericht mit den Worten, die zum Leitstern für die weitere Förderung St. Blasiens als Industriestandort durch die Regierung werden sollten: „Der wichtigste Gewinn für das ganze Land bestände aber m. E. in der Errichtung guter Spinnmaschinen und in der Emporbringung der Weberei, die am Ende nicht nur den Verlust der Handspinnereien ersetzen, sondern unter einer guten Leitung und kleinen Aufmunterung denselben übertreffen könnte. Auf die Verbreitung solcher Maschinen und Webereien inner dem Lande müßte das Hauptaugenmerk gerichtet werden, und hierzu wäre die Fabrik zu St. Blasien das Samenkorn, welches man mit Sorgfalt kultivieren müßte."4 Nicht alle Beamten und auch nicht der Erbgroßherzog selbst sahen dem zukünftigen Fabrikbetrieb mit der gleichen Erwartung entgegen. Dieser bezweifelte vielmehr, ob eine Fabrik, „die sich bloß mit Verfertigung von Maschinen beschäftigt . . . mehrere Jahre hindurch eine beträchtliche Anzahl von Arbeitern sollte anstellen können", und zögerte deshalb mit seiner Zustimmung zum Pachtvertrag5. Zu ihrer endgültigen Etablierung bedurfte es eines Gutachtens des Heidelberger Mathematikers, Prof. v. Langsdorf, der nicht nur dem Unternehmer Bodmer ungewöhnlich technische Talente bescheinigte, sondern wiederum die Frage aufgriff, „ob und wiefern diese Fabrik zur Hebung des gesunkenen Nahrungszustandes der Schwarzwälder beitragen werde". Von Langsdorf betonte vor allem den indirekten Nutzen, den eine moderne Maschinenfabrik mit angeschlossener Spinnerei und Weberei und eine Gewehrfabrik für die Schwarzwälder Bevölkerung haben werde. Nicht so sehr auf die Zahl der direkt in ihr Beschäftigten kam es ihm an als auf die Verbreitung neuer technischer Kenntnisse auf dem Schwarzwald, die es vielen ihrer Bewohner ermöglichen würden, sich selbst neue Nahrungsquellen zu erschließen. „Nach der Ansicht, die ich im bisherigen dargelegt habe, kann ich durchaus keinen bedeutenden unmittelbaren Einfluß dieser Fabrikstätte . . . auf den Nahrungsstand des Schwarzwaldes im ganzen begreifen", formulierte er vorsichtig. „Aber äußerst wichtig kann diese Fabrik, wenn sie auch nicht auf eine lange Reihe von Jahren berechnet wäre, als Künstler-Schule für den Schwarzwälder werden, der soviel Talent für Kunstarbeiten besitzt. Hier wird sein Erfindungsgeist noch mehr geweckt; er lernt die Verfertigung vollkommener Werkzeuge, deren er bedarf, kennen und wird sich solche in der Folge selbst verfertigen . . . Er wird selbst auf neue Fabrikate denken, und er lernt hier mannigfaltige Vorrichtungen kennen, durch die er mittels eines Wasserrades willkürliche Bewegung aller Art hervorzubringen imstande ist. Gewiß wird auch mancher Schwarzwälder aus dieser Schule hervorgehen, der sich in der Folge selbst eine Spinnmaschine zu erbauen vermag."6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Nicht die Einrichtung von Fabriken also ist das Ziel, das die badischen Beamten im Auge haben, wenn sie St. Blasien zu einer Musterschule des industriellen Schwarzwaldes machen wollen, sondern die Übertragung der modernen Technik, des besonderen „Kunstgeschicks" des Maschinenbauers auf die häusliche Erwerbstätigkeit der Gebirgsbewohner. Der Referent des Finanzministeriums macht sich diese Argumente zu eigen, wenn er hofft, daß es nach und nach dem „Kunstsinne" der Schwarzwälder gelingen könne, diese kleinen Maschinen selbst zu verfertigen und „bei der Genügsamkeit in ihren Hütten" die Konkurrenz mit den großen Maschinenspinnereien auszuhalten. Er glaubt, daß dann der Vorteil „für dieses fleißige Volk", das auch schon in der Baumwollweberei mit allen Hindernissen standhaft kämpft, nicht zu berechnen wäre. Vor kaum hundert Jahren machten die Schwarzwälder die ersten Versuche mit hölzernen Uhren. Seitdem haben sie es zu einer beachtlichen Höhe in „Kunst- und kommerzieller Hinsicht" darin gebracht. „Zuverlässig also läßt sich erwarten, daß ein Etablissement, welches als eine vortreffliche technische Schule betrachtet werden muß, den heilsamsten Einfluß bei einem Volke von solcher Empfänglichkeit auf die Verbesserung der Werkzeuge und der Vorrichtungen vieler Gewerbe, folglich auf die Erhöhung der Nationalindustrie haben werde." 7 Auch mehrere Regierungskommissionen, die im Laufe der nächsten Jahre wiederholt den Betrieb besichtigten und begutachteten, um herauszufinden, ob die Gesuche um Steuernachlässe, bzw. direkte finanzielle Hilfe, die der Unternehmer immer wieder stellte, Unterstützung verdienten, hoben immer wieder den Charakter der Firma als „Keimzelle höherer Gewerbetätigkeit" hervor. Charakteristisch dafür ist ein Gutachten aus dem Jahre 1816, sieben Jahre nach der Gründung der Fabrik: „Wie man den Benediktinermönchen, welche in tausend Jahren ihre hölzernen Zellen an der Alb zu einem ausgedehnten Prachtgebäude erhoben, . . . die erste Kultur des Schwarzwaides verdankt: so wird man einst dem Fabriketablissement, das jetzt an die Stelle des Klosters getreten, den Anfang neuer und höherer Gewerbsamkeit verdanken, ohne die ein großer Teil des Schwarzwaldes bei der zugenommenen Bevölkerung in Armut und Elend versinken müßte. Schon jetzt leistet dieses Etablissement der Umgegend mehr als das Kloster in seiner höchsten Blüte, schon jetzt ist die gefährliche Lücke ausgefüllt, welche dadurch entstand, daß die Revenuen desselben nicht mehr auf dem Schwarzwalde verzehrt werden. Aber noch wichtiger als dieser Ersatz selbst ist die Art, wie er den Bewohnern der Gegend zuteil wird: das Kloster St. Blasien nährte die Armen und pflegte dadurch die Armut; die Industrieanstalt in St. Blasien nährt die Arbeitsamen, pflegt die Betriebsamkeit." 8 Was hier im Fall der Fabrik von St. Blasien besonders deutlich wird, wiederholt sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte, wenn auch abgeschwächt, vielfach. Wenn immer die Frage der Förderung der Fabrikindustrie ansteht, geht es sehr wesentlich um die Schaffung bzw. Erhaltung von Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsamkeit; umgekehrt jedoch wird, wo man sich gegen die Industrialisie6 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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rung stemmt, als Hauptgefahr der Industrialisierung die Schaffung einer von Fabrikarbeit abhängigen Bevölkerung befürchtet. Fabriken sollen einheimische Arme ernähren, sie sollen aber keine neuen schaffen oder fremde herbeiziehen, darin liegt ihre große soziale Gefahr. Vor ihr warnt schon 1837 der Abgeordnete und Professor der Rechte an der Universität Freiburg, Buss, in seiner berühmten Rede vor der IL Badischen Kammer, der ersten sozialpolitischen Rede in einem deutschen Parlament, wenn er davon spricht, daß „übertriebene Fabrikation" alle Verhältnisse „der Stände und der Staatsgesellschaft" auflöst, die wachsenden Bevölkerungsmassen desorganisiert, dem Charakter des Volkes „einen Zug der Windigkeit, des Wagens, des Spiels" verleiht9. Und im gleichen Sinn schreibt 1840 die regierungsnahe Karlsruher Zeitung: „Wir wollen keine fremden Proletarier ernähren, aber noch weit weniger Pflanzschulen anlegen für einheimische Proletarier, die unausbleiblich da sich bilden, wo erkünstelte Fabrikindustrie neben hohen Tagelöhnen sich kümmerlich fortschleppt."10 Auch in diesen negativen Stellungnahmen steht also die Rolle der Fabriken als Arbeitgeber im Vordergrund, nur daß sie hier als unzuverlässige, keine Sicherheit gewährende Arbeitgeber angesehen werden. Das schien sich in der Krise von 1848 zu bestätigen, als gerade die größen Fabriken im Lande zu wanken begannen. Glaubten so die Gegner der Industrie ihre Warnungen bestätigt, so wiesen fortschrittliche liberale Männer wie Mathy und Buhl sogleich darauf hin, daß die „Industrie ein unentbehrlicher Bestandteil des Wohlstandes und der Hülfsquellen der Nation geworden" sei11. Und der Fabrikant Karl Mez aus Freiburg, ein liberaler Abgeordneter und strenggläubiger, fast pietistischer Protestant, rief den Abgeordneten zu, daß die drei wankenden Fabriken bisher den Arbeitern jährlich 800 000 Gulden an Lohn gezahlt hätten. „Glauben Sie vielleicht, daß diese Menschen gleich wieder anderes Brot fänden? Oh, gehen Sie doch hinaus und erkundigen Sie sich, wie es bei ihnen ausgesehen hat vor der Errichtung der Anstalten. Gehen Sie namentlich in den nahegelegenen Hardtwald, und wo früher wenige elende Hütten standen, werden Sie jetzt ein großes Dorf voll niedlicher geräumiger Häuser finden, bewohnt von Menschen, die jetzt ihr ehrliches, schönes Auskommen haben, während sie früher dem traurigen Gewerbe von Wilderern und Holzfrevlern aus Mangel an anderem Gewerbe sich hingeben mußten."12 Die Fabrik als Arbeits-, Verdienst- und Nahrungsquelle also ist es, die die badischen Beamten und Abgeordneten in erster Linie interessiert. Nur selten hat das, wie im Fall St. Blasien, zu direkter staatlicher Planung geführt. Mittelbar aber hat dieser Standpunkt eine ganze Reihe von Verwaltungsentscheidungen beeinflußt, die insgesamt einen gewissen Einfluß auf die relativ günstige Industrieverteilung Badens gehabt haben, denn immer waren es die Notstandsgebiete, denen sich die Aufmerksamkeit der Behörden zuwandte, der Hochschwarzwald, der Hotzenwald, der Odenwald und die dem Elsaß, besonders Straßburg unmittelbar gegenüberliegenden Gebiete, die durch die scharfe französische Zollgrenze wirtschaftlich gelitten hatten. Die Fürsorge ging nicht so weit, daß diese Notstandsgebiete tatsächlich beseitigt worden wären — so ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lang es z. B. nicht, auf dem Hotzenwald Gewerbe in zureichendem Umfang anzusiedeln —, aber sie hat immerhin zu einzelnen vorsichtigen Planungsakten geführt. III. Ein zweites wichtiges Anliegen der badischen Regierung war die Stärkung des Mittelstandes13. Auch hier trafen sich übrigens wie bei dem ersten Ziel die Konservativen mit der Mehrzahl der Liberalen. Mittelständisch, aus dem Handwerk erwachsen und ihm nicht entfremdet, so stellte man sich auch die ideale Fabrik vor. Was an Ansätzen an Strukturpolitik, wie wir heute sagen würden, in Baden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorhanden war, wird damit motiviert. Am besten läßt sich dies in der Diskussion um die Gewerbefreiheit verfolgen, die ja in Baden wie in den anderen süddeutschen Staaten bis in die sechziger Jahre hineinreichte. In einer Debatte in der II. Kammer hat im Jahre 1845 der Regierungsdirektor Rettig, ein konservativer Abgeordneter, diese Grundsätze wohl am treffendsten ausgesprochen: „Der gewerbetreibende Mittelstand bedarf in der gegenwärtigen Zeit des Schutzes der Gesetzgebung und verdient diesen so wie jede gesetzliche Pflege und Förderung von seiten der Staatsgewalt in vorzüglichem Grade. Er bildet die Grundfeste der Staatsgesellschaft in sittlicher, ökonomischer und politischer Hinsicht und kann sich in keiner von diesen drei Beziehungen von der Staatsgesellschaft lossagen, ohne seine eigene Existenz zu gefährden. Nur bei stillem, häuslichem Fleiß gedeiht der Gewerbestand; nur bei geordnetem Hauswesen, mäßiger, auf Familienglück basierter Lebensweise reichen die Erträgnisse seiner Tätigkeit für die Bedürfnisse seines Hauswesens und seiner Familie hin; nur auf einer mit Tüchtigkeit gepaarten Sittlichkeit ruht der Wert, der Standesadel des Gewerbsmannes. Die auf diesem Wege errungene glückliche, wenigstens dem Verständigen behagliche Existenz ist auch am meisten vor Wechselfällen und Auswüchsen gesichert; sie ist die solideste, weil sie nicht aufzehrt oder niederdrückt, sondern gegenseitig erhellt und fördert, das Gesamtvermögen der Staatsgesellschaft unter viele produktive Hände verteilt und deren eigenes Interesse an dessen Vermehrung knüpft . . . Auch in politischer Beziehung erscheint der Mittelstand als die Grundfeste des Staates; er hat etwas zu verlieren und das Seinige ist ihm wert, weil es durch Mühe und Arbeit errungen ist; er fühlt und erfährt in seinem eigenen Geschäft und Hauswesen, daß eine gewisse Leitung bestehen, daß gesetzliche Ordnung gehandhabt sein muß, wenn eine Genossenschaft, sie sei groß oder klein, gedeihen soll; er weiß und bedenkt überdies, daß nicht bloß die momentanen Verluste, welche im Gefolge von Unordnungen sind, ihn treffen können, daß auch die nachhaltigen Folgen der Zerrüttung des Staatshaushaltes, des gestörten Verkehrs und des erschöpften Kredits zuletzt immer wieder auf ihn zurückfallen. Den Reichtum kann Übermut und Üppigkeit, die Armut kann bittere Not und Verzweiflung zum Angriff auf die Sicherheit der Ordnung des Staates verleiten; beide sind, wiewohl auf entgegengesetztem Wege, der Ver6*

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suchung ausgesetzt, infolge eigener Entsittlichung mit dem Bestehenden unzufrieden zu sein, für das Mißbehagen an dem eigenen Zustand ein Heilmittel in einer Veränderung des öffentlichen Zustandes zu suchen; der Mittelstand erwehrt sich der Extreme und steht als Schutzmittel des Staates gegen solche Verirrungen fest."14 Diese Schutzwehr zu erhalten und zu stärken, ist erklärtes Ziel der badischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gewesen, Am ausgedehntesten und nachhaltigsten ist in diesem Zusammenhang die Regierung für die Schwarzwälder Uhrmacher tätig geworden, über deren Lage in den dreißiger Jahren ausgedehnte Enquêten durchgeführt wurden und die schließlich um die Mitte des Jahrhunderts eine staatliche Fachschule in Furtwangen bekamen. Auch die Förderung der Gewerbevereine, Gewerbeschulen und Gewerbeausstellungen gehört hierher, wie überhaupt die ausgedehnte Betätigung zugunsten von Handwerk und Heimindustrie. Das Handwerk, noch lange unter dem Schutz der Zunftordnungen, schien dabei weniger gefährdet als die Heimindustrie. Fast alle direkten Staatsausgaben in der Gewerbeförderung sind für die Heimindustrie ausgegeben worden, für die Beschaffung von Modellen, von Lehrern für die Strohflechter, für die Erprobung neuer Handwebstühle, für verbesserte Einrichtungen bei den Löffelschmieden oder für die Einführung der Zündholzfabrikation im Oden- und Hotzenwald. Bezeichnend für die Sorge der Regierung um den Bestand der Heimindustrie ist eine Frage des Finanzministers Boeckh an die Fabrikanten des Landes aus Anlaß der Beratungen um den Beitritt zum Zollverein: „Ich muß frei gestehen", legte er den Fabrikanten dar, „daß ich einen großen Wert auf denjenigen Fabrikationszweig lege, der z. Τ. hausmäßig betrieben werden kann, wo die Leute in ihrer eigenen Wohnung arbeiten und zwar zu der Zeit, wo sie Mangel an anderer Beschäftigung haben. Es ist mir daher von Wichtigkeit, von Ihnen zu vernehmen, ob diese Maschinenweberei nicht hausmäßig betrieben werden kann, . .. denn schon das Zusammenbringen dieser Menschen an einem und demselben Ort ist eine Verteuerung der Fabrikation. Wenn die Leute an ihrem eigenen Herd arbeiten, so gewährt dieses einen außergewöhnlichen Vorteil und entfernt zugleich manche Nachteile, die mit der Versammlung vieler Menschen in einem Etablissement verbunden sind."15 Freilich mußte auch die badische Regierung einsehen, daß diese Wünsche mehr und mehr unrealistisch wurden. Bedeutende Auswirkungen hat daher die Förderung der Heimindustrie und die ganze Mittelstandspolitik nicht gehabt. Wenn die Regierung Darlehen zur Förderung der Heimindustrie gab, mußte sie sie fast immer in verlorene Zuschüsse umwandeln. Auch das Handwerk hat dadurch, daß es länger in der Zunftordnung verblieb als das preußische oder pfälzische, kaum Vorteile gehabt. Immer deutlicher wird daher im Laufe der ersten beiden Drittel des Jahrhunderts auch das Auseinanderfallen grundsätzlicher Bekenntnisse und praktischer Maßnahmen. Die praktischen Maßnahmen, wie wir sie etwa am Beispiel der Dreifabrikenfrage gesehen haben, bestimmten sich von Fall zu Fall nach pragmatischen Gesichtspunkten. Insgesamt aber kann © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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man auch bei ihnen einige allen zugrunde liegenden Prinzipien erkennen, Man wird sie am besten als die Grundsätze eines gemäßigten Liberalismus bezeichnen können, der beispielhaft ausgedrückt ist in einem Votum der Regierung des Oberrheinkreises aus dem Jahre 1838, in dem es heißt, daß die Regierung den Unternehmern keine unnötigen Schwierigkeiten machen, ihnen andererseits aber auch nichts aufdrängen solle, denn: „Überall zeigt sich Widerstand, sobald von Staats wegen ein neuer Industriezweig, eine Kulturvorschrift oder eine . . . Verbesserung im Gewerbewesen oder in der Landwirtschaft eingeführt werden solle. Dagegen spricht sich lauter Dank aus, wenn die Regierung, sobald sich infolge günstiger Konjunkturen ein Kultur- oder Industriezweig zu heben beginnt, gemäß der ihr zustehenden Polizeigewalt die Hindernisse beseitigt, welche seinem Gedeihen entgegenstreben und die der einzelne Bürger nicht wegzuräumen vermag." Die Beseitigung solcher Hindernisse ist also die eigentliche Aufgabe der Regierung, darauf soll sie sich aber auch beschränken16. Bei solcher Grundeinstellung sind weitschauende Eigenplanungen des Staates nicht zu erwarten. Alles, was man allenfalls an Raumordnungsplänen oder gesellschaftlichen Strukturplänen erkennen kann, sind winzige Ansätze. Doch sei, um zu einer gerechten Wertung zu kommen, nochmals daran erinnert, daß sich im 19. Jahrhundert zuerst einmal die Erkenntnis durchsetzen mußte, daß die bisher bekannten Methoden staatlicher Planung versagt hatten. Auch eine Regierung, die in gleicher Lage weitschauende Pläne verfolgt hätte, hätte vermutlich kaum größere Erfolge erzielen können als die badische mit ihrem vorsichtigen Laissez-faire.

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S t a a t u n d Gesellschaft B a d e n s i m V o r m ä r z I Überblickt man die bisherige Literatur zur badischen Geschichte des Vormärz, so dominieren eindeutig die Untersuchungen, die sich mit der badischen Verfassung im engeren Sinne, den Sitzungen des Landtags, den Konflikten zwischen Regierung und Landtag, der Entwicklung einer politischen Opposition und der Vorgeschichte der Revolution befassen. Das ist kein Wunder, denn Baden ist das Land, in dem das sog. „Verfassungsleben", wie die Zeitgenossen sagten, d. h. die Gestaltung der politischen Dinge nach einem geschriebenen Grundgesetz unter Mitwirkung einer Volksvertretung, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am weitesten in Deutschland fortgeschritten war. Schon die Zeitgenossen empfanden das, vor allem die Fortschrittlichen und Freisinnigen selbst. Sie erblickten in Baden vor allen anderen Ländern das Prüffeld, auf dem sich zeigen mußte, wie weit die neuen Ideen des Jahrhunderts, die konstitutionelle Monarchie, der politische Liberalismus und die Demokratie in Deutschland schon an Boden gewonnen hatten. Aber auch der spätere Beobachter wird immer wieder beeindruckt von der Beispielhaftigkeit und der Grundsätzlichkeit der Debatten und Konflikte, die der vormärzlich badische Landtag ausfocht. „Es wird wohl kaum ein Problem des modernen westeuropäischen Konstitutionalismus gehen", schreibt Franz Schnabel in seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts, „das nicht in der Vergangenheit vor dem Forum der badischen Kammer immer wieder diskutiert und in seiner wissenschaftlichen und politischen Bedeutung dargelegt worden ist. Die Verhandlungen der badischen Landtage wurden in diesem Sinne vorbildlich für ganz Deutschland."1 Ehe wir fragen, woran das liegt, wollen wir auf zwei Konsequenzen aufmerksam machen, die diese wohl unbestrittene Tatsache hat. Einmal birgt sie die Gefahr der Überschätzung Badens in sich. Zumal wenn man mehr die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Liberalismus im Auge hat als die politische Wirksamkeit der badischen Opposition in ihrem eigenen Lande, kristallisiert sich Baden allzu leicht als ein Mittelpunkt der deutschen Geschichte des Vormärz heraus. Ein Mittelpunkt war es aber gewiß nicht. Vielleicht war es ein Sammelpunkt liberaler Bestrebungen und ein Blickpunkt fortschrittlich Gesinnter, doch kaum ein Zentrum mit politischem Gewicht wie Preußen oder Österreich — noch nicht einmal ein voll eigenständiger Mittelstaat wie Bayern, Hannover, Württemberg oder Sachsen, sondern ein zwar ärgerlich lebhafter, aus verschiedenen Gründen, besonders seiner Grenzlage wegen wichtiger, aber immer nur drittrangiger deutscher Staat 2 . Die andere Konsequenz dieser auf den Landtag zentrierten Betrachtungsweise ist die Vernachlässigung der übri-

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gen Aspekte der badischen Geschichte des Vormärz. Selbst wenn wir innerhalb der Grenzen der politischen Geschichte bleiben, fällt auf, wie sehr andere, weniger ins Auge springende Erscheinungen gegenüber der Verfassungsgeschichte im engeren Sinne vernachlässigt sind. Die große vierbändige badische Landtagsgeschichte von Leonhard Müller besitzt z. B. kein Gegenstück in einer ähnlich gründlichen Regierungsgeschichte, also in einer politischen Geschichte im herkömmlichen Sinne. Vor allem aber ist fast nichts bekannt über die Zusammensetzung, die Herkunft, die Ausbildung und geistige Welt der badischen Beamtenschaft. Wenn das Schlagwort vom badischen „Musterländle" richtig ist — das freilich erst für eine spätere Zeit geprägt wurde — dann kann es sich aber nur auf die Qualität dieser Beamtenschaft beziehen. Es muß sich hier ein ähnliches Beamtenkorps herausgebildet haben wie in Preußen. Es zu untersuchen, ist eine unerläßliche Aufgabe, ehe die Frage nach Staat und Gesellschaft in Baden wirklich zureichend beantwortet werden kann. Denn die Beamtenschaft ist auch hier, trotz der Verfassung, das tragende Element des Staates und zugleich die führende bürgerliche Schicht3. Noch stärker tritt die Einseitigkeit einer Betrachtungsweise hervor, in deren Mittelpunkt der Landtag steht, wenn man die sozialen und wirtschaftlichen Aspekte der badischen Geschichte ins Auge faßt. Hier zeigt sich nämlich sehr bald, daß die Landtagsdebatten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sehr viel weniger ergiebig sind als die Verwaltungsakten, die von der täglichen Kleinarbeit zeugen, die die unteren und mittleren Verwaltungsstellen, aber auch die Ministerien selbst aufwandten, um den materiellen Wohlstand der Bevölkerung zu heben. Nur die Agrarfragen, vor allem soweit sie im Zusammenhang mit der Ablösung der Grundlasten stehen und als bestimmend für die Revolution angesehen werden, sind bisher ausführlicher in der Forschung behandelt worden4. Die Verhältnisse des Kleingewerbes sind noch fast unbekannt, obwohl es gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark anwächst und seine kleinbürgerliche Mentalität in einem engen Wechselverhältnis zum kleinstaatlichen Blickfeld zu stehen scheint5. Über die langsam wachsende Industrie herrschen nur sehr summarische, teilweise falsche Vorstellungen6. Vor allem aber wissen wir viel zu wenig über die staatsund gesellschaftstragende Schicht des höheren Bürgertums, das nicht nur die parlamentarische Geschichte Badens im Vormärz so stark geprägt, sondern das Land zu einem wesentlichen Teil auch „regiert" hat. Die leitenden Minister und der hohe Adel schließlich erscheinen fast nur im Spiegel der Opposition, der ihr Bild doch stark verzerrt7. Wüßten wir mehr über sie, so würde sehr wahrscheinlich die Tatsache, daß dem badischen Landtag so ein besonderes Gewicht in der deutschen Geschichte des Vormärz zugemessen wird, in einem neuen Licht erscheinen. Nur zur Hälfte scheint mir nämlich der Grund im Landtag selbst zu liegen, zur anderen Hälfte darin, daß dieses Parlament einen hartnäckigen Gegenspieler hatte, ein Gremium sachkundiger und willensstarker Minister, das nicht ohne weiteres gewillt war, Aufgaben und Rechte, die nach seiner Auffassung dem Großherzog und seinen Organen zustanden, den Männern des Volkes zu überlassen. Damit soll © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die Bedeutung der Zweiten badischen Kammer nicht herabgesetzt werden. Im Gegenteil! Gerade die Betonung der Bedeutung der Gegenspieler kann ihre eigene Leistung bei der Ausbildung des deutschen Parlamentarismus nur hervorheben. Niemand wird bezweifeln, daß diese badische Kammer mit ihren 63 Abgeordneten eine illustre Gesellschaft bildete, wie sie ähnlich wohl nur das Frankfurter Parlament von 1848 aufzuweisen hatte. Man braucht nur an Liebenstein, v. Itzstein, Rotteck, Welcker, Mittermaier, Bekk, Mathy, Bassermann und Hekker zu denken. Aber auch die zweite Garnitur, tüchtige badische Kaufleute, Fabrikanten und Bürgermeister wie Buhl, Helbing, Gottschalk, Speyerer, Völker oder Mez, die vor allem in den Etatberatungen ihren Mann standen und den Beamten des Finanzministeriums das Leben schwer machten, gereichen diesem Landtag zur Ehre. Wer kennt aber schon die Männer auf der anderen Seite? Die Freiherren Berstett und Blittersdorff sind als Verkörperung des reaktionären Regierungskurses in die Geschichte eingegangen, Nebenius und Winter und später Bekk als Männer des Ausgleichs, die zwischen dem Landtag, dem sie selbst angehörten, und der Regierung, in die sie eintraten, zu vermitteln suchten. Was weiß man aber schon von der zähen und überlegenen Ressortführung der Finanzminister v. Böckh und Regenauer, von dem vornehmlich im auswärtigen Dienst beschäftigten Aristokraten v. Dusch oder den Männern des Justizministeriums, von denen nur Trefurt wegen seines mehrmaligen Gesinnungswandels unrühmlich bekannt geworden ist? Was weiß man vor allem von der vorbereitenden und durchführenden Arbeit der Ministerialräte und „Geheimen Referendäre", die die Zustände in Baden im Vormärz sehr wesentlich bestimmt haben? Hier ist noch viel zu tun, und die Akten des Generallandesarchivs in Karlsruhe bilden eine solide Grundlage für die Forschung8. Das Auffallende und so ungemein Charakteristische in der Auseinandersetzung von Regierung und Landtag im badischen Vormärz ist die eigenartige Rolle, die dabei die Beamten spielen8a. Es ist bekannt, daß sehr viele der Abgeordneten dieses opponierenden Landtages selbst Beamte waren, nämlich im Durchschnitt fast 5 0 % , Männer also, die in ihrer außerparlamentarischen Tätigkeit der Regierung, die sie im Landtag bekämpften, dienten, ja die sie in gewisser Weise verkörperten. Denn es ist nicht ganz so, wie manche, vor allem die Zeitgenossen selbst, es dargestellt haben, daß die gefügigen Landtage, wie der von 1825 oder von 1833, aus Staatsdienern und die oppositionellen, wie der von 1831 oder der in die Revolution führende, aus unabhängigen Bürgern bestanden hätten. Gewiß gibt es in der Zusammensetzung des Landtages Ausschläge nach dieser und nach jener Richtung. Gewiß wurden bei gelenkten Wahlen, bei denen Regierungskommissäre durch die Lande reisten, um Vertrauen warben, ihre Kandidaten präsentierten und auch Drohungen nicht verschmähten, vor allem regierungstreue Beamte gewählt. Aber das Charakteristische ist, daß auch in den freien Wahlen, die große Mehrheiten für die Opposition brachten, die Badener immer wieder ihre Beamten ins Parlament schickten und gerade diese zu Wortführern der Opposition wurden, weil sie ihre Abgeordnetenpflicht höher stellten als ihre Staatsdienerpflicht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Das zeigte sich schon im ersten Landtag. Der Universitätsprofessor Rotteck in der ersten Kammer, der Oberamtmann v. Liebenstein und der Geheime Referendär Ludwig Winter in der zweiten Kammer, hielten jene grundlegenden Reden und Kommissionsberichte, von denen der süddeutsche Liberalismus im ganzen Vormärz zehrte. Winter, wie noch später öfters Abgeordneter und Regierungskommissar zugleich, verwarf im Namen des Landtags das Adelsedikt, das die Regierung kurz zuvor erlassen hatte. Ist es da ein Wunder, daß das Mißtrauen der adeligen Minister sich gerade gegen diese bürgerliche „Dieneraristokratie" wandte? Daß der Freiherr v. Reitzenstein zynisch erklärte: „Besser eine schlechtere Kammer als eine mit solchen Beamtenintelligenzen?"9 Oder daß der Freiherr v. Blittersdorf überlegte, welche Folgen für die Struktur des Staates es haben müsse, wenn die Regierung von den „mächtigen Dienerfamilien von allen Seiten umsponnen und zusammengeschnürt" werde? Blittersdorf sah durch sie die Freiheit sehr viel gefährlicher bedroht als durch die wenigen Privilegierten, die nach seiner Meinung kaum noch Macht in den Händen hatten. Es ist nicht nur persönliche Antipathie, sondern kennzeichnet den Gegensatz von altadeliger und bürgerlicher Dienstauffassung, wenn Blittersdorf die Kritik des Bürgertums an dem Adelsprivileg für Hofstellungen abschätzig kommentierte: „Nicht genug damit, die Adeligen aus allen administrativen Stellen verdrängt zu haben, möchten sie gerne auch noch die Hofstellen einnehmen, weil mit diesen gute Besoldung und mehr und minder Ansehen verknüpft sind, ob sie aber zu solchen Stellen taugen, darum bekümmern sie sich nicht. Es ist ihnen hinreichend, wenn sie sich nur imstande fühlen, die Besoldungen einzukassieren und den größten Teil derselben auf Zinsen zu legen. Um Repräsentation und würdige Umgebung ihres Fürsten würden sie sich im geringsten nicht kümmern, indem sie alles was hierauf Bezug hat, für veraltete Vorurteile ansehen."10 Diese untergründigen vorrevolutionären Wertvorstellungen muß man beachten, wenn man die Konflikte zwischen Regierung und Landtag analysiert, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des badischen Vormärz ziehen und die ihren Höhepunkt erreichen, als zu Beginn der vierziger Jahre die Regierung zwei Beamten den Urlaub zum Landtag verweigerte. Dieser „Urlaubsstreit" erregte neben der Frage der Pressefreiheit die Gemüter besonders stark, weil er eine Grundsatzfrage im Verhältnis von Regierung und Landtag anschnitt. Geht man den Ursachen dieser eigentümlichen Erscheinung eines opponierenden Beamtenparlaments nach, so stößt man auf zwei Fragen, die für die politische und gesellschaftliche Verfassung des Großherzogtums gleich wichtig sind. Die eine lautet: Wie kommt es, daß die badische Bevölkerung, wenn sie 63 Abgeordnete wählt, 31 oder 32 Beamte aussucht? Die andere: Wie kommt es, daß Beamte gegen ihren Staat, dem zu dienen sie zu ihrem Lebenszweck gemacht haben, öffentlich opponieren, daß einzelne von ihnen lieber ihre Stellung aufgeben, andere sich versetzen lassen, ehe sie sich zu gefügigen Werkzeugen ihrer Regierung machen lassen? Die erste Frage ist leichter zu beantworten. Sie ergibt sich unmittelbar aus der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gesellschaftlichen Struktur Deutschlands, besonders Badens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und aus den Nachwirkungen älterer Traditionen. Aus der Zeit des aufgeklärten Fürstenregiments war das Volk gewöhnt, in den fürstlichen Beamten den ausführenden Teil der Obrigkeit zu sehen. In ihnen repräsentierte sich der Staat sehr wesentlich. Sie waren von Berufs wegen mit den Dingen vertraut, die auf dem Landtag zur Sprache kamen. Sie wußten in Rede und Schrift zu überzeugen. Sie waren vor allem ein wesentlicher Bestandteil der Honoratiorenschicht. Besonders in den ländlichen Bezirken, in denen die gewerbliche Mittelschicht erst schwach ausgebildet war, kamen sie neben den Gastwirten fast als einzige Volksvertreter in Frage, denn größere Landwirte gab es unter der südwestdeutschen Flurverfassung ja nur selten. Die Zeitgenossen empfanden selbst, daß die Beamten den gewerblichen Mittelstand weithin ersetzen mußten. Im „Universallexikon vom Großherzogtum Baden von vielen Gelehrten und Vaterlandsfreunden", 1843 bei Macklot erschienen, an dem in der Hauptsache Pfarrherren und Beamte mitarbeiteten, heißt es: „Dar größte Teil der Einwohner gehört zum Stande der Landbauern, die sich entweder ausschließlich mit Feldbau abgeben oder dabei ein Gewerbe treiben. Fabriken und größere Gewerbe werden im Umkreis des Großherzogtums nur in geringer Anzahl gefunden und auch diese wurden größtenteils durch Ausländer ins Leben gerufen. In neuester Zeit schien es zwar, als ob sich das Industriewesen etwas heben wolle. Die Richtung des deutschen Zollvereins hat aber das Aufblühen desselben frühzeitig vernichtet11. Ein wohlhabender, gebildeter Mittelstand hat sich bis jetzt noch nicht herausgebildet. Nur in den Städten zeigt sich einiger Anfang dazu. Wie fühlbar dieser Mangel für das gesamte Staatswesen ist, bedarf keiner Auseinandersetzung. Kapitalisten sind in sehr geringer Zahl vorhanden. Nach den Ackerbautreibenden und dem Stande der gewöhnlichen Handwerker bildet die Zahl der Staatsdiener und Angestellten die zahlreichste Klasse, was gewiß für das gesamte Staatswohl von keinem großen Nutzen ist, dem ganzen geselligen Leben nicht die beste Richtung gab. Denn auf einer Seite steht der Bauernstand, unter welchem keine große Intelligenz zu finden ist, und auf der andern Seite abhängige Beamte, ein Mittelstand aber, der mit seiner Unabhängigkeit auch größere Intelligenz verbindet, fehlt leider bis jetzt, obgleich die Zukunft in dieser Hinsicht günstigere Resultate zu verheißen scheint."12 Auch die Wahlordnung lenkte die Zusammensetzung der Kammer in der Richtung auf eine starke Beamtenvertretung, denn sie bestimmte, daß der Abgeordnete ein versteuerbares Kapital von wenigstens 10 000 Gulden besitzen oder eine feste Besoldung aus dem Staats- oder Kirchendienste oder eine lebenslängliche Rente aus einem Lehensgute beziehen müsse. Das schloß so gut wie alle Kleinbauern und Kleingewerbetreibenden von der Wahl aus. Es kamen also nur größere Land- oder Gastwirte, Kaufleute, Fabrikanten, Rechtsanwälte und die, die von der Bedingung des eigenen Vermögens dispensiert waren, nämlich Beamte, in Frage. Diese aber konnten sich um so leichter wählen lassen, als das Staatsdieneredikt vom 30. 1. 1819, das damals wohl modernste Beamtengesetz in Deutschland, ihnen nach fünfjähriger Probezeit die unwiderrufliche Anstel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lung zusicherte. Sie konnten wohl versetzt, auch pensioniert, nicht aber entlassen werden13. Schon die Zeitgenossen erkannten, wie wichtig diese beiden Voraussetzungen für die Zusammensetzung und das Selbstbewußtsein des Landtags waren: „In Dieneredikt und Wahlordnung sahen die Kritiker der Verfassung mit Recht die Grundlagen der Kammeropposition."14 So ist es kein Wunder, wenn die Liste der Abgeordneten kaum einen Handwerker und nur selten einen Landwirt, stets aber eine große Zahl von Beamten verzeichnete. 1834 gehörten dem Landtag an: 17 höhere Beamte, 8 Richter, 4 Professoren, 3 Pfarrherren, insgesamt also 32 beamtete Personen; 22 Bürgermeister (von denen die meisten dem Gewerbe, Handel und Gastwirtschaft angehört haben dürften, nachweislich aber wieder einige Beamte wie der Professor Grimm, Bürgermeister von Weinheim, waren), 11 Kaufleute und Fabrikanten, 3 Gastwirte, 3 Advokaten, 1 Arzt, 1 Apotheker15. Diese Zusammensetzung repräsentiert recht genau die Struktur der badischen Honoratiorenschicht. Mehr als die Hälfte Beamte, ein Fünftel Gewerbetreibende, zwei Fünftel Bürgermeister (von denen einige wiederum Gewerbetreibende sind, andere Landwirte) und einige wenige Gast- und Landwirte. 1846 hatte sich das Verhältnis nur leicht, aber sehr charakteristisch verschoben. Die Zahl der Beamten war auf ein Drittel der Abgeordneten zurückgegangen, dafür hatte sich die Zahl der Advokaten, aus denen sich im wesentlichen die Radikalen rekrutierten, verdreifacht. Nun gehörten zum Landtag 19 Beamte und Richter, 4 Professoren, 1 Pfarrer, 12 Bürgermeister, 12 Kaufleute und Fabrikanten, 9 Advokaten, 3 Landwirte und 2 Gastwirte. Trotz dieser Verschiebung bildeten die 24 Beamten noch immer mit Abstand die größte Gruppe16. Sehr viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, warum ein so stark von Beamten geprägtes Parlament gegen die Regierung opponiert. Sie macht es nötig, etwas auf die Geschichte der badischen Landtage einzugehen. Hier zeigt sich, daß von allem Anfang an die Zweite Kammer als gewählte Repräsentation des Volkes in einen Gegensatz zur Regierung gerät, zunächst ganz unabhängig von den späteren Parteigruppierungen und -Schattierungen. Allein die Tatsache, daß hier eine neue staatsrechtliche Institution auftritt, die bisher der „Obrigkeit" zustehende Rechte im Namen der „Bürger" beansprucht, schafft ein Spannungsverhältnis zur Regierung, die diese alte Obrigkeit repräsentiert. Der Großherzog und seine Minister sind schon auf der ersten Sitzungsperiode von den Ansprüchen der Abgeordneten überrascht und verletzt. Sie glaubten, im Landtag einen Helfer zu finden, ein ausführendes Organ, das dem badischen Volk die Maßnahmen der Regierung näherbringen und ihm ein staatliches Selbstbewußtsein geben würde — wohlverstanden: ein Bewußtsein, allesamt großherzoglich badische Untertanen zu sein; der Landtag aber sah das Volk und seine Beauftragten nach französischem Vorbild eher als Staatsbürger mit politischen Rechten. Schon in der ersten Sitzungsperiode 1819 entwickelte er sich unter der mitreißenden Führerschaft Liebensteins zu einem nahezu demokratischen Instrument. Man hatte dem Land eine Verfassung gegeben, um sein Zusammenwachsen zu beschleunigen und es damit nach außen abzuschirmen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Außenpolitische Gründe hatten den Konstitutionalismus im wesentlichen hervorgerufen. Nun wirkte sich die Verfassung vor allem innenpolitisch aus. Man hatte dem Bürger teilweise Mündigkeit zugestanden; nun gebärdete er sich sogleich, als ob er völlig mündig wäre. Schon im ersten Auflösungsdekret tadelte der Großherzog, daß die Abgeordneten sich „manche unzarte Bemerkung gegen wohlerworbene Rechte und darauf gegründete Ansätze" erlaubt hätten17. Diese erste Auflösung, die die Abgeordneten völlig überraschte, ist sicherlich ein psychologisch wichtiger Grund gewesen, warum Regierung und Landtag bald mehr gegeneinander als miteinander arbeiteten, denn der erste Landtag selbst war voller Enthusiasmus verlaufen. Die Abgeordneten hatten, unerfahren in Geschäften, aber eifrig in der Sache, viele Gegenstände aufgegriffen, aber kaum einen zu Ende geführt. Handelsfreiheit, Pressefreiheit, Aufhebung von Zehnten und Fronden, all die großen Gegenstände des Jahrhunderts waren erörtert, aber das von der Regierung vorgelegte und dringend benötigte Finanzgesetz war nicht erledigt worden. Als die Abgeordneten schließlich gegen das Adelsedikt Stellung nahmen, das den Standes- und Grundherren einen großen Teil ihrer früheren Herrschaftsrechte als Privilegien weiterhin beließ, hörten ängstliche Gemüter schon damals die Revolution und die völlige Gleichmacherei an die Tür des Landtags pochen. So war dieser erste Landtag ein Präludium für alle späteren. Fast alle Motive, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ihn beschäftigen sollten, klangen in ihm schon an: die Gemeindeordnung, die Zollordnung, die Gewerbeordnung. Es dauerte bis 1831, 1848, ja bis 1862, bis diese Gegenstände erledigt waren. Aber auch schon jener grundsätzliche Riß zwischen Regierung und Parlament hatte sich gezeigt, der sich in den Folgejahren fast stetig erweitern sollte. Die Frage der Verfassung des Großherzogtums Baden war mit dem Erlaß der Verfassung erst gestellt, nicht gelöst. In den nächsten Jahren sollten die Gegensätze zwischen denen, die in der Verfassung ein äußerstes Zugeständnis an den Geist der Zeit sahen, und jenen, die sie weiterentwickeln bzw. erst erfüllen wollten, immer größer werden, zumal seit von außen, vom Bundestag her, in die Rechte des badischen Parlaments eingegriffen wurde, besonders durch den Zwang zur Aufhebung des Pressegesetzes. Es wäre aber falsch, in dieser Entwicklung zwischen schwarzen und weißen Schafen zu unterscheiden, wie es die Zeitgenossen berechtigterweise taten und wie es die Geschichtsschreibung bis in die Zeit des ersten Weltkrieges hinein aus der ungebrochenen Tradition des Liberalismus übernahm18. Es handelt sich vielmehr um einen tiefer liegenden Konflikt zwischen dem „historischen Recht" und dem „Recht der Geschichte"18a, um die Frage, wie sich gegenseitig ausschließende Institutionen nebeneinander bestehen und miteinander funktionieren können, denn neben der landständischen Repräsentativverfassung bestanden wesentliche Elemente der älteren Verfassung fort. Die Standes- und Grundherren übten weiterhin hoheitliche Befugnisse aus, auch wenn in den großherzoglichen Edikten der Anspruch gemacht wurde, ihnen nur diejenigen Rechte zu belassen, die aus ihrem Privateigentum kamen. Aber nicht nur im Innern standen sich verschiedenartige Institutionen ent© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gegen; auch gegenüber der Umwelt, den anderen Staaten des deutschen Bundes, war Baden mit seiner Verfassung, die in ihrer Tendenz zur Liberalisierung und Demokratisierung weiter ging als die anderen deutschen Verfassungen, ein Stück revolutionären Prinzips in einer prinzipiell, wenigstens dem Anspruch nach noch vorrevolutionären Welt. Das Großherzogtum, das sich mit Hilfe einer Verfassung konstituierte, mußte sich nun wegen dieser Verfassung bei den anderen Bundesstaaten erst behaupten, mußte sich mißtrauisch beobachten, ja zur Rechenschaft ziehen lassen. Sicherlich ist der badische Verfassungskonflikt auch deshalb besonders eklatant geworden, weil sich auf einer verhältnismäßig kleinen Bühne all die großen Probleme souveräner Staaten stellten. In einem Lande, das 1 Million Einwohner hatte, das zwei Städte von reichlich 20 000 Einwohnern besaß und einige wenige von über 10 000 Einwohnern, in noch sehr überschaubaren Verhältnissen, wo gerade die Honoratioren sich alle kannten und oft familiär miteinander verkehrten, wurden die gleichen großen Fragen diskutiert wie in England oder Frankreich. In Preußen konnten sich auf den Provinziallandtagen derart grundsätzliche Verfassungsfragen kaum stellen. Man war von vornherein auf Lokales und Regionales beschränkt. Die Spitze des Staates stand höher. Hier aber ist sie dem Alltag der Bürger nahe, deren Lebenszuschnitt noch in jeder Weise klein, altväterisch ist. Der Großherzog und seine Minister sind in einer kleinstädtischen Atmosphäre, in der das Gottesgnadentum brüchig geworden ist, auch der kleinbürgerlichen Kritik an ihrer privaten Lebensführung ausgesetzt. So engbrüstig Baden auf der Landkarte aussah, so engbrüstig war es in allen seinen Lebensverhältnissen. Immer wieder geht gerade aus den Landtagsdebatten ein politischer Minderwertigkeitskomplex hervor, der ursprünglich in der Unsicherheit dieser napoleonischen Schöpfung gegründet haben mag, je länger, je mehr aber zu einem konstitutiven Faktor der badischen Geschichte wurde. Man vergleicht sich mit England, Frankreich, Preußen, Österreich, Bayern und Württemberg. Man bewundert im Grunde die größeren Verhältnisse der anderen, aber, wie um sich zu beruhigen, spricht man schließlich von seinem „gesegneten Badener Land", in dem sich gottlob alles zum besten befinde. Es ist nicht einfach Heimatstolz, der sich darin ausspricht, sondern ein Gefühl der Unzulänglichkeit, die Furcht, nicht ganz ernst genommen, von anderen überspielt oder zur Seite gedrängt zu werden. Die Steigerung der Verfassungsfragen bis zu ihrer letzten Konsequenz scheint daher auch z. Τ. in dem Bedürfnis begründet gewesen zu sein, der Umwelt zu zeigen, daß man hier etwas Besonderes darstelle, daß Baden im europäischen Konzert nicht die letzte Geige spiele. Besonders gegenüber Preußen kehrt man daher gerne seine Verfassung heraus. Mögen die anderen die größere Macht, die größere wirtschaftliche Dynamik besitzen, man selbst hat den unvergleichlichen Schatz der Verfassung und ist gewillt, ihn gegenüber allen Feinden im Inneren und im Äußeren zu verteidigen. Das ist ein Grundton, der in den badischen Landtagsdebatten immer wieder anklingt. So entwickeln die Liberalen ein ähnliches Mißtrauen gegenüber den Reaktionären innerhalb und außerhalb Badens wie die badische Regierung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gegenüber den Revolutionären in den eigenen Reihen und in den fremden Staaten. Eine gegenseitige Gereiztheit ist die Folge, die sich immer von neuem auch an Kleinigkeiten entzündet und die den soviel beschriebenen badischen Polizeistaat des Vormärz in gewisser Weise erklärt. Diese Empfindlichkeit zeigt sich z. Β. daran, daß die Pressefreiheit zum Hauptzankapfel zwischen Regierung und Parlament wurde. Der Landtag von 1831 hatte ein sehr freiheitliches Pressegesetz erlassen; der Bundestag Baden jedoch zur Suspension gezwungen. Es hatte sich gezeigt, daß die Souveränität des Landes nicht ausreichte, die Gesetze des Landtags zur Wirkung zu bringen. Die Großen hatten das kleine Baden ihre Macht fühlen lassen. Man mußte sich wehren, wollte man nicht unter die Räder kommen. Aber es wäre gewiß falsch, diese etwas psychologisierende Betrachtungsweise zu weit zu treiben. Ohne Zweifel bewegte die badischen Liberalen in ihrem Kampf um die Verfassung zuerst ihre konstitutionelle Überzeugung. Es ging ihnen zuvörderst um die Prinzipien des konstitutionellen Staates, um die Verwirklichung ihres politischen Glaubensbekenntnisses. Aber bei der Lektüre badischer Landtagsreden und Verwaltungsakten des Vormärz drängt sich diese Erscheinung der kleinstaatlichen Mentalität doch sehr auf. Und sicher ist es nicht ohne Bedeutung für die weitere deutsche Geschichte, daß wichtige Horte des Liberalismus in Deutschland in jenen engen Verhältnissen des deutschen Südwestens lagen19. Es ist bemerkenswert, daß diese kleinstaatliche, kleinstädtische und kleinbürgerliche Enge, die sich im Landtag zeigt, der Gegenpartei nicht im gleichen Maße anhaftet. Im Unterschied zu einem Großteil der Opposition besitzen die meist adeligen badischen Minister und ihre leitenden Beamten eine gewisse Weitläufigkeit. Sie stammen meist noch aus dem ancien regime und haben im Umgang mit der Macht sie zu handhaben gelernt. Sie sind diplomatischer als die meisten Abgeordneten. Sie handeln aus einer gewissen inneren Überlegenheit heraus. Sie kennen die Ironie und die Gelassenheit, die in der Kammer nur wenige Abgeordneten besitzen, wie etwa der junge Mathy, der später ja auch Minister geworden ist. Sie sind skrupelloser in ihren Mitteln, aber ihre Politik entbehrt nicht des großen Zuges. Das darf man nicht übersehen, so gewiß auch die Klagen der Freisinnigen über ein bürokratisches Regiment und über polizeiliche Schikanen ihre Berechtigung haben. Am ausgeprägtesten ist dieser weltmännische Zug im Ministerium des großherzoglichen Hauses und des Äußeren, das als das reaktionärste gilt. Im Finanzministerium herrscht dagegen ein fast „preußischer" Geist der Disziplin und der Staatsraison. Hier wird fachliche Könnerschaft gepflegt. Die Gesetzesvorlagen, die Verwaltungsmaßnahmen, die von dort kommen, sind gut durchdacht und konsequent aufgebaut. Aber das Finanzministerium versteht auch, seinen Willen durchzusetzen. Das fällt besonders gegenüber dem Innenministerium auf, das trotz Nebenius und Winter einen farblosen Eindruck macht. Obwohl zeitweilig liberal regiert, zeigt es wenig Neigung zu grundsätzlichen Reformen. Der „alte Schlendrian", den die aufgeklärten Reformer schon des 18. Jahrhunderts ausrotten wollten, ist hier noch tief verwurzelt. Der „eigentümliche Mangel an Energie", den Fritz Har© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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tung als Charakteristikum aller deutschen Territorialverwaltungen im Zeitalter der Aufklärung festgestellt hat20, ist hier noch immer zu finden. Pläne werden angefangen und dann liegengelassen, Verwaltungsmaßnahmen nur halb durchgeführt. So bleibt die Gewerbestatistik, die seit 1808 vom Innenministerium geführt wird, jahrelang unvollständig, 1818 wird sie schließlich „auf diesseitigen Vortrag" vom Großherzog als „überflüssig, unpassend und zeitraubend" bis auf weiteres eingestellt21. Auf Drängen der Finanzverwaltung hin wird sie 1825 zwar wieder aufgenommen, zuverlässige Ergebnisse bringt sie jedoch erst, als sie nicht mehr das Innenministerium durch die Bezirksämter, sondern das Finanzministerium durch die Steuer- und Zollämter erheben läßt22. Unterschiedlich war auch die Autorität der beiden Ministerien bei ihren nachgeordneten Dienststellen. Während im Finanzministerium die verschiedenen Arbeitsgebiete zentral geleitet wurden und die Anweisungen von da meist ohne Zwischeninstanz zu den unteren Behörden kamen, hatten im Bereich des Innenministeriums die Kreisregierungen sehr viel größere Bewegungsfreiheit und gingen oft eigene Wege, so daß es Konflikte zwischen den Kreisdirektoren und dem Innenminister über die Eigenmächtigkeit der Kreisdirektoren gab. Das verschiedene Gewicht der beiden Ministerien fällt dort besonders auf, wo sich ihre Kompetenzen überschneiden oder ergänzen, z. B. in Gewerbesachen. Die Beförderung des Handels und Gewerbes gehörte zum Ressort des Innenministeriums, die Zoll- und Steuersachen, die Verwaltung der Forsten, Salinen-, Bergund Hüttenwerke aber zu dem der Finanzen. Da Zölle nnd Steuern die Gewerbe beeinflussen, schlug der Direktor im Innenministerium, Winter, 1825 gegenseitige Beratschlagungen vor, um die oft auftauchenden Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Ministerien auszuräumen, ehe sie ins Staatsministerium gelangten, in dem dann meist der Finanzminister sich durchsetzte. Das Finanzministerium lehnte aber eine Ausdehnung der vorherigen Kommunikation brüsk ab. Es führte seine Ressortpolitik weiterhin nach Gutdünken und stellte das benachbarte Kollegium oft vor vollendete Tatsachen23. Man muß dabei jedoch bedenken, daß das Innenministerium selbst wenig Initiative zeigte. Selbst Anregungen wie die, die Verhältnisse der Hausindustrie im Schwarzwald zu überprüfen und Vorschläge zu ihrer Beförderung, besonders der Strohflechterei und der Uhrenindustrie zu machen, gingen nicht vom Innenministerium, sondern vom Finanzministerium aus. Und das Finanzministerium war es auch, das dm geeigneten Mann, den Regierungsdirektor Kern in Freiburg, vorschlug, der seinerseits wieder Untergebener des Innenministeriums war24. Will man die Wirksamkeit des Staates im gesellschaftlichen Gefüge beurteilen, so genügt es nicht, nur auf seine obersten Behörden zu sehen. Die Struktur und die Tätigkeit der mittleren und unteren Instanzen, die im täglichen Umgang mit dem Bürger stehen, sind dafür nicht minder wichtig* Leider sind dafür die archivalischen Voraussetzungen in Baden nicht allzu günstig25. Doch läßt sich - wenn man einmal nicht die vielbeklagte Spitzel- und Polizeitätigkeit niederer Beamter im Dienste eines reaktionären Regimes ins Auge faßt, sondern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die tatsächlich geleistete Verwaltungsarbeit — sehr wohl sagen, daß diese großherzoglichen Beamten sehr viel getan haben, um den heterogenen Teilen des neuen Staatsgebildes ein einheitliches Staatsbewußtsein zu geben. Es ist in der Tat auffällig, wie schnell die Untertanen von mehr als einem Dutzend geistlicher und weltlicher Herrschaften sich als badische Bürger fühlen. Nicht erst in der 48er Revolution, als die Bauern den neuen Herrn gegen ihren alten anrufen, sondern schon früher in den Petitionen an den Landtag, erweist sich ein neuer großherzoglich badischer Patriotismus als eine durchaus lebendige Kraft. Diese Petitionen sind eine für die badische Geschichte des Vormärz nicht zu gering anzuschlagende Quelle26. Sie zeigen einmal, daß die Verfassung die Stellung des Bürgers im Staat und gegenüber den staatlichen Organen doch in charakteristischer Weise neu ordnete. Denn der badische Bürger konnte sich, wenn er mit seinen Wünschen bei den Behörden nicht durchkam und auch beim Gericht nicht Recht fand, mit Petitionen an den Landtag wenden. Er machte auch von diesem Petitionsrecht großen Gebrauch, ebenso wie der Landtag viel Zeit verwendete, die Petitionen im Plenum vorzulegen oder der Verwaltung zu empfehlen. Zum anderen aber ergibt sich aus einer Zusammenstellung dieser Petitionen am besten ein Bild von dem inneren Leben des badischen Staates, von dem alltäglichen Ineinander von Gesellschaft und Staat. Fünf Fragenkreise kommen in diesen Petitionen vor allem zur Sprache. Sie sind für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Baden des Vormärz besonders wichtig: Gemeindeordnung, Judenemanzipation, Ablösung der grundherrlichen Lasten, Gewerbeordnung und Verhältnis von Staat und Kirche (damit verbunden Schulfragen)27. Von diesen Problemkreisen soll hier einiges angedeutet werden. II 1. Es ist für die badischen Verhältnisse gerade im Vergleich mit Preußen wesentlich, daß von diesen fünf Problemen der Gesellschaftsordnung nur eines im Vormärz befriedigend gelöst wurde, nämlich die Gemeindeordnung. Schon der Landtag von 1819 hatte die Frage der gemeindlichen Selbstverwaltung behandelt; er war aber aufgelöst worden, ehe es zu Beschlüssen kam. Aus den Diskussionen und Anträgen stellte dann die Regierung ein provisorisches Gemeindegesetz zusammen, das sie 1821 erließ, und es dauerte bis 1831, bis der berühmte liberale Landtag eine neue Gemeindeordnung verabschiedete, die die bisherigen Orts- und Schutzbürger als Gemeindebürger gleichstellte und eine sehr weitgehende Selbstverwaltung unter der Leitung eines Bürgermeisters mit Gemeinderat und Bürgerausschuß (in großen Städten sogar zweier Ausschüsse) festsetzte. 80 000 Schutzbürger erhielten so volle Gemeindebürgerrechte. In manchen Gemeinden überwogen sie mit einem Male die alten Ortsbürger, in anderen Gemeinden kamen sie an Zahl den Ortsbürgern gleich. Meistens handelte es sich natürlich um ärmere Bevölkerungsschichten, so daß die Struktur mancher Gemeinden sich mit dem neuen Gesetz sehr stark veränderte. Aber eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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97 volle Demokratisierung hinderten noch zwei wesentliche Bestimmungen. Einmal waren die Insassen und die bloßen Staatsbürger, die kein Ortsbürgerrecht besaßen, nicht wahlberechtigt und nicht wählbar; zum anderen waren die Israeliten wohl wahlberechtigt, auch in den Ausschuß wählbar, nicht aber in den Gemeinderat und auch nicht zum Bürgermeister. Außerdem bestand das Dreiklassenwahlrecht. In den Ausschuß wählten die hoch, mittel und niedrig Besteuerten je ein Drittel, so daß also die wenigen hoch Besteuerten das gleiche Stimmrecht hatten wie die vielen niedrig Besteuerten. Außerdem waren in Standes- und grundherrlichen Gebieten das Ortspolizeirecht und die Zustimmung zur Bürgermeisterwahl den Grundherren bzw. den Standesherren weiterhin vorbehalten, und die Grundherren und Standesherren setzten auch mit Hilfe des Bundestages durch, daß die ursprüngliche Gemeindeordnung 1837 noch einmal zu ihren Gunsten geändert wurde, so daß ihr Mitwirkungsrecht in Kirchen- und Schulsachen, auch in der allgemeinen Aufsicht über ihre Gemeinden stärker hervortrat als in dem ursprünglichen Gesetz. Bei den nicht grundund standesherrlichen Orten lagen die Vermögensverwaltung, die Ortspolizei und die gerichtlichen Befugnisse, soweit sie ihm durch Gesetz übertragen wurden, beim Bürgermeister, der von der Gemeinde gewählt wurde28. 2. Bezeichnend für diese Gemeindeordnung ist also, daß sie genauso wie die Verfassung von 1818 die vollen Bürgerrechte nur den Angehörigen der drei christlichen Konfessionen zuspricht. Israeliten haben trotz Verfassung und Gemeindeordnung keinen Zutritt zu Zivil- und Militärstellen. Seit dem VI. Konstitutionsedikt von 1808 durften sie zwar um ihrer Religion willen nicht mehr von der Erlernung oder Ausübung eines Gewerbes ausgeschlossen werden; da sie aber nur Schutzbürger waren, konnten sie ein etwa erworbenes Gewerberecht nur in ihrem Heimatort ausüben. Überdies besaßen sie noch 1854 keinen rechtlichen Anspruch auf die Schutzbürgerschaft und konnten daher durch eine Verweigerung dieser Rechte auch an der Ausübung von Gewerben verhindert werden29. Verschiedene Landtage befaßten sich mit der Judenemanzipation, aber auf keinem fand sich eine auch nur annähernd ins Gewicht fallende Minderheit, geschweige denn eine Mehrheit dafür. Noch 1831 stimmten nur zwei Abgeordnete für Gleichstellung der Juden in der Gemeinde; auch Rotteck und Welcker sprachen sich entschieden gegen sie aus. 1845/46 gab es zum ersten Male eine schwache Mehrheit, die wenigstens grundsätzlich für Gleichberechtigung eintrat, aber erst im Jahre 1848 unter dem Eindruck der Februarrevolution in Frankreich sah ein Gesetzentwurf des Innenministers Bekk den Zugang der Juden zu den Staatsstellen vor. 1849 wurde er Gesetz und änderte damit die Verfassung. Er gab allen Staatsbürgern ohne Unterschied der Religion Anspruch auf die Staatsämter und stellte die Wählbarkeit auch der Juden her. Die gemeindebürgerlichen Rechte wurden davon jedoch nicht berührt. Sie blieben noch bis 1862 so, wie sie 1831 gegeben worden waren. 3. Ähnlich ging es mit der Gewerbefreiheit. Seit Beginn des Landtags wurde die Frage einer Gewerbeordnung wieder und wieder in oft ermüdender Breite 7 Fischer, Wirtschaft

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behandelt. Hunderte von Petitionen liefen ein. Sie nahmen für und wider die Gewerbefreiheit Stellung. Im allgemeinen herrschte die Idee einer gemäßigten Gewerbefreiheit vor, aber niemals konnte man sich darauf einigen, worin nun in einer solchen gemäßigten Gewerbeordnung die Freiheit, worin die Beschränkung bestehen sollte. Es blieb bei grundsätzlichen Debatten, die besonders stark jene kleinstaatliche Mentalität zeigen, von der früher die Rede war. Man beschwört das Ideal eines friedlichen Mittelstandes, einer idyllischen Harmonie zwischen den Interessen aller, indem man vor den Ergebnissen der ungestümen Entwicklung der westlichen Nachbarländer warnt. Besonders England und Frankreich, aber auch Preußen werden als Gegenbilder hingestellt, von denen sich gerade viele Liberale energisch distanzieren. Am eindrücklichsten tritt diese Haltung in einer Debatte hervor, die die Zweite Kammer am 21. Februar 1845 über die Gewerbeordnung hielt. Der Abgeordnete und Regierungsdirektor Rettig, der schon drei Jahre zuvor im Landtag „Grundzüge einer Gewerbeordnung" vorgetragen und später in Druck verbreitet hatte30, erstattete einen Kommissionsbericht, der das Bild eines friedlichen, von einer gewerbefleißigen Mittelschicht getragenen Staates zeichnet, ein Bild, wie es Baden nach Ansicht der Mehrheit der Kommission noch darbot und auch in Zukunft bieten sollte. Er sei hier ausführlich zitiert: „Der gewerbetreibende Mittelstand bedarf in der gegenwärtigen Zeit des Schutzes der Gesetzgebung und verdient diesen so wie jede gesetzliche Pflege und Förderung von seiten der Staatsgewalt in vorzüglichem Grade. Er bildet die Grundfeste der Staatsgesellschaft in sittlicher, ökonomischer und politischer Hinsicht und kann sich in keiner von diesen drei Beziehungen von der Staatsgesellschaft lossagen, ohne seine eigene Existenz zu gefährden. Nur bei stillem, häuslichen Fleiß gedeiht der Gewerbestand; nur bei geordnetem Hauswesen, mäßiger, auf Familienglück basierter Lebensweise reichen die Erträgnisse seiner Tätigkeit für die Bedürfnisse seines Hauswesens und seiner Familie hin; nur auf einer mit Tüchtigkeit gepaarten Sittlichkeit ruht der Wert, der Standesadel des Gewerbsmannes. Die auf diesem Wege errungene glückliche, wenigstens dem Verständigen behagliche Existenz ist auch am meisten vor Wechselfällen und Auswüchsen gesichert; sie ist die solideste, weil sie nicht aufzehrt oder niederdrückt, sondern gegenseitig erhält und fördert, das Gesamtvermögen der Staatsgesellschaft unter viele produktive Hände verteilt und deren eigenes Interesse an dessen Vermehrung knüpft. Ihre Kommission verkennt darum die Bedeutung der Ansammlung großer Kapitalien in einer Hand nicht, im Gegenteil, sie anerkennt gern, daß auch hierin unser geliebtes Vaterland nicht allzu weit in dem Gang der Zeit, in der Entwicklung der gesteigerten merkantilen und industriellen Verhältnisse zurückbleiben dürfe; aber sie wünscht, daß die größeren Kapitalisten Badens nicht als Glückspilze durch einzelne kühne Spekulationen, noch weniger durch herzlose Bedrückung einer wehrlosen Schar abhängiger Arbeiter schnell zu einem leicht beweglichen Reichtum gelangen, sie wünscht vielmehr, daß sie aus dem mittleren Gewerbstand hervorgehen, daß dasjenige, was ein fleißiger, einsichtsvoller Vater mühsam erworben, eine wackere Hausfrau sorglich zusammengehalten hat, in der Hand © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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des in diesen Grundsätzen erzogenen, die Weise seiner Eltern ehrenden Sohnes zu einem größeren Kapital und reicheren Ertrag heranwachse und so der Reichtum zu einem Familienerbe werde, nicht bloß in Geld und Geldeswert bestehend, sondern zugleich in der Gabe einer vernünftigen, produktiven Anwendung desselben und in jener Selbstbeherrschung, die, wiewohl im Besitze reichlicher Mittel, sich dennoch vor Genuß und Prunksucht, vor Müßiggang oder Schwindelei zu bewahren weiß. Solche Männer gehören, ihrer gesteigerten Vermögens- und Geschäftsverhältnisse ungeachtet, noch immer dem Mittelstande zu, nach Gesinnung und Lebensweise und nach der Befreundung, welche sie forthin zu dem Stande bewahren, welchem entsprungen zu sein, sie sich zur Ehre rechnen." „Auch in politischer Beziehung erscheint der Mittelstand als die Grundfeste des Staates; er hat etwas zu verlieren und das Seinige ist ihm wert, weil es durch Mühe und Arbeit errungen ist; er fühlt und erfährt in seinem eigenen Geschäft und Hauswesen, daß eine gewisse Leitung bestehen, daß gesetzliche Ordnung gehandhabt sein muß, wenn eine Genossenschaft, sie sei groß oder klein, gedeihen soll; er weiß und bedenkt überdies, daß nicht bloß die momentanen Verluste, welche im Gefolge von Unordnungen sind, ihn treffen können, daß auch die nachhaltigen Folgen der Zerrüttung des Staatshaushaltes, des gestörten Verkehrs und des erschöpften Kredits zuletzt immer wieder auf ihn zurückfallen. Den Reichtum kann Übermut und Üppigkeit, die Armut kann bittere Not und Verzweiflung zum Angriff auf die Sicherheit der Ordnung des Staates verleiten; beide sind, wiewohl auf entgegengesetztem Wege, der Versuchung ausgesetzt, infolge eigener Entsittlichung mit dem Bestehenden unzufrieden zu sein, für das Mißbehagen an dem eigenen Zustand ein Heilmittel in einer Veränderung des öffentlichen Zustandes zu suchen; der Mittelstand erwehrt sich der Extreme und steht als Schutzwehr des Staates gegen solche Verirrungen fest." „Darin liegt die wahre, einzig sichere Abwehr des Pauperismus, des Gespenstes unserer Tage, daß man das Zugrunderichten der kleinen Gewerbe verhütet, daß man dahin wirkt, daß auch der minder vermögliche Staatsbürger ein selbständiger Mann bleibt, daß sich die Gewalt des Geschäftsinhabers über die Arbeitsgehülfen unter viele verteile, und daß auch diese Gehülfen in das Familienleben des Meisters aufgenommen, nicht bloß bei der Arbeit, sondern auch hinsichtlich ihres sittlichen Benehmens seiner Aufsicht unterstellt seien. Der Arbeiter in der Fabrik erhebt sich niemals zu dem Gedanken, später an die Stelle seines Herrn zu treten, ein erhöhter Lohn bei fortwährender Abhängigkeit ist das höchste Ziel seines Strebens; der Geselle des Professionisten ehrt in seinem Meister die Stellung, welche er in wenigen Jahren selbst einzunehmen hofft; er ist nicht der Söldner, er ist der Gehülfe und jüngere Standesgenosse des Meisters. Die Anhäufung der Massen von Geld und Geldeswert auf der einen, von Menschen ohne eigene Subsistenzmittel von der anderen Seite, ist die Mutter des Pauperismus. Geld ist der ausgeprägte Arbeitslohn; wer solches In reichem Maße besitzt, kann über Zeit und Arbeit einer großen Anzahl von 7* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Menschen verfügen; noch mehr, er kann sie von seinem Willen abhängig machen, sobald die Ausdehnung oder Dauer seiner Geschäftsunternehmung so viele Menschen bereits daran geknüpft, mit ihrer Subsistenz darauf angewiesen hat, daß für sie eine anderweitige hinreichende Arbeits- und Nahrungsgelegenheit nicht mehr zu finden ist. Diese Übermacht des Fabrikherrn über seine Arbeiter tritt in denjenigen Ländern am grellsten hervor, wo die Ausdehnung der Fabrikgeschäfte und der durch sie herabgedrückte Warenpreis in Verbindung mit dem raschen Wechsel der Warenmuster die Handwerke, welche für dasselbe Fabrikat früher lieferten, bereits zugrundegerichtet und die von ihnen beschäftigten Hände der Meister wie der Gesellen an die Fabrik gebunden hat. Bei uns, in unserem gesegneten Badnerlande, kann sich niemand über Mangel an Arbeitsgelegenheit beklagen, wer arbeiten will und gesunde Glieder hat, findet Arbeit und zureichenden Lohn; dafür bürgt uns die Höhe des Taglohns und die Nachfrage nach rechtschaffenen Dienstboten, dafür bürgen die weit aussehenden Verbesserungen, deren unsere Feld- und Waldkultur, namentlich die Wiesenkultur, zur Steigerung des nachhaltigen Ertrages des Bodens noch fähig ist, dafür bürgt uns die Wahrnehmung, daß wir noch viele Erzeugnisse der Industrie aus dem Auslande beziehen und gern beziehen, weil die Höhe der Taglöhne uns noch nicht gestattet, die einheimischen Hände damit zu beschäftigen. Wir können uns getrösten, daß solange Fleiß und Gesittung bei uns Nationaltugenden sind, noch auf viele Generationen hinaus eine Übervölkerung nicht zu fürchten ist."31 Das Gesellschaftsbild, das hier zutage tritt, ist typisch für den badischen Landtag; es wird gerade auch von den Liberalen mit wenigen Ausnahmen vertreten. Nur Mathy und einige der fortschrittlichen Industriellen, Buhl oder Helbing, denken anders. Aber die Mehrzahl der Abgeordneten und Liberalen ziehen eine behutsame Erweiterung der überkommenen Lebensformen einer grundsätzlichen Reform vor. Daher kam eine Gewerbeordnung, die zur Gewerbefreiheit hinführte, erst 1862 in Baden zustande. Während des ganzen Vormärz gilt in Baden noch das VI. Konstitutionsedikt von 1808, das die Zunftordnung aus dem 18. Jahrhundert im Grunde fortsetzt und für größere Gewerbe, für Fabriken also, die Konzession des Staates einführt32. Es ist auch kein Zufall, daß dieses konservative Gesellschaftsbild im Landtag gerade von einem hohen Regierungsbeamten vorgetragen wurde. Regierung und Landtag finden sich hier in einer Einmütigkeit, die den, der nur die politischen Gegensätze der beiden Institutionen kennt, verblüffen muß, die sich in den sozialen und wirtschaftlichen Grundfragen jedoch durchgängig zeigt. Regierungsdirektor Rettig hat für diese konservative Gesellschaftsauffassung, die sich bei ihm mit einer ebensolchen Staatsauffassung verbindet, auch auf anderen Gebieten charakteristische Formulierungen gefunden, so als er 1840 versuchte, den sozialen und politischen Status des Adels rechtlich neu zu fixieren, um jenem „unbehaglichen Zustand" ein Ende zu machen, in dem die einen auf ein weiteres Abbröckeln, die anderen auf eine Wiederherstellung überkommener Rechte hoffen33; vor allem aber in seinem umfangreichen, mehrmals aufgelegten Handbuch der Polizeigesetzgebung des Großherzogtums, in dem er unter „Polizei" © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ganz im Sinne des älteren deutschen Territorialstaates all jene „Tätigkeit der inneren Staatsverwaltung" versteht, „welche zur Erreichung des allgemeinen Staatszwecks sich selbständig aufreget, ohne Rücksicht auf den einzelnen zu nehmen, und ohne abzuwarten, bis sie für diesen ausdrücklich in Anspruch genommen werde"34. Bürgerrechte und Schulverwaltung, öffentliche Sicherheit und Armenpflege, die Beförderung von Landwirtschaft, Handel und Industrie, die Sorge für die öffentliche Sittlichkeit, das Ehe- und Vormundschaftsrecht sind hier noch 1853 unter dem gleichen Titel vereint, obwohl im ersten Teil, in dem „der Staatsherrscher jedem Staatsangehörigen seine Stellung anweiset und ihn mit den daraus abfließenden Rechten und Verbindlichkeiten bekanntmacht", eine so moderne Institution wie die Gemeindeordnung von 1831 abgehandelt wird. Die Zähigkeit, mit der sich die älteren Vorstellungen von Staat, Verfassung und Gesellschaft in Baden halten, ist um so erstaunlicher, als nicht nur seine politische Verfassung die modernste Deutschlands war, sondern auch der Zivilrechtsordnung seit 1810 der Code Napoléon zugrunde lag. Der große Bewahrer der altbadischen Tradition, Johann Friedrich Brauer, hatte in seiner Adaption ein Meisterwerk vollbracht. Besser als in den ungefügen Konstitutionsedikten war es ihm darin gelungen, eine zeitgemäße Sprache zu finden und in Zusätzen näher zu bestimmen, „was nötig ist, um eine sichere, dem Geist dieses Gesetzes stets gemäße und zugleich der hierländischen Landesart und Sitte nicht nachteilige Anwendung zu begründen"35. Ähnlich wie der neue Staat selbst, seine Verfassung und Gemeindeordnung hat sich auch der Code Napoléon im Lande bald eingebürgert. Er blieb ein ganzes Jahrhundert lang das bürgerliche Gesetzbuch Badens und wurde nur ungern und nur um der deutschen Rechtseinheit willen schließlich aufgegeben. In den fruchtbaren dreißiger Jahren ergänzte ihn zunächst eine neue bürgerliche Prozeßordnung — denn die französische Prozeßordnung war zunächst, als dem deutschen Rechtsempfinden fremd, nicht übernommen worden — dann ein Gerichtsverfassungsgesetz, ein Strafgesetzbuch und 1845 auch eine Strafprozeßordnung36. 4. Die Ablösung der Feudallasten wurde fast überall in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Knotenpunkt der Sozialverfassung. Es ist bekannt, wie stark das Steckenbleiben dieser Ablösung, aber auch die finanzielle Belastung der befreiten Bauern die ländlichen Verhältnisse besonders in den Standes- und Grundherrschaften erschwerte. Hier entstand im Vormärz in Baden ein explosiver Zündstoff. Auch der Verfassungsstaat Baden schloß viele Kompromisse mit den Standes- und Grundherren, zumal sie in der Klage beim Bundestag ein Zwangsmittel gegen ihn besaßen, dessen sie sich auch bedienten, wenn sie sich in ihren herkömmlichen Rechten verletzt fühlten. Sie behielten Polizeirechte, Forstgerichtsbarkeit, Aufsicht über Gemeindeverwaltung, über Kirche und Schulen, Vorschlagsrecht für Pfarrer, Ernennungsrecht für Schullehrer und die niedere Gerichtsbarkeit; diejenigen, die mehr als 20 000 Untertanen hatten, auch die Gerichtsbarkeit zweiter Instanz. Sie erhoben wei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ter Abgaben. Das Adelsedikt von 1819 sagte noch: „Es verbleiben somit den Standesherren alle Einkünfte von ihren Domanialhöfen, eigentümlichen Gütern, Schäfereien und Erblehen, alle bisher bezogenen Zehnten, samt den Neubruchzehnten . . . , Bodenzins von Gütern, Handlohn von Gütern, eigentümliche Brauereien, Bier- und Branntweinverlage, alle aus der Erbpflichtigkeit herfließenden Abgaben, als Leibschilling, Rauchhühner, Totfall, Manumissionsgebühren, die seither übliche gewesenen Bannutzungen namentlich Bannkeltern, Bannbacköfen, Bannmühlen und Bannweine und Bannbaurechte; die Forstgefälle und Waldrugstrafen, die Jagd- und Fischereinutzungen; die Herrschaftsfronden und Frondrelutionsgelder, die Nachsteuer oder Abzugsgebühren bei Auswanderungen in Staaten außer dem Deutschen Bund" usw.37. Dieses Edikt wurde zwar weder von den Grundherren noch vom Landtag anerkannt und daher von der Regierung wieder zurückgezogen, die wichtigsten Bestimmungen blieben jedoch durch eine einstweilige Verordnung gültig und gingen sowohl in die Deklaration von 1824 wie in die Edikte von 1837 über und blieben so während des ganzen Vormärz geltendes Recht. Die Grundholden der Standes- und Grundherren sahen jedoch nicht mehr ein, warum sie weiterhin Bürger minderen Rechtes sein sollten, warum ihnen Abgaben oblagen, die die Bauern im altbadischen Gebiet nicht mehr zu leisten hatten. Das Entscheidende war, daß verschiedenes Recht nun als Unrecht galt. So sehr die Bauern einst gegen das Aufgehen ihrer alten Herrschaft im Verbande des Großherzogtums gewesen sein mochten, nun entwickelten sie doch einen neuen badischen Patriotismus, der hier ebenso wie in Württemberg und Bayern zu dem Ergebnis führte, daß die Bauern als treue Untertanen ihres neuen Herrn in der Revolution gegen den angestammten standen, daß sie zu den Lasten des Staates wohl beitragen wollten, nicht aber dazu, den Unterherren mit seinen Resten von herrschaftlichen Funktionen noch weiter zu erhalten. Wenn die Boxberger Bauern 1848 das Rentamt ihres Grundherren mit dem Rufe „Es lebe der Großherzog" plünderten, so ist das ein durchaus typischer Vorgang38. Nirgends sieht man so deutlich wie hier, daß ein Stehenbleiben auf dem halben Wege zum bürgerlichen Einheitsstaat nicht möglich war. Nachdem das alte Recht einmal gebrochen war, mußte es unabänderlich weiter abbröckeln und schließlich ganz fallen. Während der dreißig Jahre zwischen dem Adelsedikt und der Revolution beschäftigten sich Regierung und Landtag demnach fast unablässig mit Reformen der Agrarverfassung und einzelnen Ablösungsgesetzen. Privatleute und Beamte traten mit Reformvorschlägen hervor39. Den wichtigsten Schritt taten die Landtage von 1831 und 1833 mit dem Gesetz über die Zehntablösung40. Aber auch hier war die Ausnahmesituation des Jahres 1848 nötig, um die Entwicklung zum Abschluß zu bringen. Erst unter dem Eindruck der drohenden Revolution verabschiedete der Landtag im April 1848 die von der Regierung Bekk in aller Eile vorgelegten Gesetze über die Beendigung der Feudalrechte41. 5. Stellen sich die Fragen der Gewerbeordnung und der Ablösung der Grundlasten in vielen deutschen Staaten in gleicher Weise, so ist das Problem von Staat und Kirche in Baden besonders ausgeprägt. Eine zu über zwei Dritteln © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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katholische Bevölkerung, die zum großen Teil aus ehemals geistlichen oder österreichischen Territorien stammt, hat einen protestantischen Landesherrn bekommen. Viele der seit der Reformation in Deutschland sich daran anknüpfenden Fragen des Verhältnisses von geistlicher und staatlicher Gewalt brechen daher in Baden nach 1806 neu auf, nun aber unter der veränderten Voraussetzung eines säkularisierten Staates, der das grundsätzliche Alleinrecht in der Bestimmung der innerstaatlichen Dinge für sich beansprucht und der in dem Organisationsedikt von 1809 das katholische Kirchen- und Schulwesen sich ebenso eingliedert, wie er als protestantische Obrigkeit das bei der evangelischen Kirche gewöhnt ist. So unterstellt er die katholischen Geistlichen der Aufsicht durch staatlich bestellte Dekane, denen auch die Prüfung der Lehramtskandidaten obliegt und die die Aufsicht über die Vermögensverwaltung des Kirchenguts führen. Sie unterstehen ihrerseits den Kreisdirektorien, haben ihnen zu berichten und ihre Anweisungen auszuführen42. Und in der katholischen Kirchensektion des Ministeriums des Innern entsteht den Katholiken eine weltliche Obrigkeit, der zwar Theologen angehören, die als Institution des Staats der kirchlichen Hierarchie jedoch weitgehend entzogen ist. Diese Tendenz zur Staatskirche wurde verstärkt durch die Verordnung vom 30. 1. 1830, die dem Staate die „Majestätsrechte des Schutzes und der Oberaufsicht" über die Kirchen zusprach. Kirchliche Streitsachen durften danach nicht mehr vor auswärtigen Richtern, also der Kurie, verhandelt werden. Alle kirchlichen Anordnungen bedurften der Staatsgenehmigung. Den geistlichen und weltlichen Kirchendienern wurde gegen Mißbrauch der geistlichen Gewalt der Rekurs an die Landesbehörden eröffnet43. Doch auch hier ist der Staat zu Kompromissen gezwungen, um seinen Bestand nicht zu gefährden. So verpflichtet er sich etwa, den Status der katholischen Universität Freiburg nicht zu verändern und gesteht auch bei staatlichen Einrichtungen wie dem katholischen Konvikt in Freiburg dem Bischof ein Mitspracherecht zu. Eine latente Spannung herrscht aber seit der Gründung des Großherzogtums, weil die Katholiken sich von der protestantischen Minderheit zurückgesetzt fühlen und der Staat der Kirche wichtige Rechte wie das der freien Bischofswahl oder das der Mitbestellung der Lehrer verweigert. Das wird besonders in der Streitschrift deutlich, in der der Archivdirektor Mone anfangs der 40er Jahre die katholischen Zustände in Baden beklagt und auf die ihm Nebenius in einer Gegenschrift antwortet44. Die Verhältnisse scheinen sich zu ändern, als der neue Erzbischof von Freiburg, Hermann v. Vicari, ein kämpferischer Mann, während der Ära Blittersdorff zum großen Ärger der Liberalen eine Anzahl länger bestehender Wünsche durchsetzt, z. B. die Gründung des Collegium theologicum als kirchlicher, nicht staatlicher Anstalt, die Verlegung des Priesterseminars St. Peter, die Einführung des Ordens der Barmherzigen Schwestern. Das führt aber, nachdem Blittersdorff kurz darauf die Regierung aufgeben muß und Gemäßigte ihn ersetzen, zu einem neuen Spannungsverhältnis zwischen Staat und Kirche. Es kompliziert sich noch dadurch, daß viele der badischen Liberalen die deutsch-katholische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Bewegung Ronges unterstützen und für ihre Kundgebungen ihre Privathäuser zur Verfügung stellen, nachdem die Regierung ihnen das öffentliche Auftreten in Baden untersagt hat. Hier sammelt sich ein neuer Sprengstoff an, der allerdings nicht in der Revolution, sondern erst später zur Entladung kommen wird. Aber schon im Vormärz kündigt sich an, daß auch das Verhältnis von Staat und Kirche in der modernen Welt einer neuen Ordnung bedarf. Positiver gestaltet sich das Verhältnis des Staats zur Schule, besonders zur Volksschule. Die aufgeklärten Landesherren des 18. Jahrhunderts hatten ja der Begründung der allgemeinen Schulpflicht und der Erziehung der Untertanen ihr besonderes Augenmerk gewidmet. Sie hatten die Gemeinden, denen die Sorge für das untere Schulwesen in erster Linie oblag, durch Beihilfen zu den Lehrerbesoldungen und Schulbauten finanziell unterstützt, vor allem aber mit der Einrichtung von Lehrerseminaren für eine geregelte Ausbildung der Schulmeister gesorgt und somit den Volksschullehrerstand als solchen erst begründet. Ihre Bestrebungen vermochten sich jedoch erst im 19. Jahrhundert durchzusetzen und Früchte zu tragen. In Baden waren besonders die dreißiger Jahre für die Ausgestaltung des Schulwesens fruchtbar. In kurzen Abständen erließ das Ministerium des Innern eine Reihe von Verordnungen, die die Verhältnisse der Volksund Bürgerschulen neu ordneten, den Status der Lehrer verbesserten und den Schulaufwand neu verteilten45. 1834 begann mit der Verordnung über die Einrichtung von Gewerbeschulen der Aufbau des Berufsschulwesens, das in seinen Ursprüngen auf die Zeichenschulen des späteren 18. Jahrhunderts zurückgeht46. 1850 entstand mit der staatlichen Uhrmacherwerkstatt in Furtwangen die erste Fachschule. Zu Beginn der 40er Jahre wurde auch der Schulunterricht der Fabrikkinder durch eine Verordnung über die Gründung von Fabrikschulen staatlich geregelt47. Wie umstritten aber die Stellung von Lehrerschaft und Schulen noch immer war, geht aus einer Bemerkung hervor, die der Direktor des Karlsruher Lehrerseminars, Professor Stern, 1831 aus den Landtagsverhandlungen über die Aufnahme der Lehrer in die Witwenkasse zitierte und in der es hieß, daß die Schullehrer noch nicht den Grad von Bildung erreicht hätten, der es gestatte, sie mit den Staatsdienern „ohne Beschimpfung der Letzteren" auf eine Stufe zu stellen48. III Schon ein so fragmentarischer und summarischer Überblick über Hauptprobleme, die der badische Staat des Vormärz zu lösen suchte, zeigt, daß hier trotz der Verfassung und der durch sie gegebenen Mitwirkungsmöglichkeit des Bürgers ähnliche Spannungen auftraten wie in Preußen und Österreich. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns wieder der politischen Geschichte im engeren Sinne zuwenden. Auch hier vertiefen sich in den frühen 40er Jahren die Konflikte. Die Hoffnung auf eine liberale Interpretation und Fortentwicklung der Verfassung erlischt zur gleichen Zeit, als in Preußen die Hoffnung auf eine Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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fassung überhaupt erlischt. Die Gegensätze zwischen Opposition und Regierung verhärten sich besonders seit dem Urlaubsstreit von 1841/42. Vor allem aber scheidet sich eine radikale, zur Demokratie und Revolution neigende Partei von den Liberalen ab. Struve, Brentano und Hecker trennen sich von Welcker, Itzstein und Bassermann. 1843 nehmen die badischen Abgeordneten zum ersten Mal nach ihrer politischen Farbe ihre Sitze im Landtag ein. Die Konstitutionellen kommen in eine Klemme zwischen Reaktion und Revolution. Sie gelten auf beiden Seiten als die Halben, und sie beginnen selbst die Hoffnung zu verlieren, daß ihre gemäßigten, innerhalb der Monarchie zu verwirklichenden Forderungen erfüllt werden können. Indem sie mehr und mehr vor der Revolution warnen, kommen sie bei den Hütern der Ordnung in Verdacht, sie zu wollen. Indem sie aber diese Revolution verurteilen, gelten sie bei den Radikalen als Schwächlinge und Kompromißler. Wenn dann die Stunde der Entscheidung kommen wird, wird die beste Stunde verpaßt sein, um das durchzuführen, was sie seit 1819 immer wieder gefordert haben: Schwurgerichte und Pressefreiheit, Ministerverantwortlichkeit und Einschränkung der provisorischen Gesetzgebung durch die Regierung. Charakeristisch für diese Situation der Liberalen in den 40er Jahren ist das Bekenntnis, das Innenminister Bekk in der Neujahrszeit 1847 ablegte: „Wenn ich dieser Verhältnisse ohnerachtet mich auf diese Stellung (nämlich des Innenministers) begab, so geschah es in dem Bewußtsein, daß ich politisch vernichtet werde. Ich nehme dies hin und suche meine Pflicht zu tun, um vor meinem Inneren gerechtfertigt zu sein."49 Hinzu kommt auch hier seit der Mitte der 40er Jahre die wirtschaftliche Krise, die die langsam herangewachsenen sozialen Spannungen aufdeckt. 1845 war eine Kartoffelseuche ausgebrochen, im Winter darauf eine große Kälte, im Frühjahr darauf eine anormale Trockenheit. Die Getreidepreise stiegen innerhalb eines Jahres um das Doppelte, im nächsten Jahr noch einmal um 5 0 % , insgesamt von 11 Gulden für einen Zentner Weizen auf 33. Gleichzeitig fielen allerdings die Fleischpreise, weil die Bauern wegen der mangelnden Fütterung den Viehbestand reduzierten. 1 Pfund Rindfleisch kostete in einzelnen Dörfern nur noch 3 Kreuzer. Der Absatz in den Gewerben stockte. Ein allgemeiner Pessimismus breitete sich aus, der sich in vielen Broschüren, aber auch im Landtag zeigt. Zum ersten Mal seit dem Beitritt Badens zum Zollverein 1836, der einen beachtlichen Anstieg der Fabriken, vor allem entlang der Schweizer Grenze, gebracht hatte, müssen Arbeiter in bemerkenswerter Zahl entlassen werden. Das Handwerk klagt über Beschäftigungs- und Kreditmangel, Verbesserungsvorschläge werden gemacht. Das alte Bankprojekt taucht wieder auf. Vor allen Dingen erscheint auch hier das Gespenst des Pauperismus. Die Probleme der modernen Industrie werden zum ersten Mal auch in Baden sichtbar, besonders deutlich in der sogenannten Dreifabrikenfrage50. Der Zusammenbruch Frankfurter Banken hatte zunächst zwei Karlsruher Bankiers zur Einstellung ihrer Zahlungen gezwungen. Von ihnen, besonders von S. v. Haber, hingen aber die drei größten Fabriken des Landes, die Zuckerfabrik Waghäusel, die Spinnerei und Weberei Ettlingen und die Maschinen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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fabrik Kessler in Karlsruhe wesentlich ab. In den letzten Tagen des Jahres 1847 wandten sie sich mit einem dringenden Hilferuf an die Regierung: ein Staatskredit sollte ihr Fortbestehen sichern. Regierung und Landtag handelten mit bemerkenswerter Schnelligkeit. Innerhalb von drei Wochen hatten sie den Zustand der Fabriken untersucht und waren zu einem Entschluß gekommen. Finanz- und Innenministerium hatten beantragt, den Fabriken nicht mit einem Kredit, für den keine Mittel vorhanden waren, sondern mit einer staatlichen Zinsengarantie für die Gläubiger zu Hilfe zu kommen, um so dem privaten Kapital die Gewißheit des Fortbestehens der Unternehmen zu geben. Im Landtag platzten die Meinungen hart aufeinander. Die Liberalen spalteten sich in drei Lager: Bassermann, Soiron, v. Itzstein vertraten den reinen Wirtschaftsliberalismus und lehnten jenen Staatseingriff ab; Hecker und seine Freunde ließen erste sozialistische Töne anklingen, wandten sich gegen eine Unterstützung nur der großen Unternehmen und lehnten die Staatshilfe ebenfalls ab; Mathy, Welcker und die liberalen Industriellen wie Buhl, Mez, Denning und Helbing traten für die vorübergehende, außerordentliche und indirekte Stützung ein, wie sie die Regierung vorgeschlagen hatte. Zum erstenmal entwickelte sich im badischen Landtag eine wirtschaftspolitische Debatte im modernen Sinn. Mathy erstattete den Kommissionsbericht, der sich schon in der Tonart weit von dem Rettigs drei Jahre zuvor unterscheidet. Mit allem Nachdruck machte er auf die volkswirtschaftliche, in die Zukunft weisende Bedeutung der Fabrikindustrie aufmerksam. Mez ergänzte ihn, indem er darauf hinwies, wie sehr diese Fabriken ihre Umwelt verändert hätten, wie groß die Zahl derer sei, die von ihnen auskömmlich lebten, während sie vorher nur eine kümmerliche Existenz gehabt hätten. Die Abstimmung ging quer durch die politischen Lager; aber sie zeigte einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Interessenlagen, beruflich bedingten Leitbildern und der gesellschaftspolitischen Konzeption. Die Gewerbetreibenden und die Mehrzahl der Beamten (17 von 21) stimmten für, die Landwirte und Advokaten fast alle gegen die Unterstützung, die Kaufleute waren geteilt (4 zu 3). Wenige Monate später entpuppte sich die Krise einzelner Fabriken als eine Krise der ganzen Volkswirtschaft und — wie wir wohl hinzufügen dürfen — als eine Krise der gesellschaftlichen Struktur. Wieder waren es nur wenige, die ihre eigentlichen Gründe erkannten, Mathy und einige weitblickende Industrielle wie der jüngere Buhl, der Pforzheimer Bijouteriefabrikant Denning und der Seidenindustrielle Mez. Während die Mehrzahl der Abgeordneten noch immer von einem Schritt zurück in die Selbstgenügsamkeit einer kleingewerblichen und kleinbäuerlichen Welt sich einen Ausweg aus der Krise versprach, wiesen sie die Schwarzwälder Hausindustrie auf die Notwendigkeit der Gründung von Fabrikunternehmen hin, und Mathy entwickelte sein Programm zur Wiederbelebung von Handel und Industrie, in dem er vor allem auf die Verbesserungen des Kredits Wert legte, denn noch immer besaß Baden keine Notenoder Zettelbank. Aber seine Bemühungen verliefen im Sande. Die meisten badischen Abgeordneten erkannten auch 1848 das Aufkommen der industriellen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Gesellschaft noch nicht. Sie wollten die Armen in der herkömmlichen Weise unterstützen, statt die Ursache der Armut, die Unterbeschäftigung, zu bekämpfen. Vergeblich rief Mathy seit Jahren, daß nicht Klostersuppen, sondern nur Arbeitsgelegenheiten den Pauperismus beseitigen könnten. 30 Jahre konstitutionellen Lebens in Baden hatten die gesellschaftliche Struktur fast unbeachtet gelassen. Fast unbemerkt hatten sich jedoch auch in Baden in den letzten Jahren einige tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungen angebahnt. Die Bevölkerung war von 1816 bis 1848 von 971 000 auf 1 367 000 oder um rund 40 % angestiegen. Das Bevölkerungswachstum lag zwar unter dem Durchschnitt der deutschen Staaten, aber die Bevölkerungsdichte hatte mit 88 pro km2 um die Mitte des Jahrhunderts einen Stand erreicht, der nur von Sachsen, dem Großherzogtum Hessen und Nassau übertroffen wurde. Preußen und Bayern mit etwa 56 Personen pro km2 blieben weit darunter. Ohne tiefgreifende Veränderungen der wirtschaftlichen Struktur konnte Baden seine Bevölkerung nicht mehr ernähren. Schon seit 1830 überwog die Abwanderung die Zuwanderung, so daß das Bevölkerungswachstum ganz aus dem Geburtenüberschuß gespeist wurde. Bei einer Geburtenrate von rund 30‰ im Durchschnitt betrug er für die Jahre 1815 bis 1849 10,5‰ gegenüber 8,5‰ in Württemberg51. In den Krisenjahren nahm die Auswanderung besonders in einigen ländlichen Bezirken so zu, daß der Wanderungsverlust, der bis dahin um 1‰ jährlich gelegen hatte, auf über 7‰ der Bevölkerung stieg. Seinen Höhepunkt erreichte er freilich erst im Gefolge der Revolution. Anfang der 50er Jahre stand er bei 12,7‰52. Regierung und Parlament betrachteten diesen Wanderungsverlust jedoch als natürliches Ventil für den Bevölkerungsüberschuß. Noch in der Krise empfahl Nebenius die Auswanderung als das beste Mittel, der Übervölkerung Herr zu werden. Auch hier standen die wenigen jüngeren Liberalen allein, die statt dessen die Entwicklung neuer Subsistenzmittel — z. B. durch Fabrikgründungen — wünschten. Diese neuen Produktionskräfte waren inzwischen, ohne großes Aufheben von sich zu machen, in einzelnen Teilen des Landes ansehnlich gewachsen. 1809 war in St. Blasien die erste mechanische Spinnerei, in Lörrach die erste mit Druckwalzen ausgerüstete Indiennedruckerei eingerichtet worden. Einzelne tatkräftige Bürgerfamilie wie die Buhl in Ettlingen, die Helbing in Lahr und Emmendingen, die Grether und Gottschalk in Schopfheim, oder die Thoma in Todtnau hatten sich seitdem der Ausbildung der Fabrikindustrie — hauptsächlich der Textil- und Papierindustrie — gewidmet. Viele von ihnen waren wenigstens zeitweise Mitglieder des Landtags geworden53. Seit dem Anschluß an den Zollverein 1836 hatten schweizer und elsässische Industrielle einen Teil ihrer Produktion nach Baden verlegt. Das Wiesetal im oberbadischen Schwarzwald, schon im 18. Jahrhundert durch Verleger der Schweizer Baumwollhausindustrie erschlossen, hatte in einer zweiten Industrialisierungswelle die Mechanisierung und Konzentration der Baumwollspinnerei erlebt. Im Raum Karlsruhe/Ettlin© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gen waren, teilweise mit dem Kapital des hohen Adels und der Beamtenschaft, die ersten Aktiengesellschaften gegründet worden. 1849 zählte die amtliche Fabrikstatistik 335 Fabriken mit 17 105 Arbeitern gegenüber 146 fabrikähnlichen Betrieben mit 2656 Arbeitern im Jahre 180934. Etwa 5—6 % der Bevölkerung lebten nun von der Fabrikindustrie gegenüber höchstens 1 % vierzig Jahre zuvor. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung ernährte sich freilich nach wie vor von Landwirtschaft und Kleingewerbe. Aber auch hier hatten sich charakteristische Verschiebungen vollzogen. Bezogen 1809 noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung ihren hauptsächlichsten Unterhalt aus der Landwirtschaft, waren es 1843/44 nur noch 40—44 %. Die absolute Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten war nicht mehr gestiegen, eher zurückgegangen. Das Kleingewerbe hatte sich dagegen um ca. 50 000 großenteils unselbständiger Erwerbstätiger vermehrt. Zwischen 1829 und 1844 hatte die Zahl der selbsttätigen Gewerbetreibenden (Landwirte und Tagelöhner eingeschlossen) nur um 13,5 % zugenommen, die der unselbständigen dagegen um 5 5 % . Die gesamte badische Wirtschaft war um ca. 20 % gewachsen55. Dieses Wachstum kann man nicht gerade als stürmisch bezeichnen. Seit der Mitte der vierziger Jahre stagnierte es sogar, ja wandelte sich in einen Schrumpfungsprozeß. Aber es hatte doch gezeigt, wo die Entfaltungsmöglichkeiten lagen. Am Vorabend der Revolution waren diese Möglichkeiten noch kaum erkannt und fast gar nicht ausgeschöpft. Eine Konjunkturkrise konnte sich daher zu einer Strukturkrise erweitern. Daß sie mit der Krise der politischen Verfassung zusammentraf, beruht gewiß ebensowenig auf Zufall wie auf einer einfachen Kausalbeziehung. Das Schwinden des wirtschaftlichen Vertrauens hat das Schwinden des politischen Vertrauens sicherlich beschleunigt. Aber der politische Konfliktstoff lag schon lange angehäuft. Unerfüllte Versprechungen, stekkengebliebene Reformen, halbgewährte Rechte hatten in Baden ebenso wie in den andern deutschen Staaten den politischen Fortschritt teils aufgehalten, teils zur Opposition zusammengedrängt. Er konnte sich explosiv entladen, als die wirtschaftliche Krise weite Schichten der Bevölkerung in Unruhe und Mißmut versetzte. Umgekehrt waren die wirtschaftlichen und sozialen Chancen schon lange als ungenügend empfunden worden. Immer größer werdende Teile der wachsenden Bevölkerung hatten in der Landwirtschaft keinen befriedigenden Unterhalt mehr gefunden und waren auf das häusliche Kleingewerbe und den Tagelohn angewiesen. Solange ein allgemeines, wenn auch langsames Wachstum anhielt, blieb diese ständige Unterbeschäftigung verborgen; als sie in der Krise akut wurde, bedurfte es nur des aus Frankreich herüberspringenden Funkens, um auch die politische Entladung zu bringen. Man wird den besonders heftigen Ausbruch der Revolution in Baden nicht mit besonders mißlichen Zuständen im Lande begründen können. Historische Unwägbarkeiten wie der Einsatz einzelner Revolutionäre spielten dabei eine bedeutende Rolle. Aber die Tatsache, daß das politische Spielfeld für den Bürger relativ weit abgesteckt war, ohne ihm schon wirkliche Entscheidungsbefugnisse zu geben — dazu fehlten vor allem Gesetzgebungsinitiative, Ministerverantwortlichkeit und Pressefreiheit —, wäh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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rend gleichzeitig die „bürgerliche", die Sozialverfassung nahezu unentwickelt blieb, mag wesentlich dazu beigetragen haben, daß Baden zu einem Zentrum der deutschen Revolution von 1848/49 geworden ist56.

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D e r Deutsche Zollverein1 Fallstudie einer Zollunion Lange Zeit galt der Deutsche Zollverein von 1834—1867 in erster Linie als Wegbereiter der nationalen Einheit, als Vorläufer des Bismarckschen Reichs. Diese Ansicht herrschte vor allem unter deutschen Historikern. Einige betrachteten die Gründung des Zollvereins sogar als integralen Bestandteil der Reichsgründung. Daher wurden Preußens Bemühungen und sein Kampf um eine Zollvereinigung fast ausschließlich unter dem Aspekt der politischen Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert gesehen. Von solchem Blickwinkel aus erschien der Zollverein als geniale Lösung, als eine Schöpfung kluger Staatsmänner, getragen von dem einheitlichen Willen aller um nationale Einheit kämpfenden Deutschen. Treitschkes „Deutsche Geschichte" hat wahrscheinlich am meisten dazu beigetragen, dieses Bild der öffentlichen Meinung einzuprägen. Seine Beschreibung des Silvesterabends 1834: — „Auf allen Landstraßen Mitteldeutschlands harrten die Frachtwagen hochbeladen in langen Zügen vor den Mauthäusern, umringt von fröhlich lärmenden Volkshaufen. Mit dem letzten Glokkenschlage des alten Jahres hoben sich die Schlagbäume, die Rosse zogen an, unter Jubelruf und Peitschenknall ging es vorwärts durch das befreite Land2" — ist wieder und wieder zitiert worden. Solche impressionistischen Skizzen verführen jedoch dazu, das große Maß von Detailarbeit und Kompromissen zu übersehen, das notwendig war, um den Zollverein zu begründen und am Leben zu halten. Sie lassen auch vergessen, wie wichtig die Institutionen und Instrumente waren, durch die der Zollverein funktionierte, obwohl gerade sie von besonderem Interesse für den Ökonomen sind, der nach historischen Beispielen sucht, um Lehren für die gegenwärtige Situation zu ziehen. Die Aktualität des Problems politischer Integration durch ökonomische Mittel hat die Diskussion um das Problem von Zollunionen im allgemeinen und die Bedeutung des Zollvereins als spezifisches Beispiel für eine solche Union wiederbelebt, ebenso wie die Frage nach einer erfolgreichen Kooperation zwischen souveränen Staaten innerhalb eines begrenzten Bereichs ihrer Wirtschaftspolitik 3 . Die vorliegende Arbeit bildet einen Beitrag zu dieser Diskussion. Sie gibt zunächst einen kurzen Abriß des historischen Hintergrunds; daran schließt sich eine Untersuchung der Vertragsstruktur des Zollvereins, seiner Arbeitsweise und seiner Errungenschaften an. I. Der historische Hintergrund Der Zollverein war keine föderale Institution, die in ihrer ganzen Komplexität zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Leben gerufen wurde, sondern ein Bündel von mehr als hundert Verträgen, deren Abschluß sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erstreckte. Die Bildung des Systems der deutschen Zollunion begann 1819, als das kleine Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die preußische Zollgesetzgebung übernahm, und fand seinen Abschluß 1885 mit der Einbeziehung der Hansestadt Bremen in die Zollgrenzen des Deutschen Reiches. Der Name „Deutscher Zollverein" bezog sich zunächst auf die ZollUnion einiger nord- und süddeutscher Staaten, die am 1. Januar 1834 in Kraft trat und blieb bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867 in Geltung. So kann man sagen, daß der Zollverein im engeren Sinne über ein Drittel des Jahrhunderts bestand, während sich der Aufbau der deutschen ZollUnion über zwei Drittel des Jahrhunderts hinzog. Bei der Betrachtung der Probleme dieses Zeitraums müssen wir einige Grundgegebenheiten im Auge behalten, z. B., daß im Jahre 1815 der Verkehr in Zentraleuropa mit Pferdekarren und -kutschen betrieben wurde, während um 1885 ein gutausgerüstetes staatliches Eisenbahnnetz das Gebiet des Deutschen Reiches umspannte. Innerhalb dieses Zeitraums von siebzig Jahren fallen die Jahrzehnte, in denen der Zollverein existierte, genau mit der Periode zusammen, in der sich Deutschland wirtschaftlich und politisch von einem losen Verbund hauptsächlich landwirtschaftlicher Gebiete in eine Föderation mehr oder weniger industrialisierter Staaten umwandelte. 1835 wurde die erste deutsche Eisenbahn in Betrieb genommen, 1867 der Norddeutsche Bund ins Leben gerufen mit einem Kanzler als Spitze der Exekutive und einem gemeinsamen Parlament. Die wirtschaftlichen Probleme einer Zollunion in einem so frühen Stadium der industriellen Entwicklung waren selbstverständlich nicht die gleichen wie die unserer Zeit. Einige unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten waren noch gar nicht aufgetaucht, während elementare technische Probleme anstanden, die in der Zwischenzeit längst gelöst worden sind. Es mag genügen, auf zwei grundlegende Unterschiede hinzuweisen: 1. In keinem der Zollvereinsstaaten gab es eine Einkommenssteuer. Zölle und Verbrauchsteuern — die heute weniger als die Hälfte der Einnahmen der öffentlichen Hand ausmachen — waren die Haupteinnahmequelle aller Mitgliedstaaten des Zollvereins. Folglich war jede politische Maßnahme, die diese Steuereinnahmen berührte, vor allem vom fiskalischen Gesichtspunkt aus von Bedeutung, während ihre anderen möglichen Implikationen, z. B. der Schutz der eigenen Industrien zweitrangig blieb (obgleich dies Problem noch während der Existenz des Zollvereins an Bedeutung gewann). Ganz allgemein war die Zollpolitik im früheren 19. Jahrhundert im wesentlichen Bestandteil der Finanzpolitik, während sie im späteren Jahrhundert mehr und mehr Teil der Handelspolitik wurde. 2. Es gab kein modernes Banksystem mit regelmäßiger Geldschöpfung, bargeldlosem Zahlungsverkehr und einer übergeordneten Zentralbank mit dem exklusiven Recht der Notenausgabe. Geldpolitik beschäftigte sich hauptsächlich mit Münzen, ihrem Gold- oder Silberstandard und ihren Wechselkursen. In jedem der Zollvereinsstaaten waren ausländische Münzen und Banknoten im freien Umlauf. Erst 1857, 23 Jahre nach Gründung des Zollvereins, entschloß Preußen sich, ausländische Banknoten von der Zirkulation in den eigenen Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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bieten auszuschließen und das Recht der Notenausgabe auf die Bank von Preußen, eine halb-private Bank unter öffentlicher Kontrolle, und auf einige Provinzbanken zu beschränken. Diese Banken unternahmen natürlich noch keinerlei antizyklische Maßnahmen. Während der plötzlichen und schweren Depression von 1857 erhöhte die Bank von Preußen ihren Diskontsatz auf 7½ %. Finanz- und Geldpolitik waren als Instrumente der Wirtschaftspolitik noch unentwickelt, und die Geschichte des Zollvereins lehrt uns nichts über ihren Gebrauch innerhalb einer Zollunion. Das gleiche gilt für alle Bereiche der Sozialpolitik, wie Vollbeschäftigung, Sozialversicherung, Gesundheitswesen und Altersversorgung. Die Frage, wie diese Funktionen zwischen staatlichen und überstaatlichen Behörden aufgeteilt werden können, bestand nicht. Die Zollpolitik des 19. Jahrhunderts hatte in erster Linie Auswirkungen auf die Staatskasse und den Handel. In beiden Bereichen waren ihre Folgen schwerwiegender als heute, aber sie berührten das wirtschaftliche Leben des Landes nicht so stark, da es weit weniger integriert war als in unserer Zeit. Die Bedürfnisse der Staatskasse und des Handels gaben den Anstoß, aus dem der Zollverein hervorging. Beide waren von vordringlicher Bedeutung besonders in Preußen, dem zweitgrößten Staat Zentraleuropas. Durch den Wiener Kongreß von 1815 hatte Preußen zusätzlich zu den älteren Besitzungen im Rheinland neue Gebiete erhalten. Preußen wurde damit ebenso ein west- wie ostdeutscher Staat; zwischen beiden Teilen bestand indes keine Verbindung und innerhalb des preußischen Territoriums gab es viele Enklaven. In der Periode der französischen Revolution und Napoleons war die Zahl der selbständigen Territorien in Deutschland zwar geschrumpft, es gab aber noch immer rund 40, die nun als souveräne Staaten innerhalb des Deutschen Bundes definiert wurden. In früheren Jahrhunderten wäre eine solche Situation nichts Ungewöhnliches gewesen. Eindeutige Grenzen zwischen Ländern, wie wir sie kennen, hatte es in Zentraleuropa nicht gegeben. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Zölle nicht an den Landesgrenzen erhoben, sondern an bestimmten Platzen — Städten, Brücken, Straßen —, denen kaiserliche oder fürstliche Privilegien das Recht dazu ausdrücklich verliehen hatten. Unter dem Einfluß der Niederlage gegen Napoleon waren jedoch in Preußen Reformen begonnen und nach dem Wiener Kongreß fortgesetzt worden. Teil der Reformmaßnahmen war auch das Zollgesetz von 1818. Es sah einen einheitlichen Zolltarif im gesamten preußischen Staatsgebiet vor, der an den Landesgrenzen zu erheben war, und freien Handel innerhalb der Staatsgebiete. Um diese Maßnahmen durchsetzen zu können, mußten Verträge mit den Staaten, die innerhalb oder zwischen Teilen des preußischen Territoriums lagen, abgeschlossen werden. Diese Abkommen bildeten den Kern des Zollvereins. 1819 wurde das erste Abkommen mit Schwarzburg-Sondershausen geschlossen. Andere folgten im Verlaufe des nächsten Jahrzehnts, obwohl einige der Fürsten hartnäckigen Widerstand leisteten. Der nächste Schritt war, die Staaten zwischen den östlichen und den westlichen Teilen Preußens zu gewinnen. Das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Großherzogtum Hessen schloß sich im Jahre 1828 an, zehn Jahre nach Inkrafttreten des ersten preußischen Zollgesetzes. Das preußische Drängen nach Vereinheitlichung des eigenen Zollsystems war indes nur eine der treibenden Kräfte für eine deutsche Zollunion. Die andere Triebkraft lag in der populären nationalen und liberalen Bewegung. Friedrich Lists „Allgemeiner Deutscher Handels- und Gewerbeverein" strebte eine gesamtdeutsche Zollunion im Zusammenhang mit der Reform des Deutschen Bundes an. Ein deutscher nationaler Staat mit hohen Zollschranken nach außen und Freihandel nach innen sollte den Deutschen Bund ersetzen. Die Bewegung hatte keinen unmittelbaren Erfolg; aber die zunehmende nationale und liberale Denkweise beeinflußte staatliche Maßnahmen und stand hinter vielen der späteren Verhandlungen, besonders in Süddeutschland. Die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden machten sich zum Fürsprecher ähnlicher Vorschläge. Der gesamte Deutsche Bund sollte eine Zollunion bilden, so wie es im Artikel 19 der Bundesakte vorgesehen war. Doch Österreich war nicht bereit, sein altmodisches Schutzzollsystem aufzugeben, da daraus Schwierigkeiten für seine Besitzungen außerhalb des Bundes entstanden wären. Auch Preußen wollte sich noch nicht an einer gesamtdeutschen Zollunion beteiligen. Deshalb versuchten die süddeutschen Staaten, einen eigenen Zollverband aufzubauen. Die Verhandlungen waren nicht erfolgreich, aber nach ihrem Abbruch brachten Bayern und Württemberg einen Zollverein untereinander zustande. Dieser Zusammenschluß wurde im gleichen Jahr 1828 vereinbart wie der Zollverband zwischen Preußen und dem Großherzogtum Hessen, und er wurde zum zweiten, wenn auch schwächeren Eckpfeiler des Deutschen Zollvereins. Sechs Jahre später entstand aus diesen beiden Verbänden der Zollverein. Wie so oft ebnete ein gemeinsamer Gegner den Weg zur Zusammenarbeit. Einige kleine mitteldeutsche Staaten wollten sich gegen den preußisch-hessischen OstWest-Druck sowie gegen den Druck von Süden schützen. Sie wollten den Schlüssel zum Nord-Süd-Handel von den Seehäfen Hamburg, Bremen und Lübeck in die Alpen, nach Italien und nach Südosteuropa in Händen behalten. So vereinbarten sie einen mitteldeutschen Handelsverein, was selbstverständlich nicht im Interesse der beiden Zollunionen lag. Diese versuchten den Zusammenschluß zu verhindern, indem sie ihre Unionen zusammenlegten und einige neue Mitglieder wie Sachsen und Thüringen hinzugewannen. Damit brach der mitteldeutsche Handelsverein auseinander. Eine Kette von Abkommen wurde im Verlauf des Jahres 1833 abgeschlossen, die alle zum 1. Januar 1834 in Kraft traten und die in ihrer Gesamtheit als Zollverein bekannt geworden sind. Zu Beginn umfaßte er 18 Staaten mit einem Gebiet von 425 024 qkm und 23½ Millionen Einwohnern, davon 15 Millionen Preußen. Zunächst galten die Verträge für 8 Jahre. Während dieses Zeitraums traten einige andere Staaten bei, z. Β. Baden, Nassau, Oldenburg, Luxemburg und die Freie Stadt Frankfurt. Neben Österreich blieb die einzige große Lücke im Norden. Hannover und Braunschweig hatten einen „Niedersächsischen Steuer-Verein" gebildet, um sich gegen die Zollunion durch Vereinheitlichung ihrer eige8 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nen Zölle und Verbrauchssteuern zu behaupten. Verhandlungen über den Austausch von Enklaven zwischen den Unionen verliefen jedoch erfolgreich, und schließlich trat der „Steuer-Verein" dem Zollverein bei. Die Verträge wurden dreimal für je 12 Jahre verlängert und der Zollverein bestand weiter, selbst als einige der Mitgliedstaaten untereinander Krieg führten. Das war 1866, als Preußen und Österreich die entscheidende Schlacht um die Hegemonie in Deutschland fochten. Bayern, Württemberg und Hannover schlugen sich auf die Seite Österreichs. Trotzdem erhoben sie weiterhin wie gewohnt die Zolle und sandten die Erlöse nach Berlin, wo sie auf die Mitgliedstaaten verteilt wurden. Preußen begnügte sich damit, seine Zollinspektoren aus feindlichen Ländern abzuziehen, verhinderte aber nicht den Handel mit ihnen. Nach diesem siebenwöchigen Krieg wurde der Norddeutsche Bund gegründet, der in der Tat ein echter Bundesstaat war. Der Bund bildete eine Zollunion und schloß eine Reihe von Verträgen mit den Mitgliedern des Zollvereins ab, die außerhalb des Bundes geblieben waren: Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt und Luxemburg. Dieser sogenannte Zweite Zollverein bestand bis 1871. Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Schwerin traten diesem Zweiten Zollverein bei; aber erst nach der Gründung des Deutschen Reiches vervollständigten die drei Hansestädte Hamburg, Lübeck und Bremen nach und nach diesen „kleindeutschen" Zollverband. Luxemburg blieb Mitglied des deutschen Zollsystems bis zum Ende des 1. Weltkrieges, ohne je zum Norddeutschen Bund oder zum Deutschen Reich gehört zu haben. Die erste Lehre aus der Geschichte des Zollvereins ist somit, daß nicht notwendig mit einer Vereinigung aller Staaten begonnen werden muß, die man letztlich zu vereinen hofft; ist der Anfang einmal gemacht, zwingen die Fakten die anderen zum Einlenken. II. Die rechtliche Struktur des Zollvereins Welche gesetzlichen Maßnahmen und Institutionen machten die Zollunion funktionsfähig? Wie bereits ausgeführt, ging die Vereinigung „Klein-Deutschlands" in drei Stadien vor sich: a) Das erste war eine Zollunion zwischen souveränen Staaten mit Hilfe bioder multilateraler Verträge. Dies ist die Stufe des eigentlichen Zollvereins, 1819 begonnen, 1834 zu voller Wirkung gebracht und fortgeführt, bis die zweite Stufe erreicht war. b) Das zweite Stadium war ein Bundesstaat, der gleichzeitig einen Zollverband bildete und andere, noch souveräne, Staaten für den alleinigen Zweck einer Zollunion assoziierte. Dieses Stadium währte von 1867 bis 1870. c) Das dritte Stadium war ein vollständiger Bundesstaat, das Zweite Reich, mit der bemerkenswerten Anomalie, daß ein Mitglied der Zollunion, Luxemburg, dem Bundesstaat nicht beitrat, und daß zwei Mitglieder des Bundesstaats — Hamburg und Bremen — für einige Jahre nicht in die Zollunion einbezogen waren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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In diesem Abschnitt wollen wir uns hauptsächlich mit dem ersten Stadium befassen, währenddessen rund 130 Verträge, teils bilaterale, teils multilaterale, abgeschlossen wurden. Klassifiziert man sie nach den jeweiligen Partnern, kann man drei bilaterale und drei multilaterale Gruppen unterscheiden. Damit kommen wir auf sechs Typen von Verträgen, unter die freilich — das macht die unendliche Vielzahl historischer Fakten aus — nicht jeder einzelne völlig subsumiert werden kann: 1. Bilaterale Verträge zwischen einem großen Staat und einer Enklave. 2. Bilaterale Verträge zwischen einem großen und einem kleinen Staat. 3. Bilaterale Verträge zwischen einem großen Staat und einem mittlerer Größe. 4. Multilaterale Verträge zwischen einem großen Staat und mehreren kleinen. 5. Multilaterale Verträge zwischen den Mitgliedern einer Zollunion und Mitgliedern einer anderen. 6. Multilaterale Verträge zwischen Mitgliedern einer Zollunion und einem einzelnen Staat. 1. Verträge des ersten Typs, mit denen eine Enklave völlig in das Zollsystem des großen Staates einbezogen wurde, schloß allein Preußen in zwanzig Fällen ab; mehrfach rundeten auch Mittelstaaten so ihr Zollgebiet ab. Da eine Enklave völlig von einem anderen Staat eingeschlossen ist, wird die Erhebung und Verwaltung der Zölle von dem sie umgebenden Partnerstaat abgewickelt. Alle Waren, die in die Enklave gehen oder aus ihr kommen, werden vom Partnerstaat wie eigene Im- oder Exporte behandelt, außer solchen, für die in der Enklave besondere Verbrauchssteuern erhoben werden. Diese fallen unter einen Kompensationszoll. Trotz dieser Einschränkung ihrer Zollverwaltung wird der Enklave ihre Souveränität garantiert. Sie erhält einen Teil der Zolleinnahmen entsprechend ihrer Einwohnerzahl. Will man zu einer gerechten Beurteilung dieses ersten Typs von ZollvereinsAbkommen gelangen, muß man im Auge behalten, daß die meisten der Enklaven zu Ländern außerhalb des Zollgebiets des Partnerstaates gehörten. Die Herrscher dieser Enklaven gaben die Zollverwaltung nur in einem Teil ihres Territoriums ab. Wo jedoch die Enklave einen gesamten Staat repräsentierte, nahm dieser eine empfindliche Beschränkung seiner Souveränität hin. Als Gegenleistung erhielt er einen erheblichen Zuwachs an Einnahmen. Nie zuvor hatten diese Duodezfürstentümer ohne Mühe und Arbeit so viele Einnahmen wie jetzt. Bei ihrer permanenten Geldnot wollten die meisten kleinen Fürsten diesen finanziellen Vorteil nicht wieder aufgeben, sobald sie ihn einmal erlangt hatten, auch wenn sie sich vorher gescheut hatten, das Abkommen zu unterzeichnen. 2. Der zweite Vertragstyp, zwischen einem großen und einem kleinen Staat, zeigt die gleichen Züge wie der erste Typ: die Übernahme des fremden Zollsystems durch den kleinen Staat. Der kleinere Partner nimmt jedoch nicht nur an den Zolleinnahmen, sondern auch an der Zollverwaltung teil. Jeder Partner erhebt auf der Grundlage der gemeinsamen Gesetzgebung die Zölle auf eigene Rechnung. Nach Abzug der Verwaltungskosten werden die Einnahmen nach 8*

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Einwohnerzahl aufgeteilt. Der kleine Staat paßt seinen Verwaltungsapparat dem größeren an. Ein Zollamt, bestehend aus einem Direktor und zwei Räten, übt die gleichen Funktionen aus wie die Bezirkszollämter des größeren Staates. Es untersteht dem entsprechenden Ministerium des kleinen Staates, aber einer der Räte wird von dem größeren Nachbarn ernannt. Im Austausch entsendet der kleine Staat einen Rat in eines der Bezirkszollämter des größeren PartnerStaates. Der größere Staat hat das Recht, einen permanenten Inspektor für jede der Haupt-Zollstellen im kleineren Staat zu ernennen, dem Partner wird erlaubt, die gleiche Zahl von Inspektoren in die Zollstellen des größeren Staates zu entsenden. Der Inspektor muß über die täglichen Geschäfte auf dem laufenden gehalten werden, kann auch an ihnen teilnehmen, besitzt jedoch kein Vetorecht. Beiden Partnern wird gestattet, die gesamte Zollgrenze zu inspizieren. Die Teile beider Staaten, die innerhalb des Territoriums des Partnerstaates liegen, werden dem nächstgelegenen Bezirkszollamt unterstellt; die Beamten jedoch vom jeweiligen Innenministerium ernannt. Der kleine Staat sichert sich vier wesentliche Rechte: der gemeinsame Zolltarif und die Verwaltungsbestimmungen können nicht ohne seine Mitwirkung geändert werden; Handelsabkommen, die seine Interessen berühren, bedürfen seiner Zustimmung; seine Untertanen genießen in den Seehäfen des Partnerstaates gleiche Rechte; und jährlich werden Konferenzen der Delegierten beider Staaten abgehalten. So sieht der zweite Vertragstyp eine Angleichung der Administration des kleinen Staates an das Vorbild des größeren vor und räumt beiden Partnern erhebliche gegenseitige Kontrollrechte ein. Obgleich diese Vereinbarungen hauptsächlich den stärkeren Staat begünstigen, wird der schwächere doch keines seiner souveränen Rechte beraubt, und der stärkere kann keine wichtige Entscheidung ohne vorangehende Beratung mit ihm treffen. Dieser Vertragstyp wurde hauptsächlich zwischen Preußen und den Staaten abgeschlossen, die zwischen seinen östlichen und westlichen Gebieten lagen. Ebenso wie der erste Typ zielte er darauf ab, diese Gebiete miteinander zu verbinden. 3. Der dritte Vertragstyp ist vielleicht der interessanteste, da er von zwei Mittelstaaten abgeschlossen wurde, von denen keiner hoffen konnte, über den anderen zu dominieren. Aber auch in diesen Fällen wird kein neuer gemeinsamer Tarif ausgehandelt; der etwas kleinere Partner übernimmt den des anderen. Hauptmerkmal dieses Typs ist getrennte Verwaltung mit weitreichenden gegenseitigen Kontrollrechten. Das Abkommen zwischen Bayern und Württemberg z. Β. sieht einen Generalbevollmächtigten jedes Staates in der obersten Zollbehörde des anderen vor. Jede Anweisung der Behörde ist ohne seine Abzeichnung gegenstandslos. Verweigern kann er sie freilich nicht. Wenn er mit getroffenen Maßnahmen nicht übereinstimmt, kann er Protest einlegen, seiner eigenen Regierung darüber berichten oder die Angelegenheit vor die jährliche Konferenz bringen, die sich aus zwei Delegierten beider Staaten zusammensetzt und alle auftauchenden Probleme behandelt. In Verbindung mit zwei zusätzlichen Experten fungiert sie als Schiedsgericht — eine wichtige Regelung, die in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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keinem der zuvor erörterten Abkommen vorkommt, noch im Zollverein insgesamt. Ein anderer bemerkenswerter Unterschied ist, daß die Zollbeamten beider Staaten einen Treueeid auf die Union leisten müssen. 4. Der vierte Vertragstyp, in seinen Wirkungen dem zweiten ähnlich, hat unterschiedliche Voraussetzungen. Er erscheint nur einmal und resultiert aus der eigenartigen Situation der thüringischen Staaten. Sie waren so klein und so verstreut, daß eine klare Zollgrenze zwischen ihnen und den preußischen Bezirken in Thüringen nicht zu ziehen war: so mußten sie entweder weiterhin auf lokaler Ebene Zölle erheben oder sich zusammenschließen. Preußen gelang es, sie von den Vorteilen einer Union zu überzeugen. Es schloß mit jedem ein Abkommen, durch das ein Thüringischer Zoll- und Handels-Verein ins Leben gerufen wurde, der insgesamt mit den preußischen Zoll- und Steuerbestimmungen konform ging. Wie die anderen kleinen Staaten bildete der Verein einen Bezirk des preußischen Zollgebiets, der nicht der preußischen Regierung unterstand. Der größte der thüringischen Staaten, Sachsen-Weimar, ernannte einen gemeinsamen Zollinspektor, der seinen Sitz in Erfurt, einer zu Preußen gehörigen Stadt in Thüringen, hatte. Er mußte einer jährlichen Delegiertenkonferenz aller Mitgliedstaaten Bericht erstatten, war aber nicht an besondere Anweisungen eines von ihnen gebunden. So war der thüringische Verein der einzige Bestandteil des ersten Zollvereins mit einer überstaatlichen Verwaltung. Bei den jährlichen Zollvereinskongressen hatte er eine Stimme. 5, Der fünfte Vertragstyp — zwischen Mitgliedern zweier Zollunionen, die beschließen, sich zusammenzutun, indem sie die in vorangegangenen Verträgen ausgehandelten Bestimmungen auf alle ausdehnen — kompliziert das Bild erheblich. Sein Prototyp ist das Abkommen zwischen den Zollverbänden Preußen-Hessen und Bayern-Württemberg und kann als das zentrale Abkommen des Zollvereins betrachtet werden. Ähnlich wie Verträge zwischen zwei Mittel-Staaten sieht es einen gemeinsamen Zolltarif und gemeinsame Verwaltungsbestimmungen vor bei getrennter Verwaltung mit gegenseitiger Kontrolle und proportionaler Teilung der Einnahmen. Ein jährlicher Kongreß wird vereinbart und ein permanentes zentrales Büro in Berlin eingerichtet mit einem Beamten jedes Staates zur viertel- und jährlichen Bilanzierung und zur Veröffentlichung statistischer Berichte. Zwei Hauptprobleme konnten in diesen Verträgen nur unvollkommen gelöst werden: der Ausgleich der verschiedenen Verbrauchssteuern und staatlichen Monopole und die Standardisierung der verschiedenen Gewichte, Maße und Geldeinheiten. Da eine Vereinheitlichung der Verbrauchssteuern und der Staatsmonopole nicht erreicht werden konnte, sahen die Abkommen Kompensationsabgaben für Waren vor, die verschiedenen Verbrauchssteuern unterlagen, und das Verbot von Salz- und Spielkarten-Importen in Staaten, die ein entsprechendes Monopol aufrechterhielten. Die Zollverwaltung wurde dadurch erheblich kompliziert, da die internen Kontrollen nicht abgebaut werden konnten. Gemeinsame Registrierämter wurden an den Binnengrenzen unterhalten, um alle passierenden Waren zu erfassen und Kompensationszölle zu erheben. In © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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bezug auf die verschiedenen Gewichte sah das Abkommen Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten mit dem Ziel vor, die preußischen und bayerischen Gewichte als Ständardmaße einzuführen, während eine Vereinheitlichung des Münzwesens nicht erreicht wurde und die Zölle noch immer in allen Goldoder Silbermünzen gezahlt werden konnten, die in den Mitgliedstaaten im Umlauf waren. 6. Den letzten Vertragstyp finden wir, wenn ein neuer Staat einer bereits bestehenden Union beitreten will. Das neue Mitglied erkennt die Bedingungen der Union im allgemeinen an, übernimmt deren Zolltarif und Verwaltungsbestimmungen etc. und sichert sich häufig besondere Rechte, entweder einen größeren Anteil an den Einnahmen (z. Β. Frankfurt und Hannover) oder zollfreien Handel in bestimmten Gütern mit Nachbarstaaten, die keine Mitglieder der Union sind (z. B. Baden in bezug auf die Schweiz). Ein System von Ausgleichszöllen wird für Güter ausgearbeitet, die in Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichen Verbrauchssteuern gehen.

Zusammenfassend können wir den ersten Zollverein als eine Integration von Zollsystemen souveräner Staaten betrachten, die durch einzelne bi- oder multilaterale Abkommen erreicht wird. Keiner der Vertragstypen hatte die Abtretung souveräner Rechte zum Inhalt, ausgenommen die direkte Zollverwaltung. Nur wenige Staaten vereinheitlichten ihre Verbrauchssteuern, die meisten Mitglieder behielten ihre Steuern und Monopole. Die Frage nach der Aufgabenteilung und ihren Auswirkungen, die heute das entscheidende Problem jeder unvollständigen Machtdelegation zu sein scheint, tauchte gar nicht auf. Dies resultiert aus dem geringeren Integrationsgrad der Wirtschaft selbst sowie der geringeren Interdependenz von Wirtschaft und Staat, was die Aufgaben der verhandelnden Politiker und Beamten erleichterte. Die Unterhändler des Zollvereins hatten die Auswirkungen auf die Staatskasse, auf den Handel und bis zu einem gewissen Grade auf die heimische Industrie im Auge. Ihnen ging es noch nicht um die Stabilität der Gesamtwirtschaft oder die Zahlungsbilanz, die Sicherung der Vollbeschäftigung oder angemessene Sozialleistungen. Die komplizierte Struktur des Zollvereins wird besonders deutlich, wenn man versucht, zu Beginn der sechziger Jahre, als Hannover und die nördlichen Staaten bereits beigetreten waren, einen Querschnitt zu ziehen. Einige Staaten hatten das preußische Zollsystem geschlossen übernommen, Verbrauchssteuern und Monopole teils inbegriffen, teils ausgenommen; andere hatten es zwar übernommen, ihre eigene Verwaltung aber beibehalten; wieder andere formten zunächst Unterverbände, bevor sie es übernahmen. Sie alle gemeinsam bildeten eine Zollunion mit zwei anderen Verbänden, die wiederum ein System gegenseitiger Anpassung entwickelt hatten; wieder andere Staaten von unterschiedlicher Größe waren kraft unterschiedlicher Abmachungen dem System lose assoziiert. Man hätte kaum erwarten sollen, daß eine so umständliche Maschinerie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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arbeitsfähig sei. Aber, wie so häufig in der Geschichte, erwies sich eine kompliziert wirkende Institution als erfolgreich, weil sie sich der Verschiedenheit der Bedingungen, mit denen sie zu tun hatte, anpaßte, während vernünftig und einfach aussehende Institutionen oft versagen, weil sie nicht anpassungsfähig sind. III. Zur Arbeitsweise des Zollvereins Selbstverständlich konnte die Maschinerie des Zollvereins nicht ohne Reibungsverluste arbeiten. Die entscheidenden Klippen waren jedoch nicht bei der Anwendung der Bestimmungen zu überwinden, sondern da, wo sie neu abgesteckt und verändert werden sollten. Der schwierigste Teil der Arbeit war, den Zollverein überhaupt zustande zu bringen. Sobald er einmal existierte, stellte er seine Lebensfähigkeit trotz mehr als einer Krise unter Beweis. Sein Erfolg war in erster Linie ein Erfolg des preußischen Beamtentums. Nach der Schaffung eines eigenen klaren Zollgesetzes von 1818 hatte Preußen den Vorteil, seinen Partnern ein besseres Zollsystem anbieten zu können als irgendein anderer deutscher Staat. Das preußische Zollgesetz von 1818 wurde für mehr als ein halbes Jahrhundert zur Grundlage des deutschen Zollsystems. Seine Vorteile waren Einfachheit und Effizienz. Auf liberalen Prinzipien aufgebaut, hatte es fast alle quantitativen Restriktionen und internen Schranken abgebaut. Erhoben wurden nur drei Typen von Zöllen: Einfuhr-, Ausfuhr- und Transitzölle, alle als spezifische Zölle auf der Grundlage der Nicht-Diskriminierung. Anders ausgedrückt: An Hand einer alphabetischen Warenliste wurde ein bestimmter Zollsatz pro Gewichtsmenge einer Ware erhoben, unabhängig vom Herkunfs- oder Bestimmungsland. Die meisten Rohmaterialien und Grundnahrungsmittel waren ausgenommen, gewerbliche Güter unterlagen einer bescheidenen Abgabe (ausgenommen textile Fertigwaren, für die 110 Taler pro Zentner erhoben wurden). Den größten Teil der Einnahmen erbrachten einige wenige Güter des gehobenen Massenverbrauchs wie Kaffee, Tee, Bier, Wein, Spirituosen, Tabak und einige Kolonialwaren. Obgleich später einige dieser Prinzipien aufgegeben, Präferenzklauseln eingeführt und viele Tarife geändert wurden, blieben die grundlegenden Proportionen der Einnahmen aus diesen zwei Gütergruppen bis zur Zeit des Zweiten Reiches die gleichen. 1871 gingen drei Viertel aller Zolleinnahmen auf Getränke, Nahrungsmittel und Tabak zurück, ein Drittel allein auf Kaffee. Im Durchschnitt lagen die Zölle nach dem preußischen Zollgesetz von 1818 höher als in den kleineren deutschen Staaten, aber wesentlich niedriger als in den anderen großen europäischen Ländern, vor allem Österreich, Frankreich und Rußland. Dieses Zollgesetz und die Methoden seiner Anwendung waren Preußens erste und wichtigste Waffen im Kampf um eine Zollunion. Preußen versuchte, seine Nachbarn von dem Vorteil zu überzeugen, den eine Übernahme des Systems ihnen brächte. Wenn auch die kleinen Staaten die Zölle gesenkt sehen wollten, insbesondere Importzölle für gewerbliche Güter und die Exportzölle für Nah© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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rungsmittel, Holz und andere Grundbedarfsgüter, war das eigentliche Hindernis weniger wirtschaftlicher als politischer Natur: die Furcht vor Preußens Vorherrschaft. Wenn dennoch ein Staat nach dem anderen einwilligte, so deshalb, weil die Nicht-Mitgliedschaft schwerwiegende Nachteile mit sich brachte. Fast alle nord- und mitteldeutschen Staaten grenzten irgendwo an das preußische Zollgebiet. Schon die Anwendung des Gesetzes durch Preußen behinderte ihren Handel. Zudem unternahm Preußen alles, um den Verkehr um Staaten herumzuleiten, die nicht willens waren, der Union beizutreten. Insbesondere baute es Umgehungsstraßen. Andererseits bot Preußen Kredite zum Bau von Durchgangsstraßen an, sofern ein Staat sich entschloß, Mitglied zu werden. Es versteht sich von selbst, daß vor der Einführung der Eisenbahnen der Straßenbau in dieser Zeit der wachsenden Industrien eine wichtige Voraussetzung des Handelsverkehrs war. Und dieser Punkt erwies sich in der Regel als förderlich für Preußens Anliegen. Die kleinen Fürstentümer waren nicht imstande, die notwendigen Investitionen ohne Hilfe von außen zu bewältigen, und das machte sich die preußische Politik zunutze. Man kann nicht sagen, Preußen habe in dieser frühen Zeit eine deutsche Zollunion aufbauen wollen. Es wollte nur die beiden Teile seines Landes zusammenbringen, um seine eigenen Aufgaben besser bewältigen zu können. Eine gesamtdeutsche Zollunion wurde, das haben wir bereits festgehalten, viel stärker von den süddeutschen Staaten vorangetrieben, die nicht abseits stehen konnten und eine dritte Macht zwischen Österreich und Preußen bilden wollten. Der Zollverein zwischen Bayern und Württemberg konnte jedoch dem Vergleich mit dem Zollverband Preußens und Hessens schwerlich standhalten. 44 % seiner Einnahmen wurden von den Verwaltungskosten aufgezehrt. Seine Einnahmen pro Kopf der Bevölkerung beliefen sich auf 9½ Groschen, die preußischen lagen bei 24 Groschen pro Kopf. Das Gebiet dieser beiden Staaten war für einen eigenen Zollverein zu klein. Und sobald sich abzeichnete, daß es unmöglich sein werde, eine Union aufzubauen, die Österreich und Preußen umfaßte, mußten sie ihre Wahl treffen. Da Österreich, Unwillens, das eigene Schutzsystem aufzugeben, nichts anzubieten hatte, blieb als einzige Chance die Union mit Preußen. Diese Entscheidung hat vielleicht mehr als irgendeine andere dazu beigetragen, die Zukunft Deutschlands als Bundesstaat unter preußischer Vorherrschaft und Ausschluß Österreichs vorzubereiten. Die wesentlichen Waffen in Preußens Kampf um eine Zollunion waren: an erster Stelle die Macht der Fakten; an zweiter finanzielle Angebote und Drohungen und an dritter der geschickte Einsatz des diplomatischen Apparats, d. h. getrennte Verhandlungen mit jedem der betroffenen Staaten. Das Ergebnis war eine Kette von bi- oder multilateralen Abkommen, die alle einen oder mehrere Staaten individuell an Preußen banden. Die gleichen Waffen erwiesen sich bei der Sicherung von Verlängerungen, Ergänzungen und Änderungen der Abkommen als effektiv. Immer wenn einer der Verträge auslief oder eine Veränderung der Bedingungen wünschenswert oder notwendig erschien, entstand für den Zollverein eine kritische Situation. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Mindestens zweimal schien seine Auflösung unvermeidbar; aber die offenbaren Vorteile der Union, ihre finanziellen Aussichten und preußische Diplomatie konnten die Verlängerung erfolgreich sichern. Bevor wir uns diesen Krisen mehr im Detail zuwenden, soll die generelle Arbeitsweise der Union kurz untersucht werden. Exekutivorgan war der jährliche allgemeine Kongreß, der in der Regel über mehrere Sommermonate hinweg tagte, zuweilen über mehr als ein halbes Jahr. Tagungsort war im Turnus die Hauptstadt eines der Mitgliedstaaten. Die Delegierten waren an Weisungen gebunden. Jeder Mitgliedstaat, bis auf die Enklaven und sehr kleine Mitglieder wie Frankfurt, das seine Stimme an Nassau delegiert hatte, besaß eine Stimme. Jeder Beschluß mußte einstimmig gefaßt werden. Dieses Vetorecht erwies sich, wie überall, als der kritischste Punkt des Zollvereins; es wurde dennoch erst bei der Gründung des Norddeutschen Bundes aufgegeben, als die Zollverwaltung auf eine Bundesbehörde und die Gesetzgebung auf ein Zollparlament überging. Zu den größten Verwaltungsschwierigkeiten führten die Unterschiede in der Besteuerung der Produktion von Wein, Bier, Spirituosen und Tabak. Nur einige wenige Staaten, wie Sachsen und der Thüringische Verein, hatten das preußische Besteuerungssystem übernommen. Die anderen Staaten erhoben ihre eigenen Steuern, die von Staat zu Staat variierten, und diejenigen mit höheren Steuern erhoben je nach der Besteuerung im Herkunftsland Ausgleichsabgaben. Jeder Staat behielt sich das Recht vor, seine Steuersätze zu ändern; man einigte sich aber darauf, die ursprünglichen preußischen Steuern auf Wein, Spirituosen und Tabak sowie die ursprünglichen bayerischen auf Bier und Malz als oberste Grenzen festzusetzen. Ausgleichsabgaben konnten jedoch nicht ohne die Zustimmung aller betroffenen Staaten angehoben werden, noch war es möglich, sie auf Waren außer die oben erwähnten zu erheben. Mit dieser Maßnahme wurde es einzelnen Mitgliedern unmöglich gemacht, neue Produktionssteuern zu erheben, da billigere Produkte aus anderen Zollvereinsstaaten in den Staat geflossen wären, der eines seiner eigenen Erzeugnisse mit Abgaben belegt hätte. Um den Handel mit Produkten zu erleichtern, die mit Ausgleichsabgaben belegt wurden, einigte man sich darauf, daß die Abgabe am Versandort gezahlt werden könne, und bei der ersten Verlängerung der Abkommen wurden die verschiedenen Ausgleichsabgaben durch einen einheitlichen Transitzoll ersetzt, der auf alle Waren erhoben wurde, die von einem Staat in einen anderen mit höheren Steuern gingen. Ähnliche Schwierigkeiten entstanden aufgrund der staatlichen Monopole für Salz und Spielkarten, die Preußen nicht aufgab, und andere, z. B. Hannover, nicht übernahmen. Der Salzschmuggel wurde ein durchgehendes Merkmal des Zollvereins. Die zweite große Hürde für den Zollverein entstand aus Handelsabkommen mit ausländischen Staaten. Bayern und Württemberg hatten sich das Recht gesichert, eigene Handelsabkommen abzuschließen. Dieses Privileg nutzten sie nicht sehr stark. In der Regel einigte sich der jährliche Kongreß auf die allgemeinen Verhandlungsbedingungen und beschloß, Preußen mit den Verhand© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lungen im Namen des Zollvereins zu betrauen. Zuweilen wurden auch mehrere Staaten mit der Verhandlungsführung beauftragt, z. B. Preußen, Bayern und Sachsen. Das vom Unterhändler gezeichnete Abkommen mußte von jedem Mitgliedstaat ratifiziert werden. Schwierigkeiten entstanden, wenn der ausländische Vertragspartner nicht gewillt war, auf die vom Kongreß verabschiedeten Bedingungen einzugehen. In diesem Fall mußte der Unterhändler die Regierung jedes einzelnen Mitgliedstaates konsultieren und sich der Zustimmung zu neu ausgehandelten Bedingungen versichern, bevor er unterzeichnen konnte: eine schwierige Aufgabe, da ein einziges Veto in einem beliebigen Verhandlungspunkt die gesamte Mühe des Unterhändlers zunichte machen konnte. Eine Konföderation von Staaten gleichen politischen Gewichts und verschiedener Interessen wäre daran bald zusammengebrochen. Gerade in diesen Situationen jedoch wurde Preußens Übergewicht augenfällig. 1862 z, B. hatte Preußen einen Handelsvertrag mit Frankreich ausgehandelt, der den Tarif des Zollvereins in 161 Punkten veränderte. Viele Einfuhrzölle sollten gesenkt werden. Die süddeutschen Staaten, unterstützt durch Österreich, weigerten sich zu ratifizieren, obwohl Preußen während der Verhandlungen Beratungen mit ihnen geführt hatte. Es dauerte drei Jahre bis zur Ratifizierung. Preußen setzte alle seine Waffen ein: die Macht des fait accompli, das divide et impera — Prinzip in der Diplomatie und die finanziellen Aussichten. Zunächst verhinderte es einen von Bayern geforderten besonderen Zollvereinskongreß, ja erreichte sogar, daß der reguläre Kongreß verschoben wurde, solange es mit jedem Mitgliedstaat einzeln verhandelte. Als die Mittelstaaten eine getrennte Tagung in München abhielten, kündigte der gerade ins Amt des preußischen Ministerpräsidenten gekommene Bismarck alle auslaufenden Verträge und begann sofort, individuelle Verhandlungen für neue Abkommen auf der Linie des französischen Abkommens in die Wege zu leiten. Bei den zwischen den beiden Teilen Preußens gelegenen Staaten hatte er Erfolg und isolierte damit die Staaten im Norden und Süden, so daß sie schließlich klein beigaben. Eine ähnliche Sackgasse war zehn Jahre früher entstanden, als Preußen geheime Verhandlungen mit Hannover über die Zusammenlegung des Steuervereins mit dem Zollverein führte, zu Bedingungen, die Änderungen der Zollvereinsabkommen notwendig machten. Preußen ersuchte die Mitgliedstaaten um ihr Einverständnis, und als die süddeutschen Staaten sich weigerten, kündigte Preußen ihnen die Union auf. Auch hier hatte Österreich den Widerstand gestärkt. Das gleiche geschah indes, als Preußen einen Handelsvertrag mit Österreich selbst aushandelte. Wieder mußte der Zolltarif geändert werden, wieder setzten sich die Mittelstaaten zur Wehr und wiederum antwortete Preußen mit der Kündigung der auslaufenden Verträge. Um zu verstehen, warum Preußens Drohung, Verträge nicht zu verlängern, so erfolgreich war, müssen wir uns nun die finanziellen Resultate des Zollvereins ansehen. Von Anfang an erzielten fast alle Staaten beträchtliche Gewinne; nur Preußen verlor Einnahmen, zumindest während der ersten vier Jahre. Im Jahre 1834, dem ersten Zollvereinsjahr, sanken seine Zolleinnahmen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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um 2 5 % , danach stiegen sie langsam wieder an und erreichten 1838 den alten Stand. Bayerns Einnahmen dagegen verdoppelten sich beinahe im ersten Jahr. Im Jahre 1833 hatte Bayern 2,1 Millionen Gulden eingenommen, im Jahre 1834 3,9 Millionen. Diese Zahlen geben nicht den Betrag wieder, den Bayern effektiv selbst erhob, sondern den Betrag, den es bei der proportionalen Teilung der Gesamteinnahmen nach Einwohnerzahl erhielt. Daß Preußen seinen meisten Partnern erhebliche Beträge von den selbst erhobenen Einnahmen abführte, wurde zur Regel und ist ein wesentliches Kennzeichen des Zollvereins. Seine politische Macht gewann Preußen vor allem durch finanzielle Zugeständnisse. Zudem konnte es seine zentrale geographische Lage ausnutzen. Nachdem es die Zollunion mit den kleinen mitteldeutschen Staaten gesichert hatte, die die beiden Teile seines Territoriums verbanden, konnte es den Handel zwischen den nord- und den süddeutschen Staaten durch Transitzölle behindern. Außerdem war von allen deutschen Staaten nur Preußen in der Lage, mit ausländischen Mächten ebenbürtige Handelsabkommen abzuschließen, insbesondere Schiffahrtsverträge mit England und Holland. So lange Preußen den Mittelrhein nicht besaß, hatte Holland viele Schiffahrtsmonopole ausgeübt. Kein anderer Staat als Preußen konnte Holland dazu zwingen, seine Monopole im rheinischen Schiffsverkehr aufzugeben. Zudem müssen wir im Auge behalten, daß die öffentliche Meinung den Zollverein unterstützte und daß Regierungen kleiner Staaten es sich kaum leisten konnten, wegen ihrer Widerspenstigkeit ausgeschlossen zu werden. Trotzdem konnte Preußen sein finanzielles Übergewicht und seine strategische Lage nicht zu allen Zeiten und an allen Orten ausnutzen. Sie konnten nur zum Tragen kommen, wenn die Verträge ausliefen, d. h. insgesamt dreimal, einmal in jedem Jahrzehnt. Denn Bayern war es geglückt, Verlängerungsfristen von je 12 Jahren zu erreichen, während Preußen 6jährige Fristen bevorzugt hatte. So entstanden in 33 Jahren nur zwei ernste Krisen. Auf den jährlichen Kongressen war das Veto-Recht jedes Mitglieds ein sehr reales Faktum, und kein anderer Staat wurde dadurch so sehr behindert wie Preußen; denn immerhin besaß Preußen mehr als 51 % der Gesamtbevölkerung des Zollvereins, und da die Einwohnerzahl das in die Union eingebrachte „Kapital" darstellte, hätte es in jeder Aktiengesellschaft die Majorität besessen, während es beim Zollvereinskongreß nur eine von rund zwölf Stimmen innehatte. Viele Vorschläge Preußens wurden durch die Einstimmigkeitsregel blockiert, und nicht bei jeder Gelegenheit benutzte Preußen die Ausschlußdrohung. Aber da die wirkliche Beschaffenheit und der Wert eines Vertrags oder einer Verfassung erst in Krisenzeiten sichtbar wird, muß festgehalten werden, daß der bei weitem größte Mitgliedstaat Mittel hatte, notfalls seinen eigenen Willen durchzusetzen. IV. Ergebnisse und Erfolge Der Zollvereinsapparat, so schwerfällig er auch war, erreichte doch Erhebliches. Fraglos erleichterte er die Entwicklung des modernen deutschen Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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kehrssystems und intensivierte den Handel. Gleichzeitig unterstützte er das Wachstum der jungen Industrie und verhinderte unökonomische Standortentscheidungen. Solche Erfolge sind indes schwer meßbar. Unterschiedlich waren die Erfolge in bezug auf den Zolltarif selbst. Fast jeder Beitritt eines neuen Mitglieds und jedes Handelsabkommen machten Veränderungen notwendig. Schon bald wurde das ursprüngliche Prinzip der NichtDiskriminierung sowohl im Innen- wie im Außenverhältnis fallengelassen. Die Einnahmeverteilung nach Einwohnerzahl wurde zugunsten Frankfurts und Hannovers aufgegeben; Baden sicherte sich andere Privilegien. Im Außenverhältnis gab es die ersten Konzessionen in Form von Präferenzzöllen bereits 1838, und im Jahre 1853 wurde ein Handelsabkommen entworfen, das ausschließlich auf Präferenzzöllen basierte. Danach verbreiteten sich immer mehr abgestufte Zölle, die schließlich die Forderung nach der Meistbegünstigungsklausel hervorriefen; sie wurde zuerst Frankreich im Jahre 1862 eingeräumt. Allein die Tatsache, daß alle Abkommen für den gesamten Zollverein abgeschlossen wurden, war jedoch eine große Leistung. Viele der kleinen Staaten kamen zum erstenmal in den Genuß vertraglich regulierter Handelsbedingungen mit so entfernten Ländern wie den USA oder Japan. Was die Höhe der Zölle anbelangt, so gab es einen permanenten Kampf zwischen Verfechtern der Schutzzölle und des Freihandels, und es ist bezeichnend, daß sich Befürworter von Schutzzöllen mehr und mehr in den südlichen Staaten fanden, die zunächst die preußischen Zölle als zu hoch kritisiert hatten. Preußen betrachtete den Zolltarif hauptsächlich aus fiskalischem Blickwinkel. So schützte es die schlesische Leinenindustrie nicht vor der englischen Konkurrenz und lehnte immer wieder die Forderung der Textilproduzenten aus den süddeutschen Staaten nach Schutzzöllen ab. Das beste Beispiel für die preußische Haltung ist die Einführung einer Abgabe auf Rübenzucker mit der Begründung, daß die erheblichen Einnahmen aus Rohrzuckerzöllen gefährdet seien, wenn die Rübenzuckerproduktion im eigenen Lande zu große Fortschritte mache. Auf welche Weise diese Änderung in die Zollvereinsabkommen eingeführt wurde, demonstriert recht gut die Arbeitsweise des Apparates im allgemeinen: Preußens erster Vorschlag stieß auf ein Veto, so wartete es die Erneuerung der Abkommen ab. Danach ging es nach seinem Willen. Im allgemeinen ging die Tendenz des Zollvereins dahin, die Höhe der Zölle generell anzuheben, aber sie für spezifische Güter zu senken. Die Anhebung wurde bei der ersten Verlängerung im Jahre 1842 vereinbart; Senkungen setzten später ein, als die großen Handelsverträge geschlossen wurden, die erheblich niedrigere Zollsätze erforderten. In den sechziger Jahren schließlich beherrschten die Vertreter des Freihandels die Szene und fanden in der neuen preußischen Politik, die darauf abzielte, Österreich am Beitritt in den Zollverein zu hindern, machtvolle Unterstützung. In den frühen Tagen der Union hatte Österreich selbst seine eigene Mitgliedschaft unmöglich gemacht, da es auf Schutz- und Binnenzöllen beharrte. Nach der Revolution 1848/49 änderte es seine Politik. 1850 hob es die ungarische Zollgrenze auf und löste im Jahre 1852 sein Schutzzollsystem auf; © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Preußen war nun aber nicht mehr bereit, die Führungsposition in der deutschen Politik abzutreten. Während die süddeutschen Staaten den Zollvereinstarif durch eine generelle Erhöhung dem österreichischen anpassen wollten, insistierte Preußen auf einer Senkung, um Österreich draußen zu halten. Preußen, das den Zollverein ursprünglich wegen seiner eigenen Bedürfnisse gegründet hatte, nutzte ihn nun als Instrument seiner Deutschlandpolitik. Die Tendenz, gesamtdeutsche Probleme durch den Zollverein zu lösen, wurde durch zwei andere Ereignisse bestärkt: ein Währungsabkommen und ein Handelsgesetz. Wie schon erwähnt, trafen die Gründer des Zollvereins eine Übereinkunft, Verhandlungen über die Wechselkurse zwischen den Mitgliedstaaten stattfinden zu lassen. Vier Jahre später wurden feste Wechselkurse zwischen den wichtigeren Münzen vereinbart. Ein neuer süddeutscher Gulden wurde geschaffen, der zusammen mit dem preußischen Taler die Hauptwährungseinheit des Zollvereins bildete. Zölle konnten nur noch in einer der beiden Währungen beglichen werden. Beide wurden mit festen Wechselkursen an die Kölnische Silbermark und somit an den Silberstandard gebunden. Sachsens Vorschlag, eine einheitliche Währung einzuführen, drang indes nicht durch; erst die Gründung des Zweiten Deutschen Reiches im Jahre 1871 brachte ein einheitliches Währungssystem. Ein Währungsabkommen mit Österreich, in dem für den österreichischen Schilling ein festes Wechselkursverhältnis zu Taler und Gulden festgesetzt wurde, war 1857 abgeschlossen worden. Das Abkommen brach jedoch zusammen, da Österreich seine interne Inflation nicht stoppen konnte und weiterhin Papiergeld ausgab, um seine Staatsschulden zu begleichen4. Die Einführung eines deutschen Handelsgesetzes schlug Württemberg bereits auf dem Zollvereinskongreß von 1836 erfolglos vor. In den Revolutionsjahren 1848/49 beschäftigte sich die Nationalversammlung in Frankfurt mit der Ausarbeitung eines solchen Gesetzbuches. Später machte wiederum Württemberg auf die Bedeutung des Problems aufmerksam. Inzwischen hatte Preußen ein eigenes Handelsgesetzbuch ausgearbeitet, das auf dem der Frankfurter Nationalversammlung aufbaute, und legte es dem Zollvereinskongreß vor. Die süddeutschen Staaten wollten Preußen nicht wiederum die Initiative überlassen, und Bayern brachte die Angelegenheit vor den Bundestag in Frankfurt, wo jedoch Preußens Entwurf als Grundlage eines deutschen Gesetzbuches anerkannt wurde. Nach Abschluß dieser Beratungen führte Preußen es unverzüglich in seinem eigenen Staatsgebiet ein, und die anderen Staaten übernahmen es, einer nach dem anderen. Dieses Vorgehen ist wiederum bezeichnend für die Arbeitsweise des Zollvereins und den Weg zur deutschen Einheit im allgemeinen. Echte Ansätze zu einem gesamtdeutschen Bundesstaat, einschließlich Österreichs, in dem die Mittelstaaten das Zünglein an der Waage hätten spielen können, gingen fehl. Preußen unternahm die notwendigen Schritte selbst, und die anderen Staaten folgten widerwillig, um das wichtigere Ziel nicht zu gefährden. Sollen wir beurteilen, inwiefern der Zollverein den Weg für das Deutsche Reich von 1871 ebnete, müssen wir in der Tat außerordentlich vorsichtig sein. Der Historiker kann nie zweifelsfrei beweisen, wie sich die Dinge entwickelt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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hätten, wenn eine bestimmte Entscheidung anders ausgefallen wäre. Es ist jedoch falsch anzunehmen, der Zollverein habe unausweichlich zum Zweiten Reich geführt. Und ebenso falsch ist es zu sagen, ohne den Zollverein hätte das Deutsche Reich nicht gegründet werden können. Es gab keine in sich absolute Kraft. Andere Lösungen waren möglich. Eine erfolgreiche Revolution im Jahre 1848 hatte zu einem liberal-demokratischen Nationalstaat führen können, die deutschen Teile Österreichs entweder einbegriffen oder ausgenommen. Weitreichende Pläne einiger österreichischer Staatsmänner in den fünfziger Jahren hätten zu einer Zollunion zwischen Österreich und dem Zollverein führen können und später zu einem übernationalen zentraleuropäischen Staatenbund. Die tatsächliche Lösung war ein Kompromiß zwischen dem westlichen Beispiel eines zentralisierten Einheitsstaates und der konservativen Idee eines Bundes christlicher Fürsten mit einem Kaiser als primus inter pares. Das Deutsche Reich von 1871 wurde tatsächlich ein Bund konstitutioneller Monarchien. So weit wir uns hier mit ihm beschäftigen, brachte es einen Fortschritt in Richtung Zentralisierung und Vereinheitlichung. Der Vorläufer des Reiches, der Norddeutsche Bund, an den die süddeutschen Staaten durch Zollunion angeschlossen waren, rief einen permanent tagenden Zollbundesrat ins Leben. Er führte die Mehrheitsentscheidung ein; nur Preußen behielt das Vetorecht bei Änderungen des Tarifs. Von den 58 Sitzen fielen 17 auf Preußen und 6 auf Bayern. Als weiteres Gesetzgebungsorgan wurde ein Zollparlament eingerichtet, das Tarifänderungen, Bestimmungen zur Erhebung von Zöllen, Handels- und Schiffahrtsabkommen und Steuern behandelte. Es hatte aber keine Kontrolle über die Ausgaben. Die Zollverwaltung blieb in Händen der Staaten, freilich unter der Oberaufsicht eines Bundeszollinspektors. Die Salzmonopole wurden aufgegeben; an ihre Stelle trat eine einheitliche Verbrauchssteuer. So gab Preußen seine Sonderabgaben und Monopole auf, gewann aber viel stärkeren Einfluß auf die gesamte Zollunion. In der Verfassung von 1871 schritt die Vereinheitlichung noch weiter voran. Zolleinnahmen wurden nicht länger zwischen den Staaten aufgeteilt, sondern an die Reichskasse abgeführt. Verbrauchssteuern lagen ebenfalls in Händen der Reichsbehörden. Aber sie wurden nur langsam und nie vollständig vereinheitlich. Die süddeutschen Staaten behielten z. Β. bis zum Ende des ersten Welt­ kriegs eine besondere Abgabe auf Bier. Die Einziehung der Zölle blieb in Händen der Bundesstaaten, und die Handelsgesetzgebung lag in der gemeinsamen Kompetenz des Reichstags, der vom Volk direkt gewählt wurde, und des Bundesrates, der Delegiertenkonferenz der Bundesstaaten. Diese besondere Lösung war sicherlich durch den Zollverein erleichtert worden; sie schien zu diesem Zeitpunkt endgültig und erwies sich doch nur als eine Episode, die nicht einmal ein halbes Jahrhundert dauerte. Bei Zollvereinskongressen trafen sich zum erstenmal Delegierte deutscher Staaten, um gemeinsame Ziele unter preußischer und nicht österreichischer Führung zu erreichen. Die deutschen Mittelstaaten, besonders die süddeutschen, gewöhnten sich daran, nach Berlin zu sehen, statt nach Wien oder Frankfurt. Gesetzgebung und Admi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nistration begannen nach preußischem Vorbild umgestaltet zu werden. Der englische Historiker W. O. Henderson hat geurteilt, daß der Zollverein als der Beitrag des preußischen Beamtentums zur deutschen Einheit betrachtet werden könne5. Vor allem auf dem Gebiet der Verwaltungsroutine hat der Zollverein die kleindeutsche Einheit vorbereitet. Soweit das Gewicht eines Verwaltungsapparats politische Entscheidungen beeinflußt, trug der Zollverein zur Gründung des Zweiten Deutschen Reiches bei. Wichtiger noch war, daß mit ihm wirtschaftliche Tatsachen geschaffen wurden, die nicht ohne große Verluste für alle Beteiligten rückgängig gemacht werden konnten. In einem Dritteljahrhundert war ein gemeinsamer Markt geschaffen worden, in dem gerade die politisch zum Partikularismus oder zur Anlehnung an Österreich tendierenden Mittelstaaten sich vorteilhaft eingerichtet hatten. Ein Rückdrehen der Uhr, eine Reorientierung nach Österreich war Ende der 1860er Jahre keine gleichwertige Alternative mehr, so sehr sie die Einbeziehung Österreichs wünschen mochten; gegen den Widerstand Preußens war sie nicht zu erreichen, und Österreich ohne Norddeutschland konnte keinen adäquaten Ersatz bieten. „Die wirtschaftlichen Interessen wiesen auf Preußen und nicht auf Österreich als Führungsmacht in Deutschland."6 Während der Bundestag in Frankfurt von einer Sackgasse in die nächste geriet, bis er schließlich zusammenbrach, zeichnete sich ein neuer, zwar kleinerer, dafür aber engerer Zusammenschluß im Zollverein ab. Trotzdem sollte nicht vergessen werden, daß Preußen die Fundamente des Zollvereins nicht legte, um die Führung in der deutschen Politik zu erobern, sondern um seinen eigenen Gesetzen Geltung zu verschaffen. Der Trend zu einer gesamtdeutschen Union wurde in viel stärkerem Maße und schon viel früher von den Mittelstaaten und dem Geist der Zeit vorangetrieben, der sich in den nationalen und liberalen Bewegungen niederschlug. Dies ist die eine Grundtatsache der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert, die so schwer zu verstehen ist; denn es erscheint unlogisch, daß Preußen zur Vorherrschaft in Deutschland eher getrieben wurde als sie selbst zu verfolgen, und daß der Antrieb ausgerechnet von den Gegnern der Vorherrschaft des preußischen Staatsapparats in Deutschland ausging: nämlich den Liberalen, den Demokraten und den Mittelstaaten. Noch 1849, 15 Jahre nach Gründung des Zollvereins und dreißig Jahre nach Abschluß des ersten Zollunionsabkommens, lenhte der preußische König die Kaiserkrone ab, die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angetragen wurde, nicht nur, weil er die demokratische Form verabscheute, in der sie ihm angeboten wurde, sondern auch wegen des starken Gefühls, daß sie nicht ihm, sondern seinem Vetter in Wien zustehe. Vielleicht war es Europas Mißgeschick, daß die Ideen des 19. Jahrhunderts, der nation une et indivisible, der demokratischen und liberalen Regierungsform und der rationalen Organisation der Wirtschaft, den altmodischen österreichischen Staat so stark benachteiligten, daß er die Vorherrschaft in Zentraleuropa verlor, die innezuhaben über Jahrhunderte sein Privileg gewesen war. Die glorreichen Errungenschaften der westlichen Revolutionen erwiesen sich als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Dynamit für die restliche Welt. Die zentraleuropäische Gemeinschaft war ihr erstes Opfer. Wäre ein echter Zusammenschluß europäischer Völker und Staaten ohne revolutionären Bruch mit der Vergangenheit überhaupt möglich gewesen, so hatte er nur erreicht werden können durch eine Modernisierung und Stabilisierung Österreichs, des europäischsten aller Staaten in Europa. Da Österreich sich dem 19. Jahrhundert nicht anpaßte, mußte Preußen an seinen Platz treten, den es nur unvollkommen auszufüllen vermochte und der es in Situationen brachte, auf die es nicht vorbereitet war. Der Zollverein ist das erste Ergebnis dieses säkularen Wandels in der Form internationalen Rechts und administrativer Institutionen. Heute sind wir besser als die Generationen vor uns in der Lage, die Entwicklung aus einem angemessenen Blickwinkel zu betrachten: Nicht als glorreichen Beginn einer glorreichen Geschichte, sondern als ein System von Behelfen, das aufgebaut wurde, um dringenden Bedürfnissen nachzukommen. Betrachtet man sie aus diesem Blickwinkel, so kann der Zollverein gut als ein Beispiel politischer Umsicht in einer Welt von Notständen gelten, die nach Abhilfe verlangen.

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D e r Deutsche Zollverein, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft u n d die Freihandelszone Ein Vergleich ihrer Motive, Institutionen und Bedeutung Bei den Diskussionen um einen gemeinsamen Markt, eine große oder kleine Freihandelszone in Westeuropa haben sich die streitenden Parteien immer wieder auf das historische Vorbild des Deutschen Zollvereins berufen, der dreieinhalb Jahrzehnte vor der Gründung des kleindeutschen Reiches ins Leben trat und dessen Umfang und politische Kräfteverteilung wirtschaftlich in etwa vorwegnahm. Während die Verfechter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor allem darauf hinweisen, daß hier die wirtschaftliche Integration der politischen den Weg bereitet habe, sehen die Anhänger einer Freihandelszone den Verdienst des Zollvereins in seinem liberalen Charakter, der es ihm ermöglichte, Deutschland ohne große Bürokratie durch die bloße Koordination souveräner Staaten in eine weltweite Verkehrswirtschaft einzugliedern. Stehen bei den einen somit die politischen Motive und Ergebnisse im Vordergrund, so argumentieren die anderen vorwiegend ökonomisch, ohne daß das eine das andere ausschlösse1. Denn hinter den politischen Argumenten des Gemeinsamen Marktes steht eine bestimmte wirtschaftliche Auffassung, und der Ökonomie des Freihandels liegt ein bestimmtes politisches Ideal zugrunde. Daß sie aber das Schwergewicht auf verschiedene Punkte legen, zeigt sich vor allem an einem negativen Aspekt: Die Verteidiger der EWG müssen ständig darauf bedacht sein, ihre liberalen Wirtschaftsprinzipien zu betonen, die Befürworter der Freihandelszone müssen sich gegen den Verdacht wehren, die politische Einigung Europas nicht entschieden genug anzustreben; die einen gelten als schlechte Liberale, die anderen als schlechte Europäer. Im folgenden soll nun untersucht werden, wieweit der Deutsche Zollverein als historisches Vorbild, sei es für die eine, sei es für die andere Auffassung, dienen kann. War er vorwiegend ein wirtschaftliches Vehikel zur politischen Einigung (Klein-)Deutschlands oder eher eine Zollunion zur Verbesserung der wirtschaftlichen und handelspolitischen Situation der beteiligten Staaten? Welches waren die Motive und Ziele der Gründer? Welcher Institutionen bedienten sie sich, und wie wirkten diese sich wirtschaftlich und politisch aus? Ein solcher Vergleich muß sich freilich mehrerer Gefahren bewußt sein. Zum ersten wiederholt sich die Geschichte niemals, und es wäre daher verfehlt, Analogien zu konstruieren, die diese oder jene Entwicklung mit Notwendigkeit oder nur Wahrscheinlichkeit nahelegen. Dann aber ist die gesamte wirtschaftliche, soziale, politische und geistige Umwelt des zwanzigsten Jahrhunderts so anders als die des neunzehnten Jahrhunderts, daß schon deshalb ein modellartiger Vergleich der Institutionen und Mechanismen sich verbietet, denn selbst technisch 9 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gleiche Konstruktionen wirken in unterschiedlicher Umwelt, in einer veränderten historischen Situation wesentlich verschieden. Schließlich ist die wirtschaftspolitische (und politische) Technik unserer Zeit selbst so verschieden von der des neunzehnten Jahrhunderts, daß ein Vergleich, der von den Gegebenheiten der Gegenwart ausgeht, viele Parallelen, die er sucht, in der Vergangenheit nicht finden kann. So ist im frühen neunzehnten Jahrhundert alle Wirtschaftspolitik wesentlich Handelspolitik, alle Finanzpolitik wesentlich fiskalisch orientiert. Ganze Bereiche, die heute im Zentrum der Diskussion stehen, waren zur Zeit des Entstehens des Zollvereins unbekannt, so eine ausgeprägte Konjunkturoder Beschäftigungspolitik, eine spezielle Agrar- oder industrielle Entwicklungspolitik, eine Währungspolitik zur Stabilisierung der Zahlungsbilanz oder das ganze große Gebiet der Sozialpolitik. Daß das Zoll- und Steuerwesen sehr viel geringer ausgebaut war und wesentliche Kategorien gar nicht kannte, fällt weniger ins Gewicht. Aber daß es eine Reihe heute wichtiger wirtschafts- und sozialpolitischer Institutionen und Instrumente einfach nicht gab, darf nicht übersehen werden. Keiner der zollvereinten Staaten besaß eine moderne Zentralbank mit der spezifischen Aufgabe, Hüter der Währung zu sein, keiner kannte daher all die zentralbanktechnischen Mittel, mit denen heute Wirtschaftspolitik sehr wesentlich gemacht wird. Ebensowenig besaßen diese Staaten die Vielzahl zuständiger und unter Umständen verschiedene Interessen vertretender Ministerien wie das Wirtschafts-, Landwirtschafts-, Wohnungsbau- und Arbeitsministerium. Zollvereinsangelegenheiten gehörten wesentlich zum Geschäftsbereich des Finanzministeriums, das höchstens die Gewerberessorts der Innenministerien (und selbstverständlich das Außenministerium) zu Rate zu ziehen hatte. Selbst Preußen besaß sowohl während der Vorbereitungszeit wie der Existenz des Zollvereins nur zeitweise ein eigenes Handelsministerium2. Schon daraus geht hervor, daß die technischen Bedingungen einer Zollunion im neunzehnten Jahrhunden einfacher waren als heute, wo viele nicht oder schlecht koordinierte nationale Institutionen bei jeder Integration zu berücksichtigen sind. Das allein macht jedes Vertragswerk, auch eines, das nur eine Freihandelszone oder Zollunion anstrebt, so unendlich viel komplizierter, und die liberalen Verfechter einer lockeren Assoziation haben nicht recht, wenn sie allein im Umfang und der Kompliziertheit des EWG-Vertrages einen Hinweis auf seinen nichtliberalen Charakter sehen. Obwohl also die Staatsmänner des neunzehnten Jahrhunderts mit weniger Bestimmungen auskommen konnten, wenn sie handelspolitische Beziehungen regeln wollten, ist gerade der Zollverein das beste Beispiel eines überaus komplizierten Vertragswerkes. Denn er bestand ja nicht aus einem einzigen multilateralen Vertrag, sondern aus einem ganzen Bündel bilateraler und multilateraler Verträge, insgesamt etwa 130, die zu verschiedenen Zeiten geschlossen wurden und deren einzige Gemeinsamkeit die Ausrichtung auf das preußische Zollsystem war 3 . Als „historisches Paradestück" (Röpke) für eine klare und übersichtliche Zollunion kann der Zollverein also nicht dienen, auch wenn er im Effekt zum klassischen Beispiel eines vollkommenen Zollverbandes politisch und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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wirtschaftlich selbständiger Staaten geworden ist, wie das auch angelsächsische Nationalökonomen betonen4. Ehe wir aber auf seine Konstruktion und Wirkungsweise im Verhältnis zu den gegenwärtigen europäischen Zusammenschlüssen näher eingehen, müssen wir eine Stufe tiefer ansetzen und die Motive und Ziele, die ihm zugrunde lagen, mit denen unserer heutigen Integrationsversuche vergleichen. Es ist fast eine nationale Legende, daß der Zollverein die politische Einigung Deutschlands im Sinne des späteren Bismarckreichs intendiert habe. Gewiß erscheint er einer retrospektiven Sicht als Vorläufer dieses Reiches, und im Effekt ist er es auch gewesen. An seinem Beginn aber standen wesentlich wirtschaftspolitische und wesentlich preußische Interessen. In seiner langen Inkubationsperiode von 1818 bis 1833 beherrschte die preußischen Politiker das Motiv, ihren eigenen Staatsverband mit einer wirksamen Außenzollgrenze zu umgeben. Dazu war für den in zwei Teile gespaltenen Staat die Einbeziehung der dazwischenliegenden Staaten notwendig. Eine Reihe von Einzelverträgen, beginnend mit dem Enklavenvertrag mit Schwarzburg-Sondershausen von 1819 und endend mit der preußisch-hessisch-darmstädtischen Zollunion von 1828, bildeten den ersten Schritt. Erst allmählich trat dazu als zweites Motiv preußischer Politik der Wille, die beginnende Vorherrschaft in Deutschland wirtschaftlich zu sanktionieren und Österreich auf den zweiten Platz zu verdrängen. Auch jetzt handelte es sich noch immer mehr um eine preußische Politik in Deutschland als um eine preußische Politik für Deutschland. Erst im „politischen Testament" des preußischen Finanzministers Motz von 1829 klingen auch spezifische Töne einer deutschen Politik Preußens an; noch immer aber werden sie von den politischmilitärischen Machtinteressen Preußens übertönt5. Den deutschen Mittelstaaten, Hannover und Braunschweig insbesondere, sind solche staatsegoistischen Interessen schon von jeher, gerade auch von der preußischen Geschichtsschreibung, vorgeworfen worden. Treitschke verdächtigte die meisten Widerstrebenden sogar, daß sie mehr fremde (englische, französische, niederländische, zumindest aber österreichische) als eigene Interessen vertreten hätten6. Aber auch sie taten nichts anderes als im Grunde alle 39 souveränen Teile des Deutschen Bundes: sie handelten nach dem Grundsatz, daß ihnen das Hemd näher sei als der Rock. Das nationalpolitische Ziel einer deutschen Einigung schwebte im Grunde nur jenen Kreisen des liberalen Bürgertums vor, die auf die aktive Ausgestaltung des Zollvereins gerade den geringsten Einfluß hatten, wenn auch ihre Anregungen und Wünsche von manchen der Regierungen berücksichtigt wurden. Die deutschen Kaufleute, die sich 1819 unter Führung Lists zum Deutschen Handels- und Gewerbeverein zusammenschlossen, erstrebten am ehesten eine Form des deutschen wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlusses, der heute als Vorbild für die europäischen Integrationsbestrebungen angesehen werden könnte7. Aber auch sie, das darf nicht vergessen werden, repräsentierten nur eine Elite der deutschen Kaufmannschaft. Noch während der Verhandlungen um den Anschluß des Königreichs Sachsen an den Zollverein 1831—1833 be9*

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fürchteten die Leipziger Kaufleute, das preußische Zollsystem würde den Handel erschweren, und der Vertrag zwischen Preußen und Sachsen sah daher besondere Privilegien für die Leipziger Messe vor8. Daß der Deutsche Zollverein nicht das Werk einer idealistischen deutschen Einigungsbewegung gewesen ist, sondern das schwer errungene und mühsam zusammengehaltene Produkt zahlreicher von Einzelinteressen bestimmter Verhandlungen, eine ganze Summe im Grunde wenig befriedigender Kompromisse, ist von der ausländischen Forschung schon länger erkannt worden. Der Belgier Benaerts nannte die Bildung des Zollvereins das genaue Gegenteil einer Nationalbewegung, der Engländer Henderson stellte fest, daß die Auffassung, er sei das Ergebnis des erwachenden deutschen Nationalbewußtseins gewesen, einer Nachprüfung nicht einen Augenblick standhalte, und der Amerikaner Price entwickelte seine Entstehung ganz aus den einzelstaatlichen Interessen9. Nicht energisch genug kann unterstrichen werden, was W. O. Henderson, der beste Kenner des Zollvereins, als Resümee seiner Entstehungsgeschichte formuliert: „Die beteiligten Staaten fochten für ihre eigenen engen Interessen, und viele traten dem Zollverein erst bei, als wirtschaftliche Depression und leere Staatskassen weiteren Widerstand gegen Preußen unmöglich machten."10 Vergleicht man dieses schwierige Einigungswerk Preußens mit der gewiß ebenfalls enttäuschungsreichen und kompromißbeladenen Geschichte der europäischen Einigung seit dem Zweiten Weltkrieg, so wird man zugeben müssen, daß die fünfzehn Jahre der Nachkriegszeit beachtliche Ergebnisse gebracht haben. Vor allem aber kann man sagen, daß das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit Westeuropas — aus naheliegenden Gründen — sehr viel stärker ausgebildet ist als das deutsche Nationalbewußtsein zwischen 1815 und 1830, daß es sich vor allem sehr viel stärker auch im Handeln der Staatsmänner niedergeschlagen hat. Denn selbst Großbritannien, das mit so viel Reserven jeder supranationalen Bindung gegenübersteht, hat doch nie einen Zweifel daran gelassen und mit praktischen Taten in der OEEC, der WEU usw. bekundet, daß es sich mit dem europäischen Kontinent schicksalhaft verbunden fühlt. Unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aber sind mindestens zwei — Holland und die Bundesrepublik —, die sehr schwerwiegende wirtschaftliche Bedenken zurückgestellt haben, um eine politische Einigung mit den Partnern zu erzielen. Dafür gibt es keine Parallele in der Geschichte des Deutschen Zollvereins. Denn Sachsen oder Baden, an die man denken könnte, folgten bei ihrem Entscheid für den Beitritt schließlich doch vor allem dem wirtschaftlichen Druck bzw. den wirtschaftlichen Aussichten, die der entstehende Zollverband zu entwickeln begann. In den Motiven und Zielsetzungen ist also die Ausgangsposition der europäischen Integration sehr viel günstiger als die der deutschen im neunzehnten Jahrhundert. Es herrscht ein großes Maß an Übereinstimmung in den Grundsätzen, so verschieden auch die Lösungsversuche sein mögen, und es besteht ein politisches Solidaritätsbewußtsein, das gerade dem Deutschland des frühen neunzehnten Jahrhunderts noch fast völlig fehlte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Wie steht es nun aber mit einem Vergleich der Institutionen und Mechanismen, die zum Zusammenschluß des zollvereinten Deutschlands hier, zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Freihandelszone dort benutzt wurden? Schon eine oberflächliche Prüfung ergibt, daß der Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sehr viel weiter geht als die Zollvereinsverträge, weiter sogar als der zweite Zollverein von 1867, der unmittelbare Vorläufer des Bismarckreichs. In seinen wesentlichen Institutionen ähnelt der Zollverein sehr viel mehr der Freihandelszone als der EWG. Vor allem respektiert er die Souveränität der Beteiligten und versichert sie dort sogar ausdrücklich, wo die gesamte Zollautonomie an einen anderen Staat abgetreten wird11. Außer einer jährlichen Konferenz kennt der erste Zollverein (1834—1867) keine gemeinsamen Institutionen. Erst der kurzlebige zweite Verein, der sich an die Gründung des Norddeutschen Bundes anschloß, schuf einen Bundesrat als „gemeinschaftliches Organ der Regierungen" und ein Zollparlament als „gemeinschaftliche Vertretung der Bevölkerungen", die aus dem Reichstag des Norddeutschen Bundes und gewählten Abgeordneten der zolltechnisch assoziierten süddeutschen Staaten bestand. Auch das Mehrheitsvotum wurde erst jetzt eingeführt12. 33 Jahre lang kam der Zollverein mit der Einstimmigkeitsregel aus. Es wäre aber falsch, daraus zu schließen, daß auch eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft der Gegenwart sich mit einer solchen lockeren Assoziation begnügen konnte. Abgesehen von der eingangs erwähnten wesentlichen Vermehrung der wirtschafts- und sozialpolitischen Aufgaben in der Gegenwart und abgesehen von den vielen negativen Erfahrungen, die mit dem Vetorecht in anderen internationalen Gremien gemacht worden sind, übersähe ein solcher Schluß, daß der Zollverein mit dieser Einstimmigkeitsklausel nur funktionierte, weil in ihm ein einzelner Staat ein ganz ungewöhnliches Übergewicht besaß. Sowohl aus seiner Entstehungsgeschichte wie aus den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Stärkeverhältnissen — Preußen besaß stets mehr als 50 v. H. der Bevölkerung der Zollvereinsstaaten — geht hervor, daß der Zollverein von Anfang an unter der Führung Preußens stand. Das änderten auch nicht Sonderrechte, die sich etwa Bayern und Württemberg für Verhandlungen mit auswärtigen Mächten sicherten, oder traditionelle Bindungen einzelner Partner untereinander. Ohne dieses deutliche Übergewicht eines einzigen Staates wäre der Zollverein weder zustande gekommen noch zusammengeblieben. Das bezeugt deutlich seine mehr als dreißigjährige Geschichte, vor allem die seiner Krisen. Was ein weiteres Moment seiner Schwäche zu sein schien, daß er nämlich immer nur auf Zeit geschlossen wurde — erstmals auf acht, dann jeweils auf zwölf Jahre —, erwies sich dabei als seine Stärke. Immer nämlich, wenn die Vertragszeit ablief und die auseinanderlaufenden Interessen der Mitglieder zu seiner Auflösung zu führen schienen, meisterte Preußen die Lage mit Hilfe geschickter Diplomatie, die den einen gegen den anderen ausspielte, notfalls mit dem Einsatz seines ganzen wirtschaftlichen Übergewichts. Paradoxerweise war sein äußerstes Mittel, um den Verein zusammenzuhalten, die Drohung, sich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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selbst daraus zurückzuziehen. Diese Tatsache erhellt wohl am klarsten, wie sehr der Zollverein von der Mitgliedschaft dieses einen Staates abhing. Schon finanziell hatte sich eine bedeutende Abhängigkeit fast aller Staaten von Preußen ergeben. Nach der Regel des Zollvereins wurden die Zolleinnahmen, die jeder Staat an seinen Außengrenzen für Rechnung des Vereins erhob, nach der Kopfzahl der Bevölkerung verteilt. Preußen aber nahm stets eine sehr viel höhere Summe ein als ihm zustand und verteilte so alljährlich bedeutende Summen an seine Partner. Ein Rückzug Preußens hätte schon daher zu empfindlichen Verlusten für viele Budgets geführt. Hinzu kam der handelspolitische Vorteil, den die kleineren Staaten aus dem Anschluß an den Verein schöpften. Preußen handelte nämlich im Namen des Vereins mit den großen Staaten der Welt günstige Handelsverträge aus, und viele der kleinen deutschen Staaten erhielten so zum ersten Male einen rechtlich geschützten Zugang zum Weltmarkt. Daß schließlich auch im Innern Preußen der größte Konsument war und eine Wiedererrichtung der Zollschranken Industrie und Landwirtschaft der meisten Mitglieder hart betroffen hätte, sei nur am Rande erwähnt. Für unseren Vergleich geht aus alledem hervor, daß kein ähnlich lockerer westeuropäischer Staatenverein bei ähnlich auseinanderstrebenden Interessen mit dem Gewicht einer vergleichbaren Führungsmacht rechnen könnte. Nur ein atlantischer Zusammenschluß mit den Vereinigten Staaten an der Spitze schüfe eine ähnliche Situation, und die NATO ist denn auch das einzig vergleichbare Beispiel einer funktionierenden Gemeinschaft souveräner Staaten in der freien Welt, dem in der kommunistischen die vorläufig noch ebenso unbestrittene Führung der Sowjetunion gegenübersteht. Es mag daher kein Zufall sein, daß die große Freihandelszone mit den divergierenden Interessen der zwei wichtigsten Partner nicht zustande gekommen ist und in der Kleinen Freihandelszone ein deutlicher (wenn auch keineswegs dem preußischen im Kleindeutschland des neunzehnten Jahrhunderts vergleichbarer) Führungsanspruch Großbritanniens besteht. Mit der preußischen Situation von 1830 hat die englische von 1960 überdies noch ein nicht unwichtiges Kennzeichen gemein: beide sind wirtschaftlich die Gebenden innerhalb ihres Zusammenschlusses. So wie Großbritannien heute im Vergleich zu den anderen EFTA-Ländern als Schutzzolland gelten kann und jede Zollermäßigung seinen Partnern daher relativ mehr Vorteile bringt als ihm selbst, so war auch Preußen im Zollverein der Staat mit den durchschnittlich höchsten Zöllen. Es gehört nämlich ebenfalls zu den Legenden, die sich um den Zollverein gebildet haben, daß er, der ja auf dem preußischen Zolltarif von 1818 beruhte, das klassische Beispiel eines Zusammenschlusses von Niedrigzollländern sei und damit als positiver Faktor für die weltwirtschaftliche Integration zu gelten habe. Das ist nur richtig, soweit man seine Zollsätze mit denen Frankreichs, Österreichs oder Rußlands vergleicht. Innerhalb des späteren deutschen Reichsgebiets aber war der von den Zollvereinsstaaten zu adoptierende preußische Tarif ausgesprochen hoch, und die Befürchtungen, die etwa Sachsen hatte, als es den Beitritt erwog, gleichen durchaus denen der Bundesrepublik © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Der Deutsche Zollverein, die EWG und die Freihandelszone

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gegenüber den erhöhten Zöllen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Im preußisch-sächsischen Vertrag vom 30. März 1833 wurde daher die Senkung einiger wichtiger preußischer Zollsätze vereinbart, vor allem der für Woll- und Baumwollgarn, ehe Sachsen den preußischen Zolltarif übernahm, und noch lange ist darüber diskutiert worden, ob der Anschluß an den preußischen Zollverband für dieses am stärksten industrialisierte Land des damaligen Deutschlands wirtschaftlich von Vorteil gewesen sei13. Die Situation Großbritanniens in der Kleinen Freihandelszone ähnelt also auch darin der preußischen im Zollverein, daß sie es der Führungsmacht ermöglicht, durch relativ geringe eigene finanzielle Opfer den Partnerländern große finanzielle Hilfen zuteil werden zu lassen und sie damit fester an sich zu binden. Eine autonome Zollsenkung oder Kontingentserhöhung gegenüber ihren Partnern könnte zum Beispiel in kritischen Situationen durchaus geeignet sein, ihr Interesse wachzuhalten, weil sie daraus einen leicht errechenbaren Vorteil ziehen; oder es kann die Gewährung eines freien Zugangs zu den Rohstoffmärkten des Commonwealth für die industrielle Schweiz einen größeren Anreiz bedeuten als eine Zollgemeinschaft mit den EWG-Ländern, da es ihrer Niedrigzoll-Tradition entspricht, sich durch möglichste Verbilligung des Einkaufs denjenigen Kostenvorteil zu verschaffen, den sie braucht, um die Zollhürden beispielsweise der Vereinigten Staaten für ihre Fertigwaren zu überspringen. Ebenso könnte ein Zugeständnis auf dem bisher in der EFTA ausgesparten Agrarsektor Dänemark für die Chancen entschädigen, die ihm durch den erschwerten Zutritt auf den deutschen Markt innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft entgehen. Ganz ähnlich hat jedenfalls Preußen gehandelt, wenn es einzelnen Partnern, zum Beispiel Frankfurt a. M., einen größeren Anteil an den Einnahmen zusicherte als ihrer Kopfzahl entsprach, oder wenn es mit dem später (1854) beitretenden Hannover außer diesem überprozentualen Revenueanteil die Senkung der Zölle für Kolonialwaren und die Befreiung vom Salzmonopol vereinbarte. Eine solche Führungschance ist aber in der EWG, wie sich leicht erkennen läßt, für keinen der Partner gegeben; sie wäre auch nicht gegeben für Großbritannien als Mitglied einer großen europäischen Freihandelszone, weil ihm zu viele Partner gleichen oder fast gleichen Gewichts gegenüberstehen würden. Es dürfte daher nicht falsch sein zu schließen, daß die „leichtere Hand", die die Abmachungen der EFTA gegenüber denen der EWG zum Kummer der kontinentaleuropäischen Liberalen auszeichnet, nicht nur auf den besseren Prinzipien oder dem größeren Geschick der EFTA-Länder, sondern auch auf diesen besonderen Machtverhältnissen beruht. Schon eine Kleinigkeit wie die, daß die Verhandlungen über die Gründung der EFTA größtenteils in Englisch ohne Übersetzer geführt wurden, weist auf ein solches Verhältnis hin, aber auch die schwerer wiegende Tatsache, daß zur Durchsetzung des Vertrages nicht gerichtliche Sanktionen wie bei der EWG, sondern wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen der von einer Vertragsverletzung betroffenen Partner vorgesehen sind, für die dann nicht die Einstimmigkeit erforderlich ist, sondern die einfache © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Mehrheit genügt (Art. 31, Abs. 4 des EFTA-Abkommens). Doch wäre es ungerecht, würde man daneben unerwähnt lassen, daß sich in solchen Bestimmungen zugleich das Vertrauen in die Solidarität der beteiligten Partner ausspricht, die sich, wie ein skandinavischer Beteiligter mit Recht bemerkt, entschlossen haben, die bei ihnen hochentwickelte staatsbürgerliche Disziplin auf internationale Ebene zu übertragen14. Die Machtverteilung in der EWG ist dagegen wesentlich ausgewogener. Um bei den eben gewählten Beispielen zu bleiben, zeigt sich das schon in der sorgfältigen Berücksichtigung aller vier Sprachen als Amtssprachen oder in dem bedeutenden Gewicht, das der Gerichtshof in dem EWG-Vertrag ebenso wie in dem Montanunionsvertrag zugesprochen bekam. In der so oft kritisierten juristischen Perfektionstendenz der kleineuropäischen Lösungen scheint sich eben nicht nur die von der angelsächsischen verschiedene Rechtstradition auszudrükken, sondern auch die Notwendigkeit, gleichgewichtigen Partnern, die in gewissen Bereichen auf die Ausübung ihrer Souveränitätsrechte und damit ihrer politischen Machtchancen verzichten, gleiche Chancen und Rechte zu sichern. Als Resümee eines Vergleichs der politischen Institutionen und Grundsätze der drei Vertragssysteme bleibt also festzuhalten, daß der Zollverein der EFTA näher steht als der EWG. Ob das gleiche zutrifft, wenn man die ökonomischen Mechanismen im engen Sinne betrachtet, ist zweifelhaft. Sicher stimmen Zollverein und EFTA darin überein, daß sie sich stärker auf das Vorhandensein eines weltwirtschaftlichen Rahmenwerks verlassen, während die EWG für ihren Bereich neue Institutionen und Mechanismen begründet. Aber sobald man das Modell einer Zollunion im Auge hat, deren Integrationswert nach Viner von den drei Bedingungen abhängt, wieweit er die Zolle zwischen den Partnern aufhebt (1), wieweit er einen gemeinsamen Tarif einführt (2) und ob er eine gemeinsame Verwaltung mit nach einem vorher festgelegten Schlüssel verteilten Einnahmen besitzt (3), kommt die EWG näher an den Zollverein heran als die EFTA. Denn sie genügt den Kriterien 1 und 2, während die EFTA nur die erste Bedingung erfüllt, der Zollverein aber, der dem Vinerschen Modell sicher Pate gestanden hat, von einigen Ausnahmen abgesehen, allen drei15. In der Tat war der gemeinsame Tarif mit gemeinsamen Verwaltungsgrundsätzen16, deren Durchführung durch eine strenge gegenseitige Inspektion gesichert wurde, das Fundament des Deutschen Zollvereins. Bei der Vielfalt der innerdeutschen Zollgrenzen und der Bedeutung der Zolleinnahmen für die deutschen Staaten des neunzehnten Jahrhunderts mußte darauf ein wesentliches Gewicht liegen. Diese Fragen haben aber heutzutage viel von ihrer Bedeutung eingebüßt. Andere Fragen wie die einer gemeinsamen Konjunktur-, Agrar- oder Währungspolitik haben an relativem Gewicht gewonnen. Die EWG widmet sich also ganz folgerichtig ihnen ebenso stark wie den zolltechnischen Fragen. Die liberalen Kritiker der EWG übersehen, wenn sie an das Vorbild des Zollvereins appellieren, daß dieser, hätte man Probleme des Zahlungsbilanzausgleichs, der Harmonisierung der Soziallasten usw. im frühen neunzehnten Jahrhundert gekannt, sicher die Poli© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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tik sämtlicher Partnerstaaten ebenso auf die preußische ausgerichtet hätte wie den Zolltarif17. Eine Zollunion von der Art des Zollvereins bedeutete im neunzehnten Jahrhundert eben eine viel stärkere Harmonisierung der gesamten Wirtschafts- und vor allem der Finanzpolitik als heute. Nicht wenige der Partner des Zollvereins begaben sich mit der Hoheit über ihre Zölle wesentlich ihrer Finanzhoheit, und alle formelle Versicherung der Unantastbarkeit ihrer Souveränität kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie in Wirklichkeit einen wesentlichen Teil ihrer Souveränität in die Hände Preußens legten. Scheinen also auch die wirtschaftlichen und politischen Mechanismen von Zollverein und Kleiner Freihandelszone verwandter als die von Zollverein und Gemeinsamem Markt, so ähneln sich in ihrer tatsächlichen Bedeutung für die wirtschaftlich-politische Integration eines größeren Raumes Zollverein und Wirtschaftsgemeinschaft sehr viel stärker. Beide besitzen vor allem eine faktenbildende, weichenstellende Kraft. Und hier scheint mir der entscheidende Punkt jedes über die wirtschaftliche Funktionsweise hinausgehenden Vergleichs zwischen dem Deutschen Zollverein und den gegenwärtigen Integrationsversuchen in Europa zu liegen. Denn der Zollverein war in der Tat, sowenig dies in der Absicht seiner Gründer lag, ein entscheidender Wegbereiter des Bismarckreichs. Wenn an seinem Beginn noch immer die Möglichkeit gegeben schien, den Artikel 19 der Wiener Bundesakte zu erfüllen, der vorsah, daß alle Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes, also auch Österreich, Verhandlungen über eine gemeinsame Zollpolitik aufnehmen sollten, so ist mit seinem erfolgreichen Fortschreiten von diesem gesamtdeutschen Einigungsziel immer weniger die Rede gewesen. Auch die Widerstrebenden fügten sich der Macht der Tatsachen. Während in den vierziger Jahren noch eine lebhafte Diskussion über die Möglichkeit eines deutsch-österreichischen oder mitteleuropäischen Zollvereins stattfand, die in der Revolution von 1848/49 eine reale Verwirklichungschance zu finden schien und schließlich in Brucks Mitteleuropa-Plänen von 1849 bis 1854 gipfelte18, fanden sich in den fünfziger und sechziger Jahren alle damit ab, daß Preußen nicht mehr gewillt war, die inzwischen errungene Führungsstellung in Deutschland wieder aufzugeben. Nicht einmal zum Anschluß an den Zollverein wurde Österreich zugelassen. Wenn wir heute bedauern, daß die deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert jene kleindeutsche Verengung genommen hat und die Bindung in eine größere mitteleuropäische Verantwortung verlor, so stimmt das genau mit dem Bedauern überein, das man über das Scheitern aller größeren westeuropäischen Integrationsbestrebungen empfinden muß. So wie 1834 der Ausschluß Österreichs aus Deutschland einsetzte, mag einmal mit dem Beginn der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958 der Ausschluß Englands aus Europa angesetzt werden. Denn zweifellos besitzt der Gemeinsame Markt dieselbe dynamische Tendenz wie der Zollverein. Er setzt Tatsachen, die nicht so leicht widerrufen werden können. Er zieht Grenzen, die einzureißen mit jedem Jahr schwerer sein wird, und er bildet ein Zusammengehörigkeitsgefühl aus, das leicht eine exklusive Tendenz annehmen kann. 1834 gehörte das Herz der meisten deutschen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Kleinstaaten Österreich, nicht Preußen. Noch 1866 führten einige von ihnen mit Preußen Krieg, ohne daß darüber übrigens der gemeinsame Zollverband in die Brüche ging. Aber 1870/71 beugten sich, bis auf Luxemburg, alle der preußisch-kleindeutschen Lösung, die durch so lange wirtschaftliche Zusammenarbeit vorgezeichnet worden war. Freilich sollte man die „Schuld" für eine solche Entwicklung nicht einseitig dem aktiven, einen bestimmten Weg einschlagenden Partner zuschieben. Der zögernde, die Zeichen der Zeit verkennende Partner trägt die gleiche Verantwortung für diesen Weg, gerade auch, wenn er sich als ein Irrweg herausstellen sollte. Österreich hat von 1815 bis 1834 noch das natürliche und historische Erstgeburtsrecht in Deutschland besessen. Es nahm es nicht wahr, weil es sich selbst genug war und anderweitige Verpflichtungen nicht preisgeben wollte. Die Analogie mit dem Großbritannien der Nachkriegszeit drängt sich geradezu auf. Großbritannien hat von den europäischen Großmächten die beiden Weltkriege am unversehrtesten überstanden. Die Führung zu einer gesamteuropäischen Integration müßte bei ihm liegen; aber dazu müßte es auch bereit sein, überkommene Vorstellungen und liebgewordene Gewohnheiten preiszugeben. Keine Führungsstellung läßt sich ohne eigene Opfer gewinnen. Das zeigt das Preußen des neunzehnten Jahrhunderts ebenso wie die Vereinigten Staaten in unseren Tagen, die die bequeme Selbstbeschränkung auf ihre eigene Hemisphäre aufgaben, um in einer größeren Welt die Rolle zu spielen, die ihnen kraft ihrer natürlichen, wirtschaftlichen und politischen Stellung zukommt. Das Zögern Großbritanniens, traditionelle Vorstellungen aufzugeben, könnte daher einmal ebenso zu seinem Ausschluß aus Europa führen wie das Österreichs zu seinem Ausschluß aus Deutschland geführt hat. Das aber wäre verhängnisvoll — sowohl für den Ausgeschlossenen wie für die Ausschließenden.

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Das wirtschafts- u n d sozialpolitische O r d n u n g s b i l d der preußischen Bergrechtsreform

1851—1865

Der Umbau des Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsgefüges ist ein großes Thema der Geschichte des 19. Jahrhunderts. In Preußen hatte die Reformzeit dazu die wesentlichen Grundsteine gelegt. Ihr Impuls wirkte fort, auch als die Kraft zu neuen grundsätzlichen Reformen längst erlahmt zu sein schien. In den vierziger bis sechziger Jahren kamen noch einige wichtige Kodifikationen zustande. Auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts vor allem das Aktiengesetz, die Allgemeine Gewerbeordnung, die Deutsche Wechselordnung, die Konkursordnung, das Allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch und die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund. Innerhalb dieser Arbeiten nimmt die Reform des preußischen Bergrechts 1851 bis 1865 eine besondere Stellung ein. Mit ihr gelang noch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein neuer Anlauf zur Grundsatzdebatte und ein weitläufiges und abschließendes Reformwerk. Sie verwirklichte ein doppeltes Ziel: die Rechtseinheit für den Bergbau des ganzen Staatsgebietes und die Unterstellung des Bergbaus unter die Prinzipien der Allgemeinen Gewerbeordnung. Konkret: die Ablösung der bis dahin in den rechtsrheinischen Gebieten geltenden staatlichen Direktion der privaten Bergwerke durch die Selbstverwaltung der Unternehmer. Die Reform des Bergrechts ist somit als ein Nachtrag zu der Reform des Gewerberechts während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusehen. Es könnte nun die Frage gestellt werden, warum das Bergrecht so spät, mit einer Verzögerung von einem halben Jahrhundert, der Idee des wirtschaftlichen Liberalismus folgte. Dazu müßten die Vorarbeiten zur Reform, die seit 1826 im Gange waren, untersucht werden. Das ist hier nicht unsere Absicht. Unsere Absicht zielt vielmehr darauf hin, diese Reform nach ihrem Bild von der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung im Bergbau zu befragen und dadurch ihren Ort im allgemeinen Prozeß des Umbaus der Wirtschafts- und Sozialverfassung im 19. Jahrhundert zu bezeichnen. Jede gewerberechtliche Kodifikation muß ja eine Vorstellung haben, wie die von ihr berührten Wirtschaftszweige organisiert sein sollen, wie sie in ihrem wirtschaftlichen Ablauf funktionieren, in welchem Verhältnis sie zur übrigen Wirtschaft, der Gesellschaft und dem Staat stehen, wie sich bei ihnen die Beziehungen der Sozialpartner gestalten sollen. Diese Vorstellungen für die preußische Bergrechtsreform herauszuarbeiten, ist das Ziel dieses Vortrags1. Anhand einiger charakteristischer Gegenstände der Reform soll der Rede von dem „liberalen" Berggesetz ein konkreter Inhalt gegeben, die Art und der Grad der unternehmerischen Freiheit, die es gewährte, festgestellt, und die Gründe der von ihm gewählten positiven Bestimmungen erläutert werden. Der Begriff des „Bergwerkseigentums" soll zunächst in die grundsätz-

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liche Haltung der Reformer einführen, dann wird anhand der Bestimmungen über den Betriebszwang und den Betriebsplan das Verhältnis des Bergbaus zum Staat kurz zu umreißen, vor allem der Umfang des „staatswirtschaftlichen Interesses" zu zeigen sein und schließlich werden mit der Kontraktfreiheit, der Arbeitsordnung und der Knappschaftsversicherung drei zentrale sozialpolitische Fragen der Bergreform behandelt werden. Die Quellen der Untersuchung bilden in erster Linie die Gesetze selbst mit ihren Motiven und Kommentaren sowie die dazugehörigen Entwürfe und Debatten in den gesetzgebenden Körperschaften und der Öffentlichkeit. Die öffentliche Debatte der Reform war außerordentlich breit und tiefschürfend. Als Forum dienten ihr die bergbaulichen Periodika, voran die Zeitschrift für Bergrecht, die 1860 von dem Bonner Oberbergrat Brassert, dem Verfasser des Allgemeinen Berggesetz-Entwurfes, gegründet worden war. Die Diskussion innerhalb der preußischen Bergbehörden konnte nicht verfolgt werden, weil die Akten zur Bergrechtsreform im Deutschen Zentralarchiv in Merseburg bisher nicht zugänglich waren. Doch kommt ihr Ergebnis in den Motiven zu den Gesetzen und in erläuternden Publikationen der Verfasser klar zum Ausdruck. Insgesamt ergingen in Preußen zwischen 1851 und 1863 vierzehn bergrechtliche Gesetzesnovellen, die dann durch das Allgemeine Berggesetz für die Preußischen Staaten vom 24. Juni 1865 abgelöst wurden. Vier dieser Novellen sind von besonderer Bedeutung: das Miteigentümergesetz von 1851, das Knappschaftsgesetz von 1854, das Freizügigkeitsgesetz von 1860 und das Gesetz über die Kompetenz der Oberbergämter von 18612. Die bisherige Literatur ist vorwiegend juristisch orientiert. Sie konzentriert sich auf Fragen wie die Ablösung des Bergregals durch die Berghoheit, die Rechtsnatur des Bergwerkseigentums oder die Einführung der Gewerkschaft neuen Rechts3. Die Bedeutung der Reform für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts ist noch kaum erkannt worden. In den zusammenfassenden Darstellungen kommt sie entweder überhaupt nicht vor (so bei Sombart und Lütge) oder wird nur am Rande erwähnt (so bei Sartorius von Waltershausen und Bechtel). Speziellere Darstellungen des Bergbaus begnügen sich meist mit der Formel von der Ablösung des Direktionsprinzips durch das Inspektionsprinzip, und neuere sozialgeschichtliche Arbeiten neigen aus retrospektiver Sicht zu einer pauschalen Verurteilung ihrer liberalen Tendenzen, ohne diese jedoch näher zu kennzeichnen4. Nur Eberhard Gothein weist schon 1923 darauf hin, daß wir es bei diesem liberalen Reformwerk im Gegensatz zu den bloß negativen Bestimmungen des Gewerbesteuergesetzes von 1810 mit einer „positiven Regelung" der Freiheit zu tun haben5. Hier gilt es, mit einer wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Analyse anzusetzen. Es gehört ja zu den Klischees vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts, besonders in seiner manchesterlichen Form, daß er auf jede positive Regelung des Wirtschaftslebens verzichten und den Staat in eine „Nachtwächterrolle" habe zurückdrängen wollen. Auf die Reform des preußischen Bergrechts trifft eine solche Kennzeichnung nicht zu. Es sollte schon zu denken geben, wenn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Das Ordnungsbild der preußischen Bergrechtsreform 1851—1865

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Heinrich von Achenbach, der als Mitherausgeber der Zeitschrift für Bergrecht zu den aktiven Gestaltern der Reformgesetze gehört hat, bei einer Besprechung des französischen Bergrechts vor dem Laissez-faire warnte. Denn Achenbach war immerhin derjenige preußische Handelsminister, der seinen Dienst quittierte, als Bismarck seine berühmte wirtschaftspolitische Wendung zum Schutzzoll vollzog. An seiner liberalen Grundhaltung kann also kein Zweifel bestehen, und Heinz Gollwitzer bezeichnet ihn sogar als „Anhänger des Manchestertums"6. Das französische Berggesetz von 1810 kritisiert Achenbach jedoch, gerade weil es aus Scheu vor einem Eingriff in den Wirtschaftsablauf die Bergwerkstreibenden und Grundbesitzer einem schädlichen Interessenkonflikt überlasse. „Das Gehenlassen, wie's Gott gefällt, ist aber stets nachteilig", heißt es da. „Die französische Gesetzgebung und ihre Nachbildungen in anderen Ländern können demnach für uns nicht mustergültig sein."7 Der Vergleich mit dem napoleonischen Berggesetz von 1810 gibt uns einen guten Ansatzpunkt, um die spezifischen Ordnungsvorstellungen der preußischen Bergrechtsreformer herauszuarbeiten. Das französische Recht war ein liberales Vorbild par excellence. Besonders deutlich wird das an seinem Begriff des Bergwerkseigentums. Das Privateigentum gehört ja zu den zentralen Werten liberaler Gedankenwelt. Napoleon selbst hatte in den Debatten um das Gesetz den Eigentumsbegriff des Code Civil zur Geltung gebracht. „Große Interessen zwingen, dem Bergwerk das Siegel des Eigentums aufzudrücken", hatte er bei den Beratungen im Jahr 1809 geäußert. „Sind . . . die Bergwerke Gegenstand des Eigentums, so sind sie auch unverletzlich. Das Geheimnis liegt also hier darin, die Bergwerke zum Gegenstand eines wirklichen Eigentums zu machen und sie dadurch rechtlich wie faktisch gewissermaßen zu heiligen."8 Im preußischen Berggesetz von 1865 findet sich nichts, was diesen Vorstellungen von der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums entspräche. Um keinen Zweifel zu lassen, daß es sich bei dem Bergbaurecht gerade nicht um ein unverbindliches Privateigentum handle, hatte Brassert in seinem Entwurf den Begriff des Bergwerkseigentums konsequent durch den der Bergbauberechtigung ersetzt. Das Bergbaurecht sollte danach eine vom Staat in öffentlichem Interesse an Privatpersonen verliehene Gewerbebefugnis sein. Der durchgehende Ersatz des Begriffs „Bergwerkseigentum" durch den der „Bergbauberechtigung" hat sich zwar bei den Beratungen des Gesetzentwurfs nicht durchgesetzt, weil der Mehrzahl der Beurteiler eine bloße Gewerbeberechtigung mit dem unbezweifelbaren Eigentum an den Bergwerksgebäuden nicht vereinbar erschien, aber der Begriff „Bergwerkseigentum", wie er in der endgültigen Fassung des Gesetzes gebraucht wird, besitzt nichts von dem sittlichen Pathos, den er im französischen Recht hat. Er ist ein nüchterner Zweckbegriff9. Die Verfügung über das Bergwerkseigentum war in den älteren deutschen Bergordnungen und dem Allgemeinen Landrecht grundsätzlich durch den Betriebszwang eingeschränkt, von dem der Landesherr höchstens Ausnahmen gestatten konnte. Das französische Berggesetz von 1810 hatte ihn praktisch abgeschafft. Das Allgemeine Berggesetz schlug hier einen mittleren Weg ein. Es for© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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derte den Betriebszwang nur noch aus „überwiegenden Gründen des öffentlichen Interesses". Damit will es dem Staat eine Einwirkungsmöglichkeit belassen, aber verhindern, daß die Behörden die Unternehmer ohne Not zur unwirtschaftlichen Ausbeute eines Bergwerks anhalten können. Die Frage, ob Betriebszwang ausgeübt werden solle, hing eng zusammen mit der Frage, inwieweit der Staat berechtigt sei, das staatswirtschaftliche Interesse gegenüber dem Bergwerksbesitzer zur Geltung zu bringen. In den Bergordnungen des 18. Jahrhunderts waren Recht und Pflicht des Staates hierzu in ausführlichen Einzelbestimmungen festgelegt. Auch Brassens Entwurf zum Allgemeinen Berggesetz kannte noch die Pflicht der Bergbehörde, das „staatswirtschaftliche Interesse" zu wahren. Erst in der endgültigen Fassung fiel der Begriff fort. Nach Ansicht fast aller Beurteiler genügte die polizeiliche Aufsicht, um Raubbau zu verhindern, ein weitergehendes volkswirtschaftliches Interesse liege nicht vor. Das Allgemeine Berggesetz wies daher dem Staat neben der Sicherung der Schürf- und Mutungsfreiheit und neben der Rechtsprechung nur noch polizeiliche Aufgaben zu: Er hatte die Sicherheit der Baue, des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter zu überwachen und den Schutz der Oberfläche im Interesse der persönlichen Sicherheit und des öffentlichen Verkehrs zu gewährleisten. Als letzter Rest älterer staatswirtschaftlicher Aufgaben blieb ihm der „Schutz gegen gemeinschädliche Einwirkungen des Bergbaus" (§ 196). Es ist bezeichnend für den Geist der Reform, daß sie diesen Rückzug des Staates aus den Leitungspflichten als eine Besinnung auf seine „natürlichen Interessen" verstand. Hier zeigt sich deutlich ihr liberaler Ursprung. Denn nach der naturrechtlichen Auffassung des Liberalismus gab es ja ewige „natürliche" Gesetze, die das richtige Verhältnis von Staat und Individuum ein für alle mal bestimmten. Freilich war die Frage, wo die „natürlichen Interessen" des Staates nun konkret an ihre Grenzen stoßen, keineswegs eindeutig zu beantworten. Die Antwort der preußischen Bergreformer zeigt, daß sie dabei viel stärker in historischen Traditionen verwurzelt blieben, als es einer strengen liberalen Theorie entsprochen hätte. Brassert, ein Schüler Savignys und Dahlmanns, neigte dazu, die Grenzen der Staatseinwirkung weiter zu ziehen als die englische, französische oder auch österreichische Berggesetzgebung. Das wird besonders an den Vorschriften über den Betriebsplan deutlich. Nach den älteren Bergordnungen setzte ihn die Bergbehörde selbst fest. Das Miteigentümergesetz von 1851 hatte seine Aufstellung der Gewerkenversammlung überlassen, die Ausführung aber von der vorherigen Genehmigung des Bergamtes abhängig gemacht. Das Allgemeine Berggesetz milderte diese Vorschrift zwar, nahm vor allem der Behörde das Recht, den Plan ohne Anhören der Bergwerksbesitzer zu ändern. Doch blieb ihr das Recht, ihn nach eigenem Ermessen festzusetzen, wenn eine Verständigung mit dem Bergwerksbesitzer nicht zu erzielen war. Eine solche Präventivmaßnahme war dem westeuropäischen Bergrecht durchaus fremd. In England mußte sich bis 1860 die Berginspektion sogar im Falle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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drohender Gefahr darauf beschränken, die Arbeiter zu warnen, die dann die Grube ohne Einhaltung der Kündigungsfrist verlassen durften. Erst seit 1860 hatte sie die Möglichkeit, ihren Anordnungen mit Hilfe von Geldstrafen Nachdruck zu verleihen. Auch Österreich kannte Präventivmaßnahmen nicht. Doch begrüßte gerade ein österreichischer Kritiker sie als zweckmäßigen Kompromiß, weil eine gütliche Einigung die scheinbar bevormundende Form gemischter Direktion und Inspektion zu einer liberaleren Handhabung mache, als es die volle Freiheit mit daneben stehender repressiv ausgerüsteter Inspektion wäre10. Dieser Kompromiß zwischen den Prinzipien des älteren deutschen Rechts und dem liberalen Recht des Westens ist der entscheidende Wesenszug der preußischen Reform, nicht nur der Bergrechtsreform allein, sondern auch schon der großen Stein-Hardenbergschen Reformen zu Beginn des Jahrhunderts und auch noch der sozialpolitischen Bestrebungen des Kaiserreichs. Für das Bergrecht zeigt sich das besonders deutlich an den arbeitsrechtlichen Bestimmungen. Sie verwirklichten den liberalen Grundsatz der Vertragsfreiheit zwischen den Sozialpartnern, schlossen aber die Sorge für das Wohl der Bergarbeiter nicht aus. Ihr Ziel war, auch hier, wie der Berichterstatter des Herrenhauses wörtlich ausführte, „das natürliche Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, welches sich im Lauf der Jahrhunderte verwischt hatte", wiederherzustellen11. Nach den Bergordnungen waren die Bergarbeiter den Bergämtern direkt unterstellt. Das Bergamt hatte sie einzustellen und zu kündigen, an- und abzulegen, wie es in der Bergmannssprache heißt; es hatte ihre Arbeitszeit und ihren Arbeitslohn festzusetzen. Das Freizügigkeitsgesetz von 1860 stellte dies nun in die freie Übereinkunft der Sozialpartner. Diese Bestimmungen haben den Schöpfern des Gesetzes herbe Kritik eingetragen. Bald nach seinem Erlaß wandten sich Gruppen von Bergleuten an die Bergbehörden und das Abgeordnetenhaus, weil sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert hätten. Später, als die sozialen Spannungen im Bergbau wuchsen und in den Streiks von 1889 und 1905 sich entluden, gab man dem Gesetz oft die Schuld, daß das alte patriarchalische Verhältnis sich gelöst habe, der soziale Status des Bergmanns gesunken sei und er sich nicht mehr als ein besonderer Stand, sondern als Arbeiter unter Arbeitern fühle12. In der Tat war die Gleichstellung mit den Industriearbeitern ein wesentliches Motiv dieses Gesetzes. Aber nicht etwa, weil es die Bergleute zu Proletariern machen wollte, sondern weil der bisherige Zustand unhaltbar geworden war. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Bergleute in dem wichtigsten Bergbaubezirk, dem westfälischen, in drei Klassen geteilt. Der Bergmann ersten Grades, ein Vollmitglied der Knappschaft, war mit einer hohen sozialen Sicherheit versehen, aber mit einer ebenso rigorosen wirtschaftlichen Unfreiheit. Er besaß keine Freizügigkeit. Die Bergbehörde bestimmte Zahl, Lohn und Arbeitsplatz der Knappschaftsmitglieder nach den Bedürfnissen einer mittleren Betriebsperiode. Gegen Arbeitslosigkeit war er praktisch geschützt, weil er bei © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Einstellungen und Entlassungen ein Vorzugsrecht vor den anderen beiden Arbeiterkategorien hatte. Darunter standen die Bergleute 2. Grades. Sie mußten ein Jahr beim Bergbau tätig gewesen sein und waren Anwärter auf die Vollmitgliedschaft in der Knappschaft. Ihre Beiträge und Versicherungsleistungen waren geringer als die der Bergleute ersten Grades. Aber auch sie unterstanden der Direktion des Bergamts. Daneben gab es nun die Gruppe der freien Bergarbeiter, über deren Anstellung seit 1851 der Bergwerksbesitzer selbst verfügen konnte. Sie sollten eigentlich nur den Stoßbedarf decken oder Hilfsarbeiten verrichten. In einer Zeit stürmisch wachsenden Bedarfs war ihre Zahl und Bedeutung jedoch beträchtlich gestiegen. Die groteske Situation war eingetreten, daß sie doppelt soviel verdienten wie die Knappschaftsmitglieder. Junge Bergleute weigerten sich daher häufig, in die Knappschaft einzutreten. Hier wollten nun das Knappschaftsgesetz von 1854, das dann fast unverändert Teil des Allgemeinen Berggesetzes geworden ist, und das Freizügigkeitsgesetz von 1860 Abhilfe schaffen. Den eigentlichen Bergleuten sollte nicht mehr verwehrt sein, ihre Arbeitskraft und ihr Berufskönnen angemessen zu verwerten, die bisherigen Hilfsarbeiter sollten dagegen ebenso in den Genuß der sozialen Sicherung der Knappschaft kommen. Die Bestimmungen der Gesetze waren also durchaus zugunsten der Bergleute gedacht. Daß sie Gefahren in sich bargen, trat für die preußischen Bergreformer hinter dem größeren Grundsatz der bürgerlichen Selbstbestimmung, den sie im Auge hatten, zurück. Man könnte versucht sein zu sagen, daß um die damalige Zeit die Kenntnis dieser Gefahren noch kaum verbreitet gewesen sei, da sie erst aus den Erfahrungen der Industriewirtschaft abgeleitet werden konnte. Doch hat es schon zur Entstehungszeit des Gesetzes an kritischen Stimmen nicht gefehlt. Interessanterweise kam die gewichtigste von einem der Autoren des Österreichischen Berggesetzes von 1854, das in seinen betriebswirtschaftlichen Bestimmungen sehr viel liberaler war als das preußische. Der Wiener Oberbergrat und Professor der Rechte Freiherr von Hingenau sah in dem freien Arbeitsvertrag eine Fiktion. Eine vom Arbeitgeber allein erlassene Arbeitsordnung als allgemeine Vertragsofferte für die Arbeitnehmer aufzufassen, wie es das Allgemeine Berggesetz tat, schien ihm gar zu formal gedacht. Weil in der Arbeitsordnung die privatrechtlichen Vertragsbedingungen von den Disziplinarvorschriften schwer zu trennen sind, diese aber gerade im Bergbau besonders streng sein müssen, schien ihm hier eine Mitwirkung der Behörde gerechtfertigter als bei der Wirtschaftsführsung oder dem technischen Betrieb13. Auch bei den Beratungen im Landtag haben die arbeitsrechtlichen Teile sowohl des Freizügigkeitsgesetzes wie des Allgemeinen Berggesetzes Kontroversen hervorgerufen. Besonders heftig wurden die disziplinarischen Bestimmungen diskutiert. Der Entwurf zum Freizügigkeitsgesetz sah die strafrechtliche Verfolgung von „grobem Ungehorsam" und „beharrlicher Widerspenstigkeit" vor. Einzelne Abgeordnete erkannten darin einen Widerspruch zu dem Kontrakt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Verhältnis, das nur Konventionalstrafen zulasse. Die Formulierungen, so argumentierten sie, stammten aus der Gesindeordnung, die ein Herrschafts- und Untertanenverhältnis begründe und hätten in einer kontraktlichen Arbeitsordnung, die zwischen Partnern geschlossen werde, keinen Platz. Mit einer knappen Mehrheit strich daher das Abgeordnetenhaus den Paragraphen. Im Herrenhaus wiederholte sich die Diskussion mit den gleichen Argumenten, aber dem umgekehrten Mehrheitsverhältnis. Es stellte daher den Paragraphen wieder her, und das Abgeordnetenhaus trat ihm nachträglich bei, um seinetwegen nicht das ganze Gesetz zu Fall zu bringen. Es ist aufschlußreich, daß die Berggesetze, die sonst mit außergewöhnlicher Leichtigkeit den gesetzgeberischen Weg durchliefen, gerade in ihren sozialpolitischen Teilen die Gemüter erregten. Daß der bergbauliche Unternehmer in seinen wirtschaftlichen Entscheidungen möglichst freie Hand haben solle, daß nur die Gefährlichkeit des Bergbaus hier besondere Sicherheitsvorkehrungen nötig mache, war unumstritten. Ob aber damit auch ein entsprechendes Verfügungsrecht über die Arbeiter zu verbinden sei, blieb fraglich. Die Reformer gingen auch hier einen mittleren Weg. Bei grundsätzlicher Anerkennung des Prinzips vom freien Arbeitsvertrag scheuten sie sich nicht, wo es ihnen erforderlich schien, einschränkende Maßnahmen zu beschließen. Ganz selbstverständlich enthielten z. Β. sowohl das Gesetz von 1860 wie das Allgemeine Berggesetz ein strenges und ausführliches Truckverbot. Der eigentliche sozialpolitische Wert der Bergrechtsreform liegt jedoch nicht in solchen Beschränkungen. Er liegt auch hier, um nochmals Eberhard Gotheins Formulierung aufzunehmen, in der positiven Bestimmung der Freiheit, die sich sozialpolitisch als Schutz bei Krankheit, Unfall und Tod, soziologisch als Beibehaltung eines Mindestmaßes an Korporation äußerte. Indem das Knappschaftsgesetz von 1854 nicht nur an die Jahrhunderte alte deutsche Bergmannstradition anknüpfte, sondern sie für den ganzen Bereich des preußischen Staates zur Geltung brachte, hat es das erste Beispiel eines großen Sozialversicherungsgesetzes gegeben, an das Bismarcks Sozialpolitik zwanzig Jahre später ohne weiteres anknüpfen konnte14. Das Prinzip der Zwangsversicherung unter Beteiligung des Arbeitgebers wurde dabei nur von ganz wenigen Abgeordneten in Frage gestellt. An sich hätte es nicht fern gelegen, aus den Knappschaften freiwillige Versicherungsvereine nach englischem, französischem oder belgischem Vorbild zu machen. Nachdem die Knappschaft das soziale Gefüge der älteren Korporation großenteils verloren hatte, wäre es nur ein kleiner Schritt bis dahin gewesen. Daß dies nicht geschah, ist gewiß eine der folgenreichsten Bestimmungen der Bergrechtsreform. Man sollte dieses Verdienst nicht zu gering einschätzen, nicht nur als Vorbild der späteren Reichsversicherungsordnung, sondern auch in seiner sofortigen Wirkung. Immerhin hatte es bis dahin Reviere mit sehr ungenügendem oder gar keinem Knappschaftswesen gegeben, im Ruhrgebiet z. Β. das Kirchspiel Mühlheim und die Herrschaft Broich, in deren Bereich mehrere tausend Bergleute arbeiteten, oder den ganzen Geltungsbereich des französischen Bergrechts, in 10 Fischer, Wirtschaft

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dem Knappschaften überhaupt nur auf freiwilliger Basis möglich gewesen waren. Noch wichtiger als das Prinzip der Zwangsversicherung scheint mir aber zu sein, daß die Reformer auch für das Knappschaftswesen das Prinzip der Selbstverwaltung verwirklichten, das ihre ganze Reform durchzieht. Bisher hatte auch hier die Verantwortung im wesentlichen bei der Bergverwaltung gelegen. Nun wurden die Knappschaften zu juristischen Personen, deren Vorstand von den Arbeitgebern und den Vertrauensmännern der Arbeitnehmer gemeinsam zu wählen war. In diesem Prinzip der Selbstverantwortung des mündigen Bürgers liegt das entscheidende Verdienst der Reform. Damit nimmt sie die Tradition der preußischen Reformzeit auf und trägt ihren Teil bei zur Ausbildung jener spezifisch preußischen Verbindung von bewahrter monarchisch-staatlicher Autorität und wachsender sozialer und wirtschaftlicher Selbstbestimmung des Bürgers. Versuchen wir nun zum Schluß die Bedeutung der preußischen Bergrechtsreform für die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung des 19. und 20. Jahrhunderts in Kürze zu umreißen. Daß sie in der Bergrechtsgeschichte im engeren Sinn einen überragenden Platz einnimmt, steht außer Zweifel. Alle Betrachter haben das Allgemeine Berggesetz von der Zeit seiner Entstehung bis heute als ein Gesetzgebungswerk ersten Ranges, als eines der besten preußischen Gesetze überhaupt, angesehen, das in systematischer Geschlossenheit und mit „wunderbar klarer Sprache" den ganzen Bergbau wie selten ein Gesetz umfasse. Es ist daher zum Vorbild vieler in- und ausländischer Berggesetze geworden. Alle Versuche der letzten hundert Jahre, zu einem gemeinsamen deutschen Bergrecht zu kommen, setzen bei ihm ein, und noch heute gilt es in seinen wesentlichen Teilen für die einstmals preußischen Gebiete der Bundesrepublik15. Wo es im Laufe der Zeit reformbedürftig wurde, zeigte es die typischen Schwächen liberaler Wirtschaftsverfassung, vor allem ihre Unterschätzung der wirtschaftlichen und sozialen Macht, So hatte es, wie alle Gewerbeordnungen des 19. Jahrhunderts, keine Vorsorge gegen Entartung des Wettbewerbs getroffen. Kartell- und konzernrechtliche Bestimmungen fehlten ihm ganz. Als daher um die Jahrhundertwende die Gefahr bestand, daß wenige große Gesellschaften die restlichen, unverteilten Felder des Ruhrgebiets beherrschten, hob der preußische Staat 1907 die Mutungsfreiheit auf. Die zweite große Änderung des Gesetzes vor 1914 betraf die Vertragsfreiheit der Sozialpartner. 1892 schrieb eine Novelle zum Gesetz den Erlaß von Arbeitsordnungen, die bis dahin freiwillig waren, zwingend vor; 1905, im Anschluß an den großen Streik, verpflichtete das Gesetz den Bergbau zur Bildung von Arbeiterausschüssen, die vor Erlaß der Arbeitsordnungen zu hören waren und gab den aus der Belegschaft zu wählenden Sicherheitsmännern das Recht, die Gruben zu befahren. Der Höhepunkt unternehmerischer Handlungsfreiheit war also mit dem Allgemeinen Berggesetz schon erreicht. Seitdem herrschte bis 1945 wieder die Tendenz, die Staatstätigkeit zu verstärken. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Damit aber bekommt, wie mir scheint, die preußische Bergrechtsreform innerhalb der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts ihre spezifische Stellung. Keine andere Gewerbeordnung, auch die des Norddeutschen Bundes von 1869 nicht, hat nämlich so wie das preußische Allgemeine Berggesetz vermocht, ein freiheitliches Prinzip der Wirtschaftsgestaltung mit verantwortungsbewußten sozialpolitischen Handlungsvorschriften zu verbinden. So kann es als Beweis dafür gelten, daß die liberale Epoche nicht notwendigerweise zu einer Atomisierung der Gesellschaft und zur Schaffung eines ungebundenen Proletariats führen mußte, daß der Vorwurf, den man. der frühen Industriegesellschaft macht, sie habe zwar wirtschaftliche Kräfte freigesetzt, damit aber auch die soziale Ordnung zerstört und das Recht des Stärkeren proklamiert, in dieser Schärfe nicht zutrifft, daß es vielmehr auch im 19. Jahrhundert möglich war, die durch Bevölkerungsdruck, soziale Emanzipation und wirtschaftliches Wachstum entstandenen gesellschaftlichen Zerrungen zu einer neuen Ordnung hinzuführen, ohne dabei entweder in ein unproduktives Zurückdämmen sich entfaltender Kräfte oder in ein resignierendes Laissez-faire zu verfallen.

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Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform v o n 1 8 5 1 - 1 8 6 5 i n d e r W i r s c h a f t s - u n d S o z i a l v e r f a s s u n g des 1 9 . J a h r h u n d e r t s Die folgenden Ausführungen wollen ein wirtschafts- und sozialpolitisches Problem an einem historischen Gegenstand aus dem Bereich der Rechtswissenschaft exemplifizieren und so jenseits von allen methodologischen Erwägungen einen praktischen Beitrag zur Integration der Sozialwissenschaften im weitesten Sinne des Wortes geben1.

I Der Begriff der Wirtschafts- und Sozialverfassung lehnt sich an den der politischen Verfassung an. So wie dieser zunächst die Normen und Institutionen bezeichnet, die das öffentliche Leben eines Gemeinwesens regeln, so jener die Prinzipien und Verhaltensweisen, die für die sozialen Beziehungen und den wirtschaftlichen Ablauf einer Gesellschaft und Wirtschaft gelten. Während es aber für die politische Verfassung seit der amerikanischen Konstitution von 1787 und den Verfassungen der französischen Revolution üblich geworden ist, positive Grundgesetze zu schaffen, herrschen bei der Ordnung von Gesellschaft und Wirtschaft noch immer die älteren Zustände, nach denen sich die konkrete Verfassung aus einer Vielzahl einzelner, nicht unbedingt miteinander in Einklang stehender Rechtssätze, Gewohnheiten und Grundüberzeugungen zusammensetzt, die aufzufinden und zusammenzupassen ein schwieriges Unterfangen ist. Die Verfassungsnorm ist hier vielfach nur aus der Verfassungswirklichkeit zu erschließen, während sie im Bereich geschriebener Verfassungen den Ausgangspunkt bildet, an dem die Abweichungen der Wirklichkeit zu messen sind. Doch gibt es auch in Gesellschaft und Wirtschaft für einzelne Bereiche schon länger Grundgesetze, in denen teils ältere Gewohnheiten, teils ein bestimmter politischer Wille und soziale und wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen sich zu positiven Normen verdichten. Am bekanntesten sind die Zunftordnungen, die schon im Mittelalter den Kleingewerben einzelner Städte und Territorien eine Verfassung setzen, in England seit dem 16. Jahrhundert zum Teil sogar das ganze Land umfaßten und im 19. und 20. Jahrhundert in die Gewerbe- und Handwerksordnungen übergingen. Ein solches partielles Grundgesetz, das Allgemeine Berggesetz für die Preußischen Staaten vom 24. Juni 1865, soll hier in seinen Ordnungsprinzipien und in seiner Stellung in der Wirtschafts- und Sozialverfassung seiner Zeit betrachtet werden.

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II Das 19. Jahrhundert ist bekanntlich das Jahrhundert eines gewaltigen Umbruchs nicht nur aller wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sondern auch der Vorstellungen über ihre ideale Ordnung. An seinem Beginn stehen die von Naturrechtslehre und Aufklärung, von Physiokratie und Liberalismus erarbeiteten Grundsätze der individuellen Selbstbestimmung als der Grundlage von Freiheit und Glück, von privatem und gesellschaftlichem Nutzen. An seinem Ende zeichnen sich die Konturen einer neuen Auffassung von der Wirtschaftsund Sozialordnung ab, in der nicht mehr der einzelne, sondern die Gesamtheit der Bürger zum Maßstab gemacht ist, nach dem sich soziales und wirtschaftliches Handeln zu richten hat. Der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Privateigentums als der zentralen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institution des Liberalismus setzte sie die Forderung nach Gemeineigentum an Produktionsmitteln als der gerechteren Form gesellschaftlicher Organisation entgegen. Die Spannung von Individualismus und Kollektivismus wird so als wichtige Erbschaft des 19. Jahrhunderts unserer Zeit überliefert. Beide Ordnungsvorstellungen aber haben sich zunächst mit bestehenden, zählebigen und widerspruchsvollen Ordnungselementen auseinanderzusetzen. In dieser Auseinandersetzung haben die amerikanische und die französische Revolution den großen Durchbruch geschafft, indem sie das ältere, reich verschlungene Geflecht von personalen Bindungen und Privilegien außer Kraft setzten und dem neuen Prinzip von der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz zum Siege verhalfen. Die zunächst wesentlich politisch gemeinten Grundsätze der Freiheit, der Menschen- und Bürgerrechte hatten auch ihre soziale und wirtschaftliche Bedeutung, denn das eine ist ohne das andere nicht zu denken. Als Gewerbefreiheit, d. h. Freiheit der Niederlassung und Ausübung eines Gewerbebetriebs, als Bauernbefreiung, d. h. Umwandlung der vielgestaltigen älteren Grundherrschaftsformen in die des individuellen Grundeigentums, und als Freizügigkeit, d. h. Möglichkeit, sich sowohl räumlich wie sozial und wirtschaftlich innerhalb eines Staatsgebietes frei zu bewegen, finden diese revolutionären Prinzipien ihren wirtschaftlichen und sozialen Niederschlag. In Preußen sind sie während der Reformzeit zu Grundsteinen einer neuen Wirtschafts- und Sozialverfassung geworden. Das Edikt über den freien Gebrauch des Grundeigentums vom 9. Oktober 1807 und das Gewerbesteueredikt vom 28. November 1810 haben die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Freiheiten trotz mancher Einschränkungen grundsätzlich ausgesprochen. Damit unterstanden die beiden tragenden Bevölkerungsschichten, die Bauern und Handwerker, in ihren wirtschaftlichen und sozialen Belangen dem neuen Prinzip der individuellen Selbstbestimmung. Bergbau und Hüttenindustrie blieben jedoch — ebenso wie die Gewerbe der durch den Wiener Kongreß neuerworbenen Landesteile — von der Neuordnung ausgeschlossen. Hier herrschten die jeweils bestehenden Gesetze fort. Nach 1815 galten in Preußen noch zwölf verschiedene Bergordnungen des 16. bis 18. Jahr© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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hunderts, ergänzt durch das Allgemeine Landrecht, daneben aber in den linksrheinischen Gebieten das französische Berggesetz von 1810 und in einzelnen Teilen wie Vorpommern und der Insel Rügen das Gemeine Recht. Wie sich das praktisch auswirkte, mögen zwei Beispiele aus den westlichen Landesteilen erhellen: Während für den größeren Teil des Ruhrgebiets die revidierte cleve-märkische Bergordnung von 1766 galt, die 1803 auch in EssenWerden eingeführt worden war, stand die ehemalige Reichsstadt Dortmund allein unter dem Gesetz des Allgemeinen Landrechts, die Herrschaft Broich mit dem Kirchspiel Mühlheim unter der jülich-bergischen Ordnung von 1719, das Vest Recklinghausen unter der kurkölnischen Bergordnung von 1669; dort besaß zudem der Herzog von Arenberg als Standesherr das Bergregal, konnte also Bergwerkseigentum verleihen und Steuern — den Bergzehnten — erheben. Das Entscheidende für unsere Fragestellung ist daran jedoch nicht die Rechtsungleichheit, sondern die Verschiedenheit der wirtschaftsordnenden Prinzipien und Institutionen. Das Oberbergamt Dortmund, dem alle diese Gebiete unterstanden, hatte nach ganz verschiedenen wirtschaftlichen Grundsätzen zu verfahren. Im Bereich der cleve-märkischen Ordnung und des Landrechts leiteten nach dem „Direktionsprinzip" die Bergbehörden sämtliche Bergwerke, auch die privateigenen, selbst; ebenso hatten sie die Knappschaften der Bergleute direkt zu verwalten. In Mühlheim aber stand ihnen nur das Aufsichtsrecht zu. Knappschaften gab es dort bis 1842 nicht. Noch schwieriger war die Situation für das Oberbergamt Bonn. Der Aachener Bergbau unterlag napoleonischem Recht und war der staatlichen Aufsicht fast völlig entzogen. Im ehemaligen Fürstentum Siegen galt die nassau-katzenellenbogische Bergordnung aus dem Jahre 1559, in deren Bereich sich nur eine sehr milde behördliche Kontrolle ausgebildet hatte und von Preußen auch eingehalten wurde. In dem größeren Teil seines rechtsrheinischen Verantwortungsbereichs herrschte aber die kurkölnische Ordnung von 1669, die ebenso wie die cleve-märkische, die schlesische und die magdeburg-halberstädtische die direkte Leitung des Bergbaus forderte2. Der Bergbau nahm somit nicht nur als Ganzer an der Neuordnung der Wirtschafts- und Sozialverfassung nicht teil, er unterlag auch je nach der Zufälligkeit der territorialen Herkunft und des politischen Schicksales des Raumes, in dem er sich befand, verschiedenen Ordnungsgesetzen. Das hatte sehr konkrete wirtschaftliche und soziale Auswirkungen. So setzten die Bergämter Bochum und Essen die Produktionshöhe, den Preis und das Absatzgebiet der meisten der Ruhrzechen fest. Konkurrenz war ausgeschlossen, zumal die Behörden sich von dem Gesichtspunkt leiten ließen, daß jede Zeche bestehen müsse, die Preise also je nach Lage differierten und die leistungsfähigeren daran gehindert wurden, schneller voranzuschreiten als es für die Mehrzahl der Kleinzechen verträglich schien. Nur wenige Kilometer entfernt konnten jedoch unter fast gleichen geologischen und Standortsbedingungen andere Gewerkschaften ungehindert über Produktionshöhe, Preis und Absatz entscheiden, ganz abgesehen davon, daß andere Reviere wie das Aachener dieser Staatskontrolle nicht unterlagen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ebenso hatten die Bergleute mit ganz unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen bei ihrer Arbeit zu rechnen. Gehörten sie in dem einen Gebiet zu einer Knappschaft, die ihnen notdürftigen Unterhalt bei Krankheit, Unfall und Invalidität gewährte, so waren sie anderswo freie Lohnarbeiter. Setzte hier das Bergamt ihren Normallohn fest und überwachte auch den Abschluß des Gedinges, blieb es ihnen dort überlassen, Arbeitsbedingungen und Lohn mit dem Arbeitgeber auszuhandeln. Aber nicht nur das. Sogar innerhalb des Bereichs einer Bergordnung unterlagen sie je nach dem Grad ihrer Zugehörigkeit zur Knappschaft sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen. So gab es nach der westfälischen Knappschaftsordnung von 1824 drei Gruppen, die Knappschaftsmitglieder 1. und 2. Klasse und die Bergtagelöhner. Sie unterschieden sich nicht nur in der Höhe der Leistungen der Knappschaftskasse — für die Tagelöhner, die ihr nicht angehörten, wurde als Ersatz ein Bergtagelöhnerkurfonds gegründet —, sondern vor allem in der Verfügung über ihre Arbeitskraft. Die Knappschaftsmitglieder besaßen keine Freizügigkeit und kein Mitspracherecht über ihren Lohn, die Tagelöhner verfügten über beides. Das führte bei dem großen Konjunkturaufschwung der fünfziger Jahre dazu, daß sie doppelt soviel verdienten wie die Bergknappen, die doch die eigentliche Stammbelegschaft und Träger der bergmännischen Standesehre bildeten3. Nachdem schon früher viele Bergleute aus der Knappschaft ausgeschieden waren, z. Β. wenn sie die Zeche oder das Revier wechseln wollten und die Erlaubnis des Bergbeamten nicht bekamen, weigerten sich nun junge Bergleute überhaupt, der Knappschaft beizutreten. Die oft so hochgepriesene Knappschaftsordnung mit ihrer staatlichen Lenkung war somit zu einem Element der Unordnung geworden, was alle Beteiligten — Bergverwaltung, Bergwerksbesitzer und Bergleute — mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts auch zunehmend als unerträglich empfanden.

IΙΙ Die Bestrebungen nach einer Neuordnung setzten nun von zwei Seiten und unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten ein. Am Beginn stand der Wunsch der preußischen Staatsregierung, das Recht im ganzen neuen Hoheitsgebiet zu vereinheitlichen. Daher sollte das Allgemeine Landrecht einer Revision unterworfen werden. Im Zuge dieser umfassenden Reform erhielten Justiz- und Innenministerium 1826 den Auftrag, eine Neufassung der bergrechtlichen Teile des Allgemeinen Landrechts auszuarbeiten4. Dabei zeigte sich bald, daß auch die Bergordnungen in die Revision einbezogen werden mußten. Das Bergrecht wurde daher aus der allgemeinen Gesetzesrevision herausgenommen und seine Bearbeitung einer besonderen Kommission übertragen. Schon bei der Beratung der ersten beiden Entwürfe in den Jahren 1832 bis 1835 wurde jedoch klar, daß keine Einigkeit über die leitenden Prinzipien einer solchen Reform bestand. Während in den Ministerien selbst und bei einzelnen Bergverwaltungen die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ansicht vorherrschte, daß das Bergrecht den Grundsätzen des Gewerberechts angeglichen werden müsse, daß also die freie Verfügung der Eigentümer über die wirtschaftliche und technische Verwaltung ihres Eigentums sowie die Gleichstellung der Bergleute mit den übrigen Arbeiterkategorien herzustellen sei, hielt die Mehrheit der höheren Bergbeamten an der Ansicht fest, daß der Staat die Leitung des Bergwesens nicht aus der Hand geben könne. „Die Gewerken seien nicht imstande, ihren Grubenbetrieben selbst vorzustehen", urteilte das Oberbergamt Dortmund noch 1838 in einer Stellungnahme zur Reform5 und schloß sich damit der Meinung an, die das ganze 18. Jahrhundert über in der preußischen Verwaltung geherrscht und einen ihrer beredtesten Fürsprecher in dem Freiherrn vom Stein gefunden hatte. Bis zur Mitte des Jahrhunderts kamen zwar sieben Entwürfe eines Allgemeinen Berggesetzes zustande, die abwechsend auf dem Direktions-Prinzip und dem einer gemäßigten, kontrollierten Marktwirtschaft beruhten, keiner aber wurde ausgeführt. Inzwischen setzte der Ruf nach einer Reform von anderer Seite ein, von den Bergbautreibenden selbst. Es waren zunächst nur einige, aber sie besaßen Gewicht, denn es handelte sich um die führenden Unternehmer ihrer Branche, Männer wie Haniel und Harkort benutzten ihre Stellung als Gewerken oder als Abgeordnete, um die Behörde wieder und wieder auf die Notwendigkeit einer liberalen Bergverwaltung hinzuweisen. Haniel hatte in den dreißiger Jahren als Vertreter der Gewerkschaft der Zeche Schölerpad einen jahrelangen Kampf um die Tiefbaugenehmigung mit den Bergbehörden, der bis vor den König getragen worden war, glücklich zu Ende geführt. Er hatte als Kohlenhändler die Absatzchancen gesehen, die im Ausbau der Verkehrswege lagen und die eine Erhöhung der Kohlenproduktion möglich machten6. Harkort hatte die volkswirtschaftliche Bedeutung der Grundstoffindustrie erkannt und vorgestellt, daß man nicht sie allein in den Fesseln einer vorindustriellen Wirtschaftsordnung belassen könne. Die Revolution von 1848/49 ließ die Ausführung der Reform noch dringlicher erscheinen. Um keine Zeit zu verlieren, legte daher die Staatsregierung mehrere Novellen, insgesamt 14, vor, die Schritt für Schritt den Bergbau und das Hüttenwesen in die Verantwortung der Eigentümer überführen und den Weg zu einer umfassenden Neuordnung bereiten sollten. 1851 trat das Miteigentümergesetz in Kraft, das den Gewerkschaften eine eigene Repräsentanz verschaffte und sie damit handlungsfähiger als bisher machte. 1854 folgte die Neuordnung des gesamten Knappschaftswesens. 1860 erhielten die Bergarbeiter die Freizügigkeit, und 1861 wurden die Bergämter, die bis dahin die direkte Leitung des Bergbaus innegehabt hatten, aufgehoben. Die bergpolizeiliche Aufsicht übernahmen die Oberbergämter, die Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Berghypothekenkommissionen, die übrigen Aufgaben fielen weg. Das Hüttenwesen kam aus der Kompetenz der Bergbehörden in die der allgemeinen Verwaltungsbehörden. Es unterstand fortan nicht mehr der Bergordnung, sondern der Gewerbeordnung. Im gleichen Jahr beauftragte der Handelsminister v. d. Heydt den Bonner © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Oberbergrat Brassen mit dem Entwurf eines allgemeinen Berggesetzes für die preußischen Staaten. Brassert hatte sich durch mehrere Veröffentlichungen als ausgezeichneter Kenner des Bergrechts ausgewiesen und 1860 zusammen mit Heinrich von Achenbach, dem späteren preußischen Handelsminister und damaligen Professor an der Universität Bonn, die Zeitschrift für Bergrecht gegründet. Sein Entwurf, ein Gesetzeswerk von großer Geschlossenheit des Gedankenganges und außergewöhnlicher sprachlicher Durchsichtigkeit, war seit 1863 Gegenstand einer sehr lebhaften öffentlichen Diskussion und passierte, nachdem er nochmals revidiert worden war, zu Beginn des Jahres 1865 die gesetzgebenden Körperschaften, so daß er im Juni des gleichen Jahres in Kraft treten konnte. Damit war ein Gesetz geschaffen, das ähnlich wie die Bergordnungen des 18. Jahrhunderts zu einem Grundgesetz des preußischen Bergbaus für ein ganzes Jahrhundert werden sollte, denn es gilt trotz zahlreicher Novellen noch heute in den ehemals preußischen Gebieten der Bundesrepublik. IV Versuchen wir nun, in wenigen Strichen zu skizzieren, nach welchen Grundsätzen es den Wirtschaftsablauf und die sozialen Beziehungen im Bergbau ordnete und welche Stellung es in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts einnahm. Die Reform eines bestehenden Rechts geht selten von abstrakten Prinzipien oder von den idealen Forderungen aus, die die Konstrukteure eines wirtschaftlichen und sozialen Handlungsmodells erheben mögen, sondern orientiert sich sehr wesentlich an dem Bestehenden. Das taten auch die Reformer des preußischen Bergrechts. Als Vorbilder dienten zwei in vielem polare Ordnungssysteme, die beide bereits auf preußischem Boden in Kraft waren: die alten deutschen Bergordnungen, die Brassert in den 50er Jahren selbst gesammelt und ediert hatte, und das napoleonische Berggesetz von 1810. Zwischen beiden suchten Brassert und seine Mitarbeiter zu vermitteln, aus beiden ein besseres Neues zu machen. Es zeugt von der Klarheit ihres Denkens, daß sie dabei nicht der Gefahr erlagen, unvereinbare Ordnungsprinzipien miteinander zu vermengen, sondern daß sie aus jedem ihrer Vorbilder das gewannen, was der eigenen Grundposition entsprach, einer Position, die als die eines gemäßigten Liberalismus gekennzeichnet werden kann, wenn man unter liberal das Prinzip der Selbstverantwortung des freien Bürgers versteht. Dieser Selbstverantwortung einen möglichst breiten Raum zu gewähren, war in der Tat die wesentliche Absicht ihrer Reform. So übernahmen sie aus dem französischen Recht die Beschränkung der staatlichen Aufsicht auf die hoheitlichen, rechtlichen und polizeilichen Aufgaben, das sogenannte Inspektionsprinzip, aus dem deutschen jedoch die Institution der Bergbaufreiheit, die jedem Bergbauwilligen das Schürfrecht und nach dem Zeitpunkt seiner Mutung einen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anspruch auf die Verleihung der Bergbauberechtigung zuspricht, während das französische Recht die Verleihung ganz in das Ermessen der Behörde stellte und damit ein Konzessionssystem schuf, das zum Vorbild vieler sozialistisch oder zentralverwaltungswirtschaftlich orientierter Berggesetze geworden ist. Enthielt hier das französische Recht nach der Auffassung der preußischen Bergrechtsreformer zuviel der staatlichen Willkür, so sprach es andererseits nach vollzogener Verleihung den Bergwerkstreibenden zu große Freiheiten zu. Denn es hatte aus dem Code Civil den naturrechtlich vertieften Eigentumsbegriff des Römischen Rechts übernommen. Napoleon selbst hatte bei der Vorbereitung des Gesetzes im Staatsrat darauf bestanden, daß dem Bergwerkseigentum die ganze Unverletzlichkeit und Heiligkeit dieses Privateigentums beigelegt, daß dem Bergwerkstreibenden das Recht zugesprochen werde, damit nach Belieben zu schalten. Wie ein Müller seine Mühle stillegt, wenn sie ihm keinen Gewinn mehr verspricht, so sollte auch der Bergmann das Bergwerk verlassen dürfen, wenn es sein privates Interesse verloren hatte7. Die preußische Bergrechtsreform folgte in diesen entscheidenden Fragen der Verleihung und Ausübung des Bergeigentums dem französischen Recht nicht, sondern schlug einen konsequenten Mittelweg zwischen den gebundenen Eigentumsformen des alten deutschen Rechts und dem römischrechtlichen Privateigentum ein. Sie verstand das Bergwerkseigentum als eine Gewerbeberechtigung, die der Staat zur Ausnutzung des volkswirtschaftlichen Vermögens der bergbaulichen Mineralien unter gewissen, gesetzlich genormten Bedingungen verleihen mußte, deren Ausübung aber in einer ebenfalls gesetzlich festgelegten Weise vom Staat kontrolliert wurde, damit die privaten Interessen der Berechtigten mit den höheren der Allgemeinheit nicht kollidierten. Brassert hatte daher in seinem Entwurf des Gesetzes an Stelle des Bergbaueigentums stets von der Befugnis zum Bergbau gesprochen. Erst in den Beratungen des Abgeordnetenhauses war der Eigentumsbegriff selbst aufgenommen worden, um das unbezweifelbare Eigentum an Bergwerksgebäuden und -einrichtungen richtig zu erfassen. Die Motive begründeten es aber klar im Sinne einer Berechtigung, und Brasserts maßgeblicher Kommentar verstärkt diese Interpretation. Die Einsetzung der Bergwerkstreibenden in die wirtschaftliche Selbstverwaltung bedeutete also für die in einer langen Tradition staatlicher Fürsorge erzogenen preußischen Beamten nicht den Rückzug des Staates aus der Verantwortlichkeit für das Ganze. Sie suchten vielmehr, die Eigenverantwortlichkeit der Wirtschaftenden und die höhere Verantwortlichkeit des Staates neu zu formulieren und gegeneinander abzugrenzen, sie bemühten sich, wie schon Eberhard Gothein erkannt hat, im Unterschied zu dem Gewerbesteueredikt von 1810, das lediglich ein negativer Akt der Gesetzgebung gewesen war, um eine „positive Regelung der Freiheit"8. Dem Staat kam danach neben der Rechtsprechung die sicherheitspolizeiliche Aufsicht und die Wahrung der öffentlichen Interessen zu, also die hoheitlichen Aufgaben, den Eigentümern die Leitung ihrer Unternehmen und die selbstverantwortliche Gestaltung der sozialen Beziehungen in ihrem Industriezweig. Um das eindeutig auszusprechen, hob das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Allgemeine Berggesetz das staatliche Bergregal auf, das in der Meinung der Zeit vielfach nicht als Hoheitsrecht, sondern als ein privates Nutzungsrecht des Landesherren angesehen wurde. Die sogenannten Privatregale der Standesherren blieben bestehen. Die Freiheit der Bergbautreibenden stieß aber auch weiterhin an ihre Grenze, wo sie „die Sicherheit der Baue, die Sicherheit des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter, den Schutz der Oberfläche im Interesse der persönlichen Sicherheit und des Öffentlichen Verkehrs" gefährdete. Hier wie überhaupt bei allen „gemeinschädlichen Einwirkungen" hatten die Bergbehörden einzugreifen. Und zu den gemeinschädlichen Einwirkungen gehörte nach wie vor jeder Raubbau. Zur Garantie dessen behielten sie das Recht, die Betriebspläne der Unternehmen vorher zu prüfen, eine Präventivvorschrift, die weder das angelsächsische, noch das französische, noch auch das Österreichische Bergrecht kannte. Aber die Leitung der täglichen Geschäfte, die unternehmerische Entscheidung, die Festsetzung der Preise und Löhne und der Abschluß des Arbeitsvertrages wurden den Bergbautreibenden überlassen. Um das zu erleichtern, reformierte das Allgemeine Berggesetz auch das bergbauliche Gesellschaftsrecht, indem es die Gewerkschaften zu handlungsfähigen juristischen Personen und deren Anteile, die Kuxe, bis dahin ideelle Teile eines immobilen Gemeinschaftseigentum zur gesamten Hand, zu beweglichen Sachen machte. Dem entsprach auf der Seite der Bergleute die Freiheit des Arbeitsvertrages einschließlich der Lohnverhandlungen und — wenigstens innerhalb des Gebietes einer Knappschaft — die Freizügigkeit. Damit war eine marktwirtschaftliche Grundordnung gesetzt, die der wirtschaftlichen Initiative des einzelnen weiten Raum gewährte, ohne doch den Staat aller Einflußmöglichkeiten zu berauben, denn wenn das „überwiegende öffentliche Interesse" es verlangte, konnte er nicht nur polizeilich, sondern auch wirtschaftlich eingreifen und die Bergbauberechtigten z. Β. zum Abbau zwin­ gen, ein Recht, das nach den alten Bergordnungen selbstverständlich gewesen war, seit Jahrzehnten jedoch nicht mehr ausgeübt wurde und gerade von Napoleon verdammt worden war.

V Es wäre nun aber falsch, die mit der Bergrechtsreform gesetzte neue Ordnung zu idealisieren. Ein so unbestreitbarer Fortschritt sie gegenüber den früheren Zuständen in fast jeder Beziehung war, so hatte sie doch auch ihre Schwächen, von denen sich einige sehr bald enthüllen sollten. Wirtschaftlich befreite sie zwar die Unternehmer von der Bevormundung durch den Staat und gab ihnen die Möglichkeit, ihre vollen Kräfte zu entfalten, setzte aber keinerlei Regeln für die Ordnung des Wettbewerbs. Wie allen Gewerbeordnungen des 19. Jahrhunderts fehlten ihr kartell-, konzern- oder monopolrechtliche Bestimmungen. Die Organisation des Wettbewerbs blieb ganz dem Belieben der Beteiligten überlassen. Das hatte schwerwiegende Folgen. Einmal © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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begünstigte es das extreme Ausschlagen der Konjunkturschwankungen mit allen seinen für die kapitalintensive Schwerindustrie besonders spürbaren Folgen, zum andern führte es bald zu einer starken Kartellierung des Bergbaus, die in der Gründung des rheinisch-westfälischen Kohlensyndikates 1893 ihren Höhepunkt fand. Es entsprach freilich ganz den herrschenden Überzeugungen am Ausgang des 19. Jahrhunderts, wenn die Wirtschaft die Ordnung des Wettbewerbs in dieser Weise selbst in die Hand nahm, so wie es durchaus begrüßt wurde, wenn sie sich in Interessenverbänden organisierte, deren wichtigste unter der Herrschaft der neuen Wirtschaftsverfassung ebenfalls in der Schwerindustrie entstanden: der Verein für die bergbaulichen Interessen im Gebiet des Oberbergamtes Dortmund 1858, der „Verein mit dem langen Namen", wie Bismarck den Zentralverband der gesamten rheinisch-westfälischen Industrie sarkastisch genannt hat, 1871. Aber schon am Ende des Jahrhunderts wurden die Gefahren einer Monopolisierung der Grundstoffindustrie offenkundig. Sowohl in militärischem wie in gesamtwirtschaftlichem Interesse versuchte daher der preußische Staat zunächst innerhalb der von ihm gesetzten und anerkannten Wirtschaftsverfassung wieder Einfluß auf den Bergbau zu gewinnen. Er kaufte Anteile der Hibernia, einer der größten Gesellschaften des Ruhrbergbaus, auf, stieß aber auf den entschlossenen Widerstand der privaten Wirtschaft. Erst im ersten Weltkrieg gelang eine Übereinkunft. Dann aber veränderte der Staat die Wirtschaftsverfassung selbst an einer entscheidenden Stelle. 1905 sprach er für alle noch unverliehenen Steinkohlen-, Kali- und Steinsalzfelder einen Staatsvorbehalt für 2 Jahre aus und erhielt ihn 1907 für ständig aufrecht9. Damit war der Anfang zu einer erneuten Verstärkung des staatlichen Elements in der Wirtschaftsverfassung des Bergbaus gemacht, eine Tendenz, die bis zum Ende des zweiten Weltkrieges anhalten sollte. Noch früher setzte sie allerdings in der sozialen Betriebsverfassung ein. Hier hatte der Mangel an staatlich gesetzten und kontrollierten Normen besonders für die Arbeitsverfassung schon in den 80er Jahren Gegenkräfte auf den Plan gerufen, nachdem er schon bei der Entstehung des Gesetzes gerügt und in anderen vergleichbaren Bergordnungen, etwa dem österreichischen Berggesetz von 1854, auch vermieden worden war. Das preußische Freizügigkeitsgesetz hatte den Arbeitsvertrag jedoch der freien Übereinkunft der Sozialpartner überlassen. Als Norm sollten ihm die Arbeitsordnungen dienen, die die Arbeitgeber nach eigenem Ermessen in ihren Betrieben festsetzen konnten. Zunächst mußten sie zwar von der Bergbehörde noch bestätigt werden; das Allgemeine Berggesetz forderte jedoch nur noch die Kenntnisnahme der Behörde. Es faßte die Arbeitsordnungen als eine „allgemeine Vertragsofferte" auf, die dem Arbeitnehmer vor Abschluß des Vertrages bekannt sei. Daß dies eine sehr formale, ja fiktive Auffassung war, wurde schon in der Reformdebatte erkannt. Der Wiener Oberbergrat und Professor der Rechte, Freiherr von Hingenau, einer der Verfasser des österreichischen Berggesetzes, wies in einer Kritik des Gesetzentwurfs darauf hin, daß kein Bergmann die Arbeits© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ordnungen vor Antritt der Arbeit zur Kenntnis nehmen werde und daß er keine Möglichkeit habe, auf den Vertragsabschluß zu verzichten, wenn sie ihm mißfalle. Das österreichische Gesetz hatte daher die Arbeitsordnung — hier Dienstordnung genannt — obligatorisch und von der Genehmigung des Bergamtes abhängig gemacht10 und hatte damit das erste Beispiel für die gesetzliche Regelung der sozialen Betriebsverfassung in einem modernen Gewerbegesetz gegeben. Der preußische Gesetzgeber beging einen folgenschweren Fehler, als er diesem Vorbild nicht folgte, „um das Rechtsverhältnis der Bergleute von den allgemeinen Regeln des Civilrechts nicht weiter zu entfernen, als sachlich und erfahrungsmäßig notwendig ist", wie es in den Motiven zum Gesetz hieß, und um kein Präjudiz für die Einführung des Begriffs der Arbeitsordnung in das preußische Gewerberecht zu geben, das ihn bis dahin nicht kannte11. An Streitigkeiten über die Arbeitsordnung entzündeten sich nämlich die großen Streiks von 1872, 1889 und 1905, die ihn dazu zwangen, die innerbetriebliche Sozialverfassung im Bergbau zu überprüfen und die beiden ersten großen Novellen zum Allgemeinen Berggesetz zu erlassen. Nachdem schon vorher Klagen über die Ausdehnung der Arbeitszeit durch das Ausklammern der Ein- und Ausfahrt und über die Verschärfung der Arbeitsbedingungen laut geworden waren, spielten bei den Streiks neben Lohn- und Knappschaftsfragen die Arbeitszeit, die Behandlung durch die Vorgesetzen und das sogenannte Wagennullen, das Nichtanrechnen ungenügend gefüllter Wagen, eine bedeutende Rolle. 1892 schrieb daher eine Novelle das Vorhandensein von Arbeitsordnungen zwingend vor, ohne selbst schon Normen dafür zu setzen. 1905 wurden sie von der Zustimmung eines gewählten Arbeiterausschusses abhängig gemacht. Einzelne Gepflogenheiten, wie das Wagennullen, wurden ausdrücklich verboten. Haben mit der streng privatrechtlichen Regelung der Arbeitsbedingungen die Reformer also einen sozialen Konfliktherd ersten Ranges entstehen lassen, so haben sie andererseits mit dem Truckverbot und der Knappschaftsordnung zwei bedeutende sozialpolitische Leistungen vollbracht. Das Truckverbot ließ außer Wohnung, Landnutzung, Feuerung und regelmäßiger Beköstigung nur solche Formen der Warenentlohnung zu, die eindeutig als philanthropisch zu erkennen waren, etwa Lebensmittelabgaben in Notzeiten. Es verbot vor allem, Waren zu kreditieren, und ging darin viel weiter als die österreichische Reform, die nur die Aufnahme der üblichen Ablöhnungsverhältnisse in die Dienstordnung vorsah und damit die im älteren Bergbau sehr verbreitete Naturalentlohnung noch gestattete. Weit folgenreicher als das Truckverbot, das einen damals sozialpolitisch allgemein anerkannten Stand widerspiegelte, sollte das Knappschaftsgesetz von 1854 werden, das dann fast unverändert in das Allgemeine Berggesetz überging. Denn es verwirklichte zum ersten Mal Prinzipien, die zur Grundlage des gesamten deutschen Sozialversicherungssystems geworden sind, und ging hier sehr viel weiter als das österreichische Gesetz, das lediglich die alten Bruderladen aufrechterhalten hatte. Es unterwarf die Arbeiter eines bedeutenden Industriezweiges der Zwangsversicherung unter Beteiligung der Arbeitgeber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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und führte die Selbstverwaltung der Sozialpartner für diese Versicherung ein. Überdies verbesserte es die bisherigen Leistungen der Knappschaft nicht unerheblich, erhöhte z. B. das Krankengeld um 10—33%, den Zuschuß zu den Begräbniskosten um 25 % und das Invalidengeld um 20—60%, im Durchschnitt um etwa 40% 1 2 . Man sollte die Bedeutung des Knappschaftsgesetzes nicht zu gering anschlagen — etwa mit dem Hinweis, daß es ja Knappschaften im deutschen Bergbau schon immer gegeben habe, es also kein besonderes Verdienst gewesen sei, sie zu erhalten. Immerhin gab es sie nicht überall, auch nicht überall in Preußen. Dem napoleonischen Bergrecht waren sie z. Β. fremd, und in Frankreich bestanden ebenso wie in Belgien und England nur freiwillige Versicherungen auf Gegen­ seitigkeit. In der preußischen Bergreformdebatte ist die Einführung dieses Versicherungstyps, der einem konsequent liberalen Konzept besser entsprochen hätte, auch erwogen worden13. Daß sie nicht beschlossen wurde, hat dem ganzen deutschen System der Sozialversicherung seine Richtung gewiesen. Um so erstaunlicher erscheint, daß die Beschwerden der Bergarbeiter über die neue Sozialordnung im Bergbau gerade beim Knappschaftsgesetz einsetzten. Als die neuen Knappschaftsstatuten, die unter Beteiligung gewählter Arbeitervertreter beschlossen worden waren, an die Bergleute verteilt werden sollten, erhob sich „ein Sturm gegen die neue Einrichtung", der sich in der Verweigerung der Annahme, in Widersetzlichkeiten gegen Knappschaftsvorstände und Bergbeamte und in Petitionen bis zum König äußerte14. Es würde zu weit führen, hier die Gründe für dieses Verhalten zu erläutern. Bezeichnend ist, daß das ärgste Gravamen, das die Bergleute erhoben, darin bestand, daß sie in den Statuten als Bergarbeiter, nicht mehr als Bergleute bezeichnet wurden. Sie fühlten sich durch die Gleichstellung mit den Fabrikarbeitern tief in ihrer Standesehre verletzt. Für eine objektive Würdigung des Knappschaftsgesetzes besagt dieser Protest also wenig. Er zeigt aber, welchen Schwierigkeiten die Einführung neuer Ordnungsprinzipien noch in der sozialen Wirklichkeit der Mitte des 19. Jahrhunderts begegnete, denn für den „gemeinen Mann" der vorindustriellen Welt war das Alte stets das Bessere, das Neue dagegen verdächtig gewesen. In ganz ähnlicher Weise hatten die Bergleute gegen die Einführung der friderizianischen Knappschaftsordnung von 1767 und gegen die von 1824 protestiert, obwohl sie doch jeweils verschiedene Grundsätze verwirklichten. VI In seiner ganzen Bedeutung ist das Knappschaftsgesetz von den Betroffenen ganz ohne Zweifel nicht erkannt worden. Zeitgenossen wie Nachlebende konzentrierten sich in der Beurteilung der Bergrechtsreform fast stets auf die wirtschaftsordnenden Bestimmungen und betonten ihre von den herrschenden Strömungen der fünfziger und sechziger Jahre getragene liberale Tendenz. Eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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solche Beurteilung wird der preußischen Bergrechtsreform jedoch nicht gerecht. Wie jede echte Reform griff sie vielmehr weit in die Zukunft hinaus. In ihrem beschränkten Bereich hatte sie dieselbe Bedeutung wie die großen Reformgesetze der Stein-Hardenbergschen Ära für die politische, soziale und wirtschaftliche Verfassung Preußen-Deutschlands und wie die revolutionären Verfassungen der USA und Frankreichs in weltgeschichtlicher Sicht. Sie beseitigte nicht nur veraltete, unhaltbar gewordene Zustände, sondern setzte richtungsweisende Normen für die Zukunft. Innerhalb der preußischen Wirtschafts- und Sozialverfassung holte sie einerseits die 1806—1810 versäumte Liberalisierung der Montanwirtschaft nach und gliederte sie damit in die seit den Gewerbeordnungen von 1845 und 1869 und den Kodifikationen des Wirtschaftsrechts seit den vierziger Jahren gegebene bürgerliche Wirtschaftsordnung ein, nahm aber andererseits die in den achtziger Jahren begonnene Sozialisierung des Berufs- und Arbeitsrisikos mit Hilfe öffentlicher Sozialversicherungssysteme vorweg. Sie erweist sich somit als eine wichtige Klammer zwischen der vorrevolutionären und der modernen Wirtschafts- und Sozialverfassung. Damit aber beweist sie, daß das 19. Jahrhundert so revolutionär und traditionslos nicht war, wie es bei gröberer Betrachtung oft den Anschein hat. Indem sie einige wichtige Elemente aus der alten bergbaulichen Verfassung wie die Knappschaftsordnung oder die Bergbaufreiheit in die industrielle Welt übernahm, macht sie die verborgene Kontinuität auch in dem gewaltigen Umbruch offenbar, den die Industrialisierung für die ganze Menschheit gebracht hat. Sie zeigt damit aber auch, daß der wirtschaftliche Liberalismus des 19. Jahrhunderts in seiner konkreten Form sehr viele Ausprägungen besaß, daß das „Laissez-faire, laissez aller" dieses Jahrhundert keineswegs beherrschte, ja daß es Bereiche gibt, in denen es erst sehr spät oder gar nicht zum Zuge gekommen ist. Die Betrachtung der preußischen Bergrechtsreform kann uns somit sowohl eine Einsicht in die Vielgestaltigkeit der konkreten Wirtschafts- und Sozialordnung des 19. Jahrhunderts wie einen Begriff von der großen Tradition geben, auf der auch unsere so revolutionäre moderne Welt noch beruht. Das gilt nicht minder, wenn wir die Stellung der Reform innerhalb des Bergrechts der zivilisierten Welt betrachten. Von den vielen bergrechtlichen Kodifikationen der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts — in Sachsen, Nassau, Österreich, Spanien, Portugal, Sardinien, Schweden und England — ist sie die umfassendste und grundsätzlichste; ja es ist nicht zuviel gesagt, wenn wir sie als die bedeutendste ihres Jahrhunderts nach der napoleonischen von 1810 ansprechen. Wie diese ist sie zum Ausgangspunkt einer ganzen Reihe anderer Kodifikationen geworden. Nicht nur, daß die meisten der mittleren und kleineren deutschen Staaten, insgesamt 18, sie im Laufe der nächsten Jahrzehnte fast unverändert übernahmen, nicht nur, daß an sie alle Bemühungen um ein gemeinsames Bergrecht des Deutschen Reiches bis 1945 anknüpften — ihre Prinzipien und wichtigsten Bestimmungen wurden auch in andere Erdteile übertragen. Das japanische und mehrere südamerikanische Berggesetze sind auf dem preußischen aufgebaut. Dem Bergrecht der industriellen Welt hat das preu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ßische Gesetz für eines der beiden grundsätzlich möglichen wirtschaftlichen und sozialen Ordnungssysteme, das privat- und marktwirtschaftliche, vor allem zwei Prinzipien der alten Tradition vermacht, die als vorbildlich angesprochen werden können: die Institution der Bergbaufreiheit, die jedem Bergbauwilligen einen Anspruch auf Verleihung gibt, zugleich aber feste Normen für den Verfall dieses Anspruchs setzt, und den Grundsatz, daß im Bergrecht auch die Sozialordnung mitzusetzen ist. Gerade sie fehlen dem napoleonischen Gesetz ganz und sind in England oder den USA erst sehr spät und sehr stückweise nachgeholt worden. Zusammen mit dem österreichischen Gesetz von 1854 und dem sächsischen von 1868, deren Reformcharakter und Einflußgebiet jedoch geringer war, kann man somit die preußische Bergrechtsreform als den bedeutendsten deutschen Beitrag zur marktwirtschaftlichen Ordnung des Wirtschaftsund Sozialgefüges in einem der grundlegenden Bereiche der industriellen Welt bezeichnen.

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Die Bedeutung der preußischen Bergrechtsreform ( 1 8 5 1 - 1 8 6 5 ) für den industriellen A u s b a u des R u h r g e b i e t s Wohl keine Landschaft in Mitteleuropa und kaum ein Raum auf der Erdoberfläche ist von der Industrialisierung so heftig ergriffen und umgestaltet worden wie das Ruhrgebiet1. In wenigen Jahrzehnten hat sich sein Gesicht entscheidend verwandelt, sind Industriewerke und Städte emporgeschossen, haben sich Verkehrsnetze und Siedlungen ausgebreitet, wurden Landschaft, Wirtschaft und Bevölkerung in neue Zusammenhänge gestellt. Dieser Vorgang ist kaum hundert Jahre alt. Obwohl die Kohlevorkommen der Ruhrhänge seit dem hohen Mittelalter bekannt sind, obwohl in unmittelbarer Nähe, im Siegener Raum, schon in vorchristlicher Zeit Eisen gewonnen und noch naher, in den Tälern des Sauerlandes, seit dem späteren Mittelalter Eisen verarbeitet wird, sind das eigentliche Ruhrgebiet und das nördlich bis zur Lippe reichende Revier des heutigen Industriebezirks bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ausgesprochen agrarisch bestimmt geblieben. Noch 1840 haben Städte wie Essen und Dortmund erst 6000 bzw. 7000 Einwohner, existiert Oberhausen nur als Schloß und Wanne als Flurname. Noch 1840 ist, um ein anderes Beispiel zu nehmen, der Raum Dortmund ohne Hüttenwerk, die ganze Emscherlinie vom Bergbau noch nicht erfaßt. Die ersten Eisenbahnen werden 1847 eröffnet. Als der Engländer Banfield um diese Zeit das Rheinland und der Schriftsteller Levin Schücking zu Beginn der 50er Jahre Westfalen bereiste, fanden sie das Land des heutigen Industriereviers fast so verträumt vor wie der Polizeidirektor Justus Gruner oder der Pfarrherr Johann Moritz Schwager fünfzig Jahre zuvor2. Die Stiche und Aquarelle dieser Zeit zeigen eine träge dahinziehende Ruhr mit Büschen, Weiden und ländlichen Herrenhäusern, aber nur wenigen Stauwerken, ein ödes, versumpftes, von wenigen Stegen und Brücken durchkreuztes Land um die Emscher und, eher romantisch verklärend als prägend, spärliche industrielle Kulissen: die mechanische Werkstätte Harkorts auf Burg Wetter oder die Kruppsche Gußstahlfabrik in Essen3. Auf einer Steinzeichnung von 1841 sieht man Dortmund von Osten noch mit Wall und Graben umgeben, mit seinen beherrschenden drei Kirchtürmen, die nur wenige Schritte vom Stadtrand liegen, und einer Windmühle auf halbem Wege zwischen Dortmund und Hörde. Auch 13 Jahre später, 1854, wagen sich auf einem Gemälde, das Dortmund von Norden zeigt, erst schüchtern vier oder fünf Fabrikschornsteine hervor4. Seit den fünfziger Jahren verändert sich dieses Bild jedoch schnell. Von 1850 bis 1856 verdoppelt sich die Roheisenproduktion im Ruhrgebiet alle zwei Jahre. Obwohl sie in der Krise von 1857/58 wieder abnimmt, ist sie 1860 fast zwölfmal so groß wie zehn Jahre zuvor, die Eisenerzförderung sogar 12½mal. 11 Fischer, Wirtschaft

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Die Kohlenförderung steigt in der gleichen Zeit zwar „nur" reichlich auf das Zweifache, die Zahl der Bergarbeiter etwas stärker von 12 700 auf 28 600, auf das 2½fache. Aber auch hier war der Anstieg bis zum Ausbruch der Krise noch größer gewesen. Nach ihrer Überwindung setzte er sich beschleunigt fort. In den 60er Jahren wuchs die Kohlenförderung um 170 % und erreichte damit die höchste Zuwachsrate eines Jahrzehnts in der ganzen Geschichte des Ruhrgebiets. Die Zahl der Beschäftigten nahm nicht mehr im gleichen Umfang zu, weil die technischen Fortschritte der Tiefbauzechen die Arbeitsproduktivität erheblich verbesserten. Während der ersten Hälfte des Jahrhunderts hatte die Jahresförderung pro Beschäftigtem zwischen 107 und 144 t geschwankt, 1850 war sie auf 154 t gestiegen; 1870 betrug sie 228 t. Insgesamt zählte der Ruhrbergbau nun über 50 000 Arbeiter, das waren knapp doppelt soviel wie zehn Jahre zuvor, das Vierfache der Zahl von 1850 und das Siebzehnfache von 18155. Die ersten Jahre nach dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg brachten einen neuen, großen Anstieg. In der Schwerindustrie mit ihren langfristigen Planungen wirkte er sich zwar mehr in der Zahl der Neugründungen und Investitionsvorhaben als in der Produktionssteigerung aus, immerhin stieg die Kohlenförderung im Ruhrgebiet von 1870 bis 1873 um fast 40 % oder absolut um 4,6 Millionen Tonnen; das war mehr, als die ganze Produktion des Jahres 1860 betragen hatte. Nicht ganz im gleichen Ausmaß schnellte die Roheisenproduktion in die Höhe. Ihr Zuwachs betrug nur reichlich 3 0 % , absolut 117 400 Tonnen, was etwa der Jahresproduktion von 1856 entsprach. Es braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden, wie dieses industrielle Wachstum bis auf kurze, konjunkturbedingte Unterbrechungen bis zum ersten Weltkrieg anhielt. Erst seit den 80er Jahren bekam das Ruhrgebiet sein heutiges Gesicht, stieß der Bergbau in die Lippezone vor und holte sich seine Arbeiter aus den östlichen Provinzen. In absoluten Zahlen übertraf der Anstieg das Vorhergegangene noch bei weitem. Von 1887 auf 1888 erreichte z. B. der Förderungszuwachs die Höhe der gesamten Kohlenproduktion des Jahres 1855, und von 1912 auf 1913 war der Zuwachs so groß wie die Produktion von 1870. Im letzten Vorkriegsjahr förderten im Ruhrrevier 400 000 Bergleute 114 Millionen Tonnen Kohle; das war ebensoviel, wie ihre Vorfahren in den 75 Jahren von 1792 bis 1867 zutage gebracht hatten, ein Ausstoß, der übrigens nach dem ersten Weltkrieg erst 1927 und nach dem zweiten Weltkrieg 1952 erreicht und auch im Jahr der höchsten Förderung überhaupt, 1941, mit 130 Millionen Tonnen nicht mehr sehr wesentlich übertroffen worden ist. Prozentual stiegen jedoch weder Kohlenförderung, noch Belegschaft, noch Roheisenproduktion — um nur drei Schlüsselzahlen zu nehmen — jemals wieder so stark an wie in den beiden Jahrzehnten von 1850 bis 1870. In ihnen hat sich im Ruhrgebiet das ereignet, was Rostow den „take off" des wirtschaftlichen Wachstums nennt, die entscheidende Zäsur, die das vorindustrielle vom industriellen Zeitalter trennt6. Fragt man nach den auslösenden Faktoren dieses Prozesses, so bieten sich mancherlei Erklärungen an: wirtschaftliche, soziale, politische, technische, geo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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graphische und geologische, wenn man will auch geschichtsphilosophische. Hier seien nur zwei angeführt. Zunächst ist an einige langfristige, gesamtwirtschaftlich wirkende Kräfte zu denken, die in England, auf dem europäischen Kontinent, in Nordamerika und den entwickelteren Kolonialgebieten die wirtschaftlichen und sozialen Größenverhältnisse und Strukturelemente seit geraumer Zeit zu ändern begannen. Soweit unsere Statistiken zurückreichen, können wir in den wichtigsten Ländern der Erde schon im späten 18. Jahrhundert ein zwar langsames, doch spürbares Wachsen der Volkswirtschaften verzeichnen7. Landwirtschaft, Gewerbe, Handel und Verkehr waren dabei in den verschiedenen Regionen unterschiedlich beteiligt. In den führenden Gebieten, wie Großbritannien und dem Nordwesten der Vereinigten Staaten, kam dem internationalen Handel offenbar eine „strategische" Rolle zu, d. h., er war der eigentlich vorwärtsdrängende, Innovationen auslösende Faktor. Aber in Frankreich scheint ein nicht minder anhaltendes Wachstum hauptsächlich von Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft getragen worden zu sein, und ähnliches trifft sicher für große Teile Mitteleuropas zu. Vergleichende Untersuchungen legen nahe, daß dieses langsame, über kurze Perioden kaum spürbare vorindustrielle Wirtschaftswachstum in bestimmten, chronologisch ziemlich gutfaßbaren Zeiträumen in ein schnelles, qualitativ anderes Wachstum übergegangen — oder hegelisch ausgedrückt — umgeschlagen ist. Das tritt weniger hervor, wenn man große Räume, etwa die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, als Einheiten nimmt, ist aber sehr deutlich, wenn man einzelne Regionen und Industriezweige als Innovatoren genauer betrachtet. Die klassischen Fälle sind die britische Baumwoll- und Eisenindustrie. Die Einfuhr von Baumwolle nach Großbritannien verdoppelte sich in dem Jahrzehnt von Beginn der 1770er bis zum Beginn der 1780er Jahre, in den zwei Jahrzehnten von 1780 bis zur Jahrhundertwende versechsfachte sie sich. Die Roheisenproduktion verdoppelte sich in den acht Jahren von 1788 bis 1796 und nochmals in den zehn Jahren von 1796 bis 18068. Das sind die Auswirkungen eines Vorganges, den man im allgemeinen mit „industrieller Revolution" bezeichnet. Diese industrielle Revolution, ob man sie nun vorwiegend wirtschaftlich oder mehr sozial oder, wie es sehr oft geschieht, technisch auffaßt, ist sicher der entscheidende Hintergrund aller jener Wandlungen gewesen, die zur Entstehung der industriellen Gesellschaft geführt haben. Aber sie ist selber keine letzte Ursache, sondern läßt sich wiederum auflösen in eine ganze Reihe von bewirkenden Faktoren. Greifen wir hier die für die Großindustrie besonders wichtigen technischen heraus. Der Ersatz der Holzkohle durch Koks beim Erschmelzen des Roheisens (seit 1735) und der Puddelprozeß für die Stahlgewinnung (seit 1784) sind die beiden wichtigsten Erfindungen in der Eisenindustrie des 18. Jahrhunderts gewesen, der Einsatz der Dampfmaschine für die Wasserhaltung der Bergwerke der entscheidende Schritt im Bergbau. Aber die technischen Erfindungen erklären nicht alles. So wichtig auch die Kenntnis der geologischen und technologischen Bedingungen für eine Bewertung des gegenüber England, Nordfrankreich, Belgien, aber auch Oberschlesien verspäteten Einsatzes der Indu11*

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strialisierung des Ruhrgebiets ist — war doch die fettarme Kohle des ältesten, südlichen Teils des Reviers zur Verkokung kaum geeignet und mußte daher erst die Mergelschicht durchstoßen werden, um die Ruhrkohle zum Ausgangsprodukt einer Großeisenindustrie werden zu lassen9 —, so wenig kann doch allein von daher erklärt werden, daß z. Β. der erste Hochofen mit Steinkohlenkoks an der Ruhr erst 1850 angeblasen wurde, daß hier noch 1852, nachdem die Koksverhüttung seit einem Jahrhundert bekannt war, von zwölf Hochöfen zehn auf gemischten Betrieb mit Holzkohle und Koks eingerichtet waren und nur zwei ausschließlich für Koks. Wenn dann aber der Ersatz der Holzkohle durch Koks binnen fünfzehn Jahren fast vollständig gelang — 1848 wurden 100 % des Roheisens mit Holzkohle hergestellt, 1863 1,3% 10 —, dann waren dabei offenbar noch andere Faktoren am Werk als die plötzlich so überraschend günstige Kombination von verkokbarer Kohle und nahegelegenem Kohleneisenstein11. Sie können hier nicht in extenso vorgeführt werden. Das Ziel dieses Vortrags ist vielmehr, eine einzige Bedingungskonstellation herauszuheben und in ihrer Bedeutung für den industriellen Ausbau des Ruhrgebiets zu erörtern: die eigentümliche Verfassung, die dem Bergbau- und Hüttenwesen durch das ältere Bergrecht bis 1851 auferlegt war, und ihre allmähliche Umwandlung durch die Bergrechtsreform der Jahre 1851 bis 1865. Ich sagte mit voller Absicht „eigentümlich". Denn so selbstverständlich die meisten Autoren der Geschichte des Ruhrgebiets wie des deutschen Bergrechts die vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialverfassung des preußischen Bergbaus auch hinnehmen, so sonderbar wirkt sie doch, wenn man sie mit anderen Rechtsbereichen vergleicht, sei es dem allgemeinen Gewerberecht, sei es dem Bergrecht außerhalb des Einflußgebietes der sächsischen Bergordnungen des 16. Jahrhunderts, dem auch die preußischen Bergordnungen zuzuordnen sind. Nirgends nämlich außerhalb des sächsischen und preußischen Bergrechtsgebietes — weder in England und den USA, noch in Frankreich, noch auch in Süddeutschland oder Österreich — ist es zur Ausbildung jenes eigentümlichen „Direktionsprinzips" gekommen, das die mittel- und westdeutschen Reviere über mindestens ein Jahrhundert geprägt hat. Es besagt, daß der gesamte Bergbau eines Herrschaftsgebietes, auch der privateigene, der direkten Leitung der landesherrlichen Bergbehörden untersteht, daß, wie es am extremsten die cleve-märkische Bergordnung von 1766 formuliert, „unter des Berg-Amtes Direction alle Zechen betrieben" werden müssen und den Eigentümern nach Worten, die in der Reformdebatte gefallen sind, nur übrigbleibt, „Geld zu geben oder zu nehmen"12. Für gewöhnlich wird dieses Direktionsprinzip aus dem Bergregal hergeleitet, einem Rechtsinstitut, das, wie viele Institutionen der älteren Herrschaftsordnung, weder eindeutig dem öffentlichen noch dem privaten Recht zuzuordnen ist und zunächst nichts weiter bedeutet, als daß der Regalherr über die Nutzung des Regals zu bestimmen hat. Aber dieses Bergregal gab es auch anderswo; es ist zumindest gemeindeutsch, während das Direktionsprinzip sich nur in wenigen Territorien durchgesetzt hat. Immerhin war es möglich, und das muß als der Normalfall angesehen werden, daß das Bergregal wie die anderen lan© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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desherrlichen Regalien bei der Ausbildung des modernen Territorialstaates eindeutig zu einem nutzbaren Hoheitsrecht wurde, das die Grundlage für eine Besteuerung bildete, ohne indes in die Eigentumsrechte der Untertanen so einzugreifen, wie das das sächsische und das preußische Bergrecht taten. Ebenso konsequent ist die andere Auffassung, die bei den Juristen des 19. Jahrhunderts vorherrschte und nach der das Regal als ein privates Nutzungsrecht des Regalinhabers angesehen werden muß, das dann wirtschaftlich ein Monopol begründete. Die Salzmonopole, die die meisten deutschen Landesherren über Jahrhunderte ausübten, können als eine solche Auslegung der Regalität aufgefaßt werden. Dieser Auffassung entspricht es, wenn die Berg- und Hüttenwerke nicht nur in staatlicher Regie, sondern im Eigentum des Landesherrn als des Regalinhabers stehen. Das war in manchen süddeutschen Territorien der Fall, z. B. in Nassau-Saarbrücken, wo der Landesherr in der Mitte des 18. Jahrhunderts die privaten Gruben auf Grund des Bergregals einzog, um sie selbst zu betreiben, und jedermann bei schwerer Strafe verbot, Steinkohlengruben zu eröffnen13. Der preußische Staatsbergbau des Saargebietes hat hier seinen Ursprung; er liegt sozusagen in der Kleinstaatlichkeit des deutschen Südwestens begründet, wo der Landesherr sehr viele anderswo grundherrliche Rechte für sich beanspruchen konnte, weil die Kleinräumigkeit seines Territoriums ihm einerseits die direkte Aufsicht über Unternehmungen gestattete, die der Herr eines ausgedehnten Territoriums schon aus praktischen Erwägungen anderen überlassen mußte, und weil die geringe Ertragskraft der „hoheitlichen" Gefälle in diesen Duodezstaaten die Landesherren andererseits auf die Nutzung sonst „privater" Rechte besonders hinwies. Eine andere, ja gegenteilige Rechtslage herrschte in Schlesien. Hier waren in der österreichischen Zeit weder Eisenerz noch Steinkohlen als Regalien angesehen worden; ihre Ausbeutung fiel in die Prärogative der Grundherren. Die preußische Regierung erzwang zwar gegen den entschlossenen Widerstand der schlesischen Grundherren die Unterwerfung dieser Gruben unter den Bergzehnten, beanspruchte also ein nutzbares Hoheitsrecht an ihnen, griff aber in ihre Wirtschaftsführung nicht ein. Der preußische Staatsbergbau Oberschlesiens beruht vielmehr auf dem Grundbesitz des Königs, und die große Rolle der standesherrlichen Unternehmungen in der oberschlesischen Montanindustrie läßt sich auf den gleichen Grund zurückführen14. Beide Lösungen, die staatliche Beanspruchung des Eigentums auf Grund des Regals und die Beschränkung des staatlichen Anspruchs auf das Besteuerungsrecht, sind in sich konsequent. Als ungewöhnlich und inkonsequent aber muß angesprochen werden, wenn ein Landesherr zwar das private Eigentum seiner Untertanen an den ordnungsgemäß verliehenen regalen Mineralien und Gewinnungsstätten anerkennt, sich trotzdem aber die wirtschaftliche Leitung der zum Privatgebrauch verliehenen Unternehmen vorbehält. Das aber war die Situation nach der cleve-märkischen Bergordnung, die die Grundlage für die Wirtschafts- und Sozialverfassung des Bergbaus und der Hüttenindustrie im größten Teil des Ruhrgebiets bis nach der Mitte des 19. Jahrhunderts bildete. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Außer der Regalität wird meist noch der „Merkantilismus" zur Erklärung des Direktionsprinzips herangezogen. Er habe in seinem Drange, die Untertanen zu reglementieren und zu bevormunden, den Bergbau als einen besonders wichtigen, den Staat bereichernden Zweig der „Urproduktion" in seine spezielle Fürsorge genommen. Für ihn gilt jedoch das gleiche wie für das Bergregal. Er herrschte auch anderswo, ohne daß er deshalb zur staatlichen Direktion privateigener Wirtschaftsunternehmen führte. Bergregal und Merkantilismus reichen also allein zur Erklärung dieses eigentümlichen Direktionsprinzips im preußischen Bergbau nicht aus. Zu ihnen sind vielmehr noch zwei besondere Bedingungen getreten, die außerhalb Preußens und außerhalb des Bergbaus, besonders des märkischen, nicht in gleichem Ausmaß gegolten haben. Einmal die spezifisch preußische Intensität des Landesausbaus und der Wirtschaftsförderung, die nach dem Siebenjährigen Krieg das relativ zurückgebliebene Land endgültig zu einer europäischen Großmacht entwickeln sollte. Zum anderen der desolate Zustand, in dem sich der Bergbau in der Mark, verglichen etwa mit dem Sachsens oder des Harzes, befand. Hier hatte die preußische Verwaltung ein geradezu klassisches Betätigungsfeld. Alle amtlichen Beurteilungen, von dem 1735/36 zur Inspektion durch die Mark geschickten Wettiner Bergmeister Decker bis hin zu dem Freiherrn vom Stein, der von 1782 bis 1796 dem westfälischen Bergbau vorstand, sind sich darin einig, daß die bäuerlichen Bergbautreibenden der Mark einen kunstgerechten und wirkungsvollen Bergbau aus eigener Kraft nicht zu entwickeln vermochten15. Noch 1835 urteilt das Oberbergamt Dortmund in einer Stellungnahme zur geplanten Bergrechtsreform, „die Gewerken seien nicht im Stande, ihrem Grubenbetrieb selbst vorzustehen"16. Die Obrigkeit als Erzieher zum Gewerbefleiß hat sich daher nirgends so direkt in die täglichen Geschäfte ihrer Untertanen eingemischt wie im märkischen Bergbau. Zwar war schon im Preußen Friedrichs des Großen der Grundsatz lebendig, daß der Staat nicht mehr als nötig selbst als Wirtschaftender auftreten solle. So erklärte Heinitz 1783, daß nach seiner „geringen Beurteilung" es am besten sei, „Particuliers zur Anlage von Fabriken aufzumuntern", nachdem Friedrich der Große selbst schon drei Jahre früher geäußert hatte: „Ich sehe gar nicht ab, wozu ich alle Eisenwerke an mich kaufen soll, das bin ich keineswegs gesonnen zu tun, sondern man muß dem publico auch etwas lassen."17 Praktisch wuchs aber auch in Oberschlesien der staatliche Anteil an der Montanindustrie, teils, weil es nicht gelang, jene „Particuliers" in ausreichender Zahl und mit ausreichendem Können zu finden, teils, weil die betriebs- und marktwirtschaftlichen, ja selbst die fiskalischen Argumente immer wieder von merkantilistischen, sozialen und militärischen übertönt wurden, wenn etwa Heinitz in einem Bericht an Friedrich Wilhelm II. über den Sinn des staatlichen Bergbauhaushaltes schrieb, er „könne selten große Überschüsse an die königlichen Kassen abliefern; er zwecke vielmehr dahin ab, die Nation nützlich zu beschäftigen und zu bereichern, einzelne particuläre Anlagen zu befördern, unentbehrliche Bedürfnisse für Kriegs- und Friedenszeiten abzuschaffen, das dafür ehemals auswärts geschickte Geld dem Staate zu erhalten und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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selbst mit den über Landesbedarf gewonnenen metallischen Produkten nach der glücklichen Lage der Provinzen einen Handel ins Ausland zu betreiben"18. Der preußische Staat sah sich danach, gleichsam gegen seinen Willen, gezwungen, sich mit den wirtschaftlichen Belangen seiner Untertanen zu befassen. Wann aber schlug nun diese Haltung um? Wann begannen die Behörden, den Bergwerkseigentümern jene Zugeständnisse zu machen, die dann zur Reform des ganzen Bergrechts führen sollten? Wie neueste Forschungen gezeigt haben, setzte der Umschwung zur gleichen Zeit ein wie die Gewährung der Gewerbefreiheit für die übrigen Gewerbe. Schon 1802 vermerkte König Friedrich Wilhelm III. im Nachtrag zu einer Instruktion an das schlesische Oberbergamt in Breslau, „daß die freie Konkurrenz sowohl beim Einkauf wie beim Verkauf aller Bergwerksprodukte die unerläßliche Bedingung und unveränderliche Richtschnur, auch der sicherste Maßstab sei"19. Das betraf zunächst nur den Handel der Gewerkschaften, noch nicht die technische und kaufmännische Leitung der Bergwerke. Aber auch darin zeichnet sich seit der Jahrhundertwende immer mehr die Tendenz ab, die Funktion der Behörden von einer leitenden in eine beratende umzuwandeln. Eine Instruktion aus dem Jahre 1832 wies die Revierbeamten an, bei allen Angelegenheiten, die das Interesse der Gewerkschaft betreffen, einen Gewerkschaftsvertreter hinzuzuziehen, ihn zu belehren und soweit wie möglich seine Vorschläge zu berücksichtigen. Und der Direktor des Bergamtes Essen bemerkte drei Jahre später, daß in seinem Bergamtsbezirk die technischen Anordnungen „mehr als Vorschläge der Behörden und Beamten" anzusehen seien denn als „unbedingt befehlende Anweisungen" und daß ihm noch kein Fall vorgekommen sei, bei dem „gegen den Willen der Mehrheit der Gewerken eine wesentliche Vorrichtung hätte angeordnet werden müssen". „Wie ich nicht anders weiß", fügte er hinzu, „wird es im Märkischen Bergamtsbezirk in gleicher Art wenigstens der Regel nach gehalten."20 Der preußische Beamte versteht sich hier noch immer als der Lehrer und Erzieher, der wohlwollende Vormund seiner Untertanen, der sie zu ihrem eigenen Besten leiten müsse. Dieser wohlmeinende „Bureaukratismus", der aus dem Zeitalter der Aufklärung stammt und einen der wesentlichen Züge der deutschen Geschichte dieser Zeit ausmacht, traf nun jedoch im 19. Jahrhundert auf sich verändernde politische, soziale, wirtschaftliche und geistige Voraussetzungen. In der Reformzeit hatte der preußische Staat selbst die Grundlagen für eine Emanzipation des Bürgers von der Obrigkeit gelegt, ohne daß die Nachfolger Steins und Hardenbergs, ohne daß vor allem die mittleren und unteren und die Fachbeamten, wie es sie im Bergbau gab, die vollen Konsequenzen dieser Emanzipation erkannt hätten. Viele hielten an der Vorstellung vom guten Landesvater, dem klugen Beamten und friedlichen Untertan fest, der das soziale und politische Leben des Vormärz so manche Spannung verdankte, die sich dann in der Revolution entladen sollte21. Auch im Bergbau häuften sich die Gegensätze zwischen Staatsverwaltung und Unternehmerschaft, je weiter das Jahrhundert fortschritt. Nur widerwillig schickten sich z. Β. die Bergbehörden in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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darein, daß man „bei den in neuerer Zeit zu beobachtenden Staatsgrundsätzen" den Gewerkschaften die Betriebserlaubnis wohl nicht mehr versagen könne22. Und noch im Februar 1843 bedauert der Essener Bergamtsdirektor, „daß auf eine Ermäßigung der Kohlenförderung wohl nicht mehr zu rechnen" sei, „nachdem jede Zeche zum Betrieb zugelassen" werde23. Noch war die Zeit nicht vergessen, da die Bergbehörden mit Erfolg jahrelang die Anträge auf Betriebserlaubnis für neue Zechen ablehnen konnten, ohne daß die Bergbauwilligen eine Gelegenheit hatten, sich dagegen aufzulehnen. Hier hatte die Gewerkschaft der Zeche Schölerpad 1826 die entscheidende Bresche geschlagen, nachdem sie ein Jahrzehnt lang einen zähen Kampf um die Betriebsbewilligung geführt und über den Oberpräsidenten und das Staatsministerium bis zum König getragen hatte. Zwar war er für sie selbst zunächst noch ohne Erfolg geblieben — erst 1833 erhielt sie die Erlaubnis, einen Tiefbauschacht abzuteufen —, aber der König hatte doch verfügt, daß man einer einzelnen Zeche nicht ein Monopol einräumen dürfe, indem man benachbarten einen Tiefbauschacht versage24. Seitdem waren die Bergbehörden nachgiebiger, wenn die Gewerken sich nur ausdauernd genug zeigten. Doch konnten auch jetzt noch Jahre vergehen, ehe sie sich zur Betriebsbewilligung entschlossen25. In dem gleichen Jahr 1826 hatte nun aber in den preußischen Ministerien die Debatte um eine grundlegende Reform des Bergrechts begonnen. Zunächst ging es den Ministerialbeamten, vor allem im Justizministerium, um eine Vereinheitlichung des Rechts. Herrschten doch im preußischen Staatsgebiet nach 1815 zwölf verschiedene Bergordnungen, ergänzt durch das Allgemeine Landrecht, daneben aber auf dem linken Rheinufer das auf liberalen Grundsätzen beruhende napoleonische Berggesetz und in einzelnen Teilen des Landes noch das Gemeine Recht. Mehr und mehr setzte sich aber die Überzeugung durch, daß die Gelegenheit der Rechtsvereinheitlichung benutzt werden müsse, die Grundsätze der Wirtschafts- und Sozialordnung des Bergbaus zu überdenken und soweit wie möglich denen der allgemeinen Gewerbeordnung anzupassen, daß zur Einheit des Bergrechts auch seine Reform kommen müsse. Dagegen erhob sich nun bei manchen Bergbehörden entschiedener Widerspruch. Der Wortführer der Reaktion scheint dabei das Oberbergamt Dortmund gewesen zu sein, das die Grundsätze der staatlichen Direktion am stärksten gewahrt wissen wollte, weil es, wie wir sahen, noch immer der Auffassung war, daß die Gewerken zur Leitung der Bergwerke nicht imstande seien. Bis zur Mitte des Jahrhunderts kamen sieben Berggesetzentwürfe zustande, aber keiner wurde ausgeführt. Die Revolution von 1848 machte die Ausführung des lang geplanten Vorhabens noch dringlicher. Um weiteren Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, legte nun das Ministerium zuerst einige Bergrechtsnovellen vor, ehe es zu Beginn der sechziger Jahre den jungen Oberbergrat Brassert, der sich als Bergrechtskenner ersten Ranges ausgewiesen hatte, mit dem Entwurf eines umfassenden Berggesetzes betraute. Dieser Entwurf passierte, nachdem er seit 1863 zur öffentlichen Diskussion gestanden hatte und nochmal revidiert worden war, zu Beginn des Jahres 1865 die beiden Häuser des preußischen Landtags und wurde © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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am 24. Juni 1865 Gesetz26. Damit hatte eine neue Ära für den preußischen Bergbau begonnen, denn das allgemeine Berggesetz sollte, ebenso wie seine wichtigsten Vorgänger, die cleve-märkische, jülich-bergische und schlesische Bergordnung, zum Grundgesetz des preußischen Bergbaus für ein ganzes Jahrhundert werden. Noch heute gilt es trotz vieler Novellen in den zur Bundesrepublik gehörigen Teilen des ehemaligen Preußens, vor allem im Ruhrgebiet und im Aachener Bergbau. Ich kann hier weder auf seine Entstehungsgeschichte noch auf die ihm zugrunde liegenden wirtschafts- und sozialpolitischen Ordnungsgedanken noch auf seine Stellung in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts eingehen27, sondern lediglich seine Bedeutung für den industriellen Ausbau des Ruhrgebiets würdigen. Dazu müssen freilich einige der wichtigsten Bestimmungen kurz umrissen werden. Lassen wir alle die Teile weg, die sich mit dem Verhältnis der Gewerken untereinander, mit ihren Beziehungen zu den Grundeigentümern und Verkehrsanstalten — zwei wichtigen Komplexen jedes Bergrechts — befassen, und konzentrieren uns auf das Verhältnis von Staat und Bergbau und von Bergbau und Bergmann. Der Staat zog sich nach dem neuen Berggesetz aus der praktischen Leitung der Geschäfte privater Bergwerksbesitzer ganz zurück. Er beschränkte sich auf den Erlaß sicherheitspolizeilicher Vorschriften und deren Kontrolle. Ihm oblag nach den Worten des Gesetzes fortan nur noch, „die Sicherheit der Baue, die Sicherheit des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter, den Schutz der Oberfläche im Interesse der persönlichen Sicherheit und des öffentlichen Verkehrs" und „den Schutz gegen gemeinschädliche Einwirkungen des Bergbaus" zu gewährleisten. Immerhin ist in dem letzten Teil dieses Satzes, dem Schutz gegen gemeinschädliche Einwirkungen, noch ein bedeutender Rest staatswirtschaftlicher Kontrolle zu sehen, der zeigt, daß das Berggesetz weit davon entfernt ist, dem Grundsatz des „laissez faire, laissez aller" zu huldigen — eine Feststellung, die sich an vielen Einzelbestimmungen wie an den Motiven des Gesetzes erhärten läßt28. Auch bestand das Gesetz darauf, daß zur Wahrnehmung der sicherheitspolizeilichen Kontrolle die vorherige Genehmigung des Betriebsplanes durch die Bergbehörde nötig sei — eine Bestimmung, die weder das englische Bergrecht noch das napoleonische Berggesetz noch z. Β. das in der Reform dem preußischen vorangegangene österreichische Berggesetz von 1854 kennt. Nur die sächsischen Gesetze von 1851 und 1868 besitzen — soweit ich sehe — die gleiche Präventivklausel, die durchaus als Restbestand des Direktionsprinzips angesprochen werden kann29. Aber auf die wirtschaftliche Planung und die technische Leitung des Betriebes nimmt die Bergbehörde fortan keinen Einfluß mehr. Auch volkswirtschaftliche Gesichtspunkte gegenüber dem Bergbau zur Geltung zu bringen, ist ihr versagt. So steht ihr die Genehmigung eines Neubetriebes nur noch unter rechtlichen und sicherheitspolizeilichen Gesichtspunkten zu. Ist die Mutung und Verleihung ordnungsgemäß ausgesprochen, sind Gefahren für die Allgemeinheit nicht zu befürchten, so kann die Bergbehörde dem Betrieb eines Bergwerks keine Hinder© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nisse mehr in den Weg legen. Umgekehrt hat sie das Recht zum Betriebszwang, das ihr nach den älteren Bergordnungen durchweg zustand, nur noch, wenn „überwiegende Gründe des öffentlichen Interesses", vor allem die Aufrechterhaltung der Sicherheit, den Betrieb nötig machen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte sie freilich schon fast keinen Gebrauch mehr davon gemacht, so daß während der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stets mehr Bergwerke stillgelegen hatten, als betrieben worden waren, aber auf den Grundsatz des Betriebszwanges hatte die Bergverwaltung bisher doch den gleichen Wert gelegt wie auf den des Betriebsverbots. Beide konnten nun nur noch aus sicherheitspolizeilichen oder Gründen außergewöhnlichen Öffentlichen Interesses angewandt werden. Damit war der Bergwerkstreibende endgültig mündig gesprochen. Das macht die entscheidende Bedeutung dieser Bergrechtsform im Rahmen der preußischen Geschichte aus, ob man sie nun unter politischen oder unter sozialen oder unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet. Das gleiche gilt für den Bergarbeiter. Er hatte unter der alten Bergwerksverfassung genauso, ja noch stärker unter Staatskuratel gestanden als der Unternehmer. Zwar hatte der Staat ihm korporative Privilegien verliehen, wie die Militärfreiheit, die Abgabenfreiheit, das Uniformtragen; er hatte ihn aber auch wirtschaftlich und sozial unselbständig gehalten. Der Bergmann besaß nach dem älteren Recht keine Freizügigkeit, er wurde von der Bergbehörde eingestellt und entlassen. Sein Lohn wurde von ihr festgesetzt, die Knappschaft, die nicht nur eine Versicherung war, sondern eine Standesorganisation, vom Bergamt geleitet. Während aber die Behörden in der Praxis den Bergwerksbesitzern viele Zugeständnisse machten, verhielten sie sich — mit der bezeichnenden Ausnahme des Freiherrn vom Stein — den Bergleuten gegenüber sehr viel strenger an die gesetzlichen Vorschriften. So zogen sie bei der Festsetzung der jährlichen Normalschichtlohnsätze zwar die Gewerken, nicht aber die Arbeiter hinzu. Den Bergleuten, die doch daran „mindestens ein ebenso großes, wenn nicht ein größeres Interesse als der Gewerke" hatten, wie das Bergamt Bochum 1848 selbst feststellte, blieb nichts weiter als die Hoffnung, daß die Beamten in der „pflichtmäßigen Sorge für das Bestehen und Gedeihen des Bergbaus" auch ihre Interessen genügend wahrnehmen würden30. Das war aber nicht immer der Fall. So verzichteten die Behörden z. Β. darauf, die Gewerkschaften zum Halten eines Kassenbestandes in Höhe ihrer Vierteljahreskosten zu zwingen, wie es die Bergordnung vorschrieb, weil sie der Auffassung waren, daß bei den größtenteils bäuerlichen und kleingewerblichen Gewerken diese Bestimmung unnötige Härten in sich schloß. Das Resultat war dann jedoch oft genug, daß die Gewerkschaften ihren Arbeitern keinen Lohn auszahlen konnten. Die Knappschaftsmitglieder durften aber nicht einmal dann sich einen neuen Arbeitsplatz suchen. So verwehrte das Bergamt Bochum 1817 der Belegschaft von „Schürbank und Charlottenburg" ausdrücklich, abzukehren, als ihr kein Lohn gezahlt wurde31. Auf solche Tatbestände muß nachdrücklich hingewiesen werden, weil fast die gesamte sozialgeschichtliche und sozialpolitische Literatur in Bergarbeiterfragen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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dazu neigt, die Verhältnisse in der Direktionszeit günstiger darzustellen als unter „kapitalistischer Herrschaft"32. Das trifft aber nur bedingt zu. Gewiß waren die Knappschaftsmitglieder stärker gegen Arbeitslosigkeit und Lohnreduktion, auch gegen Erweiterungen der Arbeitszeit und Verschärfungen der Arbeitsbedingungen gesichert, dafür aber auch ihrer wirtschaftlichen Chancen beraubt. Sie konnten nicht wie die Bergtagelöhner, die keinen Knappschaftsschutz genossen, ihre Arbeitsstelle nach Belieben wechseln und ihren Lohn nach Vermögen aushandeln. Sozialer Schutz ging auch hier — wie meist — auf Kosten der wirtschaftlichen Freiheit. Immerhin sollte es zu denken geben, daß im letzten Jahrzehnt vor Erlaß des Freizügigkeitsgesetzes von 1860, das die Bergleute praktisch den Industriearbeitern gleichstellte, immer weniger Bergarbeiter bereit waren, in die Knappschaften einzutreten, weil sie als Tagelöhner bis zum Doppelten von dem verdienen konnten, was die Bergbehörden als Normallohn für die Knappschaftsmitglieder festgesetzt hatten33. Die Bergrechtsreform machte nun die Bergleute zu juristisch annähernd gleichberechtigten Partnern der Arbeitgeber. Auch hier blieb allerdings ein wichtiges Relikt der älteren Verfassung erhalten, indem das Gesetz die Bergleute ebenso wie die Fabrikarbeiter und landwirtschaftlichen Tagelöhner dem Strafgesetzbuch unterwarf, wenn sie als Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber mit „grobem Ungehorsam" und „beharrlicher Widerspenstigkeit" begegneten. Ein streng kontraktliches Arbeitsverhältnis hätte, worauf im Abgeordnetenhaus bei der Beratung des Gesetzes auch hingewiesen wurde, nur eine Konventionalstrafe zugelassen. Aber die sozialkonservativen Kreise in Regierung und Herrenhaus setzten sich gegenüber der liberaler gesinnten Mehrheit des Abgeordnetenhauses noch einmal durch34. Die Formulierungen, die aus der Gesindeordnung stammten, fielen zusammen mit dem Koalitionsverbot erst in der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869. Im Abschluß ihres Arbeitsvertrages aber waren die Bergleute seit dem Freizügigkeitsgesetz von 1860 frei. Als Grundlage des Arbeitsvertrages dienten die von den Bergwerksbesitzern einseitig und freiwillig zu erlassenden Arbeitsordnungen. Das Allgemeine Berggesetz ging sogar noch einen Schritt weiter und beseitigte die behördliche Genehmigungspflicht für die Arbeitsordnungen und die Vermittlungsbefugnis der Revierbeamten in Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das sollte sich als folgenschwerer Fehler herausstellen. Aus der Arbeitsordnung und ihrer Durchführung entspannen sich in der Folgezeit soziale Konflikte, die den Staat nach mehreren Streiks zur ersten großen Revision des Berggesetzes zwangen. In Novellen zum Gesetz schrieb er 1892 das Vorhandensein von Arbeitsordnungen zwingend vor — ohne selbst Normen dafür zu setzen — und gab 1905 Arbeitervertretern das Recht, vor ihrem Erlaß gehört zu werden35. Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, so ergibt sich: Sowohl in seinen wirtschafts- wie in seinen sozialpolitischen Bestimmungen zeigte die Bergrechtsreform den entschiedenen Willen, den Bergbau an die Nonnen des allgemeinen Gewerberechts anzupassen. Wenn man unter liberal die Selbstverwaltung des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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mündigen Bürgers versteht, so kann man sie als „liberal" klassifizieren, trotz gewisser Vorbehalte, die dabei zu machen sind36. Wie aber wirkten sie sich auf den industriellen Ausbau des Ruhrgebiets aus? Hierüber lassen sich naturgemäß keine exakten Aussagen machen. Der Historiker hat ja noch weniger als der Soziologe die Möglichkeit, seine Thesen experimentell zu überprüfen. Wir können nicht die Probe aufs Exempel machen und sagen, wie die Geschichte gelaufen wäre, hätte sich dieses oder jenes nicht ereignet. Daher liegt die Versuchung nahe — und viele Historiker sind ihr erlegen —, zu behaupten, es kam so, wie es kommen mußte. Oder: die Zeit war reif für das Neue, und so setzte es sich durch. Das ist keineswegs so. Kämen Blüte und Reife in der Geschichte immer zu ihrer Zeit, so besäße sie keine eigenen Probleme, sondern nur die biologischer Gesetze. Von der preußischen Bergrechtsreform wird man sogar sagen können, daß sie eben nicht kam, als die Zeit reif war, sondern ein halbes Jahrhundert oder zumindest drei Jahrzehnte später. Das ist eines der Probleme, die sie aufgibt. Zum andern wird man sagen können, daß sie in dieser Form nicht notwendig oder zwangsläufig gewesen ist. Es ist durchaus denkbar, daß die preußische Verwaltung es weiter bei kleineren Reformen und Anpassungen gelassen hätte, daß ihr der große Wurf nicht gelungen wäre. Hätte sich das Ruhrgebiet dann in der gleichen Weise entwickelt, wie es tatsächlich geschah? Es ist nicht nutzlos, zu überlegen, was wohl geschehen wäre, hätten die Bergbehörden die Aufsicht über Produktionsplanung und technischen Betrieb, über Arbeitsverträge und Arbeitsbedingungen beibehalten. Dann hätten sie sich nämlich in ganz anderer Weise den neuen Problemen stellen müssen, die nach der Jahrhundertmitte auf den Ruhrbergbau zukamen, z. Β. der Notwendigkeit der betrieblichen und unternehmerischen Zusammenfassung in größeren Einheiten, der Beschaffung zusätzlicher Arbeitskräfte und ihrer Ansiedlung in der Nähe des Arbeitsplatzes. Es ist möglich, daß dann dem Ruhrgebiet manche seiner bis heute nachwirkenden Fehlplanungen erspart geblieben wären, daß z. Β. die Emscherzone nicht genauso zufällig und ungeplant entstanden wäre, obwohl die Fähigkeit des Staates im 19. Jahrhundert zur weitschauenden Planung nicht überschätzt werden darf. Der Rahmen, den die technischen Bedingungen vorschreiben, wäre ihnen jedenfalls genauso gesetzt gewesen, und ökonomisch hätte er kaum langfristiger, sondern nur langsamer gedacht und gehandelt als die privaten Zechenbesitzer. Auf der anderen Seite scheint mir gewiß zu sein, daß der wirtschaftliche Aufschwung nicht in der gleichen Schnelligkeit und Größenordnung vor sich gegangen wäre. Ganz bestimmt hätte die staatliche Bergbauverwaltung nicht jede konjunkturelle Chance so genutzt, wie es die privaten Unternehmer in den fünfziger, in den siebziger und in den achtziger Jahren taten. Ganz bestimmt hätte sie nicht im gleichen Umfang die Kapitalien bereitgestellt, die aus den verschiedensten Quellen — vom Rhein, aus Belgien, aus England — seit den vierziger Jahren in enormem Umfang ins Ruhrgebiet flossen. Ganz gewiß hätte sie nicht mit der gleichen Energie und auch Bedenkenlosigkeit die Arbeiter an© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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geworben, wo sie sie bekommen konnte. Hier ist sogar so etwas wie ein experimenteller Nachweis möglich. Die Bergbauverwaltung hat sich nämlich Ende der vierziger Jahre bemüht, Bergleute aus anderen Revieren, aus Waidenburg, aus Henneberg-Neustadt und aus Schaumburg an die Ruhr zu ziehen. Die Gewerken unterstützten sie dabei, indem sie z. B. für die Hälfte des Fahrgeldes aufzukommen versprachen. Alle diese Verhandlungen führten jedoch nicht zum Ziel. Daher nahmen die Gewerken seit 1853, nachdem ihnen das Miteigentümergesetz die unternehmerische Freiheit gegeben hatte, die Werbung selbst in die Hand. Nun war es die Bergbehörde, die dabei die Hilfestellung in Form von Empfehlungen und Amtshilfen gab. Die Zusammenarbeit mit umgekehrter Rollenverteilung hatte Erfolg37. Selbstverständlich kann man ein solches Beispiel nicht strapazieren. Immerhin deutete es an, wo die Vorteile des freien Unternehmertums lagen: in der größeren Beweglichkeit, der stärkeren Entfaltungsmöglichkeit der Einzelinitiative, der kühneren Ausnutzung der Möglichkeiten. Vieles von dem, was das Ruhrgebiet groß gemacht hat, das Pionierhafte an ihm, ist in der Tat ohne diese Unternehmerinitiative nicht zu denken. Es ist kein Zufall, daß kein Industriegebiet Mitteleuropas ähnlich viele berühmt gewordene Namen besitzt, die Krupp und Thyssen, die Haniel und Stinnes, die Grillo und Strousberg. Daß sie sich in ihrer ganzen Eigenart entfalten konnten, wäre ohne die Bergrechtsreform nicht möglich gewesen. Man kann dem natürlich entgegenhalten, daß es dann vielleicht im Ruhrgebiet einen neuen Heinitz, Reden oder Freiherrn vom Stein gegeben hätte und der Gewinn für die Gesamtwirtschaft und die Sozialordnung in Deutschland davon ungleich größer gewesen wäre. Das ist möglich. Beweisen läßt es sich nicht. Von einigen Wirkungen aber wird man sagen können, daß sie mit Sicherheit wenigstens teilweise auf die Bergrechtsreform zurückzuführen sind. Die erste möchte ich den Befreiungseffekt nennen. Ohne Zweifel hat sie mit der freien Verfügung der Eigentümer über ihr Eigentum den Kapitaleinsatz verstärkt. Nicht nur weil größerer Gewinn lockte, weil der Spekulation freier Lauf gelassen wurde, sondern weil die Verfügungsgewalt über das eingesetzte Kapital garantiert war, wurde das Ruhrgebiet zu einem Kapitalsammelbecken größten Ausmaßes. Sieht man aber, wie es die meisten Ökonomen tun, in dem produktiven Kapitaleinsatz großen Stils, in dem Wachstum der Investitionsquote einer Volkswirtschaft eine der entscheidenden Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum, so wird man sagen können, daß die Bergrechtsreform zu dem schnellen Wirtschaftswachstum nicht nur des Ruhrgebiets, sondern Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich beigetragen hat. Ohne Zweifel hat sie auch eine größere soziale Mobilität möglich gemacht. Mag es immerhin sein, daß die alte Sozialordnung durch den Druck der aufgehäuften Spannungen auch ohne ihre formelle Aufhebung zerbrochen wäre. Daß die Entlassung des Unternehmers wie des Arbeiters in Bergbau und Hüttenindustrie — denn die Hütten gehörten ja bis zum Gesetz über die Kompetenz der Oberbergämter von 1861 unter die Verwaltung der Bergbehörden — aus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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der staatlichen Aufsicht und Fürsorge die sozialen Umschichtungen erleichtert hat, kann wohl nicht bestritten werden. Hinzu kommt der sekundäre Effekt, den das wirtschaftliche Wachstum des Ruhrgebiets auf die Bevölkerungsverteilung in Deutschland und Ostmitteleuropa gehabt hat. Nachdem es seit dem Beginn seines Ausbaus zu einem Gravitationsfeld für die umgebenden ländlichen Gebiete, auch für Hessen und Waldeck, geworden war, löste es im späteren 19. Jahrhundert die größte Binnenwanderung aus, die Deutschland vor der Vertreibung der Deutschen der Ostgebiete gesehen hat, die Ost-West-Wanderung von Millionen von Arbeitskräften38. Nicht ganz so sicher läßt sich der Befreiungseffekt für den technischen Fortschritt nachweisen. Hier entwickelte gerade die preußische Verwaltung ähnlich wie die französische besondere Energie. Viele große technische Neuerungen in Bergbau und Hüttenindustrie sind in Preußen zuerst von den staatlichen Werken aufgenommen oder von den Behörden angeregt worden. Es gibt zahlreiche Fälle noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und gerade im Ruhrgebiet, wo die Behörden die Unternehmer mühsam zu ihrer Annahme bewegen mußten oder wo sie selbst Versuche unterahmen, die zur Verbesserung des Betriebes führten: Versuche zur chemischen Konservierung von Grubenholz, Versuche mit holzsparenden Materialien für den Stollenausbau, Versuche zur Wiedergewinnung eingebauter Holzpfeiler; Verbesserungen beim Förderbetrieb und der Seilfahrt für Bergleute, insbesondere die Einführung eiserner Seile und der Fahrkunst. Mitunter fanden die Behörden bei den Gewerken dabei so wenig Unterstützung, daß selbst die Zusage einer Prämie für die erste Anwendung einer technischen Verbesserung nichts nützte. So fand sich von 1842 bis 1851 keine einzige Zeche im Ruhrgebiet bereit, eine Fahrkunst für die Bergleute, wie sie im Harz, in Belgien und in Oberschlesien bereits im Gange war, anzulegen, weil sie die Zeit des Einfahrens nicht verkürzte, sondern nur die Kräfte der Bergleute schonte. Auch als die Bergbehörde eine eiserne Schienenbahn zur Förderung anschaffte und ausstellte, fand sich niemand, der sie abgekauft hätte, so daß sie schließlich versteigert werden mußte39. Am bekanntesten ist das Beispiel der Dampfmaschine, die sowohl in Oberschlesien wie im Ruhrgebiet zuerst in Staatsbetrieben lief. Auch als 1801 der Freiherr von Romberg die erste Dampfmaschine auf einer Privatzeche installierte, vermittelte ihm die Βergverwaltung einen erfahrenen Kesselschmied zur Wartung40. Aber daneben gibt es doch auch genug Beispiele der Privatinitiative, wobei man nicht immer nur an Krupps und J akob Mayers Experimente mit Gußstahl denken muß. So errichtete Franz Haniel im Essener Revier schon 1821 den ersten geschlossenen Koksofen nach saarländischem Muster und widmete einen beträchtlichen Teil seiner Kraft zusammen mit seinem Schwager Jacobi der Verbesserung der Koksfabrikation, während die staatlichen Bemühungen um die Einführung besserer Koksöfen im Raum Dortmund noch in den 1840er Jahren nicht vorankamen41. Ebenso waren es vor allem Privatleute, die den Kampf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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mit der Mergelschicht über den tieferen Lagen der Ruhrkohle aufnahmen und trotz mancher Enttäuschungen nicht rasteten, bis sie sowohl der geologischen wie der technischen Schwierigkeiten beim Abteufen Herr wurden. Franz Haniel hatte z. Β. zwischen 1832 und 1843 mehr als 130 000 Taler vergeblich aufge­ wandt, um mit den Zechen Franz und Kronprinz von Preußen die Mergelschicht zu durchstoßen. Aber er hatte wertvolle technische Erfahrungen gewonnen, die den späteren Versuchen zugute kamen und für den endlichen Erfolg von entscheidender Bedeutung waren42. Daß diese privaten Bemühungen um den technischen Fortschritt mit der Bergrechtsreform ebenfalls gesteigert wurden, steht außer Zweifel. Sehr eng mit dem Befreiungseffekt hängt eine andere Folgeerscheinung der Reform zusammen, die ich den Anpassungseffekt nennen möchte. Ich möchte darunter zunächst die Möglichkeit verstehen, sich auf neue wirtschaftliche und technische Gegebenheiten besser und schneller, individueller und vielseitiger einzustellen, Konjunkturen zu nutzen, Strukturveränderungen mitzumachen, Verkehrsverbesserungen einzuplanen, aber auch innerbetriebliche Umstellungen vorzunehmen. Wenn der Befreiungseffekt vornehmlich den schöpferischen Qualitäten zugute kam, so der Anpassungseffekt der minder originellen, aber weiter verbreiteten Eigenschaft, sich in Gegebenes einzufügen. Auch das ist einer individualisierten Gesellschaft und Wirtschaft leichter möglich als einer ständisch oder staatlich gebundenen. Und ein Industrierevier wie das Ruhrgebiet lebt nicht nur von den großen Pioniertaten eines Krupp oder Haniel, sondern von den vielen risikobereiten Nachahmern, die zwar nicht „Unternehmer" im Sinne Schumpeters sein mögen, schöpferische Neuerer also, wohl aber anpassungsfähige und wendige Unternehmer in jenem bescheideneren Verstand, wie ihn der wirtschaftliche Alltag geprägt hat. Darüber hinaus aber ist der Anpassungseffekt der Bergrechtsreform noch in einem viel weiteren, wichtigeren Sinn zu verstehen, nämlich so, daß die Reform Bergbau- und Hüttenindustrie in Preußen an die Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts angepaßt hat. Unter der alten Wirtschaftsverfassung drohten sie in eine gefährliche Isolierung zu kommen. Während Handel und Industrie, Handwerk und Landwirtschaft aus der staatlichen Vormundschaft entlassen waren und sich nach den Gesetzen einer liberalen Marktwirtschaft und bürgerlichen Sozialordnung zu regen begannen, verharrte ein Kernstück der industriellen Wirtschaft in altertümlichen Ordnungen. Das mußte zu Spannungen führen, nicht nur zwischen Staat und Schwerindustrie, sondern auch in der Wirtschaftsgesellschaft selbst, so, wie es zu Spannungen geführt hat, daß in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl die Montanwirtschaft teilweise aus der nationalen Wirtschaftsordnung ausgeklammert und anderen Ordnungsgesetzen unterstellt worden ist. Es ist kein Zufall, daß man schon um 1900, als die Autoren der Reform zum Teil noch lebten, auf die alte Bergbauverfassung wie auf eine „vorsintflutliche" zurückblickte43. Wer das Ruhrgebiet in seiner Vitalität damals sah, konnte nicht glauben, daß es vor zwei Menschenaltern noch wirtschaftlich unmündig gewesen sein sollte. Und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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wer von den Schwierigkeiten hört, die jedem selbständigen Schritt eines Unternehmers im Ruhrkohlenbergbau noch im zweiten Drittel des Jahrhunderts in den Weg gestellt wurden, vermag kaum zu glauben, daß dies zu einer Zeit geschah, als der industrielle Aufstieg mit seinem Bedarf an Kohle und Eisen sich auch in Deutschland schon kräftig abzeichnete44. Viel schwerer zu beantworten ist die entscheidende Frage, ob die Reform auch zu einer Neuordnung hingeführt hat. Man wirft dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts ja sehr gern vor, daß er alte, vielleicht auch veraltete und überlebte Bindungen gelöst, an ihre Stelle aber keine neuen gesetzt habe und so im Grund unschöpferisch geblieben sei. Dieser Vorwurf greift meines Erachtens zu kurz, denn er übersieht nicht nur, daß das entscheidende Kennzeichen der industriellen Gesellschaft, dem der Liberalismus zum Durchbruch verholfen hat, gerade die Bewegung, die Flexibilität ist, sondern auch, daß keine Strukturverwandlung einer Gesellschaft und Wirtschaft ohne einen gewissen Spielraum an Möglichkeiten, ohne Unsicherheiten und Experimente möglich ist. Wo diesen kein Platz eingeräumt wird, wie heute in den meisten kommunistischen Ländern, kann es zu um so folgenreicheren Fehlentwicklungen kommen. Die Bergrechtsreform konnte also, wie jede liberale Reform, den Bergbau nicht einfach von einem Verfassungsgefüge in ein anderes überführen. So wie das alte sich langsam, über mehr als ein halbes Jahrhundert hin aufgelöst hat, so konnte das neue ebenfalls erst langsam seine Gestalt bekommen. Immerhin aber hat die Bergrechtsreform einige wichtige Bausteine zu einer neuen Sozial- und Wirtschaftsverfassung beigetragen45. Hier sei nur einer beispielhaft vorgeführt. Das Allgemeine Berggesetz hat als eines der ersten gewerberechtlichen Grundgesetze der industriellen Gesellschaft auch die Sozialordnung des betroffenen Gewerbezweiges berücksichtigt. Es hat, konkret gesprochen, die Sozialversicherung seiner Arbeitnehmer geordnet, noch ehe die alten Sozialformen ganz aufgelöst waren. Durch das Knappschaftsgesetz von 1854, das fast unverändert Bestandteil des Allgemeinen Berggesetzes geworden ist, hat es für den gesamten Bergbau Preußens den Arbeitnehmern unter Beibehaltung eines gewissen Maßes an ständischer Korporation gesetzlichen Schutz bei Krankheit, Alter und Unfall gewährt und dabei zwei Prinzipien verwirklicht, die vorbildlich für die gesamte Sozialversicherung geworden sind: die Zwangsversicherung und die Selbstverwaltung unter Beteiligung beider Sozialpartner. Die Bedeutung dieser Bestimmungen sollte man nicht zu gering anschlagen, auch wenn die erste Regelung manche Schönheitsfehler besaß, wie die Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeiter auf das Gebiet einer Knappschaft oder das faktische Übergewicht der Arbeitgeber in der Verwaltung der Knappschaften. Aber wenn vorhin gesagt worden ist, daß die Reform die Wirtschaftsverfassung des Bergbaus mit der Verspätung eines halben Jahrhunderts liberalisiert hat, so muß man hinzufügen, daß sie die Sozialisierung des Berufsrisikos den anderen Industriezweigen um drei Jahrzehnte vorweggenommen hat. Hierin © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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erweist sich die Bergrechtsreform als eine starke kontinuierende Kraft in dem offenbar so kontinuitäts- und traditionsfeindlichen 19. Jahrhundert. Die Bedeutung dieser Bestimmung wird auch nicht mit dem Hinweis geschmälert, daß es ja die Knappschaftsversicherung im Bergbau schon immer gegeben habe, daß es also kein besonderes Verdienst gewesen sei, sie zu erhalten. Immerhin hat sie nicht überall bestanden, auch nicht überall in Preußen. Gerade dem in vielen wirtschaftlichen Bestimmungen vorbildlich gewordenen napoleonischen Bergrecht war sie unbekannt. Immerhin sind auch andere Ordnungsmöglichkeiten erörtert worden, z. B. die freiwillige Versicherung auf Gegenseitigkeit, wie es sie in England, Belgien und Frankreich gab. Einem konsequent liberalen Konzept hätte diese Lösung sehr viel nähergelegen. Daß sie für die Arbeiterschaft der frühen Industrie aber längst nicht den gleichen Schutz geboten hätte wie die staatliche Zwangsversicherung unter Beteiligung beider Sozialpartner, steht außer Zweifel. Hier hat also die Bergrechtsreform nicht nur für das Ruhrgebiet, sondern für den ganzen preußischen Bergbau den Grundstein zu einer neuen Sozialordnung gelegt. Daß die Bergarbeiterschaft, obwohl sie ihr Rekrutierungsfeld hauptsächlich in der alten unterbäuerlichen und damit außerständischen Schicht fand, nie ganz proletarisiert worden ist — trotz Hue46 —, dürfte nicht zuletzt darin seinen Grund haben. Wenn wir uns vorhin vorzustellen versuchten, wie das Ruhrgebiet vielleicht aussehen könnte, wenn gewisse staatliche Ordnungselemente stärker auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirksam gewesen wären, so können wir uns genausogut vorstellen, wie es sich ausgeformt hätte, wären diese neuen korporativen und staatlichen Gestaltungskräfte nicht wirksam gewesen. Es ist durchaus realistisch, sich ein Industrierevier wie das unsrige gesellschaftlich völlig unstrukturiert, bloß von einer wie Flugsand sich hin und her wehen lassenden Arbeiterbevölkerung zu denken. Das äußere Erscheinungsbild zeigte dann an Stelle der Bergarbeitersiedlungen Wellblechhütten und Holzbaracken, wie in vielen industrialisierten Gegenden Südamerikas. Daß diese Gefahr vermieden worden ist trotz des enormen Wachstums der Bevölkerung — von 1850 bis 1914 stieg die Bevölkerung des Ruhrreviers von 360 000 auf 3,5 Millionen —, ist gewiß nicht ausschließlich und nicht einmal in erster Linie das Verdienst von sozialpolitisch wichtigen Gesetzesbestimmungen. Daran haben zu ihrem Teil die von der staatlichen Aufsicht freigesetzten Unternehmer mitgewirkt, die einige wichtige Traditionen der staatlichen Verwaltung übernahmen, z. Β. den Arbei­ terwohnungsbau, der bei den herrschaftlichen Berg- und Hüttenwerken seit jeher üblich war. Die Unternehmer des Ruhrgebiets haben auch in anderer Beziehung die neugewonnene Freiheit entschiedener als andere Unternehmergruppen zur Organisation der liberalen Wirtschaftsgesellschaft benutzt. Ich meine damit die Verbands- und Kartellgründung. Zwar nicht die ersten, aber die umfassendsten und mächtigsten Verbände entstanden im Ruhrrevier: der Verein für die bergbaulichen Interessen 1858, der Langnamverein als der Zusammenschluß der gesamten rheinisch-westfälischen Industrie 1871, das rheinisch-west12 Fischer, Wirtschaft© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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fälische Kohlensyndikat, das größte und geschlossenste aller deutschen Kartelle, 1893. Es würde zu weit führen, hier noch in eine Erörterung der sozialen Funktion dieser Interessenverbände und Kartellorganisationen in der industriellen Gesellschaft einzutreten47. Daß man sie aber nicht einfach negativ werten kann, sondern in ihnen bei allen gewiß vorhandenen destruktiven Tendenzen sehr wesentliche Ordnungselemente für das Funktionieren dieser Gesellschaft sehen muß, dürfte außerhalb der Tagespolemik unbestritten sein. Auch sie sind selbstverständlich in einer staatlich bevormundeten Wirtschaft nicht möglich bzw. besitzen in ihr einen anderen Stellenwert, der sie zur Wahrnehmung gerade der Funktionen, die für eine freie Gesellschaft wesentlich sind, nicht befähigt. Damit aber sind wir bereits in die Soziologie der industriellen Gesellschaft eingetreten. Diese Gesellschaft, die unser aller Schicksal ist, auch für das Ruhrgebiet und die übrigen Bergbaubezirke Preußens ermöglicht, d. h. Bergbau und Hüttenindustrie aus der vorindustiellen Verfassung in die einer industriellen Gesellschaft übergeleitet zu haben, scheint mir die eigentliche Bedeutung der Reform des preußischen Bergrechts für das Ruhrgebiet gewesen zu sein.

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K o n j u n k t u r e n u n d K r i s e n i m R u h r g e b i e t seit 1 8 4 0 u n d d i e wirtschaftspolitische Willensbildung d e r U n t e r n e h m e r Die Strukturkrise, in der sich das Ruhrgebiet und besonders der Kohlenbergbau seit einem Jahrzehnt befindet, gibt Anlaß, über die Frage nachzudenken, wie in den Jahren, in denen das Revier in seiner heutigen Form entstanden ist, Konjunkturen und Krisen aussahen und wie die das Schicksal des Ruhrgebiets aktiv gestaltenden Unternehmer auf sie reagierten. Ich werde mich dabei im wesentlichen auf die Wachstumsphase des Ruhrgebiets beschränken, die um 1840 begann und mit dem ersten Weltkrieg endete, und ich werde zu zeigen versuchen, daß schon in dieser stürmischen Wachstumsphase des Ruhrgebiets konjunkturelle Abschwünge häufig waren und die Unternehmer zu einem pessimistischen Ausblick auf die Zukunft und zu Reaktionen veranlaßten, die denen in der heutigen Strukturkrise ähneln*. Ich will dabei erstens die Konjunkturverläufe selbst kurz rekonstruieren, zweitens etwas zu ihren Ursachen sagen und drittens mich den Reaktionen der Unternehmer widmen, und zwar: a) markt gerech ten Reaktionen wie Preissenkungen, Lohnsenkungen, Produktions- und Investitionsdrosselungen mit Arbeiterentlassungen; b) wirtschaftlichen Reaktionen mit dem Ziel, die Daten, die der Industrie von außen, vom Staat, von der ausländischen Konkurrenz, von der Natur etc. gegeben sind, zu verändern. Hier behandele ich vor allem direkte Einwirkungen auf die Staatsverwaltung, dann indirekte Einwirkungen durch Verbandsbildung, die sowohl an die öffentliche Meinung, an andere Gesellschaftsund Wirtschaftsgruppen als auch an den Staat adressiert waren, und schließlich die direkte Veränderung der Marktdaten durch Kartell- und Konzernbildung. Zum Schluß werde ich versuchen, eine Summe zu ziehen, und einen gemeinsamen Nenner für alle diese Reaktionen zu finden. Das ermöglicht wieder den Anschluß an die Gegenwart. I. Die Konjunkturverläufe. Daß im 19. Jahrhundert in allen führenden Industrieländern der Welt nahezu regelmäßige Konjunkturkurven zu verzeichnen waren, ist für die Ökonomen seit langem eine ausgemachte Sache. Statistische Untersuchungen verschiedener Merkmale wie Preise, Produktionsmengen, Kreditvolumen, Bankrotte usw. dienen der Beweisführung oder Illustrierung. Seit Juglar setzte man die Dauer eines vollen Konjunkturzyklus mit Auf- und Abschwung auf 7—10 Jahre an1. Sehen wir nun, wie sich das Ruhrgebiet in dieses allgemeine Schema einfügt. Dazu ist eine wichtige methodische Vorbemerkung zu machen. Sehr viel hängt für die Lage einer Konjunkturkurve davon ab, welchen Indikator oder welche Kombination von Indikatoren man wählt. Nimmt man z. B. die phy12* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sische Produktion als Indikator, so kommt man für das Ruhrgebiet und besonders die Kohle zu dem Ergebnis: Es gab bis 1914 kaum Abschwünge, sondern nur ein kontinuierliches Wachstum, das zuweilen stürmischer, zuweilen gebremst verlief, denn Kohleförderung wie Roheisenproduktion, die beiden wichtigsten Grundwerte für die physische Produktion des Ruhrgebiets, weisen mit nur ganz geringen Ausnahmen die ganze Zeit hindurch nach oben, selbst während der großen Krise der 1870er Jahre. In den mehr als 70 Jahren von 1840 bis 1913 hat es nur 12 Jahre gegeben, in denen die Förderung im Oberbergamtsbezirk Dortmund im Vergleich zum Vorjahr sank, und nur eine Periode, in denen sie zwei Jahre hintereinander sank, nämlich 1901 und 19022. Die Produktion von Roheisen, deren moderne Phase im Ruhrgebiet erst in den 1850er Jahren mit dem Einsatz der ersten Kokshochöfen beginnt, ist von 1850 bis 1913 nur in 8 Jahren nicht gestiegen und nur einmal, 1858/59, während der ersten Weltwirtschaftskrise, zwei Jahre hintereinander gefallen8. Ein anderes Bild zeigt sich schon, wenn man statt der Produktion den mengenmäßigen Absatz als Maßstab nimmt. Allerdings ist die Variation nicht sehr beträchtlich und außerdem im 19. Jahrhundert abhängig von der Möglichkeit, Kohle auf dem Wasserweg zu befördern; zu niedriger oder zu hoher Wasserstand auf Rhein und Ruhr haben jahrzehntelang die Schwankungen des Absatzes ebenso bestimmt wie die wirtschaftlichen Wechsellagen. Noch deutlicher wird der Konjunkturverlauf, wenn man vom Umsatz ausgeht, also dem Wert des verkauften Produkts, weil sich in ihm sowohl die Menge als auch der Preis niederschlagen; am schärfsten aber werden die Konjunkturkurven, wenn man nur den Preis betrachtet (zumindest für die kartellfreie Zeit, bei Kohle und Eisen also bis in die 1880er Jahre hinein). Denn unter den marktwirtschaftlichen Gegebenheiten der Mitte des 19. Jahrhunderts schlug sich steigende oder sinkende Nachfrage sofort im Preis nieder. Und diese Preisausschläge waren viel höher als die Ausschläge bei der physischen Produktion. Ein Zahlenbeispiel soll das erläutern4: Kohlenförderung und Kohlenpreisentwicklung im Oberbergamtsbezirk Dortmund 1869—1879 Jahr

Kohlenförderung

1869 1874 1879

(Mill. t) 12,1 15,4 20,2

Index 100 127 167

Preis pro Tonne Fettkohle (Mark) Index 4,5— 5 100 13 —14 284 4,5— 5 100

Durchschnittspreis für 1 t Ruhrkoks (Mark) Index 6 100 16 267 5 83

Während die Förderung fast kontinuierlich stieg, stiegen die Preise in fünf Jahren im Schnitt auf über das Zweieinhalbfache, im Extremfall auf das Dreifache, und fielen in den nächsten fünf Jahren unter den Ausgangswert zurück, ohne daß deshalb der weitere Ausbau wesentlich eingeschränkt oder der ständige Förderanstieg wesentlich gebremst worden wäre. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ganz ähnlich sah es auch bei der eisenschaffenden Industrie aus, obwohl sich die Krise hier auf einzelne Werke und Distrikte sehr unterschiedlich auswirkte. Im westfälischen Hauptbergdistrikt war nur 1874 ein Produktionseinbruch zu verzeichnen, dann aber begann schon eine leichte Steigerung, so daß der Höchststand des Jahres 1873 schon 1877 übertroffen wurde — mitten in der Krise, während der Wert der Produktion (Umsatz) erst 1880 den Wert der Produktion von 1873 übertraf, ohne daß die Preise den — allerdings extrem hohen — Wert dieses Jahres wieder erreicht hätten5. Im Handelskammerbezirk Essen/ Mülheim/Oberhausen sinkt hingegen die Roheisenproduktion 1872 stark ab, steigt dann wiederum zwei Jahre und fällt 1875 und 1876 erneut. Das Jahr 1877 bringt auch hier einen bis dahin nicht erreichten Produktionshöchststand, dem fünf Jahre schnellen Wachstums folgen6. Legt man die Zahlen für die beiden Provinzen Rheinland und Westfalen zugrunde, so ist die physische Roheisenproduktion erst 1878, nicht schon 1877, höher als im Jahre der Hochkonjunktur 1873. Die Preise liegen jedoch noch 1880 um fast 45 % unter denen von 1873, so daß trotz des höheren Ausstoßes der Hütten der Wert der Produktion noch fast 22 % niedriger ist als 18737. Einen Einblick in den Wechsel der Geschäftstätigkeit erhält man schließlich auch aus finanziellen Größen, z. Β. der Summe der diskontierten Wechsel. Der Wechselumsatz der Reichsbankfiliale Essen stieg von 1869 bis 1873 von 63 auf 384 Mill., versechsfachte sich also in vier J ahren und fiel dann 1874 auf unter die Hälfte des Vorjahresstandes, auf 170 Mill.; danach stieg er kontinuierlich an, überschritt den Stand von 1873 aber erst in der nächsten ausgesprochenen Hochkonjunktur, im Jahr 18998! Hier zeigt sich besonders die Aufblähung des Kreditvolumens im Boom, ein ökonomisch ungesundes Phänomen, das ja auch wesentlich zum Rückschlag beigetragen hat. Ein weiterer Indikator der Konjunktur ist der Verlauf der Beschäftigtenzahlen und der Höhe der Löhne. In ihnen spiegeln sich freilich auch andere Faktoren wider — z. B. der technische Fortschritt —, aber als ein roher Indikator für das Schicksal der Arbeiterschaft unter den Konjunkturverläufen sind sie sehr brauchbar. Allgemein gilt, daß in einer Wirtschaft mit technischem Fortschritt — und die Eisenindustrie des 19. Jahrhunderts gehört zu den Branchen mit den höchsten Zuwachsraten an Arbeitsproduktivität — die Arbeiterzahlen nicht im Gleichschritt mit der Produktion wachsen. In Krisenzeiten werden sie im 19. Jahrhundert schnell abgebaut, zugleich wird, um Kosten zu sparen, die technische Neuerung forciert, so daß im Wiederaufstieg die Arbeiterzahl nur langsam zunimmt. Das beste Beispiel dafür gibt die Zahl der Arbeiter in der Eisenindustrie des Ruhrgebiets im Gefolge der großen Krise von 1873: Im westfälischen Hauptbergdistrikt hatte sie 1873 einen Höchststand von 7344 erreicht, sank dann vier Jahre hintereinander ab und begann erst 1878 wieder leicht zu steigen. In den achtziger Jahren und in der ersten Hälfte der neunziger Jahre schwankte sie bei einem leichten Aufwärtstrend; der Stand von 1873 aber wurde erst im Jahr der neuen Hochkonjunktur 1896 überschritten. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Die 7344 Arbeiter des Jahres 1873 produzierten 542 000 t Roheisen, die 4109 Arbeiter des Jahres 1877 jedoch 10 000 t mehr und die rund 7000 Arbeiter des Jahres 1895 rund das Dreieinhalbfache der Produktion des Jahres 18739. Um die Reaktionen der Unternehmer festzustellen, ist außer solchen konkret meßbaren Indikatoren der Konjunkturverläufe ein nicht exakt meßbarer von Wichtigkeit, der sich in den Berichten der Unternehmervereinigungen niederschlägt. In ihm werden die Auffassungen der Unternehmer selbst deutlich, ob sie sich in einem guten oder schlechten Geschäftsgang befinden. Diese Auffassung findet im 19. Jahrhundert den regelmäßigsten Niederschlag in den Berichten der Handelskammern, die ja die Konjunkturbeobachter dieser Zeit sind. Vergleicht man diese kollektiv-subjektiven Äußerungen über die Konjunkturlage mit den objektiv gemessenen Daten, so verschärfen sich die Konjunkturausschläge noch einmal, allerdings vorwiegend die Abschwünge. Sie erscheinen in den Handelskammerberichten fast als Beginn einer Katastrophe, und zwar als eine Katastrophe, die von den Unternehmern schon lange vorausgesagt worden ist10. Etwas anders steht es mit den Konjunkturaufschwüngen. Hier zeigt sich ein nicht ganz eindeutiges Bild. In den frühen Jahren des Ruhrbergbaus und des Ausbaus der Eisenindustrie sind sie meist begleitet von euphorischen Stimmungen, werden dargestellt als Beginn einer langen glücklichen Zeit, die auf dem Mut der Unternehmer zum Risiko beruht. Später, nachdem einige heftige Konjunkturabschwünge erlebt worden sind, wird diese euphorische Stimmung schwächer, man sieht hinter der glücklicherweise freundlichen Gegenwart schon wieder das Gespenst der nächsten Krise stehen und warnt vor Übertreibungen, vor allzu großen Hoffnungen. Eine vorsichtige Grundhaltung setzt sich durch, die leicht das Schlimmste befürchten läßt, seltener das Gute für dauerhaft hält. Auch hier gibt es jedoch Ausnahmen. So überraschen die Abschwünge der Jahre 1900 und 1907 die Ruhrkammern völlig. Sind also die Unternehmer oder wenigstens ihre Sprecher im Laufe der Zeit „konjunkturbewußt" geworden? Hat sie die Tatsache der wirtschaftlichen Aufund Abschwünge gelehrt, diese gleichsam vorauszusehen, in ihnen objektive Gegebenheiten zu sehen, mit denen man sich abfinden muß? Eine Antwort auf diese Fragen ist nicht einfach. Ich möchte sie eher mit nein als mit ja beantworten. Spätestens seit der Gründerkrise von 1873 sind die Unternehmer im Ruhrgebiet bestimmt in ihrem naiven Selbstbewußtsein gebrochen. Den Eisenindustriellen fehlte es auch vorher schon. Sie lebten in der ständigen, nachweisbaren Furcht vor der überlegenen westeuropäischen Konkurrenz, vor allem der Schottlands und Belgiens11. Aber auch die Kohleninteressenten sehen seitdem ihre Bäume nicht mehr in den Himmel wachsen; und doch treten einige der expansivsten Unternehmernaturen des Ruhrgebiets erst in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts in Erscheinung — Stinnes und Thyssen z. B. —, und der Höhepunkt ihrer Tätigkeit liegt zum Teil erst nach dem ersten Weltkrieg. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Man ist sich der Gefährdung seines Werkes also bewußt. Dennoch nutzen viele die gegebenen Wachstumschancen und gehen erstaunlich hohe finanzielle Risiken ein. Aber konjunkturbewußt? Das waren die Unternehmer trotz aller regelmäßigen Wiederholungen der Auf- und Abschwünge kaum. Sie neigten stets zur Verabsolutierung der gerade gegenwärtigen Situation. Ihnen fehlte die Gelassenheit des beobachtenden Volkswirts, der die Datenveränderungen miteinander vergleicht und von ihrer Regelmäßigkeit so beeindruckt ist, daß er Gesetze konstruieren zu können glaubt. Die Unternehmer hingegen sind in jedem Moment engagiert, und nur wenigen gelingt ein Abstand von den Dingen, der zu einer gewissen Gelassenheit führen würde. Allerdings muß man, wenn man vor allem die offiziellen Äußerungen von Unternehmergruppen wie Kammern oder Verbänden einer solchen Analyse unterzieht, wiederum berücksichtigen, daß diese ja nie reine Konjunkturberichte waren, sondern zugleich Verbands- oder kammerpolitische Willenserklärungen, die den Adressaten, die preußische Staatsregierung, später in zunehmendem Maße die Parlamente, vor allem den Reichstag, aber auch die öffentliche Meinung, in einer bestimmten Weise zu beeinflussen suchten. Man muß berücksichtigen, daß ihr Pessimismus zu einem Teil Zweckpessimismus war. Aber eben doch nur zu einem Teil; dahinter stehen echte Befürchtungen, wie man aus Vergleichen mit gleichzeitigen privaten, etwa in Briefen geäußerten Meinungen schließen kann12. Wenn ich eben sagte, die Unternehmer seien im ganzen nicht konjunkturbewußt gewesen, so muß ich das jedoch sogleich einschränken bzw. präzisieren. Sie sprechen nämlich sehr oft von „Conjuncturen", meinen damit allerdings nicht das gleiche, was der Nationalökonom des 19. und frühen 20. Jahrhunderts meint, sondern allgemein „den Lauf der Dinge", der nach alter Lebensweisheit einmal auf und einmal ab geht. Ein quasi-naturwissenschaftlicher Begriff der Konjunktur, abgeleitet zwar aus menschlichem Kollektivverhalten, aber unabhängig von individuellen Handlungen, Entschlüssen und Entscheidungen, ist mir nirgends begegnet. Hingegen tritt im Laufe der Jahrzehnte die Einsicht in die Notwendigkeit konjunkturpolitischer Maßnahmen immer deutlicher zutage, und sie werden immer stärker von der staatlichen Wirtschaftspolitik erwartet, was darauf hinweist, daß man eine andere Vorstellung von Konjunkturverläufen hat, daß man sie dem wirtschaftspolitischen Willen der Menschen unterworfen sieht. Zwar kann der einzelne nichts gegen sie tun, wohl aber der Staat oder die Gesamtheit der Unternehmer. Damit bin ich jedoch schon bei dem nächsten Fragenkomplex, den Ursachen der Konjunkturschwankungen. Ehe ich mich ihnen zuwende, muß ich jedoch noch kurz die wesentlichsten Fakten rekapitulieren: Wie sahen die Konjunkturschwankungen im 19. Jahrhundert nun aus? Dabei geht es mir jetzt weniger um eine möglichst exakte Messung der Schwankungsbreiten, sondern in erster Linie um die Grundfrage: Welches waren die Jahre des Abschwungs, welche die des Aufschwungs? Bezogen auf das Ruhrgebiet kann man die Aufschwungslind Krisenjahre wie folgt angeben13: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Aufschwung 1837 bis 1847 Aufschwung 1850 bis 1856 Aufschwung 1860 bis 1866 Aufschwung 1868 bis 1873 Aufschwung 1880 bis 1882 Unsicheres Hin und Her Aufschwung 1887 bis 1893 Kräftiger Aufschwung 1895 bis 1899 Aufschwung 1902 bis 1906 Aufschwung 1908 bis 1912

Krise 1847 bis 1849 Krise 1857 bis 1859 Krise 1866/67 Krise 1873 bis 1879 (bei Kohle erst 1875 bis 1879) 1883/86 leichte Verschlechterung aus ohnehin labiler Lage Leichter Abschwung 1893/94 Krise 1900/01 Krise 1907 Krise 1913

II. Die Ursachen der Konjunkturschwankungen. Es gibt viele Theorien, die versuchen, die Konjunkturschwankungen generell auf einen Nenner zu bringen, Unter- oder Überkonsumtions-, Unter- oder Überinvestitions-Theorien14. Es liegt mir fern, mich irgendeiner solchen Theorie anzuschließen. Als Historiker liegt mir überhaupt jede monokausale Betrachtungsweise fern. Immer sind gewiß mehrere Gründe zu finden, und selten sind es zweimal die gleichen. Warum aber dann die immerhin auffälligen Regelmäßigkeiten in den Verläufen, wenn keine Gesetzmäßigkeiten, keine eindeutig gleichen Ursachen zugrunde liegen? Ohne auf alle möglichen Argumente eingehen zu können, möchte ich hier folgende Meinung vertreten: Es kann eine Art gemeinsamer Nenner für die Konjunkturschwankungen des 19. Jahrhunderts in dem gefunden werden, was man das kollektive Unternehmer-(und Haushalts-)Verhalten nennen könnte. Viele unternehmerische Entscheidungen werden in der gleichen Richtung getroffen, weil den Entscheidungen ähnliche Einschätzungen der Zukunft zugrunde liegen. Diese Entscheidungen führen zu gleichlaufenden Anforderungen, zu Häufungen z. Β. der Investi­ tionen, der Nachfrage im allgemeinen wie der nach bestimmten Artikeln und umgekehrt zur Bremsung der Nachfrage, zur Zurückhaltung in der Lagerhaltung, zur Zurückstellung von Investitionen. Jede dieser Entscheidungen mag als individuelle richtig sein. In ihrer Häufung bewirken sie, solange sie gleichgerichtet sind, jedoch eine Übertreibung und führen zu den Ausbuchtungen in der Kurve, zu den Auf- und Abschwüngen. Nun führt eine Erklärung durch das kollektive Unternehmerverhalten nur einen Schritt zurück zu der weiteren Frage: Wie kommt es zu einem solchen Verhalten? Im Grunde ist ein Teil der Antwort eben schon gegeben worden: Es handelt sich um die Häufung gleichgerichteter individueller Entscheidungen auf Grund gleichartiger Voraussetzungen und gleichartiger Erwartungen. Eine solche Aussage bleibt aber im allgemeinen: Welches die gleichartigen Voraussetzungen sind, kann von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Es können einmal vorwiegend ökonomische, ein andermal technische oder politische sein. Im Grunde kann man für die Ursachen der Konjunkturverläufe vielleicht eine ähnliche Erklärung geben, wie sie unlängst der Nobelpreisträger Otto Warburg für die Entstehung der Krebskrankheit gab: Immer scheint es sich um Gärungen in den Zellen zu handeln anstelle der gesunden Sauerstoffzufuhr. Woher diese © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Gärung jedoch kommt, läßt sich nicht verallgemeinern; hierfür gibt es Dutzende von Ursachen15. Für unseren Zusammenhang wichtig ist wieder nicht so sehr eine völlig befriedigende wissenschaftliche Erklärung der Konjunkturursachen als vielmehr eine Antwort auf die Frage: Wo sahen die Unternehmer die Ursachen für die Schwankungen? Denn nur wenn man das weiß, sind ihre Reaktionen erklärlich. Hierauf ist nun eine Antwort nicht ganz eindeutig. Man wird aus den Konjunkturberichten der Handelskammern z. B. drei verschiedene Erklärungsmöglichkeiten herauslesen können16. Am Anfang liegt offenbar noch eine Art fatalistischer Ergebenheit in natur- oder gottgegebene Schicksalsschläge vor. Eine alte Lebensweisheit besagt: Die Zeiten sind wechselhaft. Aber die Frage nach dem Warum taucht noch nicht direkt auf. Dann aber, und das läßt sich spätestens 1848 erkennen, werden jeweils einzelne Ursachen genannt, diejenigen, die für den eigenen Bezirk, die eigene Branche naheliegen, kaum jedoch gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge: Eine höhere Nachfrage nach Kohlen in Holland läßt die Preise steigen, eine Zollerhöhung im Ausland sie sinken. Die Konkurrenz von billigem belgischen und schottischen Eisen drückt auf die Preise. Oder: die Nachfrage aus den USA nach Eisenbahnschienen hält die deutschen Eisenwerke gut beschäftigt. — Dies sind alles sicher richtige Erklärungen, sie bleiben aber partiell. In einem dritten Stadium, das zeitlich etwa mit der großen Depression der siebziger Jahre erreicht ist, beginnen volkswirtschaftliche Erwägungen stärker einzudringen. So wird ein Zusammenhang zwischen dem Einströmen der französischen Milliarden und den Überinvestitionen der Gründerzeit gesehen. Stärker wird jetzt auch die Möglichkeit der Konjunkturdämpfung, wenn nicht -lenkung durch die Wirtschaftspolitik oder durch die vereinigten Anstrengungen ganzer Branchen betont. In diesem Kontext stehen die Zollforderungen oder die Forderungen nach Verkehrsinvestitionen durch die öffentliche Hand zur Beseitigung von Standortnachteilen. In diesem Zusammenhang aber steht vor allem die Bildung der Kartelle, zu deren ausdrücklicher Aufgabe erklärt wird, die Konjunkturschwankungen abzumildern, in Zeiten des Rückgangs die Preise nicht uferlos sinken zu lassen, in Zeiten des Aufstiegs sie nicht allzu schnell in die Höhe gehen zu lassen. Die Unternehmer wollten also durch Übereinkünfte einen internen Ausgleich vornehmen, den der freie Markt nicht hervorbringen kann. Die Kartelle sind in den Augen der Ruhrunternehmer ganz eindeutig, wenn auch nicht ausschließlich, Instrumente für eine antizyklische Konjunkturpolitik der Interessenten. Das unkoordinierte, gleichgerichtete Verhalten der Unternehmer soll koordiniert, der Markt durchsichtiger gemacht werden. Dahinter verbirgt sich m. E. eine, wenn auch nicht ganz bewußte Einsicht in die Natur der Konjunkturverläufe, die der von mir oben dargelegten nahekommt. Damit bin ich aber schon bei dem dritten Teil, bei den Reaktionen der Unternehmer auf die konjunkturellen Ausschläge, und zwar bereits bei solchen in einem relativ späten Stadium, etwa seit den 1880er Jahren. Ehe ich dort fort© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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fahre, muß ich daher einige frühere und durchgehende Reaktionsweisen betrachten. III. Die Reaktion der Unternehmer auf die Konjunkturschwankungen. Relativ eindeutig sind die Reaktionen auf Aufschwünge, besonders in der frühen Periode (1840—1873). Sie bestehen vor allem in Investitionen. Wenn Bergbau und Eisenindustrie florieren, so erfährt man vor allem von Abteufungen, der Errichtung von Hochöfen, Koksbatterien, Walzwerken, der Anwerbung von Arbeitern etc. Gewiß sind das nicht die einzigen Reaktionen auf Aufschwünge, jedoch die wichtigsten, die ökonomisch folgenreichsten, zumal sie mitunter, nämlich durch die Bildung von Überkapazitäten oder durch Überbeanspruchung des Kredits und hohe Verschuldung, den Grund für Abschwünge legen. Differenzierter sind die Reaktionen der Unternehmer auf Abschwünge, Ich möchte 1. einige marktgerechte Reaktionen erwähnen: Solche marktgerechten Reaktionen findet man das ganze 19. Jahrhundert über. In den Jahren bis zur großen Depression sind sie die am meisten geübten Verhaltensweisen innerhalb des gesamten Komplexes von Unternehmerreaktionen. Solche marktgerechten Verhaltensweisen sind: Preissenkungen, Lohnkürzungen, Produktionseinschränkungen und Arbeiterentlassungen, Investitionsstopp. Am heftigsten sind die ersten beiden, die Reaktionen auf die Preise und Kosten. Es sind die klassischen Verhaltensweisen, die vom Unternehmer in der liberalen Wirtschaftstheorie erwartet werden. Sie sind jedoch nur innerhalb bestimmter Voraussetzungen möglich. Die wichtigste dieser Voraussetzungen ist die, daß die Löhne kürzbar sind, daß also die Arbeitskraft eine Ware im Marxschen Sinne ist. Diese Voraussetzung wird schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich eingeschränkt. Seit dem ersten Weltkrieg ist sie praktisch nicht mehr gegeben. Sozialpolitischer Fortschritt verhindert also marktgerechtes Verhalten der Unternehmer. Preissenkungen ohne Lohnkürzungen sind natürlich nur in viel geringerem Grade möglich. Wenn sich die Lohnkosten nicht oder kaum reduzieren lassen, sind Einsparungen nur beim Material, beim Arbeitsverfahren oder beim Unternehmergewinn möglich. Die hohe Elastizität der Preise um die Mitte des 19. Jahrhunderts ging also großenteils auf Kosten der Arbeiterschaft. In der großen Depression der siebziger Jahre stellten die Ruhrunternehmer selbst mit Bedauern fest, daß den Lohnreduktionen, die sie hätten durchführen müssen, keine gleichgroßen Reduktionen bei den Lebensmittelpreisen und Wohnungsmieten gefolgt seien, wodurch sich der Reallohn der Arbeiter verringert habe17. Der Grund hierfür liegt natürlich in der geringen Elastizität der Nachfrage für Grundnahrungsmittel und Wohnungen: Essen und wohnen muß der Mensch nun einmal, und wenn er weniger verdient, gibt er einen größeren Prozentsatz seines Einkommens für diese Grundbedürfnisse aus, macht ihretwegen auch Schulden. Die Arbeiter, die in Konjunkturaufschwüngen ins Ruhrgebiet geströmt waren, blieben immer häufiger dort, auch wenn momentan die Lohne sanken oder die Arbeitsstelle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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verlorenging. Der Druck auf den Wohnungsmarkt und die Nachfrage nach Lebensmitteln sank also in der Krise kaum. Die marktgerechten Reaktionen taten zwar den Arbeitern weit mehr als den Unternehmern weh, aber auch die letzteren wurden vom Konjunkturabschwung betroffen, denn die Preise sanken meist stärker, als die Löhne reduziert werden konnten, und die Drosselung der Produktion erhöhte in der Schwerindustrie, wo der Anteil der fixen Kosten hoch ist, den Anteil dieser fixen Kosten pro produzierter Einheit. Investitionsstopp überdies bedeutete meist Kapitalverlust, und er wurde nur im Notfall angewandt. Meist gingen Investitionen im Konjunkturabschwung in verlangsamtem Tempo weiter. 2. Mehr und mehr reagierten die Unternehmer auf Konjunkturabschwünge daher mit wirtschafts- und sozialpolitischen Wünschen, die sich teils an die Staatsregierung, teils an die Kommunen, teils an die Eisenbahnen oder die Konsumenten richteten. Bemerkenswerterweise tauchen dabei schon sehr früh, nämlich in den 1840er Jahren, Vorstellungen von einer antizyklischen, jedoch marktkonformen Politik der Regierung auf, die sich dabei „strategischer" Unternehmen wie der Banken oder der Eisenbahnen bedienen solle. So wird wie überall in Deutschland in der Krise von 1847/48 die Erhöhung des Kreditvolumens und die Verbesserung der Kreditwege gefordert. Ferner wird in flauen Zeiten immer wieder eine erhöhte Investitionstätigkeit der Eisenbahnen verlangt und die Rheinische Eisenbahn wiederholt gelobt, weil sie in geschickter Weise die Zeiten niedriger Löhne, d. h. Konjunkturabschwünge, dazu benutzte, um den Ausbau ihres Streckennetzes zu forcieren und dabei Arbeiter zu verwenden, die in der Industrie vorübergehend nicht beschäftigt werden konnten. So benutzen auch große Werke im Ruhrgebiet selbst, z. B. die Gutehoffnungshütte und Krupp, Abschwungszeiten zum Ausbau ihrer Wohnsiedlungen. In den 1870er Jahren überwarf sich z. B. Alfred Krupp mit seinen Prokuristen und Banken, weil er darauf bestand, die angefangene Wohnkolonie in Essen zu bauen, obwohl die Gußstahlfabrik bei stark reduzierten Aufträgen und Preisen kaum noch Gewinn abwarf. Alfred Krupp traf hier eine betriebswirtschaftlich risikoreiche, volkswirtschaftlich aber richtige Entscheidung, allerdings wohl kaum aus nationalökonomischer Einsicht und Altruismus, sondern aus Eigensinn, das einmal gesetzte Ziel zu erreichen18. Vor allem aber benutzten die Unternehmer konjunkturell flaue Zeiten zur Intensivierung ihrer ohnehin an den Staat gerichteten Wünsche auf finanzielle Erleichterungen oder Verbesserung der Infrastruktur. In den 1840er und 1850er Jahren geht es dabei meist um die Abschaffung des Bergzehnten. Aber auch später bleiben Steuervergünstigungen stets auf dem Wunschzettel. Ein anderer ständiger Wunsch betrifft die Ermäßigung der Transportkosten, wobei der Staat zunächst auf die widerspenstigen Eisenbahnverwaltungen, besonders die im Ruhrgebiet als monopolistisch verschrieene Cöln-Mindener, einwirken soll; später, nach der Verstaatlichung der Eisenbahnen, richten sich diese Wünsche naturgemäß an den Staat als Eigentümer. Vereinheitlichung der Transportkosten und -bedingungen, Ein-Pfennig-Tarif, Vermehrung des Angebots an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Güterwagen, Verdichtung des Eisenbahnnetzes, Statuserhöhung der Ruhrgebietsbahnhöfe und vieles mehr wird gefordert und in den Jahren der Konjunkturflauten besonders damit begründet, daß die natürlichen Standortvorteile Belgiens und Englands der Ruhrkohle und dem Ruhrstahl die Konkurrenz auf dem Weltmarkt, ja sogar auf dem Binnenmarkt erschweren. Einen weiteren wichtigen Komplex auf der Wunschliste der Unternehmer bildeten natürlich die Zölle: Zunächst wurden Zollerleichterungen für die Ausfuhr der eigenen Produkte gewünscht; die Regierung soll auf fremde Staaten einwirken, um dort Zollsenkungen zu erreichen. Seit der Depression der 7öer Jahre und dem Beschluß des Reichstages, die Roheisenzölle aufzuheben, werden vor allem Zollerhöhungen des Deutschen Reiches gefordert. Auch dies sind generelle Forderungen, die in Krisenzeiten jedoch doppelt scharf vorgebracht werden. Besonders wegen der zunächst jahrelang angekündigten, dann tatsächlich durchgeführten Senkung der Eisenzölle sieht sich die Eisenindustrie vom Untergang bedroht, obwohl sie gleichzeitig ihren Anteil am Weltmarkt auf Kosten Englands erheblich vergrößerte19. Seit der Bismarckschen Wende zum Schutzzoll (1878/79) verliert dieses Problem seine Vordringlichkeit, bleibt aber ständig auf der Tagesordnung, vor allem seit unter Caprivi wieder Zollsenkungen drohen. In den 80er Jahren kommt jedoch ein neues Thema auf, das die Zolldebatte überschattet: die staatliche Sozialversicherung, die den Unternehmern zusätzliche Lasten auferlegt. Zwar wird sie prinzipiell begrüßt, aber im einzelnen als zu weitgehend, finanziell zu hart und bis zum ersten Weltkrieg als wettbewerbsverzerrend empfunden, weil sie der deutschen Industrie einseitig Lasten auferlegt, die die Wettbewerber auf dem Weltmarkt nicht zu tragen haben. „Langsamtreten" in dem Ausbau der Sozialversicherung ist die Parole, die sich in allen Jahresberichten der Ruhrkammern und Ruhrverbände wiederholt, und in Zeiten sinkender Konjunktur wird dieser Ruf zu einem Schrei: Wir werden verderben, die „nationale Arbeit" wird untergehen, wenn uns weiter so hohe Soziallasten aufgebürdet werden20. Erst in den letzten Jahren vor Beginn des ersten Weltkrieges wird dieses Thema von einem anderen verdrängt: der Notwendigkeit der Rüstung im nationalen Interesse. Seit etwa 1905, d. h. in den letzten beiden Konjunkturphasen vor dem Krieg, beherrscht dieses Thema die Debatte. Es wird durchaus auch in den Jahren des Aufschwungs erörtert, gewinnt aber in den Jahren des Abschwungs besondere Dringlichkeit, wobei schließlich nicht mehr zu erkennen ist, ob mehr genuin wirtschaftliche Wünsche oder eher ein politisch motiviertes Großmachtstreben dahintersteht. Beide vermischen sich in Formulierungen wie der der Handelskammer Essen/Mülheim vom 31. 12. 1913, „daß die Achtung unseres Volkes in der Welt, sein politisches und wirtschaftliches Wohlergehen, im engsten Zusammenhang stehen mit seiner Kriegsbereitschaft und seiner militärischen Stärke, und daß wir deswegen in unseren Anstrengungen, unsere Rüstung zu vervollständigen, nicht erlahmen dürfen"21. 3. Zur Verstärkung solcher Wünsche an Regierung und Öffentlichkeit hatten die Ruhrunternehmer schon sehr früh einen Weg beschritten, der dann zum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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allgemeinen Mittel zur Durchsetzung von Gruppeninteressen in einer Industriegesellschaft geworden ist, den Weg der Verbandsbildung. Obwohl nicht die ersten, so haben die Ruhrindustriellen doch bald die wirkungsvollsten deutschen Industrieverbände gebildet. Früher als die ihren waren einige Verbände der Konsumgüterindustrie, besonders der Verein der Baumwollindustriellen, gegründet worden. Aber mit der Bildung des „Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund", dem Ruhrkohlenverband, in der ersten sogenannten Weltwirtschaftskrise von 1857/58 gehört das Ruhrgebiet doch zu den Bezirken früher Verbandsbildung, und der Zusammenhang mit einer Krise, der ersten großen während des modernen Wachstums des Ruhrgebiets, Hegt hier offen zutage. Von den zahlreichen anderen Verbänden, die später hinzugekommen sind, haben politischen Einfluß vor allem der „Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen" (Langnamverein) und die nordwestliche Gruppe des „Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller" ausgeübt, deren Gründer weitgehend identisch waren. Die Aufgabe der Verbände war, die Wünsche der Unternehmer zu koordinieren und durchzusetzen, und in Konjunkturflauten machten sie besonders auf die Notlage ihrer Interessenten aufmerksam. Ihr wichtigstes Mittel bestand darin, eine weitgehende Übereinstimmung der Gruppeninteressen, die sie vertraten, mit den nationalen Interessen herbeizuführen, damit die Gruppeninteressen im Lichte des Gemeinwohls erschienen. In der Tat hat sich ja auch die Auffassung weit verbreitet, daß das, was dem Ruhrgebiet guttut, auch Deutschland nützt, und was der Ruhrindustrie schadet, auch dem Deutschen Reich zum Nachteil gereicht. Daß dabei die Sonderinteressen in Wirklichkeit stets im Vordergrund standen, geht aus der scharfen Reaktion der Verbände hervor, wenn sie mit Sonderinteressen anderer Gruppen in Konflikt gerieten. So gehörten sie zu den vehementesten Gegnern einer staatlichen Sozialpolitik, die den Unternehmen Lasten aufbürdet, den Arbeitern ein Mitwirkungsrecht sichert oder der Sozialdemokratie ein Lebensrecht einräumt. Sie stellten sich entschieden gegen die liberalen Handels- und Konsumgüterverbände, die gegen die Zölle kämpften, und suchten deshalb aus einer Gemeinsamkeit der Interessen heraus das Bündnis mit den Verbänden der Landwirtschaft. Das bodenständige, an Immobilien fixierte Kapital vertrat in diesem Interessenbündnis die ,guten', die ,deutschen' Interessen gegenüber den national indifferenten des mobilen Kapitals der Händler, die die Werte der „nationalen Arbeit" nicht kannten oder anerkannten, sondern nach dem Billigsten schielten. Durchaus berechtigte, weil in der Natur der Sache Hegende Interessenwahrnehmung wurde hier ideologisch überhöht und geriet damit in gefährliche Nähe einer nationalen Großmannspolitik22. 4. Neben der Verbandspolitik gehörte zu den Reaktionen der Ruhrunternehmer auf Konjunkturabschwünge die Bildung von Kartellen23. Daß diese durchweg „Kinder der Not" seien, wie früher oft behauptet wurde, ist zwar nicht richtig, denn es gibt auch viele Kartelle, die in Konjunkturaufschwüngen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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entstanden, aber die bekannten Kartelle gerade der deutschen Großindustrie haben ihren Ursprung vorwiegend in Maßnahmen, die gegen den Preisverfall im Konjunkturabschwung unternommen wurden. Im großen setzten die Kartellbestrebungen im Ruhrgebiet während der Depression der siebziger Jahre ein. Ihr erstes Ziel war eine „vernünftige Beschränkung der Produktion", um dem Preisverfall ein Ende zu setzen. Die Stellung der Unternehmer dazu, obwohl theoretisch positiv, war praktisch jedoch nicht einhellig, denn es dauerte immerhin rund 1½ Jahrzehnte bis zur Gründung des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats im Jahr 1893, in dem sich erstmals nach mehreren partiellen Versuchen nahezu alle Ruhrkohlenproduzenten zusammenfanden. Auch in der Eisenindustrie gab es immer wieder Außenseiter, die sich ihre unternehmerische Freiheit nicht beschränken lassen wollten oder die sich eine bessere Chance ausrechneten, wenn sie außerhalb blieben und durch Unterbieten des Kartells ihren Marktanteil vergrößerten. Seit der Mitte der 80er Jahre überwiegt aber der Drang nach Sicherheit bei Kohle, Eisen und Eisenprodukten eindeutig, und ein Kartellvertrag nach dem anderen wird geschlossen. Nicht zufällig fallen diese Verträge gerade in jenes Jahrzehnt unsicherer Konjunktur. Wenn das Ruhrkohlensyndikat in eine Periode des Aufschwungs fiel, so ist das insofern eine optische Täuschung, als dem Abschluß des Vertrages jahrelange Verhandlungen vorangingen, die ihren Ursprung in der Depression und der schwankenden Konjunkturlage der 1880er Jahre haben. Ich erwähnte schon, daß es ein erklärtes Ziel des Kohlensyndikates wie der Eisen- und Stahlkartelle war, die Auswirkungen der Konjunkturschwünge nach beiden Seiten zu dämpfen, und daß sie darin durchaus eine volkswirtschaftliche Aufgabe sahen. In der Argumentation der Unternehmer gibt nicht das Interesse der Unternehmen den Ausschlag, sondern das Gemeinwohl. Die Ruhrunternehmer haben ihre Kartelle als positiven Beitrag zu einer deutschen Konjunktur- und Wirtschaftspolitik verstanden, als ein Mittel, aus dem Chaos der zufälligen Marktbewegungen herauszukommen und die Wirtschaftsbewegungen auszugleichen. Diese Identifizierung von Gemeinwohl und Gruppeninteresse ist charakteristisch für viele Argumente der Ruhrunternehmer. Sie ist nicht einfach perfid, denn sie wurde von den Unternehmern offensichtlich als selbstverständlich vorausgesetzt, und bis zu einem gewissen Grad traf sie auch zu. Es läßt sich in der Tat nachweisen, daß die Preisschwankungen seitdem kleiner wurden, und nicht nur nach unten, sondern auch nach oben, weil das Syndikat nicht alle seine Monopolmacht nutzte, um in der Hochkonjunktur die Preise in die Höhe zu treiben. Immerhin blieben die Ausschläge nach oben doch beträchtlicher als die nach unten. Das Hauptaugenmerk richteten die Syndikate natürlich auf den Preisverfall. Preiserhöhungen, wenn sie langfristig durchzusetzen waren, wurden durchaus vorgenommen. Was unter dem Syndikat wegfiel, waren die kurzfristigen, spekulativen Preiserhöhungen auf Grund irgendwelcher Sonderbewegungen und sei es nur eines sommerlichen Niedrigwassers auf dem Rhein, das die Schiffahrt erschwerte und die Lagerhaltung der Abnehmer verminderte. Das Syndikat dachte langfristiger und machte auch den Kunden langfristi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gere Kalkulationen möglich. Im Abschwung kürzte es die Produktionsquoten, um die Preise zu halten, wirkte sich also expansionshemmend aus. Infolge des Fehlens einer staatlichen Konjunkturpolitik waren die Unternehmer fast gezwungen, eine eigene antizyklische Konjunkturpolitik zu treiben. Wenn sie freilich die Wahl zwischen beiden gehabt hätten, hätten sie sicherlich ihr Kartell dem staatlichen Eingriff vorgezogen. Aber diese Alternative bestand im späten 19. Jahrhundert für sie nicht. Ihre Interpretation, daß es sich bei den Syndikaten um eine konsequente „Ordnung" der Marktwirtschaft handele, ist daher nicht ohne Logik, wenngleich wir heute wissen, daß als Ordnungssetzer und Ordnungshüter besser interessenneutrale Instanzen wirken sollten als die Interessenten selbst, für die eine Ordnung naturgemäß eine Ordnung in ihrem Interesse ist. Angemerkt sei hier, daß zur gleichen Zeit auch die Lohnschwankungen, besonders nach unten, geringer werden, da auch die Gewerkschaften Marktmacht zu erringen begannen und die Arbeitskräfte im Bergbau selbst in Abschwungsjahren knapp blieben. IV. Ausblick auf die Gegenwart. In Verbänden und Kartellen fanden die Reaktionen der Ruhrunternehmer auf wirtschaftliche Krisen vor dem ersten Weltkrieg ihren institutionellen Niederschlag. Beide sind bis heute klassische Mittel der Interessenwahrnehmung geblieben, wenngleich seit dem ersten Weltkrieg zahlreiche andere Formen der Absicherung gegen Konjunktur- und der Hilfe in Strukturkrisen hinzugekommen sind, etwa die direkten staatlichen Hilfen durch Subventionen, Anpassungs- und Rationalisierungsprämien und anderes mehr. Trotz Veränderungen der Voraussetzungen und des allgemeinen politischen und wirtschaftspolitischen Rahmens seit dem Weltkrieg sind manche Grundmotive und Verhaltensweisen der Ruhrunternehmer gleichgeblieben, vor allem die Identifizierung der eigenen und der regionalen Interessen mit denen der Nation. Die politische Geschichte hat dazu gewiß beigetragen, denn in zwei Kriegen und zwei Nachkriegszeiten ist die Unentbehrlichkeit der Kohle und ihre Priorität vor anderen Wirtschaftsgütern zu einem allgemeinpolitischen Dogma erhoben worden, obwohl sich rein wirtschaftlich seit dem ersten Weltkrieg das Zeitalter des Öls abzeichnete. Die Jahre 1919 bis 1923, insbesondere die Katastrophe, in die das Deutsche Reich trieb, als die Ruhrproduktion während der Besetzung ausfiel, und wieder die Jahre 1945 bis 1949 haben zu einer Extensivierung des Bergbaus geführt, die langfristig gesehen nicht gerechtfertigt war und die eine in einer friedlichen Welt unabhängig entscheidende Unternehmerschaft vermutlich nicht in demselben Ausmaß durchgeführt hätte. Nach der Konsolidierung kam es nach jedem Krieg daher zu einer Strukturkrise im Bergbau. Obwohl es 1921 noch im Reichswirtschaftsrat geheißen hatte, daß „die Kohle für alle Zeiten die Grundlage der gesamten deutschen Wirtschaft bleiben wird und bleiben muß"24, wurden 1923 bis 1925 die ersten Zechen aus Rationalisierungsgründen stillgelegt. Gleichzeitig stand die Eisenindustrie im Schatten der Konjunktur. Die Identifizierung mit der deutschen Industrie und der deutschen Nation fand auch damals statt. Im Sommer 1925 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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hielten z. Β. der „Langnamverein" und die nordwestliche Gruppe des „Ver­ eins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller" eine gemeinsame Tagung ab, auf der sie die Öffentlichkeit auf die „Notlage der deutschen Industrie" aufmerksam machten. Und im Winter des gleichen Jahres schrieb Paul Reusch, daß die seit Monaten andauernde Krise sich von Tag zu Tag verschärfe: „Das Sterben in der Wirtschaft hat begonnen. Wir haben geredet, wir haben geschrieben, wir haben Bände gedruckt und bedruckt, um unsere berechtigten Klagen aller Welt kundzutun. Sie sind bei Regierung und Parlament ungehört verhallt."25 Man könnte hier Parallelen zur Gegenwart ziehen. Ein Blick in jede Tageszeitung, in jede Anzeige der Ruhrkohlenindustrie genügt, um die Identifizierung des Gruppeninteresses mit dem nationalen Interesse nachzuweisen. Auch die Reaktion: Gemeinschaftshilfe durch Kartelle, durch Betriebs- und Unternehmenszusammenschlüsse, vor allem aber der Ruf nach Staatshilfe ist geblieben. Schon während der Krisen und unsicheren Konjunkturen im 19. Jahrhundert entwickelte also die Wirtschaft die wesentlichsten Instrumente einer Selbsthilfe, die in mannigfaltig abgewandelter Form noch bis heute verwendet werden. Der Staat hingegen hat im 19. Jahrhundert eine eigene Konjunkturpolitik noch kaum begonnen. Zwar greift er in Krisen immer wieder zu punktuellen Maßnahmen wie Staatskrediten in der Krise von 1848, Zollerhöhungen oder ähnlichem nach der großen Krise der 1870er Jahre, aber eine bewußte, langfristige staatliche Konjunkturpolitik hat es im 19. Jahrhundert nicht gegeben. Dieses Problem staatlicher Konjunkturpolitik ist in seiner ganzen Schärfe erst in der Weltwirtschaftskrise seit 1929 erkannt worden, und seitdem ist auch erst das wesentliche Instrumentarium entwickelt worden, das Zentralbanken und Finanzministern eine staatliche Konjunkturlenkung erlaubt. Heute genügt auch dieses globale Instrumentarium nicht mehr, denn die Ruhrindustrie steckt nicht in einer vorübergehenden Wachstums-, sondern in einer langfristigen Strukturkrise. Trotz dieses grundlegenden Unterschiedes ermöglichen aber die in den Jahren des Wachstums vorgeprägten unternehmerischen Verhaltensweisen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vielen Interessenvertretern der Ruhrindustrie noch heute, so zu sprechen, wie sie es schon vor Jahrzehnten taten. Ob allerdings die deutsche Nation noch in gleicher Weise darauf anspricht wie 1880, 1913 oder 1925, erscheint mir zweifelhaft, obwohl neuere Umfragen ergeben haben, daß noch immer eine gute Mehrheit der Deutschen bereit ist, die Kohle als einheimische Energiequelle auch auf Kosten des Steuerzahlers weiter zu erhalten. Sie als unentbehrliche Lebensader der deutschen Wirtschaft anzusehen, macht aber immer mehr Schwierigkeiten, je länger sich herausstellt, daß die übrige Volkswirtschaft florieren kann, während die Grundstoffindustrie schrumpft oder stagniert, und je länger ein friedlicher weltwirtschaftlicher Austausch erhalten bleibt, der es unnötig erscheinen läßt, auf die einheimischen Energiereserven zurückzugreifen, da günstigere anderswo zur Verfügung stehen. Das Dilemma des deutschen Bergbaus heute ist, so scheint mir, daß er auf das Schreckgespenst einer niemandem erwünschten na© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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tionalen Autarkie hinweisen muß, um seine Unentbehrlichkeit nachzuweisen, und daß er mit diesem Nachweis zunehmend anachronistisch wird. Lassen Sie mich jedoch schließen mit dem Hinweis, daß diese Identifizierung des Gruppeninteresses mit dem nationalen Interesse nicht die einzige Reaktion des Bergbaus auf die langfristige Strukturkrise ist. Schnell steigende Schichtleistungen und auch Stillegungen beweisen, daß er daneben auch noch marktwirtschaftlich reagiert, so wie er es in den ersten Jahrzehnten seines stürmischen Wachstums in erster Linie getan hat, und diese marktkonforme Reaktion ist eine ebenso durchgehende, wenn auch weniger lautstark in die Öffentlichkeit dringende Verhaltensweise wie die Identifikation des eigenen mit dem nationalen Interesse.

13 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Staatsverwaltung u n d Interessenverbände im Deutschen R e i c h 1871—1914 Um das Verhältnis von Staatsverwaltung und Interessenverbänden im Deutschen Kaiserreich erfassen zu können, wird man zunächst definieren müssen, was mit den Begriffen „Staatsverwaltung" und „Interessenverbänden" gemeint ist. Unter „Staatsverwaltung" soll hier an sich der ganze Verwaltungsapparat des Deutschen Reiches, seiner Bundesstaaten einschließlich der Provinzial- oder Bezirksregierungen und Kommunen verstanden werden, aus praktischen Gründen werden sich diese Ausführungen jedoch wesentlich auf die oberste Reichsverwaltung und auf die oberste preußische Staatsverwaltung beschränken müssen, Unter „Interessenverbände" sind Vereinigungen zu verstehen, die dem Zwecke dienen, innerhalb des Staates und in der Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Kräfte untereinander bestimmte als übereinstimmend gedachte, im Rahmen des Staats- und Gesellschaftsganzen jedoch partielle „Interessen" zu vertreten. Diese Interessen müssen nicht wirtschaftlicher Art sein, sie können ebenso religiöse Überzeugungen, kulturelle oder regionale Traditionen, nationale Minderheiten oder gesellschaftliche Statuswünsche zur Geltung bringen wollen. Wiederum aus praktischen Gründen werde ich mich jedoch wesentlich auf einige wenige, hauptsächlich wirtschaftlich motivierte Verbände beschränken. Gerade wegen dieses Zwangs zur Beschränkung möchte ich jedoch betonen, daß bei voller Berücksichtigung aller Dimensionen des Themas die Aussage sehr viel nuancenreicher ausfallen würde als in dieser notwendigerweise verkürzten Darstellung.

I. Zur Entstehung und Organisation der Interessenverbände in Deutschland Das Entstehen von Interessenverbänden wird meist mit der Auflösung der ständischen Gesellschafts- und Staatsordnung, dem Auseinanderfallen von Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Wenn man unter Interessenverbänden freie, privatrechtlich organisierte Vereinigungen von Individuen, Firmen oder Gruppen versteht, ist das auch richtig. Das bedeutet jedoch nicht, daß Interessen nicht auch in der vorindustriellen Welt wahrgenommen worden wären oder daß sie dort nicht organisiert gewesen wären. Selbstverständlich gab es Interessenorganisationen auch vor dem 19. Jahrhundert und zwar meist in sehr enger Verflechtung mit der politischen Herrschaftsordnung. Als die modernen Vereinigungen sich zu bilden begannen, waren diese älteren Organisationen noch keineswegs verschwunden. In den deutschen Staaten, die

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den napoleonischen Reformen widerstanden oder sie widerriefen, z. B. den Hansestädten, lebten sie in der Form von Kommerzdeputationen noch weiter, als sich im übrigen Deutschland längst die „bürgerliche Gesellschaft" mit ihren freien Assoziationen ausgebildet hatte. Bei der Gründung des Deutschen Reiches war diese Ausbildung einer „pluralistischen Gesellschaft" schon weit fortgeschritten, und es gab zahlreiche Vereinigungen, die man ihrer Organisation und ihren Zielen nach mit vollem Recht als moderne Interessenverbände bezeichnen kann, auf wirtschaftlichem Gebiet z. B. Zusammenschlüsse einzelner Branchen wie die der Baumwoll- oder Zuckerfabrikanten oder der Industrien ganzer Staaten wie der Sachsens oder Badens. Die meisten waren im Zusammenhang mit der Ausbildung des Zollvereins entstanden1. Ihr unmittelbarster Zweck bestand darin, bei den Zollvereinsregierungen bestimmte Branchenwünsche, meist Zölle oder Steuern betreffend, durchzusetzen; darüber hinaus hatten sie sich jedoch zum Ziel gesetzt, andere gemeinsame Probleme zu besprechen und das Wohl ihrer Branche oder Region zu fördern. Was immer diese allgemeineren Zwecke waren, deutlich ist bei jeder dieser Gründungen, daß die Verbände als Partner, den es anzusprechen und zu überzeugen galt, in erster Linie den „Staat" sahen. Man kann daher allgemein formulieren, daß die Interessenverbände vor allem da entstanden sind, wo einzelne Gruppen — meist infolge von Veränderungen wirtschaftspolitischer Daten — sich zusammenschlossen, um Forderungen an „die Allgemeinheit" zu stellen. Und diese Allgemeinheit ist repräsentiert in der Staatsverwaltung. Umgekehrt sind Interessenorganisationen jedoch auch dadurch ins Leben gerufen worden, daß die Staatsverwaltung Anforderungen an bestimmte Gruppen der Gesellschaft oder Wirtschaft stellte und sie mitunter sogar zur Ausführung bestimmter Aufgaben zwangsorganisierte. Besonders Kaufleute oder Reeder sind so zur Wahrnehmung von Gemeinschaftsaufgaben wie Hafenverwaltung, Lagerkontrolle etc. verpflichtet worden, wo ältere genossenschaftliche Organisationen nicht vorhanden waren oder nicht ausreichten. Diese staatlichen Zwangsorganisationen bildeten eine der beiden Hauptwurzeln für die modernen „Kammern", besonders die Industrie- und Handelskammern2. Bei der Gründung des Deutschen Reiches war die gewerbliche Wirtschaft der meisten Gegenden in Handelskammern, Korporationen der Kaufmannschaften oder Kommerzdeputationen organisiert, großenteils zwangsweise. Diese Kammern besaßen die doppelte Aufgabe, sowohl die Anforderungen des Staates an einzelne Gruppen nach Beratung, Berichterstattung, Mit- oder Hilfsverwaltung zu erfüllen, wie die Wünsche der in ihnen organisierten gewerblichen Unternehmerschaft eines Bezirks an den Staat zu formulieren und zu vertreten. Im Deutschen Handelstag besaßen die Kammern überdies ein (aus freiem Entschluß 1861 gegründetes) Zentralorgan, das sie als den berufenen Sprecher der gesamten deutschen Kaufmann- und Fabrikantenschaft gegenüber der Reichsund den Staatsregierungen ansahen3. Im Bereich der gewerblichen Wirtschaft fand das Deutsche Reich also eine ausgebildete Interessen- und Selbstverwaltungsorganisation vor, mit der zudem die Staatsregierungen bereits seit Jahr13* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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zehnten zu arbeiten gelernt hatten. Ein reger Schriftverkehr zwischen Kammern und Staatsorganen war in allen entwickelteren deutschen Staaten, nicht nur in Preußen, seit langem selbstverständlich, und fast überall waren die Kammern zu jährlichen Berichten verpflichtet, die für Bismarck z. Β. eine Hauptinforma­ tionsquelle in Wirtschaftsfragen darstellten. Auch die Landwirtschaft besaß eine „amtliche" bzw. amtlich anerkannte Vertretung ihrer Interessen. In Preußen bestand z. Β. seit 1842 das Landes­ ökonomiekollegium, das ähnlich wie die Handelskammern den Doppelauftrag besaß, sowohl der Staatsverwaltung als „technische Deputation", als Organ zur Ausführung bestimmter, die Landwirtschaft betreffenden Aufgaben, wie als Sammelpunkt für die landwirtschaftlichen Vereine zu dienen und so die Interessen der Landwirtschaft zu fördern und bei der Staatsregierung „anzumelden". 1868 hatte sich dann im Kongreß Norddeutscher Landwirte zum ersten Mal eine freie Verbindung von Landwirten gebildet, die nicht wie die älteren landwirtschaftlichen Vereine vorwiegend der technischen und betriebswirtschaftlichen Fortbildung seiner Mitglieder diente, sondern zur „Wahrnehmung der Interessen der Landwirtschaft im ganzen Umfange des norddeutschen Bundes" geschaffen wurde4. Aus seinen und verwandten Bemühungen entstand dann 1872 der „Deutsche Landwirtschaftsrat" als Gesamtvertretung der deutschen Landwirtschaft, zusammengesetzt aus Delegierten der landwirtschaftlichen Zentralvertretungen der deutschen Einzelstaaten. Seine Aufgabe bestand nach dem Willen seiner Gründer darin, „die landwirtschaftlichen Interessen im Gesamtumfange des Deutschen Reiches wahrzunehmen und überall, wo dieselben durch die Reichsgesetzgebung oder durch Anordnungen und Maßregeln der Reichsverwaltung gefördert werden können oder geschädigt zu werden Gefahr laufen, nicht nur etwa von ihm geforderte Gutachten abzugeben, sondern auch unaufgefordert und beizeiten an den Reichskanzler motivierte Vorstellungen zu richten oder sich mit Anträgen an den Reichstag zu wenden"5. Als Unterbau zu dieser zentralen Vertretung entstand seit 1894, zunächst in Preußen, später auch in anderen Bundesstaaten, eine bezirklich gegliederte und öffentlich-rechtlich organisierte Kammerorganisation der Landwirtschaft. Die dritte Gruppe selbständiger Gewerbetreibender, das Handwerk, erhielt 1897 eine eigene amtliche Interessenvertretung in Form von Handwerkskammern zugesprochen. Zuvor war es nur in Bayern, Sachsen und den Hansestädten in den Gewerbekammern mitvertreten, in den meisten deutschen Staaten nach Auflösung der Zünfte jedoch auf freiwillige Innungen oder Vereine angewiesen. Die Handwerkskammern beruhten als einzige Kammern auf einem Reichsgesetz. Ungelöst ist die Frage geblieben, ob auch die Arbeitnehmer gesetzliche Interessenvertretungen bekommen sollten. Trotz zahlreicher Vorstöße im Reichstag und einer ausgedehnten wissenschaftlichen und politischen Kontroversliteratur kam kein Gesetz zustande, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Befürworter der Kammern in zwei Gruppen zerfielen, in die, die eine selbständige Arbeiter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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kammer, und diejenigen, die paritätisch auch mit Arbeitgebern zu besetzende Arbeitskammern wollten6. Trotz dieses letzten „Mangels im System" hat das Deutsche Reich mindestens seit 1900 gesetzlich begründete öffentlich-rechtliche Organisationen der wirtschaftlichen Interessen in einem Umfange besessen, wie wohl kaum ein anderes Land der Erde. Fügt man noch hinzu, daß mindestens zeitweise mit dem preußischen Volkswirtschaftsrat und dem nie zustande gekommenen Reichswirtschaftsrat eine übergeordnete gesetzliche Vertretungsinstanz für die gesamte deutsche Volkswirtschaft ins Auge gefaßt wurde, so könnte der Eindruck entstehen, daß die Vertretung wirtschaftlicher Interessen im Deutschen Reich verfassungsrechtlich eindeutig geregelt und sozial wohl ausgewogen gewesen sei. Trotzdem wird niemand, der die großen Interessenkämpfe des Kaiserreichs überblickt — die Kämpfe für oder gegen Schutzzölle, um die Ausgestaltung der Handelsverträge, um die Kolonial- und Flottenpolitik, den Kanalbau, das Steuersystem, die Organisation und Beaufsichtigung der Börse, die Sozialpolitik — den Eindruck eines wohlbalancierten Ausgleichs divergierender Interessen bekommen; noch wird er den Eindruck gewinnen, daß die eben behandelten „amtlichen" Interessenvertretungen die entscheidenden Rollen in den Interessenkämpfen spielten. Diese nahmen vielmehr die sog. „freien Verbände" ein wie der 1893 gegründete Bund der Landwirte oder der schon früher in der gleichen Richtung arbeitende Verein der Wirtschafts- und Steuerreformer, oder der Centralverband deutscher Industrieller (gegr. 1876) bzw. seine Mit- oder Gegenspieler in den Industrieverbänden; außerdem solche mit den wirtschaftlichen Interessenverbänden vielfach verflochtenen politischen Agitationsorganisationen wie der Deutsche Kolonialverein (gegr. 1882) oder der Deutsche Flottenverein (gegr. 1898). Man könnte daher versucht sein, wie das auch oft getan wird7, die öffentlichrechtlichen Gremien aus dem Begriff des Interessenverbandes überhaupt herauszunehmen. Dies wäre jedoch falsch. Auch sie waren mit der Wahrnehmung von Interessen beauftragt, haben sich als Interessenvertreter verstanden und in unzähligen Fällen als solche gehandelt. Sie sind auch im Alltagsgeschäft der Staatsverwaltung ständig gehört worden und haben sich in zahlreiche wirtschaftliche und soziale, technische und auch politische Gesetzgebungsakte und Verwaltungsmaßnahmen eingeschaltet. Auch sind sie ebenso Kritiker wie Kooperatoren der Regierungen gewesen. Wenn ihre Stimme gedämpfter klingt als die der freien Verbände, so hat das vornehmlich drei Gründe: Einmal waren sie als amtlich anerkannte Organe nicht so sehr darauf angewiesen, öffentlich Geschrei zu erheben, sondern konnten dem stillen Geschäft des Informierens und Überzeugens in Denkschriften, Gutachten und Gesprächen nachgehen, da die Regierungen, obwohl nur in den Hansestädten gesetzlich verpflichtet, die Kammern zu hören, dies doch in nahezu allen die Interessen der Wirtschaft berührenden Fragen taten. Zweitens verbot ihnen ihre öffentlich-rechtliche Stellung und das Aufsichtsrecht des Staats eine allzu hemmungslose Agitation. Vor allem aber waren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die Kammern als Gesamtvertreter eines Bezirks gezwungen, schon intern einen Interessenausgleich vorzunehmen, ehe sie ihre Stellungnahme abgaben. Neben den Kammern bildeten sich im Verlaufe der großen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen im Deutschen Reich mehr und mehr die freien Vereinigungen, an die wir besonders denken, wenn wir von Interessenverbänden sprechen. Rechtlich gehören sie in den Bereich des privaten, speziell des Vereinsrechts, soziologisch und politologisch können sie als „demokratische" Organisationen angesprochen werden. Zu ihren Merkmalen gehört der freiwillige Eintritt der Interessenten. Der Bund der Landwirte und der deutschnationale Handlungsgehilfenverband schlossen zudem jedoch die Finanzierung durch Mitgliederbeiträge und Spenden und die Organisation von unten nach oben durch die Wahl von Bezirks- oder Branchenvertretern, Vorstand, Ausschuß etc. ein. Manche Verbände waren straff in Bezirksgruppen gegliedert und hatten vor allem Einzelmitglieder, deren Zahl allerdings nur bei den — hier nicht behandelten — Freien Gewerkschaften die Million überschritt. Der Bund der Landwirte, eine andere „Massenorganisation", erreichte 1911 erst 328 000 Mitglieder8. Andere bestanden nur aus wenigen, aber mächtigen Mitgliedern, z. B. Firmen oder anderen Verbänden, so z. B. der Centralverband Deutscher Industrieller, in dem sich Einzelmitglieder, Firmen, Verbände, aber auch Handelskammern zusammenfanden9. Auf die ganze Vielfalt der internen Organisation kann hier nicht eingegangen werden. Festgehalten sei, daß die freien Verbände sich ihre Organisation selbst gaben und von staatlicher Vormundschaft frei waren. Betont werden muß auch, daß die innerverbandliche Organisation durchaus nicht „demokratisch" sein mußte, sondern daß sich Herrschaftsstrukturen eigener Art, z. B. das Übergewicht der Verbandsfunktionäre, herausbilden konnten, und schließlich muß erwähnt werden, daß zahlreiche Überlappungen zwischen den Verbänden vorkamen — nicht nur Handelskammern Mitglieder des Centralverbandes, sondern dieser auch Mitglied des Handelstages war und daß die führenden Verbandspersönlichkeiten sich in zahlreichen Verbänden betätigten10. Die bekanntesten und offensichtlich mächtigsten dieser Verbände — sowohl als Gegenspieler wie als Verbündete — waren der Bund der Landwirte und der Centralverband Deutscher Industrieller. Die Wirkungsweise und das Einflußgebiet von Interessenverbänden im deutschen Kaiserreich soll daher jetzt am Beispiel besonders dieser beiden Verbände näher analysiert werden10a. II. Die Wirkungsweise der Verbände und ihr Einflußgebiet Generell wirken Verbände als organisierte Zusammenschlüsse Gleichinteressierter entweder durch die Macht der Zahl, die hinter ihnen steht — so der Bund der Landwirte oder die Gewerkschaften — oder durch das „Gewicht", das sie in Wirtschaft, Gesellschaft oder Staat repräsentieren — so beispielsweise der Centralverband Deutscher Industrieller. Verbände sind Assoziationen, um diese Zahlen oder Gewichte zur Geltung zu bringen, und zwar regelmäßig auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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drei Ebenen: 1. In der öffentlichen Meinung, 2. im Parlament als dem gesetzgebenden Körper, 3. in der Regierung als der Exekutive und Gesetzesvorbereiterin. Es muß gleich hier betont werden, daß die Verbände auch im Kaiserreich schon auf allen drei Ebenen tätig waren, und zwar, wenn mein Eindruck richtig ist, auf allen dreien gleichzeitig und mit gleicher Intensität. Selbstverständlich wurden die Gewichte aus taktischen Gründen von Fall zu Fall verschieden verteilt, langfristigere Pläne zunächst durch Agitation zur Gewinnung der öffentlichen Meinung vorbereitet, bei Gesetzesvorlagen vor allem das Parlament bearbeitet, in zahlreichen kleineren Fragen vor allem die Regierung beeinflußt. Bei einer Durchsicht der Literatur, vor allem der vor dem 1. Weltkrieg entstandenen, erhält man sogar den Eindruck, als ob die „Öffentlichkeitsarbeit" die ausgedehnteste gewesen, die „Parlamentsarbeit" an zweiter Stelle gestanden und die Einwirkung auf die Regierung nur drittrangig gewesen sei. Hier täuscht jedoch die Perspektive. Den Zeitgenossen war die Tätigkeit der Verbände in der Öffentlichkeit bekannt; über sie berichten Versammlungsprotokolle, Broschüren und Pressemitteilungen. Was die Verbände außerdem taten, wann und wie sie vor allem an die Verwaltungsbeamten herantraten, blieb großenteils unbekannt und kann nur durch Archivarbeit einigermaßen rekonstruiert werden. Das ist bisher noch nie im Zusammenhang geschehen, und wir können daher über das genaue Ausmaß des Verbandseinflusses auf die Verwaltung nur Vermutungen anstellen. Einen Hinweis mag die Tatsache geben, daß in der Bundesrepublik nach Feststellungen von Hennis zwischen 1949 und 1958 fast 83 % aller Eingaben des BDI (Bundesverband der deutschen Industrie) an die Exekutive und nur 7 % an die Legislative gingen — der Rest an Institutionen wie Bundesbank und Bundesbahn11. Es ist schwer vorstellbar, daß im Kaiserreich das Interesse der Verbände an der Regierung geringer und das am Parlament größer gewesen sein sollte als heute. Dies ist jedoch genau der Eindruck, den fast alle Arbeiten über die Verbände, auch die jüngsten — etwa Horn, Kaelble und Puhle — vermitteln, während die Politologen, die die Gegenwart untersuchen, gerade betonen, wie relativ unwichtig die Parlamente und wie überragend die Verwaltungsmaschinerie für die Verbände sind — auch bei Einflußnahmen auf die Gesetzgebung. Aber wie die Schwergewichtsverteilung im Einzelfall auch gewesen sein mag, wichtig ist festzuhalten, daß die Verbände auch im Kaiserreich keineswegs nur die Regierung und Staatsverwaltung als einflußreich und beeinflussungswürdig ansahen, sondern auch den Reichstag, die Landtage und „das Volk", zumindest das zeitunglesende. Gewiß kann man auch diese Einflußnahme als indirekt auf die Regierung und das Parlament gerichtet ansehen, denn worauf es bei der Agitation in der Öffentlichkeit ankam, war natürlich, daß die Beamten, Minister und Abgeordneten sich von der „Öffentlichen Meinung" unter Druck gesetzt fühlten, im Interesse der deutschen Landwirtschaft, der deutschen Industrie oder der „nationalen Arbeit" in einer bestimmten Weise zu handeln, etwa Zölle zu erhöhen, Handelsvertragsklauseln zu revidieren, die Börse zu überwachen, die Sozialpolitik zu bremsen oder zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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beschleunigen, einen Mittellandkanal zu bauen oder nicht zu bauen. Interessant ist daran jedoch, daß unter der Staatsform der konstitutionellen Monarchie, die Kritiker mit Recht eine semi-absolutistisch-bureaukratische genannt haben, diese Verbände sich nicht damit begnügten, die regierende Bürokratie zu beeinflussen, sondern daß sie den Appell an das Volk und seine Repräsentanten brauchten. Durch ihre Handlungsweise erkannten sie die Existenz einer „pluralistischen Gesellschaft" im Deutschen Reich vor 1914 an, wenngleich ihre eigene Ideologie sich sehr oft gegen die Charakterzüge einer solchen Gesellschaft wandte. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und mit guten Gründen behaupten, daß die Interessenverbände im Prinzip wie in vielen Einzelheiten so handelten, wie Interessenverbände in einer politischen Demokratie handeln, als gesellschaftliche Kräfte, die als Vertreter des souveränen Volks Anspruch auf Gehör und Mitbestimmung bei der Formulierung der Politik erheben und sich im Spiel divergierender Kräfte um die Formulierung dieser Politik eine möglichst günstige Ausgangsposition und Einflußchance erringen wollen. Um es noch deutlicher zu sagen: Regierung und Monarch sind von den Interessenverbänden und gerade von den „konservativen", „nationalen", den das Gesamtwohl herausstellenden, nicht als respekterheischende „Obrigkeit" behandelt worden, auch nicht als über den Parteien stehende neutrale Instanz der ausgleichenden Gerechtigkeit, sondern teils als widerwillige Exekutive, die auf die Stimme der nationalen Lebensinteressen nicht hören will, teils als feindliche Festung, die berannt, erobert und von gegnerischem Element gesäubert werden muß. Die schärfsten und erfolgreichsten Verbände sprachen nicht als loyale Untertanen, sondern als selbstbewußte Bürger, als zur Mitherrschaft Berechtigte und notfalls als Frondeure. Gerade der konservativste, „königstreueste" aller Verbände, der vom ostelbischen Landadel beherrschte Bund der Landwirte, gebärdete sich nicht nur am lautesten, wo die Interessen seiner Mitglieder verletzt zu werden schienen, sondern prinzipiell und von Anfang an radikaldemokratisch. Oft zitiert worden ist der erfolgreiche Aufruf zur Gründung der Landwirte, den der Bunzlauer General-Pächter Ruprecht-Ransern im Dezember 1892 veröffentlichte: „Ich schlage nichts mehr und nichts weniger vor, als daß wir unter die Sozialdemokraten gehen und ernstlich gegen die Regierung Front machen . . . und sie unsere Macht fühlen lassen Wir müssen aufhören zu klagen . . . , wir müssen schreien . . . Wir müssen schreien, daß es das ganze Land hört, wir müssen schreien, daß es bis in die Parlamentssäle und Ministerien dringt —, wir müssen schreien, daß es bis an die Stufen des Thrones vernommen wird . . . Aber wir müssen, damit unser Geschrei nicht auch wieder unbeachtet verhallt, gleichzeitig handeln . . . Wir müssen ... Politik, und zwar Interessenpolitik treiben; . . . denn nur dadurch, daß wir rücksichtslose und ungeschminkte Interessenpolitik treiben, kann vielleicht die Existenz der heutigen Landwirte . . . gerettet werden."12 Wenn auch manche seiner Mitglieder mit der grobschlächtigen Sprache des Verbandes nicht einverstanden waren, so taten sie doch nichts Entscheidendes, um sie zu mäßigen, um den Verband in die Verfassung einer konstitutionellen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Monarchie einzupassen. Im Gegenteil, lauter Beifall ertönte auf den Generalversammlungen, wenn ein Redner besonders heftig gegen die konservative preußische Regierung vom Leder zog und, wie 1896 v. Diest-Daber im Zirkus Busch in Berlin, verkündete: „Was der Herr von Hammerstein (Min. f. Ldw.) von uns sagte, kann uns sehr schnuppe sein."13 In allen entscheidenden Streitfragen, z. B. bei der Kanalvorlage im preußischen Landtag oder bei dem Abschluß und der Erneuerung von Handelsverträgen oder der Vorbereitung eines Börsengesetzes oder bei der Unterstützung des Antrages Kanitz im Reichtstag, handelte der Bund der Landwirte wie ein massiver, demokratischer Interessenverband. Er pochte auf die „Majorität" der agrarischen Interessen im Deutschen Reich und versuchte damit eine demokratische Legitimation seiner Handlungsweise. Regierung und Gegner bezichtigten ihn sogar des „Agrarsozialismus":, besonders seit Graf Kanitz der Landwirtschaft mit dem Plan helfen wollte, der Reichsverwaltung den Ein- und Verkauf des gesamten ausländischen Getreides aufzubürden. Allerdings handelte es sich beim Bund der Landwirte um eine quasi-demokratische und quasi-sozialistische Haltung, denn die Agrarier handelten nicht als Gleiche unter Gleichen, sondern zur Verteidigung ihrer naturgegebenen Vorzugsstellung im Staate, die von der Regierung mehr und mehr mißachtet wurde. 1896 rief ein Berichterstatter des Bundes auf, „das Aschenbrödel der deutschen Gesetzgebung zur Stelle des Fürstenkindes (zu) erheben, welche die deutsche Landwirtschaft, als erstgeborener Stand, als das Muttergewerbe und das Rückgrat des Staates, beanspruchen darf"14. Wie undemokratisch die politischen und gesellschaftlichen Ansichten der Interessenvertreter auch sein mochten, die großen Verbände bandelten schon weitgehend nach den Regeln einer parlamentarischen Demokratie. So beschränkten sie sich z. B. nicht darauf, bereits gewählte Parlamentarier zu beeinflussen, sondern sahen weit größere Erfolgschancen darin, ihnen „nahestehende", auf das Programm des Verbandes verpflichtete Kandidaten aufzustellen und im Wahlkampf durchzusetzen. Den größten Erfolg dabei hatten, wenn man von der weitgehenden Identität der freien Gewerkschaften mit der Sozialdemokratischen Partei absieht, wieder die agrarischen Interessenverbände. So gelang es dem Bund der Landwirte bei der Wahl zum Reichstag 1898 118 auf das Progamm des Bundes verpflichtete Kandidaten durchzubringen, und 1904 beanspruchte er von 420 Abgeordneten im preußischen Abgeordnetenhaus 222 für sich15, während der Centralverband der deutschen Industriellen schon froh sein konnte, wenn 1912 von 120 von ihm unterstützten Kandidaten 41 in den Reichstag kamen15a. Der Bund der Landwirte hat auch Abgeordnete fallen lassen, ihre Wiederwahl verhindert, ja sie zum Rücktritt während laufender Legislaturperioden aufgefordert, wenn sie sein Programm nicht oder nicht energisch genug unterstützten. Einige dieser Abgeordneten, die zugleich Staatsbeamte waren, in Preußen vor allem Landräte, konnten dabei in einen Druck © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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von zwei Seiten geraten, wenn Regierung und Bund, wie bei der Kanalvorlage, gegensätzlicher Ansicht waren. Interessanterweise hat in diesem Loyalitätskonflikt zwischen Regierung und Interessengruppe die Mehrzahl der Betroffenen die Loyalität zur Gruppe über die zur Regierung und das von dieser vertretene Gemeinwohl gestellt und lieber die Disziplinarstrafe der Regierung und die Ungnade des Monarchen in Kauf genommen als einen Ausschluß aus der Gruppe16. Wohlgemerkt handelte es sich dabei nicht um eine tiefgehende politische Grundsatzentscheidung, also etwa um die Veränderung des preußischen Dreiklassenwahlrechts oder die Abschaffung der Monarchie, bei der gegensätzliche Staats- und Gesellschaftsphilosophien zur Debatte standen, sondern um einen schlichten Konflikt wirtschaftlicher Interessen. Die Methode, Einfluß auf Sachentscheidungen über die Auswahl von Personen zu gewinnen, wandten die Verbände auch auf die Regierung an; sie nahmen die „Obrigkeit" keineswegs als gegeben hin. Politisch am bedeutungsvollsten war sicher die Agitation der Agrarier gegen den Reichskanzler Graf Caprivi, der sich als ein „Mann ohne Ar und Halm" erwiesen hatte, als er die Bismarcksche Schutzzollpolitik vorsichtig zu revidieren begann und wieder zu langfristigen Handelsverträgen mit der Meistbegünstigungsklausel und mäßigen Zöllen zurückkehrte. Aber auch das Schicksal seiner Nachfolger Hohenlohe und Bülow sowie zahlreicher preußischer Minister und hoher Beamter, beginnend mit Rudolf Delbrück und seinen Mitarbeitern, ist von dem Wohl- bzw. Übelwollen von Interessenverbänden mindestens mitbestimmt worden17. Auf interessenbestimmten und interessengefährdetem Boden standen vor allem die Ministerien, die Angelegenheiten einzelner Gruppen bearbeiteten, z. Β. das preu­ ßische Landwirtschaftsministerium, ebenso die Vertreter der Sozialpolitik, aber selbst die Minister und Beamten auf dem Kultussektor, wo Kirchen, kirchliche Verbände und weltanschauliche „pressure groups" Einfluß hatten und selbst die so obrigkeitsgebundenen Lehrer, in Lehrervereinen organisiert, ihre Stimmen zur Geltung zu bringen suchten17a. Noch liegen nicht genügend Unterlagen vor, um nachzuweisen in welcher Weise die Verbände aller Art positiv wie negativ Einfluß auf die Personalbesetzung in der Verwaltung hatten. Die bisher bekannten Fälle von Einflußnahme genügen jedoch, um die apodiktische Feststellung Th. Eschenburgs über die monokratische Verwaltungsstruktur der Bismarckschen Monarchie in Zweifel zu ziehen: „Weder politische noch wirtschaftliche Gruppen hatten Einfluß auf die Personalpolitik, nicht einmal die agrarischen Organisationen. Von einer irgendwie gearteten Rechenschaftspflicht der Beamten gegenüber den Gruppen, von einer Beeinflussung jener durch diese konnte nicht die Rede sein."18 Ganz deutlich ist z. Β., daß die preußischen Landräte sehr stark von dem Vertrauen der Gutsbesitzer ihres Kreises abhängig waren und sehr oft nicht wagten, sich in ausgesprochenen Gegensatz zu ihnen zu setzen19. Bei der Rekrutierung des Nachwuchses für die preußische Verwaltung, beson© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ders für die politische „Innenverwaltung" vom Landratsamt über das Regierungspräsidium bis zum Innenministerium, genossen Söhne von „königstreuen", konservativ oder wenigstens nationalliberal gesinnten Familien eine deutliche Vorgabe, die durch das Juristenmonopol für die Verwaltungslaufbahn nur wenig eingeschränkt, oft eher verstärkt wurde. Der Regierungspräsident, der im allgemeinen über die Einstellung befand, konnte mit leichter Hand eine der „Obrigkeit" genehme Auslese treffen19*. Zwar scheint es richtig zu sein, daß Interessenverbände auf diese Auswahl keinen direkten Einfluß hatten, aber der erforderliche „background" sorgte doch dafür, daß bestimmte Interessen, z. Β. die der Arbeiterschaft, keinesfalls vertreten und daß auch die der Fortschrittspartei verbundenen, politisch wie wirtschaftlich liberal eingestellten, die Handels- und Kleinunternehmerinteressen vertretenen Kreise unterrepräsentiert blieben20. Nonkonformisten und nonkonformistische Interessen waren ausgeschlossen. Solche Interessen konnten am ehesten in den städtischen Verwaltungen, über Stadträte und Bürgermeister, zu politischem Einfluß gelangen; hier war die Identität von politischer und wirtschaftlich-gesellschaftlicher Führungsschicht, wie sie z. Β. dem Rheinland des Vormärz vertraut war, am längsten fortsetzbar. Und der Einfluß von Verbänden und Kammern auf die Verwaltungstätigkeit der Kommunen, Kreisverwaltungen und selbst Regierungspräsidien gehörte zweifellos zu den Alltagserscheinungen21. Auf lokaler Ebene war auch am ehesten Einfluß erreichbar auf einem Wege, der vielen als der sicherste, respektabelste und unauffälligste erschien, durch persönlichen Kontakt. Je höher die Ebene der Verwaltung, desto geringer war die Zahl derer, die solchen persönlichen Kontakt familiärer oder gesellschaftlicher Art besaßen oder erringen konnten. Und ganz wenige wie Bleichröder, Krupp oder Ballin, später auch Stinnes, besaßen eine persönliche Verbindung nach „ganz oben", zum Reichskanzler oder zum Kaiser. Auch hier hatte der alte preußische Landadel wieder den natürlichen Vorteil, hoffähig zu sein und das Personal für die „Kamarilla" des wilhelminischen Zeitalters zu stellen. Für die Industrie waren daher hoffähige Industrielle wie Graf Henckel von Donnersmarck, der Freiherr von Stumm-Halberg oder Wilhelm von Kardorff von besonderem Wert, weil sie solche Verbindungen besaßen, besonders wenn sie außerdem als Reichstagsabgeordnete noch über ein legitimes politisches Mandat verfügten. Das Mittel des persönlichen Kontakts und der stillen Einflußnahme durch ihn sollte trotz der wachsenden Organisation der Interessen und ihrer Geltendmachung durch Massenkundgebungen auch für die spätere Zeit nicht unterschätzt werden. Es erleichterte den Verbänden die Übersetzung der auf die öffentliche Meinung gerichteten Agitation in konkrete Aktionen der Gesetzgebung und Verwaltung und half die ob der groben Tonart mancher Verbände aufgebrachten Majestäten und Obrigkeiten zu beschwichtigen. Überdies gestattete es den Einsatz von Männern, die die führende Mitwirkung in Verbänden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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verschmähten und ungern Öffentlich auftraten, wie etwa Adolph von Hansemanns, des Vorsitzenden der Berliner Discontobank und nach Bleichröder wohl einflußreichsten deutschen Bankiers der Bismarckzeit22, oder des ehemaligen Diplomaten Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der die persönlichen Kontakte zum Kaiser pflegte, während die Chefs seines Direktoriums, Jencke, Roetger und Hugenberg, sich führend in Verbänden betätigten und die Verbindung zur hohen Beamtenschaft hielten, die sie aus ihrer Zeit im Staatsdienst besaßen — Jencke als Direktor der sächsischen Eisenbahnverwaltung, Roetger als preußischer Landrat und Hugenberg als Mitglied der preußischen Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen und als Beamter des preußischen Finanzministeriums. Die vom Standpunkt industriellen Managements zunächst befremdlich scheinende Tatsache, daß die Vorsitzenden des Krupp-Direktoriums alle aus dem Staatsdienst statt aus der Industrie stammten, mag sich z. Τ. aus der Dienlichkeit solcher Kontakte für eine Rüstungsfirma erklären23. Auch andere Firmen, z. B. Siemens und die Disconto-Gesellschaft, haben hohe Staatsbeamte in leitende Positionen übernommen, sicher nicht allein wegen ihrer persönlichen Qualitäten und Erfahrungen, sondern auch, um einen Schatz an Verbindungen einzukaufen. Überhaupt ist der Übergang von Staatsbeamten in die Wirtschaft (und umgekehrt) auch vor 1914 nicht ganz so selten gewesen, wie wir anzunehmen geneigt sind. Sogar ein wiederholter Übergang nach beiden Seiten war möglich24. Besonders unkonventionell bei der Einstellung von Beamten aus der Wirtschaft handelte das Reichskolonialamt, dessen Präsident Dernburg zuvor Bankdirektor gewesen war. Man muß sich jedoch davor hüten, Männer der Wirtschaft, die Kontakte zur Bureaukratie besaßen und pflegten, nur als „Botschafter" von Interessenverbänden zu sehen oder „Fahnenflüchtige" — wie Wilhelm II. in die Wirtschaft übergehende Beamte zu titulieren geneigt war — nur als Verbindungsträger. Zunächst waren sie vor allem Vertreter ihres eigenen Interesses und das ihres Unternehmens. Krupp repräsentierte niemals die deutsche Schwerindustrie, noch konnte Ballin für die deutschen Schiffahrtsinteressen stehen oder Hansemann für das deutsche Bankgewerbe. Gerade Individualisten wie sie repräsentierten vor allem sich selbst, ihren Erfolg, auch ihre Eitelkeit oder ihr Geltungsbedürfnis. Persönlicher Kontakt zu führenden Unternehmern wurde umgekehrt von den Spitzen der Staatsverwaltung ebenso gesucht wie von den Unternehmern. Von der Anweisung an die preußischen Landräte des Vormärz, die Umsatzzahlen der Zuckerindustrie zum Zwecke der Erhebung einer Zuckersteuer eher durch gesellschaftlichen Umgang mit den Zuckerindustriellen zu erfahren als durch eine förmliche Erhebung25, bis zur Benutzung von Geschäftsleuten wie Bleichröder, Ballin und Stinnes als Sonderbotschafter26 zieht sich eine ununterbrochene Kette von Vorfällen, in denen die Staatsverwaltung persönliche Kontakte zur Geschäftswelt für die Lösung ihrer Probleme zu nutzen suchte. Gerade wenn Pläne der Regierung auf Widerstand bei Interessengruppen stießen, war das ein ausgezeichneter Weg, die Stimmung einer Gruppe, abweichende Mei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nungen und schwache Stellen zu erforschen und informelle Botscharten an die Verbände zu bringen. Bismarck hat sich dieser Methode wie anderer diplomatischer Methoden meisterhaft bedient, um seine Zwecke durchzusetzen. So hat er, um nur ein Beispiel zu nennen, die Formierung von Interessengruppen um die Forderung des „Schutzes der nationalen Arbeit" systematisch „aufgebaut", indem er Kardorff und Stinnes zur Fortsetzung ihrer Schutzzollkampagne ermutigte und die Rekrutierung von Verbündeten anregte27. Nicht immer kann jedoch von dem Vorhandensein persönlicher Kontakte, nicht einmal von der Übereinstimmung der Interessen per se auf eine erfolgreiche Einflußnahme auf die Staatsverwaltung durch die Kontaktmänner und deren Interessenverbände geschlossen werden. So hat sich die Mehrzahl der preußischen Agrarminister, obwohl aus altpreußischem Adel stammend, dem Druck der Agrarier widersetzt und eine Politik durchgeführt, die vom Bund der Landwirte, mitunter auch vom Landwirtschaftsrat, als „agrarfeindlich" eingestuft wurde, und der Bielefelder Fabrikant Theodor Adolf Moeller hat als preußischer Minister für Handel und Gewerbe (1901—1905) gegen den ausgesprochenen Widerstand der Industrie Projekte wie die Verstaatlichung der „Hibernia" und die Novelle zum Berggesetz von 1865 vorangetrieben und in einer Rede im preußischen Abgeordnetenhaus seine „alten Freunde aus der Industrie" daran erinnert, „daß neben der Förderung der eigenen Interessen das allgemeine Interesse nicht dauernd verletzt werden darf", weil sich auf die Dauer das deutsche Volk und seine „berufenen Vertreter" das nicht gefallen lassen würden28. Möglicherweise war Moeller sogar härter in der Vertretung allgemeiner Interessen als ein aus der Beamtenlaufbahn hervorgegangener Minister, weil er als Mitbegründer und langjähriges Mitglied des Langnamvereins und des Centralverbandes deutscher Industrieller die Interna der Interessenpolitik genau kannte. So würde ich jedenfalls seine Äußerung deuten, daß, wer gegen die Konzentrationsbewegung einschreiten wolle, „nicht ängstlich sein" dürfe, und sich auch durch „heftige Angriffe" derer, „die sich in ihren kapitalistischen Interessen beschädigt glauben", nicht abschrecken lassen dürfe29. Die Zugehörigkeit eines Ministers oder Staatssekretärs zu einer bestimmten Gruppe garantierte also keineswegs eo ipso eine gruppenfreundliche Politik, wie sie etwa der „Vorwärts" voraussetzte, wenn er zu Moellers Ernennung schrieb: „Jetzt bezieht der Centralverband Wohnung im Handelsministerium selbst"30. Andererseits wird man sich jedoch vor der idealistischen Annahme hüten müssen, daß preußisch-deutsche Minister und Beamte durchweg dagegen gefeit waren, Gruppeninteressen über das Gemeinwohl zu stellen. So ist m. W. nie untersucht worden, ob und wie sich die aus ihrer sozialen Herkunft herrührende Interessenlage der Beamtenschicht auf ihre Amtsführung ausgewirkt hat — außer daß sie mit wenigen Ausnahmen stramme Monarchisten und prinzipielle Gegner der Sozialdemokratie waren. Ich möchte z. Β. vermuten, daß ein Mann wie der später (1907) zum Freiherrn erhobene Karl Gamp, der als Reichstagsmitglied zu den ausgesprochenen Vertretern agrarischer Interessen gehörte, als Vortragender Rat im preußischen Ministerium für Handel und Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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werbe (1883—95) kein ausgesprochener Förderer gewerblicher Interessen gewesen ist. Sehr viel näher als die Funktion eines „Bremsers" liegt für einen Ressortbeamten jedoch die der Identifizierung des Gruppen- mit dem Ressort- und also mit dem „nationalen" Interesse. Wo eine solche Identifizierung vorgenommen wurde und das Gruppeninteresse über das Gemeinwohl siegte, ist nicht leicht zu erkennen. Zwar gibt es eindeutige Fälle wie das mehrmalige Scheitern der Kanalvorlage im preußischen Landtag nicht nur wegen des im Landtag selbst organisierten Widerstandes der agrarischen und einiger regionaler Interessen, sondern auch wegen der lauen Verteidigung der Vorlage durch einige Minister31, aber schon bei der Durchsetzung des Schutzzolles ist ein Urteil nicht ganz so leicht auszusprechen, obwohl ich meine, daß das überwiegende Interesse des deutschen Volkes gegen Schutzzölle und für langfristige Handelsverträge sprach, selbst wenn man von den langfristigen politischen und sozialpsychologischen Folgen der „Wendung zum Schutzzoll" einmal absieht32. Ein gutes Beispiel für ein ambivalentes Ergebnis von „Pressure-Group"-Einfluß ist das Börsengesetz von 1896, mit dem die agrarischen Verbände einen Stoß gegen das „mobile Kapital", manche auch einen Schlag gegen die „jüdischen Wucherer" zu führen gedachten, in dem zugleich aber auch allgemeine Interessen an einer strengeren Regulierung des Börsen-, besonders des Börsentermingeschäftes gewahrt wurden. Was der Bund der Landwirte als entscheidende Schwäche des Gesetzes ansah — daß es nur die Termingeschäfte in Getreide verbot und dem Staatlichen Börsenkommissar nur geringe Vollmachten gab —, sahen die Handelskammern und Korporationen der Kaufmannschaft als „Verhütung des Schlimmsten" an. Indem hier Interessenverband gegen Interessenverband stand, suchte die Staatsverwaltung unter Mitwirkung beider Gruppen einen Kompromiß auszuarbeiten, der zweckmäßig und gemeinnützig sein sollte33. Daß sie dabei nicht ganz unparteiisch war, geht daraus hervor, daß zum stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission ein Beamter berufen wurde — der oben erwähnte Vortragende Rat Gamp —, der als Mitglied des Reichstags sich einen Namen als agrarischer Interessenvertreter gemacht hatte34. Eine Schwierigkeit in der Bestimmung des Gemeinwohls hegt darin, daß die Interessenverbände selbst durchweg mit dem Gemeinwohl argumentieren, wenn sie ihre Gruppeninteressen durchzusetzen suchen35. Das ist ganz deutlich in Schlagworten wie „Schutz der nationalen Arbeit" und eingängigen Formeln wie „Seine Eisenindustrie preisgeben, hieße, auf seine politische Zukunft verzichten"36. Teilweise handelt es sich dabei um raffinierte Taktik. Besonders die Verbände der Landwirtschaft und der Schwerindustrie haben so ganz bewußt die Interessen ihrer Mitglieder als die der Nation „aufgebaut". Sie repräsentieren die Lebens- und Ernährungsgrundlage des deutschen Volkes, sie garantieren die Selbstbehauptung und Verteidigung des Reiches, und was ihnen nottat, tat daher dem deutschen Volke not. Trotz solcher taktischen Erwägungen ist jedoch nicht auszuschließen, daß die Identifizierung des Gruppen- mit dem Gesamtinteresse, zumindest bei den einfachen Mitgliedern der Verbände, durchaus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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subjektiv ehrlich gemeint war. Der Horizont eines Bauern ist nun einmal vorwiegend durch die Landwirtschaft bestimmt, und er sieht die Nation zugrunde gehen, wenn seine Schulden überhand nehmen, so wie der Baumwollfabrikant den Volkswohlstand dahinschwinden sieht, wenn die Textiipreise fallen. Die Mehrzahl der Mitglieder von Interessenverbänden hat die ausgegebenen Schlagworte ganz sicher geglaubt, denn sie entsprachen ihrem Empfinden. Und mit der Zeit entstanden ganze „Topoi" von interessenbestimmten Begriffen, die jeder benutzte, ohne sich dabei noch etwas zu denken: „Schutz der nationalen Arbeit", „Sicherung der Ernährungsgrundlage des deutschen Volkes", „Garantie der Wehrkraft des Reiches", „Gefährdung des Nationalvermögens" wurden gebraucht, um die Solidarität der produzierenden Stände zu beschworen. Andere „Topoi" entwickelten sich im Kampf der Interessen untereinander. Die Arbeiterbewegung konnte dabei auf das Marx-Engelsche Waffenarsenal zurückgreifen; die landwirtschaftlichen Verbände entwickelten mehr und mehr Schlagworte, die ihre besondere Not und Benachteiligung plastisch ausdrücken sollten. So beschloß der Ausschuß des Bundes der Landwirte 1894 folgende Formeln in seine Propaganda aufzunehmen: „Bange Sorge, blasse Not"; „Wären wir Preußen geblieben, nicht Deutsche geworden, so stünde es heute besser um uns" und „Ave Caesar, morituri te salutant"37. Schlagworte dieser Art konnten für alle möglichen Zwecke verwandt werden: für Schutzzölle, für ein Flottengesetz, für die Kolonialpolitik und schließlich auch für Annexionen, aber ebenso bei mehr innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Auseinandersetzungen, mit dem einzigen Unterschied, daß hier oft die gleichen oder ähnliche Floskeln von den Kontrahenten benutzt wurden, um gegensätzliche Ziele zu erreichen. So bemühten, um wieder das besonders instruktive Beispiel des Mittellandkanals anzuführen, sowohl die Gegner wie die Befürworter des Kanals das „nationale Interesse": Verbesserung der Verkehrswege, Verbilligung des Transports und damit erhöhte Konkurrenzfähigkeit der Ruhrindustrie gegenüber dem Ausland hier, Erhaltung der deutschen Landwirtschaft als der Grundlage der Ernährung des deutschen Volkes gegenüber billigen Importen dort. So kämpften, um ein sozialpolitisches Beispiel herauszugreifen, die Ruhrunternehmer in den großen Streiks 1872, 1889 und 1905 außer für die „Erhaltung der Vertragsfreiheit", die „Heiligkeit der Verträge", den „Schutz des Eigentums", auch für die „Koalitionsfreiheit", nämlich das Recht zur Aussperrung, während die Arbeiter die gleiche Koalitionsfreiheit als Freiheit der Wahl ihrer Interessenvertreter auslegten, die ihnen die Unternehmer mit dem Argument verweigerten, daß Arbeitsverträge nur mit individuellen Arbeitern bestünden38. Auch bei dem Streit um die Einführung der Sozialversicherung klangen die in den Argumenten beider Seiten aufgeführten „Topoi" ganz ähnlich. Freunde wie Gegner eines staatlichen Zwangsversicherungssystems sorgten sich z. B. um die „Substanzerhaltung", um die finanzielle der zum Zahlen verurteilten Arbeitgeber hier, um die gesundheitliche der Arbeitnehmer dort. Die Identifizierung des Gruppeninteresses mit dem Gesamtinteresse in aller Interessenpolitik stellt die historische Interpretation vor keine leichte Aufgabe. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Sie verbietet, den schlichten Bericht „nach den Quellen" als zuverlässige historische Aussage auszugeben. Sie legt den Ideologieverdacht nahe und zwingt zur kritischen Unterscheidung, wobei oft das Instrumentarium systematischer Sozialwissenschaften angewandt werden muß, etwa das des Politologen zur Aufdekkung vorgegebener Handlungsmechanismen oder das des Ökonomen zur Prüfung des gesamtwirtschaftlichen Effekts einer Forderung oder Maßnahme. Eine solche Prüfung ist um so nötiger, als keineswegs davon ausgegangen werden kann, daß bei einem Konflikt zwischen Staatsverwaltung und Interessenverband das Gesamtinteresse stets von der Verwaltung wahrgenommen, von der Gruppe jedoch geschädigt wird. Ein Beispiel möge diese Behauptung belegen: Als die preußische und Reichsregierung 1904/05 in Konflikt mit der rheinischwestfälischen Schwerindustrie geriet, wird man ihr in zwei Punkten ohne weiteres die Vertretung des allgemeinen Interesses zugestehen können, in der Vermittlung im Bergbaustreik und den daraus resultierenden Reformen und in dem Versuch, das Monopol des Kohlensyndikats aufzubrechen. Ambivalent wird die Wertung schon, wenn man sich fragt, ob der Versuch, die „Hibernia" aufzukaufen, dasjenige Mittel war, das dem allgemeinen Interesse am besten diente. Wahrscheinlich wäre ein Antimonopolgesetz richtiger gewesen. Eindeutig gegen die Interessen der Volkswirtschaft verstieß die Regierung jedoch, wenn sie die Kohlenproduzenten dazu zwang, unrentable Zechen weiterzuführen, statt sie zu schließen. Wir können heute in dieser von dem Interesse an der Kohlenversorgung im Kriegsfall diktierten Entscheidung den Anfang der gegenwärtigen Schwierigkeiten des Bergbaus sehen, der von 1905 bis 1950 von wechselnden Regierungen gezwungen wurde, aus angeblich „volkswirtschaftlichen" Gründen Kapazitäten aufzubauen und zu erhalten, die privatwirtschaftlich nicht gerechtfertigt waren. Die Grenzziehung zwischen dem Gruppen- und dem allgemeinen Interesse ist also nicht leicht. Das erleichtert den Interessenverbänden, ihren Wirkungsbereich über das hinaus auszudehnen, was der Außenstehende als die unmittelbaren Interessen einer Gruppe ansehen würde. Von der Zollpolitik führt der Weg schnell in die Außenhandels- und Außenpolitik, von der Abwehr höherer Versicherungsbeiträge oder einer Verkürzung der Arbeitszeit schnell in das Gebiet der allgemeinen Gesellschaftspolitik. Dabei ist auch im Kaiserreich bereits die Frage des „politischen Mandats" von Interessenvertretungen aufgetaucht. Die Verbände selbst haben sich dazu verschieden verhalten. Die rigorosen Interessenverbände wie der Bund der Landwirte oder der Verein der Wirtschaftsund Steuerreformer, etwas zögernder der Verband deutscher Eisen- und StahlIndustrieller oder der Centralverband Deutscher Industrieller haben dieses Mandat als selbstverständlich gegeben angenommen. Auch den Gewerkschaften war es nicht fremd, wenngleich die Arbeitsteilung mit der sozialdemokratischen Partei die eigentlich politische Arbeit der Partei überließ. Zurückhaltender verhielten sich die Arbeitgeberverbände, die sich als Zweckverbände ansahen und die politische Aktion den allgemeinen Interessenverbänden überließen. Zurückhaltend blieben auch die meisten der „offiziellen" Vertretungen, die Kammern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Allerdings haben auch Kammern zu allgemeinpolitischen Fragen, an denen ihre Mitglieder interessiert waren, z. B. zur Flottenpolitik, zur Kolonialpolitik und in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg auch mehr und mehr zur Außenpolitik Stellung genommen39. Gegenüber früheren Jahrzehnten läßt sich hier durchaus eine Erweiterung des Interessen- und Einflußbereichs konstatieren, der offenbar auf die zunehmende „Demokratisierung" des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses im Kaiserreich, von dem oben die Rede war, zurückzuführen ist. Um 1908 oder 1913 beschränkten sich die Jahresberichte von Handelskammern nicht auf die auftragsgemäße Information einer Behörde über das, was in ihrem Bezirk vor sich geht, und über die Wünsche, die die Gewerbetreibenden an die Obrigkeit haben, sondern sie schweifen mit großer Selbstverständlichkeit über das ganze Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik einschließlich ihrer außenpolitischen Komponenten, behandelten die Militärpolitik ebenso wie innenpolitische Gegenstände, Schulfragen und zuweilen auch Sachen des Justizressorts. Aus dieser Erweiterung der Interessen der offiziellen Interessenvertretungen, mehr aber noch aus der enormen Vermehrung der Interessenverbände zwischen 1870 und 1914, dem immer dichter werdenden Netz großer und kleiner Assoziationen, ergibt sich die Vergrößerung des Einflußbereichs der Verbände in den reichlich vier Jahrzehnten zwischen 1871 und 1914. Man kann mit einiger Sicherheit die Aussage wagen, daß es um 1900 kaum einen Bereich öffentlichen Interesses gegeben hat, in dem die „amtlichen" Vertreter dieses Interesses, Regierung, Verwaltung und Parlament, nicht auf organisierte Verbände der Bürger trafen, die ihren Einfluß zur Geltung zu bringen suchten, und in den wenigsten Fällen war es nur ein Verband, sondern eine Vielzahl oft gegensätzliche Meinungen Vertretende, mit denen sich die Staatsverwaltung auseinanderzusetzen hatte. Fragt man nach den Erfolgen solcher Einflußnahmen, so ist eine generelle Antwort kaum zu geben. Es gibt ebensoviele Beispiele erfolgloser wie erfolgreicher Interessenvertretung und auch weiter Beispiele von Kompromißlösungen. Im großen und ganzen möchte ich hier Nipperdey beipflichten, wenn er feststellt: „Die großen Entscheidungen fielen unabhängig von den Verbänden, aber Spezialgesetze wie das Margarinegesetz, Branntwein- und Tabakmonopolgesetze oder auch die preußische Bergrechtsnovelle sind wesentlich vom Einfluß der Verbände geprägt worden"40. Und noch größer ist der Einfluß, wenn man auch die reine Verordnungs- und Verwaltungstätigkeit der Regierungen einbezieht, bei der das Parlament und damit die Öffentlichkeit nicht mitwirkte. Fragen wir nun zum Schluß, in welcher Weise diese vielfältige Tätigkeit von Interessenverbänden die Gesellschafts- und Staatsverfassung des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1914 verändert hat. III. Die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen der Entwicklung von Interessenverbänden Die Konsequenzen für die Gesellschaftsverfassung und den Prozeß der gesellschaftlichen Willensbildung ergeben sich aus dem im vorigen Abschnitt Gesagten 14 Fischer, Wirtschaft

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von selbst: Das deutsche Volk war auch zwischen 1870 und 1914 nicht ein einheitliches „Staatsvolk", dessen Interessen unmittelbar von einer über den Parteien und Gruppen schwebenden Obrigkeit wahrgenommen wurden. Es trat dieser Obrigkeit vielmehr in organisierten Gruppenvertretungen gegenüber und versuchte durch sie Einfluß auf politische wie administrative Entscheidungen zu erlangen. Das veränderte nicht nur den Charakter der Parteien, der politischen Gruppenvertretungen, von denen einige aus Grundsatzparteien mehr und mehr zu Interessenparteien wurden41, sondern auch den Charakter der Verwaltungsarbeit. Der „beschränkte Untertanenverstand", im Vormärz noch weitgehend in seine Schranken verwiesen, regierte mit. Um 1900 war es dem Beamten nicht mehr wie noch um 1850 möglich, den Bürger auf sein spezifisches Betätigungsfeld zu verweisen und die Staatsgeschäfte für sich zu reservieren42, zumal wenn er nicht als einzelner, sondern als „Organisierter" auftrat. Die Verwaltungsbeamten hatten sich daran gewöhnt, die Organisationen als Sachverständige zu betrachten und zu Rate zu ziehen, und räumten ihnen so einen erheblichen Einfluß auf die Entscheidungen von Verwaltung und Politik ein. Das wurde spätestens in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre deutlich, als die preußische Regierung nicht nur die Handelskammern, sondern auch den Langnamverein aufforderte, Vorschläge zur Verstaatlichung der Eisenbahnen zu machen und sich die Zustimmung zu dieser Verstaatlichung mit der Einrichtung von Bezirkseisenbahnräten „erkaufte", in denen die am Transport interessierten Unternehmer der Bezirke regelmäßig mit Beamten der Staatseisenbahnen zusammentrafen und sie in Fragen wie Tarifgestaltung, Fahrplan, Linienführung berieten43. Wirtschaftliche Interessen erhielten hier einen institutionalisierten Einfluß auf die Verwaltung, wenn auch „nur" auf einen technischen Zweig. (Einen ähnlichen Beirat von Interessenvertretern schuf später die Reichskolonialverwaltung im Kolonialrat.) Deutlich wird dieser Einfluß der Interessenverbände um die gleiche Zeit auch in der Durchsetzung der Eisenenquete gegen den Widerstand der liberalen Experten im preußischen Handelsministerium und im Reichskanzleramt44. Zweifellos hat Bismarcks Taktik, die vereinigten Produzenteninteressen zu Mitträgern seiner Politik zu machen, den entscheidenden Durchbruch erleichtert. Und ohne Zweifel stand im Hintergrund dieser Politik die große Krise seit 1873 und schuf die sozialpsychologischen Voraussetzungen für jenen durchgreifenden Wandel in der politisch-gesellschaftlichen Frontstellung in Deutschland, die zur Reichs- und Bismarcktreue weiter Teile des bisher oppositionellen Bürgertums führte45. Diese Hilfestellung durch eine bestimmte historische Situation und eine bestimmte historische Persönlichkeit sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der beschriebene Funktions- und Strukturwandel langfristiger Natur ist und sowohl schon längst vor der Reichsgründung angelegt war als auch nach Beginn der Hochkonjunktur in der Mitte der neunziger Jahre weiterging. Reichsgründung, Wirtschaftskrise und Bismarck verhalfen dem säkularen Trend der Ausbildung eines Machtanspruchs der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Interessengruppen in Deutschland zu einer dramatischen Zuspitzung. Aber auch ohne diese hätte er sich zweifellos durchgesetzt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Daß Interessengruppen Einfluß gewinnen, ist eine allgemeine Erscheinung bei der Ausbildung industrialisierter Gesellschaften. In welcher Weise sie diesen Einfluß gewannen, war hingegen von der spezifisch deutschen Gesellschafts- und Staatsverfassung vorgeprägt und mitbestimmt. Daß die Auseinandersetzungen der Interessenverbände untereinander nicht nur zu vorübergehenden Bündnissen der Produzenten gegen die Nichtproduzenten führte, wie in anderen Ländern auch, sondern daß dieses Bündnis sich als eines der staatstragenden Schichten gegen die umstürzlerischen verstand, ist eine spezifisch deutsche Erscheinung. Von den Großagrariern im Verein der Wirtschafts- und Steuerreformer, über die Industriellen im Centralverband wie im Bund deutscher Industrieller, bis zu den kleinen Angestellten im deutschnationalen Handlungsgehilfenverband waren sich die Verbände dabei einig, daß sie sich gegen die Revolution der bestehenden Gesellschaftsverfassung zur Wehr setzen müßten. Diese gemeinsame Gegnerschaft wie auch die gemeinsame Gegnerschaft gegen die ausländische Konkurrenz führte die wichtigsten „staatstragenden" Gruppen zu einer Allianz in einigen Fragen, die die Zeitgenossen als die „großen Lebensfragen der Nation" betrachteten: Zollpolitik, Kolonialpolitik, Flottenpolitik, kurz all das, was dann zusammen den deutschen Imperialismus vor 1914 ergeben hat. Aber in den meisten anderen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen standen sich diese Gruppen in wechselnden Fronten gegenüber. Schon in der Schutzzollpolitik verweigerten der Handelsstand und große Teile der verarbeitenden Industrie dem Bündnis Schwerindustrie—Textilindustrie und Landwirtschaft die Gefolgschaft. In Fragen der Verkehrspolitik hoben sich Regional- und Brancheninteressen gegenseitig auf. In der Währungspolitik stand die Landwirtschaft zunehmend in Opposition zu Regierung, Handel und Industrie, indem sie die bimetallische Währung, das Abgehen vom reinen Goldstandard forderte. In zahlreichen Fragen der Wirtschaftsverfassung, etwa der Kreditverfassung, der Börsenverfassung, des Binnen- und Außenhandels, verbündeten sich Schwerindustrie und Landwirtschaft als Vertreter des „fixen" gegen das „mobile" Kapital46. In anderen Fragen wie der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt oder der Lohnpolitik standen sich die Interessen der Landwirtschaft und der Schwerindustrie am schroffsten gegenüber, weil die großen Industriezentren die Arbeitskräfte des Landes aufsogen. In gesellschaftspolitischer Hinsicht hingegen verlief eine prinzipielle Frontstellung zwischen Groß- und Kleinunternehmen, wirtschaftlicher Selbständigkeit und Abhängigkeit, Mittelstand und „Großkapitalismus" in Industrie und Landwirtschaft. Dieser Kampf organisierter Interessen, obwohl allgegenwärtig, ist in das deutsche Staatsbewußtsein der Vorkriegszeit kaum eingedrungen. Nur so kann man erklären, daß diese Interessenvielfalt später der politischen Verfassung der Weimarer Demokratie zur Last gelegt werden konnte, obwohl sie längst vor Weimar vorhanden war. Die Anerkennung der Interessenvielfalt und ihrer demokratischen Organisation in der politischen Verfassung konnte in zweierlei Richtung gehen: die ständesstaatliche Fixierung oder das liberal-demokratische Gewährenlassen. Die Anerkennung gewisser Organisationen durch den Staat in der gesetzlichen 14*

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Form der Körperschaft öffentlichen Rechts mit Zwangsmitgliedschaft als Handels-, Landwirtschafts- oder Handwerkskammern konnte als Schritt in der ersten Richtung, als Anfang auf einem Weg der gesetzlichen Durchorganisierung der gesellschaftlichen Hauptgruppen auf regionaler wie auf zentraler Ebene zu einer Art „Ständestaat" betrachtet werden. Theorien für den weiteren Ausbau eines deutschen Ständestaats hat es während des Kaiserreichs genug gegeben47. Praktische Versuche in dieser Richtung sind jedoch gescheitert. Die Idee, nach französischem Vorbild einen „volkswirtschaftlichen Senat" einzurichten, die der Elberfelder Handelskammerpräsident Meckel 1878 propagierte, hat sich nicht durchsetzen können; der preußische Volkswirtschaftsrat hat keine sehr lebhafte Tätigkeit entfaltet und ist bald fallengelassen worden. Eine gesetzliche Vorlage für einen deutschen Volkswirtschaftsrat scheiterte teils am Widerstand des Parlaments, das seine ohnehin geringen Rechte nicht noch weiter beschnitten sehen wollte, teils daran, daß auch Bismarck das Interesse an dem Rat wieder verlor und sich lieber auf die Gutachten der einzelnen Verbände stützte, die er besser gegeneinander ausspielen oder miteinander koalieren konnte, wobei es in seiner Hand lag, ihr Gewicht für die Staatsführung zu bestimmen, während die Stellungnahme eines Rates, der per definitionen die ausgewogene Stellung der deutschen Wirtschaft zu vertreten gehabt hätte, nicht so leicht zu übergehen gewesen wäre. Kanzler und Reichstag haben so eine dritte, oder vielmehr „vierte" interessenbestimmte zentrale Instanz im Deutschen Reich neben Kanzler, Reichstag und Bundesrat nicht aufkommen lassen. Das Deutsche Reich hat aber auch nicht den anderen möglichen Weg einer Integration der Interessenverbände in die politische Verfassung beschritten, nämlich deren Umwandlung in eine echte parlamentarische Demokratie, in der die Verbände als demokratische Organisationen neben anderen im „freien Konkurrenzkampf" um die Stellung und Beeinflussung politischer Macht ringen. Wenn das Reich die Bismarcksche Verfassung eines Semi-Parlamentarismus beibehielt, wenn Preußen sein Dreiklassenwahlrecht und damit ein konservativ vorgeprägtes Parlament nicht aufgab, so besagt das in unserem Zusammenhang, daß die Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte hin zu „demokratischen Organisationen", die auf freier Assoziation von Bürgern beruhen, schneller voranging als die Umwandlung der politischen Verfassung, daß zweifellos ein Widerspruch bestand zwischen der freien Organisation gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kräfte und der Beschränkung des Volkes in der Ausübung der politischen Rechte. Es war ein Widerspruch, wenn die freien Gewerkschaften zu einer Millionenorganisation heranwuchsen und schließlich von den Unternehmern de facto mehr und mehr als Sprecher der Arbeiterschaft anerkannt wurden, gleichzeitig aber der sozialdemokratischen Partei als der stärksten Fraktion im Reichstag jede Mitsprache geschweige denn Regierungsverantwortung versagt blieb. Es war ein Widerspruch, wenn große Interessenverbände und Agitationsvereine wie der Flottenverein, der Alldeutsche Verband oder der Hansabund zwar ungestört einen deutschen Imperialismus propagieren konnten, politische Verantwortung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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dafür aber nicht zu tragen brauchten, weil noch immer der Kaiser den Kanzler bestellte und entließ, ohne auf politische Mehrheitsverhältnisse notwendig angewiesen zu sein, und damit die Repräsentanten deutschen bürgerlichen Weltmachtstrebens der vollen Konsequenz ihrer Reden ausweichen konnten. Damit ist nicht gesagt, daß eine parlamentarische Regierung mit der ganzen ungemilderten Wucht gewisser Interessenvertretungen im Rücken notwendigerweise eine bessere Politik gemacht hätte — abgesehen davon, daß der Zwang zur Rücksicht auf die Stimmen der Sozialdemokratie sie dazu gezwungen haben könnte —. Ich wollte in diesem Zusammenhang nur darauf aufmerksam machen, und das ist die Grundthese dieses Aufsatzes, daß die Organisation, Funktion und Wirkungsweise von Interessenverbänden im Deutschen Reiche vor 1914 bereits der Verfassung einer ausgebildeten parlamentarischen Demokratie entsprach, ohne daß diese Staats- und Regierungsform selbst schon vorhanden war48. Daraus ergibt sich als zwingender Schluß, daß beide nicht notwendig aufeinander angewiesen sind, sondern daß für die Bildung und Funktion solcher Interessenverbände die Entwicklung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verfassung zu einer liberalen Industriegesellschaft und Wirtschaft offenbar wichtiger ist als die Ausbildung der politischen Verfassung zur parlamentarischen Demokratie.

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DIE SOZIALE P R O B L E M A T I K DER INDUSTRIALISIERUNG

A r b e i t e r m e m o i r e n als Q u e l l e n f ü r G e s c h i c h t e u n d V o l k s k u n d e der industriellen Gesellschaft In seiner Volkskunde des Ruhrgebiets spricht Wilhelm Brepohl von den Schwierigkeiten, vor denen der Historiker und Volkskundler steht, wenn er die Wandlungen beschreiben will, die die Bevölkerung einer industrialisierten Landschaft in den letzten 150 Jahren in ihrem Bewußtseinszustand, Lebensgefühl, Weltbild, der Weltbewertung, kurz in ihrem „etat mental" durchgemacht hat. „Die üblichen Quellen (Literatur und Archive) bieten kaum etwas von dem, was uns zur Erleuchtung des inneren Wandels dienlich wäre; ja es gibt im Grunde gar keine Quellen, es sei denn, man fände Briefe, die einfache Menschen in jenen schicksalsreichen Jahrzehnten geschrieben haben. Und solche Briefe gibt es wohl gar nicht, da der einfache Mensch sich nicht oder nur in übernommenen, schematisch konventionellen Wendungen darzustellen pflegt." Deshalb könne eine kontinuierliche Geschichte des Ruhrvolkes im Augenblick noch nicht geschrieben werden. Nur Querschnitte lassen sich von Zeit zu Zeit legen und aufeinander beziehen, und diese Fragmente lassen das Ganze höchstens ahnen. Sie haben aber den Vorteil, „daß die Buntheit des Lebens, die Vielgestaltigkeit nicht dem Schematismus der üblichen Konstruktion, die zumeist Geschichte des Arbeitertums, des niederen Volkes, der Gewerkschaften o. ä. heißt, ausgeliefert wird" 1 . In diesem Bestreben, die Buntheit und Vielgestaltigkeit des Lebens gegenüber dem Schematismus, den die „Anstrengung des Begriffs" notwendig mit sich bringt, zu erhalten, begegnen sich soziale Volkskunde und Sozialgeschichte durchaus, nicht nur als „komplementäre Disziplinen", als die Brepohl die Soziologie und die Volkskunde bezeichnet hat2, sondern als zwei Nachbarfächer, die von ähnlichen Fragestellungen aus auf die gleichen Probleme und auf die gleichen Methoden stoßen, ihrer Schwierigkeiten Herr zu werden. Denn die Volkskunde, wenn sie die historische Dimension in ihren Gesichtskreis aufnimmt, und die Historie, die sich der Darstellung des „niederen Volkes" zuwendet, müssen

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Arbeitermemoiren als Quellen

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sich der gleichen Quellen bedienen, eben jener spärlichen Zeugnisse aus dem „Volke" selbst, die nahezu allein ihnen Kunde geben können von der Lebenswelt und dem Schicksal der Namenlosen, die den Hintergrund und das Substrat bilden, vor dem sich die große Geschichte abspielt und aus dem sie sich speist. Bemüht man sich systematisch um Auffindung solcher Quellen, so ist man freilich überrascht, wie aussagekräftig einzelne von ihnen sind und wie scharf sich gerade die gesellschaftliche Umformung im Gefolge der Industrialisierung aus ihnen erschließen läßt. Sie bedürfen allerdings einer sorgsamen Interpretation und einer genauen Prüfung, was zufällig, was zeit-, was „standes"-, was landschafts- oder konfessionsbedingt, was rein individuell und was typisch an ihnen ist. Gerade die Tatsache, daß die meisten schriftlichen Zeugnisse aus dem „niederen Volk" — um diesen sowohl dem Historiker als auch dem Volkskundler vertrauten Terminus beizubehalten — weitgehend von den oberen Ständen vorgeprägt sind, daß konventionelle Formen und bereitstehende Sprachhülsen benutzt werden, macht deutlich, vor welchen methodischen Problemen man bei ihrer Verwertung steht. Dem Historiker sind diese Schwierigkeiten wohlvertraut. Das Problem der „Übersetzung" ergibt sich nicht nur bei ihnen, sondern bei der Befragung jeder Quelle, die durch das Medium des menschlichen Geistes hindurchgegangen ist. Und darum handelt es sich bei fast jeder historischen Überlieferung. Ob es dabei um das rechte Verständnis eines Textes von Plato, um die Auswertung der Rechnungen einer mittelalterlichen Stadt oder um die Einschätzung der Partner bei den diplomatischen Verhandlungen europäischer Fürsten des Ancien Régime geht, ist prinzipiell gleichgültig. Die Unterschiede liegen nur in der Nähe oder Ferne des Befundes zu der geistigen Struktur der eigenen Zeit und zu der der wissenschaftlichen Erkenntnis notwendig innewohnenden logischen Form. Im allgemeinen wird es leichter sein, der Zeit und dem Standort des Interpreten näherliegende Ereignisse und Gestalten zu deuten als solche, die in völlig anderen Umwelten auftauchen. Nicht ohne Anlaß hat Spengler die grundsätzliche Verständnislosigkeit zwischen den einzelnen Kulturen postuliert und, von Mißerfolgen und Fehldeutungen gewarnt, hüten wir uns heute sehr davor, die Begriffe unserer Zeit ohne weiteres auf vergangene Jahrhunderte zu übertragen. Auch werden für gewöhnlich diejenigen Zeugnisse, die selbst einen hohen Grad an Geistigkeit besitzen, weniger der Transformation durch den Interpreten bedürfen als die, die als bloße Überreste eines menschlichen Lebensvorgangs uns in die Hände kommen und für das historische Verständnis in einem langwierigen Prozeß des Verstehens gleichsam erst aufbereitet werden müssen3. Die Quellen, von denen wir hier zu handeln haben, gehören aber zu einem guten Teil zu jener zweiten Gruppe. Oft sind sie zufällig entstanden, ohne die Absicht, Überlieferung zu sein, nur aus der spontanen Lust am Erzählen, oft aber auch aus einem bestimmten Zweck, der mit dem der historischen Erkenntnis wenig gemein hat, ja ihm geradezu widerstreben kann. Aus der politischen Geschichte ist bekannt, wie fragwürdig der Wahrheitsgehalt vieler Memoiren ist, wie oft sie die Wahrheit geradezu verdecken und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Die soziale Problematik der Industrialisierung

zu verschleiern suchen und wie sehr man auf der Hut sein muß, um nicht Opfer eines solchen Versuches zu werden. Für die Sozialgeschichte besteht die Gefahr weniger in der bewußten Verfälschung eines historischen Tatbestandes oder in der falschen Motivierung eigener Taten. Auch Irrtümer, die aus der falschen oder ungenauen Erinnerung herrühren, fallen weniger ins Gewicht; denn hier kommt es ja nicht auf die genaue Datierung eines Vorganges oder die vollständige Aufzählung der beteiligten Personen und Interessen an, sondern auf die echte Darstellung eines Milieus, einer Lebensstimmung oder Zeitlage, Dabei aber spielt die Perspektive des Erzählers eine entscheidende Rolle. So wie in einem Roman der Erzähler als Selbsterlebender, als zuschauender Dritter mit dem beschränkten Horizont eines wirklichen Menschen oder als allwissender, seelenkundiger ,deus ex machina' auftreten kann, so hat jeder, der seine Erinnerungen niederschreibt, eine bestimmte Perspektive, aus der er sein Leben sieht. Er kann der schlichte Chronist sein, der Daten und Ereignisse aufzählt, er kann als Kämpfender und Leidender die Geschichte seines Ringens mit der Welt und dem Leben niederlegen, er kann aus der Weisheit des Alters oder dem Bewußtsein eines erfüllten Lebens heraus von hoher Warte über Menschen und Zeiten urteilen. Mancher Autobiograph kennt nichts als seine Person und deren engste Umgebung, ein anderer läßt sich selbst hinter den darzustellenden Bewegungen und Tendenzen ganz zurücktreten; manchem kommt es auf die Kritik der Zeit, der Gesellschaft oder der Welt insgesamt an, dem anderen auf die Fülle des gelebten Lebens. Unter den Pietisten finden sich viele, auch einfache Menschen, die aus der Forderung nach Selbsterkenntnis und Rechenschaft vor Gott ihr Leben aufschrieben, die Sozialisten wollen meist an ihrem eigenen Schicksal den Befreiungskampf der arbeitenden Klasse schildern, Alles das ist ebenso zu bedenken wie der Anlaß, dem eine Aufzeichnung zu verdanken ist, und die Bearbeitung, die sie bei ihrer Veröffentlichung gefunden hat. Nur selten geben Männer aus dem einfachen Volk ihre Lebenserinnerungen selbst in den Druck. Öfters werden sie von Schriftstellern, Pfarrern, Gelehrten und Politikern angeregt und zum Teil bearbeitet, manchmal auch in der Handschrift von Nachkommen aufgefunden und herausgegeben oder nach mündlichen Erzählungen von Söhnen und Enkeln niedergeschrieben. So hat Karl Philipp Moritz die Biographie seines Vaters, eines Regimentshoboisten in seinem Magazin für Erfahrungsseelenkunde 1789/90 verwertet, Gottfried Keller die Gestalt seines Vaters nach Erzählungen der Mutter rekonstruiert, Friedrich Paulsen die Erlebnisse seines Urgroßvaters, eines Halligschiffers, publiziert, Max Jahns die Erinnerungen seines Großvaters Friedrich Klöden herausgegeben. Uli Bräker, der Arme Mann im Tockenburg, schrieb sein Leben auf Anregung der Moralischen Gesellschaft zu Lichtensteig, einer aufklärerischen Bildungsgesellschaft; Frau von Laroche erzählte die Geschichte eines Kupferstechers im Schwäbischen Museum von 1785 und Goethe gab den Memoiren eines Schuhmachers ein Vorwort auf den Weg4. Die ersten spezifischen Arbeitermemoiren sind von Pfarrherren angeregt worden. Der sozialdemokratische Pastor Göhre hat mehrere ihm bekannte Arbeiter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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schon lange vor dem Ersten Weltkrieg aufgefordert, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Vier der bedeutsamsten Zeugnisse zur Sozialgeschichte des deutschen Arbeiters verdanken dieser Anregung ihre Entstehung5. Seine eigenen Erlebnisse als Fabrikarbeiter bilden geradezu das klassische Beispiel einer reflektierten Darstellung der Arbeiterschaft aus der Sicht des „Gebildeten", der bewußt unter ihnen lebt und sich ihre Handlungsweise und Urteilsmaßstäbe zu eigen macht6. Fast zur gleichen Zeit wie Paul Göhre gaben noch zwei andere Pastoren Lebenserinnerungen und Aufzeichnungen von Arbeitern in den Druck. Friedrich Naumann veröffentlichte in seinem Verlag „Die Hilfe" die Arbeiterschicksale Franz Louis Fischers, der als Bergarbeiter in Zwickau tätig gewesen war, ehe er sich als Milchhändler durchs Leben schlug7. Pfarrer C. Moszeik druckte ein siebzigstündiges Interview mit einer ostpreußischen Arbeiterfrau, die er nach arm und reich, Arbeit und Lohn, dem Haushalt, nach Ehe und Familie, Religion, Sittlichkeit, Politik, Schule und vielen anderen Dingen fragte. Die Antworten, die sie gab, sind systematisch geordnet und vermitteln daher nicht unbedingt einen Einblick in den Verlauf des Gesprächs, aber sie sind so direkt und offen, daß sie in das Innerste der Gedankenwelt dieser Frau blicken lassen8. Weit bekannt wurde die Jugendgeschichte von Adelheid Popp, da August Bebel für sie eine Einleitung schrieb9. Auch Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens erschienen um die gleiche Zeit10. Eine ganze Reihe von Zeugnissen aus der Arbeiterschaft verdanken ihre Veröffentlichungen Adolf Levenstein, einem der ersten empirisch forschenden Sozialpsychologen. Im Eberhard-Frowein-Verlag in Berlin legte er um das Jahr 1909 in mehreren Heften Dichtungen, Briefe und Jugenderinnerungen von Arbeitern und die Autobiographie des Tagelöhners Georg Meyer vor11. Welche Absicht er damit verfolgte, geht am besten aus den Richtlinien des Verlages hervor, wie sie in einem der Hefte mitgeteilt sind. Danach wollte er „Bausteine zur Erkenntnis unserer sozialen Zustände" liefern, indem er Arbeiter selbst zu Wort kommen ließ und so „von psychologischer Basis aus" nachwies, „wie unsere heutige technische Kultur den Arbeiter teilweise erdrückt, teilweise aber auch schlummernde geistige Kräfte freimacht". Er wollte sich an die Leser mit „sozialem Herzen" wenden und das Verständnis der Einsichtigen wecken. Offenbar hatte die literarische Sensation, zu der Karl Fischers Lebenserinnerungen wenige Jahre zuvor geworden waren, den Boden bereitet, um eine eigene „Arbeiterliteratur" entstehen zu lassen. Seitdem sind denn auch immer wieder von Zeit zu Zeit Lebenserinnerungen aus dem Arbeiterstand erschienen. Erwähnt seien hier nur die autobiographische Erzählung „Ein Kumpel" von Georg Werner, die der Verlag „Die Knappschaft" 1929 herausgab und die von marxistischem Klassenbewußtsein erfüllte Lebensgeschichte Ludwig Tureks von 1930, die nach dem Krieg in Ostberlin neu aufgelegt wurde12. Sucht man jedoch den Anfang dieser Bestrebungen, so muß man ein gutes Stück zurückgehen. Schon in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts veranlaßte der sächsische Pfarrer Tobias Leberecht seinen Schwager, den Schrei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ner Carl Neumann, seine Erlebnisse in einer Fabrikstadt aufzuzeichnen. Von ihm überarbeitet und herausgegeben, tragen sie äußerlich den Zug der erbaulichen christlichen Traktatliteratur 13 . Anderen zum Beispiel soll gezeigt werden, wie ein armer, deklassierter Mann auch in der Not den Glauben an Gott nicht verliert und so wieder in die Hohe kommt. Leuchtet man jedoch eine Schicht tiefer, so erkennt man ein geradezu idealtypisches Bild von den Veränderungen der deutschen Sozialstruktur unter dem Einbruch der Industrialisierung um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Handwerker alten Stils verliert seinen alten „Stand", taucht in der namenlosen Masse der Fabrikarbeiterschaft unter, arbeitet sich aber dank seiner fachlichen Qualifikation zum Mitglied eines „neuen Mittelstandes" empor, der in steter Abhängigkeit von der Fabrik, aber wirtschaftlich besser lebt als der kleine Handwerker der vorindustriellen Zeit. Ähnliche Aufzeichnungen entstanden in großer Zahl unter pietistischem Einfluß schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, einzelne sogar im 17. Jahrhundert14. Die berühmtesten, Karl Philipp Moritz autobiographischer Roman „Anton Reiser", das literarische Vorbild für Goethes „Wilhelm Meister", und Johann Heinrich Jung-Stillings Lebensgeschichte, sind in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen15; als Vorläufer des Entwicklungsromans und der psychologischen Selbstdeutung wurden sie auch von der Psychologie schon langer beachtet16, neuerdings konnten sie für eine Sozialgeschichte des deutschen Kleinbürgers der Goethezeit wertvolle Dienste leisten17. Man muß, will man sie für diese Zwecke verwenden, in der stilisierten, auf den Punkt der Erweckung hin orientierten Darstellung Jung-Stillings und in dem seelenanalytischen, von literarischem Ehrgeiz diktierten Buche Moritz' die soziale Welt zu finden verstehen, in der sie entstanden sind und die in sie miteingeflossen ist. Gewiß sind diese Autobiographien ebensowenig wie die großen Gesellschaftsromane, an denen die deutsche Literatur durchaus nicht so arm ist wie die Vorliebe für den Entwicklungs- und Bekenntnisroman es vermuten läßt, nur aus dem sozialen Milieu zu erklären, aus dem der Verfasser kommt, auch ist ihre Absicht nicht soziologisch oder sozialkritisch. Aber jede Sicht der Welt, die in ein literarisches Werk eingeht, enthält eine „immanente Soziologie", und sie herauszupräparieren, ist eine Aufgabe, die der modernen Sozialgeschichte wesentliche Erkenntnisse zu bringen verspricht18. Daß es in Deutschland vor der Diskussion der „sozialen Frage" und vor der literarischen Bewegung des Naturalismus eine bewußte, sozialkritische Literatur kaum gegeben hat, braucht daher nicht zur Resignation zu verleiten: gerade die Unabsichtlichkeit bei der Beschreibung soziologischer Sachverhalte erzeugt eine tendenzfreie Darstellung der sozialen Welt, die den späteren, von der Reformbedürftigkeit der Gesellschaft überzeugten Schriftstellern so nicht mehr möglich war. Man braucht nur die Ergiebigkeit etwa Gottfried Kellers für die Soziologie des Kleinbürgertums mit der heute vergessener naturalistischer Romanschreiber wie Bleibtreu, Alberti, Conrad, Mackay oder Hille für die spätbürgerliche Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu vergleichen19, um zu verstehen, daß das Interesse für die soziale Frage keineswegs zu einer besseren Darstel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lung sozialer Phänomene führen muß. Erst dem soziologisch „uninteressierten" Thomas Mann wird es in seinen „Buddenbrooks" gelingen, das Milieu großbürgerlicher Dekadenz wirklich einzufangen. Ähnliches gilt auch für die Lebenserinnerungen. Die Memoiren führender Sozialisten aus dem Handwerker- und Arbeiterstand sind zwar erstklassige Quellen für die Geschichte der sozialen Bewegung und für die Emanzipation des „vierten Standes". Für die Kunde vom kleinen Mann, seiner Lebensweise, seinen Gefühlen und Schicksalen werden sie aber übertroffen von jenen noch nicht zum Bewußtsein ihrer Klassenlage gekommenen oder über ihre Klasse hinausgewachsenen Berichterstattern wie Karl Fischer und Karl Friedrich Klöden20. Klöden hat als Sohn eines armen preußischen Unteroffiziers und Zolleinnehmers um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Berlin das Handwerk eines Goldschmieds erlernt und mit einer fast photographischen Treue die gedrückte Welt Berliner Kleinbürger geschildert, in der er seine Lehrzeit verbrachte. Die handwerkliche Stümperei, die wirtschaftliche Not, die soziale Unsicherheit, die sich im Schielen nach dem à la mode-Wesen der französischen Kolonie ausdrückt, das Fehlen eben jener Geborgenheit, die für das alte Handwerk charakteristisch gewesen sein soll, tritt dabei ebenso lebhaft in Erscheinung wie die Bildungsmöglichkeiten der preußischen Hauptstadt, ihre freie, das tätige Individuum fördernde Atmosphäre. Klöden ist später über den Graveur und Guitarrespieler zum Kartenzeichner und schließlich über ein außergewöhnliches Studium zum Begründer der preußischen Gewerbeschulen aufgestiegen und hat die soziale Welt seiner Jugend „von oben" betrachtet, ohne sie zu verachten, ohne sie aber auch zu verherrlichen, mit der Genauigkeit des Chronisten und mit jener trockenen Gelehrsamkeit, mit der er sich als alter Mann der brandenburgischen Heimatgeschichte zuwandte. Karl Fischer dagegen blieb immer der einfache Arbeiter, der er nach einer unglücklichen Bäckerlehre bei seinem jähzornigen Vater geworden war, um einem ungeliebten Beruf, in dem er nichts gelernt hatte, zu entfliehen. Er ist der erste, der im deutschen Sprachbereich aus eigenem Erleben die Welt des Proletariats darstellt. Naiv, unreflektiert, ohne sich über die Ursachen seines Schicksals Gedanken zu machen, nur manchmal sich ohnmächtig gegen es aufbäumend, schildert er in der drastischen Sprache des Unliterarischen ein Leben, das ein einziger Mißerfolg war, in seiner völligen Passivität gegenüber den Geschehnissen aber als typisch für den eigentlichen ungelernten Arbeiter der frühindustriellen Epoche in Deutschland gelten kann. Mit den Erdarbeiten für die Eisenbahn beginnt dieses Proletarierleben. Unstet, von Baustelle zu Baustelle ziehend, körperlich stets überfordert, von unzulänglichen Vorgesetzten schikaniert, von schlechten Kameraden zum Branntwein und Diebstahl verführt, bleibt er auf der niedrigsten Stufe der werdenden industriellen Gesellschaft stehen. Dagegen erscheint die spätere Arbeit in Stahlwerken und Eisenbahnwerkstätten schon als Verbesserung. Aber auch sie ist hart, weniger vom Rhythmus der Maschine als von der Laune des Meisters bestimmt. Die Sozialstruktur des Industriebetriebs in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts kann an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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diesem Buch ebenso abgelesen werden wie das Verhältnis der Arbeitskameraden untereinander. Noch ist der Sozialismus keine Macht. Man ist seinem Schicksal ergeben, man verflucht es vielleicht, aber man lehnt sich nicht gegen es auf. Fischer und seine Arbeitskollegen sehen weder den Weg des individuellen noch des kollektiven Aufstiegs. Sie kennen nur die Selbstbehauptung im täglichen Daseinskampf und bemühen sich, ein kleines Stück Privatleben herauszuschneiden, das sie zum Menschen macht. Das Leitbild der kleinbürgerlichen und ländlichen Existenz herrscht vor. Man bestellt seinen kleinen Garten oder geht des Sonntags zum Angeln, aber man organisiert sich nicht und unternimmt keinen Versuch, sich weiterzubilden. Ganz anders ist das Verhältnis zur industriellen Welt bei den nur wenig jüngeren, aber durch die Schule der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gegangenen Arbeitern um die Jahrhundertwende, wie es Moritz William Theodor Bromme oder Eugen May darstellen21. Hier wird über die eigene Lage und den Aufbau der Gesellschaft bereits nachgedacht. Es gibt Schuldige und Unschuldige, Ausbeuter und Ausgebeutete. Die Fabrikanten und das soziale System sind der Feind, die Arbeiter Genossen, denen man Solidarität entgegenbringt jenseits aller Sympathie und Antipathie, aller persönlichen Urteile, die auch in diesem Kreis nicht fehlen. Die persönliche Ohnmacht wird als die Ohnmacht einer Klasse verstanden und daher ertragen, aber nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit, mit der frühere Generationen ihren „Stand" wie ein Naturereignis hinnahmen, sondern mit dem erst stillen, dann immer lauter werdenden Vorbehalt, daß etwas anders werden müsse. Das Selbstverständnis dieser wissenschaftlich orientierten und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterorganisation hat sich gründlich verändert. Mit der Bibel, der alten Ehrbarkeit und Gesittung ging auch die ständische Weltordnung verloren, in der jeder seinen Platz und seine spezifische Ehre hatte. Der Proletarier gehörte nicht mehr dazu. Er fühlte sich als Ausgestoßener und nichts schien ihm übrig zu bleiben, als die ganze Gesellschaft umzustülpen, damit man ihn, der sie mit seiner Hände Arbeit ernährte, wieder zur Geltung kommen ließe. Der Weg des individuellen Aufstiegs wird wohl gesehen, aber er ist verpönt; denn damit verläßt man seine Klasse und verletzt die Solidarität. Wenn Eugen May ihn schließlich dennoch geht, als er sich nach dem Ersten Weltkrieg ein kleines Unternehmen im Schwarzwald einrichtet, so zeigt das nur die Diskrepanz zwischen dem Sein und dem Bewußtsein auch bei der marxistischen Arbeiterschicht. Der Wille, es in dieser Welt zu etwas zu bringen, ist stärker als alle Klassensolidarität. Noch schärfer als bei diesen marxistisch geprägten, aber politisch inaktiven Arbeitern muß man bei den Führern der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bewegung unterscheiden zwischen dem Gewollten und Erlebten, zwischen den politischen Zielen und der sozialen Welt, aus der heraus sie denken und handeln22. Tut man das aber, so geben auch ihre Memoiren reichen Ertrag für Sozialgeschichte und soziale Volkskunde des Industrievolks. Abgesehen davon, daß sie als Avantgardisten einer Bewegung die Probleme der industriellen Arbeitswelt genauer kennen als der durchschnittliche Arbeiter, daß sie syste© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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matisch zu denken und überzeugend zu schreiben gelernt haben, spiegelt sich in ihren Lebenserinnerungen der Zwiespalt zwischen dem kleinbürgerlichen Lebensstil und der proletarischen Politik. Das sozialistische Ethos, das alle diese aus dem Handwerk stammenden und seinem alten Standesethos noch verpflichteten Arbeiterführer ihren Wählern vorleben, hat überdies die Lebensform des modernen Industrievolks wesentlich mitgeprägt, indem es sich auf ältere Schichten von „Modellerlebnissen", von Verhaltensnormen und sozialen Wertsystemen aufsetzte, sie überlagerte und verdeckte, ohne sie ganz zu verdrängen23. Diese sozialistischen Memoiren gehören im Unterschied zu den früher erwähnten, naiv und unmittelbar entstandenen Lebenserinnerungen zu der Gruppe der reflektierten, in denen über die gesellschaftlichen Probleme der industriellen Welt philosophiert wird. Sie stehen der wissenschaftlichen Aussage daher näher, müssen aber gerade deshalb mit besonderer Sorgfalt interpretiert werden, damit nicht ihre Meinungen und Perspektiven ungeprüft in die wissenschaftliche Beurteilung der industriellen Daseinsform überfließen, wie es in der älteren deutschen Sozialgeschichte, die selbst wesentlich vom Sozialismus inspiriert war, geschah. Zur Korrektur des in ihnen gezeichneten Bildes empfiehlt es sich, solche Memoiren zu befragen, deren Verfasser selbst durch die Schule des Sozialismus gingen, sich später aber wieder von ihr befreiten. Hier finden wir im allgemeinen den schärfsten Blick und die sicherste Aussage über die Bewußtseinsformen und deren Wandlungen in der industriellen Arbeiterschaft. Von Stephan Born, dem Organisator der deutschen Buchdrucker und späteren Literaturprofessor in der Schweiz, über den Bergmannssohn Paul Ernst und den einstigen Maurergesellen August Winnig bis hin zu dem christlichen Arbeitersekretär August Springer, der in seiner Jugend in einer Tuttlinger Schuhfabrik arbeitete, zieht sich eine Kette von Aussagen, die helle Schlaglichter auf das Werden der industriellen Lebensform werfen24. Stephan Born schildert unübertrefflich, wie die jungen Handwerker sich „mit ganzer Seele" in die Marxsche Verkündung der klassenlosen Gesellschaft einleben, wie sie die neue Lehre aufnehmen „ohne viel Kopfzerbrechen" und aus ihr jene Kraft schöpfen, die ihre Väter aus dem christlichen Glauben und der Predigt des Pfarrers zogen. Paul Ernst beschreibt die Welt der Harzer Bergleute, in der er aufwuchs, als eine ärmliche, aber von einem starken Standesethos beseelte, in der man alte Sitten und geordnete Verhältnisse hatte, weshalb man sich den Fabrikarbeitern überlegen fühlte, auch wenn ein neunjähriger Pochjunge täglich acht Stunden arbeitete und oft bis an den Leib im Wasser stand. Als im März 1848 die Kunde von der Revolution nach St. Andreasberg drang, da legten die Fabrikarbeiter, die noch zu Beginn der vierziger Jahre Bergleute gewesen waren, ihre schwarzen Bergmannskleider an, nahmen die Grubenlichter zur Hand und zogen, ein altes Bergmannslied singend, zu den Schächten, um wieder einzufahren; denn Revolution bedeutete für sie, daß die stillgelegten Gruben wieder in Gang gesetzt und die Fabriken geschlossen würden. Zwar verdienten sie mehr als der Bergmann mit seinen zwanzig guten Groschen und der Oberschlämmer mit seinem Taler in der Woche, aber sie fühl© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ten sich deklassiert, weil sie nicht mehr voll teilhatten an der Welt der Bergleute. Der Bergmannsstand war für sie ein Ehrenstand und rangierte über dem Handwerker, nicht nur weil Hilfsvereine und Knappschaftskassen für Alte und Arbeitsunfähige sorgten oder weil der einfache Bergmann zum Steiger und höheren Bergbeamten aufsteigen konnte, sondern weil ein rational nicht ganz faßbares Ethos in ihnen lebte, das ihrem Stand eine eigene Würde verlieh. August Winnig hat als junger Maurerstift in Gesprächen mit älteren Kollegen von der Solidarität der Handarbeitenden gehört, hat die Unterschiede und das Gemeinsame zwischen dem ländlichen Handwerkergesellen und dem großstädtischen Fabrikarbeiter kennengelernt und das kaiserliche Deutschland aus der Sicht des Sozialistengesetzes gesehen, ehe er zu einem Patrioten des Reichs und christlich-konservativen Schriftsteller wurde. August Springer schließlich beleuchtet mit einem eigentümlich grellen und doch nuancenreichen Licht das „Hinterhaus der wilhelminischen Gesellschaft"25, das dem Bürgertum der Zeit nach einem Wort von Paul Göhre fremder war als die Vorgänge im Kongo. Sein auch literarisch bedeutsames Buch zeigt die im Ausbau begriffene industrielle Gesellschaft in Deutschland zu einem Zeitpunkt, als mit Friedrich Naumann, den Christlich-Sozialen und dem Verein für Sozialpolitik die Oberschicht auf die fast unbemerkt herangewachsene Industriearbeiterschaft aufmerksam wurde und erste Vorschläge zu ihrer gesellschaftlichen und politischen Integration machte. Die Diskussion des Für und Wider solcher religiöser und sozialpolitischer Hilfsmaßnahmen in Arbeitskreisen, ihre Auseinandersetzung mit der marxistischen Arbeiterbewegung hat in August Springer einen klugen und aufmerksamen Beobachter gefunden, der zugleich die Fabrikwelt einer schwäbischen Kleinstadt mit ihrer eigentümlichen Atmosphäre von zünftlerisch anmutenden Unternehmern, handwerklich qualifizierten Facharbeitern und einer Hilfsarbeiterschicht mit ländlichem Hintergrund treffend zu schildern weiß. Wenn August Springer sich schließlich für die christliche und gegen die marxistische Arbeiterbewegung entschied, so suchte er nicht nur Kirche und Arbeiterschaft zu versöhnen, sondern wurde damit selbst zum Zeugen, daß verschiedene Kräfte und Erlebnisse bei der Formung des Industrievolks mitwirken, sich gegenseitig überlagern und ausgleichen. Welchen Erkenntniswert Lebenserinnerungen aus anderen Bevölkerungsschichten für die Geschichte der industriellen Gesellschaft haben, soll hier unerörtert bleiben. Aber es gibt zahlreiche Kaufleute, Fabrikanten, Beamte, Gelehrte und Künstler, die — ohne eine spezifische Hinneigung zur „sozialen Frage" gehabt zu haben — aus ihrem Lebenskreis prächtige Beiträge liefern, und für die Sozialgeschichte des deutschen Bürgertums sind viele solcher Zeugnisse schon mit großen Erfolg verwertet worden26. Hier galt es nur zu zeigen, welche reiche Quelle für die Geschichte und Volkskunde des Industrievolks in den Lebenserinnerungen aus dem „niederen Volk" selbst fließt. Man könnte, wenn man sie systematisch sammelte, vielfache Belege für jede der von Brepohl entwickelten Erlebnismodelle finden, und man könnte darüber hinaus für Generationen und Landschaften, Konfessionen, Berufe und persönliche Schicksale typi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sche Erscheinungsformen in der Herausbildung der modernen Gesellschaft erkennen. Eine systematische Sammlung solcher Arbeitermemoiren ist daher ein Desiderat der Sozialgeschichte und sozialen Volkskunde in Deutschland27.

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Soziale S p a n n u n g e n in d e n Frühstadien der Industrialisierung Im Prozeß der Industrialisierung sind die westeuropäischen Länder durch eine Periode ernsthafter sozialer Spannungen gegangen. Eine Zeitlang stand dieses Phänomen im Mittelpunkt des Interesses aller sozialpolitisch Denkenden und Handelnden. In einigen Ländern sprach — und spricht man zuweilen noch heute — von „dem Sozialen Problem" oder „der Sozialen Frage". In unserem Jahrhundert gehen die Entwicklungsländer durch eine Periode fundamentalen sozialen Wandels und sozialer Adaption. Gezwungen sind sie dazu nicht allein durch die Notwendigkeit, in ihrem wirtschaftlichen Wachstum Zuwachsraten zu erzielen, die den Bedürfnissen der rasch anwachsenden Bevölkerungen gerecht werden, sondern auch durch den zersetzenden Einfluß der westlichen Zivilisation auf ihre sozialen Wertvorstellungen. Die traditionellen Gesellschaften in der ganzen Welt sind zutiefst gestört und sehen sich dem Problem der ReOrientierung und Re-Organisation gegenüber. Im folgenden soll versucht werden zu klären, welche Art von Vergleich wir zwischen den sozialen Spannungen in den frühindustrialisierten Ländern des Westens und denen in nicht- oder halb-verwestlichten Ländern anstellen können. Sind die Probleme ihrem Wesen nach ähnlich? Sind sie in einigen Fällen gar identisch? Oder treffen wir auf so fundamentale Unterschiede, daß jeder Vergleich die Analyse fehlleiten würde? Ich kann nicht hoffen, diese Fragen hier erschöpfend zu behandeln, sondern nur, zu ihrer Klärung beizutragen; und zwar 1. durch eine Untersuchung der zeitgenössischen Ansichten des 19. Jahrhun derts zum Wesen der „Sozialen Frage" in verschiedenen westlichen Ländern 2. durch die vorläufige Entwicklung eines generellen analytischen Konzepts und 3. durch die Anwendung des entwickelten Konzepts auf einige Phänomene, die in den Entwicklungsländern beobachtet worden sind. I. Die Soziale Frage in Westeuropa und Nordamerika Obgleich es kaum Zweifel daran gibt, daß alle industrialisierten Länder Westeuropas im Verlauf der Industrialisierung ähnliche Probleme zu überwinden hatten, besteht keine Einhelligkeit darüber, was genau diese Probleme ausmacht. Einer Aufzählung einzelner Punkte stimmte fast jeder zu; eine definitive Aussage zum Wesen dieser Probleme würde indes vielfältige Opposition herausfordern. Und wenn wir untersuchen, was Autoren westeuropäischer Länder des 19. Jahrhunderts im Auge hatten, wenn sie von den sozialen Problemen der Industriellen Revolution sprachen, finden wir wiederum sehr verschiedene Antworten. Sie scheinen zu differieren je nach der Zeit, in der sie schrieben,

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ihrer grundlegenden Sozialphilosophie und nach ihrem Herkunftsland und dessen besonderen Problemen. 1. Beginnen wir mit dem letzten Punkt. Soweit ich sehen kann, wurde der umfassendste und zugleich vagste Begriff der Sozialen Frage als Ausdruck eines besonderen Komplexes sozialer Probleme im Zuge der Industrialisierung in den deutschsprachigen Ländern entwickelt. Hier wurde der Terminus Die Soziale Frage viel benutzt2; im Französischen oder Englischen taucht er dagegen zwar auf, setzte sich aber anscheinend nicht als Standardbegriff im gleichen Maße durch, außer bei katholischen Autoren oder — und das ist interessant zu beobachten — in Übersetzungen aus dem Deutschen3 oder in Anwendung auf Deutschland4, in beiden Fallen wiederum vorwiegend bei katholischen Autoren. In Frankreich scheint die Diskussion mehr unter dem Konzept der organisation du travail und des Sozialismus geführt worden zu sein5. Die sozialen Probleme der entstehenden industriellen Gesellschaft wurden hier vorwiegend als Alternative zwischen laissez-faire und einer neuen Ökonomischen Organisation gesehen, die entweder auf kooperativer oder auf staatsdirigistischer Basis aufgebaut werden müßte. Der französische Ansatz galt — zumindest außerhalb Frankreichs — als im Grunde politischer und nicht als sozialer6. Trotzdem kannte man in Frankreich den umfassenderen, eher philosophischen Begriff der question sociale nicht nur aus Übersetzungen, sondern auch aus eigenen Werken7. Das gleiche gilt für Italien und Spanien8. In allen drei Ländern waren die Autoren indes katholische Moral- und Sozial-Philosophen, während der Begriff in Deutschland von Autoren verschiedener Konfessionen und sozialphilosophischer Haltungen — die Liberalen eingeschlossen — benutzt wurde, wenn auch selten von Marxisten9. In Großbritannien und den englischsprachigen Ländern außerhalb Europas wurde der Terminus social question nicht zu einem Standardbegriff, wenn er auch zumindest um die Jahrhundertwende bekannt war. Wer immer ihn benutzte, ließ selten den Hinweis aus, daß der Begriff seiner Vagheit und Mehrdeutigkeit wegen für die Zwecke wissenschaftlicher Analyse ungeeignet sei10. Dies scheint ein besonders unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern und -reformern weitverbreitetes Gefühl widerzuspiegeln; denn der Begriff social question wurde in diesem Land sehr schnell aufgegeben und ersetzt entweder durch den Plural social problems oder später durch die Begriffe social pathology und social disorganisation. Die große Zahl von Lehrbüchern, die unter diesen Titeln erschienen, handeln in der Tat eine Vielzahl sozialer Probleme ab; so Kriminalität, Alkoholismus, die Zerstörung der Familie, Probleme nationaler Minoritäten, von denen nur einige — z. Β. Wanderarbeiter, Arbeits­ losigkeit, städtische Wohnprobleme — unter den Begriff subsumiert werden können, wie er im Westeuropa des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Dies reflektiert m. E. die Tatsache, daß in den Vereinigten Staaten die industrielle Gesellschaft zu einem längst etablierten und grundsätzlich nicht in Frage gestellten Phänomen geworden ist, ungeachtet des interessanten Faktums, daß einige amerikanische Sozialwissenschaftler die britische Gesellschaft des 15 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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19. Jahrhunderts als established society betrachten und die Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts für sie eine disintegrated oder adaptive society verkörpern11. Soziale Spannungen werden in diesem Land nicht vorwiegend als historisches Phänomen behandelt, dessen Ursachen — zumindest teilweise — in der Industrialisierung liegen, sondern als eine „Pathologie" der existierenden Gesellschaft, als eine Form der Disorganisation von Individuen, von Familien oder bestimmten sozialen Einheiten. Die Behandlung des Gegenstandes — jedenfalls in den Lehrbüchern — ist deshalb in hohem Maße unhistorisch12. Dies scheint gegenüber dem traditionellen europäischen Ansatz einen Vorteil zu bieten; der Begriff ist weniger mit emotionalen Urteilen beladen, wird objektiver und rationaler und führt deshalb zu einer klareren Analyse. Auf der anderen Seite mindert der Mangel an historischem Gehalt das Verständnis der Phänomene. Dies wird besonders klar, wenn man versucht, die aus den Studien über soziale Disorganisation gewonnenen Erkenntnisse auf Verhältnisse außerhalb dieses Landes anzuwenden. Man kann sicherlich eine Erscheinung wie Alkoholismus oder Kriminalität in verschiedener sozialer Umgebung auf gleiche Weise untersuchen; der besondere Stellenwert sozialer Spannungen zu Beginn des Industrialisierungsprozesses wird indes ohne den Bezug zum jeweiligen kulturellen und historischen Kontext nicht zu erfassen sein13. 2. Wenden wir uns nun von den nationalen Unterschieden in der Auseinandersetzung mit sozialen Spannungen in sich industrialisierenden Ländern den Unterschieden zu, die in grundlegend verschiedenen sozialen Anschauungen gründen. Da wir uns nicht mit allen effektiv aufgetretenen Schattierungen auseinandersetzen können, soll versucht werden, sie in den bequemen Kategorien abzuhandeln, die die politische Geschichte uns anbietet: a) die Konservativen, b) die Liberalen, c) die Sozialisten und nehmen wir zusätzlich als d) die religiösen, meist katholischen Autoren, die sich mit sozial-ethischen Fragen auseinandersetzten. Allen konservativen Ansätzen ist die Überzeugung gemeinsam, es habe vor der Industriellen Revolution eine im Grunde gesunde und ungestörte soziale Ordnung gegeben, die entweder wiederhergestellt werden oder doch zumindest als eine Art Modell für eine integrierte Gesellschaft dienen müsse, selbst wenn die industrielle Gesellschaft notwendig von der ländlichen differiere. In ihrem Glauben an die Richtigkeit der traditionellen Gesellschaft tendieren die Konservativen dazu, alle Schuld für das, was sie als desorientiertes soziales Leben ihrer Zeit empfinden, dem Industrialismus zuzuschieben, der die „natürliche Ordnung" der Dinge gestört hat. Ihre Vorschläge zur Verbesserung intendieren entweder ein staatliches Kontrollsystem der Arbeitsbedingungen oder die Wiedererrichtung von Körperschaften wie „Ständen", Zünften usf.14. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß Staats- und Zunft-Konservativismus auf dem europäischen Kontinent stärker als in Großbritannien und den britisch besiedelten Ländern zum Ausdruck gekommen ist, in denen der Konservativismus „liberalere" Züge trägt, da er stärker auf die sich ausgleichenden Kräfte einer freien und kooperativen Gesellschaft baut15. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Für den Liberalen resultieren die sozialen Probleme der frühen Industrialisierung weder ausschließlich noch hauptsächlich aus der Industriellen Revolution. Er führt in der Regel an, daß der Pauperismus viel älter als das Problem der industriellen Arbeiterschaft sei und daß die Industrie im Gegenteil dazu tendiere, die Last der Armen zu mindern, da sie ihnen die Chance biete, viel produktiver als zuvor zu arbeiten. Für ihn ist deshalb die Soziale Frage das Erbe eines sehr alten menschlichen Problems, das nur aufgrund wachsender Bevölkerung, der Urbanisierung und der höheren Ansprüche einer zivilisierteren und aufgeklärten Gesellschaft dringlicher geworden ist. Sofern die Industrialisierung von sich aus überhaupt die Lage verschärft hat, dann durch die Konzentration der Armen in den industriellen Regionen und das Entstehen einer neuen Klasse der industriellen Arbeiterschaft. Viel stärker ins Gewicht fällt jedoch das Versagen einer zu konservativen Gesellschaft, die neue Klasse den neuen Bedingungen anzupassen, die Arbeiter auszubilden und aufzuklären und die Gesetze des wirtschaftlichen Wettbewerbs wirklich zur Entfaltung kommen zu lassen. Nicht weniger, sondern mehr Industrien sind die Lösung des sozialen Problems, nicht weniger, sondern stärkere Emanzipation der unteren Klassen aus ihrem von altersher unterwürfigen, ungebildeten und unzivilisierten Status16. In dieser Hinsicht stimmen die Liberalen mit den Sozialisten überein, die im wesentlichen auf ähnliche Veränderungen hinauswollen, wenn auch mit Hilfe völlig anderer Mittel. Die verschiedenen Schulen sozialistischer Gedanken im 19. Jahrhundert boten unterschiedliche Ansichten zur sozialen Desintegration. Einige übersimplifizierten Ansichten vereinten eine unzureichende Kenntnis vorindustrieller sozialer Bedingungen — und damit ein verzerrtes Bild vom zeitgenössischen sozialen Elend — mit utopischen oder sektiererischen Vorstellungen von sozialen Heilmitteln. Dies gilt freilich nicht für die meist pragmatisch orientierten Träger der Arbeiterbewegung, die sich gewerkschaftlicher Mittel zur Verbesserung ihrer Lage bedienten. Für Großbritannien und die Vereinigten Staaten scheint man sich in diesem Punkt einig zu sein, das gleiche kann jedoch auch für die frühen französischen, schweizerischen und deutschen Arbeitervereinigungen nachgewiesen werden17. Zu Beginn der Industrialisierung waren die Probleme der Arbeiterschaft in allen Ländern Westeuropas im wesentlichen die gleichen. Überall wurde das Koalitionsrecht nur widerwillig eingeräumt. Das Stimmrecht war nach Einkommen oder Vermögen abgestuft, und die arbeitenden Klassen wurden als Halb-Bürger klassifiziert. Eine allgemeine Sozialversicherung existierte selbstverständlich nirgends. In allen im Prozeß der Industrialisierung befindlichen Ländern können die Arbeiter als sozial und politisch unterprivilegiert angesehen werden. Auch ihre Emanzipationsbewegungen ähnelten sich in wesentlichen Zügen. Sie wurden geführt von Handwerkern und Intellektuellen; zielten ab auf die Selbsterziehung der Arbeiterklasse und auf die Verbesserung ihrer ökonomischen Lage sowie ihrer politischen Vertretung und arbeiteten daran, das Begehren der Arbeiterklasse zu artikulieren, in der entstehenden industriellen Gesellschaft einen angemessenen Platz einzunehmen. 15*

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In den westlichen Ländern werden die gemeinsamen Züge im Ansatz gegenüber sozialen Fragen der Industrialisierung noch augenfälliger an der Haltung der Kirchen und derjenigen Sozial reformer, die durch ihren christlichen Glauben motiviert waren. In allen westlichen industriellen Gesellschaften bildeten religiöse Autoren einen Großteil der sozialen Kritiker, und in ihren Ansichten tendierten sie vom extrem konservativen Standpunkt über einen gemäßigt progressiven bis zum glühend revolutionären. Im allgemeinen waren jedoch die christlichen Sozialphilosophen, katholische wie protestantische, in den ersten Jahren der Industrialisierung eher konservativ. Der Konservativismus der deutschen Landeskirchen und der englischen High Church wird gewöhnlich der Allianz zwischen „Thron und Altar" zugeschrieben. Interessant ist jedoch, daß die französischen und die amerikanischen protestantischen Kirchen, die größtenteils im Nonkonformismus ihren Ursprung und keine legale Verbindung zum Staat hatten, ebenfalls generell als konservative Kräfte agierten18. „Die überwältigende Mehrheit der protestantischen Sprecher" im Zeitraum vor dem Bürgerkrieg „freute sich, daß Amerika eine christliche Nation war, in der Kirche und Staat, obschon getrennt, doch als Verbündete auftraten."19 Da die dominierenden politischen und wirtschaftlichen Institutionen und Ansichten eher im klassischen Liberalismus als im europäischen Konservativismus gründeten, resultierte diese konservative Allianz in der Verteidigung des laissez-faire. „Was auch immer die Kausalzusammenhänge zwischen den Ursprüngen des Kapitalismus und des Protestantismus sein mögen, beide sind Bestandteil des amerikanischen Erbes . . . Im 19. Jahrhundert mögen Protestanten aus den westlichen und östlichen Staaten über Banken und Zölle uncins gewesen sein, beiden aber war die Unantastbarkeit des Privateigentums ebenso selbstverständlich wie das Prinzip der Konkurrenzwirtschaft, und Sektionen der amerikanischen Religion waren eng verknüpft mit dem merkantilen Wohlstand und der finanziellen Erhaltung der Ostküste."20 Selbst diejenigen protestantischen Individuen und kleinen Reformergruppen, die sich der sozialen Probleme ihrer Zeit bewußt wurden und die auf sie mit nichtliberalen oder gar anti-liberalen Vorschlägen antworteten, zielten in erster Linie darauf ab, die existierende soziale Ordnung zu retten. Sie schlugen christliche Vereinigungen zur Hilfe der Armen vor; sie appellierten an die soziale Verantwortung der Unternehmer, und sie versuchten, die Aufmerksamkeit ihrer christlichen Brüder auf die existierenden sozialen Probleme zu lenken. Ihre tatsächlichen Anschauungen und ihre Politik differierten je nach den besonderen Problemen ihres Landes, aber ihre Grundüberzeugung war dieselbe: daß die sozialen Probleme jeder Gesellschaft durch die Anwendung der Prinzipien christlicher Ethik auf die zeitgenössischen sozialen Bedürfnisse und Institutionen gelöst werden können. Ähnliche Züge finden sich in den sozialen Lehren der katholischen Kirche: der Ausgang vom Individuum, der fundamentale Konservativismus und der vorwiegend ethische Ansatz. Aber die Katholiken zeigen doch einen bestimmteren Antiliberalismus, ihre soziale Reformbewegung setzt früher ein, und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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schließlich etabliert die höhere Autorität der Kirche ein festes und umfassendes Gebäude von Doktrinen zu sozialen Problemen. Von der Enzyklika Rerum Novarum im Jahre 1891 bis zur Enzyklika Quadragesimo Anno im Jahre 1931 und von da bis heute hat sie ihre Einstellung zu sozialen Problemen immer wieder zum Ausdruck gebracht21. Zudem ist die katholische Kirche die einzige wesentliche Institution der Welt, die noch heute die Probleme, um die es uns hier geht, unter der Überschrift die Soziale Frage erörtert. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden neue Bücher unter diesem Titel herausgebracht und alte Titel für Entwicklungsländer neu übersetzt22. Offenbar hält sie an einem Verständnis sozialer Spannungen in einer industriellen Gesellschaft fest, das sonst generell in unserem Jahrhundert aufgegeben worden ist. 3. Dies führt uns zu unserer dritten Klassifizierung, der Einteilung nach den Zeitabschnitten: Die Diskussion sozialer Probleme der Industrialisierung kann in drei Hauptperioden eingeteilt werden. In der frühen Phase, die ungefähr mit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu Ende geht und in allen westeuropäischen Ländern in den dreißiger und vierziger Jahren ihren Höhepunkt hat, sprach man vom „Pauperismus". Im zweiten Zeitabschnitt, der sich von den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt, sprach man vorwiegend von der „Arbeiterfrage", sehr häufig jedoch auch von der „Sozialen Frage" generell. Die dritte Phase hat sich bis zum heutigen Tage fortgesetzt und hatte ihren Höhepunkt vielleicht in den Jahren der Weltwirtschaftskrise; sie ist charakterisiert durch die vorherrschende Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Haben wir zuvor gesagt, daß nationale Unterschiede vor dem Hintergrund der grundlegenden Weltanschauungen der Autoren verblaßten, so können wir nun hinzufügen, daß die typischen Charakteristika der DiskussionsZeiträume wiederum beide verwischen, wenn auch nicht in gleich starkem Maße. Die erste Phase ist durch die Atmosphäre der Aufklärung gekennzeichnet. Durch sie erhält das Pauperismusproblem, dessen Erörterung bis ins Mittelalter zurückreicht, eine neue Dringlichkeit. Die Tatsache, daß diese Diskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert und besonders in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts intensiviert wurde, ist ein interessantes Phänomen, das eine Erläuterung verlangt. Eine Erklärung liegt auf der Hand und ist schon oft gegeben worden: die Industrielle Revolution und ihre sozialen Auswirkungen provozierten sie. Es wäre aber falsch, sich damit zu begnügen, denn die Zeitgenossen beobachteten den Pauperismus ebenso in nicht-industrialisierten, wie in industrialisierenden Regionen; sie sahen in ihm ebenso eine „moralische" wie eine sozioökonomische Frage. Wir müssen daher die Ursache in einem weiteren Zusammenhang sehen, nämlich in dem gesamten Prozeß der Modernisierung und Emanzipation, in dem die Industrielle Revolution nur einen Aspekt bildet. Der Prozeß selbst reichte jedoch weit über den technologischen und wirtschaftlichen Sektor hinaus in den gesamten sozialen, politischen und intellektuellen Kontext der Zeit. Um es konkreter zu sagen, es sind die französische und die amerikanische Revolution, die Aufhebung der Klassenunterschiede vor © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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dem Gesetz, die Bauernbefreiung, die Emanzipation der Juden und der Frauen, und es ist das rationale und philanthropische Denken der Aufklärung ebenso wie die Industrielle Revolution, die im frühen 19. Jahrhundert zu einer intensiveren Wahrnehmung und Problematisierung des Pauperismus führten. Pauperismus hat es in der menschlichen Geschichte immer gegeben. Aber es war die europäische Aufklärung, die ihn als soziales Problem verstand und schließlich als die „Soziale Frage" begriff. Die Menschen mußten erst begreifen, daß sozialer Status und ökonomische Verhältnisse nicht unveränderbare Konstanten waren, verfügt durch den heiligen Willen Gottes, der die Herrscher ebenso sandte wie Wetter oder Seuchen, sondern daß sie von Menschen gemacht und durch menschlichen Willen veränderbar waren. Soziale Schichten mußten erst erfahren, daß andere Schichten der Gesellschaft ihren Status und ihre Bedingungen verändert hatten, während der ihre stationär geblieben war. Und hier hat Marx völlig recht: die Kapitalisten, die Industriellen und Bildungsbürger mußten erst ihren sozialen Aufstieg demonstrieren, bevor das Klassenbewußtsein der Arbeiter entstehen konnte. Indem es als dynamischer Prozeß und nicht mehr als eine statische soziale Situation begriffen wurde, gewann das Problem des Pauperismus seine entscheidende Bedeutung. Es war nicht so sehr die Existenz des Pauperismus, die das soziale Bewußtsein alarmierte, sondern vielmehr seine scheinbare Zunahme. Die Zeitgenossen der Industriellen Revolution und ihrer Folgezeit waren Zeugen eines Anwachsens der industriellen Städte und Gebiete, der unteren Schichten in landwirtschaftlichen wie in industriellen Regionen. Gleichzeitig wurden sie Zeugen des wachsenden Reichtums der Nation und ihrer kommerziellen Klassen. Daraus schlossen sie einen Kausalzusammenhang. Wenn die einen reicher wurden, während die anderen arm blichen, dann mußte die eine Klasse die andere ausbeuten. Wenige erkannten schon damals, daß der wachsende Reichtum dem wachsenden Sozialprodukt viel eher als dem vermehrten Anteil einer bestimmten Klasse an einem unveränderten Sozialprodukt entsprang. Ohne Zweifel ist richtig, daß der Zuwachs nicht statistisch gleich oder nach moralischen Maßstäben „gerecht" verteilt wurde; daß die ärmeren Klassen, die ländlichen, industriellen und hauswirtschaftlichen Arbeiter jedoch überhaupt nicht daran partizipierten, ist sehr unwahrscheinlich. Die statischen Theorien, wie Ricardos Theorie der gleichbleibenden Lohnmenge oder die Malthus'sche Theorie des Ausgleichs von Bevölkerung und Nahrungsspielraum trafen auf die Situation von Wachstum und Wandel nicht zu, die im Entstehen begriffen war. Der Wahrheit naher kamen die Beobachter, die die Zunahme des Pauperismus Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialstruktur sowie in den Verhaltensweisen zuschrieben. Daß die zunehmende Modernisierung einer auf größeren betrieblichen Einheiten basierenden Landwirtschaft einen Teil der ländlichen Bevölkerung vertrieb, mag wohl zutreffen, zugleich schufen aber intensivere landwirtschaftliche Anbaumethoden eine Nachfrage nach ländlichen Arbeitern. Aber wichtiger in diesem Zusammenhang ist wiederum die Dynamik des Prozesses — das Anwachsen der ländlichen Bevölkerung, das die Subsistenzmittel übertraf, die auf dem Stand des zeitgenössischen Wissens und der Tech© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nik in der Landwirtschaft erwirtschaftet werden konnten. So lange wir keine definitiven und einleuchtenden Erklärungen für dieses Bevölkerungswachstum haben, ist es sehr schwierig, bestimmten Aktionen die Schuld für das zunehmende Elend der ländlichen Pauper zu geben, so z. B. der Einhegungsbewegung in Großbritannien oder den Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen. Es mag sein, daß die Aufhebung des Malthus'schen Gesetzes durch eine sich rationalisierende Landwirtschaft eine wesentliche Ursache war, und daß die althergebrachten Kontrollen, Hunger und Elend, nicht länger zur Wirkung kommen konnten. Das führte zu dem paradoxen Schluß, Verbesserungen der wirtschaftlichen Bedingungen hätten zum Wachsen des Pauperismus geführt. Sicherlich, das Bevölkerungswachstum war keine unabhängige Variable im strengen Sinne, da unabhängige Variable in der sozialen Realität nicht existieren. Aber es war doch relativ unabhängig von der industriellen Revolution und ging ihr zeitlich voraus. Und wenn wir nach den Ursachen suchen, so finden wir möglicherweise, daß die gleichen Ursachenkomplexe zu beidem führten, zur Industrialisierung und zum Bevölkerungswachstum. Eine der wesentlichsten Ursachen ist fraglos der Wandel in der Lebensauffassung und dem Verhalten in größeren Teilen der europäischen Bevölkerung, der durch den Einfluß des Rationalismus und der Aufklärung ausgelöst wurde. Der Utilitarismus, der von den Kulturkritikern für so viele Fehler der modernen Welt verantwortlich gemacht wird, repräsentiert dabei nur die eine Seite des Rationalismus; die andere ist der Philanthropismus. Beide bedingen einander und sind für die Beurteilung des Pauperismus gleichbedeutend. Der Utilitarist macht es dem Pauper zum Vorwurf, nicht genügend zu arbeiten, der Philanthrop versucht, ihn aus seiner Misere zu befreien. Beide fördern das Arbeitshaus und die Veränderung der Armengesetzgebung, mit der sich die Lage der Armen zugleich verbessert wie verschlechtert, indem sie dem Armen einen Anreiz zum Arbeiten gibt und ihn bestraft, wenn er ihn nicht benutzt. Daraus resultiert die „Moralisierung" des Problems des Pauperismus, die spätere ökonomische Erklärungen beeinflußte. Da der Pauperismus ein verabscheuenswürdiges Phänomen war, mußten seine Ursachen ebenso verabscheuenswürdig sein. Entweder lag die Schuld bei den Armen selbst — als müßiger, indifferenter, krimineller Gruppe von Menschen — oder das ökonomische System, das sie entstehen ließ, mußte angeklagt werden als ineffektiv, ungerecht und unmoralisch. Bekanntlich sind beide Standpunkte vertreten worden; während aber der erste im späten 18. Jahrhundert allgemein verbreitet war, setzte sich der andere mehr und mehr im 19. Jahrhundert durch. Die Schuld suchte man jedoch nicht in dem alten ökonomischen System, das in der Tat seine Unfähigkeit unter Beweis gestellt hatte, die Bedürfnisse einer wachsenden Bevölkerung zu decken, sondern vielmehr in den revolutionären Veränderungen des Systems. So wurde die Fabrik zur Ursache des Pauperismus, und der Pauperismus zur Frage der Industriearbeiterschaft, von nun an Proletariat genannt24. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die strukturellen Veränderungen innerhalb der europäischen Gesellschaft augenfällig geworden. Die Konstruk© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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tion allumfassender Theorien sozialen Wandels begann. Marx erarbeitete nur eine von ihnen. Inzwischen war die europäische Geisteswelt von der romantischen Bewegung erfaßt. Als Reaktion auf den aufsteigenden Rationalismus in Westeuropa betonte die Romantik den Irrationalismus nicht nur als Weltanschauung, sondern auch als wissenschaftlichen Ansatz. In ihrer Reaktion auf das rationalistische 17. und 18. Jahrhundert bewunderte sie die Anmut des Mittelalters und entwickelte daraus den Begriff der vor-industriellen Gesellschaft. Vergessen war das Elend, das das Mittelalter gekannt hatte, seine barbarischen Sitten wurden in Abhebung von der wachsenden Zivilisation der Aufklärung als „natürlich" idealisiert. Diese idealisierte mittelalterliche Gesellschaft, als eine ausgewogene Gesellschaft mit drei Ständen von klar unterschiedenen Funktionen, in der jeder, selbst der ärmste, seinen gottgewollten Platz hatte, wurde zum Gegenbild der skrupellosen, spannungsreichen Gesellschaft der Gegenwart stilisiert. Die vertikale und horizontale soziale Mobilität hatte die Menschen korrumpiert; niemand kannte mehr seinen vorbestimmten gesellschaftlichen Platz, und jeder handelte deshalb ehrgeizig, egoistisch und materialistisch. Die romantischen Soziologen wie Adam Müller und Thomas Carlyle repräsentierten diese Ansicht am lebendigsten; aber die katholische Soziallehre, die meisten der Konservativen, viele der utopischen Kommunisten und auch Marx waren stark von ihr beeinflußt. Selbst in den Konzepten der pragmatisch denkenden Fabianer oder der Kathedersozialisten, denen es um praktische Verbesserungen wie Sozialversicherung, Arbeiterschutz, Inspektion industrieller Arbeitsbedingungen und Arbeitsgesetzgebung ging, können romantische Leitbilder gefunden werden. Entsprechend der romantischen Vorstellung von der ausgewogenen Gesellschaft erschien das soziale Problem der Industrialisierung folgerichtig als Problem sozialer Unausgewogenheit. Die arbeitende Bevölkerung mußte in der industriellen Gesellschaft den ihr angemessenen Platz zugewiesen bekommen. Wo genau dieser Platz anzusiedeln sei, und wie er erreicht werden könnte, wurde zum Thema lebhafter Diskussion zwischen den verschiedenen Weltanschauungen, die sich mit dem Problem auseinandersetzten. In diesem Stadium wuchs die Überzeugung, daß die Probleme der Industriearbeiterschaft nicht isoliert gelöst werden können. Ein Grund dafür war die Tatsache, daß mit dem Fortschreiten der Industrie die industrielle Arbeiterschaft schneller als andere Gruppen integriert wurde. Hausangestellte, ländliche und Heim-Arbeiter blieben zurück, nicht nur in ihren Löhnen, sondern auch in ihren sozialen Aufstiegschancen. So erweiterte sich die „Soziale Frage", die sich ein halbes Jahrhundert lang um die Arbeiterfrage gedreht hatte. Franz Hitze, einer der Sozialexperten des katholischen Deutschland, hat das klar gesehen: „Die ,Arbeiterfrage' ist eine Special-Frage der großen ,socialen Frage'. Die ,sociale Frage' ist die Frage des richtigen, den Gesetzen der Gerechtigkeit und Billigkeit entsprechenden Verhältnisses der verschiedenen wirthschaftlichen Berufsgruppen (Stände) in der ,Gesellschaft'. Insofern dieses Verhältnis in der bestehenden Gesellschaftsordnung als nicht den Gesetzen der Gerechtigkeit und Billigkeit entsprechend erachtet wird, ist die ,sociale Frage' die Frage einer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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entsprechenden Reform dieses Verhältnisses. ,Die sociale Frage' umfaßt so viele sociale Fragen, als es wirtschaftliche Berufsgruppen giebt (Agrarfrage, Handwerkerfrage, Frage des Handelsstandes, des industriellen Unternehmerstandes, Arbeiterfrage etc.)."25 Nach den beiden Weltkriegen wurde, zumindest in der katholischen Welt, die „Soziale Frage" endgültig als Problem der gesamtgesellschaftlichen Ordnung gesehen. Der Schock, den Europa in zwei Weltkriegen und ihren Folgen erlitt, besonders durch die Weltwirtschaftskrise, und der Eintritt der nicht-westlichen Welt in den Prozeß der Industrialisierung erweiterten das ursprüngliche Blickfeld. Das bezeichnendste Beispiel für die Ausweitung des Problembereichs der „Sozialen Frage" ist die Enzyklika Quadragesimo Anno vom 15. Mai 1931, die die Wiederherstellung einer „organischen sozialen Ordnung", basierend auf Berufsgruppen in aller Welt, als Ziel christlicher Gesellschaftspolitik proklamierte26. Wenn wir versuchen, diesen skizzenhaften und vereinfachenden Überblick zum Konzept der „Sozialen Frage" zusammenzufassen, so können wir trotz der vielen Unterschiede zwischen den einzelnen Nationen und Sozialphilosophien eine generelle Entwicklung festhalten: von der Wahrnehmung des Pauperismus über die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen für die Verbesserung der Lage und des Status der industriellen Arbeiterschaft zur Formulierung von Philosophien und Theorien über das Wesen der industriellen Gesellschaft. In dieser ganzen Entwicklung blieben jedoch zwei verschiedene Grundauffassungen bestehen: die eine sieht die „Soziale Frage" als Problem des Übergangs von einer traditionellen Gesellschaft zu einer neuen industriellen Gesellschaftsordnung, die andere als ein Phänomen permanenter sozialer Desintegration, die dem industriellen System inhärent ist und bleibt. II. Soziale Desintegration als analytisches Konzept Bevor wir die Frage beantworten können, ob und inwiefern die europäische Konzeption der „Sozialen Frage" zum Verständnis der Probleme der sich heute entwickelnden Länder beitragen kann, müssen wir ihren analytischen Charakter und seine Implikationen zu klären suchen. Wie wir gesehen haben, wurde sie nicht nur auf ganz unterschiedliche Weise benutzt, sondern auch fast durchgehend in einer sehr allgemeinen und vagen Bedeutung. Das mag uns davor warnen, sie in sozialwissenschaftlicher Analyse überhaupt anzuwenden. Aber viele der Begriffe, mit denen in den Sozialwissenschaften, zumindest als beschreibenden Kategorien, operiert werden muß, sind ähnlichen Ursprungs. Selbst wenn man den Gebrauch solch leicht irreführender Begriffe vermeiden könnte, bleiben immer noch die grundlegenden Kategorien wie „Gesellschaft" und „Staat", die in konkreten Situationen europäischer Geschichte gründen und im strengen Sinne nur auf spezifische Zeitabschnitte westlicher Geschichte anwendbar sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Die Erfahrung mit anderen schillernden Begriffen legt uns nahe, den Terminus „Soziale Frage" in seinem weitesten Sinne — als Summe der sozialen Probleme in jeder Gesellschaft — zu vermeiden, und ihn stattdessen nur für die spezifische europäische Situation im 19. Jahrhundert zu reservieren, in der er entstand. Wie aber einen besseren finden? Im wesentlichen haben wir zwei Möglichkeiten: entweder durch reine Definition in einem systematischen Zusammenhang oder dadurch, daß wir das ursprünglich vage Konzept zu einem schärfer gefaßten Begriff zusammenziehen, der die Essenz seines vor-wissenschaftlichen Gehalts enthält. Diese Essenz, so zeigt die Mehrheit der vielen Studien, die sich im Europa des 19. Jahrhunderts mit der „Sozialen Frage" auseinandersetzen, ist das Ungleichgewicht der sozialen Schichten, die Ungewißheit sozialer Wertvorstellungen, die Unsicherheit sozialen Verhaltens und die ungenaue Ausführung sozialer Funktionen, die im Beginn des Modernisierungsprozesses zu beobachten sind. Anders gesagt: die „Soziale Frage" ist die Krise einer Gesellschaft zumindest im Übergang von einem traditionellen, vorwiegend landwirtschaftlichen Stadium in ein „modernes", vorwiegend industrielles Stadium. Sie ist die Frage gesellschaftlicher Gleichgewichtsstörungen und gesellschaftlicher Dysfunktion, die entstehen, wenn eine gegebene Struktur ihre Wirksamkeit verliert. Diese Situation mag als soziale Desintegration, oder leicht abgeschwächt, als Situation sozialer Spannungen verstanden werden. Ziel aller sozialen Reformen, die in solcher Situation entstehen, ist die soziale Re-Integration — sei es als Restauration, als Reform oder als Revolution. Die Sozialpolitik in einem solchen Stadium kann daher als Versuch verstanden werden, den Prozeß der Desintegration im Zuge des Wandels zu minimieren. Die Begriffe Des- und Re-Integration haben die Existenz einer integrierten, etablierten Gesellschaft zur Voraussetzung und die Möglichkeit der zukünftigen Existenz einer solchen Gesellschaft, sei es mit gleicher oder einer unterschiedlichen Struktur. Sie implizieren darüber hinaus eine Phase mangelnder Integration von unterschiedlichem Umfang. Eine gegebene Gesellschaftsordnung und tradierte Verhaltensmuster verlieren ihre Stringenz, bevor neue Wertvorstellungen und neue Strukturelemente ausgeprägt genug sind, um eine neue soziale Ordnung zu begründen. Genau das meinten die Kritiker des Liberalismus, wenn sie vom „Chaos" der freien Konkurrenz sprachen. Wollen wir also den Umfang sozialer Desintegration messen, so müssen wir den Grad der vorher existenten Integration kennen und sollten zudem etwas über den in Zukunft möglichen Grad der Integration wissen. Dieser Punkt ist, wie unser Abriß zum Begriff der „Sozialen Frage" bereits gezeigt hat, für die Analyse von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus bedürfen wir eingehenderer Kenntnis der strukturellen Elemente und ihrer funktionalen Beziehungen in der alten wie in der neuen Sozialstruktur. Nur unter diesen Voraussetzungen können wir hoffen, das Wesen der auftretenden Desintegration zu erkennen. Für das Europa des 19. Jahrhunderts scheint das Wesensmerkmal der Desintegration im Anwachsen sozialer Schichten bestanden zu haben, die in der traditionellen Schichtung unbekannt oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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zumindest unbeachtet geblieben waren und nun in sie integriert werden mußten, mit dem Ergebnis, daß die Gesellschaft selbst sich grundlegend veränderte. W. Conze hat die auftretende Krise im Prozeß des Übergangs beschrieben als Dekorporierung, Disproportionierung und Demoralisierung27. Dekorporierung heißt Veränderung der alten europäischen Gesellschaft, die auf legal und funktional getrennten Ständen basierte, von denen jeder eine Körperschaft im politischen wie im sozialen Sinne bildete, zu einer vor dem Gesetz uniformen bürgerlichen Gesellschaft. Die Auflösung der Stände bewirkte den Wandel der Gesellschaftsstruktur. Die Disproportionierung hat die Zerstörung der traditionellen Proportionen zwischen den ständisch organisierten Gesellschaftsgruppen zum Inhalt, die die alteuropäische Gesellschaftsordnung ausmachten und jedem Stand seine besondere Funktion verliehen. Konkret bestand sie im überproportionalen Wachstum der unteren Gesellschaftsschichten, die in früheren Jahrhunderten zurückgehalten worden waren, entweder durch die Malthus'schen natürlichen Faktoren Hunger und Seuchen oder durch soziale Kontrollmechanismen wie die Beschränkung von Heirat und Fortpflanzung. Unter Demoralisierung ist im Hegeischen Sinne zu verstehen der Identitätsverlust zwischen der objektiven Gesellschaftsordnung und dem subjektiven Willen des Individuums. In modernen Kategorien ausgedrückt können wir sie definieren als den Verlust der Kongruenz gesellschaftlicher Normen und individueller Verhaltensweisen, die für traditionelle Gesellschaften charakteristisch ist. Kurz gefaßt bedeuten die drei Begriffe: Wandel der politischen Organisation, Veränderung der Gewichtigkeit sozialer Schichten und Wandel der Verhaltensmuster. Zusammen machen sie die wesentlichen Elemente der sozialen Desintegration aus. Es ist hier nicht der Ort zu diskutieren, wie weit diese idealtypischen Kategorien die realen Veränderungen der europäischen Gesellschaft konkret erfassen können; sicher typisieren sie die europäische Sozialgeschichte der Neuzeit über Gebühr. Aber wenn wir ihnen einen analytischen Charakter und damit einen Erklärungswert zusprechen, ist nun zu fragen, ob wir die gleichen Elemente in den sich erst jetzt entwickelnden Ländern ebenso wie in den westlichen Ländern finden, und wenn ja, ob wir für sie gleiche geschichtliche Abläufe erwarten können. Ist das Anwachsen der Arbeiterklasse das Wesen des sozialen Wandels oder nur sein Symbol, während sich hinter diesem Erscheinungsbild Formen des Wandels verbergen, die viel wichtiger sind? Sind die Voraussetzungen im wesentlichen die gleichen oder sind sie so verschieden, daß die Resultate der Entwicklung notwendig verschieden sein müssen? Diese Fragen werden uns im letzten Teil der Ausführungen beschäftigen. III. Soziale Desintegration in Entwicklungsländern Wenn wir versuchen, den sozialen Wandel, der im Europa und Nordamerika des 19. Jahrhunderts Platz griff, mit dem in der restlichen Welt im 20. Jahrhundert zu vergleichen, werden viele Unterschiede deutlich. Der Industrialismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ist ein der westlichen Zivilisation endogenes Phänomen, entstanden in Nationen mit ähnlichem kulturellen Hintergrund, ähnlicher Sozialstruktur und einander ähnelnden Wertsystemen. Die östlichen Zivilisationen teilen diesen kulturellen und sozialen Hintergrund nicht. Von der Religion und Philosophie über die politischen Institutionen, die Sozialstruktur und die ökonomischen Wertvorstellungen gibt es kaum Parallelen. Hinzu kommt, daß viele Länder zu einem großen Teil aus Bevölkerungsgruppen sich konstituieren, die in primitiven sozialen und kulturellen Bedingungen leben und völlig unvorbereitet auf die wissenschaftliche und technologische Kultur des Westens sind. Und dennoch, wo immer das westliche Industriesystem einen durchschlagenden Einfluß auf diese Zivilisationen hat, in Japan oder Hongkong, in Bombay oder Kairo, die Auswirkungen sind nicht so verschieden, wie man aufgrund der verschiedenen Voraussetzungen anzunehmen geneigt wäre. Erklärungen dieses Phänomens können von zwei verschiedenen Gesichtswinkeln aus gesucht werden. Entweder sind die Unterschiede zwischen den traditionellen Gesellschaften in Ost und West nicht so groß wie der Unterschied zwischen einer traditionellen und einer modernen Gesellschaft, oder der Einfluß des Industriesystems ist so durchschlagend, daß es jede traditionelle Struktur zerschlägt, ungeachtet ihres Alters oder ihres Charakters. Die meisten Theorien und Entwürfe zum Wirtschaftswachstum scheinen das erste anzunehmen. Sie schlagen im wesentlichen das gleiche Vorgehen in allen Teilen der Welt vor und neigen dazu, sie nur in einer Hinsicht, nach „dem Grad ihrer Rückständigkeit"28, zu unterscheiden. Die Anthropologen dagegen heben vor allem den zweiten Punkt heraus, die Tatsache nämlich, daß eine Vielzahl eingeborener Kulturen und Sub-Kulturen zerstört und durch den Einfluß der westlichen Welt uniformiert werden. Die Frage wird dadurch kompliziert, daß wir zwischen dem generellen, kulturellen Einfluß des Westens und dem besonderen Prozeß technologischer und wirtschaftlicher Innovation zu unterscheiden haben. Der generelle Einfluß ist in der Regel schon lange vor dem Zeitpunkt wirksam, in dem der wirtschaftliche Modernisierungsprozeß beginnt. Es gibt wohl mit Ausnahme sehr kleiner geographischer Regionen keinen Platz in der Welt, an dem das Fabriksystem eingeführt wurde, ohne daß zuvor westliche Vorstellungen und Werte eingeflossen wären. Ein Vergleich der sozialen Auswirkungen der Industrialisierung in einem westlichen und einem nichtwestlichen Land unter Laboratoriums-Bedingungen ist deshalb nicht möglich. Um so wichtiger wird das eine bedeutende Beispiel, in dem beide, der allgemeine kulturelle Einfluß und der spezifisch technologische und ökonomische, beinahe parallel zur Geltung kamen: Japan 29 . Eine Untersuchung der Industrialisierung dieses Landes zeigt, daß die Abweichungen vom westlichen Modell zumindest auf lange Sicht anscheinend viel weniger bedeutend sind als die Ähnlichkeiten. Japan bildete ein Industriesystem heraus, das sich sehr stark nach westlichem Muster entwickelte30, mit einer modernen Technologie, typischen Institutionen der Finanzierungen und Kommunikation, wie Banken, Börsen, Versicherungsgesellschaften, Transport-Agenturen, einer Unternehmer- und einer Arbeiterklasse sowie einer neuen Mittelschicht. Japan hatte ganz sicher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ein Grundmerkmal gemeinsam mit dem Westen: eine ethnische und kulturelle Konsistenz in sich selbst. Die japanische Gesellschaft der Vor-Meiji-Zeit mag in vielem vom westlichen Modell sich unterschieden haben, war aber im Grunde eine in hohem Maße integrierte Kultur. Das ihr inhärente Kommunikationssystem mag ein äußerst effektives Vehikel des Wandels gewesen sein. Das trifft auf viele Entwicklungsländer, wie Lateinamerika oder Regionen Südostasiens und Afrikas nicht zu. Es trifft nur zu auf die arabische Welt und China sowie bis zu einem gewissen Grade Indien, wo Kräfte wie der Hinduismus oder die langewährende britische Herrschaft einen umfassenden kulturellen Überbau geschaffen haben, in einem Subkontinent mit einer Vielzahl von ethnischen und sprachlichen Gruppen. In einer Untersuchung sozialer Desintegration im Zuge der frühen Industrialisierung muß also ein deutlicher Unterschied zwischen solchen Gesellschaften gemacht werden, die eine kulturelle und ethnische Konsistenz besitzen, und solchen, die eine Fülle von ethnischen Gruppen und Subkulturen umfassen. Eine andere Unterscheidung wird oft eingeführt zwischen Nationen mit alten inhärenten Kulturen, wie China, und Ländern mit primitiven ethnischen Gruppen, denen das gemeinsame Rückgrat einer hochentwickelten Zivilisation fehlt, wenn sie auch ausgeprägte soziale Wertsysteme und Verhaltensmuster besitzen mögen. Eine andere Unterscheidung zielt ab auf den Zeitraum und die Tiefe des kulturellen und sozialen Einflusses des Westens, oder anders herum, auf den relativen Grad der Nicht-Verwestlichung. Dieser muß zwar nicht, wird aber in den meisten Fällen mit dem bereits erwähnten relativen Grad der ökonomischen Rückständigkeit parallel gehen. Andere Unterscheidungen heben ab auf die Verschiedenheit vorherrschender Religionen oder die Art von Erfahrung, die das jeweilige Land mit dem Westen gemacht hat. Die wesentlichste dieser Unterscheidungen ist wohl die nach dem Grad kultureller und sozialer Inkonsistenz wie sie in Lateinamerika, Südostasien oder Afrika existiert. Können wir in einem der älteren Industrieländer ähnliches beobachten? Bestimmte Inkonsistenzen dieser Art bestehen selbstverständlich in jedem Land, selbst in solchen von ziemlich einheitlicher ethnischer und kultureller Struktur wie z. Β. Frankreich. Und überall scheinen sie auch erheblichen Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Wandel gehabt zu haben. In der Mehrzahl der Fälle widerstanden ethnische, religiöse oder kulturelle Minoritäten der wirtschaftlichen Entwicklung und den sie begleitenden sozialen Wertnormen. Beispiele sind die Bretonen in Frankreich, die slavischen Enklaven in Deutschland, z. Β. die Sorben, und bis zu einem gewissen Grade auch die Waliser in Großbritannien. Aber auch der umgekehrte Fall kommt vor. Wo immer Minoritäten als Flüchtlinge in Erscheinung traten, rekrutierten sich gerade aus ihnen die Pioniere wirtschaftlichen Wachstums und sozialen Wandels. Dies sind die berühmt gewordenen Beispiele Max Webers und Werner Sombarts: Die Hugenotten, die Juden, die Griechen in der Levante, die Chinesen in Südostasien oder die Inder in Ostafrika. In anderen Fällen können wir unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Aktivitäten nationaler Grup© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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pierungen beobachten, so bei den Flamen und Wallonen in Belgien oder den Schweden und Finnen in Finnland, ohne daß deshalb die einen „moderner" als die anderen sein müssen. Auch die komplexe soziale und nationale Bevölkerungszusammensetzung im östlichen Teil Zentraleuropas vor der bolschewistischen Revolution spiegelte sich in der wirtschaftlichen und beruflichen Struktur dieser Region wider. Doch keines der älteren Industrieländer, selbst Länder mit sehr hohen Einwanderungsquoten, wie die USA, Kanada oder Australien, scheinen so tiefe Klüfte zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen aufzuweisen wie einige Entwicklungsländer heute, z. Β. Peru, Malaysia oder Westafrika, wo Unterschiede des kulturellen Hintergrundes, des Erziehungswesens und der sozialen Wertvorstellungen dualistische Entwicklungen herbeigeführt haben: auf der einen Seite moderne landwirtschaftliche Großbetriebe verbunden mit städtischer Marktwirtschaft, und auf der anderen Seite jahrhundertealte Subsistenzwirtschaften. Oft treten noch mehr Verschiedenheiten auf: es gibt dreigeteilte Volkswirtschaften mit einem modernen marktwirtschaftlichen Sektor (großenteils von Europäern betrieben), neben einem sich selbst erhaltenden „mittelalterlichen" Typ kleinbetrieblicher Landwirtschaft und Gewerbe (häufig repräsentiert durch Angehörige älterer Einwanderungswellen, z. Β. die Chine­ sen in Südostasien) und daneben eine „steinzeitliche" Wirtschaft primitiven Charakters, die von der Urbevölkerung betrieben wird31. Der Wechsel vom dritten dieser Sektoren in den ersten, der oft einsetzt, wenn der marktwirtschaftlich organisierte Sektor in den Prozeß der Industrialisierung eintritt oder wenn im Zuge der Modernisierung der Landwirtschaft neue Arbeiter aus der Urbevölkerung rekrutiert werden, bedeutet für die betroffenen Individuen und Gruppen einen Sprung, der den der niedrigsten ländlichen Bevölkerungsgruppen zum städtischen Proletariat im Europa des 19. Jahrhunderts bei weitem übertrifft32. Für die Gesellschaft bedeutet er soziale Desintegration im wahrsten Sinne des Wortes. Hier finden wir alle drei Kriterien, Auflösung sozialer Organisationsformen, Verschiebung der Proportionen und Veränderung der Wertnormen im Extrem. Wie die drei Elemente der Modernisierung, von denen wir hier sprechen — Dekorporierung, Disproportionierung und Demoralisierung — aufeinander bezogen sind, in welcher chronologischen oder kausalen Weise sie aufeinander einwirken, ist eine der schwierigsten empirischen Fragen in unserem Zusammenhang. Obwohl es Fälle zu geben scheint, in denen die Auflösung der traditionellen Ständeordnung (oder anderer tradierter sozialer Organsiationsformen) bis zu einem gewissen Grad der Proportionsverschiebung zwischen den gesellschaftlichen Schichten voranging und sie erst ermöglichte — hauptsächlich da, wo die Modernisierung einer Gesellschaft von außen herangetragen und aufgezwungen wurde — so geht in der Regel doch die Proportionsverschiebung durch Bevölkerungswachstum unterer Schichten und wirtschaftlichen Strukturwandel den politisch-rechtlichen Veränderung vorauf. Ob sie auch der Veränderung des gesellschaftlichen Wertsystems chronologisch und kausal zugrunde liegt, oder ob diese umgekehrt den Auslöser bildet, der die Veränderungen der Wirtschaft© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lichen und sozialen „Basis" erst hervorruft, läßt sich jedoch empirisch kaum entscheiden; zu eng erscheinen beide in der historischen Wirklichkeit verzahnt. Deutlich lassen sich die analytischen Elemente höchstens dort erkennen, wo zuvor isolierte soziale, nationale oder religiöse Gruppen in verspäteten „Sprüngen" in den Hauptstrom der Entwicklung hineingerissen werden: Puertoricaner und Neger aus den Südstaaten in den USA33, die Lappen in Skandinavien, die Kurden in der Türkei, die Nomaden in den arabischen Ländern und die Kalmücken und Tartaren in der UdSSR. Während man in bezug auf die führenden gesellschaftlichen Gruppen der westlichen Länder argumentieren kann, daß sie die wissenschaftlich-technologische und philosophische Revolution der Neuzeit aktiv herbeigeführt und damit den wirschaftlich-sozialen Wandel ermöglicht haben, beginnt der Modernisierungsprozeß für den weitaus größten Teil der Menschheit — die unteren sozialen Schichten Europas, die gesamte nicht-westliche Welt — mit sozialen Spannungen, die von außen auferlegt erscheinen oder sich kaum bemerkt einschleichen („bewußtlos" in Hegelscher Terminologie). Überall werden Menschen und Traditionen entwurzelt und zu eher passiven als aktiven Elementen des Wandlungsprozesses. Zunächst durchschreiten sie eine Periode der Apathie und der Unfähigkeit, den Prozeß zu begreifen. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen finden statt, werden aber nicht erkannt. Dann entwickeln die Eliten dieser Gruppen eine gewisse Einsicht in ihre eigene Situation, ein Klassen-, National- oder Rassenbewußtsein34. Das ist der „take off"-Punkt für Reibungen und Aktionen und ein Magnetfeld für Ideologien. Oft läßt sich hier auch der Wendepunkt für Wertveränderungen markieren. Z. B. kann sich an diesem Punkt das Arbeits-Ethos der Eliten verändern. Wirtschaftliche Anreize können jetzt wirksam werden, obgleich sie bis dahin ihre Wirkung verfehlt haben. Gewerkschaften, Nationalbewegungen oder Minoritäten, die zuvor keine Bedeutung hatten, können nun zu sozialen und politischen Faktoren werden; der Wunsch nach formaler und beruflicher Ausbildung, nach Emanzipation und Partizipation wird artikuliert. In diesem Stadium erhält die „Soziale Frage" für nichteuropäische Länder ihre Bedeutung. Von nun an werden moderne Ökonomen und Soziologen ein sinnvolles Feld für ihre Analysen finden, während die Anthropologen sich zurückziehen, weil das Spezifische vormoderner Kulturen zu verblassen beginnt. Es ist immer wieder behauptet worden, daß der Einfluß der westlichen Industrialisierung mit großer Wahrscheinlichkeit andere Auswirkungen in Ländern mit alten Kulturen haben wird, z. Β. China oder Indien, als in Ländern, die vorwiegend von eingeborenen Stämmen bewohnt werden. Dabei lag der Gedanke zugrunde, daß die alten Kulturländer vielen der westlichen Einflüsse widerstehen oder sie ihren eigenen Bedürfnissen anpassen werden, während primitive Völker sehr wahrscheinlich absorbiert und ihrer eigenen Geschichte völlig entfremdet werden. Läßt sich diese Frage mit Hilfe unseres Begriffs der sozialen Desintegration und seiner Elemente klären? Zunächst ist zu betonen, daß überkommene soziale Verhaltensweisen und die etablierte Sozialstruktur in einem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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afrikanischen Stamm nicht notwendig schwächer sein müssen als in einer zivilisierten, aber in sich selbst auch diversifizierteren und problematischen Hochkultur. Tatsächlich könnte es einfacher sein, in die Sozialstruktur einer hochentwickelten Zivilisation einzubrechen, als in die eines primitiven Stammes. Viel hängt selbstverständlich von Durchschlagskraft und Umfang des Einflusses ab. Die Gründung einiger Handels- und Gewerbestädte an der westafrikanischen Küste kann große Teil der einheimischen Bevölkerung der Umgebung absorbieren35, während die Industrialisierung urbaner Regionen wie Bombay oder Kalkutta vor einem Jahrhundert kaum das Leben indischer Bauern einige hundert Meilen im Hinterland berührte. Ist nun der Einfluß der Verwestlichung groß genug, um jede etablierte Zivilisation zu desintegrieren und nach westlichem Muster zu reorganisieren? Um die Ergebnisse beurteilen zu können, mag es noch zu früh sein. Keine nichtwestliche Zivilisation hat bislang gezeigt, daß sie stark genug ist, dem mit aller Kraft der modernen Technologie und der ökonomischen Organisation betriebenen Einfluß des Westens zu widerstehen. Es ist etwas anderes, die eigene Sprache, Literatur, Kunst, Philosophie oder Folklore zu retten, als die sozialen Muster, wenn eine Ökonomie nach Regeln gestaltet wird, die einem anderen sozialen Bezugsrahmen angehören. Es gibt Anzeichen genug, daß die Erhaltung alter Zivilisationen langfristig auf ihre artistischen und folkloristischen Komponenten reduziert werden muß, während die Sozialstruktur im eigentlichen Sinne an westliche Beispiele angepaßt wird. Auch die Frage ist noch offen, ob der westliche Einfluß ein anderes Gesicht zeigt, wenn er durch den Kommunismus vorangetrieben wird. Die Beispiele der Sowjetunion und des kommunistischen China legen den Schluß nahe, daß die soziale Desintegration unter einem System sozialer Planung noch größer als in liberaleren Fällen sein wird. Das Paradox tritt auf, daß eine Ideologie, die vorgibt, die „Soziale Frage" zu lösen, die traditionelle Gesellschaft viel schneller als der „Kapitalismus" zerstört, weil sie den Modernisierungsprozeß aus ökonomischen und politischen Gründen forciert und dabei — wie das Beispiel der Kulturrevolution in China zeigt — traditionelle Werte bewußt zerschlägt. Gleichzeitig gibt es wenig Anzeichen dafür, daß sie imstande ist, eine neue soziale Ordnung mit der gleichen Geschwindigkeit aufzubauen36. Eine Auswirkung eines solchen Systems mag die physische Vernichtung von Millionen von Menschen sein, wie in der Kollektivierungsperiode der russischen Landwirtschaft, oder die Vernichtung traditioneller Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, die in China angestrebt wird. Ein definitives Ergebnis muß die Entstehung einer industriellen Arbeiterschaft als neuer sozialer Klasse sein, da die Industrialisierung vorrangiges Ziel der Planung dieser Gesellschaften ist. Unterscheidet sich diese Arbeiterklasse nun grundlegend vom europäischen Proletariat des 19. Jahrhunderts? Einen wichtigen Unterschied gibt es offenbar. Der Arbeiter in einer zentralisierten Volkswirtschaft braucht sich in der Regel nicht um seine Beschäftigung zu sorgen. Die Unsicherheit der Beschäftigung, die fraglos eines der wesentlichen Elemente der sozialen Unsicherheit des europäischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Soziale Spannungen in den Frühstadien der Industrialisierung

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Proletariats war, ist minimiert worden. An ihre Stelle getreten ist die Möglichkeit erzwungener Veränderungen in der Art oder dem Ort der Beschäftigung. Für eine traditionell stationäre Bevölkerung mag das soziale Störungen hervorrufen, die nicht so leicht gemessen werden können wie mangelndes Einkommen in einer Periode der Arbeitslosigkeit, die jedoch soziale Schäden zur Folge haben können, für die erst später zu zahlen sein wird. Die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich erstaunlich wenig von denen der frühen Industrialisierung Westeuropas. Technisches Wissen, sanitäre Einrichtungen und Unfallverhütung sind sicher verbessert; ebenso können die Löhne theoretisch viel höher sein dank der aus dem Westen importierbaren höheren Produktivität. Aber schon hier beginnen die Zweifel. Ob das Realeinkommen eines ungelernten Arbeiters in der Sowjetunion in den späten zwanziger oder frühen dreißiger Jahren oder in China heute hoher ist als das eines englischen Arbeiters zu Beginn, oder das eines amerikanischen, französischen oder deutschen Arbeiters nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ist natürlich schwer exakt feststellbar, da die verfügbaren Waren und die durchschnittlichen Bedürfnisse sich so sehr verändert haben. Aber innerhalb der Berufsstrukturen jeder dieser Wirtschaften rangiert der ungelernte Arbeiter ebenso am unteren Ende wie im Westeuropa des 19. Jahrhunderts. Und die Skala unterschiedlicher Einkommen scheint genauso breit zu sein wie zu Beginn der Industrialisierung in Europa, wenn man einmal die wenigen wirklich hohen Einkommen der „Großkapitalisten" in den Marktwirtschaften außer Acht läßt. Überstunden, Akkordlohn, die den europäischen Sozialisten so verhaßt waren, und schlimmer noch, das Stachanow- oder andere Punktsysteme und die patriotischen Extrastunden, die ein Arbeiter in einem kommunistischen Land zu leisten hat, stellen ihn in dieser Hinsicht nicht besser als den westeuropäischen Arbeiter gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sein durchschnittlicher Arbeitstag 10 bis 12 Stunden zählte. Das gleiche gilt für die Autoritätsstruktur in der Industrie37. Die halb-militärische Organisation, die sich in vielen westeuropäischen Industrien in ihren Frühstadien abzeichnete, erscheint in den nationalisierten Industrien kommunistischer Prägung wieder. Zweifelsohne wird auch der kommunistische Arbeiter des „Mehrwerts" seiner Arbeit „beraubt". Der Bedarf an sozialem „overhead-capital" ist in einer zentralisierten Wirtschaft mit forcierter Industrialisierung insbesondere der Schwerindustrie so groß, daß ein erheblich größerer Teil des Volkseinkommens dafür abgezweigt werden muß als der Profit ausmachte, den westliche Unternehmer realisierten und der zu einem großen Teil wieder reinvestiert wurde, nicht nur zum Vorteil des Unternehmers, sondern auch zu dem seiner Beschäftigten. Wir können ganz sicher sagen, daß die „Soziale Frage" in Ländern mit zentraler Wirtschaftsplanung zwar ihr Gesicht verändert hat, nicht aber verschwunden ist. Es gibt keinen Grund, warum wir diesen Gesellschaftstyp nicht in einen allgemeinen konzeptionellen Rahmen von sozialen Spannungen oder sozialer Desintegration in frühen Stadien der Industrialisierung einbeziehen können. 16 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Soziale Unterschichten i m Zeitalter der Frühindustrialisierung Wenn wir von sozialen Unterschichten im Zusammenhang mit dem Prozeß der Industrialisierung sprechen, denken wir unwillkürlich an die Fabrikarbeiterschaft. Es liegt daher nahe, unser Thema als eine Frage nach der Entstehung der industriellen Lohnarbeiterschicht aufzufassen1. In der Tat möchte ich mich auch im wesentlichen auf diese Frage konzentrieren; doch sei gleich eingangs bemerkt, daß, wie immer wir auch die Periode der Frühindustrialisierung zeitlich abgrenzen, das Thema „soziale Unterschichten" damit bei weitem nicht ausgeschöpft ist, ja daß wir uns den Zugang zur Beantwortung wesentlicher Fragen nach Herkunft, Zusammensetzung, sozialer Bewertung und Lebensgefühl der Fabrikarbeiterschaft verbauen, wenn wir unseren Blick zu eng auf diese selbst richten. Deshalb müssen andere Gruppen, die sog. „unterbäuerliche Schicht", die Handwerksgesellen, die bald agrarisch, bald gewerblich tätigen Tagelöhner, die ländliche und städtische Heimarbeiterschaft, die Dienstboten und ebenso das herren- und heimatlose Volk der Bettler und Vagabunden einbezogen werden, auch wenn wir sie hier nur als Reservoir für die gewerblich-industrielle Unterschicht behandeln können. Den Entstehungsprozeß dieser Gesellschaftsschicht zeitlich abzugrenzen macht erhebliche Schwierigkeiten. Wenn hier vom Zeitalter der frühen Industrialisierung gesprochen wird, so ist damit im engeren Sinne der Anfang des mechanisierten und motorisierten Produktionsprozesses gemeint, also die Zeit vom späteren 18. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Nun ist diese Periode zwar technologisch und ökonomisch einigermaßen sinnvoll zu isolieren, nicht jedoch soziologisch. Wenn wir nämlich nach der Herkunft der Fabrikarbeiterschaft für diese frühe Zeit der Fabrikindustrie fragen, so stoßen wir sofort auf die Arbeiterschaft in den älteren gewerblichen Produktionsstätten der Heimarbeit, der Manufaktur und des Handwerks. Wir können unsere Frage nicht beantworten, ohne auch auf diese einzugehen. Zeitlich werden wir daher öfters weiter zurückgreifen müssen, oft bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Räumlich beschränkt sich unsere Betrachtung auf das deutsche Sprachgebiet, jedoch nicht auf Deutschland im Sinne des späteren 19. Jahrhunderts. Schon der ausgezeichneten Quellenlage wegen, aber auch wegen ihrer Bedeutung für die Frühindustrialisierung Mitteleuropas wird die östliche Schweiz z. Β. einbezogen. Eine auch nur annähernd gleichwertige Behandlung der vielen verschiedenen Wirtschaftslandschaften dieses deutschen Sprachraumes ist ausgeschlossen, da nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu sehr differieren, sondern auch Quellenlage und -aufbereitung höchst ungleichmäßig ist. Daher werden wir vor allem exemplarische Einzelfälle herausgreifen müssen. Die Schwäche dieser Methode, die Ungewißheit darüber, wie weit ein Beispiel

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typisch ist, muß in Kauf genommen werden. Doch scheint mir die genaue Betrachtung konkreter Fälle immer noch besser als die zu große Vereinfachung, die in der Konstruktion allgemeiner Entwicklungslinien für einen so komplexen Raum mit seinen vielfältigen Traditionen und unterschiedlichen gewerblichen und sozialen Strukturen liegt. Der „Stand" der „Standeslosen" ist in der europäischen Geschichte aus mehreren Gründen schwer zu fassen. Standeslosigkeit ist eine nur negative Bestimmung und Zusammenfassung für eine Vielzahl verschiedenartiger Existenzen, die in der traditionellen Ständeordnung keinen Platz hatten. In einer begrenzten und relativ stabilen Gesellschaftsordnung mag man vom „Stande der Armut" sprechen können, der, wenn auch außerständisch, so doch „gottgewollt" und den eigentlichen Ständen als Aufgabe gegeben sei, somit auf sie bezogen nur Objekt der eigentlich ständischen Schichten ist, tritt er in seiner Eigenart nur dunkel in Erscheinung. Auch scheint ihm von jeher ein Element besonderer Fluktuation zu eigen. Mit einem seiner wesentlichen Merkmale, der Eigentumslosigkeit, fehlt ihm ein entscheidender Fixpunkt für seine rechtliche und soziale Bindung und damit für seine sozialgeschichtliche Identifikation. Auf dem Lande bleibe. Daß dieser außer- und unterständische „Stand der Armut" schon im mittelalterlichen Europa vorhanden ist, steht außer Zweifel, auch daß er immer wieder als ein soziales Problem empfunden wurde, besonders wenn in Kriegsund Krisenzeiten viele Grenzexistenzen in ihn geschleudert wurden. Da er aber in der Idee und Rechtsordnung der ständischen Welt nicht existiert, da er immer erscheint der „Pauper", wie er seit dem späteren 18. Jahrhundert mehr und mehr genannt wird, meist nur als Einlieger oder als unverheiratetes Gesinde, sehr oft wahrscheinlich ohne eigene Feuerstätte und wird schon daher bei den meisten der älteren Zählungen nur sehr unvollkommen erfaßt. In der Stadt fehlt ihm im allgemeinen das Bürgerrecht, meist auch die Steuerbarkeit. Im Pauper-, im Pöbelstand versammeln sich alle, die sozial und rechtlich aus irgendeinem Grunde „heimatlos" sind, sei es, weil es ihre Eltern schon waren und sie selbst den Aufstieg in eine ständische Schicht nicht geschafft haben, sei es, weil sie selbst ständische Bindungen und Rechte verloren haben: als Leibeigene, die in einen Stadtverband flüchteten, als unzünftige, nicht zur Meisterschaft gekommene und vermögenslose Handwerker oder einfach als nichterbender „Bevölkerungsüberschuß" überall dort, wo der Vermehrung der agrarischen oder gewerblichen Tragfähigkeit einer Landschaft nach Sitte, Recht und jeweiligem Stand von Technik und Wirtschaft Grenzen gesetzt sind. Dieser Stand der Standeslosen als unterste Schicht fängt aber auch alle die auf, die ohne zwingende objektive Gründe aus subjektivem Verschulden sich die Zugehörigkeit zu einem „ehrbaren" Stande verscherzt haben, die Arbeitsscheuen, Verwahrlosten und Verkommenen. Damit erhält er den negativen Wertakzent, den ihm die „Gesellschaft" vom Maßstab ihrer „Ehrbarkeit" und Moral aus gibt. Seit der Reformation und der Entwicklung des protestantischen Arbeitsethos nimmt die negative Wertung der Armut überhand. Armut wird Verschulden und mit sittlichem Tiefstand gekoppelt. Zwar gibt es nach wie vor den ehr16* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lichen, weil arbeitsamen Armen, besonders die Witwen und Waisen, um deren wirtschaftliche und soziale Hebung sich Pfarrherren und Armenpfleger, Philanthropen und schließlich der Merkantilstaat bemühen. Aber sie werden mehr und mehr als Einzelfälle aufgefaßt, die vor dem gänzlichen Absinken in die Schicht des gesellschaftlichen Bodensatzes bewahrt werden müssen. Diese Schicht selbst scheint durch Indolenz, Faulheit und Böswilligkeit gekennzeichnet. Erziehung zur Arbeitsamkeit, zur „Industrie" gilt daher als das wesentlichste Mittel, der Armut Herr zu werden, den Stand der Standeslosen aufzulösen und in die Gesellschaft einzugliedern. Das Arbeitshaus, das in bezeichnender Weise oft Zuchthaus und Waisenhaus koppelt, wird zum Instrument solcher Politik. Die uns heute unbegreiflich erscheinende Vermengung der Armen- und Waisenkinder mit Tagedieben, Bettlern und Verbrechern in diesen Anstalten wird verständlich von der Auffassung, daß Arbeitsamkeit dasjenige sei, was beide Kategorien erlernen müssen, daß nur Fleiß, Sittsamkeit und Strebsamkeit sie aus Armut und Verwahrlosung herausführen können. Das Lob der Kinderarbeit, das das ganze 18. Jahrhundert durchzieht und noch bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu finden ist, bekommt von daher seinen Sinn2. Hatte das Mittelalter das Problem der Armut theologisch zu deuten versucht, so sieht das 16. bis 18. Jahrhundert es mehr und mehr moralisch. Das 19. Jahrhundert wird es schließlich wesentlich ökonomisch und soziologisch zu begreifen lernen und schließlich bei Marx das theologische wie moralische Element gänzlich leugnen. Wir werden diesen Wandel der Betrachtungsweisen im Auge behalten müssen, wenn wir uns diesem meist nur global, durch die Brille der „Gesellschaft" betrachteten Stand der Standeslosen zuwenden. Denn manche zu beobachtenden Wandlungen seiner sozialen Existenz scheinen mehr im Wandel des Betrachters zu liegen als in dem des Gegenstandes. Schon die allgemeinste Beobachtung, die fast allen Betrachtern vom 17. bis ins 19. Jahrhundert gemeinsam ist, daß nämlich der Stand der Standeslosen im Verhältnis zur Bevölkerung überproportional anwachse, bedarf einer kritischen Nachprüfung, für die die Materialien noch längst nicht genügend aufbereitet sind. Bereits für das 15. und 16. Jahrhundert kann man nämlich in einzelnen Städten und Regionen den Anteil der unterständischen Schichten auf 20 % und mehr der Bevölkerung berechnen3. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, noch ehe der Industrialisierungsprozeß im engeren Sinne auf dem Kontinent eingesetzt hat, macht er in einzelnen Städten und Regionen ein Drittel, ja die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. So erreichte die Zahl der Beisassen in Basel im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts fast die Zahl der Bürger: nach der amtlichen Volkszählung von 1779 standen 7607 Bürgern 7433 Nicht-Bürger gegenüber, und in der Zeit von 1776 bis 1786 kamen auf 193 bürgerliche Geburten 161 Geburten in Familien von Schutzverwandten4. Wenn auch ein kleiner Teil der Nicht-Bürger aus wohlhabenderen Kreisen stammen kann, z. Β. aus aus­ wärtigen Kaufleuten besteht, die in der Stadt nicht das Bürgerrecht erwerben wollen, so muß die große Mehrzahl der Nicht-Bürger doch den untersten sozialen Schichten der Tagelöhner, nichtzünftigen Handwerker, Heimarbeiter, Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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legenheitsarbeiter und dem Gesinde zugeredinet werden. Das ganze 18. Jahrhundert befaßt sich denn auch der Rat in Basel immer wieder mit der Besorgnis erregenden Frage, „Woher es komme, daß die Zahl der Hintersassen zunehme und die der Bürger abnehme"3. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse in Frankfurt oder Hamburg. Hatte in Frankfurt die Zahl der Bürger zu der der Beisassen in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts sich noch wie 3:1 verhalten, so machten 1811 die Bürger von 38 271 Einwohnern nur noch 10 176 (allerdings ohne Kinder) aus, waren also (mit Kindern) auf etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung abgesunken6. In Hamburg hatte die Zahl der Schutzverwandten die der Bürger offenbar schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht, wobei noch besonders zu beachten ist, daß außer den Schutzverwandten, die 1759 auf ca. 4000 Personen geschätzt und 1765 mit 5442 genauer ermittelt wurden, noch gegen 3300 Personen in der Stadt leben, die weder Bürger noch Schutzverwandte sind, sondern gar keinen rechtlichen Status haben, auch nie eine Abgabe zahlten. Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Bürger in der gesamten Einwohnerschaft jedenfalls eindeutig in der Minderheit7. In Barmen machen 1816 die Tagelöhner, Handarbeiterinnen und häuslichen Bediensteten 56,1 % aller Berufstätigen aus. Mit den Gesellen und Lehrlingen sind es sogar 64,7%, die zu der sozialen Unterschicht zu zählen sind8. Auch hier stellen also die Schichten unterhalb des selbständigen Hand- oder Lohnwerkers bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Eine starke Zunahme der Unterschicht läßt sich zwischen dem letzten Drittel des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts auch für Räume mit rein oder vorwiegend agrarischem Charakter belegen. So vermehrte sich z. B. in dem Fürstentum Lippe-Detmold die Zahl der landlosen Einlieger von 3500 im Jahr 1789 auf 8000 im Jahr 1848, d. h. um 128%, während die Zahl der „Kolonate" (Groß-, Mittel- und Kleinbauern) in der gleichen Zeit nur von 5700 auf 7600, also um 33 % zunahm9. Dabei lassen sich deutliche Unterschiede zwischen solchen Agrarlandschaften erkennen, in denen der bäuerliche Vollbesitz nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gemeinderechtlich sich in stärkerem Gegensatz zu besitzlosen Unterschichten be6ndet, wie in Braunschweig10, und solchen, in denen der Übergang fließend ist. Im Zürcher Oberland z. B. ist schon im 17. und 18. Jahrhundert zu beobachten, daß die Gemeinden mit besseren bäuerlichen Besitzrechten und einer größeren Allmende sich erfolgreicher gegen die Vermehrung der unterbäuerlichen Schicht wehren als die mit einer wirtschaftlich und politisch schwachen Vollbauernschicht11. In einem in sich sehr unterschiedlich strukturierten Staat wie Preußen macht kurz von der Mitte des 19. Jahrhunderts (1846) die gesamte Lohnarbeiterschaft in gewerblicher wie agrarischer Tätigkeit 45 % der männlichen Personen über 14 Jahre aus, und die Zahl der wirtschaftlich selbständigen Grenzexistenzen ist auf weitere 10 bis 15 % geschätzt worden, so daß mehr als die Hälfte, vielleicht fast zwei Drittel der Bevölkerung zur Unterschicht unterhalb der Vollbauern und Handwerksmeister gezählt werden müssen. Doch scheinen, wenn man den preußischen Statistikern glauben darf, in Preußen insgesamt die Unterschichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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mehr stärker zugenommen zu haben als die Gesamtbevölkerung, nämlich um ca. 60% von 1816 bis 1846. Nur Fabrikarbeiter und Handwerksgehilfen hatten eine überproportionale Zunahme, die Zahl des Gesindes stieg dagegen nur um 17 % an und blieb damit weit unter dem Durchschnitt des Bevölkerungszuwachses, während die Tagelöhner mit 67 % ihn nur unwesentlich überstiegen12. Immerhin steht zweifelsfrei fest, daß, was immer die Relation der ständisch Gebundenen zu den unterständischen Schichten in älteren Zeiten gewesen sein mag, beim Einsetzen des Mechanisierungsprozesses der Anteil der Unterschichten an der Gesamtbevölkerung in vielen Städten und Regionen schon enorm hoch ist und daß er nur deswegen oft unterschätzt wird, weil die Unterschichten seltener aktiv oder auch nur aktenkundig werden als die rechtlich fixierten Stände, deren Aktionen und Schicksale sich in der Überlieferung soviel deutlicher verfolgen lassen, zumal wenn sie wie der höhere Bürger- und der Adelsstand selbst in mannigfachen literarischen Erzeugnissen zu ihrer sozialen Bewertung beigetragen haben. Im Unterschied dazu sind die unterständischen Schichten ebenso wie die Handwerker und Bauern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wesentlich unliterarisch. Dennoch fehlt es an Selbstzeugnissen aus ihren eigenen Reihen nicht ganz. In Ulrich Braekers „Armen Mann im Tockenburg" sind sie sogar in die Reihe der großen Literatur aufgerückt. In ihm spricht sich das Selbstverständnis nicht nur des schweizerischen Heimwebers aus. Wir dürfen Lebensgefühl und Arbeitshaltung dieser werkelnden Häusler, Weber und Kleinsthändler getrost auch auf andere Textillandschaften wie die sächsische oder schlesische übertragen. „Ich pflanzte Erdäpfel und Gemüse und probierte alles, wie ich am leichtesten zurechtkommen möchte", heißt es da. „Aber ich blieb immer so auf dem alten Fleck stehen, ohne weiter vor, doch auch nicht hinterwärts zu rükken." Das Bargeld wird ausgegeben, so wie es einkommt, denn es hatte nie „Reize für mich, als inwiefern ich's alle Tage zu brauchen wußte"13. Daher werden auch in Zeiten guter Beschäftigung und relativ hoher Löhne selten Rücklagen gemacht und die Familien, die ihr Leben an den „Baumwollfaden" geknüpft haben, werden zu der ersten größeren sozialen Gruppe, die vom Auf und Ab eines unübersehbaren Marktes völlig abhängt. Ihre Entstehung, Ausbreitung und Lebenshaltung ist neuerdings am Beispiel des Zürcher Oberlandes minutiös untersucht worden, und wir sind daher in der Lage, den Ursprung der Textilarbeiterschaft dieser Landschaft bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts genau zurückzuverfolgen14. Von der Welt einer anderen großen Gruppe, die das Reservoir der Industriearbeiterschaft im 19. Jahrhundert speisen wird, den preußischen Soldaten, Tagelöhnern, kleinen Beamten und Handwerkern berichten die Memoiren Karl Friedrich Klödens, dessen Vater aus adligem Stande zum Unteroffizier und Zolleinnehmer abgesunken war und der einen Teil seiner Jugend in Berliner Kasernen und westpreußischen Dörfern zugebracht hat, bis er schließlich bei einem Goldschmied in die Lehre gegangen ist15. Selbst von einem unbändigen Aufstiegswillen angetrieben und auch in der akademischen Welt zu Erfolg und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ehren gekommen, ist er doch ein unverdächtiger Zeuge für jene Schicht an der Grenze von Kleinbürgertum und Proletariat, deren Schicksal dann im 19. Jahrhundert zu einem Leitthema von Sozialpolitik und Sozialkritik werden wird. Braeker repräsentiert den ländlichen Heimweber der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Klöden das städtische Kleinbürgertum der napoleonischen Zeit. Mit Karl Fischer (geb. 1841) ergreift dann zum ersten Mal ein moderner Fabrikarbeiter die Feder, dessen Erlebnisse zwar vorwiegend in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gehören, dessen Erinnerungen an seinen zur untersten Schicht des eben noch selbständigen, kaum existenzfähigen Handwerks zählenden Vater jedoch bis in den Beginn der Industrialisierung zurückreichen16. Er sieht die Welt des Arbeiters noch unbefangen; die marxistischen Kategorien und Erklärungsschemata sind für ihn noch keine Realitäten und sein Zorn gegen die „Oberen", die Meister mehr noch als die Unternehmer, ist ganz persönlich und unreflektiert. Auch er ist daher ein ausgezeichneter Zeuge des Selbstverständnisses des kleinen Mannes. Allen diesen literarisch gewordenen Selbstdarstellungen der Unterschicht — und vielen unbedeutenderen, hier nicht näher zu behandelnden17 — ist eines gemeinsam: Die große Differenzierung, die der Stand der Standeslosen, der Armen und der Arbeiter bei ihnen findet. Während, er der „Gesellschaft", der bürgerlichen Sozialkritik vor allem, leicht als eine homogene Schicht erscheint, ist er dem Angehörigen der Unterschicht selbst eine vielgestaltige soziale Welt mit eigenen Gesetzen, Werten und Unterschieden. Dieser soziale Mikrokosmos ist im einzelnen noch wenig erforscht; in seiner Darstellung muß daher vieles lückenhaft bleiben. Doch soll versucht werden, einzelne seiner sozialen Schichtungsmerkmale herauszuarbeiten. Schon ihrer Herkunft nach ist diese Unterschicht äußerst bunt zusammengesetzt. Wie das Beispiel Klödens zeigt, kann im Extremfall sogar ein Adeliger in sie herabsinken. „Ungeratene" Söhne und Töchter „ehrbarer" Familien finden sich immer wieder in ihr und werden später zu ihren geistigen Führern zählen. Landwirtschaftliche und gewerbliche Grenzexistenzen vermehren sie, wenn sich wirtschaftliche Daten ändern, neue Produktionsprozesse aufkommen, Märkte sich verschieben oder Krisen ausbrechen. Im wesentlichen aber speist die Armut sich aus sich selbst. So richtig es grundsätzlich sein mag, daß ihrer Fortpflanzung in der ständischen Welt Grenzen gesetzt sind durch die vielfachen rechtlichen und tatsächlichen Hemmungen, die ihrer Eheschließung, bürgerlichen Niederlassung und dem Ergreifen eines eine Familie ernährenden Lebensunterhaltes entgegengesetzt bleiben18, so sehr werden doch diese Grundsätze schon im 17. und 18. Jahrhundert ständig durchbrochen. Nicht nur in den Gebieten mit Realteilung vermehrt sich die kleinbäuerliche und unterbäuerliche Schicht durch fortwährende Parzellierung des Landbesitzes, auch in den Gebieten mit strengem Anerbenrecht gibt es für die unterbäuerliche Schicht, die ja meist nur an den Allmenden, kleinen Häuschen oder Hausteilen Eigentum besitzt, vielfache Möglichkeit der Gründung einer Grenzexistenz durch Nebenerwerb als Tagelöhner, als Dienstbote oder im Sold eines Heeres, durch vorübergehende oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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endgültige Auswanderung. Keine der vielen persönlichen oder dinglichen Bindungen an Herren, Orte oder Eigentum ist stark genug, wirklich die Fortpflanzung der unterständischen Schichten zu verhindern. Uneheliche Geburten können schließlich ebensowenig ausgemerzt werden wie die Flucht in die Stadt, die Annahme von Arbeit in anderen Territorien, etwa die „Hollandgängerei" im niederländisch-deutschen Grenzgebiet oder die „Schwabengängerei" in den Tälern der Schweiz. Die Auswanderung der Armen wird sogar direkt gefördert, und sie richtet sich nicht nur nach Übersee oder Ost- und Südosteuropa, sondern auch als Nahwanderung in eine wirtschaftlich bessere Gegend. Not macht erfinderisch: das gilt ganz gewiß von den Versuchen der unterständischen Schichten, ihr Leben irgendwie zu fristen. Soziologisch bedeutet dies, daß hier eine horizontale Mobilität schon zu einer Zeit selbstverständlich ist, als sie nach der Lehre und Sitte der herrschenden Gesellschaft noch wenig in Erscheinung treten dürfte. Das ist ja einer der Gründe, die zur moralischen Verurteilung dieser Bevölkerungsschicht führen. Sie ist heimat- und bindungslos. Da ihr eine auskömmliche Nahrung auf die Dauer nirgends wächst, muß sie es sein. Im zünftigen Handwerk als der untersten vollständischen städtischen Schicht ist diese Mobilität als eine vorübergehende in der Gesellenwanderung institutionalisiert. Wenn auch der Idee nach zur Ausbildung des Gesellen dienend, erfüllt sie doch außerdem die Funktion, den Markt auszugleichen. Viele Gesellen kehren von ihrer Wanderung nicht heim, sondern lassen sich dort nieder, wo ihnen Zunftund Bürgerrecht und die Ehe mit einer Bürgerstochter winken. Und viele, die nach der Rückkehr ihr Brot in der Heimat nicht finden, machen sich wieder auf die Walze, oft genug für ständig und somit die unterständische Schicht der Vagabunden und Bettler vermehrend. Andere siedeln sich auf dem Lande im zunftfreien Landhandwerk an oder als „Bönhasen" und „Störer" in einer Stadt unterhalb des zünftigen Handwerks, wo sie jene Grenzexistenzen bilden, die jederzeit bei persönlicher Erfolglosigkeit, allgemeiner wirtschaftlicher Krise oder strenger Durchsetzung der Zunftgesetze, die ihnen die Arbeit nimmt, in die Schicht der Armen absinken können. Daß dieses zunftfreie, unterzünftige Handwerk sich sowohl auf dem Lande wie in der Stadt überall im 17. und 18. Jahrhundert trotz des Zunftzwanges ausbreitet, steht zweifelsfrei fest19. Aber es bedarf nicht einmal unbedingt der Mobilität dieser Schichten. Wo die bisherige wirtschaftliche Tragfähigkeit durch Einführung neuer landwirtschaftlicher Methoden oder neuer Gewerbezweige erweitert wird, findet diese unterständische Schicht neue Arbeitsmöglichkeit und damit die Grundlage ihrer Existenz und Vermehrung. Und das ist wenigstens in kleinem Umfang in ganz West- und Mitteleuropa, soweit wir zurückblicken können, ständig der Fall. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind Baumwolle und Seide die wichtigsten neuen Produkte, deren Verarbeitung ganze Landschaften zu heimgewerblichen Industrielandschaften macht. Textil-, Waffen- und Porzellanmanufakturen saugen in vielen Städten unterständische Bevölkerungskreise als Arbeitskräfte auf, wenn auch ihre Stammbelegschaft aus qualifizierten, importierten Arbeitern bestehen mag. Die Ausdehnung von Handel und Verkehr er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nährt in den Handels- und Seestädten Scharen von Transportarbeitern und Dienstboten, und seit dem späteren 18. Jahrhundert finden unterbeschäftigte Bauern und Tagelöhner im Chausseebau — soweit er nicht als Fronarbeit betrieben wird — eine zusätzliche Erwerbsquelle. Ein wichtiger, wenn auch oft unfreiwilliger Zufluchtsort der armen Leute sind die stehenden Heere des Absolutismus und umgekehrt werden sie, vor allem in Preußen, zu einer der großen Quellen des Proletariats. Der Anteil des Militärs an der Gesamtbevölkerung machte in Preußen das ganze 18. Jahrhundert mehr als 3 % aus (1740 = 3,7 %; 1786 = 3,3 % ) , und in großen Garnisonstädten wie Berlin stieg er auf über 20 %20. Ländliche, städtische und militärische Unterschichten lassen sich oft nicht genau scheiden, nicht nur wegen individueller Fluktuationen, sondern weil Stadt und Land oft nicht genau zu scheiden sind und weil die Soldaten, solange sie im Dienst sind, meist in Garnisonstädten, als Beurlaubte — und das war der größere Teil — oft aber auf dem Land ihrem „bürgerlichen" oder vielmehr unter-bürgerlichen Erwerb nachgehen. Ihr Sold hilft einerseits die ländliche Unterschicht zu ernähren, andererseits vermehrt er aber auch die Zahl der unterbeschäftigten, von den heimatlichen Erwerbsquellen nicht lebensfähigen Existenzen21. Schließlich gab es die zahlenmäßig wohl am schwersten zu erfassende, der Fluktuation am stärksten unterworfene Schicht der fahrenden Leute, der Vagabunden und der Bettler, die, wie zahllose Quellen bezeugen, im 17. und 18. Jahrhundert mehr und mehr als Landplage empfunden und von Territorium zu Territorium abgeschoben wurden. Ob die Zunahme der Klagen über ihr Anwachsen eine tatsächliche Vermehrung bezeugt oder ob sich dahinter nur die Wandlung der Anschauungen über das Betteln verbirgt, sei dahingestellt. Auffallend bleibt jedoch, daß das industrialisierende 19. Jahrhundert dieses Problem, mit dem der Polizeistaat des 18. Jahrhunderts nirgends fertig wurde, bis auf wenige Reste beseitigt hat. Aus allen diesen Quellen wird sich im 19. Jahrhundert die Fabrikarbeiterschaft speisen. Hinzu stoßen nun, wie übrigens schon z. T. in der Manufakturund Heimarbeiterperiode, die von Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit freigesetzten, durch technische Neuerungen oder allgemeine wirtschaftliche Krisen ihrer Existenz beraubten Kleinbauern und Handwerker — also bisher ständische Schichten. Ihre Bedeutung für die Bildung der Fabrikarbeiterschaft wird allerdings meist überbetont. Der Grund hierfür liegt einmal in der Kritik der konservativen Zeitgenossen über die negativen Auswirkungen der Reformen und in den Klagen der Handwerker selbst, die, während sie früher die Konkurrenz von Störern und Pfuschern für eigene Mißerfolge verantwortlich machten, nun immer mehr in der Maschine den Quell ihrer wirtschaftlichen Bedrängnisse sehen. Überdies hat auch die bürgerliche Sozialkritik und Sozialwissenschaft auf das Phänomen des „vertriebenen" Kleinbauern und des absinkenden Handwerkers früh ihr Auge gerichtet22. In Deutschland hat schließlich gegen Ende des Jahrhunderts mit den Untersuchungen über die sozialgeschichtlichen Folgen der Bauernbefreiung und den Enqueten des Vereins für Sozialpolitik © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die systematische Erforschung des Schicksals von Bauerntum und Handwerk in der industriellen Gesellschaft begonnen23. Die heute sichtbaren Ergebnisse dieser Forschungen haben allerdings die Befürchtungen des 19. Jahrhunderts zum großen Teil nicht bestätigt. Zumindest muß man sehr differenzieren, sowohl wenn man die Frage der Freisetzung der Bauernschaft durch die Reform wie die des Ab- oder Aufstiegs von Handwerkszweigen im Prozeß der Industrialisierung betrachtet. Für die Landwirtschaft erscheinen die regionalen Unterschiede beträchtlich, nicht nur der Gegensatz Ostelbien und Westelbien, für das Handwerk sind die branchenmäßigen Differenzierungen wichtig. Der wichtigste Handwerkszweig, der schließlich im Laufe des 19. Jahrhunderts dieser Industrialisierung zum Opfer gefallen ist, ist der der Handweber. Hier zeigen sich aber auch deutlich die Einschränkungen, die man machen muß, wenn man von der Vernichtung des Handwerks durch die Industrie spricht. In der Weberei konnte in der Tat nach Einführung des mechanischen Prozesses die Handarbeit auf die Dauer nicht mehr konkurrieren. Dieser, übrigens qualvoll lange Prozeß der Umstellung trifft aber nur in sehr beschränktem Umfang das sog. „alte Handwerk". Erstens war die Weberei nur z. Τ. zünftig, besonders in den Reichsstädten, wo sie eine alte Tradition besaß, zum größeren Teil wurde sie aber als unzünftiges ländliches Heimgewerbe betrieben und zwar vor allem, seit die Mechanisierung des Spinnens viele Spinner freigesetzt und auf die einträglichere und erst Jahrzehnte später mechanisierte Weberei verwiesen hatte. Es waren also vor allem die ländlichen Unterschichten, die getroffen wurden — das schlesische Beispiel zeigt es besonders kraß — nachdem ihnen die Weberei in der ersten Phase der industriellen Revolution überhaupt erst die Existenz ermöglicht hatte. Zweitens bot sich vielen Handwebern, die meist ja nicht als selbständige Existenzen angesprochen werden können, sondern zuvor von einem Verleger wirtschaftlich abhängig gewesen waren, die Existenz als Fabrikweber, die sie wirtschaftlich keineswegs schlechter stellte. Ob sie sich nun auf feinere Produkte umstellten, die vom Mechanisierungsprozeß erst später ergriffen wurden, ob sie an Handwebstühlen in zentralisierten Manufakturen und gemischten Betrieben arbeiteten — denn in der Frühzeit der Industrialisierung finden sich viele mechanische Spinnereien mit angegliederten Handwebereien —, oder ob sie bei der gradweisen Mechanisierung des Prozesses zu Arbeitern an Maschinen wurden: ihr Einkommen verschlechterte sich nur dort, wo sie der überlegenen Konkurrenz hartnäckig trotzten, indem sie trotz technischer Neuerungen in ihrem Gewerbezweig bei ihrer traditionellen Produktionsweise blieben. Neben solchen Gewerbezweigen, die durch das Aufkommen der Industrie vernichtet werden, — selten übrigens von heute auf morgen und ohne die Chance der individuellen oder kollektiven Umstellung — stehen sehr viele, die sich notorisch behauptet haben, z. Β. die gesamten Bauhandwerke, daneben andere, denen die Mechanisierung der Produktion selbst neue Chancen bot, vielen Metallhandwerken z. Β., und wieder andere, die durch die Industrie überhaupt erst entstanden sind24. Im ganzen gesehen hat sich jedenfalls die Zahl der Handwerker weder absolut noch relativ zu anderen Erwerbszweigen im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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19. Jahrhundert vermindert, sondern zunächst noch vermehrt, dann erstaunlich stabil gehalten25. Wie groß der Anteil der einzelnen Unterschichten an der entstehenden Fabrikarbeiterschaft war, läßt sich global nicht sagen. Nicht nur fehlen uns fast überall genaue Angaben, sondern die Verhältnisse variieren auch nach regionalen Traditionen und Verhältnissen, vor allem aber nach Industriezweigen. Drei Hauptlinien lassen sich mit einiger Sicherheit unterscheiden: 1. In der Textilindustrie, die der größte Arbeitgeber im Zeitalter der Frühindustrialisierung ist, überwiegen die ländlichen, vorher heimgewerblich tätigen Unterschichten. Hier ist aus technischen wie aus Gründen der Herkunft der Arbeiter die Zahl der Frauen und Kinder besonders hoch. Ähnliches trifft für den ebenfalls sehr arbeitsintensiven großen Zweig der Nahrungs- und Genußmittelindustrie zu, wo in den Zuckerfabriken z. B., oder in der noch lange manufaktureil betriebenen Tabakindustrie ebenfalls die Schicht der ländlichen Tagelöhner, der Frauen und Mädchen sehr hoch ist. 2. Im Bergbau und den Stahlwerken sowie der chemischen Industrie, besonders wo sie wie im Ruhrgebiet in einer nichtgewerblichen Landschaft entstehen, überwiegen die männlichen Arbeiter ländlicher Herkunft, die in Nah- und Fernwanderung in diese Zentren der modernen Großindustrie ziehen. Sie sind ehemalige Knechte und Tagelöhner, Kleinbauern und sonstige ländliche Grenzexistenzen vor allem aus solchen Regionen, die bisher nicht heimgewerblich erschlossen waren. Hier ist der Sprung von der Landwirtschaft zur Industrie besonders groß, einmal weil die Zwischenstufe des Heimgewerbes, das die Bevölkerung der textilindustriellen Regionen an die industrielle Arbeits- und Lebensweise gewöhnt hat, ausfällt, zum anderen weil der Eintritt in die Industrie viel öfter mit einem Orts- und Heimatwechsel verbunden ist. Kommt die Textilindustrie zu dem Menschen aufs Land, so muß der Mensch zu den Zentren der Großindustrie kommen, weil sie von Natur aus stärker ortsgebunden ist. Hier lassen sich daher in besonderem Maße die Phänomene der Entwurzelung und Heimatlosigkeit finden, die für die seelische Haltung des Proletariats charakteristisch sind. Hier ruft der Sog der Industrie auch die Erscheinung der Landflucht hervor, die freilich wirtschaftlich unumgänglich war, um der stark zunehmenden agrarischen Übervölkerung, dem „Pauperismus", Einhalt zu gebieten26. 3. Ganz anders setzt sich wiederum die Arbeiterschaft in den Maschinenfabriken, mechanischen Werkstätten und Präzisionsinstrumentenwerken zusammen. Diese sind überwiegend bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nichts weiter als zentralisierte Handwerksstätten im Großen und ihre Arbeiter kommen entsprechend häufig aus der Handwerkerschaft. Die Maschinen, die die Mechanisierung des Arbeitsprozesses ermöglichen, werden noch lange handwerklich, in kleinen Serien und von fachlich geschulten Spezialarbeitern hergestellt. Hier findet sich die Elite der Arbeiterschaft zusammen. Hohe Löhne sind für sie von Anfang an kennzeichnend. Das zeigt sich besonders dort, wo wie im Elsaß, der Schweiz, in Sachsen und im Rheinland Textilfabriken mit Textilmaschinen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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fabriken gekoppelt sind. In Einkommen, Können, sozialem Selbstbewußtsein und sozialem Prestige heben sich die Arbeiter der Maschinenwerkstätten entschieden von denen der übrigen Fabrik ab. Und das gleiche gilt von allen Manufakturen und Fabriken, die einen Stamm gelernter oder hochqualifizierter angelernter Arbeitskräfte beschäftigen, den Porzellanmanufakturen etwa schon im 18. Jahrhundert, vielen Gewehrfabriken und Geschützgießereien, später vor allem von den meist aus mechanischen Werkstätten hervorgegangenen Fabriken für Präzisionsinstrumente, optische und astronomische Geräte, Waagen, Uhren etc. Das führt uns zu der inneren Struktur der gewerblich tätigen Unterschichten, ihrer vielfachen Gliederung und Abstufung in Arbeitsfunktionen, sozialem Ansehen, wirtschaftlichem Erfolg, Lebenshaltung und Selbstverständnis. Diese Abstufungen sind den Angehörigen dieser Schicht wohl zu allen Zeiten gegenwärtig gewesen; für das Klassenbewußtsein eines industriellen Proletariats bildeten sie das entschiedenste Hindernis. Welche Faktoren für diese Gliederung maßgeblich sind, ist nicht ganz leicht zu sagen. Sicherlich ist die Arbeitsfunktion und das sich davon ableitende Einkommen grundlegend, aber nicht alleinbestimmend. Vorindustrielle Traditionen spielen bis weit ins 19. Jahrhundert, ja bis ins 20. Jahrhundert hinein eine große Rolle, wenn etwa zünftige Papiermachergesellen in den Papierfabriken sich von den unzünftigen Arbeitern trotz sich angleichender Arbeitsfunktionen noch lange entschieden trennen — durch das Tragen eines Schurzes z. B. —, oder wenn zünftige Handwerker sich weigern, mit unzünftigen in der gleichen Werkstatt zu arbeiten. Das, was einer war, ehe er Mitglied der Arbeiterschaft wurde, ist zumindest subjektiv noch lange ein unterscheidendes Merkmal. Dabei spielen land smannschaftliche oder sprachliche Unterschiede eine wichtige Rolle. Der Einheimische dünkt sich dem Zugewanderten überlegen und ist es oft auch, da er weniger entwurzelt ist, da ihm die Um- und Arbeitswelt vertrauter ist und er oft schon die besten Stellungen besetzt hält. Wer einen fremden Dialekt oder gar eine fremde Sprache spricht, gilt oft als minderwertig. Ähnlich sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land. Arbeitermemoiren bezeugen, wie ausgeprägt der Gegensatz in Selbstbewußtsein, Lebensführung und Arbeitsethos zwischen dem vom Land kommenden und dem schon in der Stadt aufgewachsenen Industriearbeiter gewesen ist. Während der erste die Freizeit meist verschlief, an der Arbeitsstelle aber schuftete, wie er das von seinem ländlichen Arbeitsrhythmus her gewöhnt war, legte der Städter Wert auf Nutzung der Freizeit zu Vergnügen oder Bildung und neigte dazu, seine Kräfte in der Arbeit zu schonen. Daß ein ganz beträchtlicher Unterschied in der Haltung weiblicher und männlicher Fabrikarbeiter sowohl in der Einstellung zur Arbeit wie der Freizeitbeschäftigung bestand, wird besonders da deutlich, wo neben der beide Geschlechter vereinigenden Textilindustrie noch andere, ausschließlich männlich besetzte Industriezweige, etwa Maschinenfabriken, Stahl- oder Bergwerke vorhanden waren. Sie zahlten nicht nur besser, sondern waren im Bewußtsein der Arbeiterschaft eindeutig höher zu klassifizieren, und die Berichte über frühindustrielle Fabrikstädte und -landschaften lauten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sehr verschieden, je nachdem ob es sich um eine männliche, weibliche oder gemischte Arbeiterschaft handelt. Aus der vorindustriellen Welt stammt auch die Scheidung besserer und schlechterer Berufe. Der Kupferschmied steht über dem Hufschmied und der Rundwirker über dem Bandwirker. Sie unterscheiden sich meist nach der Feinheit und dem Wert des Produktes, eine Unterscheidung, die in der arbeitsteiligen Welt der Manufaktur und Fabrik mehr und mehr durch die Scheidung nach der Funktion bei der Bearbeitung ein- und desselben Produkts abgelöst wird. Diese Scheidung nach der Arbeitsfunktion erscheint als der wichtigste sozial gliedernde Einzelfaktor. Hier ist nicht nur die einfache Unterscheidung von Meistern, Vorarbeitern, gelernten und ungelernten Kräften nötig, sondern eine große Skala von Funktionen tut sich auf, die von Industriezweig zu Industriezweig, ja von Betrieb zu Betrieb variiert. Für die ausgebaute industrielle Gesellschaft ist diese Erkenntnis selbstverständlich und von der empirischen Sozialforschung im einzelnen oft nachgewiesen worden. Seltsamerweise erhält sich aber gerade bei Soziologen die Vorstellung, daß dies im Zeitalter der Frühindustrialisierung grundlegend anders gewesen sei. „Einzug der Ungelernten und Auszug der Gelernten" sei das Motto der ersten Phase der Industrialisierung gewesen, heißt es da, während in einer zweiten Phase dieser Vorgang sich umgekehrt habe27. Und manche Soziologen haben diese Unterschiede zur Theorie einer gegenläufigen Zweiphasenbewegung der industriellen Gesellschaft ausgebaut, bei der die erste Phase, statistisch gekennzeichnet durch eine überproportionale Zunahme der Arbeiterschaft, zur Klassengesellschaft hin, die zweite dagegen, etwa seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, statistisch gekennzeichnet durch ein stärkeres Wachstum der Angestelltenberufe, von der Klassengesellschaft weg tendiere28. Dieser Auffassung liegt offenbar ein völlig simplifiziertes Bild von der Fabrik in ihren Anfängen zugrunde. Die mechanische Spinnerei scheint als einzige Betriebsform dabei Modell gestanden zu haben, und nicht einmal für sie trifft diese Aussage ganz zu. Tatsächlich läßt sich in allen Phasen der Industrialisierung eine Zunahme der Arbeitsteilung und Differenzierung der Arbeitsfunktionen feststellen; sowohl der Leistungsanspruch der Arbeitsplätze wie ihre Bewertung für den gesamten Produktionsablauf werden in immer verfeinerten Kategorien erfaßt. Und das trifft auch schon auf die nicht- oder teilmechanisierte Manufaktur und bis zu einem gewissen Grade auch auf die verlegerisch organisierte Heimindustrie zu. Eine Fabrik oder Manufaktur mit einer Masse völlig gleichförmig sich beschäftigender Personen hat es gerade in der Frühzeit nur selten gegeben. Schon die Technik der industriellen Frühzeit war mit soviel Mängeln und Tücken behaftet, daß eine Vereinheitlichung des Arbeitsprozesses fast nirgends möglich war. Von den Maschinenfabriken wurde schon erwähnt, daß sie fast ganz als eine Versammlung von Handwerksstätten angesprochen werden können. Formerei, Gießerei, Schmiede, Schlosserei, Spenglerei, Schreinerei, Wagenmacherei, etc. stehen mehr nebeneinander als daß sie einander zugeordnet sind. Jede wird von einem Meister seines Handwerks dirigiert, und in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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den meisten werden wiederum Fachleute verschiedenster Art beschäftigt, deren Lohn je nach Tradition, Wichtigkeit für den Arbeitsprozeß, Unersetzlichkeit etc. unterschiedlich gewesen ist. In den Stahlwerken mag demgegenüber der angelernte Arbeiter vorherrschen, aber die Funktionen am Hochofen, im Walzwerk oder der Gießerei stellen doch so unterschiedliche Anforderungen an Körperkraft, Hitzeempfindlichkeit, Sehkraft, Geschicklichkeit, Konzentrationsfähigkeit oder Reaktionsgeschwindigkeit, daß schon von diesen mehr psychologischen Verschiedenheiten her Differenzierungen unerläßlich sind. Und wichtig war auch hier die alte Tradition der Eisenwerke, die nicht nur festumschriebene, mit verschiedenem Prestige belegte Funktionen kannte, sondern auch Unterschiede im rechtlichen, politischen und sozialen Status ihrer Arbeiterschaft. So gab es z. Β. in den Eisenwerken und Bergwerken noch des frühen 19. Jahrhunderts eine privilegierte ständige Arbeiterschaft, die Werkswohnungen, Krankenversicherung, Kündigungsschutz und Hilfe bei Arbeitsunfähigkeit genoß, dafür in ihrem Lohn oft behördlich fixiert und in der Freizügigkeit beschränkt war, während die unständige Arbeiterschaft diese sozialen Sicherungen nicht besaß, dafür jedoch Lohnfreiheit und Freizügigkeit. Ähnliche Voraussetzungen, so verschieden sie im einzelnen sein mögen, treffen für jeden Industriezweig zu29. In einer Zeit, in der technisches Können (know-how) noch oft ein Geheimnis ist, jedenfalls aber viel weniger verbreitungsfähig als in der entwickelten Industriegesellschaft, gibt es zudem den Arbeiter mit Sonderstatus. Ob es sich um die Bläser eines Glaswerks, die Maler oder Massearbeiter in einer Porzellanmanufaktur, die Dessinateure und Formenmacher in einer Textildruckerei, oder die Mechaniker in einer Dampfweberei handelt — sie sind stets für ihren Betrieb unersetzlich, oft von weither geholt, mit rechtlichen Privilegien wie Militär-, Abgaben- und Gerichtsfreiheit versehen, und um ein Vielfaches besser bezahlt als der ungelernte oder nicht lebenswichtige Facharbeiter ihres Betriebes. Den besten Eindruck von der überraschend großen Differenzierung innerhalb der Arbeiterschaft geben die Lohnskalen der Manufakturen und Fabriken des 18. und frühen 19. Jahrhunderts30. Sie zeigen selbst bei kleinen Betrieben von ca. 30 Arbeitern sechs bis acht Lohngruppen mit einer Variationsbreite, wie sie in entwickelten industriellen Betrieben nur noch selten zu finden ist. Spezialarbeiter verdienen leicht das Vier- oder Fünffache des Lohnes der Ungelernten, und bezieht man die jugendlichen Arbeiter und Kinder mit ein, so erreicht die Spanne des bestbezahlten zu dem schlechtestbezahlten Arbeiter in einer Fabrik leicht das Verhältnis 1:8 oder 1:12. Bemerkenswert ist dabei, daß unentbehrliche Spezialarbeiter oft besser verdienen als die Meister, aber auch daß innerhalb relativ homogener Gruppen, z. B. gelernter Handwerker, noch Spannen wie 1:2 und 1:3 zustande kommen, je nach der Funktion, die sie in ihrem Betrieb ausüben. In der Verteilung der Arbeiter auf die Lohngruppen zeigt sich der auffälligste Unterschied zu Verhältnissen in entwickelten Industrieländern darin, daß die unteren, aber auch die oberen Gruppen stark besetzt sind, die mittleren dagegen nur dünn. Das bedeutet, daß der großen Schar der unqualifizierten, für den industriellen Arbeitsprozeß nur schwer zu gebrauchenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Arbeiter eine nicht unbedeutende Gruppe von qualifizierten, für den Arbeitsprozeß wichtigen, ja unentbehrlichen gegenübersteht, die sich deutlich von den anderen abhebt. Bei fortschreitender Industrialisierung hebt sich dann das Niveau der großen Zahl der Ungelernten teils durch allmähliche Gewöhnung an den industriellen Arbeitsprozeß und seine Erfordernisse, teils durch verbesserte Schulbildung, und die Differenz zwischen den Gruppen verringert sich, so daß nun die mittleren Lohnkategorien weit starker besetzt sind31. Sind schon innerhalb eines Betriebes die Lohndifferenzen so beträchtlich, daß man, wenigstens soweit es die wirtschaftliche Lage betrifft, kaum von einer einheitlichen Arbeiterschaft sprechen kann, so weiten sie sich noch einmal kräftig aus, wenn man die „handarbeitenden Klassen", wie der Terminus noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lautet, insgesamt betrachtet. Eine solche Analyse ist für das Ende unserer Periode, für das Jahr 1848, in Baden durchgeführt worden32. Ein Fabrikmeister verdiente danach das Fünfzigfache des Lohnes einer Strohflechterin. Selbst wenn wir beide Extreme ausschalten, wofür übrigens mindestens in bezug auf die Strohflechterin keine Notwendigkeit vorliegt, und die Löhne von besser bezahlten Heimarbeiterinnen bzw. Fabrikkindern auf der einen Seite und die von Spezialarbeitern, die sich nicht in Meisterstellung befinden, auf der anderen Seite gegenüberstellen, so ist das Verhältnis noch immer 1:11,5. Selbst wenn wir die Kinder und Jugendlichen auf der einen Seite und die Spezialarbeiter auf der anderen Seite ausschließen und nur einen Vergleich zwischen den Löhnen ungelernter erwachsener weiblicher Tagelöhner und gelernter, aber nicht außergewöhnlich qualifizierter männlicher Arbeiter ziehen, finden wir noch eine Relation von 1:4. Auch ein Vergleich nur zwischen erwachsenen Männern ergibt noch große Unterschiede. So beträgt die Spanne bei Ausschaltung der Meister- und Mechanikerfunktionen 1:2,5, bei ihrer Berücksichtigung 1:5 (landwirtschaftlicher Tagelöhner: Fabrikmechaniker) bzw. 1:6,7 (landwirtschaftlicher Tagelöhner: Fabrikmeister). Diese Beispiele über die Differenzierung des Verdienstes innerhalb der Unterschichten im Zeitalter der frühen Industrialisierung zeigen mit unübersehbarer Deutlichkeit, daß es so etwas wie eine gemeinsame wirtschaftliche Klassenlage nicht gegeben hat. Mag die der Mehrzahl für unsere Vorstellungen unfaßbar schlecht gewesen sein, — niemand wird das bestreiten wollen — so gab es doch offenbar nicht nur Ausnahmen, sondern ganze Ausnahmegruppen, gab es innerhalb der Unterschichten Auf- und Abstiegsmöglichkeiten, die auch von den Angehörigen der Unterschichten lebhaft empfunden worden sind. Die Erinnerungen, Briefe und Tagebücher, die von ihnen erhalten sind, bezeugen, wie stark solche Unterschiede nicht nur der wirtschaftlichen Situation, sondern auch des sozialen Prestiges und der persönlichen Befriedigung im Selbstbewußtsein der Unterschichten gewesen sind. Die Fabrikarbeit hat dabei in der Prestige- und Einkommensskala der Unterschichten einen unterschiedlichen Rang. Allgemein gilt, daß das Einkommen aus Fabrikarbeit im Vergleich zu anderen Gruppen höher rangierte als das Prestige. Obwohl ein Handwerker, wenn er in einer Fabrik seinem Beruf nachgeht, im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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allgemeinen mehr verdient, als wenn er in einer Handwerkswerkstatt oder als Kleinmeister arbeitet, obwohl auch die weibliche Fabrikarbeiterin mehr verdient als die Tagelöhnerin auf dem Lande oder in der Heimarbeit, bleibt das soziale Ansehen der Fabrikarbeiter lange Zeit niedrig. Die Ursachen hierfür sind vor allem in vorindustriellen sozialen Wertvorstellungen zu suchen, die erhalten blieben, auch als sie ihren Sinn bereits verloren hatten. Daneben aber spielte mit, daß der Übergang zur Fabrik wenigstens in alten Textillandschaften zunächst eine negative Auslese unter den Heimarbeitern schuf. Da die Fabrik zuerst die einfacheren Vorgänge mechanisierte, zwang sie die Heimarbeiter zum Ausweichen auf die komplizierteren, feineren: zunächst konnte nur grobes Baumwollgarn mechanisch gesponnen werden, feines mußte, vor allem auf dem Kontinent, noch bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts von Hand hergestellt werden. Der gleiche Prozeß wiederholte sich in der Weberei. Somit wurden zuerst diejenigen überflüssig und in die Fabrik gedrängt, die zum Übergang auf höherwertige Produkte nicht in der Lage waren. Das hatte eine Abwertung der Fabrikarbeit und eine Aufwertung der Heimarbeit zur Folge. Es ist interessant zu beobachten, wie sich in solchen Textillandschaften all die moralischen Verdammungsurteile, die im 18. Jahrhundert der Heimarbeit gegolten hatten, — daß sie die Menschen verweichliche und untauglich zu „ordentlicher" Arbeit mache, daß sie Putz- und Prunksucht fördere, weil sie Bargeld einbringe, daß sie frühe Ehen und unmoralischen Lebenswandel fördere — im frühen 19. Jahrhundert nun auf die Fabrikarbeit angewandt werden, während die Heimarbeit nun als Wahrerin von Herkommen und Sitte in jenem idyllischen Licht erscheint, in dem früher nur die Landwirtschaft sich sonnte33. Sozial also blieb der Rang der Fabrikarbeiter, mindestens der ungelernten „Hand", innerhalb der Unterschichten niedrig, während er wirtschaftlich bereits zu steigen begann. Es kann hier nicht mehr gezeigt werden, wie sich diese Diskrepanz im Laufe des Jahrhunderts zu schließen begann. Dazu bedurfte es nicht nur einer Anhebung der Anforderungen, die an die Fabrikarbeiter im Vergleich zu den anderen Arbeiterkategorien gestellt wurden, sondern auch einer Wandlung der sozialen Wertskala. Beide Prozesse scheinen heute, wenn nicht abgeschlossen, so doch in ihrem Trend deutlich erkennbar. Ein Kennzeichen dafür mag sein, daß in den unterentwickelten Gebieten der Gegenwart Fabrikarbeit sozial nicht mehr niedrig, sondern hoch rangiert34. In der Tat ist mit der Industrialisierung nicht nur das uralte Menschheitsproblem der Armut gelöst worden, so daß es heute in entwickelten Industriegesellschaften nur noch ein soziales Sonderproblem darstellt, das nur noch einzelne, relativ kleine Gruppen oder Individuen betrifft, sondern auch die Erlösung der handarbeitenden Schichten, der Standeslosen der alten Gesellschaft, aus ihrem Pariadasein. Die einstmals nicht mitzählten, weil sie nicht als „Stand", kaum als Menschen gezählt wurden, sind heute die gesellschaftstragende Schicht schlechthin geworden. Die Armut zurückgedrängt, ja beseitigt, den Stand der Standeslosen aufgelöst und in die industrielle Gesellschaft eingegliedert zu haben, das ist in Wahrheit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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das ökonomische und soziale Ergebnis des Industrialisierungsprozesses. Nur wer sich von ideologischer Voreingenommenheit nicht lösen kann, oder wer seinen Blick einseitig auf die spezifischen Probleme und Nöte einer Gesellschaft am Beginn eines Umformungsprozesses mit seinen Erscheinungen der sozialen Desintegration fixiert, ohne das Vorher und Nachher zu bedenken, kann das heute noch bestreiten35. Dem unvoreingenommenen Blick eröffnet sich indessen bei näherem Zusehen die Welt der sozialen Unterschichten dieser Periode als eine vielfältig differenzierte, in sich abgestufte, zwar von Not und Armut durchweg bedrängte, oft hoffnungslos dahinvegetierende große Gruppe von Menschen, der sich jedoch in eben dieser Periode der frühen Industrialisierung zum ersten Male eine dauerhafte Überlebenschance eröffnet.

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Innerbetrieblicher u n d sozialer Status der frühen Fabrikarbeiterschaft I Die folgenden Ausführungen über den innerbetrieblichen und sozialen Status der frühen Fabrikarbeiterschaft wollen keine Forschungsergebnisse im eigentlichen Sinne mitteilen, sondern eher eine Forschungsproblematik andeuten und zur Diskussion stellen. Sie beruhen nicht auf systematischen Arbeiten zu diesem Gegenstand, sondern setzen sich in ihrem empirischen Befund aus verstreutem Material zusammen, das im Laufe der Jahre bei anderen Arbeiten, etwa zur Sozialgeschichte des deutschen Handwerks um 1800 oder zu Fragen der Frühindustrialisierung in einzelnen Landschaften anfiel, in ihrer Problematik aber beruhen sie auf einer durch dieses Material herausgeforderten Auseinandersetzung sowohl mit einigen Standardthesen der älteren Sozialgeschichte wie auch mit den Auffassungen über den Charakter der frühindustriellen Gesellschaft, wie sie noch heute vorwiegend von Soziologen vertreten werden. Diese Auffassungen stimmen gewöhnlich darin überein, daß die hochindustrialisierte Gesellschaft, die in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts angesetzt wird, durch eine zunehmende Differenzierung der Arbeitswelt und der Arbeiterschaft gekennzeichnet sei, während die erste Epoche der Industrialisierung die Arbeiterschaft zunächst einem einheitlichen Schicksal, der Proletarisierung, unterworfen habe. Dahrendorf hat das, ältere Auffassungen zusammenfassend, auf die These gebracht: Auszug der Gelernten und Einzug der Ungelernten in der Frühzeit, dagegen Rückkehr der Gelernten und Auszug der Ungelernten in der zweiten Phase der Industrialisierung1, und Papalekas hat im Anschluß an Freyers Auffassungen die These formuliert, daß sich die industrielle Gesellschaft zunächst zur Klassengesellschaft hin und dann, von einem auch statistisch zu bestimmenden Zeitpunkt an, nämlich der relativ schnelleren Zunahme der Angestellten als der Arbeiter, von der Klassengesellschaft weg bewege2. Auch Theodor Geiger, dessen realistische Interpretation der sozialen Prozesse in der Industriegesellschaft wenigstens für Deutschland bahnbrechend gewirkt hat, hat die Auffassung von einer gegenläufigen Entwicklung in zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Phasen vertreten. „Die Industrie bedurfte in ihrer ersten Phase nur (Hervorhebung von mir) unqualifizierter, mechanischer Arbeitskräfte", heißt es bei ihm3. „Es ist bekannt, daß der Frühindustrialismus, namentlich im Textilfach, weitgehend die männliche Arbeit ausschaltete und statt dessen Frauen und Kinder bis hinab zu den Sechs- und Siebenjährigen beschäftigte." Und neuerdings hat Helmut Schelsky in einer Kritik an der Dahrendorfschen Reduktion der Klassentheorie zu einer allgemeinen analytischen Kategorie der

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Innerbetrieblicher und sozialer Status der Fabrikarbeiter

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Soziologie damit argumentiert, „daß die Klassenlehre eine geschichtlich eindeutige soziale Wirklichkeit" bezeichne und „daher zu beliebigen, aus wissenshypothetischen Annahmen erfolgten Umdefinitionen gar nicht mehr zur Verfügung" stehe4. Seinen eigenen Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" will Schelsky als antithetische Aussage verstanden wissen, die die „Umkehr einer behaupteten und vorhanden gewesenen (Kursiv von mir) Entwicklungsrichtung — Klassenspaltung und wachsende Klassenspannung —" feststelle5. Das sind nur einige Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen, so daß wir wohl mit Recht annehmen dürfen, daß sie die communis opinio der gegenwärtigen deutschen Soziologie darstellen. Der Grund für diese Auffassung von einer Gegenläufigkeit des sozialen Prozesses in den beiden, in ihrer Abgrenzung übrigens ebenfalls problematischen Phasen der industriellen Entwicklung scheint mir darin zu liegen, daß die zweite Phase im Gegensatz zur ersten empirisch recht gut erforscht worden ist6, während die erste noch immer eine terra incognita bildet, für die zeitgenössische, besonders die Marxschen Kategorien unbesehen verwandt werden, obwohl empirisches Material, wenn auch verstreut und oft „vorwissenschaftlich" erhoben, auch dafür zur Verfügung steht7. So konnte es zu einer Situation kommen, in der die Marxschen Prophezeiungen von der Entwicklung der industriellen Gesellschaft zu einem immer tieferen und auswegloseren Gegensatz zweier allein übrigbleibender sozialer Klassen allgemein als Irrtum erkannt sind, — wenn wir von politisch gebundenen Marxisten einmal absehen — seine Analyse der industriellen Frühzeit, deren Zeitgenosse er gewesen ist, hingegen von vielen Soziologen noch immer im wesentlichen als zutreffend angenommen wird. Zwar habe er das Entwicklungsgesetz der industriellen Gesellschaft nicht erkannt, wohl aber seine Zeit richtig gesehen. Wie es möglich ist, aus einer richtigen zeitkritischen Analyse so falsche Schlußfolgerungen zu ziehen, wird dabei übrigens selten gefragt. In dieser Situation stellt sich für den Historiker, dem es um eine sinnvolle Zusammenarbeit mit der Soziologie geht, die Aufgabe, die empirische Sozialforschung hinter die Gegenwart zurückzuführen und die Problemstellung der modernen Sozialwissenschaft auf Gebieten anzuwenden, die nur noch der historischen Methode zugänglich sind. Man könnte diese Aufgabe, in Umkehrung des Satzes, daß empirische Sozialforschung Sozialgeschichte der Gegenwart sei6, als „empirische Sozialforschung von der Vergangenheit" bezeichnen. Daß sie ihren Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit moderner soziologischer Analyse hat, mag auch erklären, warum die Problemstellung in soziologischer Terminologie statt in quellengerechter historischer Sprache formuliert worden ist. Der Begriff des „sozialen Status", der hier verwandt wird, scheint in der Tat wie selten ein sozialwissenschaftlicher Begriff geeignet, universal, d. h. nicht auf die moderne Gesellschaft beschränkt, angewandt zu werden. Er ist wertneutral, ideologisch nicht belastet, von keiner spezifischen historischen Situation abgeleitet, daher nicht situationsbedingt, sondern begreift die allen Gesellschaften 17*

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Die soziale Problematik der Industrialisierung

gemeinsame Tatsache, daß das gesellschaftliche Dasein des Menschen an einen bestimmten Ort gebunden ist, der im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft, in seiner Relation zu dem anderer Individuen oder Gruppen mindestens theoretisch bestimmt werden kann. Status bedeutet Standort in einem Ordnungsgefüge, bedeutet Teilhabe an einem Ganzen9. Unser Thema handelt somit vom Standort des Fabrikarbeiters in der frühindustriellen Gesellschaft und zwar einmal von der Fabrikarbeiterschaft insgesamt als sozialer Klasse oder Schicht in dieser Gesellschaft, zum anderen und vor allem aber von dem relativen Standort einzelner Arbeiter oder Arbeitergruppen im Sozialgefüge des frühindustriellen Fabrikbetriebes9a. II Für die Bestimmung dieses Standorts stehen uns nun freilich nicht die gleichen Mittel zur Verfügung wie dem empirischen Sozialforscher der Gegenwart, der sich die Quellen für seine Untersuchungen, wo sie nicht vorhanden sind, bis zu einem gewissen Grade selbst schaffen kann, indem er Fragen stellt, die zumindest das subjektive Bewußtsein der Betroffenen von ihrem Standort in der Gesellschaft oder im Betrieb herauslocken können10, der aber auch über eine Fülle von objektivem Material verfügt, das für die frühindustrielle Epoche nicht mehr vorhanden ist, zum größten Teil sogar nie existiert hat11. Wir haben es notwendigerweise in weit größerem Maße als der Gegenwartsforscher mit Bruchstücken zu tun, deren Zufälligkeit zudem außerordentliche Probleme für die Interpretation aufwirft. (Da dieses Problem jedoch aller historischen Forschung immanent ist, braucht hier nicht weiter darauf eingegangen zu werden.) 1. Andererseits hat der Historiker der frühindustriellen Gesellschaft einen Maßstab für den sozialen Status, der der entwickelten industriellen Gesellschaft fast gänzlich fehlt: den rechtlichen Status. Die grundlegende Tatsache, daß in fast allen vorindustriellen Gesellschaften der soziale Status rechtlich sanktioniert ist, wirkt in den Anfängen der Industrialisierungsepoche noch deutlich nach. Zwar wird man einschränkend sagen können, daß die soziale Wirklichkeit sich mehr und mehr von den noch aus älteren Zeiten gültigen rechtlichen Statusbestimmungen entfernt, aber aufgehoben werden diese erst relativ spät, im Preußen-Deutschland vor allem während der Reformzeit, dann wieder 1848, z. Τ. aber erst in den 1860er J ahren, als Gewerbe- und Koalitionsfreiheit Son­ derrechte von Arbeitgebern wie Arbeitnehmern aufheben und auch die Sozial­ ordnung des Bergbaus an die liberale Gesellschaft angepaßt wird12. Bis dahin gab es einen rechtlich einheitlichen Arbeiterstand nicht. Die Ursache von Unterschieden im rechtlichen Status der Arbeiter kann sehr verschiedener Natur sein. Da sind einmal diejenigen Industriezweige, in denen die Arbeiter als solche in rechtlich unterschiedene Klassen eingeteilt sind, etwa der Bergbau, der in Preußen Bergleute 1. und 2. Grades und Bergtagelöhner unterscheidet. Sie werden nach verschiedenen Grundsätzen entlohnt, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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haben unterschiedliche Anrechte auf Versorgung und Versicherung, die einen stehen unter Kündigungsschutz, besitzen aber keine Freizügigkeit, die anderen besitzen Freizügigkeit, Freiheit der Lohnfestsetzung, jedoch keinen Kündigungsschutz und nur minimale Versicherungen. Rechtliche Unterschiede dieser Art bestehen vor allem in Industriezweigen, die von Landesherren betrieben werden oder betrieben worden sind, in denen es Fabrikationsgeheimnisse zu wahren gibt oder deren Unternehmer selbst unter besonderen Privilegien arbeiten: im Eisenhüttenwesen, der Waffenfabrikation, der Porzellan- und Glasherstellung, auch der Papierfabrikation. Sie stammen fast sämtlich aus älteren Zeiten und verlieren im Laufe des 19. Jahrhunderts an Gültigkeit. Ähnliche Rechtsunterschiede zwischen Arbeitern in gleichen Betrieben entstehen dort, wo zunftgebundene und freie Arbeiter zusammentreffen. Auch diese Unterschiede verlieren im 19. Jahrhundert an Geltungskraft, aber fast nur in Preußen sind sie schon zu Beginn des Jahrhunderts aufgehoben. Beispiele sind die Papierfabriken, in denen die zünftigen Gesellen sich schon in der Kleidung von den bloßen Arbeitern unterscheiden, aber auch so wegweisende Industrien wie der Maschinenbau, in dem z. B. in Sachsen zünftige Gesellen nur mit Einweisungsschein ihrer Zunft arbeiten durften, was dazu führte, daß einzelne Zünfte wie die Schlosser, Schmiede und Tischler in den 1830er Jahren nicht nur über den „immer mehr überhand nehmenden Mangel an Gesellen" klagen, sondern ihnen auch diese Einweisungsscheine verweigern, damit also die Freizügigkeit der gelernten Arbeiter beschränken, während, ähnlich wie im preußischen Bergbau, die ungelernten solchen Beschränkungen nicht unterliegen13. Rechtliche Unterschiede, die mit der Stellung im Produktionsprozeß unmittelbar nichts zu tun haben, jedoch darauf einwirken, sind das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Bürger- oder Heimatrechts, was für das Ansässigwerden und Heiraten an einem Fabrikort entscheidend sein konnte, aber auch in den subtileren Fragen des sozialen Prestiges mitspielte. Fabriken, die Bürger oder Ansässige beschäftigten, genossen oft ein höheres Ansehen als solche, die mit Fremden und Heimatlosen arbeiteten, selbst wenn diese die beruflich höher Qualifizierten und besser Bezahlten waren. Aus dem 18. Jahrhundert wirkt auch noch die Tatsache nach, daß viele Manufakturen und frühe Fabriken Menschen minderen Rechts beschäftigten, solche, die nicht nur keine Bürger oder Rechtsverwandte waren, sondern als Armenhäusler, Waisen oder Zuchthäusler, auch als Soldaten unter besonderer Aufsicht der Obrigkeit standen. Schon dem rechtlichen Status nach finden wir also unter den Arbeitern eine weite Skala von verschiedenen Formen der Privilegierung, über die Fixierung auf einem Status quo, bis zur völligen Liberalisierung, aber auch der betonten Rechtsminderung. 2. Rechtliche Unterschiede hängen oft von der Herkunft der Arbeiter ab. Sie bringen ihren vorindustriellen Rechtsstatus in die industrielle Arbeitswelt mit. Dort mag er seinen Sinn einbüßen, auch seine praktische Wirksamkeit, nicht jedoch sogleich auch seine formalrechtliche Gültigkeit. Nun sind aber schon lange © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nicht mehr alle Unterschiede der Herkunft rechtlich fixiert. Es gibt vielmehr an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sehr viele soziale Gruppen, die sich rechtlich nicht mehr unterscheiden, wohl aber in ihrem Selbstverständnis, ihrer Ausbildung, ihrer Geltung bei anderen Gruppen, ihrem Berufskönnen und ihren Verdienstchancen. Auch diese Unterschiede gehen in die industrielle Arbeitswelt ein und werden in ihr ebensooft konserviert oder weiter ausgebaut wie eingeschmolzen. Ob ein Arbeiter ein ungeratener Sohn gutbürgerlicher Eltern, ob er ein nicht zu Rande kommender Handwerksmeister, ob er ein in seinem Beruf vorwärtsstrebender Handwerksgeselle, ein Nebenverdienst suchender Kleinbauer, ein bald in der Landwirtschaft, bald in der Industrie arbeitender Tagelöhner, ob er ein branchenkundiger ehemaliger Heimarbeiter oder ein entlassener Sträfling ist, das alles bestimmt nicht nur seine innerbetriebliche Stellung und Aufstiegschance, sondern auch sein Selbstverständnis und seine Fähigkeit zur Gruppen- oder Klassenbildung. Viele Industriezweige bevorzugen bestimmte Herkunftskategorien bei ihren Arbeitern. Das hängt meist mit den technischen Erfordernissen der Fabriken zusammen. Während die Maschinenfabriken überwiegend gelernte Handwerker brauchen14, nehmen die Hüttenwerke, aber auch die Bergwerke, soweit sie sich nicht mehr aus ihrem alten Arbeiterstamm rekrutieren können, gern kräftige Männer vom Lande, die sie anlernen. In der Textilindustrie, vor allem der Spinnerei, arbeiten hingegen bekanntlich neben ehemaligen Heimarbeitern zum großen Teil Frauen und Kinder. Hier werden auch, besonders im Manufakturstadium, die Insassen von Arbeits-, Zucht- und Waisenhäusern und Militärpersonen beschäftigt. Das läßt im 19. Jahrhundert beim Übergang zu eigentlichen mechanisierten Fabriken zwar nach, hört aber noch lange nicht ganz auf, und viele der frühen Fabrikunternehmer kasernieren nun von sich aus die für die Fabrikation gebrauchten und angeworbenen Arbeitskräfte, besonders die Mädchen vom Lande, mitunter aber, z. B. in St. Blasien und ähnlich abgelegenen Orten, den ganzen Arbeiterstamm einschließlich der Familien. Doch auch die Arbeiterscharen der Textilindustrie, die ja das Modell des industriellen Proletariats abgegeben haben, sind nicht von einförmiger Herkunft. Sie unterscheiden sich nicht nur nach der Art der Textilien — Wolle, Leinen und Baumwolle unterliegen gerade in der Frühzeit der Mechanisierung sehr unterschiedlichen technischen Bedingungen, die sich mit den sehr ausgeprägten Traditionen der einzelnen Zweige kreuzen — sondern innerhalb einer Gewebeart auch nach Produktionsstufen: Spinnerei, Weberei, Ausrüstung. Selbst bei der Baumwolle überwiegen nur in der mechanischen Spinnerei Frauen und Kinder. Im Schnitt, so kann man wohl sagen, stellen beide Kategorien hier je ein Drittel der Arbeitskräfte, die erwachsenen Männer aber immerhin ebenfalls ein Drittel15, und mit dem technischen Fortschritt nimmt die Kinderarbeit in der Spinnerei ab. Ganz anders ist die Arbeiterschaft der Webereien ihrer Herkunft nach einzustufen. Hier überwiegen fast überall die männlichen Arbeitskräfte, meist ehemalige Heimweber, die nun in den zentralisierten Produktionsstätten ihrer Verleger arbeiten, teils noch am Handwebstuhl, mehr und mehr jedoch an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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mechanischen Stühlen. Bei diesem Umstellungsprozeß von der Handweberei zur Fabrikweberei tritt ein Ausleseprozeß ein, der viel zu dem niedrigen Prestige der Textil-Fabrikarbeiterschaft beigetragen hat. Da nämlich zunächst die einfachen und groben Gewebe mechanisch hergestellt werden, gehen diejenigen Weber in die Fabrik, die feinere Arbeiten nicht leisten können. Die Elite der Weber arbeitet am Handwebstuhl und spezialisiert sich immer mehr auf diejenigen Gewebe, die dem Mechanisierungsprozeß noch nicht zugänglich sind16. Erst relativ spät, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, werden auch sie von der Mechanisierung betroffen. Ähnliches gilt übrigens auch für die Stickerei. Wieder anders sind die Kattundruckereien, Färbereien und Ausrüstungsbetriebe strukturiert. Hier herrschte schon im 18. Jahrhundert der zentralisierte Betrieb, die Manufaktur vor, die um die Wende zum 19. Jahrhundert dann mit der Erfindung des Rouleauxdrucks auf maschinellen Fabrikbetrieb umgestellt wird. Hier besteht der Kern der Arbeiterschaft sehr früh aus gelernten Männern, die man als Manufaktur- bzw. Fabrikhandwerkerschaft bezeichnen kann, weil sie, obwohl in zentralen Betrieben beschäftigt, doch alle Merkmale des Handwerks besitzen: Lehrzeit, z. Τ. Zünftigkeit, mindestens aber zunftähnliche Korporationen, Versicherungskassen, Standesbewußtsein. Oft arbeiten sie auch in der Manufaktur oder Fabrik noch auf eigene Rechnung, zumindest sind sie insofern selbständig, als sie die Hilfskräfte, die sog. Streichjungen, selbst bezahlen. Ihre Löhne sind daher oft Bruttolöhne, von denen die Löhne der Gehilfen und meist auch die Kosten für Materialien abgehen. Ähnliche Arbeitergruppen finden sich in fast allen Industriezweigen mindestens als Elitegruppen innerhalb einer größeren Arbeiterschaft, oft jedoch auch als der überwiegende Arbeiterstamm. Die Kleineisenindustrie, die Glasindustrie, die Papierindustrie wären andere Beispiele. Wie die Arbeiter selbst die Klassenschichtung innerhalb der Fabrik sahen, geht sehr anschaulich aus dem Urteil eines Mitglieds des Chemnitzer Maschinenbauvereins aus dem Jahre 1847 hervor. „Die Arbeiter auf Maschinenfabriken teilen sich in drei Klassen", heißt es hier. „Und zwar besteht die erste Klasse aus denen, welche durch ihre Profession auf den Maschinenfabriken unentbehrlich sind (Schmiede, Schlosser, Zeugschmiede, Drechsler und Tischler); in die zweite Klasse rechne ich alle die, welche keiner solchen Profession angehören, sondern einer anderen, die sich auf die Fabrik begaben, wo sie durch günstige Umstände, durch Emsigkeit und Talent sich eine Geschicklichkeit erwarben, die ihnen eine ehrenwerte Existenz sichert. Sie nennen sich Maschinenbauer und finden zwischen sich und der ersten Klasse keinen Unterschied, da ihrer Meinung nach ein Schlosser oder Tischler ebensowenig auf die Fabrik gehört, als ein Müller oder Strumpfwirker. Es gibt in dieser Klasse Leute aus allen Professionen: Müller, Formstecher, Spinner, Drucker, Bäcker, Fleischer, Weber, Strumpfwirker u. a., die sich meistens an der Drehbank befinden, zuweilen am Schraubstock und der Hobelbank, seltener am Feuer. Die dritte Klasse bilden endlich die Handarbeiter und Tagelöhner, die, wenn auch nicht die zahlreichsten, doch die ärmsten sind."17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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3. An diesem Beispiel läßt sich erkennen, daß die Unterschiede in der Herkunft oft schon durch die Unterschiede der Arbeitsfunktionen, der Ansprüche an Vorbildung und Können (Ausbildungserfordernisse), die an einem Arbeitsplatz in der Fabrik gestellt werden, bestimmt sind. Damit kommen wir zu dem für die Strukturierung der Fabrikarbeiterschaft wichtigsten Faktor. Könnte man gegen die Unterschiede, die vom Rechtsstatus oder der Herkunft herrühren, einwenden, daß sie wohl noch Geltung besessen haben, im Grunde aber anachronistisch waren und daher im Rückgang begriffen gewesen seien, so ist die Arbeitsfunktion für den innerbetrieblichen Status der Fabrikarbeiter schlechthin konstituierend. Auch heute geht ja fast jede betriebssoziologische Untersuchung von der Arbeitsplatzbeschreibung und -bewertung der Arbeiter aus, um die Bedeutung der Arbeitsfunktion für den Produktionsprozeß, aber auch für die innerbetriebliche Sozialordnung und für die Selbst- und Fremdeinschätzung der Arbeiter zu ermitteln. Für die Frühzeit der Industrialisierung können wir uns nicht auf ähnlich reiche Quellen stützen, schon weil die Arbeitsfunktionen in den Betrieben selbst viel weniger organisiert und systematisiert waren. Immerhin gibt es aber gewisse Anhaltspunkte. So verfügen wir für eine ganze Reihe frühindustrieller Betriebe über die Funktionsbezeichnungen der darin Arbeitenden. Wenn diese mit handwerklichen Berufsbezeichnungen zusammenfallen, so bedeutet das meist, daß es sich um Handwerker handelt, die in der Fabrik in solchen Positionen beschäftigt sind, für die das spezifische Können eines bestimmten Handwerks Voraussetzung ist, selbst wenn es allein nicht ausreicht und durch nur in der Fabrik selbst erlernbares Können ergänzt werden muß. Das ist am deutlichsten in den Maschinenbauanstalten, deren Arbeiter noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorwiegend Metall- und Holzhandwerker, Schlosser, Schmiede, Spengler, Dreher, Kesselschmiede, Tischler, Zimmerleute, Drechsler usw. sind, deren Vorbildung gebraucht und in der Fabrik vervollkommnet bzw. spezialisiert wird18. Eine der ältesten bekannten deutschen Maschinenfabriken, die von Georg Bodmer in St. Blasien, zählte bei ihrer Gründung am 1. August 1809 32 Arbeiter in 10 verschiedenen Kategorien, von denen nur die beiden letzten, jeweils mit einem Mann vertreten, als Hilfs- bzw. Nebenarbeiter-Kategorien bezeichnet werden können (1 Gärtner, 1 Handlanger). Alles andere sind Handwerker, davon 7 Meister, 12 Gesellen und 11 Lehrlinge. Nach Abschluß der ersten Aufbauperiode, am 1. Oktober des gleichen Jahres, zählt die Fabrik 74 Arbeiter in 20 Kategorien, 14 davon sind handwerklich, 6 für Nebenarbeiter. Der Ausbildung (und der Arbeitsfunktion) nach sind nun 12 Meister (= 1 6 % ) , 24 Gesellen (= 32 % ) , 24 Lehrlinge und 14 Nebenarbeiter. Wie bei allen Maschinenfabriken sind die Schlosser und Schreiner (mit 21 bzw. 16) am stärksten vertreten, aber auch Drechsler, Gießer, Zeugschmiede, Kupferschmiede, Nagler, Spengler, Feilenhauer, Mühlenmacher, Former und Zylinderüberzieher etc. braucht diese Spinnmaschinenfabrik, daneben die nun neu auftretenden Kategorien des Spinners und der Spinnerin19. Hier zeigt sich bereits im ersten Ansatz © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die ungemeine Differenzierung der Arbeitsfunktion, die die Fabrik (und in gewissem Umfang auch schon die Manufaktur) als arbeitsteilige Produktionsstätte gebracht hat. Gewiß ist sie in späteren Stadien der Industrialisierung sehr viel ausgeprägter, — so kennt etwa die Kruppsche Gußstahlfabrik einschließlich der Konsumanstalten im Jahre 1907 239 Arbeiter- und Angestelltenkategorien von dem Prokuristen, den Ingenieuren und Ärzten bis zu den Hausknechten, Lehrlingen und Laufjungen20 — doch führt von den Anfängen nach dorthin eine geradlinige Entwicklung, die nirgends durch eine Umkehrung des Trends — etwa vom ungelernten zum gelernten Arbeiter — gekennzeichnet ist. Auch in allen anderen Industriezweigen gibt es von Anbeginn den Industriehandwerker, der gewöhnlich an der Spitze der Arbeits- und Lohnpyramide steht. Selbst die Baumwollspinnerei hat mehrere scharf unterschiedene Funktionen. So beschäftigt etwa 1847 eine Chemnitzer Spinnerei Krempelmeister und Spinnmeister, Maschinenschlosser, Vorspinner, Feinspinner, Kremplerinnen, Weiferinnen, Andrehkinder und Tagelöhner. In einer Kattundruckerei der gleichen Stadt sind im selben Jahr außer den Aufsehern folgende Arbeiterkategorien verzeichnet: Graveure, Formenstecher, Drucker, Lehrlinge, Streichkinder, zwei verschieden entlohnte Kategorien von Handarbeitern (Tagelöhnern) und Mädchen über vierzehn Jahre21. Wichtig für unseren Zusammenhang ist nun, daß es sich bei dieser Differenzierung der Arbeitsfunktionen nicht um die Nebeneinanderordnung von Gleichgestellten handelt, die alle zusammen eine einheitliche Arbeitermasse gegenüber dem Unternehmer bilden, sondern zum großen Teil um den Ausdruck einer gestuften Herrschafts- und Kommandoordnung, die die Arbeiter in eine pyramidenähnlich geformte Betriebshierarchie eingliedert. Zwar gibt es durchaus nebengeordnete Funktionen, im Maschinenbau repräsentiert etwa durch die verschiedenen Werkstätten von der Gießerei über die Modellschreinerei, Schlosserei, Kesselschmiede bis hin zur Montage. Aber schon hier, wo Arbeitsfunktionen neben- bzw. nacheinandergeordnet, nicht aber hierarchisch abgestuft sind, gibt es eine ausgesprochene Prestigeskala, die weithin, aber nicht notwendig mit der Lohnskala zusammenfällt. Sie wird im wesentlichen bestimmt durch zwei Faktoren, den Seltenheitsgrad, den eine Arbeitergruppe besitzt, und den Schwierigkeitsgrad ihrer Aufgaben sowie die damit zusammenhängende notwendige Vorbildung, teilweise auch durch die vorindustrielle meist handwerkliche Werteskala. Denn auch das Handwerk kennt ja vornehmere und weniger vornehme Zünfte. Ähnliche Unterschiede finden sich in allen Industriezweigen, und je einliniger die Produktion ist, desto schärfer ist der Über- und Unterordnungscharakter jeder Arbeitsfunktion ausgeprägt. In jeder Fabrik, gerade in der Frühzeit, bilden die mechanischen Werkstätten bzw. die Arbeitergruppen, die die Maschinen in Gang zu halten haben, die Maschinisten, Monteure, Feuerarbeiter, oder wie immer sie heißen mögen, die Spitze der Lohn- und Prestigeskala und mehr: sie üben oft Weisungsbefugnis gegenüber den Arbeitern an den Maschinen aus. Doch auch diese bilden längst keine einförmige Masse. Nicht nur, daß es hier © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die ja allgemein anerkannten Meister- und Vorarbeiterfunktionen von allem Anfang an gibt, auch die Maschinenbedienungen selbst sind gegliedert. Gerade in der Frühzeit, in der nicht ein Arbeiter mehrere Maschinen, sondern mehrere Arbeiter eine Maschine bedienen, dominiert der Gruppencharakter der Arbeit, der seit langem von der modernen Betriebssoziologie als so entscheidend für alle innerbetrieblichen Arbeitsabläufe und Sozialstrukturen erkannt ist. Einer ist verantwortlich für das Funktionieren der Arbeitsgruppe, und er befehligt die ihm zugeordneten Hilfsarbeiter, Frauen und Kinder. In den Anfängen der Textilindustrie, besonders der Weberei, wird der Familiencharakter der Heimweberei vielfach einfach auf die Fabrik übertragen, auch wenn an die Stelle der eigenen Kinder vielleicht fremde treten22. Gegenüber der Außenwelt mögen diese Arbeiterscharen, wenn sie aus dem Fabriktor strömen, als graue, einförmige Masse erscheinen, — und da setzt ja auch Sozial- und Kulturkritik der industriellen Welt meist ein — im Innenraum der Fabrik sind sie diese Masse nicht, sind sie auch und gerade in der Frühzeit vielmehr ein sozial gegliederter Verband mit eigenen Rang- und Wertordnungen. Und diese Rang- und Wertordnungen nehmen sie auch nach draußen mit. Sie bestimmen weithin ihr soziales Verhalten. 4. Ehe wir aber diesem Zusammenhang von innerbetrieblichem und sozialem Verhalten näher nachgehen, muß noch auf ein weiteres Bestimmungsmerkmal für die betriebliche Sozialstruktur hingewiesen werden. Selten nämlich wird es möglich sein, aus zeitgenössischen Aussagen etwa, die Vielzahl der Arbeitsfunktionen und die Arbeitsbewertungen im einzelnen zu erfassen, obwohl auch diese Zeugnisse nicht ganz fehlen: Reise- und Visitationsberichte, auch Polizeiberichte, Briefe und Lebenserinnerungen liegen schon für die ersten Anfänge des Fabrikbetriebes vor, später sind vor allem die Berichte der Fabrikinspektoren wichtig. An einer Stelle jedoch können wir die hierarchische Gliederung eines Betriebes sehr genau fassen: an der Lohnskala. Neuere Arbeiten, besonders auch von marxistischen Forschern aus preußischen und sächsischen Archiven, haben eine Fülle von Lohndaten für die frühe Fabrikindustrie zutage gefördert. Zwar handelt es sich auch jetzt noch wie bei den schon länger bekannten Daten meist um unzusammenhängende Angaben, aus denen Zeitreihen nur schwer zusammenzustellen sind, für unsere Zwecke sind sie jedoch hervorragend geeignet. Denn sie geben für einen bestimmten Zeitpunkt und einen festumrissenen Ort, entweder einen Betrieb, oder verschiedene Betriebe einer Industriestadt, oder verschiedene Betriebe des gleichen Industriezweiges in einem bestimmten Land, die Breite der Lohnskala an. Zwar neigen auch heute die Wissenschaftler in Ost und West noch immer dazu, dieses Material sofort für statistische Zwecke zu denaturieren und die Skalen zu Durchschnittswerten zusammenzuziehen; immerhin bleiben aber immer noch Gruppen von Durchschnittslöhnen erhalten, und wo das Originalmaterial selbst vorliegt, kann man oft die ganze Lohnskala mit all ihren Verästelungen und feinen Abstufungen wiederfinden, wobei Kommentare manchmal gleich noch Begründungen für diese Unterschiede mitliefern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Das Ergebnis schlägt nun jeder Theorie vom einheitlichen Los der Arbeiterschaft glatt ins Gesicht. Daher seien einige Beispiele hier in aller Ausführlichkeit ausgebreitet. Von der staatlichen Porzellanmanufaktur in Meißen ist uns aus dem Jahre 1755 folgende Lohntabelle überliefert23. Jahreslöhne Meißener Porzellanarbeiter 1755 in Talern Akkordlöhner Watteaumaler Bataillenmaler Blumenmaler Miniaturmaler Landschaftsmaler

Festlöhner 377 333 241 223 191

72—264 Massearbeiter Brenner 84—156 60— 84 Verglüher Bossierer 108—192 Former 60—132 Dreher 84—120 Kapseldreher 48— 60 Hand- und Tagearbeiter 48— 60

Diese Tabelle zeigt einige interessante Züge. Zuerst fällt auf, daß die künstlerischen Stücklöhner im ganzen gesehen sehr viel besser gestellt sind als die Festlöhner. Doch reichen die bestbezahlten Bossierer an den Landschaftsmaler heran und die besserbezahlten Massearbeiter übertreffen ihn, die besten auch den Miniatur- und den Blumenmaler. Sodann fällt die Breite der Skala sowohl im ganzen wie innerhalb der einzelnen Gruppen auf. Bei den Akkordlöhnern verdient der Höchstbezahlte fast doppelt soviel, wie der Niedrigstbezahlte, bei den Festlöhnern erzielen die Besten das 5,5fache des einfachen Tagelöhners, Handarbeiters oder Kapseldrehers, ja selbst innerhalb einzelner Funktionsgruppen treten große Spannungen auf, bei den Massearbeitern von 1:3,66, bei den Formern von 1:2,2, bei den Brennern von 1:1,84. Insgesamt zeigt die Lohnskala des Betriebes vom Tagelöhner bis zum Watteaumaler ein Verhältnis von 1:7,87, Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse ein Menschenalter später, 1787, im Lagerhaus zu Berlin, einer ebenfalls staatlichen Wollmanufaktur. Hier reicht die Lohnskala von 78 Rtl. im Jahr für Hilfsarbeiten wie das Karren der Spanischen Tücher zur Walke, über 91 Rtl. für den Garnwäscher, 104—117 Rtl. für Appreteure, 187—234 Rtl. für Presser, 260 Rtl. für Walker, 460 bzw. 530 Rtl. für Färber bis zu 630 Rtl. für den ersten Werkmeister der Spanischen Tücher24. Bemerkenswert ist, daß der zweite Werkmeister der Spanischen Tücher und der Werkmeister der kleinen Zeug-Fabrik mit 384 bzw. 320 Rtl. sowie der Assistent des Werkmeisters (234 Rtl.) weniger erhalten als die beiden Spezialarbeiter in der Färberei. Das zeigt, daß man die Meister nicht unbedingt aus der Gruppe der Arbeiter herauszunehmen braucht, um ein realistisches Bild von den Lohndifferenzen zu erhalten. Tut man es dennoch, so verhält sich der Lohn des mindestbezahlten erwachsenen männlichen Hilfsarbeiters zu dem des bestbezahlten Facharbeiters wie 1:6,8; schließt man den Meister ein, so beträgt das Verhältnis 1:8. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Eine solche Lohndifferenz zwischen Arbeitern (und Meistern) dürfte wohl in jedem entwickelten Industrieland privatwirtschaftlicher Prägung selten geworden sein25. Sie beweist sehr deutlich, wie verschieden die Arbeitsfunktionen im Zeitalter der Frühindustrialisierung wirtschaftlich bewertet wurden, wie hoch ein technisch wahrscheinlich gar nicht so schwieriges Spezialkönnen bezahlt werden mußte, wie groß andererseits das Angebot an ungelernter und lernunfähiger Arbeitskraft gewesen sein muß, um Hilfsarbeiterlöhne anbieten zu können, mit denen man (nach einer Berechnung Horst Krügers) im Jahr zuvor (1786) täglich nicht mehr als 9,4 1 Roggen oder 6,9 1 Weizen oder 1,3 kg Rindfleisch oder 0,40 kg Butter oder 4 1 Milch kaufen konnte26. Doch nicht um die absolute Lohnhöhe geht es uns hier, sondern um die relative, um die Breite der Lohnskala, die die Differenzierung nicht nur in der wirtschaftlichen Lage, sondern sehr wohl auch in der sozialen Wertigkeit der Handarbeit im Manufakturzeitalter ausdrückt. Noch wertvoller sind solche Lohnangaben dort, wo sich aus ihnen nicht nur die Breite der Lohnskala ersehen, sondern auch die Häufigkeit der auftretenden Lohnsätze ermitteln läßt. Einen solchen Fall bietet die Kattundruckerei Benjamin Gottlieb Pflugbeil in Chemnitz für das Jahr 1784. Allerdings liegen hier nur die Durchschnittslöhne der einzelnen Berufsgruppen, genauer gesagt Beschäftigungsarten oder Funktionsgruppen, vor 2 7 . Danach wurden in der „Schreibstube" an Unternehmerlohn für die beiden Eigentümer Pflugbeil und Alberti und drei Handlungsdiener sowie einen Lehrjungen zusammen 800 Taler gezahlt, ohne daß der Anteil der einzelnen Kategorien bekannt ist. In der „Druekstube" erhielt der Aufseher 208 Taler, drei Formschneider je 260 Taler, also mehr als der Aufseher, 24 Drucker je 208 Taler, also das gleiche wie der Aufseher, neun Kattunglätter je 154 Taler, ein Tischler 130 Taler, vier Tagelöhner je 69 Taler 8 Gr. und 24 Streichjungen je 21 Taler 16 Gr. Die 38 in der „Malerei" Beschäftigten verdienten im Durchschnitt, einschließlich drei Aufsehern, 54 Taler 12 Gr. und die zwölf Färber und Bleichknechte „auf der Bleiche" im Schnitt je 78 Taler. Hier betrug also das Verhältnis des Verdienstes der Streichjungen zu dem der Formschneider 1:12 und auch das der am schlechtest bezahlten erwachsenen Arbeiter zu den bestbezahlten der Tagelöhner 1:3,75. Da wir in diesem Fall die Zahl der Arbeiter in den jeweiligen Beschäftigungsarten besitzen, ist es auch möglich, die Streuung der Löhne zu ermitteln. Schließen wir die Schreibstube aus, da darin die Unternehmerlöhne enthalten sind und ihre Verteilung auf die Eigentümer und deren Kommis nicht festzustellen ist, so haben wir bei 116 Beschäftigten eine Jahreslohnsumme von 11 327 Talern 8 Gr., im Durchschnitt also von 97,6 Talern. Fünf Arbeiterkategorien mit 38 Beschäftigten liegen also über und vier Arbeiterkategorien mit 78 Beschäftigten unter dem Durchschnitt, wobei 24 der unterdurchschnittlich Verdienenden jugendliche „Streichjungen" sind. Eine anschauliche Darstellung dieser Lohnverteilung ergibt folgendes Bild: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Abb. 1 Es zeigt, daß die größte Häufigkeit nicht etwa, wie das in ausgebauten Industriegesellschaften der Fall ist, bei den mittleren Lohnhöhen liegt, sondern daß diese mittleren Löhne, die nahe dem Durchschnitt liegen, relativ schwach besetzt sind, während die oberen und die unteren Extreme sehr viel häufiger auftreten. Der für die Manufaktur und frühindustrielle Periode oft beobachtete Gegensatz von hochbezahlter qualifizierter Arbeit und sehr niedrig bezahlter unqualifizierter Arbeit läßt sich an diesem Beispiel also sehr anschaulich quantifizieren. Nicht ganz so hoch lagen die Lohnunterschiede zur gleichen Zeit (1789) bei den Salinen in Halle. Sie reichen von einem Tagelohn von 1 Gr. 6 Pfg. für einen Zäpferknecht in der Saline Meteritz bis zu 6 Gr. täglich für einen Radetreterknecht am Gutjahrsbrunnen28. Während der eine sich dafür 2,6 1 Weizen oder 3 1 Roggen kaufen kann, erhält der zweite dafür 10,3 1 Weizen oder 11,7 1 Roggen. Im Vergleich zu den Löhnen in den Textilmanufakturen fällt zweierlei auf: einmal, daß sie absolut und in ihrer Kaufkraft beträchtlich unter deren Löhnen liegen, da der bestbezahlte Salinenarbeiter nur wenig mehr an realer Kaufkraft erhält als der unterste Hilfsarbeiter der Berliner Manufaktur, zum anderen, daß die Spanne zwischen dem schlechtest- und dem bestbezahlten Arbeiter nur 1:4 beträgt, was — gemessen an unserer heutigen Verdienstspanne — übrigens noch immer recht beträchtlich ist. Der Grund hierfür liegt wesentlich darin, daß die Salinenarbeit als traditionelle, durch Generationen in Halle ansässige und in den Familien vererbte Arbeit keine speziellen, schwer zu erwerbenden und ersetzenden Kenntnisse erforderte, daß sich die Arbeitsfunktionen vielmehr lediglich nach körperlicher Anstrengung oder dem Verantwortungsgrad unterschieden. Die absolute Niedrigkeit der Löhne ist auf die große © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Traditionalität dieser pfännerschaftlichen Salinen zurückzuführen, die jahrzehntelang ein Monopol besaßen und die Technik, die Arbeitsfunktionen und Löhne fast ein Jahrhundert nicht änderten. So galten die angeführten Löhne mit wenig Ausnahmen von 1670 bis 1789! Gehen wir von den Manufakturbetrieben zu den eigentlichen Fabrikbetrieben über, so ergeben sich wenig Veränderungen in der Breite der Lohnskala. Selbst in der Textilindustrie, die noch die einheitlichste von allen ist, zeigt sie sich. So reichen die Löhne in einer württembergischen mechanischen Spinnerei in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts von 8 Kreuzern für Zehnjährige, über 15 bis 16 Kreuzer für ältere Anknüpfkinder, 18—20 Kreuzer für jugendliche Spinnerinnen und 20—30 Kreuzer für Hasplerinnen bis zu 30—36 Kreuzern für Vorspinner und 50 Kreuzern bis 1 fl. für die Bedienung der Mule-Maschinen29. Das Verhältnis des geringsten zum höchsten Lohn beträgt somit 1:7,7. Läßt man die Kinder und jugendlichen Spinnerinnen weg, beträgt der höchste Lohn noch immer das Dreifache des niedrigsten. 1848 reicht die Lohnskala in einer badischen Kratzenfabrik von 18—24 Kreuzern für junge Mädchen und Burschen, 48 kr. für männliche Hilfsarbeiter und 1 fl. 24 kr. für angelernte Arbeiter bis zu 2 fl. für die Mechaniker und 3 fl. 20 kr. für den Werkmeister30. Das ist mit Einschluß des Meisters eine Spanne von 1:11, ohne ihn von 1:6,7. Hier ist wiederum die Verteilung der Löhne feststellbar. Die 28 Arbeiter der Kratzenfabrik verdienen, einschließlich des Meisters 43,8 kr. im Durchschnitt täglich. Sämtliche erwachsenen Arbeiter liegen über diesem Durchschnitt, der durch die 18 Jugendlichen nach unten gezogen wird. Diese hingegen verdienen nur knapp die Hälfte des Durchschnitts. Auch hier zeigt sich noch, daß die Extreme stärker besetzt sind als die mittleren Lohnstufen. Das Bild ändert sich sofort, wenn man die 10 erwachsenen Arbeiter getrennt betrachtet. Ihr Durchschnittstagelohn ist 1 fl. 24,8 kr., liegt also genau auf dem von zwei männlichen Arbeitern ohne besondere Qualifikationen. Fünf ihrer Kollegen liegen mit 48 kr. beachtlich unterhalb, der Werkmeister und die beiden Mechaniker beachtlich oberhalb des Durchschnitts. Eine sehr viel kontinuierlichere Lohnskala weist die Achatknopffabrik des gleichen Besitzers, Risler & Co., ebenfalls in Freiburg i. Br. auf31. Hier sind 32 Arbeiter in acht Lohnkategorien beschäftigt, die sich wie folgt tabellarisch darstellen lassen: 1 Mechaniker 1 Hafnermeister 4 Männer am Feuer 2 Hafnergesellen 3 Männer a. d. Maschine 2 Gehilfen

2 fl. 48 kr. 1 fl. 12 kr. 1 fl. 1 fl.

3 2 10 4

Tagelöhner junge Burschen Frauen Burschen zw. 12 u. 18 Jahren

43 kr. 43 kr. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

40 kr. 36 kr. 29 kr. (28-30) 27 kr. (24—30)

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Abb. 2 Der durchschnittliche Tagelohn aller Beschäftigten liegt hier bei 45 kr., also zwischen dem Lohn, den die Maschinenarbeiter und Gehilfen und dem, den die Tagelöhner beziehen. Alle Gelernten und Angelernten verdienen über dem Durchschnitt, die Ungelernten, die Frauen und jungen Burschen darunter. Diese Lohnskala mit ihrer Häufigkeitsverteilung zeigt bereits deutlich den Trend zur Angleichung der Löhne, wenn auch infolge des sehr hohen Mechanikerlohns die Extreme sich noch immer wie 1:7 zueinander verhalten. Kontinuierlich, aber weit auseinandergezogen ist auch die Lohnskala in zwei Chemnitzer Textilfabriken der gleichen Zeit, 1847, bei der uns allerdings die Zahl der Arbeiter in den einzelnen Lohnkategorien nicht bekannt ist, so daß wir eine Häufigkeitsverteilung nicht darstellen können32. In der Kattunfabrik verhielt sich der Lohn der Niedrigstbezahlten, der Streichkinder, zu dem der Höchstbezahlten, den Graveuren, wie 1:13, in der Spinnerei der eines Andrehkindes zu dem des Krempelmeisters wie 1:14 (Krempelkind: Maschinenschlosser = 1:6,2). Läßt man die Kinder und Meister außer Betracht, so beträgt das Lohnverhältnis von jugendlichen Arbeiterinnen und Facharbeitern in der Kattundruckerei 1:6,5, in der Spinnerei 1:3,3. Schaltet man © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Abb. 3

Lohnskala von Chemnitzer Textilfahriken 1847 (Durchschnittliche Wochenlöhne verschiedener Arbeiter- und Meisterkategorien. 1 Taler = 30 Neugroschen; 1 Neugroschen = 10 Pfennig) A) Kattundruckerei

B) Spinnerei

6 Tlr. 15 Ngr. Graveur zwei Aufseher der verschiedenen 6 Tlr.— Ngr. Branchen Formstecher 4 Tlr. 15 Ngr. Maurer, Schlosser, Zimmermann 3 Tlr. 22 Ngr. 5 Pfg. Drucker 3 Tlr. 16 Ngr. Handarbeiter (mehr befähigt) 3Tlr.— Ngr. Handarbeiter 2 Tlr. — Ngr. 1 Tlr. 12 Ngr. Druckerlehrling Mädchen über 14 1 Tlr. - Ngr. Streichkind — Tlr. 15 Ngr.

7 Tlr. — Ngr. Krempelmeister Spinnmeister 6 Tlr. — Ngr. Maschinenschlosser 3 Tlr. 5 Ngr.3 Pfg. Feinspinner 2 Tlr. 16 Ngr. Vorspinner 2 Tlr. 10 Ngr. Tagelöhner 2 Tlr. 4 Ngr. 6 Pfg. Weiferin 1 Tlr. — Ngr. Mädchen in der Krempelei — Tlr. 29 Ngr. Kind zum Andrehen gerissener Fäden — Tlr. 15 Ngr.

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auch die Jugendlichen aus, so verhält sich der Lohn eines ungelernten männlichen Handarbeiters ohne besondere Fähigkeiten zu dem des Graveurs in der Druckerei wie 1:3,25, der der erwachsenen Weiferin zu dem des Maschinenschlossers in der Spinnerei wie 1:3,2. Die Spanne zwischen ungelernter und gelernter Arbeit von Erwachsenen ist also in beiden Betrieben etwa gleich groß. Trotzdem zeigen, wie ein flüchtiger Blick auf die beiden Tabellen ergibt, die Betriebe beträchtliche Strukturunterschiede. Sie lassen sich wie folgt charakterisieren: a) Das gesamte Lohnniveau in der Druckerei liegt höher (weil sehr viel mehr gelernte Kräfte nötig sind). b) Die Lohnskala ist insgesamt in der Fabrik mit den höheren Qualifikationserfordernissen und der stärkeren Differenzierung, der Druckerei, sehr viel weiter, wenn man die Meisterpositionen der Spinnerei unberücksichtigt läßt. Doch selbst die Spinnerei als Modell der gleichmachenden Fabrik zeigt noch beträchtliche Lohnspannen zwischen Spinnern verschiedener Kategorien, Tagelöhnern und Weiferinnen (1:2,5). c) Während in der Spinnerei die Meisterfunktionen etwa das Doppelte einbringen wie die Funktion eines Facharbeiters (Maschinenschlosser) und fast das Dreifache der Position eines qualifizierten angelernten Arbeiters (Feinspinner), liegt in der Kattundruckerei eine Spezialarbeiterposition an der Spitze der Skala noch vor den Meistern. d) Bemerkenswert ist auch, daß der Lohn eines Facharbeiterlehrlings nicht nur über dem einer gleichaltrigen Hilfsarbeiterin in der gleichen Fabrik, sondern auch über dem einer erwachsenen Arbeiterin in der Spinnerei liegt. Das läßt deutlich auf eine besondere Knappheit von Druckern schließen, zumal im Handwerk in dieser Zeit durchaus noch das Lehrgeld, das der Lehrling seinem Meister entrichten muß, üblich ist. e) Arbeiter mit etwa gleichen Funktionen und Ausbildungserfordernissen verdienen in Fabriken verschiedenen Gesamtlohnniveaus unterschiedlich. Sowohl die männlichen Tagelöhner wie die ungelernten Frauen und Mädchen sind in der Druckerei besser bezahlt als in der Spinnerei. Das ist eine Erscheinung, die sich über alle Phasen der Industrialisierung bis heute offenbar im wesentlichen unverändert erhalten hat. Die genauesten Angaben über die Lohndifferenzierungen in einem Industriebetrieb, die wir aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besitzen, stammen aus den Lohnbüchern der Firma Krupp und sind von Richard Ehrenberg schon vor mehr als fünfzig Jahren in noch heute vorbildlicher Weise dargestellt und analysiert worden33. Obwohl Krupp die Mehrzahl seiner Arbeiter aus ungelernten Kräften, Landarbeitern, Kutschern, Gelegenheitsarbeitern usw. rekrutierte und erst im Betrieb selbst anlernte, zeigt sich auch hier sehr bald eine beträchtliche Differenzierung des Lohnes, die sich hauptsächlich aus der betrieblichen Funktion, zu einem geringeren Teil aus der Bereitschaft zu Überstunden, Sonderschichten, Nachtwachen einerseits, bzw. der Neigung zu Fehlschichten und Unregelmäßigkeiten andererseits erklärt. 1825, ein Jahr, ehe Alfred Krupp 18 Fischer, Wirtschaft

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in den Betrieb eintrat, den man noch kaum als eine Fabrik bezeichnen kann, waren zehn Arbeiter beschäftigt. Einer davon erhielt 6 Groschen am Tag, sechs 8 Groschen und drei gelernte Hammerschmiede 111/3 Groschen. Das Verhältnis des niedrigsten zum höchsten Lohn stand also bei knapp 1:2. Acht Groschen, der Verdienst der Mehrheit, war auch der ungefähre Durchschnittsverdienst aller Krupp-Arbeiter für die Jahre 1811 bis 1825. Im Jahre 1833 war er auf 9 Groschen gestiegen. Die Spanne blieb dieselbe, zwischen 6 und 11 Groschen, jedoch war der Verdienst der elf Arbeiter innerhalb dieser Spanne nun schon differenzierter. Es gab nicht mehr drei Lohngruppen, sondern sechs. Dazu kamen individuelle Zulagen für besondere Arbeiten wie das Heizen des Glühofens, das Ausziehen des Koksofens, die Bewachung des Zementofens oder das Putzen der Pferde, so daß sich der tatsächliche Verdienst noch weiter auseinanderzog. Den höchsten Jahresverdienst erreichte ein angelernter Feinschleifer mit 132 Talern 12½ Gr., der besondere Zulagen für Arbeiten auf dem Hammer in Altenessen erhielt und dessen Effektivlohn, das Arbeitsjahr mit 300 Tagen gerechnet, 13¼ Groschen täglich betrug. Ausdrücklich ist jedoch vermerkt, daß geschickte Facharbeiter, wenn sie dringend gebraucht wurden, weit höher bezahlt wurden, 1835 z. B. ein Hammerschmied mit 1 Taler am Tag. Krupp konnte sich solche Fachkräfte jedoch noch nicht als ständige Arbeiter leisten und entlieh sie sich meist bei einem der umliegenden Hüttenwerke, z. B. der Gutehoffnungshütte in Sterkrade. Bis zum Herbst 1844 war die Arbeiterzahl Krupps auf 128 gestiegen. Nun kann man eigentlich erst von einem Fabrikbetrieb sprechen. Nun zeigt sich aber auch sogleich eine sehr starke Auffächerung. Der niedrigste Tagelohn liegt noch immer bei 6 Groschen (1845 sogar bei fünf); er wird an zwei Mann bezahlt. Der höchste Tagelohn eines ständigen Krupp-Arbeiters ist jedoch auf 25 Groschen geklettert. Der Fächer hat sich also auf 1:4,2 ausgeweitet; 1845 sogar auf 1:5. Der Durchschnittslohn ist auf über 13 Groschen gestiegen (1844: 13,6; 1845: 13,3). 1845 liegen 48 der 115 Arbeiter, also 40%, über dem Durchschnitt.

Lohntabelle bei Krupp 1844 und 1845 Höhe des Tagelohns i. Groschen 5 6 7 8 10 11 12 13 14 15

Höhe des Anzahl der Arbeiter Tagelohns 1844 1845 \ i. Groschen 2 1 1 10 31 11 22 7 11

1 16 1 17 3 18 2 19—19½ 6 20 22 23 15 24 20 25 10 6

Anzahl der Arbeiter 1844 1845 5 6 7 6 8 10 4 1 4 3 1 1 2 — 1 1 128

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Innerbetrieblicher und sozialer Status der Fabrikarbeiter

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Abb. 4 Ehrenberg gibt dazu folgende interessante Erläuterung: „Die Meister und die anderen besten Arbeiter in den wichtigsten Stellungen bezogen 1844/45: 18—25 Groschen Tagelohn, die übrigen Facharbeiter, darunter schon manche bloß Angelernte: 13—17 Groschen, die gewöhnlichen Tagelöhner und die noch wenig Angelernten (Zuschläger in der Schmiede, Gußhauer, die meisten Schmelzer usw.) 10—12 Groschen, die ganz jungen Arbeiter 5—8 Groschen. Der Durchschnitts-Lohnsatz lag oberhalb der stärksten LohnsatzKlasse der niederen Facharbeiter (13 Groschen). Die mittlere der drei Hauptgruppen enthielt etwa 50 Arbeiter und war somit etwa ebenso stark als die der Tagelöhner und wenig Angelernten, welche nur 43—52 Arbeiter enthielt. Da unter letzterer nur wenige, oberhalb der ersteren aber noch 16—20 Arbeiter sich befanden, war die Skala nach oben verhältnismäßig stark differenziert, und zwar dienten vier Lohnsatz-Klassen als Ausgangs-Grundlagen dieser Differenzierung, die sich terrassenförmig auf ihnen erhob, nämlich die Stufen 10 bis 11, 13, 14—15 und 18. Es war eine ,aristokratische' Lohnsatzdifferenzie18* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Die soziale Problematik der Industrialisierung

rung; nur die unterste Gruppe, die der jugendlichen und schlechten Arbeiter, welche den normalen Lohnsatz erst zu erreichen strebten, gehörte dem ,demokratischen' Typus an."34

Abb. 5 Über die Wirtschaftskrise der späten vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts hat sich Krupp ebenso wie die meisten anderen Industriebetriebe nur mit Not gerettet. Als für unseren Zusammenhang interessantes Phänomen ist dabei zu beobachten, daß im Jahr des größten Niedergangs, 1848, die Durchschnittslöhne am höchsten liegen. Als plausible Erklärung gibt Ehrenberg an, daß in diesem Jahr nur die höher bezahlten Stammarbeiter behalten, die niedriger bezahlten Arbeiter jedoch größtenteils entlassen wurden35. 1850, am Beginn eines schnellen Aufschwungs, hat Krupp wieder 273 Arbeiter. Die Lohnsätze sind noch gedrückt. Sie reichen von 4 bis zu 22 Groschen, allerdings sind die niedrigsten Gruppen bis zu 9 Groschen nur sehr schwach besetzt, insgesamt mit neun Mann. Auch die höchsten Gruppen sind schwach vertreten, zwischen 19 und 22 Gro© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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schen verdienen nur sechs Mann, dann kommt jedoch bereits eine elf Mann starke Gruppe mit 18 Groschen. Weitaus am stärksten besetzt sind die Lohngruppen von 10—12 Groschen, nämlich mit zusammen 119 Mann oder 72% der Arbeiterschaft. Es zeigt sich eine starke Konzentration um und unmittelbar unter dem Durchschnittslohn von 11,8 Groschen. Der Grund hierfür ist die Einstellung zahlreicher neuer ungelernter Arbeiter, die fast alle zunächst gleichmäßig bezahlt werden. Im Verlaufe der Hochkonjunktur bis 1855 fächert sich diese Lohnskala jedoch sofort wieder auf, so daß sich auch der Durchschnittslohn erheblich hebt, nämlich auf 15,9 Groschen. Insgesamt sind nun 839 Arbeiter beschäftigt. Krupp ist ein Großbetrieb geworden. Mehr als die Hälfte dieser Arbeiter, nämlich 467, verdient nun 14 oder 15 Groschen; der niedrigste Tagelohn liegt noch immer bei 6 Groschen, der höchste ist jedoch auf 40 Groschen gestiegen, die Relation zwischen beiden beträgt also 1:6,6. Wir kommen damit in die Nahe der Werte, die wir für andere Manufaktur- und Fabrikbetriebe zwischen 1755 und 1848 gefunden haben. Bemerkenswert hierbei ist nicht nur die Tendenz zur verstärkten Differenzierung, sobald aus der Masse der Tagelöhner eine strukturierte Fabrikarbeiterschaft wird, und der ebenso deutliche Trend der Durchschnittslöhne dieser Arbeiterschaft nach oben, sondern auch die unterschiedliche Strukturierung der verschiedenen Werkstätten. Der für die Anfänge der Kruppschen Gußstahlfabrik wichtigste Teil des Betriebes, die Schmelze, in der meist ungelernte Arbeiter beschäftigt werden, weist die geringste Differenzierung auf. Hier sind 1850 92 % und 1855 83 % in den mittleren Lohnklassen beschäftigt. In der Hammerschmiede, wo zwar eine Zahl gelernter Leute gebraucht, überwiegend aber kräftige Zuschläger und Handlanger benötigt werden, ist der Prozentsatz 5 7 % bzw. 6 1 % ; in den mechanischen Werkstätten jedoch, wo auf Maß gearbeitet wird und jeweils bestimmte Berufsqualifikationen erforderlich sind, die zum großen Teil noch vom Handwerk übernommen werden, sind die oberen Verdienstgruppen sehr viel stärker vertreten, nämlich mit 51 bzw. 4 9 % gegenüber 45 bzw. 41 % in den mittleren und nur 4 bzw. 10 % in den niederen Lohnklassen. Die bestbezahlte größere Berufsgruppe bilden wie in jeder Maschinenbaufirma die Schlosser. Ihr Durchschnittslohnsatz liegt 1850 bei 15,7 Groschen und 1855 bei 18,2 also 3,9 bzw. 2,3 Groschen über dem Durchschnitt aller Arbeiter. Übertroffen werden sie nur von kleinen Gruppen von Spezialarbeitern, besonders den Löffel- und Goldwalzern, deren Zahl jedoch 1850 nur drei (gegenüber 13 Schlossern) und 1855 vier (gegenüber 88 Schlossern) beträgt. Doch auch innerhalb der Schlosserei tritt eine starke Differenzierung auf. 1855 verdienen drei nur 9 bzw. 10 Groschen, einer jedoch 40 Groschen, ein anderer 35 Groschen und zwei 30 Groschen. Die Mehrzahl, nämlich 52, liegt bei 14—18 Groschen. Eine genaue Aufstellung dazu gibt die folgende Tabelle über die Verteilung der Arbeiter in den verschiedenen Werkstätten auf drei Lohngruppen36. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Die soziale Problematik der Industrialisierung Lohnverteilung bei Krupp 1850—1855 (Anteil der Arbeiter in den Lohngruppen in Prozent)

Jahr Unterklassen Drei stärkste Klassen Oberklassen Insgesamt

Schmelzbau

Hammerwerk

Mechanische Werkstätten

Sonstige Betriebe

1850 1

1855 7

1850 5

1855 1

1850 4

1855 10

1850 4

1855 7

92 7 100

83 10 100

57 38 100

61 38 100

45 51 100

41 49 100

83 13 100

72 2t 100

Es ist hier nicht möglich, die Fülle der Daten, die Ehrenberg gibt, völlig auszuschöpfen und zu interpretieren37. Aus dem Gesagten sollte jedoch deutlich geworden sein, wie ein frühindustrieller Betrieb eine heterogene Arbeiterschaft aufnimmt, für einen Moment sozusagen als ungeformte Masse schluckt, sofort aber nach seinen eigenen Erfordernissen neu formt und prägt. Als Fremde, die zum ersten Mal vor dem Fabriktor stehen, mögen sie jenes graue Einerlei bilden, als das dem oberflächlichen Betrachter die Fabrikarbeiterschaft in ihrer Frühzeit so leicht erscheint. Schon nach wenigen Wochen aber sind sie es nicht mehr. Jeder hat eine bestimmte Funktion mit abgestuften Rechten und Pflichten bekommen; diese mögen wechseln, aber eine beliebige Austauschbarkeit ist nicht mehr gegeben. Der Betrieb selbst mit seinen sachlichen Notwendigkeiten dominiert und gliedert seine Arbeiterschaft in ein zwar wandelbares, zu jedem beliebigen Zeitpunkt jedoch auch festgegliedertes Ordnungsgefüge. Noch deutlicher zeigt sich die Differenzierung der Lohnarbeiterschaft naturgemäß, wenn man den Bereich eines einzelnen Betriebes verläßt und die Löhne verschiedener Industriezweige oder Beschäftigungsarten in einer Stadt oder einer Region zur gleichen Zeit ansieht. So reicht die Lohnskala in Halle a. d. Saale 1783 von 3 Gr. 6 Pfg. täglich für einen Wollspinner oder einen Chamelotte-Weber bis zu 24 Gr. für einen Weber spanischer Wolle. Der niedrigste und der höchste Tagelohn stehen also in einem Verhältnis 1:6,9, obwohl sie allesamt der textilen Heim- und Manufakturindustrie angehören. Berücksichtigt man den Sold eines gemeinen Soldaten, der mit täglich191/5Pfennig der am schlechtesten verdienende Einwohner Halles ist, so erhöht sich das Verhältnis auf 1:1538. Daß die Löhnung der Soldaten das bei weitem niedrigste Einkommen eines erwachsenen Mannes darstellte, ist auch aus ganz anderen Regionen berichtet. So sollen sechsjährige Heimarbeiterkinder in der Schweiz 1782 z. Β. 6mal soviel wie ein französischer Musketier verdient haben39. Nicht ganz so breit scheint die Lohnspanne in einer sehr früh industrialisierten Stadt wie Barmen gewesen zu sein. 1815 beträgt sie zwischen Kindern und Meistern 1:4. Arbeiterinnen und Gesellen bzw. männliche Arbeiter stehen mit 1,5—2,0 und 2,0—3,5 ziemlich genau in der Mitte zwischen beiden40. Da es sich bei den Angaben jedoch um Durchschnittslöhne der einzelnen Gruppen handelt, ist anzunehmen, daß die wirkliche Skala von einem Extrem zum anderen eben© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Innerbetrieblicher und sozialer Status der Fabrikarbeiter

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falls höher lag, da ohne Zweifel auch Differenzierungen innerhalb der Kinderund vor allem der Meisterlöhne vorkamen. In beiden Städten, Halle und Barmen, herrscht die Textilindustrie vor, deren Löhne seit jeher im Vergleich zu anderen Industrien relativ niedrig stehen, jedenfalls in sich geschlossener sind als die Löhne unterschiedlicher Erwerbszweige. Die Lohnskala für alle Arten von Handarbeitern festzustellen, ist für das von der Revolution bedrohte Baden im Frühjahr 1848 versucht worden41. Obwohl sein Territorium in sich recht unterschiedlich ist, vor allem die Lebensbedingungen und Preise im hohen Schwarzwald sich erheblich von denen in der Rheinebene unterscheiden, handelt es sich dabei doch um eine Region, die immerhin geschlossen genug ist, um einen gemeinsamen Maßstab zuzulassen, besonders wenn man sich, wie wir es hier tun wollen, dabei auf Oberbaden beschränkt. In der Lohnskala steht wie andernorts, etwa in der Schweiz, der Heimarbeiter bei weitem auf der untersten Stufe. Für Schwarzwälder Strohflechter werden Tagelöhne von 4—6 Kreuzern, bei feineren Arbeiten bis zu 20 kr. gemeldet. Dann kommen die Fabrikkinder, die etwa so gut wie die bestgestellten Heimarbeiter verdienen, nämlich 13—22 kr. am Tag (so in St. Blasien). Auch die jugendlichen Fabrikarbeiter zwischen 14 und 18 Jahren kommen nicht viel höher. Für sie werden Tagelöhne von 18—28 kr. gemeldet, die für junge Burschen von 16 bis 18 Jahren bis auf 32 kr. steigen können, ja bei als Weber in einer mechanischen Weberei beschäftigten Burschen und Mädchen zwischen 16 und 20 Jahren bis auf 42 kr. Erwachsene Fabrikarbeiterinnen erhalten 20—35 kr. Dann folgen die männlichen landwirtschaftlichen Arbeiter, für die ein Vergleich mit den Fabrikarbeitern exakt nur da möglich ist, wo sie Tageoder Wochenlöhne bekommen. Knechte und Mägde erhalten im allgemeinen Jahreslöhne mit Kleidung und Verpflegung, so daß ein Vergleich hier auf Schwierigkeiten stößt. Im Wutachtal verdienen männliche landwirtschaftliche Tagelöhner 35—39 kr., in Todtnau im Hochschwarzwald bis 48 kr., wobei jedoch betont wird, daß sie jährlich nur 240 Arbeitstage, Landarbeiterfrauen nur 140 Tage haben, während die Fabrikarbeiter im Jahre 280—290 Tage arbeiten können und sich schon deshalb besser stehen. Der landwirtschaftliche Bezirksverein errechnet, daß der bare Lohn eines Tagelöhners ohne Kost und Logis im Winter bis zu 30 kr. absinkt, im Sommer bei 36 kr. steht und zur Erntezeit bis 48 kr. ansteigt, für die Tagelöhnerin in gewöhnlichen Zeiten 24 kr., in der Erntezeit bei 36 kr. steht. Dabei handelt es sich um Durchschnittswerte in einem kleinen Bezirk, in dem die Tagelöhne von Ortschaft zu Ortschaft bis zu 50 % und mehr schwanken (von 24 zu 36 kr. bei männlichen, von 18 bis 30 kr. bei weiblichen Arbeitern). Am größten ist die Variationsbreite bei gewerblich tätigen erwachsenen Männern, sowohl in der Fabrik wie im Handwerk. Einfache Tagelöhner und die schlechtestbezahlten Handwerksgesellen, z. Β. die Schneider, Leineweber, Küfer, Sattler und Wagner, kommen auf nicht mehr als 30 bis 45 kr. am Tag ohne Kost und Logis, ungelernte Fabrikarbeiter im Akkord dagegen mindestens auf 50 kr., vereinzelt bis auf 2 fl. (120 kr.). Der gelernte Arbeiter verdient ebenso © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Die soziale Problematik der Industrialisierung

wie die Mehrzahl der Handwerksgesellen zwischen 50 kr. und 1 fl. 20 kr. (80 kr.) am Tag. Auch kleinere Fabrikmeister, wie z. Β. der Hafnermeister in der Rislerschen Knopffabrik oder die Meister in der Spinnerei in St. Blasien kamen nicht höher. Auffällig ist, daß innerhalb dieser Grenzen die meisten Handwerksgesellen mit Ausnahme der Steinhauer und Maurer, die allerdings Saisonarbeiter sind und im Winter meist verdienstlos, eher an der unteren Grenze, um 50 kr. liegen, während sie in der Fabrik viel öfter über einen Gulden verdienen können. Über 1 fl. 20 kr. liegen lediglich die Löhne der Spezialarbeiter in den Fabriken, besonders der Mechaniker, von denen Löhne zwischen 2 fl. und 2 fl. 48 kr. gemeldet werden. Über 3 fl. erhalten nur Meister in besonders verantwortlicher Stellung, die wir heute wahrscheinlich als Betriebsleiter bezeichnen würden, die aber damals als unselbständige Handarbeiter durchaus zu den „arbeitenden Ständen" zu zählen sind. Überblicken wir die Lohnskala dieser „arbeitenden Stände" in Oberbaden im Jahre 1848, so reicht sie in ihren Extremen, von den ärmsten Strohflechtern zu dem bestbezahlten Fabrikmeister von 4 kr. zu 3 fl, 20 kr. Das heißt, der Meister verdiente nicht weniger als das 50fache einer Strohflechterin. Schalten wir die beiden Extreme aus und beginnen mit dem Verdienst einer besseren Heimarbeiterin oder eines Fabrikkindes (15 kr.) und enden bei den bestbezahlten Spezialarbeitern, die sich nicht in Meisterstellung befinden (2 fl. 48 kr.), so beträgt sie immer noch 1:11,5. Selbst wenn wir Kinder und Jugendliche auf der einen Seite und die Spezialarbeiter auf der anderen Seite ausschließen und nur die Relation zwischen den Löhnen ungelernter erwachsener weiblicher Tagelöhner und gelernter, aber nicht außergewöhnlich qualifizierter männlicher Arbeitsleistung unterscheiden, finden wir eine Relation von 1:4, und innerhalb der Arbeit erwachsener Männer bei Ausschaltung der Meister- und Mechanikerfunktionen eine Spanne von 1:2,5, bei ihrer Berücksichtigung von 1:5 (landwirtschaftliche Tagelöhner: Fabrikmechaniker) bzw. 1:6,7 (landwirtschaftliche Tagelöhner: Fabrikmeister). Alle diese Beispiele über die Differenzierungen des Verdienstes der handarbeitenden Klasse zwischen 1780 und 1850 zeigen mit unübersehbarer Eindringlichkeit, daß es so etwas wie eine gemeinsame wirtschaftliche Klassenlage nicht gegeben hat. Gewiß können wir, wo wir die Häufigkeit der Verteilung der Lohne kennen, feststellen, daß sie sich mehr in den unteren Bereichen unserer Skalen verdichten, daß sie weithin Hungerlöhne waren und allein zum Erhalten einer Familie nicht ausreichten. Aber nicht darauf kam es uns hier an. Was wir zu zeigen beabsichtigten, war, daß die frühindustrielle Arbeitswelt sich sehr differenziert darstellt und daß sich diese Differenzierung im Verdienst der Arbeiter erkennen läßt. Differenzierung aber bedeutet, daß sie eine Struktur besitzt, nicht aus einer unförmigen, gesichtslosen Masse besteht, sondern ihre Mitglieder sehr fein voneinander abstuft. Das bedeutet aber zugleich, daß sie in sich Aufstiegsund Abstiegsmöglichkeiten besitzt, Zonen größeren und geringeren sozialen Ansehens und persönlicher Befriedigung. Gewiß sind es außergewöhnliche Einzelfälle, wenn ein Arbeiter selbst zum Unternehmer wird, aber innerhalb der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Arbeiterwelt hat er mannigfache Möglichkeiten, sich zu verbessern, und die Arbeiter-, Handwerker- und Sozialistenmemoiren berichten anschaulich davon42. 5. Bisher haben wir — mit Ausnahme der Darlegungen über die Kruppschen Arbeiter — eine rein statische Betrachtungsweise angewandt. Es kam darauf an, den Zustand zu Beginn der Industrialisierung an einzelnen Zeitpunkten möglichst genau festzuhalten. In einem zweiten Akt der Untersuchung, den wir hier nicht mehr in extenso durchführen können, müßte nun die dynamische Betrachtungsweise eingeführt und — für vergleichbare Fälle — die Entwicklung in der Zeit ins Auge gefaßt werden. Sehr wahrscheinlich würde sich dabei ein durchgehender Trend erkennen lassen in Richtung auf eine Verminderung der Lohnspannen, eine Nivellierung auf mittlerem Niveau bei sich gleichzeitig hebendem Gesamtniveau43. Damit würde sich an Hand der Lohnentwicklung zeigen lassen, was die Soziologen als das Bewegungsgesetz der entwickelten Industriegesellschaft identifiziert haben, daß nämlich die sozialen Unterschiede — bei allem Bestehenbleiben von sozialen Spannungen — sich abschleifen, die unteren schneller als die oberen, und daß der Begriff der nivellierten Mittelstandsgesellschaft das vorläufige Endergebnis trotz aller Kritik, die an diesem Terminus geübt worden ist, noch immer am besten trifft. Einen Hinweis darauf mag ein Vergleich der vier oben angeführten Lohnverteilungstabellen aus den Jahren 1784 bzw. 1844—48 mit einer heutigen geben, wobei freilich bemerkt werden muß, daß es sich nicht um mehr als einen Hinweis handeln kann, da zu einem strengeren Nachweis eine bessere Vergleichbarkeit der Betriebe und eine größere Regelmäßigkeit in den Zeitabständen erforderlich wäre. Wir bedienen uns dabei verschiedener Lorenz-Kurven, die die Verteilung der gesamten Lohnsumme auf die Arbeiterschaft darstellen. Wichtig daran ist, und damit komme ich auf meine eingangs geäußerte Kritik an gewissen soziologischen Theorien von einer gegenläufigen Zweistadienentwicklung der Industriegesellschaft zurück, daß sich dieser Trend offenbar von allem Anfang an findet, ja daß er in die Manufakturperiode zurückzuverfolgen ist. Das kann für den Historiker nicht überraschend sein. Ausgebildete Manufaktur und frühe Fabrik haben ja vieles gemeinsam, überlappen sich zeitlich, ja sind oft nicht zu unterscheiden, und für beide gilt, daß einem Überangebot an unqualifizierten, meist für die Zwecke der industriellen Arbeit kaum zu brauchenden Arbeitskräften ein permanentes Unterangebot an qualifizierter Arbeitskraft gegenübersteht. Das gilt nicht nur für solche Industriezweige, die es mit sog. Arcana zu tun haben, in denen nur Eingeweihte bestimmte Farbmischungen z. Β., oder Brennwerte des Porzellans oder was immer es sei, ken­ nen, sondern es gilt für die gesamte industrielle Arbeitswelt. In gewissem Sinne waren in der Frühzeit der Technik alle industriellen Techniken Arcana, und wer sie beherrschte, mußte hochbezahlt werden. Das hat schon Werner Sombart erkannt und sein Schüler Kurt Hinze für die preußischen Manufakturen des 18. Jahrhunderts nachgewiesen44, und ihre Ergebnisse sind seitdem vielfach bestätigt worden. Sie lassen sich mühelos auch auf die ersten zwei Drittel des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Abb. 6 19. Jahrhunderts ausdehnen. Besonders die jeweils die neuesten Techniken repräsentierenden Industriezweige sind von diesem permanenten Facharbeitermangel betroffen. Zwei mitteldeutsche Forscher haben das jüngst mit aller Deutlichkeit für den deutschen Maschinenbau des 19. Jahrhunderts ausgesprochen45. Wie die Lohnskalen mit ihren vielen feinen Abstufungen zeigen, wie auch jeder Bericht über die Arbeitsorganisation in einem frühindustriellen Betrieb lehren kann, bestand aber nicht nur dieser Gegensatz zwischen hochbezahlter und -privilegierter unentbehrlicher Fachkraft und der mit dem Existenzminimum oder weit darunter entlohnten Hilfskraft, sondern eine vielfach, wenn auch nicht kontinuierlich abgestufte Skala von Funktionen, Bewertungen und Entlohnungen, die es schlechthin verbietet, von der industriellen Arbeiterschaft als einer gleichförmigen Masse zu sprechen. Denn aus diesen Unterschieden in Arbeitsart, -bewertung und -entlohnung entspringen ja Unterschiede im Lebensgefühl, der Selbstachtung, der beruflichen Chance und des sozialen Status, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ein Gegengewicht bilden gegen den keineswegs zu unterschätzenden Trend, sich als Industriearbeiterschaft in gemeinsamer Klassenlage zu sehen. III Damit komme ich auf den Zusammenhang von innerbetrieblichem und gesamtgesellschaftlichem Status. Es kann wohl kein Zweifel bestehen, und es wird durch vielfältige Selbstaussagen der Arbeiter bestätigt, daß die Arbeiterschaft die innerbetriebliche Funktionsgliederung und -Hierarchie in ihr soziales Ordnungs- und Wertbild aufnahm und sich auch deshalb des Arbeitszusammenhangs danach einschätzte. Andererseits kann ebensowenig ein Zweifel daran bestehen, und Generationen von Historikern der Arbeiterbewegung haben es bestätigt, daß die industrielle Arbeiterschaft im Verlaufe des 19. Jahrhunderts sich in zunehmendem Maße als eine einheitliche soziale Klasse empfunden hat, die einem gemeinsamen Schicksal unterworfen ist. Wie klärt sich dieser Widerspruch auf? Er wäre leicht zu erklären, wenn wir mit Marx davon ausgehen könnten, daß die Arbeiterschaft ein falsches Bewußtsein von sich selbst entwickelt habe und nun umgekehrt argumentierten, daß das ihr von Marx oktroyierte das falsche gewesen sei, daß es in Wirklichkeit gar keine Arbeiterklasse gegeben habe. So leicht kommen wir indes nicht davon. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, daß der gesamte industrielle Sozialprozeß dialektisch verläuft, daß er zwei gegenläufige Trends in sich vereint, die sich aber gegenseitig nicht ausschließen, sondern nur zwei verschiedene Aspekte der gleichen Sache sind. Das hat schon Th. Geiger gesehen, wenn er z. Β. schrieb: „Aber die Entwicklung hatte einen Doppelverlauf in entgegengesetzten Richtungen."46 Und H. Schelsky hat es in anderem Zusammenhang unlängst bekräftigt, wenn er davon spricht, daß zwischen der sogenannten Integrationstheorie und der Konflikttheorie der industriellen Gesellschaft kein Widerspruch bestehe, sondern daß beide richtig seien, weil man diese Gesellschaft einmal von ihrer sozialen Schichtung, zum anderen von der Kategorie der Herrschaft her erfassen könne47. Eine ähnliche Trennung hat auch R. Dahrendorf in seinem Buch über soziale Klassen und Klassenkonflikt vorgenommen, inzwischen allerdings widerrufen48. Das, was dort für die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft ausgesagt ist, gilt aber auch für den historischen Prozeß: Dem Trend zur Vereinheitlichung, zur klassenlosen und nivellierten Mittelstandsgesellschaft, oder wie immer derlei unzulängliche Termini lauten, entspricht ein gegenläufiger Trend zur Differenzierung und Spezialisierung, so daß sich immer mehr Arbeitsfunktionen ausfächern, wobei sich die Unterschiede in der sozialen Bewertung, ihr Rang in der Prestigeskala, jedoch verwischen. Wir können daher die Arbeiterschaft der Industriezeit, auch der frühen, sowohl im Hinblick auf die sie zu einer Klasse vereinenden Momente, wie im Hinblick auf die diese Klasse wiederum strukturierenden sozialen Merkmale analysieren. Die bisherige Forschung scheint mir © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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viel zu einseitig in der ersten Richtung festgelegt zu sein. Nur so konnte jene Theorie von dem Zweistadiengesetz der industriellen Gesellschaft entstehen, die einer historischen Nachprüfung nicht standhält. Denn nur wenn man versäumt, für die Frühzeit der Industrialisierung die Untersuchung des zweiten, des differenzierenden und strukturierenden Aspekts nachzuholen, die die praktischen Sozialwissenschaften (angewandte Ökonomie und empirische Soziologie) seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für ihre jeweilige Gegenwart geleistet haben, kann der Eindruck entstehen, daß die Frühzeit der Industrialisierung einseitig zu einer Klassenvereinheitlichung hin tendiert habe. Darauf hinzuweisen und ein Stück dieses Versäumnisses gutzumachen, war die Aufgabe dieses Referates. Es gänzlich zu berichtigen, wird jedoch noch vieler Anstrengungen bedürfen, und es wird unabdingbar sein, auch andere soziale Schichten, Unternehmer, Angestellte, Handwerker etc., und die außerdeutschen, etwa die englischen, französischen, skandinavischen und nordamerikanischen Verhältnisse, in die Untersuchung einzubeziehen. Eine vergleichende Sozi algeschichte der frühindustriellen Welt, oder anders formuliert, eine historisch-soziologische Strukturanalyse dieser Welt, bleibt noch zu leisten.

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IV. D A S D E U T S C H E H A N D W E R K IM ZEITALTER DER INDUSTRIALISIERUNG

Q u e l l e n z u r Geschichte des deutschen H a n d w e r k s Drei große Quellengruppen stehen uns für die Sozialgeschichte des deutschen Handwerks zur Verfügung. Am reichhaltigsten ist die Gruppe der Zunftakten, die in vielen Archiven bis ins späte und vereinzelt bis ins hohe Mittelalter zurückreicht. Die Zunftstatuten bilden ihren Kern. Zunftbücher und -Inventare, Ratsprotokolle, Gerichtserkenntnisse, Chroniken und später die Verwaltungsakten der Landesherren kommen hinzu und ergeben zusammen eine fast unerschöpfliche Quelle zur Verfassung der Sozialverbände des Handwerks und der sie überwölbenden Genossenschaft der Stadtbürger. Ihr besonderer Geltungsbereich ist lokal meist eng begrenzt, aber der Vergleich sehr vieler solcher Zunftverfassungen läßt eine erstaunliche Gleichartigkeit der Probleme und Rechtsformen erkennen, so daß man durchaus typische Erscheinungsformen herausarbeiten und so die wesentlichen Merkmale der genossenschaftlichen Gewerbeordnung erfassen kann1. Die zweite, aus dunkleren Gründen der Sozialgeschichte kommende Quellengattung, ist das Brauchtum und Gewohnheitsrecht der Zünfte und Bruderschaften, dessen Ritus, Außenstehenden meist verschlossen, durch mündliche Überlieferung von Generation zu Generation weitergetragen wurde. Diese geheimnisvolle Sphäre, die nur in gelegentlichen Eruptionen an die Öffentlichkeit trat, wenn etwa ein geschmähter Handwerker den obrigkeitlichen Schutz gegen seine Handwerksgenossen anrief und die städtische oder landesherrliche Jurisprudenz mit dem Gewohnheitsrecht der Zünfte in Konflikt geriet, hat in einer sich aufklärenden Welt seit dem späteren 17. Jahrhundert eine dreifache Aufmerksamkeit gefunden: die politisch-juristische der sich staatlich verfestigenden Territorien, die das ungeschriebene, von den Begriffen der ständischen Solidarität und der Feme geprägte Gewohnheitsrecht der Handwerkerverbände gegen ihren absolut werdenden Anspruch auf Rechtshoheit gerichtet empfanden und ihn mit Polizeiordnungen, Dekreten und Gerichtsurteilen lebhaft bekämpften; die verehrend-nachahmende der spirituellen Geheimbünde, wie der Freimaurer und Illuminaten, die Verfassung und Riten schwärmerisch und oft ins Groteske ver-

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zerrt übernahmen; und die wissenschaftlich erforschende, die jene Sitten und Gebräuche als etwas Fremdartig-Interessantes empfand und aufzeichnete. Der Altenberger Conrektor Friese machte 1708 den Anfang2, die Romantiker erkannten in ihnen einen Quell echten Volkslebens3, und das 20. Jahrhundert schaut aus einer endgültig anders gewordenen Welt staunend und manchmal wehmütig auf seine eigene Vergangenheit zurück. Daß ein sozialdemokratischer Reichsminister, der selbst in seiner Jugend noch als Schlossergeselle gewandert ist, seine Lebensarbeit daraus macht, die alten Handwerksbräuche zu sammeln, ist wie ein Symbol der sozialen Wandlungen, deren Vollzieher und Zeugen die letzten drei Generationen gewesen sind4. Am wenigsten beachtet worden ist die dritte Gruppe, die freilich auch am spärlichsten fließt und deren Vorhandensein von vielfachen Zufälligkeiten abhängt: die autobiographischen Lebensberichte einzelner Handwerker und dem Handwerk nahestehender oder aus ihm hervorgegangener Autoren. Nur für den Zeitraum der Goethezeit sind sie bisher systematisch erforscht und für die Sozialgeschichte nutzbar gemacht worden5. Rudolf Stadelmann hat in der Einleitung zu seinem Buch über die Bildungswelt des deutschen Handwerkers der Goethezeit die Grenzen abgesteckt, innerhalb derer die Memoiren aus dem Handwerkerstande Zeugnis geben können von der Lebensform des Kleinbürgertums und seinen Wandlungen im Zeitalter der Aufklärung, der klassischen Bildungsbewegung und der aufkommenden Maschine. Gerade in der Zeit des Umbruchs, als die ererbten Gewohnheiten verlorengehen oder sinnlos werden, als neue Forderungen und Ansprüche an den Gewerbetreibenden herantreten, beginnen die Betroffenen stärker auf ihr Schicksal und ihre Vergangenheit zu reflektieren. Analysierende oder kritische, traurig sich erinnernde und stolz aufbegehrende Äußerungen werden laut und zeigen an, daß etwas anders zu werden beginnt im Sozialgefüge Europas, daß Welten einstürzen und neue Horizonte auftauchen. Naive Aufzeichnungen, die noch keine soziale Frage kennen, reichen weiter zurück, bis in die „Blütezeit" des deutschen Handwerks, in der jene Formen sich ausprägten, die um die Wende zum 19. Jahrhundert als „klassisch" und damit maßgebend erkannt wurden. Aber selbst bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus finden sich noch solche ursprünglichen Dokumente, die unreflektiert und gleichsam natürlich vom Leben des einfachen Handwerksmannes erzählen, wie er eine harte Lehre durchmacht, als junger Mann auf Wanderschaft zieht, halb Europa durchreist, um sich eines Tages in seiner Vaterstadt oder an einem günstigen Flecken, an dem ihm Auskommen und Bürgerschaft geboten wird, als Meister niederzulassen, eine Familie zu gründen und das erlernte Handwerk nach Altväter Weise zu betreiben, als Genosse unter Genossen, als Bürger unter Bürgern. Die frühesten Aufzeichnungen dieser Art stammen aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Es sind meist Briefe, die zufällig erhalten blieben und die davon zeugen, auf welch hohem Stande der Bildung und der Kommunikation einzelne Handwerker schon im späteren Mittelalter standen. Georg Steinhausen hat einige dieser Handwerkerbriefe in seinen Denkmälern der Kulturgeschichte ab© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gedruckt6, Briefe von Handwerkern an ihre Auftraggeber fürstlichen, geistlichen oder kaufmännischen Standes zumeist. Aber auch Handwerker untereinander kommen zu Wort, sei es, daß sie Rechtsstreitigkeiten auszufechten haben, sei es, daß sie in Geschäftsbeziehungen stehen. Familienbriefe aus dem 16. Jahrhundert hat Prof. Dr. Hölscher aus Goslar 1903 zum ersten Male veröffentlicht7. Drei schlesische Goldschmiede-Brüder schreiben an ihre Mutter, teilen ihre Familiensorgen und brüderlichen Zwistigkeiten mit und erbitten den elterlichen Segen. Ebenfalls aus dem Schlesien der Reformationszeit stammt die „Goldschmiedechronik" des Wolfgang Vincentz in Breslau, die zu den ausführlichsten, wenn auch in ihrer Entstehung undurchsichtigen Selbstzeugnissen des deutschen Handwerks gehört8. In ihrer ungewöhnlichen Gesprächigkeit steht sie in auffallendem Gegensatz zu ähnlichen Aufzeichnungen von Handwerkern, etwa den kargen Notizen des Buchdruckers Erhard Ratdold (1462—1523), der in wenigen Worten die wichtigsten Familienereignisse, Geburt und Hochzeit, Tod der Kinder und Taufe der Enkel mitteilt9, aber auch der späteren Hauschronik des sächsischen Kupferschmiedes Ludwig Kleinhempel (1612—1692), der zwar von Krieg und Elend, fürstlicher Pracht und hohen Ereignissen, aber nur wenig vom Handwerk und seiner Ausübung spricht10. Nur das lateinische Wanderbüchlein, das der Humanist Johannes Butzbach (1478—1526), der in seiner Jugend Schneiderlehrling und Klosterschneider gewesen war, ehe er auf dem Weg über den Laienbruder zum Benediktiner wurde, seinem jüngeren Bruder zur Mahnung geschrieben hat und das 1869 von Dr. D. J . Becker erstmalig in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde11, ist noch von ähnlicher Ausführlichkeit, wenn es auch über die Handwerkszeit, die nur eine Episode in dem Leben des vielerfahrenen Gelehrten war, schnell hinwegeilt, um das Leben in Schule und Kloster zu beschreiben. Erst der Hallische Barbier und Feldscher Johann Dietz (1665—1738) erzählt wieder mit gleicher Behaglichkeit von seinem Berufsleben, das durch abenteuerliche Unternehmungen als preußischer Feldscher in den Türkenkriegen in Ungarn und als Schiffschirurg beim Walfang im Eismeer gekennzeichnet ist, bevor es sich im ewigen Rechtsstreit mit der Hallischen Barbierzunft um die Niederlassung als Freimeister und dem Geplänkel einer unerfreulichen Ehe erschöpfte12. Mit dem badischen Schuhmacher Emanuel Groß (geb. 1618) beginnt die Reihe der Wandertagebücher, die bis in unsere Tage hineinreicht13. An ihnen lassen sich die geistigen Wandlungen der Zeiten und mit ihnen der Handwerkerzunft besonders deutlich verfolgen. Im 17. Jahrhundert sind diese Notizen noch ganz bestimmt von dem Eindruck des Fremden im Alltagsleben, das in stereotypen Wendungen lakonisch verzeichnet wird. „Treffliche" Menschen und „stattliche" Häuser begegnen in „großen", „wohlbevestigten" und „schönen" Städten. Wortkarg und unbeholfen und doch voll überraschender Anschaulichkeit und Drallheit im Ausdruck, beobachten diese wandernden Handwerksburschen im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges die Welt, notieren die Kuriositäten, die Lebensumstände und Speisezettel fremder Stämme, bemerken historische Ereignisse, geographische und politische Verhältnisse und finden dabei doch manchmal © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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in wenigen Worten das Wesentliche zu sagen. Ihre eigene Lage, die Mühen der Reise werden nicht beachtet, soziologische oder politische Reflexionen kennen sie nicht. Die Weit wird hingenommen, wie sie ist, mit königlichen Schlössern und Galeeren voller Sträflingen, mit Krieg und fürstlichen Festen. Selbst die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges finden kaum einen Niederschlag. Einzig die Religion ist Gegenstand nachdenklicher Betrachtungen, vor allem wenn die Wanderschaft in konfessionell andersartige Gegenden führt und der wandernde Gesell die Feindschaft und Abwehr der Konfessionsfremden zu spüren bekommt. Ein eindrucksvolles Zeugnis dieses Geistes noch im 18. Jahrhundert ist die Reisebeschreibung des schlesischen Weißgerbergesellen Klenner (geb. 1702 in Steinau an der Oder), dem die Zeit der konfessionellen Kriege noch so nahezustehen scheint wie seinem Landsmann Vincentz im 16. Jahrhundert und der gleich jenem einen handfesten Haß gegen alles Katholische nährt14. Selbst im beginnenden 19. Jahrhundert lassen sich noch viele Reminiszenzen dieser Art spüren und machen anschaulich, wie stark der konfessionelle Gegensatz die ganze neuere Geschichte im deutschen Volksbewußtsein durchzieht. Auch die romantischen Tagebücher des posenschen Leinewebers Benjamin Riedel (1785 bis 1870), der 1803 bis 1816 durch Mitteleuropa wandert15 und die besinnlichen Aufzeichnungen des Schweizer Gerbers Joseph Anton Stärkle (geb. 1828), der 1852—1854 Frankreich, Holland und Deutschland bereist16, kennen noch ähnliche Spannungen. Aber nun hat sich schon ein anderes Motiv in den Vordergrund geschoben. Die konfessionellen Gegensätze werden überdeckt von den nationalen. Der Schweizer findet manches Anstößige am Volkscharakter der Franzosen, während er in Holland auf eine eigentümliche Abwehr aller Fremden stößt und in Deutschland ein Mißtrauen gegen seine Schweizer Herkunft spürt, hinter der die nachrevolutionären Polizeibehörden noch immer das Aufrührerische und Umstürzlerische wittern wie schon zu Metternichs Zeiten, als Stärkles Handwerkskollege aus dem Rheinland, der flötenblasende Johann Eberhard Dewald (1812—1883), feststellen mußte, daß die Schweiz doch ein gefährlich Stück Boden zu sein scheine, da man ihn mit Militäraufgebot daran hinderte, dorthin zu wandern17. Dewald hat in seiner Begegnung mit Freiburger Studenten, die die fahrenden Handwerksgesellen als „deutsche Brüder" feiern, und mit italienischen Aufrührern das Erwachen des Nationalbewußtseins erlebt (1836—1838) und in endlosen Plackereien mit den Polizei- und Zollbehörden selbst ein gehöriges Maß von Widerwillen gegen den Unsinn der tausend Grenzpfähle gefaßt. Aber ehe er ähnlich wie der Hamburger Schneidergesell Michaelsen, der 1834 bis 1839 auf den Spuren der Freiheitskriege wanderte18, das Erwachen der deutschen Nation nachvollzieht, haben der thüringische Bäcker Christian Wilhelm Bechstedt (1787—1867) und der ostdeutsche Leineweber Benjamin Riedel die Voraussetzungen zu diesem Aufschrei nationalen Selbsterhaltungstriebes mitgemacht: die napoleonische Invasion. Mit Tausenden anderer Rheinbündler in Sachsen und Süddeutschland verfiel Bechstedt auf seiner Wanderschaft 1805 bis 1810 einem Franzosenkult und einem Eifer im Erlernen des Französischen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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daß ihn selbst die rauhe Zurückweisung bei seinem Versuch, von Straßburg aus nach Frankreich zu wandern, nicht beirren kann in der Verehrung und Nachahmung der grande nation und daß er es noch nach der Völkerschlacht von Leipzig als die größte Ehre empfindet, einem verwundeten Offizier der garde d'honneur als Pfleger und Dolmetsch dienen zu können19, während Riedel bei seinem Versuch, nach Rußland zu wandern, in die Hände der Kosaken gerät und in einer Weise von Instanz zu Instanz geschleppt wird, die an das bolschewistische Rußland erinnert. Spiegeln sich in diesen Wandertagebüchern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die großen Ereignisse der politischen Geschichte in ganz anderem Maße als in den Aufzeichnungen des 17. und 18. Jahrhunderts wider, so sind sie noch stärker überschattet von den sich ankündigenden sozialen Umwälzungen. Die vor der Französischen Revolution Geborenen und gelegentliche späte Nachfahren besitzen noch etwas von der Naivität ihrer älteren Standesgenossen, wenn sie wie Riedel an Gesellenaufständen und Zunftstreitigkeiten teilnehmen oder ungehindert durch ganz Europa bis in die Türkei, nach Palästina und Ägypten wandern, wie der sächsische Wagner Christoph Ernst Döbel (geb. 1805)20, auf die Gleichartigkeit und Selbstverständlichkeit der Sitten vertrauend, die dem wandernden Gesellen überall, wo sein Handwerk getrieben wird, entweder Arbeit oder Wegzehrung und Unterkunft garantiert. Die Generation Dewalds (geb. 1812) findet diese Selbstverständlichkeit erschüttert. Von seinem Vater weiß Dewald, was Brauch war im Handwerk, und er hat sich vorgenommen, die Lehren und Ratschläge zu beherzigen, damit er dem „Herrn Vater" keine Schande mache. Aber wenn er in die großen Städte kommt, wird sein Handwerksgruß kaum mehr erwidert. Die Meister sehen ihn als Bettler an, wenn er um ein „Zeichen" bittet, und die Gesellen kennen keine Solidarität mehr, so wie sie nicht mehr unter dem Dach des Meisters wohnen, bei dem sie ihr Tagewerk in großen Maschinensälen verrichten. Diese Maschinenarbeit aber, bei der man den ganzen Tag über das Gleiche verrichten muß und das Ganze dabei aus den Augen verliert, ist das Schlimmste. „Muß wohl in einer Fabrik solcherweis geschehen", notiert der fröhliche Wandergesell vom Rhein in Prag in sein Tagebuch, „kann mich aber nit darein schicken und mein immer, ich triebe mein Gewerb nur halb."21 Damit ist der große Wendepunkt bezeichnet. Dewald selbst hat ihn nur halbbewußt erlebt und bei allem Hängen am Hergebrachten sich doch im Grunde für das Neue entschieden. Denn so sehr er über den Verfall der guten alten Handwerksbräuche klagt, so wohltuend er auf der Rückkehr von Italien in Wangen und Ulm wieder empfindet, daß hier der alte Brauch noch gehalten und in Ulm sogar ein Stadtzeichen neben dem Handwerkszeichen gegeben wird, wie es dem Herrn Vater noch allenthalben begegnete, so unwiderstehlich zieht es ihn zu dem Neuen, zur Dampfmaschine und ihrer symbolischsten Ausprägung, der Eisenbahn. In Linz besteigt er zum ersten Male den „Dampfer" und empfindet das „wunderliche Gefühl, mit sausender Schnelligkeit dahinzufahren und Minuten für Wege zu brauchen, daran man wohl sonst einen halben Tag marschiert"22. Wenn es ihm auch nicht sehr er19 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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quicklich scheint, vom Rauch und Ruß des „Dampfers" überschüttet zu werden, so vermerkt er doch nachdenklich zu den Klagen eines Lohnkutschers um das schwindende Brot, daß auch das Neue „manchen Gewinn" habe, und als er auf dem Rückweg einen Abstecher nach Nürnberg-Fürth macht, um noch einmal jenes „wunderliche Gefühl" auszukosten, da ist der Kampf zweier Zeitalter im Herzen eines deutschen Handwerksmannes entschieden, und er stellt aufrichtig fest, daß er wohl schwerlich nach Belgrad und Dalmatien zu Fuß gereist wäre, hätte man überall schon solche „Dampfer" aufgestellt. „Wäre mir vielleicht manches verborgen geblieben, was ich zu gutem Nutzen kennengelernt habe. Wären mit aber auch die Füße geschont worden, was auch nit vom Übel ist."23 Streiten in Johann Eberhard Dewalds Brust zwei Seelen miteinander, so sind der Memeler Böttcher Karl Scholl (geb. 1801) und der Oldenburger Klempner Christian Mengers (geb. 1842) Anhänger der aken bewährten Sitte geblieben24, während der Schaffhauser Kupferschmied Johann Conrad Fischer (1773—1854) zu einem Wegbereiter des Zeitalters der Industrie wurde25. Scholl und Mengers verkümmerten im Leben und haben den Rückblick auf die ausgreifenden Wanderjahre mit der Wehmut dessen geschrieben, dem die Jugendträume zerronnen sind. Johann Conrad Fischer dagegen errang sich einen Bildungsstand und ein Selbstbewußtsein, das ihn mit den berühmtesten Gelehrten seiner Zeit in Korrespondenz treten und Kaisern und Königen mutig ins Gesicht blicken ließ, wenn er auch innerlich Handwerker blieb und sich noch als 81jähriger stolz als „seines Handwerks ein Kupferschmid und Glokengießer, und beeder Ehrsamen Handwerke Obmann" bezeichnete26. So stellt er den Prototyp des Handwerkers dar, der aus den traditionellen Gewerbeformen ohne Bruch in das Zeitalter der Industrie übergeht, in das er die besten Tugenden seines Standes, Gewissenhaftigkeit, Fleiß und solide Werkmannsarbeit, überträgt. Von Johann Conrad Fischer führt eine gerade Linie zu den vielen Unternehmern, die aus dem Handwerk stammen und der modernen Industrie vor allem das Gepräge des solide geführten Mittelbetriebes gegeben haben. Gleich Fischer hat der Münchener Elektrotechniker Alois Zettler, der Begründer der gleichnamigen Firma, auf seiner Wanderschaft ein Tagebuch geführt, das vor kurzem veröffentlicht wurde27. Andere wie der Orgelbauer Oscar Walcker, der Brauer Josef Wild, der Karosseriebauer N. Trutz und die Buchdrucker Hermann Smalian und Bruno Metzel haben Lebenserinnerungen hinterlassen, in denen der Aufstieg vom wandernden Gesell zum selbständigen Fabrikanten oder der Gegensatz hergebrachter und rationeller Arbeitsmethoden eindringlich geschildert wird28. Soziologisch bewußtere Darstellungen des revolutionären Umbruchs im Sozialgefüge des Handwerks hat eine Gruppe von Gelehrten und Schriftstellern gegeben, die aus dem Handwerk kamen, meist selbst einen handwerklichen Beruf erlernten und erst in späteren Jahren in die Bildungsschicht und die produktive Literatur eintraten. Ihre Reihe reicht zurück bis zu Karl Philipp Moritz (geb. 1756), Heinrich Jung-Stilling (geb. 1740) und Uli Braeker (geb. 1735), ja im Grunde bis zu Johannes Butzbach, dem wandernden Scholaren und Schnei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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der um 1500. Die drei vom Pietismus mehr oder weniger geprägten Gestalten des 18. Jahrhunderts haben in der Literatur eine gewisse Berühmtheit erlangt. Karl Philipp Moritz als Begründer des psychologischen, autobiographischen Romans 29 , der dem Wilhelm Meister zum Vorbild diente, Heinrich Jung-Stilling als hervorragender Vertreter der Bekenntnis- und Bekehrungsgeschichte30, Uli Braeker als das urwüchsige, übersprudelnde Erzählertalent der Geniezeit31. Alle drei haben an ihrer geringen Herkunft und den gedrückten Lebensverhältnissen gelitten, das erlernte Gewerbe als beengende Last empfunden und lange mit dem Schicksal gehadert, das ihnen den Weg in die erstrebte Welt der Literatur, des Theaters und der Wissenschaft so elend erschwerte. Alle drei sind daher selbst wenig symptomatisch für die kleinbürgerliche Normalwelt, in die sie hineingeboren waren, aber als Schriftsteller haben sie diesen Lebenskreis in scharfen Umrissen gezeichnet, und wenn auch Jung-Stillings Darstellung stark stilisiert ist und Uli Braeker mehr in der kleinbäuerlichen als -bürgerlichen Sphäre zu Hause war, so hat doch Karl Philipp Moritz in seinem Lehrherrn Lohenstein das Charakterbild eines pietistischen Kleinbürgers gegeben, das in der Literatur kaum ein Gegenstück findet. Die Lebenserinnerungen der echten Kleinbürger Händler, Sachse und Steube wirken dagegen blaß, wenn auch Goethe zweien von ihnen seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, am stärksten noch die Erzählungen des Nürnberger Schneiders Händler (geb. 1744), der noch manche typischen Zunftbegebenheiten erlebt hat, vor allem die Gesellenausstände und die Plackereien um die Zulassung zum Meisterrecht32. Peter Proschs amüsante Erzählungen von den süddeutschen Höfen und einem lustigen Wanderleben als Handschuhhändler und Spaßmacher sind hingegen zu sehr die Erzeugnisse eines originellen Tiroler Bauernburschen, um für die Sozialgeschichte des handwerklichen Kleinbürgers ergiebig zu sein33. Das Problem Karl Philipp Moritz' und Jung-Stillings wird besonders drastisch angegangen in dem 1790 anonym erschienenen Büchlein „Handwerksbarbarei oder die Geschichte meiner Lehrjahre"33a. Sein Verfasser, der Reallehrer Johann Gotthilf August Probst (1759—1830) hat als Waise eines Seilermeisters in Halle das Seilerhandwerk erlernt und die Wahrheit des Wortes „Lehrjahre sind Leidejahre" von seinem cholerischen Lehrmeister mit grausamen Stockschlägen eingebleut bekommen. Als er sich dann nach vergeblicher Bemühung um das Meisterrecht durch die Vermittlung Jung-Stillings eine Lehrerstellung erarbeitet hatte, versuchte er seine aufgeklärten Zeitgenossen auf die „Barbarei" aufmerksam zu machen, mit der die in ihrer Mitte lebenden Handwerkslehrlinge behandelt werden. Sein Schicksal mag besonders hart gewesen sein. Aber ein Menschenalter später nimmt Karl Friedrich Klöden (1786—1856) das gleiche Thema gerechter abwägend, aber nicht minder realistisch noch einmal auf34. Klöden, der arm geborene Nachkomme einer märkischen Adelsfamilie, dessen Vater der strengen Zucht entflohen, als Gemeiner in preußische Heeresdienste eingetreten und seines Adels verlustig gegangen war, ist in der Dürftigkeit einer friderizianischen Unteroffiziers- und kleinen Beamtenfamilie aufgewachsen, hat dann in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in Berlin das 19*

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Goldschmiedehandwerk erlernt und ist später über den Graveur und Guitarrespieler zum Kartenzeichner aufgestiegen und schließlich über ein außergewöhnliches Studium zum Begründer der preußischen Gewerbeschulen geworden. Seine Jugenderinnerungen zeichnen sich durch eine geradezu unheimliche Genauigkeit aus, mit der sie alle Einzelheiten eines gedrückten Daseins aufzeichnen, und es gibt kaum eine Quelle, die schonungsloser und doch ganz unsentimental das Elend des Handwerkslehrlings schildert, so sehr auch von Butzbach bis zu Karl Fischer gerade dieses Thema in vielen Handwerkermemoiren immer wieder durchbricht. Daß es freilich auch eine andere Form der Lehre gab, in der dem werdenden Mann Zeit zum Lernen und Reifen blieb, bezeugt Goethes Duzfreund Karl Friedrich Zelter (1758—1832), der Sohn eines Berliner Maurermeisters, der selbst beim Vater das Maurerhandwerk erlernt hat und daneben vielfache musikalische Übungen trieb sowie Beziehungen zum Theater unterhielt. Seine beiden autobiographischen Aufzeichnungen35 machen deutlich, wie eng die Welt des Handwerks mit der klassischen Bildungswelt verbunden sein konnte, wie nahe Potsdam und Weimar, als die beiden Pole deutschen Geistes, im Grunde sich standen. Indem er als Maurermeister mit den ersten Geistern seiner Zeit befreundet war und neben seiner Tätigkeit als Komponist und Organisator des Berliner Musiklebens ein Baugeschäft leitete, überbrückte er für seine Person scheinbar schroff getrennte Lebensräume, so wie sein Vater als gebürtiger Sachse zu einem begeisterten Verehrer Friedrichs des Großen und zu einem Künder preußischer Pflichtauffassung geworden war. Ähnlich wie Klöden und Zelter sind in der Goethezeit zahlreiche Künstler aus dem Handwerkerstand in die produktive Bildungswelt aufgestiegen, von denen freilich nur wenige noch den Weg über eigene Lehre und Handwerksausübung nehmen mußten; die meisten entwuchsen schon als Kinder ihrem kleinbürgerlichen Lebenskreis durch Schulbesuch und Akademiestipendien. Ludwig Tieck, Johann Heinrich Voß, Johann Gottfried Seume und Gottfried Keller sind die bekanntesten unter den Dichtern, F. W. Gubitz, J . B. Pflug, J . W. Schirmer und Ernst Rietschel bildende Künstler, die ihren Aufstieg selbst geschildert haben36. Von den Volksschriftstellern des späteren 19. Jahrhunderts haben vor allem Peter Rosegger und Heinrich Hansjakob von der bäuerlichkleinbürgerlichen Umwelt ihrer Heimat erzählt37 und nach ihrem Vorbild manche Schwächeren ihren Lebensweg „für die reifere Jugend" im Gartenlaube-Stil aufgezeichnet38. Kritischer und distanzierter betrachten die mehr soziologisch gerichteten Schriftsteller Karl Scheffler, August Winnig, Paul Ernst und Walter Hofmann ihre eigene Vergangenheit39. Während Paul Ernst aus der Welt des Harzer Bergmanns stammt, haben Scheffler, Winnig und Hofmann selbst ein Handwerk gelernt in einer Zeit, in der es zum Untergang bestimmt schien und in der vielfache Aufstiegsmöglichkeiten den Absprung vom sinkenden Schiff gestatteten. Der Hamburger Karl Scheffler ist Malergeselle gewesen, August Winnig war Maurer, Walter Hofmann, ehe er auf dem Wege über die Kunstschule in das Volksbibliothekswesen hineinwuchs, Graveur. Alle drei zeichnen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ein stark reflektiertes, wissenschaftlich darum besonders wertvolles, aber der ursprünglichen Naivität des bloßen handwerklichen Daseins entfremdetes Bild ihrer Umwelt und deuten die charakteristischen Wandlungen an, die in dieser kleinbürgerlichen Sphäre sich im späteren 19. Jahrhundert vollzogen. Der Sozialdemokrat August Winnig stellt die Verbindung dar zu einer anderen Gruppe aus dem Handwerk stammender Männer, die in besonderer Weise die Geschicke der handarbeitenden Klassen in die Hände genommen und dadurch auch politische Geschichte gemacht haben: die Sozialdemokraten und Gewerkschaftler, die den Schraubstock und die Drehbank mit dem Parteibüro und der Rednertribüne vertauschten, um schließlich als Abgeordnete, Minister und Präsidenten das deutsche Volk zu vertreten. Stephan Born, der jüdische Schriftsetzer und Organisator der ersten deutschen Gewerkschaft, der im Berlin der 48er Revolution eine hervorragende Rolle spielte, steht am Anfang. August Bebel, Philipp Scheidemann, Carl Severing, Wilhelm Keil und Paul Löbe folgen ihm auf der parteipolitischen Seite40, Karl Schirmer als Mitbegründer der christlichen Gewerkschaften auf der sozialpolitischen41. Aber auch ein Mann wie der hamburgische Drechslermeister Johannes Hirsch ist hier zu nennen, der zwar ein entschiedener Gegner der Sozialdemokratie, aber als linksliberaler Abgeordneter und hamburgischer Senator ein ebenso würdiger Vertreter des Handwerkerstandes im modernen parteipolitischen und parlamentarischen Leben war42. Sie alle machen sich zum Sprecher einer Klasse von degradierten Handarbeitern, deren Lebensschicksal in den „Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters" einen klassischen Ausdruck gefunden hat43. Diese Memoiren des 1841 geborenen Bäckergesellen Karl Fischer, der in die Mühlenräder der werdenden Industriegesellschaft gerät und weder die handwerkliche Fertigkeit noch die charakterliche Stärke besitzt, sich aus ihnen zu befreien, bilden einen Abschluß und Neubeginn zugleich. Noch einmal leuchtet in aller Schärfe das Elend der handwerklichen Lehrzeit alter Prägung auf. Noch einmal tut man einen Blick in die absterbende Welt, in der Tradition alles, persönliche Initiative und Leistung fast nichts gelten. Aber gleich darauf wird der Schritt getan in die namenlose Masse des Industriezeitalters, in der keiner den anderen kennt und die Menschen wie Sandkörner hin- und hergeweht werden. Karl Fischer hat bald nach Beendigung der Lehrzeit den gehaßten Bäckerberuf verlassen und ist unter die Erdarbeiter gegangen. Dann hat er in Stahlwerken und in Eisenbahnwerkstätten gearbeitet, aber nirgendwo ist er in die tragende Schicht einer Berufskorporation hineingewachsen, immer blieb er ein anonymes Rad am großen Wagen der Industrie, der über ihn hinwegrollte, indem er sich seiner bediente. Karl Fischer hat dieses Schicksal noch ganz naiv und unverstanden auf sich genommen und treuherzig davon berichtet; der sehr viel jüngere Dreher Eugen May (geb. 1887), der seinen handwerklichen Beruf schon ganz in industrieller Arbeitswelt ausübt, gehört hingegen zu jener aufbegehrenden, selbstbewußten Arbeiterschicht, die die sozialistische Bewegung groß gemacht hat, indem sie das Bewußtsein pflegte, daß in ihren starken Armen das Schicksal der Welt ruhe © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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und daß sie allein vermöchte, die Räder der modernen Wirtschaft in Gang zu halten oder stillzulegen. Sein Lebenslauf, voller Ressentiments und Anklagen, ist bezeichnenderweise innerhalb einer soziologischen Untersuchung, die den Lebensraum des Industriearbeiters zum Gegenstand hat, erschienen44, und am Schluß kündigt sich an, wie der erst 33jährige Autor sich aus den Fesseln der Abhängigkeit befreit und selbst zu einem kleinen Unternehmer in einem ruhigen Schwarzwalddorf wird. Aber es gibt noch ein anderes Zeugnis, zwei Menschenalter früher, das den gleichen Prozeß noch ungetrübt von Klassenkampfgedanken im Lichte christlicher Erbauung darstellt. Carl Neumanns Aufzeichnungen, von seinem Schwager, einem Pfarrer, veranlaßt44a, sind ein fast ideal-typisches Beispiel für die Veränderungen, die die Sozialstruktur durch die Industrialisierung erfuhr: Der Sohn eines „Geheimen Kammer-Kanzlisten", der frühzeitig Halbwaise geworden ist, lernt aus Not bei einem Onkel das Schreinerhandwerk, findet auf der Wanderschaft in einer kleinen Stadt Frau und Meisterschaft, übernimmt vom Schwiegervater ein verschuldetes Haus mit einem kleinen Geschäft, das ihn kaum ernähren kann und das er verliert, als er sich mit den Gewaltigen des Ortes überwirft. Seinen Besitz aufgebend, verläßt er das verschlafene Städtchen, mietet sich mit seiner Familie notdürftig in einer sächsischen Fabrikstadt ein, beginnt in einer Zuckerfabrik als Rübenverlader und Laufbursche, wird Unteraufseher und schließlich in einer anderen Fabrik Werkstischler. Als die Fabrik vergrößert werden soll und ein neues Bandwerk einzurichten ist, erhält er Gelegenheit, sich selbständig zu machen und im Kontrakt für beide Fabriken zu arbeiten. In wenigen Jahren steigt er zu einem angesehenen Meister auf, der fünf Gesellen beschäftigt, sich ein Haus kaufen kann und in seiner Abhängigkeit von der Fabrik eine neue Freiheit gewonnen hat, die er so unter den Bedingungen des vorindustriellen Zeitalters kaum hätte erreichen können. Damit rundet sich das Bild von sozialem Ab- und Aufstieg, die so nahe beieinander wohnen, daß sie unmittelbar ineinander übergehen können. Die alte Stabilität ist verloren gegangen, die dem Schwachen die gleiche Stellung wie dem Starken garantierte, wenn er einmal Meister gleichen Rechts geworden war. Persönliche Tüchtigkeit, handwerkliches Können und wirtschaftliches Geschick entscheiden über die Stellung des einzelnen im Handwerk der Gegenwart, das alte ehrwürdige Gewerbezweige absterben läßt und neue erzeugt. Die Überlieferungen einst weitverbreiteter Handfertigkeit werden vergessen und müssen künstlich neu belebt werden, sollen sie nicht endgültig verlorengehen. Die Träger dieser Neubelebung setzen, um sich von ihren gewöhnlichen Standesgenossen zu unterscheiden, das Attribut der „Kunst-" vor das des Handwerks. Aus dieser etwas blassen Sphäre des Kunsthandwerks stammen die Lebenserinnerungen des Buchbinders Paul Adam und des Schmiedes Julius Schramm, die stolz mittelalterliche Fertigungsmethoden wieder aufnehmen, während sie den lebendige Tradition wahrenden Tippelbrüdern ängstlich ausweichen und auf die Massenprodukte der maschinellen Arbeitsweise herabblicken45. So kann gerade ihnen, die sich um eine Synthese der handwerklichen Vergangenheit mit der mechani© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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schen Gegenwart bemühen, diese Aufgabe am wenigsten gelingen, und die Frage der handwerklichen Existenzberechtigung und -möglichkeit in einer industriellen Gesellschaft bleibt gestellt für die große Zahl derer, die der Deckung des Durchschnittsbedarfs dienen, so wie es die Aufgabe eines ehrsamen Handwerks vorwiegend gewesen ist, seit es aus dem Dunkel einer undifferenzierten Wirtschaftswelt in das Dasein gewerblicher Arbeitsteilung trat.

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Die rechtliche u n d wirtschaftliche Lage des deutschen Handwerks u m 1800 Zu schlüssigen Aussagen über die wirtschaftliche Lage der Handwerker im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu kommen, ist außerordentlich schwierig. Die Angaben über Lebensverhältnisse und „Industriefleiß" der Bevölkerung, die wir in den Reisebeschreibungen finden, sind sehr willkürlich nach den Interessen und Informationen des Schreibers ausgewählt und besitzen hauptsächlich Kuriositätswert. Die Veröffentlichungen der Kameralisten, der ersten Statistiker und Staatswissenschaftler erstrecken sich meist nur auf kleinere Gebiete und sind in ihrer Zuverlässigkeit schwer nachprüfbar. Wer die Art und Weise kennt, wie die „Tabellenwercke" in den kleinen Territorien und Städten im späten 18. Jahrhundert mit Hilfe von Pfarrherren, Schulmeistern und Offizieren zustande kamen1, wird in ihrer Auswertung sehr vorsichtig sein, sobald sie über einen Bezirk hinausgehen, den der Verfasser aus eigener Anschauung kennen und in dem er selbst Erhebungen anstellen konnte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nehmen die amtlich oder halbamtlich veröffentlichten Statistiken zu, besonders für Preußen liegt um die Mitte des Jahrhunderts mit den Arbeiten von Krug, Hoffmann, Dieterici, Reden und Engel eine Menge Material vor. Die Erhebungsmethoden haben sich sichtlich verbessert, die Ergebnisse sind umfassender, differenzierter und treffsicherer geworden. Wie weit sie aber noch von wirklicher Zuverlässigkeit entfernt sind, hat niemand besser gewußt als die Statistiker selbst, die in einer Festgabe für den Internationalen Statistikerkongreß in Berlin 1863 von der Mühe der Umwandlung des „bisherigen nutzlosen Tabellenkrams" in eine zuverlässige Statistik berichteten2. Für das Gebiet des späteren Deutschen Reiches fehlen solche Untersuchungen ganz, und die Statistiken der Mittelstaaten stehen — mit wenigen Ausnahmen wie den württembergischen und sächsischen — den preußischen Tabellen erheblich nach. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hat sich die historische Schule der Nationalökonomie den Bestrebungen der Kameralisten und Statistiker angenommen und sie von modernen wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus der Kritik unterworfen. Schmollers Geschichte der Kleingewerbe im 19. Jahrhundert ist dafür repräsentativ. Sie ist noch heute die beste Untersuchung der wirtschaftlichen Lage des deutschen Handwerkers in unserem Zeitraum2a. Eine Quellengattung ist jedoch bisher gänzlich vernachlässigt worden, obwohl gerade sie Aufschluß geben kann über die konkreten Verhältnisse einzelner Handwerkerfamilien. Das sind die Aussagen, die Handwerker selbst oder Männer, die aus einem handwerklichen Hause kamen, gemacht haben. Von dem Barbiermeister Dietz im 17. Jahrhundert bis zum Drechslermeister Bebel haben wir Angaben über Löhne und Preise, über Arbeits- und Lebensbedingungen, die oft besser an die

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historische Wirklichkeit heranführen als die statistischen Durchschnittswerte, wenngleich natürlich ihre Zufälligkeit der Verallgemeinerung enge Grenzen setzt. Repräsentative Statistiken und typische Einzelbeispiele reichen aber noch nicht aus, um die wirtschaftliche Situation des Handwerkers der Goethezeit zu kennzeichnen. Es ist erforderlich, hinter das bloße Zahlenmaterial zurückzugehen und nach den Voraussetzungen der handwerklichen Wirtschaft in der Wirtschaftsordnung zu fragen3. Die Frage, ob die sozialökonomische Struktur und der Wirtschaftsablauf einer Zeit mehr von den technischen oder den rechtlichen „Daten" beeinflußt werden, ist neuerdings in das Zentrum wirtschaftspolitischer Erwägungen gerückt. Ihre Bedeutung wird weitgehend anerkannt, wenn auch die theoretischen und politischen Schlußfolgerungen auseinandergehen. Während man früher glaubte, daß die technische Entwicklung die Wirtschaft in Struktur und Ablauf weitgehend determiniere, ist man heute eher geneigt, dem rechtlichen „Datenkranz", der in seiner Ganzheit als „Wirtschaftsverfassung" bezeichnet werden kann, entscheidende Bedeutung einzuräumen4. Auf jeden Fall sollte keine Untersuchung der wirtschaftlichen Lage eines Industriezweiges diese Fragestellung übergehen, und es mag besonders reizvoll sein, ihr für Zeiten nachzuspüren, in denen die technischen Voraussetzungen des Wirtschaftens sehr verschieden von den modernen waren. Daß beide Momente um 1800 revolutionierend auf die europäische Wirtschafts- und Sozialstruktur einwirken, steht außer Zweifel. Ein neues Prinzip der Wirtschaftspolitik setzt sich durch, und neue Produktionsweisen kommen auf, die alles Hergebrachte radikal verändern. Gewerbefreiheit und Maschine spielen für die Wirtschaft des 19. Jahrhunderts die gleiche Rolle wie Verfassung und Demokratie für die Politik. Sie repräsentieren die neue Zeit und sind eine „Herausforderung", mit der sich jeder Wirtschaftende auseinandersetzen muß. Die rechtliche Stellung des Handwerkerstandes ist bis zum Beginn und teilweise über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus gegeben durch die Zunftverfassung, die — wie Grundherrschafts- und Untertanenverhältnis auf dem Lande — die soziale Struktur der Stadt seit dem Mittelalter bestimmte. Freilich gibt es nicht eine Zunftverfassung schlechthin, die überall und durch Jahrhunderte hindurch in gleicher Weise gültig gewesen wäre — so wenig wie es ein einheitliches bäuerliches Recht gegeben hat. Schon im hohen Mittelalter, aus dem unsere ersten Nachrichten über die Zünfte stammen, variieren die Verhältnisse landschaftlich beträchtlich, und selbst innerhalb einer Stadt wechseln Perioden strengen Zunftzwanges mit Perioden relativer Gewerbefreiheit ab, und die in einer Zunft korporierten Handwerker können in sehr unterschiedlichen Einkaufs- und Verkaufsbedingungen stehen5. Um Ordnung in die Vielfalt der Erscheinungen zu bringen, müssen wir typisieren und klassifizieren. Dabei kommt uns die von der modernen Wirtschaftstheorie entwickelte Lehre von den Marktformen zu Hilfe, ohne jedoch auszureichen, um Phänomene wie „Zunft", „Amt" und „Innung" vollständig zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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charakterisieren. Denn diese Organisationsformen des alten Handwerks sind keine rein wirtschaftlichen Zusammenschlüsse, sondern Sozialgebilde, in denen das ökonomische Moment sehr verschieden stark auftritt. Das wird besonders deutlich in kleineren Städten und bei schwach besetzten Handwerken, wo mehrere Gewerbezweige zur gleichen Zunft gehören, obwohl ihr wirtschaftliches Interesse durchaus verschieden ist. Dann ist die Zunft eine vorwiegend politische Institution, die die Bürger der Stadt korporiert, sei es für die Zwecke des Stadtregiments oder der Stadtwehr oder der kirchlichen Gliederung. In diesen Fällen nimmt sie etwa die Stelle der modernen Stadtviertel oder -bezirke ein, wie ja überhaupt das Merkmal der mittelalterlichen Herrschaftsstruktur das Personalprinzip gegenüber der Flächenhaftigkeit und Versachlichung der modernen Verwaltungsorganisation ist. Im 18. Jahrhundert ist diese politische Funktion der Zunft nur selten mehr gegeben. Nur wo die Zünfte im späteren Mittelalter sich Anteil oder Alleinherrschaft im Stadtregiment erkämpft und in den Jahrhunderten der Neuzeit behauptet hatten, wo die alte Wehrverfassung der Bürger nicht gänzlich durch das Söldnerheer des Territorialstaates abgelöst worden war und die Reformation nicht eine kirchliche Neugliederung vollzogen hatte, spielte die Zunft im 18. Jahrhundert eine politische Rolle. Ihre soziale Funktion hatte sie dagegen überall behalten. In den Gesellenverbänden tritt sie stärker hervor als in den Meisterzünften, in der Bruderschaft ist sie das beherrschende Moment, ein Rest findet sich aber auch noch in den ausgedörrtesten Zünften des späten 18. Jahrhunderts, etwa in der Verpflichtung, tote Zunftgenossen zu Grabe zu tragen. Die wirtschaftliche Funktion der Zunft ist eng mit der gewerbeordnenden (arbeitsrechtlichen) verknüpft. Die Einhaltung des Ausbildungsganges, der Arbeitsvorschriften, der Qualität und manchmal auch der Preise der Produkte zu überwachen, den Einkauf und Verkauf zu organisieren und das Handwerksinteresse gegenüber anderen Interessengruppen wahrzunehmen, sind die bekanntesten Aufgaben der Zunft. Dabei macht es einen wesentlichen Unterschied aus, ob das Selbstbestimmungsrecht der Korporation oder das Aufsichtsrecht der Obrigkeit stärker ist. Grundsätzlich finden sich überall beide Momente. Bei der Entstehung der Zünfte mag einmal die genossenschaftliche Korporierung als Bruderschaft, ein andermal die stadtherrliche Satzung allein bestimmend gewesen sein, im Laufe der Jahrhunderte sind jedenfalls beide Momente zusammengewachsen, und selbst für die Entstehungszeit — die meist im Dunkel liegt — dürfen wir als Regel annehmen, daß die städtische Obrigkeit die Gewerbetreibenden auf ihren Wunsch hin korporiert und privilegiert hat, so daß auch historisch beide Elemente ungetrennt beieinander liegen. Bei der Wirtschaftsgebarung der Zünfte lassen sich drei Elemente sondern. Dieselbe Zunft kann zum Beispiel im Verkauf durch obrigkeitlich festgesetzte Preise zwangsweise kartelliert sein, während sie im Einkauf ein offenes Kartell bildet, dem jedes Zunftmitglied beitreten kann, und in der Kundenwerbung Wettbewerb herrscht. Je nachdem, welches Ordnungselement auf der Einkaufsbzw. Verkaufseite vorherrscht, stehen die Angehörigen der Zunft in allen mög© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lichen Marktformen, vom Angebots- und Nachfragemonopol über die verschiedenen Möglichkeiten des Oligopols bis hin zur offenen Konkurrenz, wobei freilich die Tendenz zur kollektiven Monopolisierung, zumindest auf der Angebotsseite, offensichtlich ist. Es ergibt sich also, daß in einer historischen Erscheinung wie der Zunft, deren ökonomische Eigenart so eindeutig bestimmt zu sein scheint, nahezu alle wirtschaftlichen Ordnungselemente verwirklicht sein können und daß eine Darstellung das Wesentlichste übersieht, wenn sie die Zunft einfach als „Korporation von Handwerksgenossen" oder gar als „natürliche Ordnung handwerklicher Wirtschaft" zu charakerisieren sucht. Gewiß treten einzelne Momente besonders hervor, und man kann die vorwiegend berufsordnend fungierende, obrigkeitlich privilegierte, als Zwangskartell organisierte Handwerksinnung als die „Normal"-Zunft des 18. Jahrhunderts bezeichnen, aber rein kommt keines der Momente vor, und es bedarf einer genauen Untersuchung jedes Einzelfalles, um festzustellen, was „Zunft", „Amt", „Gilde", „Handwerk", „Gewerk", „Innung", „Einung", „Bruderschaft", „Gaffel", „Mittel" oder „Zeche" jeweils bedeutet. Alle diese Termini können Synonyma sein, können aber auch sehr Verschiedenes meinen, wie Zatschek neuerdings für „Zeche" und „Einung" im mittelalterlichen Wien nachgewiesen hat6. Als Bezeichnungen für Zunfttypen sind sie nicht zu verwenden, weil jede solche Verwendung eine willkürliche Abgrenzung nötig machen würde, die mit der Quellensprache nicht in Einklang zu bringen wäre und nur zu Mißverständnissen Anlaß gäbe. Denn ein „Amt" hatte nicht nur politische, eine „Innung" nicht nur ökonomische Aufgaben, und eine „Bruderschaft" konnte in ihrem rechtlichen Status ebenso obrigkeitlich gesetzt wie genossenschaftlich organisiert sein. Wenn wir also die historische Erscheinung „Zunft" in ihrem rechtlichen Status, ihren Funktionen und ihrem ökonomischen Charakter typisieren und zu Grundtypen wie autonome und heteronome Korporation, politische, soziale, berufsordnende und wirtschaftliche Funktion, Zwangskartell, freiwilliges Kartell und Wettbewerb kommen, so können wir keine einzige in Wirklichkeit vorkommende Zunft zu einer dieser Typen zählen, aber finden alle oder doch die meisten dieser Elemente in jeder realen Erscheinung vor. Wir haben jeweils eines durch einseitige Steigerung isoliert und sind damit zu echten „Idealtypen" gelangt. Diese sind nicht zu verwechseln mit den „Realtypen", die sich aus einer Klassifizierung der in Wirklichkeit vorkommenden Zünfte ergeben und von denen vor allem die Gegensatzpaare offenes und geschlossenes, gesperrtes und ungesperrtes, geschenktes und ungeschenktes Handwerk, „freie Kunst" und „Handwerk im engeren Sinne" zu nennen sind. Hier können wir die Sprache der Quellen unbedenklich verwenden, denn hier sind keine Verwechslungen möglich. Ein offenes Handwerk kann nicht zugleich geschlossen, und ein gesperrtes nicht ungesperrt sein. Wenn wir wissen, was diese Termini im alten Handwerksrecht bedeuten, können wir jede Zunft zu jeder beliebigen Zeit in die acht Gruppen einordnen7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Beide Arten von Typenbildungen, die ideelle Isolation und die reale Klassifikation, sind für eine Analyse von Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft nötig und müssen der eigentlichen Untersuchung vorausgehen, wenn ein so komplexes Gebilde wie die Zunft verstanden werden soll. Dann muß man allerdings auf die Verwendung von Schlagworten wie das vom „Verfall" der Zünfte im 17. und 18. Jahrhundert verzichten, denn es hat nur Sinn, wenn man die Verhältnisse zu irgendeiner „Blütezeit" (um 1500 vielleicht) als „normal" oder gar „ideal" ansieht und danach alles Vorher und Nachher beurteilt. Aber auch hier ist jede Epoche unmittelbar zu Gott, und die Zunft in einer ostdeutschen Landstadt um 1800 kann nicht ohne weiteres am Nürnberg des 15. Jahrhunderts gemessen werden. Niemand wird leugnen, daß es Zeiten gegeben hat, in denen Handwerker wirtschaftlich, sozial und politisch besser gestellt waren als im Preußen Friedrichs des Großen, oder daß im Ausgang des Mittelalters Meister einzelner Gewerbezweige ihr Handwerk zu besonderer Vollendung brachten. Aber diesen Veränderungen liegen geistige, politisch-soziale und Ökonomische Strukturwandlungen von so mannigfaltiger Art zugrunde, daß man sie nicht einfach als Aufstieg, Blütezeit und Abstieg charakterisieren kann. Wenn ein Gewerbezweig sinkt, steigt der andere, was den Produkten an Schönheit verloren geht, wird an Menge, Preis oder Gebrauchsqualität gewonnen, und es ist ungerechtfertigt, eine Zeit, von der wir nur die Spitzenleistungen kennen, gegenüber einer anderen hervorzuheben, deren Alltäglichkeiten uns vor Augen stehen. Auf alle Fälle werden wir davon auszugehen haben, daß die Zünfte in der Neuzeit nicht einfach verfallen oder erstarrt sind, sondern sich in sehr bestimmter Weise gewandelt haben. Diese Entwicklung ist in erster Linie bestimmt durch den wachsenden Anspruch des Territorialstaats auf Reglementierung aller Lebensäußerungen im Sinne seiner Staatsräson. Dieser Anspruch drängt das in der „Blütezeit" stark hervortretende autonome Moment der Zunft zurück und beschränkt sie auf die Verwaltung von kleineren innerhandwerklichen Angelegenheiten. Je stärker sich ein Territorium zum Staat entwickelte, desto stärker pflegte diese Wandlung zu sein. Während im östlichen Deutschland schon der Große Kurfürst den Zünften neue Ordnungen und außerzünftige Meister aufzwingt, bestreiten in den südwestdeutschen Reichsstädten noch 1800 die Zünfte dem Rat grundsätzlich die Gesetzgebung und Rechtsprechung in Zunftsachen. Denn der städtischen Obrigkeit — an der die Zünfte oft teilhaben — stehe nur solche Machtbefugnis zu, die ihr in Verträgen ausdrücklich übertragen sei, und sie dürfe zwar den einzelnen Zunftbürger, nicht aber die Zunft in corpore richten8. Ein hartes Gegeneinander von Obrigkeit und Korporation tut sich hier kund, das sich wie ein roter Faden durch das Handwerksrecht der frühen Neuzeit zieht. Der rechtliche Status einzelner Handwerkerzünfte wird von der jeweiligen Stärke der beiden Elemente weitgehend bestimmt. Es ist angebracht, die Stärke der Obrigkeit nicht zu überschätzen. Ein schwerfälliger, ungeformter und ungleichmäßiger Apparat hatte gegen eine sehr bewegliche Korporation — vor allem die Gesellenverbindungen — und ein sehr starkes ständisches Ethos © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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anzugehen. Wenn der Ausbildung eines absoluten Staates das Einschrumpfen der personalen, lokalen und korporativen Elemente der Herrschaftsstruktur korrespondiert, so gilt für Mitteleuropa, daß sich die älteren Formen zäh und erfolgreich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, ja bis zum ersten Weltkrieg hin verteidigt haben und das absolute Königtum eine sehr seltene, sehr späte und sehr aufgeklärte Erscheinung ist. Der Kampf der Zünfte um ihr Selbstbestimmungsrecht ist ein typischer Ausdruck für die Schwierigkeiten, die die Obrigkeit in Deutschland bei ihrem Bemühen, Staatsgewalt zu werden, zu überwinden hatte. Da der Zusammenhang der Handwerke, insbesondere der Gesellenverbände, über das Gebiet eines Territoriums hinausreichte, nahm sich der Reichstag der Zunftgesetzgebung an. Schon die Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrhunderts kämpften gegen die „Handwerksmißbräuche" des Scheltens, Schmähens und Auftreibens, der unnötigen Zeremonien beim Schenken und Umschauen und der Ausschließung der „unehrlichen" Gewerbetreibenden und deren Kinder von der Zunft. Um die Macht der Gesellenverbände zu brechen, verfügte die Reichspolizeiordnung von 1530, daß der Arbeitsnachweis den Meistern und nicht den Gesellenherbergen zustehe, und verbot das Zechen beim Ein- und Abwandern sowie das Schelten und Schmähen. Spätere Ordnungen wiederholten die Verbote. Den Höhepunkt der Handwerksgesetzgebung des Reichtages bildete der Reichsabschied von 1731, der eine Reichszunftordnung setzte, die bis zur Auflösung des Reiches in Kraft blieb9. Eine Analyse der Reichszunftordnung nach den idealtypischen Elementen, die in ihr verwirklicht sind, ergibt deutlich die Betonung der Heteronomie der Zünfte, ihrer berufsordnenden Funktion und der kartellfreien Wirtschaftsgebarung, sofern nicht obrigkeitliches Zwangskartell festgelegt wird. Die Autonomie wird den Zünften zwar nicht schlechtweg bestritten, ihre Artikel, Gebräuche und Gewohnheiten bedürfen aber in jedem Einzelfalle der obrigkeitlichen „Erlaubnis, Approbation und Confirmation". Eigenmächtige Jurisdiktion wird gänzlich untersagt. Das Schelten und Auftreiben ist also ungesetzlich, sofern es nicht von der Obrigkeit verordnet ist. Selbst bei kleineren Vergehen, die eine geringe Handwerksstrafe, eine Geldbuße zum Beispiel, nach sich ziehen, sind die Obermeister und Beamten der Zunft verbunden, Untersuchungen gemeinsam mit einem „zu Handwerkssachen obrigkeitlich Verordneten" vorzunehmen. Der beruflichen Ordnung des Handwerks ist der größte Teil des Gesetzes gewidmet. Von der Zulassung als Lehrling, über den Lehrbrief, die Wanderjahre — für die eine „Kundschaft" vorgeschrieben wird — und die Muthjahre bis zum Meisterstück ist die Berufsausbildung vorgeschrieben, und die meisten jener durch lange Tradition geheiligten Zunftbräuche werden zu „Mißbräuchen" erklärt und „abgestellt". Eine politische Funktion der Zünfte kennt das Reichsgesetz nicht, die soziale wird anerkannt und bis auf die „Mißbräuche", die sich eingeschlichen haben, bestätigt. Die wirtschaftliche Gebarung wird nur an drei Stellen berührt: Preisabsprachen und die Weigerung, die Arbeiten eines anderen fortzusetzen, werden als Mißbräuche verboten, der handwerkliche Taglohn soll © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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— ebenso wie die Entlohnung des Gesindes — durch eine „Tax- und Gesindeordnung" von den Ständen der Reichskreise festgesetzt werden, an Stelle von Kartellen durch Absprachen sollen also obrigkeitlich verordnete Zwangskartelle treten. Auch mehrere der Realtypen der Zunft werden von dem Reichsgesetz als Mißbräuche aufgefaßt und verboten: die geschlossene Zunft, die Hauptlade und das ungeschenkte Handwerk. Fortan hat jedes Handwerk seinen wandernden Gesellen ein mäßiges Geschenk zu überreichen, keine Zunft darf den numerus clausus einführen und keine Zunftlade anderen übergeordnet werden. Die Reichszunftordnung ging als Patent an die kreisausschreibenden Fürsten, die für die Einführung in den einzelnen Territorien zu sorgen hatten. In Sachsen und Preußen wurde sie am schnellsten übernommen. Schon im nächsten Jahr waren Kommissionen eingesetzt, die die Zunftartikel gemäß den neuen Bestimmungen zu revidieren hatten, und in den Jahren 1734—1736 erließ Preußen eine Reihe von „General-Privilegia" für die einzelnen Handwerke, die sich untereinander stark ähnelten. Die anderen Territorien gingen langsam und mit Einschränkungen vor. Ein „General-Zunftartikel" von 1760 führte die Reichszunftordnung teilweise in der Markgrafschaft Baden ein. Württemberg, Kurhessen, Braunschweig folgten. 1770 war auch Österreich soweit. Zwei Jahre später schärfte ein kaiserliches Dekret die Reichszunftordnung erneut ein und ergänzte sie, indem es die Beschränkung der Lehrlings- und Gesellenzahl aufhob, Abdeckerkinder für ehrlich erklärt und weibliche Arbeitskräfte in verschiedenen Gewerben, besonders den Webereien, zuließ. Aber um diese Zeit war der Reichsabschied in vielen Reichsstädten überhaupt noch nicht oder „nicht gehörig" publiziert worden und daher nicht gültig; wirksam war er so gut wie nirgends. Nur die Kundschaften haben sich im Laufe des Jahrhunderts durchgesetzt, wenn auch bei den Handwerkern selbst der Gruß nach wie vor als die eigentliche Legitimation galt. Zeitgenossen urteilten, daß vielleicht kein Gesetz in Deutschland weniger ausgeführt worden sei als die Reichszunftordnung10. Wenn dennoch die rechtlichen Verhältnisse der Handwerker im 18. Jahrhundert in modernen Darstellungen meist von den Bestimmungen der Reichszunftordnung her beurteilt werden, müssen grobe Fehlurteile die Folge sein11. Denn es genügt nicht, die Gewerbegesetze zu kennen, um über die Zustände in den Gewerben zu urteilen, so wenig wie es ausreicht, die Sozialpolitik zu studieren, um Sozialgeschichte zu schreiben oder den Stand der Volksbildungsanstalten zu untersuchen, um den geistigen Horizont des Volkes zu zeichnen. Man konnte wohl Gesellenladen aufheben und ihre Kassen beschlagnahmen, aber nicht die Gesellen an Absprachen hindern, noch ihre Wandersitten zerstören. Karl Fischer wurde noch 1860 aus der Herberge geworfen, weil er das „Einreisen" nicht gelernt hatte und statt des herkömmlichen Spruches wie ein Unzünftiger um Nachtquartier und Arbeit fragte, und August Bebel ist auf seiner Wanderschaft noch fechten gegangen wie je ein Handwerksbursche, obwohl seit mehr als drei Jahrhunderten das Fechten verboten und die Zunft seit Jahrzehnten tot war. Ein besonders instruktives Beispiel der Ohnmacht des Staates gegenüber den Sitten der Zünfte ist der Versuch der württembergischen Regierung, die Hand© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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werksladen im Lande neu zu organisieren. Außer in Stuttgart und Tübingen sollten auch in Ludwigsburg Hauptladen für jedes Gewerbe eingerichtet werden. Aber die Zünfte widersetzten sich jahrzehntelang mit Erfolg12. Einen Begriff, mit welchen Mitteln sich die Zünfte gegen obrigkeitliche Verordnungen wehrten, erhalt man aus der Lebensbeschreibung des Barbiers Johann Dietz, der vergeblich versuchte, in seiner Heimatstadt Halle in das Handwerk einzuheiraten. Als er sich später das kurfürstliche Privileg errang, eine Freibarbierstube in Halle einzurichten, erschienen die Meister nicht zu der Prüfung, die er vor ihnen ablegen sollte. Erst als die Obrigkeit drohte, alle ihre Privilegien zu kassieren, ließen sie sich zur Examination des Freimeisters herbei, ruhten jedoch nicht, ihm das Leben sauer zu machen. Es bedurfte immer wieder persönlicher Vorstellungen des Hofbarbiers in Berlin und neuer Reskripte und Konfirmationen des Privilegs, um ihn gegen die Innung am Leben zu erhalten. Daß er als Hofbarbier ihr Obermeister werden sollte, lehnten die Meister entschieden ab, und schließlich endete der Streit mit einem Prozeß, nach dem der Innung das Recht, Lehrbriefe auszustellen, entzogen wurde13. Daß die Institution der Freimeister als ein Mittel landesherrlicher Gewerbepolitik gegen die Zünfte wenig vermochte, bezeugt Justus Möser, der bemerkte, daß dieses Recht „beinahe von gar keinem Nutzen sei", weil der Freimeister weder Gesellen noch Lehrlinge halten könne14. Denn wer bei einem Freimeister gelernt hatte, wurde von der Zunft nicht freigesprochen, und Gesellen büßten ihre Ehre ein, wenn sie bei einem Unzünftigen arbeiteten. Das Recht, ihr Handwerk zu schließen, ist von den Meistern am hartnäckigsten und erfolgreichsten verteidigt worden. Aus allen Jahrhunderten der Neuzeit und aus allen Gegenden Deutschlands erfahren wir von Jagden nach Bönhasen und Pfuschern und unmäßigen Bedingungen der Niederlassung, und man hat es oft als Kennzeichen des Verfalls des Handwerkers im 17. und 18. Jahrhundert angesehen, daß die Handwerke in zunehmendem Maße geschlossen wurden. Für die rechtliche sowohl wie für die wirtschaftliche Lage des Handwerkers um 1800 ist diese Tatsache von größter Bedeutung, denn es läßt sich wohl sagen, daß die Zunftverfassung die Stellung eines großen Teiles der Handwerker nur dadurch bestimmte, daß sie sie aus ihrer Reihe ausschloß und sie damit rechtlich, sozial und wirtschaftlich deklassierte. Auch im 16. Jahrhundert war das Handwerk nicht mit den Zünften identisch, und 1734 gehörte in Wien nur ein Drittel der Meister Zünften an15. Wo die Obrigkeit nicht stark genug war, den Zünften Freimeister aufzuzwingen oder Pfuscher gegen die Gewalttaten der Zünftigen zu schützen, mußten Gesellen endlos wandern oder sich aufs Land zurückziehen. Von den Buchbindergesellen, die im 18. Jahrhundert durch Greifswald kamen, kehrten zwei nach sechzehn, einer nach neunzehn und einer gar nach vierundzwanzig Jahren zurück, um Umschau nach Arbeit zu halten16, Landhandwerker waren am Ende des Jahrhunderts in fast allen Gewerbezweigen zu finden. Justus Möser klagt darüber und sieht darin einen Grund für den „Verfall" des Handwerks in den kleinen Städten. Nur Sachsen dulde — außer einigen Hökern und Altflickern — Handel und Handwerk nicht in den Dör© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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fern. In Westfalen dagegen gäbe es in einem einzigen dörflichen Kirchspiel dreißig Schneider, so daß sie verlangen konnten, eine Zunft bilden zu dürfen17. Eine so frühe Statistik wie die Krugs aus der Zeit von 1795—1803, die ohne Zweifel noch keine Möglichkeit hatte, alle Landleute zu erfassen, die im Kleinen handwerklich tätig waren, stellt für Preußen fest, daß nur der kleinere Teil der Handwerke auf die Stadt beschränkt ist. Schneider, Schuhmacher, Böttcher, Stellmacher, Radmacher, Tischler und Maurer gibt es auf dem Lande genau so viele wie in der Stadt, Zimmerleute, Schmiede, Müller und Leineweber sogar mehr. Bei den Bäckern und Fleischern ist das Verhältnis landschaftlich verschieden, in Pommern kommt auf siebenundfünfzig Stadtbäcker nur ein Landbäcker, in Ostfriesland dagegen stehen 197 Stadtbäckern 247 Landbäcker gegenüber. Deshalb kann man auch in der fast gleich großen Verteilung der Handwerker auf Stadt und Land, die Hoffmann 1828 für Preußen festgestellt hat und die die Statistiker bis zur Jahrhundertmitte immer wieder bestätigt haben, nicht ein Ergebnis der Gewerbefreiheit sehen, sondern wird im Gegenteil annehmen müssen, daß die Gewerbefreiheit dieses Verhältnis nicht wesentlich verschoben hat. Denn sogar in Sachsen, wo die Zunftordnung bis 1862 das Landhandwerk behinderte, erwies sich bei statistischen Aufnahmen der Jahre 1849 und 1861 die Zahl der Landhandwerker größer als die der städtischen18, und Justus Möser wird wohl im Irrtum gewesen sein, wenn er ein Jahrhundert früher aus dem strengen Verbot des Landhandwerks in Sachsen auf dessen Nichtvorhandensein schloß18a. Die Schließung der Zünfte konnte auch indirekt durch Erschwerung und Verlängerung der Ausbildung erreicht werden. Das korporative Ausbildungsmonopol ließ sich vortrefflich dafür nutzen, denn auch die zunftfeindlichste Obrigkeit wagte nicht, daran zu rütteln. Die Ausdehnung der Lehrzeit und der Pflichtwanderjahre, die Einführung von Muthjahren, die Forderung eines luxuriösen Meisterstückes, der Nachweis eines Mindestvermögens oder Grundeigentums, die Bedingung der Einheirat oder der Zugehörigkeit zur Landesreligion gehörten zu den Mitteln, die gang und gäbe waren, um die Niederlassungsfreiheit zu beschränken. Wie weit es sich dabei um Konkurrenzfurcht, wie weit um Verhinderung einer echten Übersetzung des Handwerks handelte, ist generell nicht zu sagen und kann auch im Einzelfall nur selten entschieden werden, denn die Motive menschlichen Handelns sind nun einmal komplexer Natur, und die monokausale Erklärungsweise führt meist in die Irre. Auf der anderen Seite hatten die Landesherren Schwierigkeiten, die Gesellenprüfung durchzusetzen. Sie sollte den Lehrling vor Ausbeutung und ungenügender Ausbildung dadurch schützen, daß der Meister das Lehrgeld zurückzuzahlen hatte, wenn der Lehrling in der Prüfung versagte. Im Mittelalter war sie unbekannt gewesen, im 16. Jahrhundert zuerst in Württemberg, im 18. Jahrhundert in Baden, Sachsen-Koburg, Kursachsen und Brandenburg eingeführt und schließlich im Preußischen Landrecht niedergelegt worden. Die Lehrbriefe von Handwerkern aus dem 18. Jahrhundert sprechen aber meist nur davon, daß der Geselle die Lehrzeit „ausgestanden" hat, und die Handwerker selbst er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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zählen nur von der zeremoniellen „Lossprechung" durch die Zunft und der feierlichen Aufnahme in die „Gesellschaft". Neben der Abschließung der Zünfte gegen Außenseiter und Fremde im eigenen Handwerk steht die Abgrenzung der Zünfte untereinander in den Arbeitsbereichen und -methoden. Tischler dürfen in der Werkstatt nur Leim und hölzerne Pflöcke benutzen, Nägel bleiben dem Zimmermann vorbehalten; Grobschmiede können keine Schraubstöcke und Schrauben verwenden und von den Feilen nur Horn- und Raspelfeilen, die übrigen Feilen, die Schraubstöcke und Schrauben fallen in das Ressort der Kleinschmiede19. Die dritte Beschränkung betrifft die Zunftgenossen selbst. Die Zahl der Gesellen und Lehrlinge wird gleichmäßig gehalten, der Verkauf und der Einkauf geregelt und oft ein Maximum der Produktion bestimmt. Ein Solinger Schwertschmied darf nicht mehr als vier Schwerte, ein Messerschmied höchstens zehn Stechmesser täglich herstellen, und der Zeichenmeister hat darüber zu wachen. Er darf nur die vorgeschriebene Zahl von Klingen zeichnen und muß darüber Buch führen20. Bei dem Vorherrschen lokaler Gepflogenheiten und unterschiedlicher Gebräuche in den einzelnen Gewerben ist es schwer, zu allgemeinen Schlüssen zu kommen, denn immer lassen sich Ausnahmen und Widersprüche finden. So könnte die Tatsache, daß von vierundzwanzig Buchbindergesellen, die zwischen 1736 und 1815 in Greifswald losgesprochen wurden, nur drei in Greifswald Meister wurden, als Beweis für die Schwierigkeit gelten, in die Greifswalder Zunft aufgenommen zu werden, wenn dem nicht die andere Tatsache gegenüberstünde, daß von den siebzehn Buchbindermeistern, die während der Zeit in Greifswald nachzuweisen sind, nur zwei aus der Stadt stammten, fünfzehn also Fremde waren, von denen sich nur für zwei nachweisen läßt, daß sie eine Meisterswitwe geheiratet haben. Man könnte also vermuten, daß es verhältnismäßig leicht war, sich als Buchbindermeister niederzulassen und daß daher viele der Greifswalder Gesellen nicht mehr in ihre Heimatstadt zurückkehrten, wenn dagegen nicht die schon erwähnte Tatsache spräche, daß vier der durch Greifswald wandernden Gesellen sich nach mehr als fünfzehn Jahren immer noch auf Wanderschaft befanden21. Daß die Tendenz zur Konkurrenzbeschränkung in allen Zünften stark ist, geht jedoch aus allem, was wir über das Handwerk wissen, eindeutig hervor. Der Wille, Kartelle zu bilden und das kollektive Monopol gegen Außenseiter und Nachbarzünfte abzuschirmen, ist deutlich erkennbar. Noch im Jahre 1816 begannen die Hamburger Grobbäcker einen Prozeß gegen den Weißbäcker Grothe, weil er in zwei Backöfen buk, und erhielten nach mehrjähriger Dauer des Streites recht22. Wie stark die Zünfte sich mit dieser Politik gegenüber widerstreitenden Tendenzen der obrigkeitlichen Gewerbepolitik durchsetzten, hing von der Art des Gewerbes und dem Kräfteverhältnis der Gegner ab. In den meisten Gegenden und Gewerbezweigen waren die Zünfte alt und die Obrigkeit schwach; nur wo die Interessen eines Staates auf dem Spiele standen und neue Produktionsweisen sich außerhalb der für die Zünfte reservierten Tätigkeitsfelder entwickelten, 20 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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konnte das Kräfteverhältnis sich umkehren, hauptsächlich in der Produktion für die stehenden Heere der größeren Territorialstaaten. In den wenigsten Territorien widerstritten sich jedoch obrigkeitliche und zünftlerische Politik grundsätzlich. Es ging nicht um verschiedene Grundsätze der Gewerbeordnung, sondern um Interessenkonflikte oder um Verstöße gegen die beiderseitig anerkannte Ordnung. Nur wenige wagten, den Zünften das Existenzrecht überhaupt zu bestreiten. Zedlers Konversationslexikon stellte 1750 fest, daß sie so lange bestanden hätten und als so nützlich für das Gemeinwohl gälten, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach bleiben würden, „so lange als die Welt stehet"23. Das Überhandnehmen der Staatsgewalt hatte jedoch die Grundlagen der Zunftordnung stärker erschüttert, als es den Anschein nahm. Vom alten Reiche war zwar die Abschaffung nicht zu erwarten, denn die Verfassung des Reiches und die Zunftordnung waren einander zugeordnet als Überbleibsel aus dem Mittelalter, und ohne Zweifel hätte sich der Kaiser einer seiner stärksten Stützen beraubt, hätte er die Macht der Zünfte gebrochen, die bei seinen treuesten Verbündeten, den Reichsstädten, am stärksten war. Aber die emporstrebenden Einzelstaaten ergriffen die Initiative. Schon 1672 hatte Preußen auf dem Reichstag beantragt, die Zünfte abzuschaffen; der Reichsabschied von 1731, der die Aufhebung der Zünfte androhte, falls die Landesobrigkeiten Meistern und Gesellen nicht „den rechten Ernst" zeigten, beruhte wesentlich auf preußischer Initiative, und in den ostdeutschen Städten waren die Handwerker der Obrigkeit am stärksten unterworfen. Die Bresche schlug jedoch erst die Französische Revolution. In den französich besetzten Gebieten Deutschlands wurden die Zünfte zuerst aufgehoben, und die preußische Reformgesetzgebung nahm sich die französischc zum Vorbild. Es ist jedoch falsch, mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts für Deutschland eine Periode der Gewerbefreiheit beginnen zu lassen. Kennzeichnend für das deutsche Handwerksrecht der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist vielmehr ein ständiges Hin und Her von Zunft-Aufhebungen und -Wiedereinführungen, von Lockerung und Stärkung ihrer Privilegien. Selbst in Preußen herrschte kein einheitliches Recht. 1806 war die Gewerbefreiheit in Ostpreußen, 1808 in Litauen und durch das Edikt vom 2. November 1810 im ganzen Land eingeführt, jedoch nicht auf die 1813/14 wieder eroberten und im Wiener Kongreß neu erworbenen Gebiete ausgedehnt worden. In diesen Landesteilen blieben die Verhältnisse so, wie sie waren; in den größeren Teilen der Rheinlande herrschte seit 1790/91 totale Gewerbefreiheit ohne polizeiliche Beschränkung, ähnlich in Westfalen seit 1808/10, aber in Neupommern, Posen, einzelnen Teilen der Regierungsbezirke Erfurt, Arnsberg, Münster und Koblenz bestanden die alten Zunftverfassungen fort, und besonders buntscheckig stellten sich die Rechtsverhältnisse in der neuerworbenen Provinz Sachsen dar. Außerhalb Preußens gab es Gewerbefreiheit fast nur in der Rheinpfalz. In Kurhessen und Hannover wurden die Zünfte, die unter französischer Besetzung aufgehoben worden waren, 1815/16 wieder hergestellt, in Oldenburg 1830. Bayern, Baden und Württemberg reformierten die Zunftgesetze in den Zwanzigern, aber erst in den Sechzigern drang die Gewerbefreiheit in Süddeutschland, Sach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sen und Österreich allgemein durch, während Preußen sie seit 1845 schon wieder einzuschränken begann. In Hamburg kam sie 1865 zur Geltung, und in Bremen trockneten manche Zünfte im Laufe des 19. Jahrhunderts ein, so daß sie gar nicht mehr aufgehoben zu werden brauchten. Vor allem aber wurde unter „Gewerbefreiheit" sehr Unterschiedliches verstanden, denn auch sie ist eine komplexe Erscheinung, in der man verschiedene Elemente unterscheiden muß. Auch sie hat eine politische, eine soziale, eine wirtschaftliche und eine berufsordnende Seite, und ihr Ökonomischer Charakter läßt sich nicht einfach als „laissez faire" kennzeichnen, sondern birgt alle denkbaren Marktformen in sich, je nachdem, welche Ordnungselemente die Wirtschaftsgebarung der niederlassungsfreien Gewerbetreibenden bestimmen. Die Gewerbefreiheit wirkt auch nicht einseitig auflösend. Politisch macht sie die Identität von Berufsverband und politischer Repräsentation unmöglich, verhindert also den Ständestaat und die (direkte) Bestimmung der Politik durch Interessenverbände und gibt damit der politischen Partei den Weg frei. Sozial verstärkt sie jene Dialektik von Uniformierungs- und Differenzierungsprozeß, die wir als das charakteristische Merkmal der modernen Welt kennengelernt haben. Für große Gruppen der Bevölkerung löst sie sie überhaupt erst aus, Sie hebt die „natürliche" Gliederung in Stände auf und hilft die Einheitsgesellschaft zu gründen, öffnet aber zugleich die Tore zu Aufstieg und Abstieg und zu einer unendlichen Vielzahl von freiwilligen Gruppenbildungen. Die gleiche gegensätzliche Tendenz löst sie als berufsordnendes Element aus. Hier traten ihre negativen Seiten bald am stärksten in Erscheinung. Deshalb wurde die Freiheit der Berufsausbildung und -ausübung, wo sie überhaupt eingeführt war, bald rückgängig gemacht und blieb bis heute erheblich eingeschränkt. In der Form, in der die Gewerbefreiheit in Deutschland vorwiegend verwirklicht wurde, bedeutete sie nichts weiter als ein Verbot, die Zünfte zu schließen. Nicht einmal der Innungszwang wurde überall aufgehoben, und Niederlassungsfreiheit für jedermann wurde nur in wenigen Gebieten und meist nur für kürzere Zeit gewährt. Allgemein ist in der Gewerbepolitik zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur die Tendenz, die behördliche Aufsicht, wie sie sich in den Jahrhunderten der Neuzeit herausgebildet hatte, zu verstärken und die Autonomie der Zünfte weiter einzuschränken. Die politische Funktion und das durch Kartellierung erreichte kollektive Monopol sollen endgültig gebrochen werden. Die berufsordnende und die soziale Funktion bleiben anerkannt. Die meisten Staaten begnügen sich damit, den Meistern die Ausschließung anderer Meister zu verwehren und sie bei der Ausübung des Prüfungsrechtes zu beaufsichtigen. Ein Beispiel dafür ist das bayerische Gewerbegesetz von 1825. Aber die Meisterprüfung selbst bleibt Bedingung für die selbständige Niederlassung. Auch in Preußen wird sie bald wieder eingeführt, Gesellen oder Ungelernte dürfen nur alleine tätig sein oder zumindest keine Lehrlinge halten. Freiwillige Innungen werden fast überall gestattet. Aber auch Zwangsinnungen gibt es noch während der ganzen ersten Hälfte des Jahrhunderts, und selbst die Trennung in Stadt- und Land20*

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handwerk wird aufrecht erhalten. 1851 stimmt in Braunschweig die Abgeordnetenkammer einer Regierungsverordnung zu, die den Sattlern verbietet, sich auf dem Lande niederzulassen24. Die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers gilt immer noch in erster Linie den Gesellen und ihren Verbänden. Gegenüber den Meistern sollen sie wirtschaftlich und rechtlich gestärkt, gegenüber dem Staat geschwächt werden. Innerhalb der Innungen werden sie aus Untertanen zu teilweise gleichberechtigten Partnern gemacht, ihre Niederlassung wird erleichtert, die Koalition aber bekämpft. Die Jurisdiktion der Verbände und die Gesellenkassen, die seit Jahrhunderten vergeblich verboten worden waren, werden von neuem und diesmal wirksamer aufgehoben. Die Schänken werden in reine Herbergen umgewandelt, und an Stelle der Kundschaft wird ein Wanderbuch eingeführt. Die innere Unsicherheit der Handwerksgesetzgebung des 19. Jahrhunderts tritt in den Bestimmungen über das Wandern besonders deutlich zutage. Man will den Wanderzwang aufheben, die Wandersitte jedoch nicht beeinträchtigen. Das Stromern und die politische Agitation sollen verhindert, die gewerbliche Fortbildung aber gefördert werden. Als Wehrdienstpflichtige dürfen die Gesellen nicht aus dem Land, als zukünftige Meister sollen sie sich in der Welt umsehen. Aus dem einen Grunde wird das Wandern verboten, aus dem anderen befohlen. Eigentlich war der Wanderzwang schon durch das josephinische Dekret von 1772 für das ganze Reich aufgehoben worden, und Kurhessen hatte das Wandern gänzlich verboten, damit die Rekruten nicht verlorengingen. Aus den gleichen Gründen war in Preußen im 18. Jahrhundert teilweise das Wandern im Ausland untersagt worden, und seit den Revolutionskriegen hatten die meisten Länder zu ähnlichen Einschränkungen gegriffen. In Württemberg zum Beispiel durften seit 1819 nur noch Gesellen ins Ausland, die ihre Militärpflicht abgeleistet hatten. Auf der anderen Seite blieb dort für Barbiere und Apotheker eine sechsjährige, für andere Handwerker eine drei- oder vierjährige Wanderpflicht bestehen, nur für die Maurer, Zimmerleute und Steinmetzen und die Meistersöhne bei den Metzgern und Fischern wurde sie abgeschafft. AnhaltDessau führte noch 1855 den Wanderzwang wieder ein. Wenn man die zahlreichen Berichte durchsieht, die davon Kunde geben, wie die Einführung der Gewerbefreiheit oder die Wiedereinführung des Innungswesens auf die Lage des Handwerks gewirkt hat, so wird man dem Urteil Schmollers beipflichten müssen, daß tiefgreifende Wirkungen unmittelbar überhaupt nicht zu verspüren sind. Weder lassen sich Gesellen in großer Zahl nieder, noch verlieren Meister ihr selbständiges Brot, das ihnen die Zunftverfassung bisher garantierte. Die Zunftgesetze wirkten fort, auch wo sie aufgehoben waren. Nicht nur Verpflichtungen wie das Tragen der Leiche beim Begräbnis eines Zunftgenossen blieben, sondern vor allem gemeinsame Übereinkünfte und Absprachen und selbst Streitigkeiten um die Abgrenzung der Arbeit. In Preußen zanken sich vor allem die Bauhandwerker mit den Tischlern und Barbiere mit den Perückenmachern. Noch die Gravamina auf dem Frankfurter Hand© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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werkerkongreß 1848 beziehen sich großenteils auf die „unerlaubte" Konkurrenz nachbarlicher Gewerbezweige25. Der Einfluß der Gewerbefreiheit läßt sich besonders gut in einem Lande verfolgen, das erst spät zu ihr übergegangen ist. In Württemberg wurde 1828 der Zunftzwang nur für dreizehn Gewerbe aufgehoben, die volle Niederlassungsfreiheit begann erst am 1. Mai 1862. Die Berichte der Lokalbehörden aus den nächsten Jahren melden übereinstimmend, daß nur der Hausierhandel merklich zugenommen habe, die Struktur der Gewerbe jedoch so gut wie unverändert geblieben sei. Ganz ähnlich war es in Baden, wo im ersten Halbjahr nach Eintritt, der Gewerbefreiheit nahezu 9000 Hausierscheine ausgegeben wurden, und in Sachsen, wo nur die Schankwirtschaften und der Kleinhandel sich beträchtlich vermehrten26. Auf drei Proportionen haben die Statistiker des 19. Jahrhunderts ihr Augenmerk vor allem gerichtet, um Anhaltspunkte über die Entwicklung der Gewerbe zu bekommen: Das Verhältnis der Handwerksbevölkerung zur Gesamtbevölkerung, das Verhältnis der Meister zu den Gesellen und das Verhältnis der Handwerksbetriebe zu den Fabrikbetrieben. Schmoller hat festgestellt, daß von 1816 bis 1843 in Preußen die Meister um 8 0 % , die Gehilfen um 120 % und die Gesamtbevölkerung um 50 % zugenommen haben, während das Wachstum der Fabrikbevölkerung statistisch noch nicht zu erfassen ist27. Das entspricht einem Trend, der sich vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart feststellen läßt: Die Zahl der Handwerksbevölkerung steigt im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung (wenn auch nicht in dem gleichen Tempo wie in Preußen 1816 bis 1834), und die Gesellen nehmen gegenüber den Meistern zu. Dennoch liegt 1846 die absolute Zahl der Gesellen noch um 97 000 unter der der Meister, auf dem Lande stehen um die Mitte des Jahrhunderts noch immer fast zwei Meister einem Gehilfen gegenüber. Nur in Berlin kommen schon 1822 auf 100 Meister 185 Gehilfen. In den dreißiger Jahren sind in einzelnen Städten wie Breslau und Königsberg doppelt soviel Gehilfen vorhanden wie Meister, während in den rheinischen Industriestädten die Gesellenzahl zurückbleibt, weil an die Stelle des Meister-Gesellen-Verhältnisses der Gegensatz von Handwerk und Schwerindustrie tritt. Bei den Handwerkern, die für den täglichen Verbrauch arbeiten, den Bäckern, Fleischern, Schneidern und Schustern gibt es auch 1861 noch wesentlich weniger Gehilfen als Meister, den hohen Durchschnitt bringt das Baugewerbe — Zimmerleute, Maurer, Steinhauer — bei dem in Preußen vier bis fünf, in Sachsen sogar 18 bis 25 Gehilfen auf einen Meister kommen. Auch das Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bleibt bei den Handwerkern des täglichen Gebrauchs annähernd konstant, während es im Durchschnitt steigt. Zwischen 1846 und 1861 erhöht sich der Anteil der Handwerker an der Gesamtbevölkerung in Preußen von 4,8 % auf 5,6%, in Bayern von 7,4 % auf 8 %, in Thüringen gar von 3,1 % auf 8,6 %, nur in Baden fällt er leicht von 6,4 % auf 6,2 %. Fabrik und Handel zusammen haben in Preußen noch einen geringeren Anteil an der Bevölkerung als das Handwerk. Nur in Brandenburg (Stadt), Krefeld, Essen, Elberfeld, Barmen und Aachen überwiegt die Fabrik© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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bevölkerung. Ihr Anteil schwankt in den einzelnen Bezirken zwischen 0,9 % (Gumbinnen und Marienwerder) und 27% 2 8 . Es ist soziologisch wie ökonomisch von großer Bedeutung, daß der Anteil der Handwerker an der Gesamtbevölkerung im frühen 19. Jahrhundert zu steigen beginnt, noch ehe die Industriebevölkerung zunimmt, und daß über ein Jahrhundert stürmischer industrieller Entwicklung hinweg das Handwerk sich auf diesem hohen Anteil behauptet, ja ihn sogar noch steigert. Der Aufstieg der Industrie kann also nicht auf Kosten des Handwerks gegangen sein. Wenn einzelne Handwerke reduziert wurden, müssen andere dafür angewachsen oder ganz neue Handwerkszeige entstanden sein. Damit ist aber noch nicht viel über die Lage der Handwerker gesagt; sie kann sich ebenso verbessert wie verschlechtert haben. Auch das Zahlenverhältnis von Meistern und Gehilfen gibt keinen sicheren Aufschluß. Gustav Schmoller ist der Ansicht, daß eine große Zahl von Meistern ein ungünstiges Zeichen für die gewerbliche Entwicklung bedeute, da es auf sehr kleine, meist Ein-Mann-Betriebe, hinweise. Das mag im allgemeinen richtig sein, bedarf aber doch der näheren Nachprüfung. Denn eine Vielzahl von kleinen Betrieben kann ebensogut auf gute Einstiegschancen deuten wie auf schlechten Auftragsbestand. Die Statistik allein reicht zur Beurteilung nicht aus. Das gilt auch für die wenigen Lohnstatistiken, die wir für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts besitzen. Es besagt nicht viel, wenn daraus ein Index der Gesellenlöhne errechnet und an Hand eines sehr rohen Index' der Lebenshaltungskosten die Reallöhne abgeschätzt werden, wie es Kuczynski versucht29. Das einzig sichere Ergebnis ist, daß der Reallohn während der Krisenjahre in den Vierzigern sank, weil die Lebensmittelpreise plötzlich stark anzogen, während die Löhne nur langsam weiterstiegen. Aber das wissen wir auch ohne statistische Berechnungen. Dagegen ist es von höchster Aussagekraft, wenn wir aus Paul Ernsts Jugenderinnerungen erfahren, daß der Bergmann Ernst aus dem Harz bei einem Wochenlohn von 1½ Talern zu Weihnachten 1S61 eine sechsbändige Ausgabe von Schillers Werken für sechs Taler kaufte, daß er also den Lohn von vollen vier Wochen benötigte, um sich die Werke seines Lieblingsdichters anschaffen zu können30. Versuchen wir auf diesem Wege, jeweils in einer konkreten Situation bleibend, etwas über die wirtschaftliche Lage deutscher Handwerker auszusagen, so kommen wir zu sehr verschiedenartigen Ergebnissen. In den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts mußte der Barbiergeselle Dietz in Berlin zweieinhalb Wochenlöhne aufwenden, um sich eine Elle Tuch für einen Anzug kaufen zu können. Als ausgelernter Barbier hatte er etwa ein halbes Jahr zu arbeiten, um sein Lehrgeld wieder zu verdienen31. Um 1800 verdiente ein Strumpfwirkergeselle in Erlangen wöchentlich drei bis vier Gulden bei einer täglichen Arbeitszeit von 14 bis 15 Stunden. Mehr als einen halben Gulden brauchte er für die Miete des Webstuhles beim Meister, einen Viertelgulden als Miete für die Wohnung unter dem Dache, die gewöhnlich aus einer Stube und einer schrägen Küche und Kammer bestand. In der gleichen Stadt gab der Schlossermeister Ohm im Laufe von dreißig Monaten über 95 Gulden für Bücher aus, d. h. er © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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verbrauchte durchschnittlich im Monat so viel dafür wie ein verheirateter Strumpfwirkergeselle in der Woche verdiente. Für ihn selbst entsprach diese Summe der Mieteinnahme von 32 Monaten32. Keiner dieser Männer kann als wohlhabend gelten. Auf der anderen Seite erfahren wir, daß der Maurermeister Zelter im Berlin der friderizianischen Zeit mehrere Häuser besitzt, etwa sechzig Maurer und zweihundert Ziegelarbeiter beschäftigt und seinen Kindern Privat- und Musiklehrer hält33. Die Lage des Handwerks stellt sich durchaus nicht einheitlich dar; sie ist nach Gewerbezweig, Lokalität, Konjunktur und besonderen Verhältnissen des einzelnen sehr verschieden. Der Schneidergeselle Michaelsen hat 1834/35 in Leipzig erst bei einem Meister mit fünf, dann bei einem mit 24 Gesellen gearbeitet34. Ein Handwerker, der ein Haus besitzt, befindet sich in einer wesentlich anderen Lage als der Berufsgenosse, der bei ihm zur Miete wohnt. Ein Meister, der über einen Webstuhl verfügt, unterscheidet sich durchaus von dem Gesellen, der ihm für die Benutzung des Stuhles Miete zahlen muß. Es gibt 1800 wohlhabende Handwerker, die dreißig Jahre später verarmt sind, und es gibt Habenichtse, die in der gleichen Zeit reich werden. Der Hamburger „Stock"-Meyer, der damit anfing, neumodische Stocke herzustellen, brachte es in dem zünftigen Hamburg in mühseliger Kleinarbeit bis 1818 auf ein Vermögen von 3607 Mark Banco; zwanzig Jahre später besaß er mehr als hundertmal so viel. Zuerst stand er allein in der Werkstatt, 1830 beschäftigte er sechzig Arbeiter, im nächsten Jahrzehnt über zweihundert35. Wenn man aus Karl Fischers Memoiren schließen wollte, daß seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die wandernden Gesellen keine Arbeit mehr fanden, weil die Fabrik dem Handwerk den Boden entzogen hat, so muß man sich sogleich von Christian Mengers und August Bebel korrigieren lassen, die es erlebt haben, daß die Meister vor der Stadt auf zureisende Gesellen warteten oder ihnen einen ganzen Abend lang mit Grog zusetzten, um sie für sich einzufangen. Wanderbursche ist auch nicht gleich Wanderbursche. Wenn der Hamburger Schneider Michaelsen sein Gepäck transportieren läßt, sobald es ihm zu schwer wird, und gelegentlich die Postkutsche, in Frankreich sogar die Eilpost benutzt, so tippelt Karl Fischer ein Menschenalter später noch zu Fuß und geht fechten, während der gleichaltrige Bebel zwischen Fußreise und Bahnfahrt abwechselt. Ein Angehöriger der Schweizer Handwerkeraristokratie konnte sich auch schon im 18. Jahrhundert 70 Pfund Sterling von den Eltern schicken lassen, als er am Ende seiner Wanderzeit in London Bücher, Kleider und Werkzeuge einkaufen wollte36. Die Veränderung, die die Brechung der Zunftmonopole für die Handwerker mit sich brachte, bestand im wesentlichen darin, daß sie diese Differenzierung der wirtschaftlichen Lage förderte und in die einzelnen Gewerbe einer Stadt hineintrug. Wenn die Zahl der Gesellen freigegeben wurde, konnte der eine Meister seinen Betrieb vergrößern, während der andere im alten Trott weiterging. Wenn die Niederlassung frei war, vermochte der tüchtige Junggeselle den alten Meistern zum Trotz ein Geschäft zu eröffnen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ob das Handwerk im 19. Jahrhundert seinen goldenen Boden verlor, wie das Marxisten und Sozialromantiker gleichermaßen behaupten37, oder ob es sich behauptete, ja verbesserte, ist eine Frage, die nicht einfach mit ja oder nein beantwortet werden kann. Sicherlich sind einzelne Handwerkszweige untergegangen. Für die Perücken- oder die Bändermacher war im 19. Jahrhundert kaum noch Arbeit, die Hausweber mußten aussterben und die Spinnräder in die Rumpelkammer wandern. Aber auf der anderen Seite sind viele neue Handwerkszweige entstanden, in denen man ein besseres Auskommen finden konnte als zuvor, und die Grundhandwerke, die Bäcker und Fleischer, die Schuhmacher und Schneider, die Maurer, Zimmerleute, Tischler und Schlosser sind geblieben, so sehr sich auch ihre Arbeitsweise und ihre Aufgaben geändert haben mögen. Vielfach profitierten Handwerker nun von dem Verkauf von Industriewaren ihrer Branche, da die Kunden sich lieber an den Fachmann wandten als an den Händler. Die Industrialisierung bewirkte also eine Verlagerung von der Produktion zur Reparatur und Verteilung, die jedoch mit einem wirtschaftlichen Aufschwung verbunden war, der sich zumindest für einzelne Gebiete mit Sicherheit nachweisen läßt38. Sicher ist auch, daß sich der Lebensstandard der Gesamtbevölkerung gehoben hat. Die Frage kann eigentlich nur sein, in welchem Maße Handwerker an der Hebung des Lebensstandards teilgenommen haben, wo und warum sie zurückgeblieben sind. Daß es der Mehrzahl um die Mitte des 19. Jahrhunderts absolut gesehen schlechter als fünfzig Jahre zuvor ging, kann im Ernst niemand behaupten, der das Aussehen Deutschlands am Ende des 18. Jahrhunderts mit dem um die achtundvierziger Revolution vergleicht. Die königlich-preußische Residenzstadt Berlin hat 1800 noch keine Trottoirs, keine Droschken, kaum Straßenbeleuchtung. Schleiermacher bekam von der Hofrätin Heinz eine Laterne verehrt, die er im Knopfloch festhaken konnte, damit er an den Winterabenden den Heimweg nicht verfehlte. Die Straßen waren vor Schmutz, schmelzendem Schnee und Glatteis kaum zu passieren. Die Gasbeleuchtung kam 1826, Kanalisierung gab es noch zu Bebeis Wanderzeiten (1867) nicht. Auf der Frankfurter Messe des Jahres 1836 wurden die Bedürfnisanstalten noch von Frauen unter einem weiten Umhang umhergetragen, und in Berlin geriet man in die größte Verlegenheit, wenn man einer bedurfte. Auch um 1850 ist Berlin noch keine moderne Stadt, aber man kann doch geruhsam auf den Straßen gehen, ohne in der Dunkelheit in Pfützen zu fallen39. Wie sich die Lebensverhältnisse der unteren Stände von den letzten Jahrzehnten des 18. zur Mitte des 19. Jahrhunderts verändert haben, hat Karl Friedrich Klöden staunend mitangesehen und zum Teil am eigenen Leibe gespürt. Als Soldatenkind zeitweise im nachfriderizianischen Berlin aufgewachsen, hat er erlebt, wie kümmerlich sich Soldaten und Handwerker durchs Leben schlugen, wie roh die Sitten, wie selbstverständlich die Prügel für Kinder und Rekruten und wie gering die Ansprüche waren, die man stellte. Als der Vater dem Achtjährigen auf dem Jahrmarkt einen Bleistift kaufte, nahm er ihn mit sich ins Bett und tat aus Freude über seinen Besitz die ganze Nacht kein Auge © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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zu. Nun konnte er in seinem Schreibheft die Linien mit Bleistift ziehen, die bisher mit Hilfe von Mutters Stricknadeln entstanden waren. Sein Onkel, der Goldschmied ist und außer zwei Töchtern und einem Sohn den Neffen als Lehrling bei sich hat, wohnt mit seiner Familie in einer Stube, die zugleich als Werkstatt dient. Eine zweite Stube wird von der Großmutter bewohnt. In der Küche, die kein eigenes Fenster besitzt und das Licht durch das Fenster der großmütterlichen Stube erhält, steht der Amboß, damit man am Küchenherd das Gold und Silber schmelzen kann. Weder ein Schmelz- noch ein Glühofen ist vorhanden, Schmelztiegel werden bei Bedarf einzeln gekauft, als Blasebalg dient der Mund und ein Federwedel. Die Werkzeuge sind alt und unbrauchbar. Der Lehrling muß beim Licht des Herdfeuers und der Lötlampe arbeiten und daneben auf das Mittagessen aufpassen. 13 Stunden sitzt er so in Rauch und Dämmerung, erhält zwischendurch außer dem Morgenkaffee und dem Mittagessen nur eine Scheibe Brot und Salz und abends zwei Stullen oder Pellkartoffeln mit Butter und Salz. Frühstück und Vesper werden am Arbeitstisch eingenommen. Wenn die Arbeit drängt, wird sie bis in die Nacht und sonntags fortgesetzt. Seine Schlafstelle ist der Dachboden, auf dem die Wäsche getrocknet und Torf aufbewahrt wird; Bett, Wäschekiste und Schemel sind seine ganze Ausstattung. Neben dem Bett führt der Schornstein vorbei. Die Dachluken sind mit Holzläden schlecht verschlossen, so daß im Winter das Bett vollschneit und die Bettdecke wie die herumhängende Wäsche gefroren sind. Im Wohnzimmer brennt abends ein einziges Talglicht, bei dessen Schein der Hausherr Romane vorliest. Von den vierhundert Talern, die der Goldschmied jährlich etwa einnimmt, zahlt er neunzig Taler Miete für diese Wohnung. Obwohl Meister Willmanns nicht gerade tüchtig ist, bessern sich seine Verhältnisse im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts so, daß er innerhalb von sechs Jahren zweimal in eine größere Wohnung zieht, einen Gesellen und einen zweiten Lehrling einstellen und seine Reineinnahmen bis auf 650 Taler jährlich steigern kann. Als der Neffe ausgelernt hat und als Goldschmied schwer Arbeit findet, tun sich ihm in anderen Berufen Möglichkeiten auf, er graviert, stellt Rouletten für Kupferstecher her und gibt Guitarren-Unterricht40. Um die Mitte des Jahrhunderts ist Klöden Direktor einer Gewerbeschule mit 1500 Talern Gehalt, die Handwerksgesellen Eggels und Borsig haben ihre Maschinenbauanstalten eingerichtet; daneben aber leben immer noch Handwerker wie der Goldschmied Willmanns um die Jahrhundertwende. Daß sich dem Beweglichen und Einfallsreichen mehr Möglichkeiten bieten, daß dem Trägen oder Ungeschickten die Felle leichter wegschwimmen, unterscheidet den Zustand der Gewerbefreiheit von der Zunftordnung. Für welche der beiden Möglichkeiten man sich entscheidet, hängt wesentlich davon ab, welchen Aspekt man sieht. Seit 150 Jahren stehen sich in Deutschland die beiden Fronten gegenüber. Die einen suchen zu beweisen, daß der Wettbewerb die Leistung und damit den Wohlstand steigert, die anderen, daß er die Mehrzahl zugunsten weniger ruiniert und das Zusammenleben der Menschen unfriedlich macht. Beide können historische Beweise für ihren Standpunkt finden. Im Vormärz sind in Deutsch© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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land erst Ansätze zu dieser Entwicklung zu entdecken. Noch herrscht die Tradition vor, und die Situation in den Vierzigern ist für die Mehrzahl der Gewerbe derjenigen der siebziger Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts ähnlicher als derjenigen der kommenden Siebziger. Kleinbetrieb und traditionales Denken und Wirtschaften bilden das Kennzeichen noch unserer ganzen Periode. Die Maschine tritt als Konkurrent ernstlich erst für die Textilarbeiter auf, als handwerkliches Arbeitsgerät noch fast gar nicht. Wirtschaftlich gesehen ist das Zeitalter Goethes für das Handwerk in der Tat ein Ausklang, rechtlich ein Übergang von den alten Formen des Zunftzwanges über teilweise verwirklichte Gewerbefreiheit zu jüngeren Formen der Gewerbeordnung.

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Das deutsche H a n d w e r k in den Frühphasen der Industrialisierung Das Schicksal des Handwerks unter dem Einbruch der Industrialisierung hat die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Deutschland schon früh beschäftigt1. Seit das Heraufkommen und Dominieren neuer Produktionsformen in Umrissen zu erkennen war, haben sich Nationalökonomen, Sozialphilosophen und Politiker besorgt gefragt, was aus der kleingewerblichen Produktionsform und den sie tragenden gesellschaftlichen Schichten, den Handwerkern und Hausgewerbetreibenden, werden solle. Würden sie neben den neuen Großgewerben mit ihrer Kapitalkonzentration und technischen Überlegenheit bestehen können? Oder waren sie nicht zum Untergang bestimmt, die einen früher, die anderen später? Und wenn das ihr Schicksal war, hatte es Sinn, sich dagegen zu stemmen, oder konnte man es, wenn schon nicht abwenden, dann wenigstens verzögern? Welche rechtlichen, wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen könnten helfen, vielleicht sogar die Substanz des Kleingewerbes retten? Hier traf die Diskussion auf eine schon ältere, noch vor den Beginn der Industrialisierung zurückgehende Debatte um die Gewerbeverfassung. Ihre Pole sind mit der Alternative „Zunftzwang oder Gewerbefreiheit" gekennzeichnet. Was frommt der Volkswirtschaft, was den Gewerbetreibenden selbst mehr: eine stabile, übersichtliche Ordnung, die die Initiative des einzelnen beschränkt, ihn aber zugleich vor übermäßiger Konkurrenz abschirmt, oder die Freigabe der Initiative und damit des Wettbewerbes nicht nur zwischen den zugelassenen Meistern einer Stadt, sondern zwischen Stadt und Land, groß und klein, alt und jung, Gelernten und Ungelernten? Es macht das besondere Charakteristikum der uns hier beschäftigenden Penode aus, daß sich in ihr beide Linien der Argumentation miteinander verschränken, daß die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit des Handwerks (und im weiteren Sinne des Kleingewerbes überhaupt) gegenüber einer dem technischen Fortschritt zugewandten Großindustrie mit der Frage nach dem volksund privatwirtschaftlichen Nutzen des Wettbewerbs und seiner sozialen Wünschbarkeit verquickt wurde. Die Sprecher der Handwerker selbst sahen dabei lange Zeit in einer wettbewerbsbeschränkenden Gewerbeordnung das einzige Mittel, das Handwerk vor übermächtiger Konkurrenz zu schützen und damit den selbständigen Meister als eine der tragenden Säulen der überkommenen Gesellschaftsordnung zu erhalten. Wir wissen heute, daß die Zuspitzung der Frage nach dem Schicksal von Handwerk und Kleingewerbe auf die technische und wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit ebenso falsch war wie der Versuch, mit den Mitteln überkommener Wettbewerbsbeschränkungen und Zunftordnungen mangelnde Wett-

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bewerbsfähigkeit auszugleichen. Das Problem stellt sich uns schon deshalb anders dar, weil feststeht, daß die düsteren Prognosen, die dem Handwerk in der Frühzeit der Industrialisierung gestellt wurden, nicht eingetroffen sind, und weil wir schon daraus schließen können, daß auch in der Diagnose Fehler vorgelegen haben müssen. Deshalb ist es nicht nur angängig, sondern notwendig, die alte Frage nach dem Schicksal des Handwerks unter dem Einbruch der Industrialisierung neu zu stellen, alte Tatbestände auf Grund längerer Erfahrungen und neuer Erkenntnisse zu überprüfen und nach besseren Erklärungsmöglichkeiten für die vorgefundenen Erscheinungen zu suchen. Wir wollen dabei so vorgehen, daß wir zuerst einige der alten Lehrmeinungen mit den wichtigsten Fakten für die ganze uns bisher zur Verfügung stehende Zeitspanne, also bis zur Gegenwart, konfrontieren, um dadurch eine klare Ausgangsposition zu bekommen; dann wollen wir jedoch die frühen Phasen der Industrialisierung näher ins Auge fassen. Dabei sollen getrennt erst einige Fragen der Gewerbeverfassung, dann die wichtigsten erkennbaren Strukturwandlungen im Handwerk zwischen 1800 und 1870 erläutert und schließlich einige mögliche Ursachen für die gefundenen Erscheinungen diskutiert werden. Zeitlich grenzen wir also die Periode von 1800 bis 1870, im Kern bis 1850, als die Periode der frühen Industrialisierung ab, sachlich konzentrieren wir uns auf die „klassischen" Handwerke, die traditionellerweise zünftig waren und heute in Innungen und Handwerkskammern neu organisiert sind, ohne jedoch die spätere Zeit und die kleineren oder neueren Kleingewerbe ganz aus dem Auge zu lassen. I. Einige Fakten und einige Lehrmeinungen Es erscheint angebracht, mit einigen Fakten zu beginnen, zunächst solchen der jüngsten Vergangenheit: Im Jahre 1962 gab es in der BRD (ohne Westberlin und das Saarland) 703 000 Handwerksbetriebe mit 3,5 Millionen Beschäftigten, die einen Umsatz von fast 93 Milliarden Mark erzielten2. Diese Zahlen, noch ganz ohne Beziehung zu anderen, sagen zunächst einmal: es gibt offenbar noch ein Handwerk, und zwar ein kräftiges — eine Tatsache, die uns heute vielleicht nicht mehr wundert, die, wenn wir die Prognosen des 19. Jahrhunderts lesen, jedoch erstaunlich ist. Aussagekräftiger werden diese Zahlen, wenn man sie mit einigen wenigen anderen in Beziehung setzt, etwa feststellt, daß die Zahl der Handwerksbetriebe 12½mal so hoch ist wie die Zahl der Industriebetriebe und die Zahl der Beschäftigten immerhin 43 % der in der Industrie Beschäftigten ausmacht, auch der Umsatz des Handwerks fast ein Drittel des Industrieumsatzes erreicht3. Noch aussagekräftiger werden sie, wenn wir die zeitliche Dimension berücksichtigen und etwa feststellen, daß von 1949 bis 1962 die Zahl der Beschäftigten im Handwerk um ½ Million oder rund 16 % zugenommen hat, daß in der gleichen Zeit der Umsatz um mehr als 72 Milliarden oder 362 % wuchs, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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der Umsatz pro Beschäftigtem also von 6500 DM auf 25 9000 DM stieg. Nur die Zahl der selbständigen Handwerksbetriebe nahm in der gleichen Zeit ab, und zwar um 160 000 oder 1 9 % , wobei man berücksichtigen muß, daß sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als viele sich auf irgendeine Weise durchzuschlagen versuchten, stark überhöht war. Seit 1956 ist auch die Zahl der Betriebe ziemlich konstant geblieben. Abnahme der Betriebe und Zunahme der Beschäftigten führten schließlich zu größeren Betriebseinheiten. Die durchschnittliche Betriebsgröße wuchs von 1949 bis 1962 von 3,5 auf 5,1 Personen. Diese Zahlen sagen also aus: das Handwerk wächst, wenigstens im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Vor allem wächst seine Produktivität und damit offenbar auch seine Überlebenschance in einer industriellen Wirtschaft, wenn auch die Chance des Selbständigwerdens sinkt. Diese Aussage wird noch bekräftigt durch einen Vergleich mit der Industrie. Deren Umsatz stieg von 1955 bis 1962 nur um 74 %, während der Handwerksumsatz in der gleichen Zeit um 93 % zunahm. Das heißt also, das Handwerk wächst sogar, wenn auch vielleicht nur kurzfristig, aber immerhin noch 150 Jahre nach Beginn der Industriekonkurrenz, unter Umständen schneller als sein im vorigen Jahrhundert so gefürchteter Konkurrent. Daß es sich dabei nicht um eine ganz kurzfristige Erscheinung handelt, die etwa aus Sonderbedingungen Westdeutschlands in der Nachkriegszeit zu erklären wäre, mag aus zwei längerfristigen Zahlenvergleichen hervorgehen. Der Anteil des Handwerks am Bruttosozialprodukt ist von 1936 bis 1961 von einem Zwölftel auf ein Neuntel gestiegen und die Handwerksdichte von 45 im Handwerk Beschäftigten auf 1000 Einwohner im Jahre 1895 auf 80 im Jahre 1962. Nehmen wir also das Handwerk als Ganzes, so scheint seine wirtschaftliche Bedeutung in der entwickelten Industriegesellschaft im Verhältnis zu anderen Wirtschaftszweigen eher zu steigen als zu fallen. In merkwürdigem Kontrast zu diesem Erscheinungsbild stehen nun viele der Prognosen, die dem Handwerk in den früheren Phasen des Industrialisierungsprozesses für eben jene inzwischen eingetretenen späteren Phasen mitgegeben worden sind. Man könnte eine endlose Kette von Beurteilungen aneinanderreihen, die dem Handwerk mit unumstößlicher Gewißheit den Untergang prophezeien. Nur zwei der einflußreichsten seien erwähnt. „Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größten Kapitalisten erliegt, teils dadurch, daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird" — so verkündet apodiktisch das Kommunistische Manifest im Jahre 18484. Etwas vorsichtiger, aber im Endergebnis nicht weniger eindeutig formulierte ein halbes Jahrhundert später Werner Sombart in seinem vielgelesenen Buch „Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert", daß der „zweite große Charakterzug der gewerblichen Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert" neben der starken Vermehrung der berufsmäßig Gewerbetreibenden insgesamt „die Zu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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rückdrängung der handwerksmäßigen Organisation durch die kapitalistische" sei. Zwar trete das Handwerk in das 20. Jahrhundert noch „als bedeutsamer Bestandteil der deutschen Volkswirtschaft ein" — wie Sombart ein Blick auf die Gewerbestatistiken von 1895 belehrte — aber „an allen frißt der Wurm": „Was recht eigentlich die Bedeutung des verflossenen Jahrhunderts für die Neugestaltung der gewerblichen Produktion ausmacht, ist dieses: daß der Kapitalismus auf allen Gebieten und in allen Lagen die Fähigkeit bewiesen hat, an die Stelle des Handwerks zu treten. Er hat überall, wenn noch nicht erobert, so mit Erfolg marodiert. Man könnte auch sagen: das Handwerk ist durch die Entwicklung des 19. Jahrhunderts, namentlich wiederum der letzten Hälfte und innerhalb dieser Zeitspanne der beiden letzten Jahrzehnte in seinen Grundfesten erschüttert worden. Nicht nur, daß ihm einzelne Produktionsgebiete, wie schon in früheren Jahrhunderten, (z. Β. dem Bergbau größtenteils) vom Kapitalismus genommen wären: es ist in allen seinen Teilen angefressen, zersetzt, bedroht, gefährdet"5. Soweit Sombart im Jahre 1903. Ein Vierteljahrhundert später war er allerdings zu einer anderen Ansicht gekommen und konstatierte auf Grund der Gewerbestatistiken der 1920er Jahre: „Das für viele (unter denen ich mich selbst befinde) erstaunliche Ergebnis ist immerhin dieses: am Ende des hochkapitalistischen Zeitalters ist noch beinahe die Hälfte aller Erwerbstätigen — ohne die Landwirtschaft — handwerksmäßig beschäftigt"6. Der Meinung Marxens und Sombarts von der Notwendigkeit des Untergangs des Handwerks haben vor allem solche Nationalökonomen und Sozialphilosophen zugestimmt, die die Charakterzüge der industriellen Gesellschaft im Vergleich zu der vorindustriellen mit einem Griff fassen zu können glaubten oder die in der Wirtschaftsgeschichte eine Folge sich ablösender Stufen oder Stile sahen. Daher könnten wir hier auch Roscher oder Bücher anführen, die dem Handwerk höchstens in den nichtmodernisierten Teilen der Volkswirtschaft die Chance des Überlebens zubilligten7. Aber auch ein so vorsichtiger, auf Ausgleich bedachter und die verschiedensten Momente berücksichtigender Beobachter wie Schmoller neigte doch im ganzen zu der Auffassung, daß aller von ihm durchaus gesehener Widerstands-, Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit zum Trotz das Handwerk die „allgemeine Richtung" nicht werde aufhalten können, „die . . . dahin geht, fast in allen Zweigen der Industrie die kleinen Geschäfte zu verdrängen, eine geringe Zahl von großen Unternehmungen mit Lohnarbeitern an deren Stelle zu setzen"8. So wird man mit Recht sagen können, daß die einflußreicheren unter den deutschen Nationalökonomen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dem Handwerk eine durchaus pessimistische Prognose stellten, wobei die Frage beiseite bleiben soll, ob sie darin von den Klagen aus dem Handwerk selbst nicht stark beeinflußt waren. Mindestens für Schmoller ließe sich das unschwer erweisen. Auf einen pessimistischen Grundton war auch die große Handwerks-Enquete gestimmt, die der Verein für Socialpolitik in den 1890er Jahren durchführte. Sie bildet die Krönung einer Forschungs- und Beobachtungsweise, die das Schick© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sal des Handwerks ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner Konkurrenzfähigkeit mit Industriebetrieben der gleichen Branche sah und so die eindeu tige Überlegenheit des Groß- oder wenigstens Mittelbetriebes konstatierte9. Es wäre aber falsch, diese Ansicht, so herrschend sie auch sein mochte, als unbestritten zu bezeichnen. Schon früh hat es auch Stimmen gegeben, die eine sehr viel optimistischere, vor allem aber differenziertere Prognose stellten. Ich muß mir hier ihre Vorführung in extenso ersparen. Nur soviel sei bemerkt, daß es sich dabei um solche Nationalökonomen und Statistiker handelte, die pragmatisch vorgingen, die ihre Lehren nicht in den Rang von Stufentheorien und Geschichtsphilosophien erhoben, sondern entweder die Tradition der aufgeklärten Kameralisten und Staatswissenschaftler fortsetzten oder als Liberale den Fortbestand des Handwerks vom Grade seiner Anpassungsfähigkeit an die Veränderungen der Marktwirtschaft ableiteten. Zur letzten Gruppe gehörten etwa John Prince-Smith, der publizistische Anführer der deutschen Freihändler, oder Schulze-Delitzsch, der Gründer der genossenschaftlichen Selbsthilfe, zu der ersten Karl Heinrich Rau, vor allem aber die preußischen und sächsischen Statistiker wie Dieterici, Viebahn und Engel10. Es sollte zu denken geben, daß gerade diejenigen, die die Gewerbestatistiken selbst bearbeiteten, mit Ausnahme eines der frühesten, J . G. Hoffmann11, keine pauschalen Urteile über den notwendigen Ruin des Handwerks fällten, sondern in ihrer Diagnose sehr viele, zum Teil frappierende Unterschiede in der Entwicklung feststellten, aus der sie insgesamt eher zu einer vorsichtig optimistischen Prognose kamen. Schmoller verwarf in seiner noch heute unüberholten Untersuchung über die Lage der Kleingewerbe in Deutschland ihre Argumente nicht ganz, wenn er persönlich auch insgesamt das Handwerk stärker bedroht sah. Sein Schüler Stieda, als Historiker Schmoller klar überlegen, sprach dann am Ende des 19. Jahrhunderts, fast gleichzeitig mit Sombarts düsterer Prophetie vom Untergang, deutlich von der „Lebensfähigkeit des deutschen Handwerks", und bezeichnete es als unwahrscheinlich, daß die Industrie das Handwerk gänzlich verdrängen werde. „Vielmehr muß man annehmen", so urteilte er, „daß ihr Nebeneinanderbestehen, wie es die Gegenwart zeigt, noch auf sehr lange hinaus die Phy siognomie des gewerblichen Lebens bilden wird. Denn jede derselben (Unternehmungsformen) hat ihre eigenartigen Vorzüge, verwendet andere Arbeitskräfte, erfüllt bestimmte Anforderungen, so daß sie sich in ihren Wirkungen gegenseitig ergänzen"12. Stieda sah im Anschluß an Werner Siemens den Elektromotor als das technische Mittel an, das dem Handwerk die Anpassung an den technischen Fortschritt ermögliche, weil es auch dem kleinen Betrieb die Benutzung vielfältiger Werkzeugmaschinen gestatte. Diese Auffassung hat sich dann nach dem 1. Weltkrieg mehr und mehr durchgesetzt13. Sie wurde von der zweiten großen Handwerksenquete, die Teil einer umfassenden, von der Reichsregierung veranstalteten „Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft" war, nachdrücklich bestätigt14 und ist seitdem durch mehrere spezielle Handwerkszählungen sowohl vor wie nach dem 2. Weltkrieg erneuert worden15. Als Gesamtergebnis © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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dieser Erhebungen darf man wohl festhalten, daß das Handwerk sich den Bedingungen der industriellen Wirtschaft angepaßt hat, daß es zu größeren, kapitalintensiveren und technisch leistungsfähigeren Betrieben tendiert, sich selbst also „industrialisiert" hat, ohne doch den Charakter des handwerklichen, personbestimmten, auf besonderen Fachkenntnissen beruhenden, vorwiegend individuellen Aufträgen genügenden Unternehmens abgestreift zu haben. Es ist von der Industrie zwar verwandelt, nicht aber verschluckt oder verdrängt worden. Das trifft jedoch nur zu, wenn wir das Handwerk als Ganzes betrachten. Gliedern wir es in einzelne Branchen auf, so sehen wir sofort, daß drei Tendenzen nebeneinander bestehen und daß einzelne Zweige des Handwerks in verschiedenen Phasen der Industrialisierung verschiedene Entwicklungen durchlaufen können. Der unbezweifelbaren Verdrängung mancher Sparten steht die Stagnation und Anpassung großer Teile und das zum Teil überraschend schnelle und große Wachstum anderer, ja die Neuentstehung ganzer Handwerkszweige gegenüber. Im 20. Jahrhundert scheint, wie wir angedeutet haben, die letzte, also die Wachstumstendenz, die anderen beiden zu überragen. Es bleibt nun zu fragen, ob nicht vielleicht in früheren Phasen die Rückgangs- und Stagnationstendenzen überwogen, und damit die Entwicklung des Handwerks insgesamt einen Trend zur Schrumpfung gezeigt, die führenden deutschen Nationalökonomen der historischen und sozialpolitischen Schule in ihrer Diagnose also recht (wenn in ihrer Prognose auch unrecht) gehabt haben. Dann müßten sich also in verschiedenen Phasen der Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beträchtliche Trendverschiebungen, ja -umkehrungen ergeben haben. Wir können diese Frage hier nicht endgültig beantworten, sondern müssen uns mit einigen Hinweisen besonders für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts begnügen, die uns einer Antwort näher führen sollen. Es sei aber darauf aufmerksam gemacht, daß einer der besten Kenner der neueren Handwerksgeschichte, W. Wernet, in seiner neuesten Veröffentlichung der Ansicht einer zweimaligen Trendverschiebung zuzuneigen scheint, wenn er die Handwerksgeschichte im Industriezeitalter in drei Epochen einteilt, von denen er die erste, 1780 bis 1840, die Zeit der industriellen Revolution, mit „Das Handwerk verharrt im Herkommen" überschreibt, was auf Stagnation hindeutet, während er die zweite, 1840—1900, die Zeit der Entfaltung des Industrialisierungsprozesses als eine Zeit der Gefährdung des Handwerks anspricht, was mindestens die Gefahr des Rückgangs einschließt, und die dritte, seit 1900, als Zeit des modernen Industrialismus kennzeichnet, in dem das Handwerk seine Anpassung vollzogen habe, also am gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozeß offenbar teilnimmt16. Wir haben es hier vorwiegend mit der ersten Phase, der frühen Industrialisierung zu tun. Wir werden sie jedoch nicht auf die Zeit bis 1840 beschränken, schon um zu sehen, ob um 1840 wirklich eine Trendverschiebung vorliegt oder ob nicht die Tendenzen, die wir für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu erkennen glauben, auch in den 1840er, 50er und 60er Jahren noch weiter wirken. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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II. Die Rolle der Gewerbeverfassung Ehe wir aber nach Entwicklungstendenzen und Struktur der Handwerkswirtschaft vornehmlich im früheren 19. Jahrhundert eingehen, müssen wir uns kurz einer anderen Frage zuwenden, die in der Forschung nicht weniger Raum eingenommen hat, der Frage nach der Gewerbeverfassung. Die Handwerkerbewegung des 19. Jahrhunderts hat sich fast ganz auf dieses Thema konzentriert und folglich ist es auch von politischen und Sozialhistorikern — mich selbst eingeschlossen — stark in den Vordergrund gerückt worden. Für das Selbstverständnis des Handwerks ist es in der Tat von eminenter Bedeutung. Auch für die Geschichte des Handwerks als einer gesellschaftlichen Schicht ist die Kenntnis des Weiterbestehens, Untergehens oder Umformens der alten Zunftkorporationen unabdingbar. Nicht weniger wichtig ist sie für die Geschichte der deutschen Wirtschaftsverfassung und deren geistige, soziale und politische Voraussetzungen. Für die Frage nach der wirtschaftlichen Situation und Entwicklung des Handwerks erscheint die Gewerbeverfassung jedoch — und damit nehmen wir ein wichtiges Ergebnis vorweg, ohne es hier eingehend begründen zu können — eigentümlich belanglos. Schon Schmoller hat in seiner Geschichte der Kleingewerbe festgestellt, daß sich wesentliche Unterschiede in der Entwicklung einzelner Branchen in Territorien mit und ohne Gewerbefreiheit kaum erkennen lassen, daß die Auswirkungen der Gewerbefreiheit sich deutlich nur bei solchen Kleingewerben zeigen, die nicht zum eigentlichen Handwerk gehören, die vor allem keine spezifische Ausbildung nötig haben, am stärksten beim Hausierhandel, dann bei den Krämern, Gastwirten und Schaustellern. In den produzierenden Gewerben ließen sich zwar in den ersten beiden Jahren nach Einführung der Gewerbefreiheit meist mehr Leute selbständig nieder als zuvor, dann ging die Kurve jedoch schon wieder auf den langfristigen Durchschnitt zurück17. Und diese momentane Zunahme erklärt sich vor allem daraus, daß viele die Niederlassung bei bevorstehender Aufhebung der Zunftordnungen aufschoben, schon um die Kosten des Einschreibens, eventuell auch der Meisterprüfung samt des Umtrunks und was sonst nach altem Zunftbrauch noch dazu gehörte, zu sparen. Wie erklärt sich diese eigentümliche Wirkungslosigkeit einer Änderung der Wirtschafts- und Sozialordnung des Handwerkerstandes, die von ihm selbst doch als das eigentlich Revolutionäre seiner modernen Geschichte verstanden worden ist? Wir müssen die Antwort auf diese Frage in verschiedenen Richtungen suchen. Das wichtigste Moment scheint zu sein, daß die den Wirtschaftsablauf regulierenden Bestimmungen der Zunftverfassung, vor allem die konkurrenzhemmenden wie Zunftzwang für die städtischen Meister, Zunftbann für einen gewissen Umkreis der Stadt, das heißt Ausschluß des ländlichen Handwerks und numerus clausus in der Stadt, fast überall schon längst gefallen waren. Die erstarkenden Territorialherren des 17. und 18. Jahrhunderts hatten die Zünfte der wichtigsten korporativen Rechte beraubt und ihre eigene Macht in Richtung auf eine allmähliche Liberalisierung der Zunftverfassung geltend 21 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gemacht. Die politische Autorität der Zünfte war auch in den Reichsstädten nicht mehr groß, so daß selbst in deren Territorium sich halbzünftige und unzünftige „Bönhasen" oder „Störer", meist verheiratete Gesellen, ausbreiten konnten. Das Bevölkerungswachstum hatte seit langem in dieser Richtung gewirkt und viele Zunftordnungen zu reinen Fassaden werden lassen. August Skalweit und andere haben nachgewiesen, daß z. Β. das Landhandwerk um 1800 nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel war. So saßen nach K. Krug in den fünfzehn zahlreichsten Handwerken im ostelbischen Preußen um 1800 nur knapp zwei Drittel in den Städten und mehr als ein Drittel auf dem Lande, und in den westlichen Provinzen finden wir sogar das umgekehrte Verhältnis mit zwei Dritteln aller Handwerker auf dem Lande, so daß wir im Schnitt mit einer etwa gleich großen Verteilung des Handwerkes auf Stadt und Land rechnen können, während doch grundsätzlich noch fast überall das Landhandwerk entweder ganz verboten oder auf ganz wenige Zweige beschränkt war18. Wie viele Handwerker im extremen Fall auf den Dörfern leben konnten, zeigt das Beispiel des Marktfleckens Kornwestheim in Württemberg, das, zwischen den drei Städten Stuttgart, Ludwigsburg und Cannstatt gelegen, 1787 nach Feststellung des Oberamtmannes Kerner bei 163 Bürgern und 2 Beisitzern nur 49 Bauern zählte, außerdem aber 23 Tagelöhner, 1 Schäfer, 1 Krämer, 1 Schulmeister, 1 Invaliden und 83 Handwerker in 15 Gewerben19. Das mag, wie gesagt, ein Extremfall gewesen sein, denn Württemberg ist das ganze 19. Jahrhundert und bis heute bei allen Ländervergleichen stets das Land mit der größten Handwerksdichte gewesen20. Immerhin ist es aufschlußreich zu erfahren, daß dieser Charakterzug schon Jahre vor dem Beginn der Industrialisierung und Jahrzehnte vor Aufhebung der Zunftordnung in Württemberg zu finden ist. In der Unwirksamkeit der alten Zunftordnungen, mindestens deren Aufweichung, ist also der wichtigste Grund zu sehen, warum die Gewerbefreiheit relativ unwirksam blieb. Skalweit selbst resumierte seine Forschungen in dem Satz: „Die Bedeutung der Einführung der Gewerbefreiheit ist daher weniger in ihrer wirtschaftsstrukturellen Auswirkung als darin zu sehen, daß sie einen Zustand legalisierte, der sich bereits vorher eigengesetzlich vollzogen hatte"21. Hinzu kommt, daß auch die rechtliche Aufhebung in den meisten Gebieten, selbst in Preußen, sich nicht mit einem Schlage, sondern stufenweise vollzog, daß der Sprung ins kalte Wasser der freien Konkurrenz fast nirgend gewagt wurde, sondern ein längerer Gewöhnungsprozeß voranging, der sich in Süddeutschland über Jahrzehnte erstreckte, ehe zu Beginn der 1860er Jahre endgültig der Schlußstrich gezogen wurde. Selbst in den Territorien Altpreußens, wo — wie in jeder Wirtschafts- und allgemeinen deutschen Geschichte zu lesen steht — seit dem Gewerbesteueredikt vom 2. Oktober 1810 jedermann durch Lösung eines Gewerbescheines die Zulassung zum Gewerbebetrieb erhalten konnte, sind viele Stützen beibehalten worden. Nicht nur ist der Katalog der Gewerbe, die von der Regel ausgenommen wurden, beträchtlich; auch der Vollzug des Gewerbesteuerediktes war langsam; wo es alte Privatrechte verletzte, gestatteten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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die Behörden, um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, vielfach Ausnahmen, die Zünfte konnten freiwillig beibehalten werden, die Ausbildung der Lehrlinge, die Gesellen- und Meisterprüfungen gingen weiter, die wirtschaftlichen Sanktionen der Zünfte gegen Außenseiter, die altes, genossenschaftliches Gewohnheitsrecht darstellten, blieben in Kraft. Zwar konnte man ihm das Arbeiten nicht mehr untersagen und ihr Handwerkszeug nicht mehr zerstören, aber wer bei Unzünftigen gelernt oder gearbeitet hatte, bekam bei Zunftmeistern keine Arbeit mehr, und die Aufnahme in die Zunft selbst wurde ihm verweigert. So bestand praktisch in vielen Fällen weiterhin ein indirekter Korporationszwang. Auf die neuerworbenen preußischen Landesteile ist die Gewerbefreiheit nach 1815 zum größten Teil nicht ausgedehnt worden. In anderen, nichtpreußischen Gebieten, etwa den Hansestädten, Kurhessen und Hannover, wurde sie mit der Restauration der alten Staats- und Wirtschaftsverfassung nach dem Sturz Napoleons wieder abgeschafft. Fast alle deutschen Staaten experimentierten mindestens bis zum Beginn der 1860er Jahre mit der handwerklichen Wirtschaftsordnung, ehe sich, wenigstens für eine Generation, die liberalen Prinzipien der freien Gewerbeausübung ohne Lern-, Prüfungs- und Innungszwang, ohne Bedürfnis- oder Vermögensprüfung generell durchsetzten22. Zusammenfassend können wir sagen: so wenig es einen reinen Zunftzwang vor 1800 gab, so wenig gab es reine Gewerbefreiheit danach, noch weniger bestanden beide Grundformen gleichzeitig nebeneinander in verschiedenen Staaten, sondern wir haben es mit einer Vielfalt unterschiedlich abgestufter Zwischenformen zu tun. Das macht die Beantwortung der Frage nach der Wirkung der Gewerbeverfassung auf Wirtschaftsablauf und Wirtschaftsstruktur so schwierig, und das ist wahrscheinlich mit dafür verantwortlich, daß sich signifikante Unterschiede in der Entwicklung von Gebieten mit unterschiedlicher Gewerbeverfassung kaum feststellen lassen. Warum haben dann aber die Handwerker selbst auf die Wiederherstellung ihrer korporativen Privilegien so entscheidenden Wert gelegt? Warum häuften sich in den Staatskanzleien der deutschen Regierungen und bei den Petitionsausschüssen der Landtage die Klagen über die Gewerbefreiheit? Warum konzentrierte sich der Handwerkerkongreß von 1848 auf die Gewerbeordnung? Und warum ist die zeitgenössische Broschüren- und Zeitschriftenliteratur voll von Gewerbeverfassungsfragen? Um diese Fragen zureichend beantworten zu können, müßten wir wahrscheinlich die sozialpsychologische Verhaltensforschung bemühen. Hier mag es genügen, auf zwei Momente hinzuweisen, einmal das der Tradition und Gewöhnung: die Handwerker kannten seit Jahrhunderten die genossenschaftliche Ordnung und Kontrolle als Mittel der Existenzsicherung und erwarteten von ihr die gleiche Wirkung auch unter veränderten Umständen. Zum anderen sei auf die Erfahrung hingewiesen, daß Krankheiten zuerst immer am Symptom erkannt werden und daß das Vordringen vom Symptom zur Ursache eine wissenschaftliche Diagnose voraussetzt, die damals die deutsche Nationalökonomie noch kaum in der Lage zu geben war, geschweige denn die Betroffenen 21*

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selbst. Man hielt sich an das Nächstliegende, und das war der Konkurrent an der nächsten Ecke, der einem das Brot nahm, oder die Fabrik, die den gleichen Gegenstand billiger herstellte. Sie auszuschalten, war das nächstliegende Ziel. Welche gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen das gehabt hätte, überlegte man kaum. Hätte der Konkurrent lieber arbeitslos sein sollen, die Preise der Waren hoch, so daß sie für viele nicht erschwinglich waren? Womit sollte sich die wachsende Bevölkerung ernähren? Halfen nicht wachsendes Sozialprodukt, wachsender Konsum, höhere Produktivität, niedrigere Preise auch dem Handwerk? Das alles war dem gleichgültig, der selbst um seine Existenz rang und der andere vielleicht vorwärtskommen sah, während sein eigenes Geschäft zu stagnieren schien. Kurz: die Klagen vieler Handwerker über die Gewerbefreiheit besagen wenig über ihre wirkliche Situation und noch weniger über die Ursachen dieser Situation, sondern sind gültige Zeugnisse nur für das Selbstverständnis der Handwerkerschaft. Um zu sehen, in welcher wirtschaftlichen Lage sie sich befand und welche Strukturwandlungen sie durchmachte, müssen wir uns einen anderen Zugang suchen. III. Strukturwandlungen des deutschen Handwerks 1800—187023 Die Voraussetzungen dafür sind allerdings nicht sehr günstig. Um genau zu wissen, welches das wirtschaftliche Schicksal des Handwerks in unserem Zeitraum war, müßten wir etwa seinen Anteil am Sozialprodukt kennen, müßten über die Entwicklung von Umsatz oder Vermögensbildung, von Investitionen oder Reingewinnen Bescheid wissen. Es braucht nicht weiter erläutert zu werden, daß und warum das nicht möglich ist. Die einzigen Zahlen, die uns überhaupt zur Verfügung stehen, sind die der Meister (das heißt der Betriebe) und meist auch die der Gesellen und Lehrlinge. Zum Vergleich können wir die ebenso spärlichen Angaben gleicher Art über die Fabrikindustrie benutzen. Indem wir sie sowohl miteinander wie mit den allgemeinen Bevölkerungszahlen in Beziehung setzen, erhalten wir wenigstens Anhaltspunkte über den Anteil der Handwerker an den Gewerbetätigen und der Handwerkszugehörigen an der Gesamtbevölkerung. Daß dabei sowohl die Aggregation zu Gesamtzahlen wie die räumliche und branchenmäßige Aufgliederung, vor allem aber der intertemporale Vergleich große Schwierigkeiten machen, liegt auf der Hand. Für eine Zeit, in der die amtliche Statistik noch in den Kinderschuhen steckt, in der sie in vielen deutschen Staaten überhaupt noch nicht existiert, in der vor allem die Urtabellen von Menschen bearbeitet wurden, denen der Sinn für das Meßbare noch weitgehend fehlt, können wir von den zeitgenössischen Statistiken selbst nicht mehr als Andeutungen erwarten. Die Fragwürdigkeit und Lükkenhaftigkeit dieser Angaben hat niemand schärfer beurteilt als die amtlichen preußischen Statistiker, die 1863 in einer Festgabe für den Internationalen Statistikerkongreß in Berlin von der Mühe der Umwandlung des „bisherigen nutzlosen Tabellenkrams" in eine zuverlässige Statistik berichteten24. Trotzdem wollen wir ihre Ergebnisse mit aller gebotenen Vorsicht hier be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nutzen und dabei auch die Überlegungen kritisch prüfen, die frühere Benutzer, etwa Schmoller oder neuerdings Abraham, an sie geknüpft haben. Wir müssen uns dabei auf wenige Zusammenhänge beschränken. Zunächst wollen wir die Grundfrage prüfen, ob das Handwerk, gemessen an den Betriebs- wie an den Beschäftigungszahlen, in den ersten sechs Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts absolut sowohl wie im Verhältnis zur Gesamtbevöikerung und zur Fabrikbevölkerung gewachsen, gleichgeblieben oder geschrumpft ist. Als zweites soll die Betriebsgröße untersucht werden. Drittens aber ist die überaus wichtige Frage der branchenmäßigen und regionalen Differenzierung wenigstens anzudeuten. Wo ergaben sich innerhalb des Handwerks hier entscheidende Schwergewichtsverlagerungen? Andere, nicht minder wichtige Fragen müssen ganz außer acht bleiben, so die Ausdehnung der sogenannten Betriebs- und Fabrikhandwerker, das heißt die Verwendung von Handwerkern als Handwerker in nichthandwerklichen Unternehmungen. Für sie gibt es für das frühere 19. Jahrhundert zwar viele Einzelhinweise, jedoch keine Zählungen. Es dürfte jedoch nicht verfehlt sein, nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß alle unsere folgenden Betrachtungen über Ausweitung, Stagnation oder Schrumpfung des handwerklichen Lebensraumes ergänzt werden müssen durch die Überlegung, daß sich vielen Handwerkern hier ein neuer, zwar formal unselbständiger, dafür aber wirtschaftlich um so gesicherterer und in den Berufsanforderungen keineswegs geringerer Arbeitsbereich auftat, der sich im Laufe der Industrialisierung erweitert hat25. 1. Um 1800 gab es im damaligen Preußen nach Schätzungen Abrahams, die auf Krugs Zahlen beruhen, 300 000—350 000 Handwerksbetriebe mit rund 100 000—120 000 Gesellen und einer unbekannten Anzahl von Lehrlingen, insgesamt vermutlich um 450 000—500 000 Beschäftigte im Handwerk26. Zur gleichen Zeit sollen in den Manufakturen und Fabriken, sofern man von Fabrik überhaupt schon sprechen kann, 164 000 Arbeiter beschäftigt gewesen sein, so daß Abraham unter Einschluß nicht mitgezählter Hilfskräfte sowie der Angestellten und Unternehmer die Zahl der in den Großgewerben Beschäftigten mit 200 000 annimmt, was meines Erachtens zu hoch ist, weil viele der gezählten Unternehmungen einen großen Teil der Arbeiter im Verlag beschäftigten, diese also als Hausgewerbetreibende gezählt werden müßten. Immerhin mag diese Zahl als Anhaltspunkt gelten. Im Handwerk waren also rund l,5mal soviel Personen beschäftigt wie in den außerzünftigen größeren Gewerben. Die Bevölkerung Preußens betrug damals rund 10 Millionen Personen. Rechnet man die Handwerkszugehörigen nach dem Schlüssel aus, den die preußischen Statistiker später annahmen (Multiplikation der Meisterzahl mit 4,1 + der Gesellen- und Lehrlingszahl), so ergibt sich ein Anteil der Handwerksbevölkerung an der Gesamtbevölkerung von 14—15%. Diese Zahlen sind mit den späteren schwer vergleichbar, schon weil das preußische Territorium sich 1815 beträchtlich veränderte. Immerhin wollen wir die ungefähren Größenordnungen als grobe Anhaltspunkte im Auge behalten. Genauere Vergleiche sind erst ab 1816 möglich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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1816 besaß Preußen bei einer Gesamtbevölkerung von 10,4 Millionen knapp 260 000 Handwerksmeister mit 145 000 Gehilfen, zusammen 404 000 im Handwerk Beschäftigte, das sind 3,88% der Bevölkerung, das heißt, der Anteil des Handwerks an der Bevölkerung ist im damaligen Preußen nur knapp halb so hoch wie heute in Westdeutschland. Die Handwerksbevölkerung betrug 1,2 Millionen oder 11,6% der Bevölkerung. Bis 1843 war die Bevölkerung auf 15,5 Millionen, die Handwerkerschaft auf 720 000 angewachsen, ihr Anteil betrug nun 4,63%, der Anteil der Handwerkszugehörigen 12,8 %. Der Anstieg des Anteils an der Gesamtbevölkerung ging, wie schon Schmoller festgestellt hat27, in den fünfzehn Jahren bis 1831 sehr langsam voran, nämlich nur um 0,3%, in den folgenden 12 Jahren dann sehr viel schneller, nämlich um 0 , 9 % . Das ist bereits ein erstes beachtliches Ergebnis, denn es zeigt, daß die relative Zunahme des Handwerksanteils im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zur gleichen Zeit einsetzt, als, gefördert von Zollverein und Eisenbahnbau, die erste größere Welle der Industrialisierung durch Deutschland geht. Wir können also schon in diesem frühesten Stadium der Industrialisierung festhalten, daß das Handwerk offenbar mit der Industrie gemeinsam in seiner Bedeutung für die Volkswirtschaft steigt. Diese Entwicklung setzt sich trotz der großen Krise von 1846 bis 1849 fast ungebrochen fort. 1858 sind in Preußen bei einem Bevölkerungsstand von 17,7 Millionen die im Handwerk Beschäftigten auf knapp 1,1 Millionen gestiegen, ihr Anteil beträgt nun 5,9%, der Anteil der Handwerkszugehörigen an der Gesamtbevölkerung 15,5 %. Der Anteil der Handwerkszugehörigen ist allerdings seit 1849 um 1% gesunken — doch das ist vermutlich ein rein statistischer Rückgang, der auf der Unveränderlichkeit des Berechnungsschlüssels beruht. Noch immer werden nämlich die Handwerksgesellen als unverheiratet angenommen28. Da aber nun die Zahl der Gesellen sehr viel schneller wächst als die der Meister, ja die Meisterzahl seit 1852 sogar zurückgeht, wächst die Zahl der statistisch als Handwerkszugehörige Angenommenen langsamer als die der im Handwerk Beschäftigten. Der Zuwachs der Beschäftigten selbst bleibt nach Schmollers Feststellungen nur von 1858 bis 1861 hinter dem Bevölkerungswachstum zurück, so daß der Anteil leicht sinkt (um 0,02 Prozent!). Da aber die Gesellenzahl weiter wächst, und zwar in den vier Jahren um 1 0 % , die Meisterzahl aber weiter leicht zurückgeht, fällt der Anteil der Handwerkszugehörigen, so wie ihn die Berechnungen der preußischen Statistiker zeigen, leicht auf 14,9%. Machen wir die wohl realistische Annahme, daß die Zahl der verheirateten Gehilfen eher steigt als fällt und somit die Gesamtzahl leicht nach oben korrigiert werden muß, können wir auch für die Zeit zwischen 1849 und 1861 mindestens mit einem gleichbleibenden Anteil der Handwerksbevölkerung an der Gesamtbevölkerung rechnen. Leider ist es nicht möglich, die weitere Entwicklung ohne weiteres zu verfolgen. Die späteren Gewerbezählungen unterscheiden das Handwerk nicht mehr von der Industrie, sondern gliedern die gewerblich Tätigen nur nach Betriebsgrößenklassen auf, ohne daß man doch sagen könnte, daß z. Β. die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Klasse der Einmannbetriebe und der Betriebe mit 1—5 Beschäftigten ganz dem Handwerk zuzurechnen und in den höheren Klassen keine Handwerksbetriebe mehr zu finden seien. Einen Anhalt geben jedoch die Berufszählungen, sowohl die allgemeinen der Jahre 1882, 1895 und 1907, wie auch die besonderen Erhebungen, z. Β. die über die Verhältnisse im Handwerk vom Sommer 189529. Diese letzte soll hier zunächst kurz zu einem Vergleich herangezogen werden, da sie nicht nach den inzwischen neu entwickelten Klassifikationen der Berufszählungen vorging, sondern sich im wesentlichen an die der älteren preußischen Aufnahmen anlehnte, „so daß wir es mit einer Art von Erneuerung der alten Handwerkertabelle zu tun haben"30. Allerdings handelt es sich dabei, ebenso wie bei der gleichzeitigen Enquete des Vereins für Socialpolitik, nur um eine Repräsentativerhebung, so daß auch sie keinen exakten Anschluß an die älteren Zählungen ermöglicht, sondern nur Anhaltspunkte bieten kann31. Im ganzen Deutschen Reich machten danach die im Handwerk Erwerbstätigen knapp 5,7% der Bevölkerung aus, das heißt gegenüber dem Preußen des Jahres 1849 ist der Anteil fast gleich geblieben (5,77), gegenüber 1858 leicht gesunken (5,93). Zu einem besser vergleichbaren Ergebnis kommt man, wenn man mit Thissen aus der Berufszählung des Jahres 1895 diejenigen Handwerke aussondert, die mit denen des Jahres 1849 unmittelbar vergleichbar sind. Es werden dann sowohl die inzwischen zugrunde gegangenen oder völlig umgewandelten wie die Weber, aber auch die neu entstandenen bzw. bis zur Unkenntlichkeit mit der Industrie vermischten Handwerke, also die Extreme nach beiden Seiten, ausgelassen. Nimmt man an, daß sich Schrumpfung und Wachstum bei beiden etwa die Waage halten, so kann man sagen, daß die verbleibenden die allgemeine Entwicklung des Handwerks repräsentieren. Thissen kommt bei 24 so von ihm ausgewählten Handwerken zu dem Ergebnis, daß sich die Zahl der in ihnen Erwerbstätigen für das Gebiet Preußens in den Grenzen von 1816 von 660 C00 im Jahre 1849 auf 1,5 Millionen erhöht hat und sie einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von 5,83 % darstellen. Diese 5,83 % sind nun aber nicht mit den 5,77 % der gesamten Handwerke von 1849 zu vergleichen, sondern der Anteil dieser 24 Handwerke muß natürlich für 1849 neu berechnet werden. Er stellt sich dann auf 4,05 %. Thissen hat diese Berechnung auch nach hinten verlängert und die entsprechende Zahl für 1822 mit 3,3 % angegeben. Danach sind also zumindest die „klassischen" Handwerke in Preußen während des ganzen 19. Jahrhunderts eindeutig gewachsen. Sollte aber auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine Stagnation oder leichte Schrumpfung eingetreten sein, wie aus den von P. Voigt mitgeteilten Zahlen immerhin geschlossen werden könnte, so steht doch eines unzweifelhaft fest: ein deutlich absteigender Trend ist nicht zu erkennen. Bedenken wir die im Anfang mitgeteilten Zahlen, die den Anteil der gesamten Handwerkstätigen Westdeutschlands im Jahre 1962 mit 8 % der Bevölkerung angeben, so können wir jetzt schon sagen, daß die Bedeutung der handwerklichen Gewerbetätigkeit im Verlaufe des gesamten Industrialisierungsprozesses, das heißt von 1800 bis zur Gegenwart, auf lange Sicht jedenfalls gestiegen ist, auch wenn wir auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Grund unserer Zahlen kurzfristige, konjunkturbedingte, vielleicht auch mittelfristige, wachstumsphasenbedingte Abschwünge nicht ausschließen können. 2. Gehen wir nun zu der Frage über, wie sich die Betriebsgröße, gemessen an der Gehilfenzahl im Handwerk, verändert hat. Hier ist das Ergebnis eindeutig und auch von niemandem angezweifelt worden: die durchschnittliche Betriebsgröße wächst. Hatte um 1800 im Durchschnitt nur jeder dritte Meister in Preußen einen Gesellen gehabt, und kam noch 1819 nach Schmollers Berechnungen nur auf jeden zweiten Meister ein Geselle, so kehrte sich im Laufe des Jahrhunderts das Verhältnis durch einen stetigen Anstieg der Gesellenzahl langsam um. In den ganzen ersten sechs Jahrzehnten überragt noch die Meisterzahl. Erst 1861 ist die Zahl der Gehilfen mit 558 000 leicht höher als die der Meister mit 535 00032. Dies vor allem, weil die absolute Zahl der Meister seit 1852 sinkt, während die Gesellenzahl weiter ansteigt. Das Sinken der Meisterzahl, oder, was, cum grano salis, das gleiche ist, der Betriebszahl, hat sich jedoch nicht stetig fortgesetzt, sondern auch die Meisterzahlen haben sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder gehoben. Immer aber ist das Wachstum der Gehilfen schneller vorangegangen. Nach der Repräsentativzählung von 1895 im ganzen Reich kamen auf 100 Meister nun 113 Gehilfen, nach der Auszählung der „klassischen Handwerke" in den alten Provinzen Preußens durch Thissen sogar 184, das heißt nahezu zwei auf einen Meister. Bei dieser Auszählung zeigt sich auch ein deutliches Steigen der Meisterzahl gegenüber 1849, nämlich um 4 6 % , während die Gehilfenzahl im gleichen Zeitraum um 231 % gestiegen ist33. Wieder sei daran erinnert, daß sich diese Tendenz zur Ausweitung der Betriebsgröße in unserem Jahrhundert fortgesetzt hat, so daß heute die durchschnittliche Betriebsgröße im Handwerk bei mehr als 5 Beschäftigten liegt. Nur Zeiten starker Konjunkturabschwünge weichen von diesem langfristigen Trend zur Betriebsvergrößerung ab. Die Deutung dieses Phänomens macht ebenfalls weniger Schwierigkeiten als die anderer statistischer Erscheinungen der Handwerkswirtschaft. Es zeigt, daß das Handwerk sich den Bedingungen der industriellen Wirtschaft mehr und mehr angepaßt hat. Wir können daraus zwar nicht folgern, daß eine zunehmende Konzentration der Betriebsgrößen zu den eisernen Gesetzen des Industrialismus gehört, wie man früher vielfach gemeint hat, so daß am Schluß nur noch wenige Riesenbetriebe übrigbleiben, wohl aber, daß die Zahl der für das vorindustrielle Handwerk so typischen Alleinbetriebe und der Zwergbetriebe mit einem Gehilfen abnimmt und wirtschaftlich und technisch leistungsfähigere Betriebsgrößen erreicht werden. Fassen wir wiederum die frühen Phasen näher ins Auge, so zeigt sich, daß die Betriebsgrößen von 1816 bis 1831 relativ stabil bleiben. Auf 100 Meister kommen zwischen 50 und 60 Gesellen. Dann mit der ersten Industrialisierungswelle wachsen auch die Betriebsgrößen des Handwerks. 1843 kommen schon 76 Gesellen auf 100 Meister und in den Fünfzigern wird durch den Rückgang der absoluten Meisterzahlen dieser Trend verschärft, so daß es 1861 dann, wie wir sahen, 113 sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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3. All unsere bisherigen Betrachtungen waren jedoch viel zu global. Besonders da wir uns vorwiegend an Preußen mit seinen sehr unterschiedlichen Landesteilen hielten, neigen die Gesamtzahlen dazu, die deutlich sichtbaren regionalen Unterschiede auszugleichen. Diese lassen sich nicht leicht auf einen Nenner bringen. Vor allem ihre Entwicklungstendenz ist äußerst kompliziert. So zeigt sich nicht einfach ein Gegensatzpaar agrarischer und gewerblicher Landschaften, obwohl im Schnitt in den gewerblichen Landschaften sowohl Anzahl wie Größe der Handwerksbetriebe höher zu sein tendieren als in agrarischen, sondern es gehen hier vielfache Unterschiede der Tradition, der Branchenstruktur usw. ein. Je vielseitiger die Wirtschaftsstruktur, desto größer scheint die Zahl der selbständigen Handwerker zu sein; die Betriebsgröße hangt jedoch vielfach von anderen Faktoren ab. So ist z. Β. die Handwerksdichte (gemessen am Verhältnis der Gesamtzahl der Beschäftigten zur Gesamtbevölkerung) in Württemberg und Sachsen 1861 mit 8 % fast gleich — übrigens gleich hoch im Vergleich zu anderen deutschen Staaten, von denen keiner sonst 7 % erreicht —, die durchschnittliche Betriebsgröße unterscheidet sich in beiden Staaten jedoch beträchtlich. Sie ist in Württemberg, wie übrigens auch im Rheinland, klein, sehr groß hingegen im ganzen mitteldeutschen Bereich. Im Königreich Sachsen liegt sie doppelt so hoch wie in den Regierungsbezirken Köln oder Düsseldorf bzw. wie in Baden und Württemberg34. Schon Schmoller hat die Interpretation solcher regionalen Unterschiede viel Mühe bereitet; und er ist zu dem Ergebnis gekommen, „daß die ganze Vermögens- und Einkommensverteilung, das Wohnen in großen oder kleinen Städten, die Grundbesitzverteilung es bestimmt, ob sich heute die kleineren Handwerksgeschäfte noch halten"35. Wir dürfen hinzufügen, daß auch die Branchenstruktur dabei eine große Rolle spielt. Wo Handwerker nicht nur für den lokalen Markt arbeiten, sondern für den Export, scheinen sie z. B. zu größeren Betrieben zu tendieren. Eindeutig lassen sich für unseren Zeitraum nur zwei regionale Trends deutlich ablesen: einmal daß der Osten Preußens, der 1822 eine noch sehr viel geringere Handwerksdichte aufwies als der Westen, einen guten Teil dieses Vorsprungs bis 1861 aufholt, zum anderen, daß in den großen Städten mit Ausnahme der rein schwerindustriellen Zentren wie Dortmund oder Essen das Handwerk insgesamt besonders stark wächst und daß, mit wenigen Ausnahmen, von denen Krefeld die bedeutendste ist, in ihnen die durchschnittliche Betriebsgröße am höchsten steht. Schon 1828 fand J . G. Hoffmann in den 39 größten Städten Preußens 117 Gehilfen auf 100 Meister, während das Verhältnis in den übrigen Städten nur 58:100 und auf dem Lande gar nur 18:100 betrug. Ganz extrem niedrig war die Zahl der Gehilfen besonders bei den Landmeistern des Ostens mit nur 11 auf 100, während im Westen, in Westfalen und in der Rheinprovinz, immerhin schon 36 Gehilfen auf 100 Landmeister kamen. 1861 hatten dann alle preußischen Städte mit mehr als 20 000 Einwohnern — bis auf Krefeld, Koblenz und Trier — mindestens genausoviele Gesellen als Meister, an der Spitze stand Königsberg mit 270 Gehilfen auf 100 Meister36. Aufschlußreicher noch als die regionalen Differenzierungen sind die der Bran© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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chen. Denn hier lassen sich deutlich die drei verschiedenen Tendenzen: Wachstum, Stagnation, Schrumpfung unterscheiden, obwohl verschiedene Branchen ihre Zugehörigkeit zu diesen Kategorien im Laufe der Zeit wechseln können. So steigen in der ersten Phase der Industrialisierung manche Gewerbe, die später zu ihren Opfern zählen werden, noch an, z. Β. die zahlenmäßig überhaupt am stärksten vorhandene Leineweberei, bei der allerdings die Scheidung von Handwerks- und Hausbetrieb besondere Schwierigkeiten macht. So wächst die Zahl der Leineweber in Baden von 1810 bis 1829 sowohl relativ wie absolut am stärksten von allen Handwerken, von 1829 bis 1844 wird dann der relative Zuwachs zwar von vielen anderen Handwerken übertroffen, die Gehilfenzahl sinkt sogar um 1 0 % , aber absolut stehen sie mit 15 800 noch immer an der Spitze aller Handwerke des Landes37. Ähnlich ist es bei den Böttchern, Seilern oder Seifensiedern. So fällt z. Β. auf, daß in den relativ stark industrialisierten und sich industrialisierenden Staaten zwischen 1836 und 1849 in allen eben genannten Handwerken sogar die Meisterzahlen anwachsen, ganz unglaublich schnell besonders in den angeblich von der Industrie doch so bedrohten Textilhandwerken. In Sachsen verdoppelt sich die Zahl der selbständigen Tuchmacher, die Zahl der Strumpfwirker und der Weber vervierfacht sich. Weber und Strumpfwirker sind nun absolut mit Abstand die größten Handwerke Sachsens, haben die Schneider und Schuhmacher, die 1836 an der Spitze standen, weit überholt; Weber gibt es nun viermal soviel als Schneider38. Umgekehrt wachsen manche Handwerke zunächst langsam und steigen erst in späteren Phasen rascher39. So nehmen die Schlosser in Preußen 1840—43 erst um 9,7% zu, 1849—1852 dann bereits um 14,3%, womit sie das am schnellsten wachsende Handwerk überhaupt sind40. Auch in Baden liegt bis 1844 das Wachstum der Schlosser mit 40 % seit 1829 und 94 % seit 1810 noch nicht auffallend hoch, sondern wird vom Wachstum der Steinhauer, Nagelschmiede, Maurer, Schreiner und Dreher noch übertroffen41. Und selbst in Sachsen gehören 1836—1849 die Schlosser nur zu den unwesentlich über dem Durchschnitt wachsenden Handwerken42. Einige andere vermehren sich in fast allen Phasen ziemlich im Gleichschritt mit der Bevölkerung. Man hat dazu vor allem die Nahrungsmittel- und Bekleidungsgewerbe gerechnet, die Bäcker und Fleischer, die Schneider und Schuhmacher; aber auch hier wären viele Qualifikationen anzubringen. So ist z. B. in Preußen zwischen 1816 und 1861 nur die Zahl der Bäckermeister ungefähr im Gleichschritt mit der Bevölkerungszahl gestiegen, nämlich um 4 4 % , während die Fleischer ( + 6 1 % ) , Schneider ( + 7 9 % ) und Schuhmacher ( + 8 9 % ) überproportional zunahmen und die Gehilfenzahl im Schnitt doppelt so schnell stieg wie die Bevölkerung (etwas weniger bei den Bäckern mit 8 6 % , etwas mehr bei den Schneidern mit 103%, ziemlich genau doppelt so schnell bei den Schuhmachern und Fleischern (97 bzw. 92%) 4 3 . Es kann aber auch vorkommen, daß die Zahl der Fleischer und Bäcker abnimmt, und zwar nicht nur im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, sondern auch in absoluten Zahlen, — wie das in Sachsen zwischen 1836 und 1849 und in Baden zwischen 1810 und 1829 festzustellen ist44. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Zu den überproportional wachsenden Gewerben gehören fast stets die Baugewerbe. Bei ihnen machen sich jedoch konjunkturelle Schwankungen besonders stark bemerkbar. Obwohl hier die durchschnittliche Betriebsgröße schon bei Beginn der Industrialisierung weit über der anderer Handwerke lag, kommt das Gesamtwachstum fast ganz von der Gehilfenzahl, während die Meisterzahl teilweise schon früh abnimmt oder stagniert. In Sachsen kommen schon 1849 auf einen Maurermeister 26 Gehilfen. Aber auch da gibt es Ausnahmen und Trendverschiebungen verschiedener Art: Die Maurer nehmen teilweise sehr viel schneller zu als die Zimmerleute, gelegentlich ist es aber auch umgekehrt45. Insgesamt gilt, daß, je näher wir das Handwerk in der Frühindustrialisierung betrachten, desto verwirrender das Bild wird. Die Besonderheiten eines Gewerbes, einer Gewerbelandschaft, einer Konjunktursituation überwiegen. Die Erscheinungen widersprechen sich teilweise. Die durch die jeweilige Technik der statistischen Erhebung bedingten Eigenheiten treten stärker hervor und führen zu Verzerrungen. Manches bleibt schlechthin unerklärlich, solange man sich darauf beschränkt, die Zahlenergebnisse nur mit Hilfe theoretischer Überlegungen zu interpretieren. Sehr leicht kommt man dann in die Gefahr zu zeigen, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Man vermutet entweder Fehler in der Erhebung oder kommt zu Schlüssen, die sich durch die statistischen Ergebnisse zwar abdecken lassen, nichtsdestoweniger aber falsch sind. Als Beispiel sei ein besonders krasses Fehlurteil in der statistisch zwar sorgfältig gearbeiteten, leider aber fast keine anderen Quellen heranziehenden Arbeit von Abraham über den „Strukturwandel im Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (1955) genannt. Abraham schließt aus dem Anwachsen des Handwerks, vor allem auch solcher Handwerke, deren Fertigkeiten in den Fabriken besonders gebraucht wurden, wie der Schlosser, Schmiede, Klempner, Tischler usw., daß diese in größerem Umfang in den Fabriken noch gar nicht beschäftigt sein konnten, denn dann hätte das Handwerk selbst nicht so stark anwachsen können46. Nun wissen wir aber aus vielen Einzelforschungen über die frühen Maschinenfabriken, etwa die Bodmersche in St. Blasien, die Harkortsche in Wetter an der Ruhr, die Borsigsche in Berlin usw., daß ein sehr hoher Prozentsatz der Arbeiter dieser Fabriken gelernte Handwerker, besonders Schlosser, Schmiede, Klempner usw. waren, weil nur sie die wichtigsten Voraussetzungen für den Maschinenbau mitbrachten, und eine neuere Monographie aus Ostberlin hat dieses Ergebnis ausdrücklich für den ganzen deutschen Maschinenbau sowohl vor wie nach 1850 bestätigt47. Obwohl das Handwerk selbst stark wächst, muß es also Arbeitskräfte an die Fabriken gegeben haben, und der Zufluß an neuen Arbeitskräften im Handwerk selbst muß größer gewesen sein, als Abraham es für möglich hält, wobei nicht nur an Lehrlinge und branchenfremde Kräfte zu denken ist, sondern vor allem an die im In- und Ausland wandernden Gesellen, die nun offenbar eher ständige Arbeitsstellen fanden als zuvor. Um zu richtigen Schlüssen zu kommen, muß man also etwas von der Institution des Gesellenwanderns und davon wissen, wie sehr sich hier in vorindustrieller Zeit nicht nur die höhere Ausbildung der Handwerker vollzog, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sondern auch ihre ständige Unterbeschäftigung verdeckt wurde48. Solche Beispiele zeigen, daß wir bei der Erklärung für die statistisch vorgefundenen Strukturwandlungen im Handwerk in der Frühphase der Industrialisierung uns nicht mit einer bloß logischen, von naheliegenden Hypothesen ausgehenden Argumentation begnügen dürfen, sondern zusätzliche, nicht quantitative und vielleicht auch nicht zu quantifizierende Quellen zu Rate ziehen müssen, wollen wir nicht sehr in die Irre gehen. IV. Erklärungen für die vorgefundenen Strukturdaten Das führt uns zu dem letzten Teil unserer Ausführungen, in dem einige Erklärungsmöglichkeiten für die gefundenen und hier nur in sehr grobem Umriß verzeichneten Erscheinungen der Handwerkswirtschaft im Zeitalter der frühen Industrialisierung diskutiert werden sollen. Dabei erscheint es mir wichtig, daß wir das Thema „Handwerk in der industriellen Gesellschaft und Wirtschaft" unter anderen Gesichtspunkten sehen als unter dem seiner Konkurrenzfähigkeit mit der Großindustrie. Denn diese Betrachtungsweise geht fälschlicherweise davon aus, daß beide vor allem im Substitutionswettbewerb stehen, und übersieht den doch viel stärkeren komplementären Charakter des Verhältnisses zwischen Industrie und Handwerk. Sie beschränkt sich überdies auf zwei Sektoren der Gesamtwirtschaft und übersieht, daß beide aktiv und passiv in gesamtwirtschaftliche Leistungszusammenhänge eingefügt sind. Noch dazu liegt ihr, meist unbewußt, das Modell einer stationären Wirtschaft zugrunde, bei der es nur um Verteilung des Kuchens, nicht aber um dessen Vergrößerung geht. Wenn wir statt dessen eher nach dem gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozeß und den damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandlungen fragen, bei denen die Prozesse in Handwerk und Industrie genauso oft parallel wie konträr verlaufen, werden wir viele bekannte Erscheinungen auf einmal in anderem Licht sehen und manche unerklärten oder widerspruchsvollen Ergebnisse der Gewerbestatistik sehr viel besser erläutern können. Dann erscheint es nicht mehr widerspruchsvoll, sondern folgerichtig, daß das Handwerk an dem volkswirtschaftlichen Entwicklungsprozeß positiv und oft auch überproportional teilgenommen hat, wissen wir doch heute, daß sich damit bedeutende Umschichtungen vom primären über den sekundären auf den tertiären Sektor vollzogen haben, die Ausdruck einer ständigen Erhöhung der Produktivität und der Erweiterung und Komplizierung der arbeitsteiligen Verkehrswirtschaft sind. Daran haben auch solche Sektoren teilgenommen, die nicht Schrittmacher der Entwicklung waren, aber für deren Einwirkung offen standen. Das Wachstum des Handwerks in der industriellen Wirtschaft ist gewiß weniger spontan als induziert, aber es ist weithin echt. Das Handwerk war kein führender Sektor beim „take off" des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses im Sinne Rostows49, aber es ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich der anderswo begonnene Prozeß über die Gesamtwirtschaft verbreitet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Daß damit einschneidende Strukturwandlungen verbunden sind, braucht weder zu überraschen, noch für das Handwerk fürchten zu lassen. Sicher ist, daß das Handwerk seine Stellung vor allem deswegen halten, ja ausbauen konnte, weil in ihm selbst sich eine Verschiebung vom sekundären zum tertiären Sektor vollzog, der für den Fortschritt aller modernen Industriewirtschaften so charakteristisch ist. Damit ist nicht nur gemeint, daß, wie sich für die jüngsten Jahre statistisch nachweisen läßt, der Anteil des Handelsumsatzes am Gesamtumsatz des Handwerks steigt — von 18,5 % im Jahre 1949 auf 28 % 196150 — sondern auch, daß viele Handwerke selbst von der Produktion von Gütern mehr und mehr auf die Erstellung von Dienstleistungen übergehen. Im Grunde ist das schon bei der so oft als Beispiel des Niedergangs beschriebenen Umstellung etwa des Schuhmacherhandwerks von der Produktion von Einzelstücken auf die Reparatur und den Verkauf von Schuhen der Fall, ebenso aber auch bei der Ausdehnung der sogenannten Anbringungshandwerke, der Klempner, Installateure oder Elektriker und schließlich Autoschlosser, die durch die Industriewirtschaft ganz neue Funktionen bekommen oder überhaupt erst entstehen. Wie verfehlt eine Deutung der im Handwerk vor sich gehenden Strukturwandlungen sein kann, die diese Gesichtspunkte außer Betracht läßt, sei wiederum an einem Beispiel aus der neueren Literatur vorgeführt. H. Bechtel, in seiner Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, bringt unter den Beispielen, wie die Verwendung früher unbekannter Fertigungsverfahren „einzelnen Handwerkszweigen den Boden unter den Füßen weggezogen und ihren unaufhaltsamen Rückgang besiegelt" habe, auch das: „Kerzen erübrigten sich, seit man die Räume besser mit Petroleum, später mit Gaslampen, schließlich mit elektrischem Strom erleuchtete"51. Gewiß, der Vorgang ist klar. Jedoch, abgesehen davon, daß erst noch zu prüfen wäre, ob der absolute Rückgang der Kerzenproduktion wirklich so hoch gewesen ist — bedenkt man, wie teuer und daher selten im Gebrauch Kerzen beim gemeinen Mann der vorindustriellen Zeit gewesen sind —, abgesehen auch davon, ob dieser Rückgang nicht in erster Linie auf Kosten der hausgewerblich, für den Eigengebrauch fabrizierten Kerzen ging: — es fehlt völlig das Gegenargument. Angenommen, die Produktion von Kerzen sei zurückgegangen oder nicht mehr gewachsen, angenommen auch, sie sei ganz oder zum größten Teil auf Fabriken übergegangen, und die, übrigens sehr kleine, Berufsgruppe „Kerzenmacher" oder „Lichtzieher" verschwunden52. Der nicht nur für den Verbraucher, sondern auch für das Gesamthandwerk viel entscheidendere Teil des beschriebenen Prozesses ist ja wohl die Ausdehnung der Beleuchtung mittels erst Petroleum-, dann Gas-, dann aber elektrischem Licht. Wer aber stellte, mindestens anfangs, die neuen Lampen her, wer installierte sie, wer legte die Leitungen, wer reparierte und ersetzte sie, wer arbeitete in den städtischen Gas- und Elektrizitätswerken usw.? Die Antwort kann nur sein: großenteils Handwerker. Zwar nicht die alten Kerzenmacher, aber andere Handwerker, die sich um soviel mehr ausdehnen konnten, als mit dem steigenden Lebensstandard und der fortschreitenden Urbanisierung das künstliche Licht eine ganz andere Rolle spielte als je vor der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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industriellen Revolution. Und könnte man die Zahl der in diesen Gewerben Beschäftigten mit der der Kerzenmacher vergleichen oder den in beiden Sparten erzielten Realverdienst — so würde sich erst recht zeigen, wie unsinnig jede Betrachtungsweise ist, die es nur auf den „Untergang" alter Handwerkszweige abstellt, den gesamtwirtschaftlichen Wachstums- und Strukturwandlungsprozeß jedoch außer acht läßt53. Halten wir also als eines der wichtigsten Gesamtergebnisse unserer Untersuchung fest, daß die Industriewirtschaft zwar das Handwerk zur Anpassung an neue Produktions- und Absatzweisen gezwungen hat, daß sie innerhalb des Handwerks auch vielfältige, mitunter komplizierte und schmerzhafte Umschichtungsprozesse hervorgerufen hat, daß sie aber, soweit wir bisher sehen können, das Handwerk als solches nicht zum Untergang verurteilte, sondern an dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum kräftig teilhaben ließ. Wenden wir uns jedoch zum Schluß noch einmal der Anfangsphase der Industrialisierung im engeren Sinne zu. Es könnte ja sein, und wir haben im Verlaufe unserer Untersuchung mehrfach Hinweise darauf gefunden, daß die Industrialisierung sich nicht nur auf verschiedene Branchen sehr verschieden auswirkte, sondern diese Auswirkungen auch in verschiedenen Phasen der Industrialisierung sich voneinander unterschieden. Ohne hier, wie eigentlich nötig wäre, auf die Problematik der Zerlegung des Industrialisierungsprozesses in verschiedene Phasen oder Stadien einzugehen, können wir doch einige für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts charakteristische Bewegungen feststellen, die der Erklärung bedürfen. Da ist z. Β. die Beobachtung, daß es vor allem die großen, aber auch dem Arbeitsvorgang nach unspezialisierten Handwerke sind, die den Wachstumsprozeß des Gesamthandwerks tragen, also Weber, Schuhmacher, Schneider, Bäcker, Fleischer und Maurer, während es später eher die spezialisierteren, feinere Arbeiten liefernden und höhere Funktionen wahrnehmenden Handwerke sind, denen diese Aufgabe zufallt54. Vor allem aber bedarf der Erklärung, ob der aus unseren Daten zweifelsfrei hervorgehende relative Anstieg der Beschäftigtenzahl des Gesamthandwerks im Verhältnis zur Bevölkerung wirtschaftlich für das Handwerk eine Verbesserung oder nicht umgekehrt eine Verschlechterung seiner Lage gebracht hat. Bedeutete das nicht eine Verschärfung des die ganze Handwerksgeschichte begleitenden, von den Handwerkern selbst immer wieder so in den Vordergrund gestellten Problems der „Übersetzung"? Wenn ein Bäcker statt 412 nur noch 393 Menschen oder ein Schneider statt 168 nur noch 146 zu beliefern hatte, bedeutete das nicht, daß sein „Nahrungsspielraum" eingeengt wurde, daß die Konkurrenz wuchs und dem einzelnen ein immer kleinerer Anteil am Kuchen zuteil wurde? Das ist oftmals, selbstverständlich vor allem von den Betroffenen selbst, so gedeutet worden. Diese Möglichkeit kann auch keineswegs ausgeschlossen werden. Zugrunde liegt ihr jedoch die schon erwähnte statische Annahme, daß kein gesamtwirtschaftliches Wachstum stattgefunden habe, der zu verteilende Kuchen also gleich groß geblieben sei, wenn er nicht gar geschrumpft ist, und daß es keine bzw. nur unwesentliche strukturelle Verschiebungen innerhalb der Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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samtwirtschaft gegeben habe. Sind diese Annahmen aber realistisch? Die zweite ist es zweifellos nicht. Wir wissen aus vielen Quellen, und hier müssen wir besonders die erzählenden, etwa Lebensberichte, mit heranziehen, da diese Dinge statistisch im allgemeinen nicht erfaßt sind, daß schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Struktur des Marktes für Handwerkserzeugnisse sich insofern verschob und erweiterte, als der in agraren Gesellschaften generell hohe Anteil der häuslichen Produktion nachließ und die verkehrswirtschaftliche Arbeitsteilung beachtlich zunahm. Vor allem in den Städten, aber teilweise auch schon auf dem Lande wandelte sich der Haushalt von einer Konsum- und Produktionseinheit mehr und mehr in Richtung auf eine bloße Konsumeinheit, Von den Dutzenden von häuslichen Arbeiten, Spinnen und Weben, Holzmachen und Lichterziehen, Backen und Schlachten, Bauen und Reparieren gingen immer mehr auf das Handwerk über. Wir können das nicht quantifizieren, aber der Trend ist klar. Er verläuft in Richtung auf eine größere Arbeitsteilung und eine größere Marktabhängigkeit der Haushalte, damit aber auf einen Zuwachs an Nachfrage gerade für die Grundhandwerke, deren Wachstum für die erste Periode der Industrialisierung wir ja feststellten. Das gibt uns auch einen Hinweis, in welcher Richtung wir wohl die Antwort auf unsere erste Frage suchen müssen, ob nämlich in dieser Periode gesamtwirtschaftliches Wachstum stattgefunden hat oder nicht. Größere Arbeitsteilung ist ja eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für solches Wachstum. Umgekehrt gibt daher wachsende Arbeitsteilung einen Hinweis auf einen solchen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozeß. Jedenfalls ist anzunehmen, daß, wenn die Haushalte Handwerksleistungen in erhöhtem Umfang in Anspruch nehmen, sie durch höhere Einkommen, vor allem höhere Geldeinkommen, dazu befähigt werden. Es kann also wohl angenommen werden, daß die höhere Besetzung des Handwerks nicht eine zunehmende Übersetzung in einer im ganzen statisch verharrenden Wirtschaft, sondern Ergebnis, ja vielleicht Voraussetzung einer wachsenden Wirtschaft gewesen ist. In traditioneller wirtschaftshistorischer Terminologie würde das heißen, der „Nahrungsspielraum" des Handwerks hat sich möglicherweise vergrößert. Ganz sicher nachweisen läßt sich das jedoch nicht, solange wir keine Angaben über Umsatz, Einkommen usw. hinzufügen können, wenn ich persönlich auch aus vielerlei Gründen annehme, daß das Bruttosozialprodukt bzw. Volkseinkommen in Deutschland pro Kopf der Bevölkerung auch schon vor der Jahrhundertmitte langsam — vielleicht mit einem Schnitt von 1% jährlich — gewachsen ist und das Handwerk daran einen zumindest leicht überproportionalen Anteil gehabt hat. Was aber kann das Faktum „Handwerk wächst in der frühen Phase der Industrialisierung stärker als Gesamtbevölkerung" volkswirtschaftlich und soziologisch noch aussagen, wenn schon eine sichere Aussage, ob das im Rahmen eines gesamtwirtschaftlichen Wachstums oder Stagnations- oder Schrumpfungsprozesses stattfand, mit letzter Sicherheit nicht möglich ist? Es sagt jedenfalls aus, daß der Bevölkerungsanstieg, der von der Landwirtschaft offenbar nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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mehr, von der Industrie und den Dienstleistungen noch nicht oder noch nicht völlig absorbiert werden konnte, vom Kleingewerbe aufgefangen wurde. Diese Erklärung hat in der Tat viel für sich. Sie würde gedeckt durch eine ganze Reihe zeitgenössischer Beobachtungen, nicht nur die sogenannten Übersetzungserscheinungen im Handwerk, was immer man konkret darunter verstehen mochte, sondern auch durch das in den vierziger Jahren ja zunehmend diskutierte Pauperismusphänomen, durch die vielfach bezeugte Tatsache, daß das Handwerk von der Krise der späten 1840er Jahre besonders hart getroffen wurde, durch die besonders nach der Revolution emporschnellende Auswanderungsquote gerade unter den Kleingewerbetreibenden, oder durch die Beobachtung, daß die Gewerbefreiheit jene Kleingewerbe wie den Hausierhandel emporschnellen ließ, die man als Zuflucht von Grenzexistenzen ansehen kann. Sie würde auch gestützt durch spätere Verläufe. Mit ihrer Hilfe läßt sich z. B. erklären, warum in der zweiten Phase der Industrialisierung der Eindruck fast allgemein war und zum Teil auch statistisch bestätigt wird, daß der nun schneller wachsenden Industriebevölkerung eine nur noch leicht wachsende, zum Teil stagnierende oder deutlich schrumpfende Handwerksbevölkerung gegenübersteht. Das hieße nämlich, daß der Industrialisierungsprozeß in Deutschland nach einem qualvoll langsamen Beginn in der ersten Jahrhunderthälfte nun endlich soviel Tempo und Gewicht gewinnt, daß er die überschüssige Bevölkerung aufsaugen kann, die zuvor im Kleingewerbe ihre Zuflucht gefunden hatte. Das zwänge uns freilich, die Aufsaugung von Handwerkern durch die Industrie in der zweiten Phase anders zu interpretieren, als es bisher meist geschehen ist. Sie hat dann nämlich nicht das „alte Handwerk", von dem das Sprichwort sagt, daß es goldenen Boden habe, vernichtet, sondern nur jenen Überschuß absorbiert, der sozialhistorisch gar nicht zum Handwerk gehört, sondern zu den unterständischen Schichten. Das ist natürlich nicht so zu verstehen, daß man individuell auseinanderrechnen könnte, wer, auf Grund alter Tradition etwa oder zunftmäßiger Lehrzeit, zum „alten", soliden Handwerk gehört und wer zu jenem nirgendwo recht sein Auskommen findenden „Überschuß", sondern tatsächlich nur rein statistisch, so daß einfach ein gewisser Prozentsatz der Handwerkerbevölkerung infolge dieser Aufnahme des Bevölkerungsüberschusses durch das Kleingewerbe zu jenen Grenzexistenzen zählen mußte, die bei weiterschreitender Industrialisierung nun von Industrie und den Dienstleistungsgewerben aufgenommen werden konnten55. Welche von den beiden hier vorgeführten Erklärungen ist nun die plausiblere, die, daß das Wachstum des Handwerks in der Frühzeit der Industrialisierung echt und dauerhaft war oder die, daß es unecht, und nur vorübergehend gewesen ist? Müssen wir uns für eine entscheiden, weil sie sich gegenseitig ausschließen? Mir scheint, und damit komme ich zum Schluß, daß sie sich nicht ausschließen, sondern beide gleichzeitig angewandt werden und zusammen das Schicksal des Handwerks im Zeitalter der frühen Industrialisierung erklären können. Bei einem Teil der Handwerke, in manchen Regionen und für manche Betriebe gilt, daß sie sich in einem echten Anpassungsprozeß den Bedürfnis© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sen einer sich industrialisierenden Wirtschaft angepaßt und somit am gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozeß teilgenommen, oft sogar überproportional teilgenommen haben. Für andere Teile des ja sehr komplexen Sektors „Handwerk", z. B. für die Weberei, aber auch für einzelne Regionen und Betriebe in sonst „gesunden" Branchen gilt ebenso, daß sie Zufluchtsort anderweitig nicht getragener Bevölkerungsteile waren und sich im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts dann mehr und mehr auflösten. Sie sind die lebendigen Zeugen des „Niedergangs" des Handwerks, die anderen die nicht weniger lebendigen, wenn auch weniger lautstarken der Selbstbehauptung und des Aufstiegs geworden. Eine Wirtschaftsgeschichtsschreibung, die sich nur an Beispielen orientiert, die nur mikroökonomische oder sektorale Vorgänge ins Auge faßt, kann daher ebenso wohl die eine wie die andere These vertreten. Erst unter gesamtwirtschaftlichem und gesamtgesellschaftlichem Aspekt erhalten beide den ihnen angemessenen Stellenwert.

22 Fischer, Wirtschaft

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D i e R o l l e des Kleingewerbes i m wirtschaftlichen Wachstumsprozeß in Deutschland

1850—1914

Vorbemerkung Die folgende Untersuchung stellt einen Versuch dar, das Buch von W. G. Hoffmann, F. Grumbach und H. Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, für wirtschaftshistorische Fragestellungen auszuwerten. Sie beschränkt sich daher im wesentlichen auf die dort gegebenen Daten. Da Hoffmann und seine Mitarbeiter leider keine Originalzahlen angeben und die Methoden der Gewinnung ihrer Daten nur kursorisch erläutern, ist eine solche Auswertung natürlich der Kritik ausgesetzt, daß sie sich auf künstliche, unbewiesene Reihen stützt. Eine endgültige Klärung der in der Untersuchung gestellten Frage ist daher nur möglich, wenn ihre Ergebnisse durch andere Daten gestützt werden, die unabhängig von den bei Hoffmann angegebenen Zahlen gewonnen sind. Bei der Ausarbeitung des Referates hat mich Herr Dipl.-Volkswirt Peter Czada unterstützt, für Hinweise zur Verbesserung des Manuskriptes danke ich Herrn Professor Knut Borchardt, München. 1. Problemstellung und Quellen Daß in Deutschland zwischen 1850 und 1914 ein langfristiger, nur von zyklischen Krisen und Stockungen unterbrochener Wachstumsprozeß der Volkswirtschaft stattgefunden hat, ist unbestritten. Seine Größe haben Hoffmann und seine Mitarbeiter unlängst mit Hilfe der Aufbringungs-, Verteilungs- und Verwendungsrechnung geschätzt. Ganz grob kann man ihre Ergebnisse so zusammenfassen: 1. Das Nettosozialprodukt zu Faktorkosten (Volkseinkommen) verzehnfachte sich zu laufenden Preisen nach der Verteilungsrechnung1. 2. In Preisen von 1913 verfünffachte sich das Nettoinlandsprodukt nach der Aufbringungsrechnung von 9,5 auf 48,5 Milliarden Mark. Das entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 2,6 %2. Sie war damit etwas geringer als die englische Wachstumsrate, die für das ganze 19. Jahrhundert auf durchschnittlich 2,8 % berechnet worden ist; für den Zeitraum ab 1872 entsprach sie jedoch der englischen Rate. 3. Bei einem Bevölkerungszuwachs von knapp 22 Millionen oder 60% beträgt das reale Wachstum der deutschen Volkswirtschaft pro Kopf der Bevölkerung (von 267 auf 691 M.) rund 160%, was einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 1,5% entspricht3.

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Unterstellen wir, daß diese Schätzungen im großen und ganzen richtig sind, so können wir also davon ausgehen, daß das Sozialprodukt in Deutschland nicht nur nominal, sondern auch real, nicht nur absolut, sondern auch relativ zur Bevölkerungszahl gestiegen ist, wenn auch nicht so frappant, wie man vielleicht vermuten würde, wenn man von einzelwirtschaftlichen, branchengebundenen oder sektoralen Erfolgsdaten oder dem nach dem zweiten Weltkrieg üblich Gewordenen ausgeht. Die Frage, die wir nun stellen, lautet: Welches war der Anteil, den das Kleingewerbe an diesem Wachstumsprozeß hatte? Ist es im Gleichschritt mit der übrigen Wirtschaft gewachsen oder erkennbar über- oder unterproportional, oder war seine Entwicklung gar gegenläufig zum allgemeinen Trend, also negativ? Diese Frage ist klar und ist leicht gestellt. Aber läßt sie sich überhaupt beantworten? Hoffmann und seine Mitarbeiter sagen auf den 842 Seiten ihres Buches so gut wie nichts darüber aus. Die Kategorie „Kleingewerbe" kommt bei ihnen ebensowenig vor wie ihre Untergruppen „Handwerk" oder „Hausindustrie". Die Abteilung „Industrie und Handwerk" wird vielmehr nur nach vierzehn Branchen aufgeteilt. Auch die Sparte „Handel" ist nicht unterteilt, so daß man die Kleinhändler kaum isolieren kann; höchstens die Gruppe „Gaststätten" und die Gruppe „Friseure und Apotheker" innerhalb des Dienstleistungssektors könnten einen gewissen Anhaltspunkt geben. Nehmen wir an, daß die Gaststätten durchweg kleingewerblichen Charakter besitzen, was für die genannte Periode wohl cum grano salis zutrifft, und sehen wir sie als repräsentativ für kleingewerbliche Unternehmenseinheiten überhaupt an, was wohl kaum zulässig ist, so können wir auf Grund der Hoffmann-Daten wenigstens eine grobe Aussage treffen: Die „Produktion" der Gaststätten an Dienstleistungen (geschätzt aus Umsätzen aus dem Fremdenverkehr, einschließlich der Eisenbahnreisenden und dem Konsum von Bier, Spirituosen und Wein) hat sich in Preisen von 1913 zwischen 1870 und 1913 verfünffacht, ist also wesentlich schneller gewachsen als das gesamte Nettoinlandsprodukt, das sich in der gleichen Zeit nur knapp verdreifachte4. Überproportional scheint auch das Wachstum bei den Friseuren und Apothekern gewesen zu sein, die zu den „sonstigen Dienstleistungen" zählen und wohl eindeutig kleingewerblichen Charakter haben. Für ihre Wertschöpfung wie für ihr Arbeitseinkommen gibt es allerdings nur wenige Hinweise. Hoffmann und seine Mitarbeiter nehmen an, daß sich ihre Arbeitsproduktivität zwischen 1850 und 1913 nicht änderte, so daß man die Wertschöpfung von 1850 aus der von 1913 extrapolieren kann, und daß das Arbeitseinkommen sich parallel zu dem der allgemeinen Einkommen entwickelte, worauf verstreute Angaben aus verschiedenen Stichjahren hinweisen, bei denen das Arbeitseinkommen der Friseure jeweils um 10% über dem des Durchschnitts der Industriearbeiter lag. Eine Veränderung der relativen Bedeutung dieses Gewerbes wäre demnach lediglich aus den veränderten Proportionen bei den Beschäftigtenzahlen zu erschließen, und hieraus ergibt sich in der Tat ein sehr deutliches 22*

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Wachstum: Die Zahl der Friseure und Apotheker nahm in unserem Zeitraum um rund 450 % zu, die der Beschäftigten insgesamt nur um 109%. Eine solche überproportionale Zunahme der Kleingewerbe des Dienstleistungssektors leuchtete wohl ohne weiteres ein, darf uns jedoch nicht zu Rückschlüssen auf das Kleingewerbe insgesamt verleiten, vor allem nicht auf das Kleingewerbe des sekundären Sektors. Wie sieht es nun damit aus? Der gesamte Sektor Industrie und Handwerk zeigt für unseren Zeitraum (ebenso wie der private Dienstleistungssektor ohne häusliche Dienste) eine überproportionale Wachstumsrate, nämlich 3,8 % im Durchschnitt der Jahre 1850 bis 1913 (Handel/Banken, Versicherungen/Gaststätten = 3,2 % ) 5 . Sein Anteil am gesamten Nettoinlandsprodukt verdoppelt sich von 20,4 % auf 40,9 % 6 . Da die Beschäftigtenzahl in Industrie und Handwerk nicht in gleichem Tempo ansteigt, sondern nur mit einer Wachstumsrate von 1,9%, wächst der Anteil der Beschäftigten in Industrie und Handwerk an der Gesamtbeschäftigtenzahl nicht in gleichem Umfang, sondern nur auf das l,5fache, also etwa halb so schnell, nämlich von 24,3 % auf 35,1 % 7 . Mit anderen Worten: Die Arbeitsproduktivität hat sich bei Industrie und Handwerk besonders stark erhöht. Auch das leuchtet unmittelbar ein, denn Kapitaleinsatz wie technischer Fortschritt wirkten sich vornehmlich in der Industrie günstig aus. Das führt uns einer Antwort auf unsere Frage nach der Rolle des Kleingewerbes jedoch kaum näher, denn es ist natürlich möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, daß überproportionale Wachstumsraten, erhöhte Produktivität etc. in diesem Sektor allein oder vorwiegend von der Industrie im engeren Sinne, vielleicht sogar nur von der Großindustrie getragen wurden, das Kleingewerbe jedoch ein retardierendes Element darstellte. Darauf deutet auch hin, daß die Wachstumsrate sowohl des Nettoinlandsprodukts wie der Arbeitsproduktivität in zwei Wirtschaftszweigen, die kein nennenswertes Kleingewerbe kennen, diejenigen des Sektors Industrie und Handwerk beträchtlich übertraf: beim Verkehr und in der Abteilung Bergbau und Salinen. Das Nettoinlandsprodukt wuchs hier im Schnitt 6,4 bzw. 5,1 % pro Jahr, die Arbeitsproduktivität 2,9 bzw. 2,0 % (Industrie und Handwerk insgesamt: 3,8 und 1,8%). Um Klarheit zu bekommen, müssen wir also versuchen, innerhalb des sekundären Sektors das Handwerk von der Industrie zu trennen, um feststellen zu können, welchen Anteil es am Wachstum des Sektors wie an dem der ganzen Volkswirtschaft hatte. Welche Möglichkeiten gibt es für eine solche Abgrenzung? Die einfachste ist die nach der Betriebsgröße. Die amtliche Reichsstatistik kennt praktisch nur diese. Und zwar kann man Betriebsgröße nach ihr nur messen an der Beschäftigtenzahl, da sie vor den 1930er Jahren weder Umsatz noch Kapitaleinsatz noch Lohnsumme oder ähnliche Meßgrößen erhebt. Nach den Gruppen, die die Gewerbestatistik des Deutschen Reiches bildet, ist die einzige Möglichkeit, Kleingewerbe von Industrie abzugrenzen, die, alle Betriebe bis zu 5 oder alle bis zu 10 Beschäftigten zum Kleingewerbe zu zählen. Aber auch diese einfache Lösung hat noch ihre Tücken. Denn die Gewerbe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Statistik zählt bis 1907 als Betriebe nicht unternehmerische noch örtliche Einheiten, sondern die sog. „technische Einheit", d. h. sie trennt betriebliche Komplexe in einzelne Werkstätten, und zwar nach Willkür der Unternehmer, die die Angaben machen. Das wirkt sich besonders gravierend bei sehr komplexen Arbeitsvorgängen etwa im Maschinenbau aus, wo Gießerei, Modellbau, Schmiede, Schlosserei etc. jeweils einzeln erfaßt werden können. Die Folge ist natürlich, daß die Zahl der kleinen Betriebseinheiten in der amtlichen Statistik des Deutschen Reiches größer ist, als wenn man von einer betriebswirtschaftlichen Einheit ausgegangen wäre, in der die verschiedenen Werkstätten zusammen einen geschlossenen Werkskomplex bilden. Eine Korrektur der Ergebnisse der amtlichen Betriebszählungen können wir vor allem von den ebenfalls amtlichen Berufszählungen erwarten, die von dem Haushalt als Grundeinheit ausgehen und die einmal die Selbständigen von den Unselbständigen scheiden, vor allem aber auch die Berufsstruktur der Erwerbstätigen aufdecken. Eine Kombination beider Merkmale könnte zumindest einige Anhaltspunkte geben, wie sich einzelne wichtige Kleingewerbe, vor allem solche Handwerke, die noch als Berufe zu identifizieren sind, entwickelt haben. Auf die Vielzahl der hierbei zu beachtenden Momente kann ich im Rahmen dieses Referates nicht eingehen. Erinnert sei nur an den bekannten Tatbestand, daß die Ergebnisse der Gewerbe- und Berufszählung, obwohl gleichzeitig erhoben, wegen der unterschiedlichen Zwecke und Gruppenbildung nicht ohne weiteres zu vergleichen sind, sondern daß zu einem Vergleich jeweils erst ein gemeinsamer Nenner für beide Zählungen hergestellt werden muß. Als weitere Ergänzungen zur Gewerbestatistik stehen einige wenige spezielle Erhebungen für Handwerk und Hausindustrie zur Verfügung, besonders die auf den älteren territorialen Traditionen beruhenden Handwerkszählungen der 5Öer und 60er Jahre, die sich z. T. noch an den Merkmalen der Zunftzugehörigkeit orientieren, und die partielle preußische Handwerksenquete aus dem Jahre 18958. Für eine speziell handwerksgeschichtliche Betrachtung geben sie wichtige Daten. Ihr weites Auseinanderliegen und vor allem das Fehlen jeder speziellen Erhebung in einem Jahr unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg machen es jedoch außerordentlich schwierig, daraus langfristige Entwicklungstendenzen abzulesen. Fast unbrauchbar für unsere Zwecke sind leider die Enqueten, die der Verein für Socialpolitik unter Büchers Leitung in den 1890er Jahren für Handwerk und Hausindustrie angestellt hat. Wer gesamtwirtschaftliche Daten sucht, wird von ihren in zahlreichen Banden niedergelegten Ergebnissen enttäuscht9. Zwar hat Bücher selbst in seinem zusammenfassenden Bericht vor dem Verein aus ihnen weitgehende Schlüsse über den Niedergang des Handwerks gezogen; doch wenn man genauer hinschaut, so erkennt man, daß dieses Ergebnis in der Fragestellung der fast ganz monographisch angelegten Studien über einzelne Gewerbezweige in einzelnen Städten, vor allem Mitteldeutschlands, schon angelegt war. Die fast gleichzeitige Berufszählung läßt jedenfalls, wie O. Thissen gezeigt hat10, auch andere Schlüsse zu und ist im ganzen zuverlässiger. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Nur bedingt brauchbar sind auch die zahlreichen Monographien, meist Dissertationen, die die Vertreter der jüngeren historischen Schule über „Die Entwicklung des Gewerbes X in Y" geschrieben haben. Für sie gilt im Grunde das gleiche wie für die Enqueten; sie sind monographisch angelegt, meist auf ein bestimmtes Gewerbe beschränkt und vernachlässigen die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge. Ihre Aussagen mögen im einzelnen zutreffen, aber sie sind kaum eine Hilfe bei unserer Frage nach dem Anteil der Kleingewerbe am Wachstum des deutschen Sozialprodukts zwischen 1850 und 1914. Ähnliches gilt von den vielen Untersuchungen über die Hausindustrien, vor allem die älteren der „Gesellschaft für Soziale Reform". Ein gewisser Wendepunkt ist hier mit dem dreibändigen Werk „Die Heimarbeit im rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet" eingetreten, das Paul Arndt 1909—1914 im Anschluß an die Frankfurter Heimarbeiterausstellung von 1908 herausgegeben hat. Doch auch seine Stärke liegt in der genauen monographischen Erhebung einzelner Heimgewerbezweige11. Gewisse Ergebnisse, zumindest Anhaltspunkte, lassen sich möglicherweise jedoch auf anderen Wegen gewinnen, z. B. durch die Untersuchung solcher typischer Handwerkszweige, die über längere Perioden einwandfrei zu identifizieren sind wie Bäcker, Schuhmacher, Maurer oder Zimmerleute. Dies hat mit Hilfe der preußischen Zählungen von 1849 und der Berufszählung O. Thissen erfolgreich versucht. Insgesamt kam er zu dem Ergebnis, daß von einem generellen Rückgang des Handwerks nicht die Rede sein könne, da die wachsenden und die stabilen Handwerkszweige gegenüber den schrumpfenden zahlenmäßig überwiegen. Da seine Untersuchungen auf Personalstatistiken beruhen, mußte er sich auf die Beschäftigtenzahlen als einziges Kriterium für seine Aussagen beschränken. Wir wollen daher hier vorwiegend einen anderen Weg versuchen; es sollen innerhalb der statistisch ausgewiesenen Gruppen des Sektors „Industrie und Handwerk" solche besonders betrachtet werden, bei denen nachweislich das Kleingewerbe vorherrscht, z. B. das Baugewerbe, auch die Sparte „Bekleidung und Lederverarbeitung", und ihre Entwicklung soll mit der des ganzen Sektors bzw. mit solchen Gruppen, die eindeutig industriell beherrscht sind, z. Β. der Metallerzeugung, verglichen werden. Wir werden uns dabei aber nicht auf die Beschäftigtenzahlen allein verlassen, sondern auch Kriterien wie technische Ausstattung mit Motorenkraft, Produktionswert, Arbeitsproduktivität oder Kapitalbildung, soweit sie zu ermitteln sind, hinzuziehen. Für die Kapitalbildung soll dabei die Finanzierung durch typisch kleingewerbliche Finanzinstitute (Sparkassen und Genossenschaften) besonders ins Auge gefaßt werden. II. Einige Ergebnisse Versuchen wir nun nach dieser Erläuterung der Problemstellung, der Quellenlage und der Methodik kurz einige Ergebnisse unserer vorläufigen Untersuchungen darzulegen, und zwar zunächst einige gesamtwirtschaftliche, dann © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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einige branchenspezifische und schließlich — nur in Andeutungen — einige regionale. Die Zahl der Kleinbetriebe (bis 5 Personen) ging von 1882 bis 1907 im Deutschen Reich von 2,18 auf 1,87 Mill. zurück. Die Zahl der in ihnen Beschäftigten blieb mit rund 3,2 Mill. ziemlich stetig12. Der Anteil der Beschäftigten in Kleinbetrieben (bis 5) betrug noch 1875 fast zwei Drittel (63,6 %) aller Beschäftigten in Industrie und Handwerk; bis 1907 war er auf unter ein Drittel (31,2%) gefallen13; der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit 6 bis 10 Beschäftigten stieg bis 1895 noch leicht an, stabilisierte sich dann auf einem Niveau zwischen 7 und 8 % und steigt übrigens nach dem zweiten Weltkrieg mit dem weiteren radikalen Verfall der Kleinbetriebe wieder auf 10 % an. Der Anteil der Beschäftigten in den Betriebsklassen über 10 stieg annähernd gleichmäßig. Mittel-, wie Groß-, wie Riesenbetriebe gewannen also auf Kosten der Klein- und Kleinstbetriebe. Dies sind die globalsten Ergebnisse. Sie können natürlich sehr verschieden interpretiert werden, weil sich in ihnen ebenso das Ausscheiden von Kleinbetrieben verbirgt wie das Hineinwachsen in größere Betriebsgrößen, also ein genuiner Wachstumsprozeß. Daß eine Verdrängung selbständiger Existenzen stattfand — und in jeder wachsenden Wirtschaft stattfinden wird —, ist selbstverständlich, ja für die Erzielung höherer Produktivität volkswirtschaftlich wünschenswert. Doch sollte nicht vergessen werden, daß die Zahl der Selbständigen in Industrie und Handwerk von 1850 bis 1875 noch um 52,4 % wuchs und daß sie von 1875 bis 1907 nur um 12,8 % fiel, also wesentlich langsamer, als sie vorher gewachsen war, so daß die Gesamtzahl der Selbständigen in Industrie und Handwerk 1907 mit 1,94 Millionen beträchtlich höher lag als 1849 mit 1,46 Millionen14. Verlassen wir nun diese allzu globalen Aussagen und wenden uns einigen branchenspezifischeren zu, wobei wir versuchen wollen, solche Ergebnisse in den Vordergrund zu stellen, die nicht oder nicht nur auf Beschäftigtenzahlen beruhen, sondern an Hand anderer, besserer Kriterien gewonnen sind. Wir beginnen mit dem Baugewerbe. Es zählte 1849 337 000 Beschäftigte, 1913 1,63 Millionen, d. h. die Zunahme betrug 384 % gegenüber knapp 220 % bei Industrie und Handwerk insgesamt15, so daß der Anteil des Baugewerbes an den Industriebeschäftigten von 10,6 auf 15,6 % wuchs. Eine überproportionale Zunahme ergibt sich auch, wenn man versucht, den Produktionswert des Baugewerbes zu berechnen und mit dem anderer Bereiche zu vergleichen. Setzt man dabei 1913 gleich 100, so ergibt sich für die frühen 1850er Jahre ein Bauvolumen von rund 15 % des vor dem ersten Weltkrieg Erreichten. Bei der Textilindustrie, der Ledererzeugung, Lederverarbeitung und Bekleidung sowie den Nahrungs- und Genußmitteln ist der Anstieg etwas geringer. Ihre Produktion liegt in den frühen 1850er Jahren zwischen 18 und 22 % des Standes von 1913. Das sind keine sehr beträchtlichen Unterschiede. Sehr viel größer ist das Wachstum hingegen bei der Metallerzeugung und Metallverarbeitung, also in stärker industriebetonten Bereichen, wo die Produktion 1850 bei 1,5 bzw. 2,6% des Standes von 1913 steht. Allerdings müssen wir hinzufügen, daß es sich bei die© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sen Berechnungen, die ich wieder dem Hoffmann-Band entnehme16, um sehr grobe Schätzungen handelt. Zuverlässiger sind die Angaben für eine Meßzahl, aus der sich Anhaltspunkte über die Kapitalintensität gewinnen lassen und die damit auch einen Hinweis auf die Höhe der Investitionen gibt, nämlich die in den einzelnen Gewerben installierten Kraftmaschinen. Hier zeigt sich nun für das Baugewerbe erneut ein überdurchschnittlicher Anstieg von nur 7000 installierten PS im Jahre 1875 auf 160 000 im Jahre 1907. Im Vergleich mit den kapitalintensiven Wirtschaftszweigen wie der Metallerzeugung oder dem Bergbau bleiben die absoluten Zahlen und der Anteil des Baugewerbes an der Gesamtzahl der installierten Kraftmaschinen gering (1875: 0 , 7 % ; 1907: 2,0%) 1 7 ; die Wachstumsrate der Kraftmaschinen im Baugewerbe steht aber infolge der niedrigen Ausgangsposition an der Spitze aller Gewerbezweige. Das wird noch deutlicher, wenn man die installierten PS auf die Produktion bezieht, um als Ersatz für den nicht ermittelbaren Kapitalkoeffizienten die pro Produktionseinheit installierten PS zu errechnen18. Setzt man die Werte für 1907 gleich 100, so ergibt sich:

Industrie und Handwerk insgesamt Baugewerbe Bekleidung, Lederverarbeitung, Ledererzeugung, Holz- und Schnitzstoffe Steine und Erden Metallerzeugung Bergbau und Salinen

1875 31 8

1907 100 100

16 17 113 67

100 100 100 100

Was bedeuten diese Zahlen? Sie deuten offenbar darauf hin, daß zumindest in einigen kleingewerblich geprägten Industriezweigen die Sachkapitalbildung zwischen 1875 und dem ersten Weltkrieg besonders groß war, mit anderen Worten, daß die Investitionsquote hoch war19. Zu demselben Ergebnis kommt Noll bei einer Auswertung der Handwerksenquete und anderer vorwiegend mikroökonomischer Angaben20. Bei der Befragung einzelner Handwerker und der Ermittlung der Lage einzelner Gewerbezweige in verschiedenen Städten stellte sich nämlich als ein Grundzug heraus, daß die Umsätze und das Anlagekapital sehr viel schneller stiegen als das, was die Handwerker als Einkommen angaben, also ihr Reingewinn. Sie modernisierten also ihre Werkstätten bei steigenden Umsätzen im wesentlichen durch Selbstfinanzierung. Der Elektromotor ist das bekannte Symbol dafür; aber er stellte nur das Grundgerät dar, an das verschiedene Arbeitsmaschinen angeschlossen werden konnten. Interessant ist, daß sich diese hohe Investitionsquote nicht nur in den wachsenden Gewerbegruppen zeigt wie dem Baugewerbe oder den Metallhandwerken, sondern auch in Bereichen, die man nach der Personal- und Betriebsstatistik als schrumpfend bezeichnen würde, z. Β. bei den Sattlern. Deren Umsätze haben sich nach den Ergebnissen der Enquete von 1926 zwischen 1895 und 1913 ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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doppelt, während gleichzeitig das Sachkapital sich verzehnfachte. Das gleiche finden wir auch bei den Bäckern und Fleischern, die bei regionaler Unterschiedlichkeit der Entwicklung im ganzen allerdings zu den — auch in Betriebs- und Beschäftigtenzahlen — wachsenden Handwerkszweigen zahlen. Hier fand offenbar ein Nachholprozeß statt, der dem in der Industrie fünfzig Jahre zuvor begonnenen entspricht und der heute, d. h. nach dem zweiten Weltkrieg, auch bei der Landwirtschaft festzustellen ist21. Wenn dem so ist, so bedeutet das aber, daß man mit Beschäftigtenzahlen und Betriebsgrößen, die an den Beschäftigtenzahlen gemessen sind, allein den Anteil des Handwerks am Wachstumsprozeß nicht zutreffend bezeichnen kann, denn dann ist die Annahme, daß im Kleingewerbe kein nennenswerter Produktivitätszuwachs durch erhöhten Kapitaleinsatz zu verzeichnen war, nicht richtig; folglich sind auch alle daraus ableitbaren Schlüsse irrig. Für eine endgültige Bewertung der Rolle des Kleingewerbes im Wachstumsprozeß wird also viel darauf ankommen, ob es der Forschung gelingt, auf diesem Wege voranzukommen, d. h. makroökonomische Daten, die durch einfache Aggregation nicht zu ermitteln sind, mit Hilfe repräsentativer mikroökonomischer Untersuchungen glaubhaft zu machen. Gelänge es, eine überdurchschnittliche Investitionsquote für das Kleingewerbe insgesamt oder für große Teile davon schlüssig nachzuweisen, so wäre auch seine aktive Rolle im Wachstumsprozeß nachgewiesen. Denn das hieße, daß von ihm belebende Impulse auf den Investitionsgütersektor ausgingen, etwa den Maschinenbau und die Elektrotechnik. Nach dem, was wir bisher wissen, ist eine solche Rolle nicht ausgeschlossen, zumindest kann man mit einiger Gewißheit die vorsichtigere Formulierung wagen, daß das Kleingewerbe als Ganzes vom gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozeß nicht ausgeschlossen war, daß es dabei zumindest eine passive Rolle gespielt hat, d. h. Impulse, die von anderen Sektoren ausgingen, aufzunehmen in der Lage war. Daß die Gastwirte oder Friseure besonders aktive Träger des Wachstumsprozesses gewesen sind, wird man wohl kaum annehmen dürfen, aber daß sie sich im Gefolge des gesamtwirtschaftlichen Wachstums ausdehnen, ja überproportional expandieren konnten, steht außer Zweifel. Auch das Baugewerbe dürfte überwiegend auf eine expandierende Nachfrage durch Ausdehnung, Vermehrung und Rationalisierung der Betriebe geantwortet und selbst nur begrenzte Wachstumsimpulse ausgestrahlt haben. Es war, um die Terminologie Sigurd Klatts hier einzuführen22, wohl mehr Impulsempfänger, Seismograph der Konjunktur und des Wachstums, als Impulsträger, wenngleich eine so reinliche Scheidung von Aktivität und Passivität im faktischen Wachstumsprozeß kaum möglich ist, da auch die Reaktion auf empfangene Impulse selbstverständlich eine Form der Aktivität darstellt und da auch im an sich traditionellen Kleingewerbe einzelne „Unternehmer" im Schumpeterschen Sinne tätig gewesen sind, die neue Kombinationen durchführten, ohne daß sie damit notwendig immer zu Industriellen werden mußten. Das läßt sich jedoch aus den Statistiken, die immer nur Ergebnisse eines Prozesses darstellen, direkt nicht erschließen. Durch sie können wir zwar erfahren, welche Folgen der Wachstumsprozeß hatte, z. Β. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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für die deutsche Wirtschaftsstruktur des Jahres 1907, nicht jedoch, woher die entscheidenden Kräfte für die Veränderung kommen. Damit ist die Frage der Zurechnung des gesamtwirtschaftlichen oder Branchenwachstums auf die einzelnen Produktionsfaktoren angeschnitten, die die Nationalökonomen in den letzten Jahren so intensiv beschäftigt. Neben Arbeit und Kapital bleibt dabei meist ein großes Residuum, das zwar oft global als technischer Fortschritt bezeichnet wird, dessen Aufgliederung aber notwendig erscheint, will man den Mechanismus des wirtschaftlichen Fortschritts zureichend aufdecken. Ich kann hier keine Vorschläge machen, wie diese Frage für das Kleingewerbe zu lösen wäre, möchte aber die Vermutung aussprechen, daß die Struktur dieses Mechanismus beim Kleingewerbe nicht anders gewesen ist als bei der Gesamtwirtschaft, daß also ein sehr großer Teil auf das Residuum „technischer Fortschritt" entfällt. Beim Kleingewerbe kann man darunter wohl die Verbesserung der Voraussetzungen für eine effektivere Kombination der beiden Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit verstehen, z. B. die Verbesserung der beruflichen Qualifizierung des Faktors „Arbeit". Andererseits scheint aber auch eine Qualifizierung des Faktors „Kapital" durch rationellere Methoden der Verwertung des eingesetzten Kapitalquantums eingetreten zu sein. Beispiele hierfür sind neben einer direkten technischen Verbesserung der Produktionsmethoden eine betriebswirtschaftliche Verbesserung der Organisation des Arbeitsvorgangs, vor allem aber Veränderungen in der Lagerhaltung. Ein schnellerer Umschlag der Holzlager in den holzverarbeitenden Gewerben z. Β. oder der genossenschaftliche Einkauf der Rohstoffe in vielen Handwerkszwei­ gen oder die verbilligte genossenschaftliche Kreditbeschaffung, die ja eine Ver­ besserung der Kapitalbildung im Kleingewerbe bedeutet, können als Beispiele dafür dienen. Gehen wir noch kurz dieser letzten Frage der Kapitalbildung im Kleingewerbe durch genossenschaftliche und Sparkassenfinanzierung nach, um wenigstens an einer Stelle den Versuch zu machen, den Anteil eines Produktionsfaktors am Wirtschaftswachstum zu quantifizieren. Dabei muß berücksichtigt werden, daß, wie ich vorhin darlegte, die Selbstfinanzierungsquote offenbar hoch war, also in der Kapitalbildung über die typisch kleingewerblichen Kreditanstalten nur ein Teil der gesamten Kapitalbildung des Kleingewerbes steckt. Welche Zahlen haben wir dafür? Bei den Sparkassen kennen wir vor allem den Einlagenbestand. Er stieg von 212 Mill. 1850 auf 19,7 Milliarden 1913. Wie wir aus Stichproben wissen, betrug der Anteil der Kleingewerbetreibenden an diesen Einlagen rund 3 0 % . Nehmen wir einen konstanten Anteil an, was natürlich fragwürdig ist, sich jedoch auf Grund von Stichproben für Hamburg rechtfertigen läßt, so ergibt sich, daß bei den Sparkassen 1850 gegen 63,6 Mill. Mark Einlagen aus dem Kleingewerbe lagen und 1913 gegen 5,9 Milliarden, so daß sie sich also fast um das 93fache vermehrten gegenüber einer elffachen Zunahme des gesamten gewerblichen Kapitalstocks. Die Guthaben der Mitglieder von Kreditgenossenschaften und die Reserven der Genossenschaften stiegen von 1 Mill. 1860 auf 655 Mill. 1913; nehmen wir auch die fremden Gelder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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hinzu, so stiegen die Einlagen in den Kreditgenossenschaften von 9 Mill. auf über 5,7 Milliarden23. Wenngleich hierbei für die späteren Jahre offenbar auch die landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften mitgezählt zu sein scheinen, bleibt doch, auch wenn man diese abziehen sollte, eine ganz frappante Entwicklung bei diesen fast rein kleingewerblichen Kreditanstalten. Unterteilt man sie nach Jahrzehnten, so sieht man, daß nur die 1880er Jahre einen relativ ruhigen Anstieg der Finanzierung durch die Genossenschaftsbanken bringen, nämlich von rund 530 Mill. zu Beginn des Jahrzehnts auf 655 Mill. am Ende; sonst geht die Nettofinanzierung durch Genossenschaften geradezu sprunghaft in die Höhe: von 8 auf 177 Mill. in den 1860er Jahren, von 192 auf 505 in den Siebzigern, von 711 auf 1333 in den Neunzigern und von 1,5 auf 3,7 Milliarden im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. 1913 liegt sie 647mal so hoch wie 1860, während die Nettofinanzierung durch die Kreditbanken, denen viele Wirtschaftshistoriker bekanntlich eine so überragende Rolle für die deutsche Wirtschaft vor dem ersten Weltkrieg zuschreiben, in der gleichen Zeit nur von 281 Mill. auf 14,9 Milliarden, also auf das 53fache wuchs. Der Anteil der Kreditgenossenschaften an der gesamten Nettoinvestition durch den Bankenapparat, der im Durchschnitt der ersten Hälfte der 60er Jahre bei 2,9 % gelegen hatte, stand im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf 7 % , während der Anteil der Sparkassen von 21,6 % auf 26,8 % stieg. Zusammen also trugen die beiden wichtigsten Finanzierungsinstitute des „kleinen Mannes" zu Beginn unserer Periode ein Viertel, am Ende hingegen ein Drittel zu den Nettoinvestitionen bei (wenn wir wieder Hoffmann folgen und die Summe der Nettofinanzierung durch die Kreditinstitute gleich den Nettoinvestitionen setzen, was mir allerdings angesichts des früher über die Selbstfinanzierung Gesagten fraglich erscheint). Ob mit oder ohne Selbstfinanzierung — in jedem Falle ergibt eine Untersuchung der Kapitalbildung und ihrer Finanzierung, daß die Kapitalbildung des Kleingewerbes keineswegs hinter der durchschnittlichen Wachstumsrate der Gesamtwirtschaft zurückgeblieben ist, ja — darauf weist zumindest die zunehmende Bedeutung der Kreditgenossenschaften hin — möglicherweise sogar überdurchschnittliche Wachstumsraten zu verzeichnen hatte. Zusammenfassend wird man also sagen dürfen, daß unsere Überlegungen, so vorläufig und fragmentarisch sie auch sind, eine positive Antwort auf die Frage nach der Rolle des Kleingewerbes im wirtschaftlichen Wachstumsprozeß der deutschen Volkswirtschaft zwischen 1850 und 1913 mindestens zulassen, ja ich möchte sogar sagen, dringend nahelegen. Es wird allerdings noch vieler Anstrengungen und mühevoller Forschungen bedürfen, um einen vollgültigen Nachweis dafür zu erbringen. Lassen Sie mich zum Abschluß betonen, daß dieses Ergebnis mich selbst etwas überrascht hat. Eigentlich war ich darauf gefaßt, auf ein Nachhinken des Kleingewerbes, auf eine unterdurchschnittliche Wachstumsrate zu stoßen, wenn auch nicht auf eine negative Rate, d. h. auf einen absoluten Rückgang. Zumindest für einige Branchen und für einige wichtige Kriterien wie die Kapitalbildung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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scheint sich jedoch eher ein Ergebnis abzuzeichnen, das auf einen überproportionalen Anteil des Kleingewerbes am Wachstumsprozeß hindeutet. Sollte sich das voll verifizieren lassen, so wäre ein Ergebnis erzielt, das Dutzende von Forschungen der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie und einen großen Teil der gleichzeitigen sozialpolitischen Debatte über den Niedergang des Handwerks widerlegen würde.

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Das deutsche H a n d w e r k im Strukturwandel des 2 0 . J a h r h u n d e r t s Den Stellenwert des Handwerks innerhalb des Strukturwandels im gesamten sekundären Sektor der Volkswirtschaft herauszuarbeiten, ist in Deutschland besser als in anderen Ländern möglich, weil sich seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts sowohl die Wissenschaft wie die amtliche Statistik mit dem Problem des Handwerks in der industriellen Wirtschaft befaßt hat. 1895 veranstaltete der Verein für Socialpolitik eine umfangreiche Handwerksenquete, die freilich im wesentlichen eine Zusammenstellung von monographischen Darstellungen über die Lage einzelner Handwerke in einzelnen Städten blieb und modernen statistischen Ansprüchen nicht genügt1. Im gleichen Jahr fand eine erste amtliche Sonderzählung des Handwerks statt, deren Ergebnisse zwei Jahre später bekanntgemacht wurden2. In der Weimarer Republik hat dann der vom vorläufigen Reichswirtschaftsrat eingesetzte „Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft" durch den Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag eine besondere Enquete über das Handwerk veranstaltet, die in vier Bänden veröffentlicht wurde3. Als Stichtage wählte man den 1. Oktober 1926 und zum Vergleich den 1. Oktober 1913. Seit 1939 werden außerdem besondere Handwerksstatistiken geführt und regelmäßige Sondererhebungen veranstaltet, im Deutschen Reich in Verbindung mit der Arbeitsstättenzählung 1939, in der Bundesrepublik 1949, 1956 und 19634. Die grundlegende Feststellung, die man nach diesen Erhebungen machen kann, ist die, daß das Handwerk, das besonders am Ausgang des 19. Jahrhunderts von vielen Nationalökonomen totgesagt wurde, bis heute einen beachtlichen Anteil an der deutschen Volkswirtschaft besitzt. Seit Anfang der fünfziger Jahre tragt es einen höheren Teil zur Erstellung des Sozialprodukts bei und seit Ende der fünfziger Jahre hat es mehr Beschäftigte als die Landwirtschaft. 1963 waren im Handwerk in der Bundesrepublik rund 4 Millionen Personen beschäftigt, das sind 15% aller Erwerbstätigen, hingegen in der Landwirtschaft nur etwas über 3 Millionen, d. h. 12 % 5 . Der Nettoproduktionswert des Handwerks stieg (in laufenden Preisen) von 31 Mrd. DM (1960) auf 41 Mrd. DM (1963) und lag damit erheblich über den Werten der Land- und Forstwirtschaft mit 18 bzw. 19 Mrd. DM. Da Industrie und Handwerk 1963 einen Nettoproduktionswert von rd. 200 Mrd. DM erzielten, betrug der Anteil des Handwerks am gesamten produzierenden Gewerbe (einschl. Bergbau und Baugewerbe) immerhin rd. 21% 6 . Ähnliche Relationen ergeben sich für die Umsätze. Für die Nachkriegsentwicklung kennzeichnend ist dabei, daß im ganzen der Umsatz der Industrie etwas stärker wächst als der des Handwerks, daß aber seit der Beendigung der „Konsolidierungsphase" des Handwerks Mitte der

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fünfziger Jahre der Umsatzzuwachs beim Handwerk stärker war als bei der Industrie, wie Tabelle 1 zeigt7. Tabelle 1: Zunahme des Gesamtumsatzes in Industrie und Handwerk

1950—55 1955—63 1950—63

Umsatzwachstum Industrie + 107% + 84 % + 280%

Handwerk + 74% + 107% + 261%

Seit der Mitte der fünfziger Jahre hält also das Handwerk zumindest seine gesamtwirtschaftliche Position: Sein Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt schwankte, zu konstanten Preisen gerechnet, zwischen 1955 und 1963 stets zwischen 9,5 und 10% 8 . Man wird zunächst fragen: Was ist das für ein Handwerk, das hier gezählt wird? Liegen nicht vielleicht in dem Handwerksbegriff, der den Handwerkszählungen zugrunde liegt, Fehlerquellen? In der Tat werden in den deutschen Handwerkszählungen Unternehmen und deren Beschäftigte erfaßt, die der unbefangene Beobachter ohne weiteres dem Sektor „Industrie im engeren Sinne" zuordnen würde. Der Grund liegt in der Handwerksgesetzgebung, wie sie sich in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat. Im Verlaufe des Existenzkampfes des Handwerks gegen industrielle Konkurrenz und im Zuge der konservativen Gesellschaftspolitik des Deutschen Reiches, die verhindern wollte, daß der selbständige Mittelstand ins „Proletariat" absinkt und damit das sozialdemokratische Wählerreservoir vergrößert, wurde dem Handwerk nicht nur der Befähigungsnachweis wieder gestattet, also ein geregelter Ausbildungsgang zur Voraussetzung der Betriebsführung und Lehrlingshaltung im Handwerk gemacht, sondern es wurden durch Reichsgesetz auch Handwerkskammern eingeführt, in denen alle selbständigen Handwerker zwangsorganisiert sind. Gewerbetreibende, die einen Handwerksbetrieb eröffnen wollen und die die subjektiven Voraussetzungen dafür erfüllen (u. a. Meisterbrief), müssen sich in die bei den Handwerkskammern geführte „Handwerksrolle" eintragen lassen. Das hat gegenüber der Zugehörigkeit zur Industrie- und Handelskammer, die in Deutschland ebenfalls obligatorischen Charakter besitzt, einige Vorteile: Die Beiträge sind geringer, die Vorschriften zur Buchführung für steuerliche Zwecke leichter etc. Daher sind, besonders im Baugewerbe, große Firmen, die aus echten Handwerksbetrieben hervorgegangen sind und an deren Spitze noch ein Handwerksmeister oder ein handwerklich ausgebildeter, angestellter Betriebsführer steht, in der Handwerkszählung miterfaßt. Aber schon das allein ist eine interessante Feststellung: Die Tatsache, daß auch Betriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten sich subjektiv noch zum Handwerk zählen, beweist, daß Handwerker zu sein nicht mehr mit dem zweifelhaften Prestige belastet ist, einer aussterbenden Schicht anzugehören. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Bringen diese „industriellen Handwerksbetriebe" auch einige Verzerrungen zugunsten des Handwerks mit sich, so fallen sie bei der Gesamtzahl von (1963) noch immer mehr als 686 000 Handwerksbetrieben doch nicht so sehr ins Gewicht, daß sie die Aussage wirklich verfälschen. Noch immer (1963) haben fast 90 % aller Handwerksbetriebe weniger als 10 Beschäftigte und die durchschnittliche Beschäftigtenzahl aller Handwerksbetriebe beträgt knapp 6 Personen9. Im Vergleich zu früheren Zählungen zeigt sich ein deutlicher Trend zur Erhöhung der Beschäftigtenzahl pro Betrieb, denn 1939 stand die durchschnittliche Betriebsgröße auf dem Gebiet der Bundesrepublik erst bei 3,3 Personen, 1949 bei 3,5 und 1956 bei 4,810. Diese Entwicklung zu größeren Betrieben vollzog sich a) durch Erhöhung der absoluten Beschäftigtenzahl bei b) gleichzeitigem Rückgang der Betriebe. 1949 lag die Betriebszahl mit 863 000 höher als 1939; das war aber eine nachkriegsbedingte, vorübergehende Erscheinung; von 1949 bis 1963 nahm die Zahl der Handwerksbetriebe um 176 000 oder 20 % ab, die Zahl der Beschäftigten erhöhte sich jedoch um rund 1 Million von 3 auf 4 Millionen, also um ein Drittel11. Der Rückgang der Betriebszahlen beschränkte sich seit 1956 vollständig auf die Betriebe mit weniger als 10 Beschäftigten und war am größten bei den Einmannbetrieben. Konsequenterweise fielen in diesen Betriebsgrößenklassen auch die Beschäftigtenzahlen, während in den Größenklassen ab zehn Beschäftigten nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die Betriebe zunahmen, am stärksten in den „industriellen Handwerksbetrieben" mit mehr als 50 Beschäftigten. In dieser Größenklasse stieg die Zahl der Betriebe von knapp 7000 (1956) auf 8800 (1963) oder um 26,4%, die Zahl der Beschäftigten um fast 38 % und der Umsatz um 175%. 1962 erzielten diese Betriebe fast ein Viertel des gesamten Umsatzes des Handwerks und beschäftigten 23 % aller im Handwerk Tätigen, während sie an der Zahl der Handwerksbetriebe nur einen Anteil von 1,3 % hatten, wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist12. Die Frage, ob es sich dabei stärker um einen Konzentrations- oder um einen Wachstumseffekt handelt, ist aus den Zahlen allein nicht zu beantworten. Da es aber im Handwerk nur selten Zusammenschlüsse gibt wie in der Industrie, wird man den größten Teil der Veränderung als Ergebnis eines Wachstumsprozesses ansehen können. Konkret sieht das so aus, daß kleinere Betriebe in größere Klassen hineinwachsen, während in den unteren Größenklassen Grenzbetriebe ausscheiden. So verminderte sich die Zahl der Einmannbetriebe zwischen 1956 und 1963 um rund 55 000 oder 21,5%. Aber noch immer existieren 200 000 solcher Betriebe, besonders viele in Sparten wie dem Bekleidungsgewerbe (Schneider, Schuhmacher). Und zählt man die Betriebe mit bis zu 4 Beschäftigten hinzu, besaß die Bundesrepublik Deutschland am 31. Mai 1963 noch fast eine halbe Million handwerklicher Kleinbetriebe mit rund 1 Million Beschäftigten. Man kann daraus schließen, daß bei allen Wachstumstendenzen und Konzentrationsmöglichkeiten auch die Beharrungskräfte, die wirtschaftlichem Strukturwandel widerstehen, erheblich sind. Deutschland ist auch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht ein Land, daß vom industriellen Großbetrieb © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Das deutsche Handwerk im Zeitalter der Industrialisierung Tabelle 2: Betriebe, Beschäftigte und Umsatz im Handwerk der Bundesrepublik nach Größenklassen 1955—1963

Betriebe mit . . . Beschäftigten 1 2—4 5—9 10—19 20 — 49 50 u. mehr insgesamt

Anzahl Anzahl der Gesamt- Zu- bzw. Abnahme 1963 gegenüber der Beschäftigten umsatz 1956 bzw. 1955 in % Betriebe in 1000 in 1000 Mill. DM Betriebe Beschäftigte Gesamt1963 1963 1962 umsatz 200,8 275,6 122,8 46,1 22,3 8,8 676,6

206,1 785,4 797,4 619,4 677,4 920,2 4 005,9

2 357 18 779 20 243 15 618 16 957 23 275 97 229

— 21,5 — 14,0 - 5,0 + 7,1 + 15,0 + 26,4 - 12,7

— 19,4 — 11,2 - 2,6 + 9,8 + 18,2 + 37,9 + 6,5

+ + + + + + +

46,6 65,6 68,3 92,6 117,6 175,4 97,1

Quelle: Wirtschaft und Statistik 1966, S. 307 allein geprägt ist, sondern in dem — bei aller Tendenz zur wachsenden Größe — kleine und mittlere Unternehmen sich behaupten. Betrachtet man den Rückgang der handwerklichen Kleinbetriebe, muß man überdies berücksichtigen, daß deren Zahl nach dem Krieg besonders stark aufgebläht war. Nach 1945 begannen viele heimgekehrte Soldaten, Flüchtlinge und Kriegerwitwen irgendeine Existenz. 1949, im Jahr nach der Währungsreform, war daher die Zahl der Handwerksbetriebe in der Bundesrepublik mit 863 000 um 71 500 oder um 9 % höher als 193913. Es war zu erwarten, daß bei wirtschaftlicher Konsolidierung und wirtschaftlichem Wachstum sich diese Zahl wieder zurückbilden und die Entwicklung in der Bundesrepublik die schon vor dem zweiten Weltkrieg begonnene Tendenz fortsetzen würde. Diese Tendenz kann man ganz grob wie folgt charakterisieren: Das Handwerk behauptet in Deutschland nicht nur seine Existenz, sondern nimmt am wirtschaftlichen Wachstum teil. Die Zahl seiner Beschäftigten wächst stärker als die Bevölkerungszahl. Das Resultat — langfristig gesehen — ist eine größere Handwerksdichte (mehr Handwerker pro Kopf der Bevölkerung), eine Ausdehnung seines Anteils oder ein zumindest stabiler Anteil an der Beschäftigungszahl und am Sozialprodukt. Diese Entwicklung vollzieht sich bei wachsenden Betriebsgrößen und größerer Kapitalintenskät, was bedeutet, daß das Handwerk sich „industrialisiert". Die Einmann- und Kleinbetriebe verringern sich seit über hundert Jahren, ohne daß sie schon völlig bedeutungslos wären (vgl. Tabelle 3). Wie bei der Industrie vollzieht sich jedoch unterhalb dieser globalen Vorgänge ein ständiger und z. Τ. heftiger Strukturwandel. Es hat sogar den An­ schein, ohne daß wir das exakt belegen können, daß dieser Strukturwandel im Handwerk stärker ist als in der Industrie, was insofern auch plausibel erscheint, als kleine Betriebe mit geringerer Kapitalausstattung flexibler sein können als Betriebe mit hohem Anlagekapital und notwendig einseitigerer Produktions© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Tabelle 3: Entwicklung der Zahl der Handwerksbetriebe, der Handwerksdichte, der Beschäftigten im Handwerk

Bevölkerung (Mill.) Beschäftigte im Handwerk (Mill.) durcdschn. Handwerksdichte (Beschäftigte im Hdw. pro 100 Kopfe der Bev.) Handwerksbetriebe (Mill.) durchschn. Betriebsgröße (Personen) Beschäftigte insgesamt (Mill.) Anteil des Handwerks an der Beschäftigtenzahl (%) Beschäftigte in Industrie und Handwerk (Mill.) Anteil des Handwerks daran (%)

Bundesrepublik Deutsches Reicha Deutschlandb 1926 1939 1939 1949 1956 1963 46,4 63,6 69,3 39,3 45,2 49,8 57,6 2,1 3,7 4,9 2,6 3,6 4,1 3,1 4,5 5,9 1,1 1,3 1,9 2,8 19,9 32,0

7,0 1,5 3,3 34,5

6,6 0,8 3,3 19,7

6,9 0,9 3,5 20,0

7,3 0,8 4,8 23,4

7,1 0,7 5,9 26,9

10,6

11,6

14,2

13,2

15,5

15,4

15,1

7,7 27,3

12,7 29,3

14,6 33,6

8,8 29,5

8,5 36,2

11,1 32,4

13,0 31,5

* 1895, 1926: jeweilige Grenzen; 1939: Grenzen von 1937 1939, 1949, 1956: ohne West-Berlin, ohne Saarland; 1963 mit West-Berlin und Saarland Zusammengestellt bzw. berechnet nach: Beckermann, Handwerk, 11; ders., Auslese, Wachstum und Differenzierung im modernen Handwerk, Essen 1960, 7, 18, 29; Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft: Das deutsche Handwerk 1, 9, 12; W. Wernet: Grundzüge der HandWerkswirtschaft, in: Das Handwerk in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft, 37; Wirtschaft und Statistik 1960, 30; 1964, 24, 206, 204; Statistisches Jahrbuch 1901, 5; 1927, 8; 1939/40, 29, 163; 1952, 166; 1958, 28 f., 110; 1966, 13, 27, 148. b

ausrichtung. Handwerksbetriebe entstehen und vergehen schnell, und so verhält es sich offenbar mit ganzen Handwerkszweigen. Während einzelne Grundhandwerke des täglichen Bedarfs (z. B. Bäcker und Fleischer) im großen und ganzen mit der Bevölkerung mitwachsen, verfallen andere Handwerkszeige in wenigen Jahrzehnten ganz, und neue bilden sich fast aus dem Nichts bzw. aus der Umstellung alter, in der bisherigen Form nicht mehr lebensfähiger Handwerke. Das Beispiel eines verfallenden Handwerks im 19. Jahrhundert ist die Weberei; im 20. Jahrhundert sind es vor allem die alten Landhandwerke, die in der ersten Industrialisierungsphase noch expandieren konnten: Mühlenbauer, Stellmacher, Schmiede, Sattler, Holz- und Weinküfer sowie Seiler sind in der Bundesrepublik drastisch zurückgegangen. Allein zwischen 1949 und 1956 betrug der Rückgang in diesen Handwerken, gemessen an den Beschäftigtenzahlen, zwischen 38,5 % und 2 0 % . Dafür haben sich die „modernen" Landhandwerke, die sich mit Traktoren und Landmaschinen befassen, explosionsartig ausgedehnt. Das Landmaschinenhandwerk stieg in der gleichen Zeit um 19 % und die „Schmiede mit Schwerpunkt Fahrzeugbau" also die Traktorenreparaturstellen, um 385% 1 4 . 23 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Schneller Strukturwandel kennzeichnet auch eine Handwerksgruppe, die insgesamt als typische Wachstumsindustrie überproportional anzuwachsen tendiert, das Baugewerbe. Innerhalb dieser Gruppe haben in der gleichen Siebenjahresperiode modische Zweige wie Steinholzleger (+ 164 % ) , Mosaik-, Platten- und Fliesenleger (+ 131%) große Zuwachsraten — auch der Straßenbau mit 148 % —; andererseits ist die Zahl der Bauklempner um 6 0 % , die der Backofenbauer um 30 % zurückgegangen. Für die gesamte Tendenz des Bauhandwerks repräsentativ aber ist noch immer das Maurerhandwerk, das 1956 mit über 700 000 Beschäftigten fast die Hälfte aller Beschäftigten im Bauhandwerk besaß und mit einem Wachstum von 58,5 % über die erwähnte Siebenjahresperiode das ganze Baugewerbe in die Höhe zog (Durchschnitt 40 %) 1 5 . Das überproportionale Anwachsen des Baugewerbes hat seine Gründe nicht nur in der ungewöhnlichen Nachfrage nach Bau- und Ausbauleistungen im Zuge des Wiederaufbaus Deutschlands nach den Kriegszerstörungen und der Bevölkerungsaufnahme infolge von Austreibungs- und Fluchtbewegungen, sondern es steht, längerfristig gesehen, auch im Zusammenhang mit einer Strukturwandlungstendenz, die für den Industrialisierungsprozeß charakteristisch ist und inzwischen auch das Handwerk erreicht zu haben scheint: dem stärkeren Anwachsen der Investitionsgüterindustrien gegenüber den Konsumgüterindustrien16. Während das deutsche Handwerk in der Zwischenkriegszeit mit etwa drei Fünftel seines Umsatzes den privaten Konsum bediente und nur mit zwei Fünftel die Investitionsgüterindustrie, die öffentliche Hand und den Wohnungsbau, entfallen in den 1960er Jahren etwa zwei Drittel der Handwerksleistungen auf den Investitionsgütersektor und nur noch ein Drittel auf den Konsumgütersektor17. Auch in der Beschäftigtenentwicklung spiegelt sich dieser Prozeß wider: Die Branchen mit hohen Zuwachsraten sind fast ausschließlich mit der Herstellung von Gütern und Leistungen für den Investitionsgütersektor tätig, während die typischen Konsumgüterhandwerker teils unterdurchschnittliche (Bäcker, Fleischer), teils negative (Schneider, Schuhmacher) Wachstumsraten aufzuweisen haben18. Trotzdem beschäftigte das Bäckereihandwerk 1956 mit 230 000 Personen noch fast genauso viele Personen wie die eisenschaffende Industrie19! Die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen und des Umsatzes ist ein brauchbares Maß, um Strukturwandlungstendenzen zwischen Branchen und innerhalb von Branchen zu erfassen. Aber sie sind nur Ergebnisse, die per saldo ausweisen, wo Zu- und wo Abgänge überwiegen. Wie flexibel das Handwerk ist und was diesem Strukturwandel an konkreten wirtschaftlichen Geschehnissen zugrunde liegt, dafür ist die Fluktuation der Betriebe ein guter Indikator. Sie zu messen, ist in Deutschland möglich, weil Betriebsgründungen wie -Schließungen im Handwerk in die Handwerksrolle eingetragen werden müssen. In der Bundesrepublik sind von 1950 bis 1958 438 000 Betriebe neu in die Handwerksrolle eingetragen und 607 000 in ihr gelöscht worden. Darin sind allerdings auch Erbübertragungen enthalten, die die Existenz der Betriebe nicht berühren. Schließt man sie aus, so ergibt sich, daß 275 000 Betriebe neu hinzu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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kamen und 446 000 ausschieden. Da während dieser neun Jahre die Zahl der Betriebe bei durchschnittlich 850 000 lag, ergibt sich, daß in diesem Zeitraum 53 % aller Betriebe ausschieden und 32 % neu hinzukamen. Die jährliche Fluktuationsrate der Betriebe lag bei 9,6 %. Im Baugewerbe, einem der wichtigsten Handwerkszweige, lag sie knapp unter 9 %, also in ungefähr der gleichen Höhe. Am stärksten war die Fluktuation infolge zahlreicher Abgänge bei einigen traditionellen Handwerkszweigen wie den Töpfern, Webern, Holzbildhauern und Drechslern. Auch die Schneider gehören zu der Kategorie ,Hohe Fluktuation infolge starker Abgänge'! Fluktuation infolge starker Zugänge hatten auf der anderen Seite die Mosaik-, Platten- und Fliesenleger, die Isolierer, Radio- und Fernsehtechniker und die Zahntechniker. Es sind also dieselben Zweige, die per Saldo hohes Wachstum aufweisen20. Ob diese hohe Fluktuationsrate andauern wird, ist eine offene Frage. Der beste Kenner der westdeutschen Handwerksstatistik, Theodor Beckermann, vertritt die Ansicht, daß sie in Zukunft abnehmen wird, weil die „Industrialisierung" des Handwerks, die höhere Kapitalausstattung des einzelnen Betriebes einen Anreiz bildet, den Betrieb zu erhalten, und weil andererseits der wachsende Kapitalbedarf für Neugründung diese hemmen muß21. Dieser wachsende Kapitalbedarf — und sein Ergebnis, die wachsende Kapitalintensität — ist ein weiteres Kennzeichen für den Strukturwandel im Handwerk. Noch immer gibt es zwar den Einmannbetrieb mit wenig fixem Kapital, aber charakteristisch ist — in den Branchen im einzelnen verschieden — doch die höhere Kapitalausstattung. Es ist geschätzt worden, daß eine mittelgroße Tischlerei, deren Einrichtung (ohne bauliche Investitionen) um 1900 rund 500 Mark pro Arbeitsplatz kostete, heute einen Kapitalbedarf von 7000 bis 9000 DM pro Arbeitsplatz hat. Im Hoch- und Tiefbaugewerbe und im Schlosserhandwerk rechnet man mit einer Versiebenfachung des Kapitalbedarfs seit dem Beginn des Jahrhunderts. Eine Graveurwerkstatt konnte noch nach dem ersten Weltkrieg mit rund 500 RM Kapital eröffnet werden; heute kostet allein die Graviermaschine gegen 7000 DM und die gesamte Ausstattung um 10 000 DM. Selbst in so modernen Handwerkszweigen wie dem Kraftfahrzeughandwerk, die von vornherein mit größerem Kapitalbedarf rechneten (1935 gegen 3000 RM mit baulichen Investitionen), hat sich der Kapitalbedarf seitdem verdreifacht22. Auch die größere Lagerhaltung bedingt einen höheren Kapitaleinsatz, besonders bei Handwerken des modischen Bedarfs wie Kürschnern. Es ist zu vermuten, daß der Kapitalbedarf besonders in den Wachstumsbranchen zunimmt. Das ist aber nicht durchweg der Fall; zwar standen in der Spitzengruppe der Investition im Jahre 1956 sowohl typische Wachstumsbranchen wie der Hoch- und Tiefbau mit 386 Millionen DM, die Landmaschinenmechaniker und die Mechaniker, ebenso aber auch zwei Gewerbe, deren Beschäftigtenzahl nur schwach wuchs, die aber offenbar einen schnellen Umstellungsprozeß durchmachten, die Fleischereien und die Wäschereien. Interessant ist dabei, daß es sowohl Parallelen wie charakteristische Unterschiede gibt, wenn man die Investitionsquote (Investitionen in Prozent des Um© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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satzes) mit der Investitionsintensität (Investitionen pro Beschäftigten) vergleicht. Die Wäschereien zeigen mit 16 % eine überragende Investitionsquote, die Landmaschinenhandwerker dagegen mit 4,7 % nur eine durchschnittliche und die Fleischer mit 2,8 % eine unterdurchschnittliche (vgl. Tabelle 4). Trotz solcher branchenbedingter Unterschiede im kurzfristigen Vergleich, die meist von spezifischen technischen Fortschritten für ein Gewerbe herrühren — z. Β. der Aufstellung von Automaten in Wäschereien in Deutschland in den 1950er Jahren —, ist die steigende Kapitalintensität ein durchgehender Zug im Strukturwandlungsprozeß des deutschen Handwerks im 20. Jahrhundert, so wie die eingangs konstatierte wachsende Betriebsgröße, mit der sie ursächlich zusammenhängt. Tabelle 4: Investitionsquoten und Investitionsintensität einiger ausgewählter Handwerke 1956 Investitionsquote Wäscher Färber und Chemische Reinigung Stellmacher und Karosseriebauer Mechaniker Landmaschinenmechaniker Fleischer

16 % 9,7% 8,6% 5,9% 4,7 % 2,8%

Investitionsintensität 1011 DM pro Beschäftigtem 841 DM pro Beschäftigtem 716 DM pro Beschäftigtem 1077 DM pro Beschäftigtem 1245 DM pro Beschäftigtem 1084 DM pro Beschäftigtem

Quelle: Th. Beckermann, Auslese, Wachstum und Differenzierung, S. 46, Übersicht 9. Zum Schluß sei noch auf zwei weitere solcher Grundzüge hingewiesen: ein charakteristischer Wandel in der Beschäftigten- und in der Umsatzstruktur der Handwerksbetriebe. Bei den Beschäftigten verringerte sich neben der Zahl der Selbständigen, was eine selbstverständliche Folge des Rückganges der Betriebszahl ist, auch die Zahl der Lehrlinge, hingegen steigt die Zahl der technischen und kaufmännischen Angestellten, also der qualifizierten Führungs- und Verwaltungskräfte, und auch die der weiblichen Beschäftigten23. Das ist z. T. Folge der wachsenden Betriebsgröße, die ein mehrköpfiges Management erfordert gegenüber der Ein-Mann-Leitung im traditionellen Handwerk. Z. Τ. ist es auch Folge der Verschiebung in der Umsatzstruktur. Ein immer größerer Anteil am Umsatz des Handwerks entfällt auf Handelsumsatz im Vergleich zum Umsatz von Produkten oder Dienstleistungen (z. B. Reparaturen). Betrug der Handelsanteil am Umsatz der Handwerksbetriebe 1935 rund 10 %, so 1949 schon 18,5 % und 1956 22,3 %24. 1963 war er auf knapp 28 % gewachsen25. Wiederum entwickelten sich die einzelnen Branchen dabei ganz unterschiedlich. Den höchsten Handelsanteil mit über 80 % besaßen 1955 die Radio- und Fernsehtechniker und die Uhrmacher, den geringsten mit 4 % die Maler26. Zusammenfassend wird man sagen können, daß das Handwerk in Deutschland sich im 20. Jahrhundert behauptet hat und allem Anschein nach weiter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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behaupten wird, weil es sich den Bedingungen einer industriellen Wirtschaft angepaßt, sich selbst „industrialisiert" hat, ohne doch seine traditionellen Charakteristika ganz aufzugeben. Es entwickelt sich heute weitgehend parallel zur Industrie, und gesamtwirtschaftliche Grundtendenzen schlagen sich auch in ihm nieder. Die Voraussagen, die ihm um die Jahrhundertwende gemacht wurden27, haben sich nur bedingt erfüllt. Weder ist es „untergegangen" noch bis zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft noch ist es auf das Reparieren industrieller Produkte beschränkt worden. Kennzeichnender ist vielmehr seine wachsende Kapitalintensität und Betriebsgröße, das Vordringen von dem Konsumgüterin den Investitionsgütersektor und die Übernahme von Dienstleistungs- und Handelsfunktionen sowie die hohe Flexibilität und Fluktuation sowohl zwischen den Branchen wie innerhalb der Branchen.

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V. R E G I O N A L E S T U D I E N Z U R

INDUSTRIALISIERUNG

Ansätze z u r Industrialisierung in Baden 1 7 7 0 — 1 8 7 0 Die Industrialisierung ist eine Erscheinung, die Historiker, Geographen, Ökonomen und Soziologen gleichermaßen interessiert1. Als ein technischer, wirtschaftlicher und sozialer Prozeß, der im späteren 18. Jh. in England einsetzt, dann auf Westeuropa und die Vereinigten Staaten übergreift, im späteren 19. Jh. auch in Ost- und Südeuropa, Mittel- und Südamerika, Kanada, Australien, Japan und Indien Fuß faßt und schließlich in unserer Zeit den ganzen Erdball umgreift, ist sie ein Teil jener „Großen Revolution", die das Leben der Menschen und das Gesicht der Erde seit 200 Jahren so sichtbar verändert und die bisher nur locker verbundenen Kulturkreise samt den Naturvölkern zu einer Einheit verschmilzt. Allen ideologischen, politischen, sozialökonomischen und kulturellen Unterschieden, die noch bestehen oder sich neu abzeichnen, zum Trotz verstärkt sich der Trend zu der „Einen Welt" mit stets wachsender Beschleunigung, und die Zeit ist abzusehen, in der die modernen Lebensformen und Geisteshaltungen, wie sie von Europa ausgegangen sind, auch im letzten Winkel der Erde die älteren Traditionen überlagern und verformen werden. Der politisch forcierte, wahrhaft revolutionäre Umbruch in China und Tibet zeigt, in welch raschem, vor kurzer Zeit noch kaum vorstellbarem Tempo sich die „rückständigen" Länder diesem Prozeß anzupassen in der Lage sind. Naturwissenschaften und Technik, Aufklärung und Emanzipation, politische und soziale Revolution, die einst Kennzeichen einer bestimmten Epoche der abendländischen Geschichte zu sein schienen, sind heute zum Signum der „Modernen Welt" überhaupt geworden. Jede der vier genannten Wissenschaften sieht diese Erscheinung unter einem besonderen Aspekt. Während die Wirtschaftswissenschaft die Ökonomischen Regeln und Größenordnungen des industriellen Wachstums zu formulieren, die Soziologie die Bauelemente der „Modernen Gesellschaft" in den in Gang gekommenen sozialen Wandlungen zu erkennen sucht und die Geographie die raumformenden Wirkungen des Prozesses studiert, ist es die Aufgabe der Historie, zunächst die Vorgänge selbst in ihrem jeweils einmaligen Ablauf zu schildern, dann aber auch die typischen Formen dieser Abläufe herauszuarbeiten und so zu einer vergleichenden Darstellung ihrer universalgeschichtlichen Gestalt zu

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Ansätze zur Industrialisierung in Baden 1770—1870

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kommen. Ohne Hilfe der systematischen Wissenschaften wird sie dabei nicht auskommen, denn diese — großenteils selbst Kinder dieses Prozesses — begründen die ihm gemäßen Kategorien und stellen somit den Begriffsapparat zur Verfügung, ohne den auch die bloße Beschreibung des Objektes nicht gelingen kann. Wer es in seinen vielfältigen Aspekten möglichst voll erfassen will, wird sich der Methoden möglichst aller beteiligten Wissenschaften bedienen müssen. Grenzüberschreitungen sind hier nicht nur Gebot, sondern Voraussetzung sinnvoller Erkenntnis. Dies gilt — wenn auch in bescheidenem Umfang — selbst für einen Ausschnitt wie den folgenden, der nur die Ansätze zur Industrialisierung in einem einzigen deutschen Mittelstaat von rund einer Million Einwohner während eines Zeitraumes von etwa hundert Jahren ins Auge faßt. Bevor wir in den Gegenstand selbst eintreten, müssen wir uns daher über die wichtigsten Begriffe verständigen. Industrialisierung im engeren Sinne bedeutet das Emporkommen und schließliche Dominieren einer Produktionsform, die auf der technischen Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und der wirtschaftlichen Nutzung gesammelter Produktionsmittel — technisch: Maschinen und Apparate; ökonomisch: Kapital — beruht. Die reinste, wenn auch nicht einzige Ausprägung dieser Produktionsform ist die Fabrik. Unter Fabrik sei eine Produktionsstätte verstanden, in der eine größere Anzahl von Menschen in arbeitsteiliger Organisation mit Hilfe von Antriebs- und Arbeitsmaschinen oder chemischen Prozessen in regelmäßigem Ablauf Güter produziert. Sie unterscheidet sich von der Manufaktur durch das Vorwiegen der technischen Apparatur, von der Handwerksund Hauswerkstätte durch ihre Größe und meist ebenfalls durch die technische Ausstattung2. Manufaktur, Handwerk und Hausarbeit sind sowohl Vorformen der Fabrik als auch neben ihr weiterbestehende Produktionsweisen. Ihre unmittelbarste Vorform hat die Fabrik jedoch in den meist als „Hütten" oder „Mühlen" bezeichneten alten Produktionsstätten für Eisen, Glas, Papier usw. Denn in ihnen werden schon meist eine größere Anzahl von Menschen beschäftigt, Wasser-, Wind- oder tierische Arbeitskräfte und in der Form von Stampfen, Pressen, „Holländern" usw. auch Arbeitsmaschinen verwendet, beim Schmelzen in der Eisen- und Glasproduktion auch chemische Prozesse. Trotzdem bleiben sie Vorformen der Fabrik, denn es fehlt bei ihnen mindestens eines der für die Fabrik konstitutiven Momente: entweder die technische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis oder die Regelmäßigkeit des Produktionsablaufs oder die Arbeitsteilung, oft auch die größere Anzahl von Beschäftigten. Maschinen und Apparate werden in ihnen wohl verwendet, herrschen aber noch nicht vor. Sie alle machen im 18. und 19. Jh. entscheidende technische Wandlungen durch, die sie erst als Fabrik im eigentlichen Sinne erscheinen lassen: den Ersatz von Holzkohle durch Koks im Schmelzprozeß, die Einführung von Maschinen für die regelmäßige, mechanische Produktion wie die Maschinen für Papier ohne Ende oder die Umstellung von Wasser- und Windkraft auf Dampfkraft. Der Zeitpunkt dieser Umstellung liegt je nach Branche und Land verschieden; oft erstreckt er sich über Jahrzehnte. Deshalb muß man nicht nur für den Vorgang © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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der Industrialisierung selbst einen langen, im Grunde ja bis heute nirgends abgeschlossenen Zeitraum ansetzen, sondern auch einen breiten Zwischenraum anerkennen, in dem die Vorformen der modernen Industrie ihren Platz finden. Das hat die ältere deutsche Nationalökonomie durchaus richtig gesehen, als sie — sich dem Sprachgebrauch des 18. und frühen 19. Jhs. anschließend — Manufaktur und Fabrik nicht deutlich schied, sondern neben- und miteinander gebrauchte. Wie die Kameralisten und Behörden noch bis weit ins 19. Jh. hinein vorwiegend im Plural von den „Fabriquen und Manufakturen" oder von dem „Fabriquen- und Manufakturwesen" sprachen, so haben z. Β. auch Bücher, Stieda und neuerdings Jahn mit Fabrik jeden größeren Produktionsbetrieb bezeichnet, gleichgültig ob Maschinerien oder Apparaturen darin vorherrschen oder nicht3. Während Bücher Fabrik und Manufaktur völlig gleichberechtigt nebeneinander gebraucht und jede Unterscheidung „willkürliche Begriffsspalterei" nennt4, zieht Stieda den Gebrauch des Wortes Fabrik vor, und Jahn sieht in der Manufaktur eine besondere Form der frühen Fabrik, nämlich die aus dem Verlagssystem entstandene zentrale Betriebsstätte, wie sie vor allem in dem Textilgewerbe im 17. und 18. Jh. zu finden ist. Er unterscheidet diese Entstehungsweise der Fabrik von der aus der „mechanischen Werkstatt" (unter der er Mühlen, Hütten-, Hammerwerke, Salinen etc. zusammenfaßt) und von der aus dem Handwerk 5 . Wenn man den Begriff der Fabrik so weit ausdehnt, muß man ihre Entstehung bis ins Mittelalter zurückverfolgen, ja müßte sie eigentlich im Altertum aufsuchen. Damit zerfließt der Fabrikbegriff aber völlig, und man beraubt sich der Möglichkeit, mit ihm gerade dasjenige Phänomen zu bezeichnen, das als ein Neues und Anderes im späten 18. und frühen 19. Jh. auftaucht und seitdem nicht nur die Herrschaft unter den Produktionsformen übernommen hat, sondern unser ganzes Zeitalter so wesentlich prägt, daß es nicht zu Unrecht als „Industriezeitalter" bezeichnet wird. Wer den Begriff der „Fabrik" in diesem weiten Sinne gebraucht, muß auch den der „Industrie" im gleichen Sinne verwenden. „Industrie" bezeichnet dann alle Gewerbetätigkeit, gleichgültig ob sie in Fabriken, Manufakturen, Werkstätten oder im Haushalt ausgeübt wird. Auch das entspricht durchaus dem älteren Gebrauch. Wenn wir jedoch das Phänomen der „Industrialisierung" als die Durchsetzung einer neuen Produktionsform und schließlich neuer Lebensformen untersuchen wollen, müssen wir uns entschließen, unter „Industrie" und „Fabrik" etwas Engeres zu verstehen, nämlich jene Fabrik im modernen Sinne, die neben der Arbeitszerlegung die Mechanisierung und Motorisierung des Produktionsverfahrens als wesensnotwendig enthält6. Dieser engere, moderne Begriff ist, soweit ich sehe, in den angelsächsischen Ländern schon länger aufgenommen worden. Dort wird unter Industrialisierung der Durchbruch der mit Antriebs- und Arbeitsmaschinen ausgestatteten Fabrik verstanden, wie er sich in der Kombination der Dampfmaschine Watts mit der mechanischen Baumwollspindel, der „Jenny", manifestiert. Denn dort wurde von vornherein der Charakter des Neuen, grundsätzlich anderen, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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alten Verhältnisse Umstürzenden betont und demgemäß hat sich da der Terminus „Industrielle Revolution" eingebürgert und bis heute gehalten7. Das beruht nicht nur auf dem anderen Charakter, den die Industrialisierung in England, wenigstens nach der Meinung der älteren Forschung, gehabt hat, sondern sehr wesentlich auf der Verschiedenheit der nationalökonomischen Wissenschaft in beiden Ländern. Während alle angelsächsische Wirtschaftswissenschaft auf Adam Smith beruht, also auf dem Versuch, gerade die neuen Erscheinungen in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft adäquat zu analysieren, ist in Deutschland die Nationalökonomie aus der Kameralistik hervorgegangen und hat deren Begriffe großenteils übernommen. Die historischen Schulen verwandten dann mehr Energie auf die Sammlung und Sichtung von Tatsachenmaterial aus Vergangenheit und Gegenwart als auf die theoretische Analyse. Ihr Begriffsapparat erfaßte daher gerade die spezifisch „modernen" Erscheinungen weniger scharf, weil er stets durch die Andersartigkeit der Vergangenheit relativiert wurde. Ebenso wie der Unterschied in der tatsächlichen ökonomischen Entwicklung Englands und Deutschlands mit der Zeit verblaßte, schwand in den letzten dreißig Jahren auch der Unterschied in der Wirtschaftswissenschaft beider Länder. Mit dem Einschwenken auf die angelsächsische Tradition machte sich die deutsche Nationalökonomie auch das angelsächsische Verständnis der Industrialisierung zu eigen, und umgekehrt beginnt man sich in England und Amerika zu fragen, ob man nicht den zu pointierten Begriff der „Industrial Revolution" durch den zwar farbloseren, aber besseren der „Industrialization" ersetzen solle8. Nur wenn man mit „Industrialisierung im engeren Sinne" das Emporkommen und schließliche Dominieren der mit Maschinen oder Apparaten ausgestatteten Fabrik versteht, läßt sich daran auch der Begriff der „Industrialisierung im weiteren Sinne" anschließen. Damit sind alle Folgeerscheinungen jenes Durchbruchs gemeint, die sich vor der Mechanisierung der Produktion nicht oder nicht weithin sichtbar einstellten: die Veränderungen im Verkehrswesen, das Ansteigen der Dienstleistungen, die Umschichtungen im Handwerk und der Landwirtschaft, die sozialen Strukturwandlungen überhaupt und ihre Auswirkungen auf die geistige Verfassung der Menschen, kurz: alle jene Erscheinungen, die den Industrieländern gemeinsam sind und die die sogenannten Entwicklungsländer erst noch nachholen müssen. Eine Analyse der Industrialisierung, die auf einen Vergleich der Entwicklung in möglichst vielen Teilen der Welt abzielt, muß verschiedene Stadien oder Phasen und verschiedene Formen oder Typen des Vorgangs unterscheiden. Als Stadien, die in jedem sich industrialisierenden Lande in ungefähr gleichen Zeiträumen sich ablösen, hat W. G. Hoffmann in einer früheren Arbeit das Vorherrschen der Konsumgüterindustrien als erstes, das relativ stärkere Wachstum der Investitionsgüterindustrien als zweites, das Gleichgewicht zwischen beiden als drittes und das Vorherrschen der Investitionsgüterindustrien als viertes und vorläufig letztes, bisher nur in den am meisten entwickelten Ländern in Ansätzen sichtbares Stadium, bezeichnet9. Die verschiedenen Typen der Industria© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lisierung unterscheidet er nach den Formen des Ansatzes entweder aus eigener Kraft oder durch Übertragung aus einem anderen Land, wobei das aufnehmende Land bisher schon eine ausgebildete Gewerbestruktur besitzen kann oder als Land mit rein agrarischer Struktur zu betrachten ist. Eine andere Unterscheidung ist die nach den jeweils vorherrschenden Industriegruppen, wobei während des ersten und zweiten Stadiums entweder die Textilindustrie oder die Nahrungsmittelindustrie, im dritten und vor allem vierten Stadium entweder die Grundstoffindustrien oder die weiterverarbeitenden Investitionsgüterindustrien, vor allem der Maschinenbau, vorherrschen können, wozu man heute wohl noch die Möglichkeit eines Vorherrschens der Großchemie ins Auge fassen muß. Eine andere Typisierung der Industrialisierung nach den Methoden des Aufbaus hat neuerdings H. Linde vorgeschlagen10. Er unterscheidet fünf Typen: 1. die industrielle Revolution (England), 2. den industriellen Ausbau (Mitteleuropa), 3. den industriellen Aufbau (Nordamerika), 4. die industrielle Erschließung (Kolonien), 5. die industrielle Aufrüstung (Sowjetunion, neuerdings China). Solche und ähnliche Typisierungen sind dem Historiker mindestens als Arbeitshypothesen hilfreich. Wieweit sie sich verifizieren lassen, können nur wirklich weltweite vergleichende empirische Untersuchungen ergeben. Sie sind bisher nur auf statistischer Grundlage durchgeführt worden und erfassen wohl die Größenordnungen der Ergebnisse, nicht aber die tiefer liegenden, den Historiker eigentlich interessierenden Ursachen und bewegenden Kräfte, Für eine solche, dem individuellen Vorgang selbst in seinen Einzelheiten nachgehende historische Forschung hat L. Beutin ebenfalls fünf Fragestellungen hervorgehoben11. Danach sind zuerst die Vorbedingungen, die von Walter Eucken als „Datenkranz"12 bezeichneten vorgegebenen Tatsachen wie Bodenausstattung, Bevölkerungsstruktur, rechtliche und politische Normen, das Wirtschaftssystem, die staatlichen Grenzen etc. zu betrachten, dann die Möglichkeiten, die sich aus diesen Vorbedingungen ergeben, z. Β. die Kapitalausstauung, die vorherrschenden Gesinnungen, das Arbeitsethos etc. zu erkunden, danach die bewegenden Ursachen zu analysieren, wie sie vor allem in den Handlungen der staatlichen Behörden und der Unternehmer zum Vorschein kommen. Daraus ergeben sich in einer Morphologie der Industrie die Formen und Größen und schließlich die Wirkungen der Industrialisierung auf die verschiedensten Lebensbereiche. Hier sollen aus der Vielzahl der Probleme, die eine solche Fragestellung aufwirft, nur einige herausgegriffen werden, soweit sie um den Ansatz der Industrialisierung kreisen. Der Ansatz, neuerdings in der angelsächsischen Wachstumsforschung unter dem Begriff „take off" viel diskutiert13, entscheidet weitgehend über die Formen und Größen und die Wirkungen der Industrialisierung. Andererseits ist er von den Vorbedingungen und Möglichkeiten abhängig. Die Variable ist also am ehesten im Bereich der bewegenden Ursachen, der treibenden Kräfte zu suchen. Nach ihnen wird also in erster Linie zu fragen sein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Daneben sollen jedoch auch die Formen der Unternehmung, die Methoden der Finanzierung und schließlich die Größenordnungen und die strukturelle Gliederung, wie sie eine statistische Analyse ergibt, angedeutet werden. Baden gehört nicht zu den Ländern, deren Industrialisierungsvorgang irgendwelche in die Augen stechende Besonderheiten aufweist. Es ist weder besonders früh, noch besonders heftig in den Prozeß eingetreten; aber es zeigt auch keine ungewöhnliche Verspätung, kein ausgeprägtes Moment einer Unterentwicklung. Im Zuge des industriellen Aufbaus Europas ordnet es sich seiner geographischen Lage entsprechend zwischen den relativ frühen Ansatz in der Schweiz und im Elsaß und den um eine bis zwei Generationen späteren in den meisten deutschen Mittelstaaten ein. Früher als in Baden finden sich in Deutschland Ansätze eigentlich nur in Sachsen und einzelnen Teilen Preußens, besonders am Niederrhein und in Schlesien13a. Verfolgen wir den Vorgang an Hand der wichtigsten Fabrikgründungen zunächst chronologisch, so lassen sich mehrere Perioden, oder besser Industrialisierungswellen unterscheiden14. 1. Als Vorgeschichte müssen wir nach unserer Definition von Industrialisierung und Fabrik jene Manufakturgründungen bezeichnen, die sich im Prinzip bis ins 16. Jh. verfolgen lassen; rechnet man die Papiermühlen, die Eisen- und Glashütten hinzu, gehen sie sogar bis weit ins Mittelalter zurück: eine Glashütte wird schon 1296 in Lenzkirch erwähnt. Aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh. machen solche Gründungen sich zahlenmäßig stärker bemerkbar. Eine vollständige Übersicht läßt sich hierüber für das Gebiet des späteren Großherzogtums Baden bisher ebensowenig wie für die meisten anderen deutschen Territorien geben13. Eine der wichtigsten dieser Gründungen ist die „Cotton- und Indiennefabrique" in Lörrach, die der Berner Bürger Küpfer mit einem Privileg des Markgrafen Karl Friedrich 1753 ins Leben ruft, und auf die sich die noch heute bestehende Manufaktur Koechlin, Baumgartner & Cie. zurückführt16. An ihrer wechselreichen Geschichte laßt sich der Formenwandel der Industrie besonders lehrreich darstellen. In der napoleonischen Zeit löste sie sich zunächst auf (1804), wurde dann vom Staat übernommen und ging 1808 in die Hände des Handelshauses Merian in Basel und der Brüder Koechlin aus der Familie der berühmten Kattundrucker in Mühlhausen im Elsaß über. 1809 brachte Peter Koechlin die erste Rouleauxdruckmaschine nach Lörrach und eröffnete damit eine neue Periode nicht nur in der Geschichte der Firma, sondern in der badischen Industriegeschichte überhaupt. Bis zur Gründung der großen Aktiengesellschaften in den dreißiger Jahren war die Firma Koechlin mit zeitweise mehr als tausend Arbeitern in vier Filialen die größte des Landes. In dieser Manufakturperiode sind auch eine Reihe anderer Textilunternehmen entstanden, die sich über die Wirren der napoleonischen Zeit in das neue Jahrhundert retten konnten und in der ersten Hälfte des 19. Jhs. noch eine bedeutende Rolle spielten: die Indiennedruckereien von Macaire & Co (1785) und Theysser (1786) in Konstanz (aus Theysser wurde später die Gabriel He© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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rosé-AG.), die Wolltuchmanufaktur von Gülich & Finkenstein in Pforzheim und die Seidenbandweberei Mez in Kandern, später in Freiburg (1785), die mit elf Filialen und 1200 Arbeitern gegen Ende der sechziger Jahre des 19. Jhs. zeitweise die größte Fabrik des Landes war17. Aus dem späteren 18. Jh. stammen schließlich die meisten Krapp-, Tabak- und Zichorienmanufakturen, so die Firma Gebr. Lotzbeck in Lahr (1774), die Zichorienmanufaktur C. Trampler in Lahr (1786) oder die Krappmanufaktur David Seligmanns, des späteren Freiherrn von Eichthal in Grötzingen18. Die schon früher bestehenden Glashütten werden durch die Rinderschwendersche in Gaggenau (1771) vermehrt. In Durlach, Heidelberg, Mosbach und Zell a. H. entstehen Fayence- und Porzellanmanufakturen, von denen vor allem die Zeller unter der Leitung von J . F. Lenz im 19. Jh. kräftig aufblüht. Heidelberg und Mannheim erhalten 1772 bzw. 1775 Tapetenfabriken, und im Schwarzwald macht sich neben der häuslichen Uhren- und Löffelindustrie auch die Strohhutfabrikation und die Bürstenindustrie breit. Auch die älteren Eisenhütten des südlichen Schwarzwaldes, die zum größeren Teil in altbadischem Herrschaftsbesitz sind (Hausen, Kandern, Oberweiler), erhalten im nördlichen Teil des Landes Zuwachs. In Rastatt entsteht vorübergehend eine Stahlwarenfabrik, aus der dann die Kutschenmanufaktur Schlaff & Co. hervorgeht, die bald in Karlsruhe, später auch in Offenburg und Mannheim Konkurrenten erhält. Die bekannteste, aber durchaus nicht repräsentativste, sondern eher außergewöhnlichste Industriegründung dieser Manufakturperiode ist die Eröffnung einer Uhrenmanufaktur im Pforzheimer Waisenhaus. Sie wird im Auftrage und mit Unterstützung der Markgrafen durch ausländische Unternehmer mit ausländischen Arbeitern betrieben. Bald nach ihrer Gründung nimmt sie die Herstellung von Gold- und Stahlwaren auf, spaltet sich 1768 in zwei verschiedene Unternehmen, bis schließlich nach vielen Unstimmigkeiten und Verlusten die Unternehmen ganz privatisiert werden, einige Mitarbeiter sich selbständig machen und 1776 die Gewerbefreiheit für die Pforzheimer Bijouteriefabrikation erklärt wird. Manche der „Kabinette", die nun auch von Einheimischen eröffnet werden können, entwickeln sich im Laufe der Jahre zu bedeutenden Fabriken19. Daß diese vielfältigen Ansätze in den stürmischen Jahren der napoleonischen Kriege ein wechselhaftes Schicksal erleben, kann nicht verwundern. Es ist jedoch nicht richtig, wenn behauptet wird, fast alle seien ihnen zum Opfer gefallen20. Die Mehrzahl scheint sich im Gegenteil behauptet zu haben, wenngleich viele vorübergehend ihren Betrieb einschränken oder stillegen mußten oder, wie die Lörracher Manufaktur, sogar in andere Hände übergingen. Einzelne Unternehmer scheiterten, die Betriebsstätten haben sich fast alle erhalten. Die napoleonische Zeit brachte sogar eine neue Gründungswelle, die durch das Ende der Kontinentalsperre zwar abgestoppt, nicht aber rückgängig gemacht wurde. Außer einigen Kaffee-Ersatzherstellern und Produzenten ähnlicher Notfabrikate konnten sich fast alle Neugründungen behaupten. 1809, als im Großherzogtum die erste Gewerbezählung stattfand, stellte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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man 163 größere nichtzünftige Gewerbebetriebe mit 6848 Arbeitern fest, die man dem Sprachgebrauch der Zeit nach als Fabriken bezeichnete. Scheidet man die verlegerisch organisierte Hausindustrie und die Waldkircher Granatschleifereien aus, die als eine Handwerksgenossenschaft zu betrachten sind, so bleiben 146 Betriebe mit 2656 Arbeitern. Sie kann man als den Stamm an Manufakturen betrachten, mit dem das Großherzogtum Baden in das Zeitalter der Industrialisierung eintrat. Die größte Gruppe war die der Nahrungs- und Genußmittel mit 28 Betrieben und 548 Arbeitern, also einer durchschnittlichen Arbeiterzahl von 19 pro Betrieb. Es folgten die Textilien mit 14 Betrieben und 447 Arbeitern, 32 pro Betrieb, die Eisenindustrie mit 429 Arbeitern in 24 Betrieben (meist kleine Eisenhütten und -Hammerwerke), also einem Durchschnitt von 17 Arbeitern im Betrieb, die Gold- und Silberwaren mit 395 Arbeitern in 21 Betrieben (19 im Durchschnitt), die 20 Papiermühlen mit 267 Arbeitern (13 pro Betrieb) und die Glas-, Fayence- und Steingut-Industrie, die heute zur Industriegruppe „Steine und Erden" zählt und in 8 Betrieben 217 Arbeiter, also 27 im Durchschnitt beschäftigte21. Als größter Einzelbetrieb ist die Kattunmanufaktur Merian & Koechlin in Lörrach mit 150 Arbeitern anzusprechen. Über hundert Beschäftigte wiesen außerdem nur noch die beiden Eisenwerke in Kandern und Wehr auf. (Das Eisenwerk Albbruck, das in den Folgejahren stets das größte war, ist in der amtlichen Statistik 1808/09 offenbar nicht erfaßt.) Immerhin besaßen 41 Manufakturen, Hütten und Kabinette schon über zwanzig Arbeiter, überstiegen also jene Grenze, die die deutsche Statistik des 19. Jhs. im allgemeinen für den Fabrikbetrieb setzte22. In ihnen waren drei Viertel aller Arbeiter beschäftigt. 2. In dieser ersten Gewerbestatistik sind die Neugründungen der napoleonischen Zeit nur zum Teil erfaßt. Die St. Blasische Fabrik z. Β. fehlt, weil sie erst am 1. August 1809 ihren Betrieb aufmachte, die Zählung jedoch im Frühjahr stattfand. Am 1. Oktober beschäftigte sie bereits 74 Arbeiter. Diese Neugründungen seit 1805/06 wachsen sich jedoch zu einer zweiten Gründungswelle aus, die ihren Grund gerade in jenen besonderen Verhältnissen der napoleonischen Zeit hatte. Dieser Grund ist nicht zuerst in dem Bestreben zu suchen, die ausbleibenden englischen Manufakturwaren durch einheimische Produkte zu ersetzen, sondern in der Notwendigkeit, der Bevölkerung in den neuerworbenen, zum Teil geistlichen Territorien nach dem Wegfall der Klöster neue Erwerbsquellen zu schaffen. Diese Gründungswelle ist bisher fast völlig übersehen worden. Neben einer Reihe wieder aufgegebener Projekte und gescheiterter Versuche führte sie in Baden vor allem zur Gründung der Fabrik im Kloster von St. Blasien, die zugleich die erste mechanische Spinnerei in Baden, die älteste Maschinenfabrik in Deutschland und eine der am weitesten mechanisierten Gewehrfabriken Europas gewesen ist; dann zur Errichtung einer mechanischen Spinnerei im Kloster Günterstal bei Freiburg, einer Baumwollmanufaktur in der Probstei Waldkirch, einer Seidenweberei im Kloster Schwarzach und der mechanischen Spinnerei der Gebr. Buhl in Ettlingen. Alle diese Werke, die meist in sehr entlegener Gegend errichtet wurden, haben mehrere Jahre, ja © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Jahrzehnte bestanden; von den gescheiterten soll hier nur der verfrühte Versuch einer mechanischen Wollspinnerei erwähnt werden. Er wurde von Reinhard Brenneisen zuerst im Kloster Allerheiligen, dann im Kloster Frauenalb vorgenommen. Auch die Klöster Gengenbach und Ettenheimmünster waren Gegenstand industrieller Spekulation23. Auch bestehende Industriezweige wurden in der napoleonischen Zeit durch Neugründungen bereichert. Besonders lebhaft blühte eine Zeitlang die Pforzheimer Bijouterie auf, um dann wieder infolge der Handelssperren fast ganz zu erstarren. In Konstanz gründete Gabriel Herosé seine Taschentuchfabrik, in Heidelberg P. J . Landfried 1810 eine Tabakmanufaktur, in Mannheim der Freiherr Ludwig v. Bilderbeck die erste Zigarrenfabrik, A. H. Thorbecke eine neue Tabakfabrik. Dieser Gründungswelle zwischen 1806 und 1812 folgte nach 1817 eine Periode der Stagnation, die bis zum Beginn der dreißiger Jahre reicht. Nur einzelne, dafür aber zukunftsreiche Neugründungen fallen in diese Zeit: Eine mechanische Baumwollspinnerei der Gebr. Thoma in Todtnau, die Anfänge der chemischen Industrie durch Johann Grasselli auf Gut Wohlgelegen bei Mannheim (1822) und die Apotheker Kölreuter & Salzer in Villingen (1826) sowie die beiden staatlichen Salinen in Rappenau und Dürrheim. Wichtig sind diese Jahre auch für die Papierindustrie. Nachdem Franz Buhl in Ettlingen sich schon 1818 das Einführungspatent für eine englische Maschine für Papier ohne Ende gesichert und in den zwanziger Jahren die Maschine auch aufgestellt hatte, gingen nun nach und nach alle größeren Papiermühlen von den Bütten auf die Papiermaschinen über und traten so in das Stadium der Fabrik ein. 1829 zählte die badische Gewerbestatistik 163 Fabrikbetriebe mit 3085 Arbeitern über 16 Jahren. An der Spitze steht nun die Textilindustrie mit 1188 erwachsenen Arbeitern in 25 Betrieben. Außer der Baumwollindustrie, die sich seit 1809 vervierfacht hat, sind die badischen Großgewerbe in den zwanzig Jahren seit 1809 nur unmerklich gewachsen. 3. Eine neue Gründungswelle setzt dann in den dreißiger Jahren, besonders nach dem Anschluß Badens an den Zollverein (1836) ein. Entlang der Schweizer Grenze entstehen, meist als Filialen Schweizer Unternehmen, eine ganze Reihe von Textilbetrieben, in und um Säckingen vor allem Seidenwebereien und -Wirkereien, im Wiesental Baumwollspinnereien und -Webereien, auch einzelne Ausrüstungsbetriebe. In Ettlingen wird 1836 die Spinnerei und Weberei Ettlingen als Aktiengesellschaft gegründet. Sie wird fortan der größte Textilbetrieb und zeitweise die größte Fabrik des Landes sein. In Emmendingen richtet der Kaufmann Karl Helbing die erste mechanische Hanfspinnerei des Landes ein. Binnen weniger Jahre wächst die Textilindustrie auf das Vierfache ihres Standes vor dem Zollverein. Die Zollgrenze als Standortfaktor läßt sich hier fast idealtypisch erkennen24. Auch die meisten der anderen Industriezweige wachsen nun merklich, wenn z. Τ. auch weniger durch Neugründungen als durch Kapazitätserweiterungen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ganz oder fast ganz neu entstehen zwei wichtige Industriezweige: der Maschinenbau und die Zuckerfabrikation. Die älteste badische Maschinenfabrik St. Blasien war nach dem Weggang ihres Gründers, des Züricher Mechanikers Johann Georg Bodmer, der 1816 zunächst in den badischen Staatsdienst trat, 1822 nach England übersiedelte, fast ganz eingegangen. Neue Fabriken hatten sich nicht gebildet. Nun entstanden die hauptsächlich Webmaschinen produzierende Firma Louis Merian in Höllstein bei Lörrach (1835), die Immendinger Firma Bernoulli 6c Rowlandson, die dem Fürsten zu Fürstenberg gehörte, und die Lokomotivfabrik Keßler & Martiensen in Karlsruhe, die aus einer mechanischen Werkstatt der Polytechnischen Schule hervorging. In Pforzheim nahmen die Gebr. Benckiser, Angehörige einer der ältesten Unternehmerfamilien des Landes, den Bau von Turbinen, Pumpen, Triebwerken und Holländern für die Papierindustrie auf. In Mannheim erweiterten die Schmiedemeister Schweitzer und Vögele ihre Werkstätten zu Fabriken, Vögele, indem er den Bedarf der neu entstehenden Eisenbahnen deckte. In Heidelberg gründete anfangs der vierziger Jahre Karl Metz die älteste deutsche Feuerwehrgerätefabrik. Die Fabrikation von Zucker aus Rüben erschien nach den Tarifen des Deutschen Zollvereins ein besonders lohnendes Geschäft. Mindestens acht Unternehmer ergriffen die Chance, darunter zwei alte Pioniere der badischen Industrie, der Freiherr von Eichthal, der seine Grötzinger Krappfabrik auf die Rübenzuckerfabrikation umstellte, und der Ettlinger Oberbürgermeister Buhl, dem schon die Baumwollspinnerei und die Papierfabrikation die Wendung zum Fabrikbetrieb verdankten. Vor allem aber wurde die Badische Gesellschaft für Zuckerfabrikation gegründet, eine Aktiengesellschaft mit 1 Million Gulden Grundkapital. Sie betrieb zeitweise drei Fabriken, war unmittelbar vor der 48er Revolution die größte badische Industrieunternehmung und besaß in Waghäusel zeitweilig die größte Zuckerfabrik Deutschlands25. Das Ende dieser zweiten oder, wenn man die Manufakturperiode einbezieht, dritten Gründungswelle kam mit der Krise in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre. Sie brachte 1848/49 sogar die drei größten Fabriken des Landes, die Zuckerfabrik Waghäusel, die Spinnerei und Weberei Ettlingen und die Maschinenfabrik Keßler fast zu Fall und zwang zum erstenmal Regierung und Landtag, sich mit den Problemen einer modernen Industriewirtschaft auseinanderzusetzen. Am Ende dieser Periode, 1849, zählte die badische Gewerbestatistik 335 Fabriken und mehr als 17 000 Arbeiter. Die Zahl der Betriebe hatte sich in den zwanzig Jahren seit 1829 reichlich verdoppelt, die Zahl der Arbeiter, wenn man für 1829 die Kinder hinzuschätzt, mehr als vervierfacht. Noch eindeutiger dominierte nun die Textilindustrie mit 138 Betrieben und fast 10 000 Arbeitern. Über 60 % aller in der Industrie Tätigen fanden durch sie ihr Brot. 4. Die fünfziger Jahre sind in ganz Deutschland eine Zeit lebhaften industriellen Ausbaus. Baden schließt sich hiervon nicht aus. Weniger als bisher ist es möglich, die Gründungen einzeln aufzuzählen. Erwähnt seien wiederum nur © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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einige charakteristische Neuerungen. Nun erst wächst sich Mannheim zum größten Industriestandort des Landes aus. Bisher hatte stets Pforzheim die Spitze gehalten. Die schon erwähnten kleinen Maschinenfabriken von Schweitzer und Vögele kommen nun erst richtig in den Bereich der Fabrik, vor allem seit Schweitzers Sohn Cäsar die Fabrikation von Dezimalwaagen, Hebemaschinen und Kranen aufnimmt und Vögeles ältester Sohn für Aufträge außerbadischer Eisenbahnen sorgt. Ihnen gesellt sich am Ende unserer Periode der Kaufmann Heinrich Lanz hinzu, der zunächst englische Landmaschinen einführt, dann nachbaut und schließlich eine eigene Fabrik eröffnet, die zeitweise zur größten Landmaschinenfabrik des europäischen Kontinents wird. Vor allem aber sind jetzt einige ausländische Gründungen zu erwähnen: die Spiegelmanufaktur auf dem Waldhof durch die Franzosen (1855), die amerikanische Gummiwarenfabrik durch Amerikaner und die Gummikammfabrik Hutchinson Poinsel & Co. durch Amerikaner und Franzosen. Die chemische Industrie erhält durch den Verein Chemischer Fabriken 1854 einen bedeutenden Zuwachs. In Heidelberg entsteht die Schnellpressenfabrik (1850) und die Waggonfabrik H. Fuchs (1853). Auch Karlsruhe sieht in diesen Jahren eine Reihe von Fabrikgründungen, die der Stadt bis heute das Gesicht geben: Die Parfümerien- und Seifenfabrik F. Wolff & Sohn, die Eisengießerei und Maschinenfabrik Sebold, die Nähmaschinenfabrik Haid & Neu und die ebenfalls als Nähmaschinenfabrik begründete Firma Junker & Ruh. Für den Schwarzwald ist die Gründung der ersten modernen Uhrenfabrik als Aktiengesellschaft in Lenzkirch (1851) von Bedeutung. Als die Weltwirtschaftskrise von 1857/58 diesen schwungvollen Ausbau bremst, besitzt Baden 477 Fabriken und 31 000 Arbeiter. In knapp zehn Jahren hat sich die Zahl der Betriebe um ca. 42 % vermehrt, die Zahl der Arbeiter aber wiederum fast verdoppelt. In der Textilindustrie, der bisherigen Schlüsselindustrie, hat sich das Wachstum allerdings verlangsamt. Mit 15 340 Arbeitern in 184 Betrieben ist sie, gemessen an der Arbeiterzahl, nur noch um 5 0 % größer geworden, gemessen an der Betriebszahl, nur noch um 33 %. Die Tabak-, Eisen-, Gold- und Silberwaren-Industrien sind in diesen Jahren starker gewachsen, ohne allerdings der Textilindustrie ihre führende Stellung streitig machen zu können. Noch immer beschäftigt sie fast die Hälfte aller badischen Industriearbeiter. Hundert Jahre später, 1958, werden es nur noch 10 % oder, rechnet man die Bekleidungsindustrie hinzu, knapp 15 % sein. Maschinenbau und Elektrotechnik beherrschen nun das Bild26. 5. Die nächste große Industrialisierungswelle, die in die Gründerjahre nach 1870, vor allem aber in die 1880er Jahre fällt, soll hier nicht mehr behandelt werden. Sie hat Baden wie Deutschland insgesamt überhaupt erst recht eigentlich zu einem Industrieland gemacht. Nun erst dominiert die Fabrikindustrie über die anderen Erwerbszweige. Der Export beginnt lebenswichtig zu werden. Das Zeitalter des Imperialismus setzt an. In Baden erringt sich Mannheim endgültig den Platz der führenden Industriestadt. Zu seinen großen Betrieben des Maschinenbaus und der Chemie gesellt sich nun der Fahrzeugbau und die Elek© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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trotechnik. Die Textilindustrie wird von den Investitionsgüterindustrien auf den zweiten Platz verwiesen27. Unterziehen wir nun diese in drei bzw. vier Wellen entstandene Industrie einer Analyse, so bieten sich dafür mehrere Gesichtspunkte an. Zunächst soll nach den Unternehmungsformen gefragt werden, die für den Aufbau zur Verfügung standen. Von daher wird es möglich sein, den treibenden Kräften und den Methoden des Aufbaus nachzugehen, also zu untersuchen, wie Staat und Unternehmerschaft sich ergänzten, welche Rolle Technik und Kapital spielten; Fragen, die allgemein unter dem Begriff der „Innovation", d. h. der Einführung von technischen Neuheiten, und der „primären Akkumulation", d. h. der Erstfinanzierung, bekannt sind, sollen dabei behandelt werden. Vier Unternehmungsformen lassen sich deutlich unterscheiden: 1. der staatliche (herrschaftliche) Betrieb, 2. der staatlich (herrschaftlich) privilegierte und unterstützte Betrieb, 3. die konzessionierte Einzelunternehmung, 4. die konzessionierte Kapitalgesellschan. 1. Die erste Form, der staatliche, oder besser herrschaftliche Betrieb, stammt aus älterer Zeit. Bis in die sechziger Jahre des 19. Jhs. herrscht er jedoch auf einem damals in Baden nicht unwichtigen Gebiet vor, dem der Eisenverhüttung. Wir haben sie in dem vorherigen Überblick nicht erwähnt, weil sie in unserer Zeit keine bedeutenden Neugründungen mehr kennt. Ehe sie aber in den sechziger Jahren des 19. Jhs. praktisch bedeutungslos wurde, erlebte sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch einmal einen beträchtlichen Ausbau, der sie zeitweise zu dem der Arbeiterzahl nach zweitstärksten, dem Betriebskapital nach stärksten Industriezweig des Landes machte. 1829 zählt das Großherzogtum acht Hüttenwerke, von denen sich sechs im Besitz des Staates befinden, eines dem Fürsten von Fürstenberg und eines der Industriellenfamilie Benckiser gehört. Sie beschäftigen 232 ständige Arbeiter über 16 Jahre, zu denen noch die Fuhrleute, Holzmacher und Kohlenbrenner und andere unständige Kräfte hinzukommen. Ihr Betriebskapital wird mit 191 000 fl. angegeben. Zusammen mit den 18 Eisen- und Blechhämmern und 3 Drahtziehereien, die teilweise den Hüttenwerken angegliedert sind, weist die Eisenindustrie des Landes ein Betriebskapital von 375 575 fl. für die Gewerbesteuer nach, das sind 80 000 fl. mehr als die Textilindustrie und 90 000 fl. mehr als die Nahrungs- und Genußmittelindustrie. Ein ähnlich hohes Betriebskapital besitzen nur noch die beiden Salinen. Sie sind ebenfalls staatliche Betriebe und gehören zu den Neugründungen der zwanziger Jahre. Hier verfügen wir nur über die Zahlen der Saline Bad Dürrheim. Sie ist bei einem Betriebskapital von 295 000 fl. und 116 Arbeitern der kapitalintensivste Betrieb des Landes. Bei den Neugründungen in der von uns betrachteten Zeit hat der rein herrschaftliche Betrieb nur in der ersten, der Manufakturperiode, eine Rolle gespielt. Die meisten dieser Gründungen des Landesherrn und seiner Familie hatten keinen Bestand. Sie sind es vor allem, die die napoleonische Zeit nicht über24 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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dauerten. Erwähnt seien das Karlsruher Gewerbshaus der Gräfin Hochberg, der zweiten Gemahlin Karl Friedrichs, das ähnlich wie die Unternehmen des Pforzheimer Waisenhauses der Erziehung der Armen zur Industrie diente, oder die Krappmanufakturen, die der vielseitige Schweizer Unternehmer Johann Sebastian Clais für Mitglieder der markgräflichen Familie, vor allem die Markgräfin Karoline in Friedau, Rotenfels, Ottenau, Grötzingen, Rastatt und Mühlburg einrichtete. Wieder andere Unternehmungen blieben Projekt, so die mechanische Baumwollspinnerei, an der Johann Sebastian Clais mit einem Mechaniker namens Eckart im Auftrage des Markgrafen Ludwig Wilhelm schon 1776 in großer Heimlichkeit in einem „wohlverschlossenen Zimmer" des Rastatter Schlosses experimentierte28. Heute würden wir diese Unternehmungen großenteils als Privatunternehmen bezeichnen. Das 18. Jh. kennt diese Unterscheidung jedoch nicht. Zwischen den im Auftrage des Markgrafen betriebenen Eisenhütten, deren Etat im 19. Jh. im staatlichen Budget erscheint und die als Domänen nur noch mit Zustimmung des Landtags verkauft werden können, und den Unternehmungen der anderen Mitglieder des Herrschaftshauses besteht damals noch kein grundsätzlicher Unterschied. Es läßt sich also festhalten, daß die staatliche Unternehmung, soweit sie in Baden in der ersten Hälfte des 19. Jhs. existierte, Überbleibsel der älteren Herrschaftsordnung war: Eigentum der regierenden Herren. Eine Ausnahme machten vielleicht die Salinen, die erst im Zeitalter des Verfassungsstaates gegründet wurden. Sie obliegen von Anfang an der Administration durch eine Abteilung des Finanzministeriums. Aber auch sie werden in der ersten Hälfte des 19. Jhs. ebenso wie die Hüttenwerke noch immer als „großherzoglich" oder „herrschaftlich", nicht als „staatlich" bezeichnet. Diese Fortdauer von Verhältnissen, die aus der alten Herrschaftsordnung herrühren, macht auch verständlich, warum während unserer ganzen Zeit einer der bedeutendsten Unternehmer Badens der Fürst zu Fürstenberg gewesen ist. Sein Hüttenwerk in Bachzimmern mit den dazugehörigen Erzgruben und Hammerwerken, seine Bierbrauerei in Donaueschingen etc. stammen aus der Zeit, in der er noch Landesherr war29. Hier machte nun freilich die großherzoglich badische Verwaltung im 19. Jh. eine sehr strenge Unterscheidung zwischen Privat- und Staatseigentum. Indem sie seine Werke als privat deklarierte und behandelte, verneinte sie die Fortdauer älterer Regalien und Bannrechte, die aus der Landeshoheit flossen. In mehreren Rechtsstreitigkeiten um Flößerei oder Wasserrechte vertrat sie konsequent diesen Standpunkt30. Aber man muß diese ältere Tradition berücksichtigen, will man die Rolle Fürstenbergs als Unternehmer im 19. Jh. richtig verstehen. Daß er als einer der ersten 1835 in Immendingen eine Maschinenfabrik einrichten ließ, läßt sich sonst nicht zureichend erklären. 2. Von diesem herrschaftlichen Regiebetrieb ist der landesherrlich privilegierte und oft finanziell unterstützte Betrieb als ein besonderer Typ zu unterscheiden. Auch er gehört im wesentlichen der Welt des älteren Territorialstaats © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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an, in der zunftfreier Unternehmer zu sein ein besonderes Privileg erforderte. Auch hier steht der Landesherr als Initiator oft hinter dem Unternehmen. Gelegentlich trägt er auch einen Teil des Risikos, indem er Subventionen oder langfristige Darlehen beisteuert. Mindestens gewährt er Steuerfreiheit oder Steuerermäßigung. In der Manufakturperiode ist jeder Privatbetrieb grundsätzlich in diese Kategorie zu rechnen. Besonders deutlich prägt sie sich bei der Gründung der Pforzheimer Uhrenmanufaktur aus. Der Markgraf gewährt den Unternehmern die Benutzung von Räumen des Waisenhauses, einen jährlichen Zuschuß von 550 Gulden, Befreiung von persönlichen Lasten und vom Pfundzoll auf ihr Arbeitsmaterial. Die Unternehmer verpflichten sich dagegen, zwanzig Knaben und vier Mädchen aus dem Waisenhaus als Lehrlinge auszubilden31. Die wirtschaftlichen Zwecke des Unternehmens und die „sozialpolitischen" — wenn man diesen modernen Terminus verwenden will — des Landesherren verschränken sich so, daß beide miteinander stehen und fallen. Es ist eine Ausnahme, die von den ökonomischen Einsichten Karl Friedrichs zeugt, daß er nach dem Mißlingen dieser Verschränkung nicht das Unternehmen weiter stützt, um seine landesherrlichen Zwecke zu erreichen, sondern die wirtschaftlichen Kräfte freigibt, und so eine neue Epoche der staatlichen Gewerbepolitik mehr vorwegnimmt als einleitet. Denn trotz der Erprobung des Konkurrenzprinzips in der Pforzheimer Bijouterie und bei den Schwarzwälder Uhren dauert die Form des privilegierten und subventionierten Unternehmens auch im 19. Jh. noch fort. Der Übergang von der alten Zunftordnung (mit dem nichtzünftigen Großbetrieb als landesherrlich bewilligter Ausnahme) zur Gewerbeordnung (mit freiem Gewerbebetrieb für alle) ging in Baden sehr langsam vor sich. Auf der einen Seite trat schon unter Karl Friedrich an Stelle des Privilegium exclusivum, das Sonderrechte gewährte, allmählich die Konzession, die lediglich „Nachsicht gegen die Zunftordnung" ohne weitere Vorrechte bot; auf der anderen Seite verzichtete der Staat auf diese Konzession erst in den sechziger Jahren ganz. Den wichtigsten Einschnitt auf diesem Wege bildete das VI. Konstitutionsedikt von 1808, das die gesellschaftlichen Verhältnisse im Großherzogtum neu ordnete und die Konzession grundsätzlich zur Voraussetzung des Fabrikbetriebes machte32. Aber auch nach 1808 erhielten bedeutende Unternehmen noch Vorrechte eingeräumt; so bekamen die Fabrik in St. Blasien, die Kattundrukkerei Merian & Koechlin und die Baumwollmanufaktur Waldkirch bei ihrer Konzession Zoll- und Steuerfreiheit für eine Reihe von Jahren zugesprochen. Besonders für St. Blasien wurden diese Vorrechte mehrmals verlängert und erweitert. Außer der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Fabriken fiel dabei gelegentlich das persönliche Verdienst um das Herrscherhaus noch ins Gewicht; so bei der Verleihung eines Privilegs für eine Glashütte an den Leibarzt Dr. Schinkel (1817)33. In den zehner, vor allem aber seit den zwanziger Jahren fielen diese Vorrechte jedoch mehr und mehr weg. Ältere Firmen, die um Verlängerung ihrer Privilegien einkamen, wurden unter Hinweis auf die „neueren Grundsätze" der Gewerbepolitik und auf die veränderte Verfassung des Großherzogtums 24*

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abgewiesen; so die Rindeschwendersche Glashütte in Gaggenau und die Gebr. Benckiser für ihre Durlacher Fayencemanufaktur34. Bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten um Gewerberechte wurden mehrmals ältere Privilegien ausdrücklich als erloschen erklärt. Wer verbriefte und ununterbrochen ausgeübte Rechte nachweisen konnte, hatte damit jedoch auch in den zwanziger Jahren noch manchmal Glück. Gelegentlich verhinderte auch ein erst neuerdings verliehenes Privileg noch die Gründung einer Fabrik; so wurde 1812 der Antrag des Handelsmannes Cornelius in Bühl, eine mechanische Baumwollspinnerei einrichten zu dürfen, abgelehnt, weil Buhl in Ettlingen 1807 ein 15jähriges Patent auf ausschließlichen Betrieb einer mechanischen Baumwollspinnerei zwischen Bühl und Pforzheim erworben hatte35. 3. Im allgemeinen tritt jedoch mit Beginn des Jahrhunderts mehr und mehr an die Stelle der privilegierten die konzessionierte Unternehmung. Seit den zwanziger Jahren ist sie die Regel; seit den dreißiger Jahren herrscht sie allein. Meistens handelt es sich dabei um offene Handelsgesellschaften, die nach dem badischen Handelsrecht mit dem Namen eines oder mehrerer Gesellschaften firmieren mußten36. Wie weit dabei schon die Kommanditgesellschaft, in der Sprache des Code de Commerce als „vertraute" Gesellschaft bezeichnet, eine Rolle spielt, läßt sich aus den Quellen nicht erkennen, da die Firmenbezeichnungen keinen Unterschied zeigen, sondern ebenfalls auf den oder die Namen der mit ihrem ganzen Vermögen haftender Gesellschafter lauten müssen. Diese Unternehmen tragen die Industrialisierung Badens, besonders Oberbadens, zu einem ganz wesentlichen Teil. Soweit es sich um badische Staatsbürger handelte, genügte für sie die einfache Konzession. Sie wurde grundsätzlich erteilt, wenn ein dem Gegenstand des Unternehmens entsprechendes Vermögen und Fachkönnen nachgewiesen oder glaubhaft gemacht wurde. Die Konzession lag im allgemeinen im Ermessen des Bezirksamtes. Gegen seine Entscheidung konnte bei der Kreisregierung, gegen sie beim Innenministerium, gegen diese wiederum beim Großherzog, z. Hd. des Staatsministeriums, Rekurs eingelegt werden. Dieser Weg mußte, besonders anfänglich, oft beschritten werden. Fast ohne Ausnahme behandelten die höheren Instanzen die Konzessionsgesuche liberal, d. h. sie lehnten sie nur ab, wenn entweder verbriefte Rechte Dritter entgegenstanden und noch als angemessen betrachtet wurden oder wenn volkswirtschaftliche oder fiskalische Bedenken laut wurden. Daran scheiterte z. Β. das Gesuch des Basler Papierfabrikanten Oser, 1828 in der Nähe der Schweizer Grenze eine Papierfabrik errichten zu dürfen. Die einheimischen Papierfabrikanten machten Mangel an Lumpen, die Zollverwaltung die Gefahr des Zollunterschleifs erfolgreich geltend37. Ausländische Gewerbetreibende brauchten außer der Gewerbekonzession noch eine besondere Staatsgenehmigung, die sich auch auf den Ankauf von Grundstücken im Großherzogtum erstreckte. Ohne Staatsgenehmigung konnten sie sich selbst nur als Gesellschafter oder „Einlagsgenossen" an dem Unternehmen beteiligen, das den Namen des oder der inländischen Gesellschafter tragen mußte38. Versuche, diese Bestimmungen zu umgehen, indem zwar badische Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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seilschafter aufgenommen, die fremde Firma aber beibehalten werden sollte, wurden von den Behörden vereitelt39. 4. Als letzte Unternehmungsform trat in einigen wenigen Fällen in den späten zwanziger und seit den dreißiger Jahren die Kapitalgesellschaft hinzu, die in der Sprache der Zeit „unbenannte" oder auch „anonyme" Gesellschaft hieß. Ihr begegnet der Staat mit besonderem Mißtrauen, weil die Anteilseigner dem Publikum nicht bekannt waren und sich die Haftung auf die Einlagen beschränkte. Sie brauchte daher in jedem Fall außer der allgemeinen Gewerbegenehmigung für den Gegenstand des Unternehmens noch eine Genehmigung des Staatsministeriums für die Unternehmensform. Vor 1848 spielten vor allem drei Kapitalgesellschaften eine Rolle in der badischen Wirtschaft: der Kinzigtaler, später Badische Bergwerksverein, der die Schwarzwälder Silber- und Kobalt-Gruben noch einmal für mehrere Jahre rentabel machte, die Spinnerei und Weberei Ettlingen und die Badische Gesellschaft für Zuckerfabrikation. Einzelne der als Personalgesellschaften gegründeten oberbadischen Textilunternehmen nahmen im Laufe der Zeit die Form der Aktiengesellschaft an. 1848 wurde die Maschinenfabrik Keßler in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt. Auch die Fabrik in St. Blasien bekam in der Krise 1847/48 die Form einer Aktiengesellschaft, was ihre Liquidation jedoch nicht verhindern konnte. Anfang der fünfziger Jahre entstand sie als Personalunternehmen neu. In den fünfziger Jahren kommen mehrere Gesellschaften neu hinzu; so wird 1855 in Offenburg eine Gemüsefabrik als Aktiengesellschaft gegründet, 1851 in Lenzkirch die Aktiengesellschaft für Uhrenfabrikation. Bemerkenswert und für den Gang der Industrialisierung von Baden von großer Bedeutung ist die Tatsache, daß es während unserer ganzen Zeit keine Bankunternehmen als Kapitalgesellschaft in Baden gab. Erst 1870 kam nach über vierzigjähriger Vorbereitungszeit die Badische Bank in Mannheim zustande. Bis dahin standen neben den Privatbankiers und staatlichen oder halbstaatlichen Kreditkassen wie der Amortisationskasse nur ausländische Banken zur Finanzierung zur Verfügung. Neben Frankfurt waren die beliebtesten Bankplätze Augsburg, Basel, Zürich und Straßburg. Meist bediente man sich jedoch der einheimischen Privatbanken, die sich ihrerseits an den großen Bankplätzen refinanzierten. Daß dies zu einer besonderen Abhängigkeit von fremden Bankplätzen führte, liegt auf der Hand. Jahrzehntelang, besonders heftig während der Krise von 1847/48, ist die Tatsache in Baden auch lebhaft diskutiert worden, ohne daß Abhilfe geschah, weil Regierung und Landtag sich weder zur Konzession einer privaten Zettel- oder Notenbank, noch zur Gründung einer Staatsbank entschließen konnten40. Dieses Fehlen einer großen Aktienbank ist für die Methoden des Aufbaus der badischen Industrie von großer Bedeutung. Von vornherein stehen deshalb großen Unternehmungen Hindernisse im Wege. Das entspricht durchaus einer bewußten Politik der badischen Regierung. Aus der Korrespondenz zwischen den Ministerien und aus den Landtagsprotokollen geht hervor, daß der badi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sche Staat keine Industrialisierungspolitik im eigentlichen Sinne betrieb, sondern daß er einen gesunden gewerblichen Mittelstand schaffen wollte. Die kleine Fabrik, von einem branchekundigen Kaufmann oder einem tüchtigen Handwerker aufgebaut, fand durchaus seine Zustimmung, nicht aber die risikobehafteten großen Projekte. Das hervorzuheben ist besonders wichtig, weil es in einem merkwürdigen Widerspruch zu dem privaten Verhalten der Minister und Beamten steht, die sich, wie wir später sehen werden, selbst lebhaft gerade an den großen Unternehmen beteiligten. Es ist ein weitverbreitetes Fehlurteil, daß der Staat sich im 19. Jh. aus der aktiven Gewerbepolitik in eine Rolle des bloßen Zuschauers und Ordnungshüters zurückgezogen habe. Für Baden wird das oft noch besonders betont, wenn man es mit dem Nachbarland Württemberg vergleicht. Dieses Urteil ist in mancher Hinsicht zu korrigieren und zu differenzieren. Zuerst muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Unterschied zur älteren Zeit nicht so sehr in einer Verminderung der Staatstätigkeit lag als in der Strukturwandlung des Staates überhaupt. Der Territorialstaat des 18. Jhs. war noch sehr wesentlich Personenverbandsstaat, um Theodor Mayers Begriff hier aufzunehmen. Die Person des Herrschers war von den Institutionen des Staates noch nicht streng geschieden. Der Landesherr betrieb seine Unternehmungen sowohl als Landesherr wie als Privatperson. An diese landesherrliche Gewerbetätigkeit schloß sich die landesherrliche Gewerbepolitik ganz organisch an. Das ständige Hineinregieren und Bevormunden, das die Obrigkeit des 18. Jhs. kennzeichnet, hat ihren Grund zum Teil darin, daß zwischen der wirtschaftlichen Selbsttätigkeit des Staates und seiner polizeilichen und politischen Aufsicht kein strenger oder gar grundsätzlicher Unterschied bestand. Indem der moderne Verfassungsstaat nun Privates und Öffentliches streng zu scheiden beginnt, trennt er den staatlichen Regiebetrieb als Teil der Finanzverwaltung schärfer von der allgemeinen Gewerbe- und Agrarpolitik. Außerdem aber wird es nun zur geltenden wirtschaftspolitischen Lehre, daß die Obrigkeit nur indirekt in die Gewerbetätigkeit eingreifen solle. Diese indirekte Tätigkeit ist naturgemäß aber viel schwerer zu fassen als die direkte. Wo der badische Staat Industriegründungen anregt oder unterstützt, besonders in der napoleonischen Zeit, da geschieht es vor allem aus seiner Fürsorgepflicht gegenüber den Untertanen. Nicht die Unternehmung als solche interessiert die Behörden in erster Linie, sondern die Arbeitsgelegenheit. Es entspricht der vergrößerten ökonomischen Einsicht, daß die Landesherren jetzt nicht mehr wie früher jede beliebige Unternehmung für diesen Zweck inszenieren oder subventionieren, sondern nur diejenige, die Aussicht auf ständige Rentabilität hat. Es gibt keine Industriegründung mehr um jeden Preis, wie sie noch die Pforzheimer von 1767 gewesen war, sondern Hilfe nur noch nach sorgfältiger Abwägung der privatwirtschaftlichen Aussichten des Unternehmens. Und diese Hilfe soll den Empfänger möglichst wenig aus dem Kreis seiner Konkurrenten herausheben. Nicht der einzelne Industrielle, sondern die Industrie im ganzen soll gefördert werden. Das ist der ökonomische Sinn der Ablösung des Rechtsinstituts des Privilegium exclusivum durch die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Konzession. Durch sie bewahrt sich der Staat Einfluß; er will Fehlgründungen verhindern, nicht mehr selbst gründen. Das setzt voraus, daß es nun genügend fähige Unternehmer gibt, die das Neue auf eigene Faust wagen. Diese soziale Strukturwandlung tritt zu der politischen hinzu. Die „Erziehung zur Industrie", auf die der auf geklärte Obrigkeitsstaat des 18. Jhs. so große Mühen verwandt hatte, beginnt nun Früchte zu tragen. Die Initiative kann auf den Bürger übergehen, weil er nun reif zur Handlung in eigener Verantwortung ist. Was sich politisch in dem Streben nach und dem Erlassen von Verfassungen mit einem, wenn auch noch so beschränkten Mitbestimmungsrecht des Staatsbürgers ausdrückt, zeigt sich ökonomisch in der Freiheit des Bürgers, auf eigenes Risiko das wirtschaftliche Unternehmen zu wagen. Wer aber ist dieser unternehmende Bürger in Baden im früheren 19. Jh.? Hier müssen wir uns vor vorzeitigen Verallgemeinerungen und Schablonen besonders hüten. Es ist eine sehr verschiedenartige Gesellschaft, die sich da zusammenfindet. Zunächst wirken die älteren Kräfte weiter. Der Fürst, seine Familie und die Standesherren sind noch immer die ersten Unternehmer des Landes. Ihnen folgt eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Adligen — wobei die Frage nach altem Adel oder geadelter Bürgerfamilie hier außer Betracht bleiben soll. Um die Wende vom 18. zum 19. Jh. tritt dieser adelige Unternehmer noch namentlich besonders hervor. In Käfertal bei Mannheim unterhält der vielseitige Freiherr von Villiez, der sich schon in verschiedenen Branchen versucht hat, eine „chemisch-technische Ökonomieanstalt", die 1809 zwischen zwanzig und achtzig Arbeiter beschäftigt und zu den größten Unternehmungen des Landes gehört. In Mannheim selbst hat der Freiherr v. Bilderbeck seine Zigarrenfabrik eröffnet. In Lahr besteht die Tabakmanufaktur des Freiherrn von Lotzbeck mit 70 Arbeitern. Die Fayencefabrik in Rotenfels arbeitet auf Rechnung der Gräfin Hochberg, die sich auch sonst vielfach industriell betätigt. An der Papierfabrik Buhl in Ettlingen ist der Markgraf Louis beteiligt. Markgraf Wilhelm läßt 1839 bis 1843 in der Nähe von Rotenfels nach Steinkohle bohren und ist einer der beiden Unternehmer, die die vom Staat dafür ausgesetzte Prämie für diesen Zeitraum erhalten41. Später treten Standesherren und Adel als Eigenunternehmer mehr und mehr zurück. Die Fürstenbergische Maschinenfabrik in Immendingen wird nach den technischen Direktoren, nicht mehr nach dem fürstlichen Geldgeber genannt. Dafür finden wir diesen, ebenso wie die hohe Beamtenschaft, nun als Aktienbesitzer der ersten Kapitalgesellschaften. Die wichtigste Unternehmerschicht wird nun der im 19. Jh. sogenannte „gehobene Bürgerstand". Von ihm zeichnen sich in Baden deutlich vier Gruppen ab: 1. die einheimischen Kaufleute, 2. die ausländischen, besonders die Schweizer und Elsässer Kaufleute, als Unterabteilung die ausländischen Techniker, 3. das Hofjudentum, 4. die höhere Beamtenschaft. 1. Die einheimischen Kaufleute werden als Unternehmer in Baden oft unterschätzt. Aber sie haben nicht nur einen beträchtlichen Teil der Industrialisierung aus eigener Initiative und eigener Kraft getragen, sondern sie bilden auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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den Kern des politisch fortschrittlich gesinnten Bürgertums. Das beste Zeichen für ihre hohen Qualitäten, ihr Verantwortungsbewußtsein, aber auch ihre soziale Stellung im Lande ist die Tatsache, daß mit wenigen Ausnahmen alle diese frühen Industriellen Badens langjährige Mitglieder des Landtags waren. An erster Stelle ist hier die Familie Buhl zu nennen. Franz Albert Martin Buhl (1751—1815) errichtete die zweite Ettlinger Papiermühle und beteiligte sich auch bei der mechanischen Spinnerei noch aktiv; seine Söhne Franz Anton Christoph (1779—1844) und Florian (1783—1846) betrieben diese Betriebe nicht nur fort, sondern hielten sie stets auf der Höhe des technischen Fortschritts; Franz war seit 1819 mehrmals Mitglied des Landtags, Florian von 1820—23 Oberbürgermeister von Ettlingen. Auch bei der Gründung der Ettlinger Gesellschaft für Spinnerei und Weberei spielten die Gebr. Buhl eine führende Rolle. Der Regierung standen sie vielfach als gewerbliche und kommerzielle Gutachter zur Verfügung. Im Landtag war Franz Buhl wegen seiner finanziellen und kommerziellen Kenntnisse jahrelang Berichterstatter in Budgetsachen. Auch in der geheimen Sitzung vom 28. 9. 1831, in welcher der Landtag über den Anschluß an den bayrisch-württembergischen Zollverein beriet, erstattete er den Kommissionsbericht. Ebenso wirkte er aktiv bei der Gesetzgebung zur Zehntablösung mit. Sein bekannterer Sohn gleichen Namens (1808 bis 1862) folgte ihm als Unternehmer und Abgeordneter zunächst nach, widmete sich später jedoch mehr der allgemeinen deutschen Politik und den Pfälzer Weingütern seiner Familie. Die Söhne Florians betrieben die Ettlinger Unternehmen fort42. Daneben ist an den Freiburger Seidenindustriellen Karl Mez zu erinnern, einen höchst originellen Mann, der seinen politischen Liberalismus mit einer fast schwärmerischen Religiosität verbindet und als Unternehmer kühne Experimente wagt. So gründet er Filialen an entlegenen Orten, um die Arbeit zu den Menschen zu bringen. Anfangs der siebziger Jahre führt er als einer der ersten deutschen Unternehmer in einem Zweigunternehmen das Belegschaftseigentum am Betrieb, also Mitunternehmertum, ein. Aus Freiburg stammte auch Heinrich Kapferer (1781—1856), der 1815 zusammen mit seinem Bruder Franz (1772—1830) in der Probstei Waldkirch eine BaumwolIen-(hand-)weberei einrichtete, Stadtrat in Freiburg, Ehrenbürger von Freiburg und Waidkirch war und 1833 Landtagsmitglied wurde. In Schopfheim wandelt Ernst Fried. Gottschalk zusammen mit seinem Schwager, Carl Wilhelm Grether, einen älteren Drahtzug in eine mechanische Baumwollenspinnerei um. Auch er ist wie sein Vater Johann Friedrich Gottschalk und Grethers Vater, der Lörracher Oberbürgermeister Joh. Fried. Grether, eine Zeitlang Mitglied des Landtags43. Die Lahrer Kaufmannsfamilie Helbing tritt schon in der napoleonischen Zeit bei Manufakturgründungen z. Β. im Kloster Ettenheimmünster hervor. 1834 richtet dann Karl Helbing, auch er von 1841 bis 1847 liberaler Landtagsabgeordneter, in Emmendingen die erste mechanische Hanfspinnerei des Landes ein. Die Pforzheimer Bijouterieindustrie ist im Landtag 1825—28 und wieder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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1835—46 durch Altbürgermeister Wilhelm Lenz, 1831—33 durch Joh. Kienle, 1845—52 durch August Denning und 1857—70 durch Friedr. Wilhelm Lenz vertreten. Denning bemüht sich als Abgeordneter 1848 zusammen mit dem jüngeren Buhl und Mez um die Mechanisierung der Schwarzwälder Uhrenindustrie. Dem Heidelberger Lederfabrikanten, Bürgermeister und Landtagsabgeordneter Wilhelm Speyerer hat erst unlängst Herbert Derwein ein schönes Denkmal gesetzt44. Seine ausgleichende, wortkarge, altväterische Natur kennzeichnet vielleicht am besten das Wesen dieser liberalen Unternehmer und Politiker des Vormärz. Außer ihm, der viermal in die Zweite Kammer gewählt wurde, stellt die Universitätsstadt Heidelberg bis zur 48er Revolution noch zwei Industrielle als Abgeordnete: den Wachsfabrikanten Klingel (1825/28) und den Tabakfabrikanten Landfried (1841/42). Eine ähnliche Rolle wie Speyerer in Heidelberg spielte der Tabakfabrikant Christian Griessbach als Oberbürgermeister in Karlsruhe. 1822/23 gehörte auch er dem Landtag an. Damit ist die Reihe der Industriellen, die zeitweise im Landtag saßen, noch nicht beendet. Die Senioren der badischen Industrie, der Freiherr v. Lotzbeck in Lahr und der Tuchfabrikant Finkenstein in Pforzheim gehörten ihm 1819 bzw. 1825—28 an, der Baumwollfabrikant Franz Cornelius in Bühl 1846/47 bzw. 1861/68, Angehörige der Freiburger Industriellenfamilie Kapferer 1822/ 1823 und wieder 1854/62, der Mannheimer Krappfabrikant Lauer 1831/42, der Glasfabrikant Rinderschwender in Gaggenau 1825, der Bleichereibesitzer Joh. Georg Schanzlin aus Kandern 1851—54, der Papierfabrikant Sonntag in Emmendingen 1831—35, die Baumwoll- und Papierfabrikanten Johann Michael bzw. Berthold Thoma aus Todtnau 1861/62 bzw. 1875/76, der Strohhutfabrikant Paul Tritscheller aus Lenzkirch 1865/70 und 1871/72, der Hammerwerksbesitzer Trötschler aus Tiefenstein 1831/35, der Krappfabrikant Völker aus Lahr 1819/20, 1822/28, 1831/42, der Lederfabrikant Heintze aus Weinheim von der Firma Heintze & Freudenberg 1859/62. Rechnet man auch noch die kaufmännischen Unternehmer unter den Landtagsabgeordneten hinzu, den radikalen Heidelberger Buchhändler Winter, den Mannheimer Friedrich Daniel Bassermann, die konservativen Karlsruher Kaufleute Klose und Goll, die von der Regierung öfters als Gutachter in Industriefragen herangezogen wurden, so kommt man zu der Überzeugung, daß das unternehmende Bürgertum in der badischen Geschichte des frühen 19. Jhs. durchaus eine bedeutende Rolle gespielt hat. Insgesamt zählte der badische Landtag zwischen 1819 und 1869 mindestens 40 selbständige Unternehmer; in den dreißiger und vierziger Jahren jeweils 8—10 gleichzeitig, also etwa ein Siebentel der 63 Abgeordneten der 2. Kammer45. Das mag im Vergleich mit anderen Berufsgruppen unter den Kammermitgliedern, vor allem den Beamten, die mehr als die Hälfte aller Abgeordneten stellten, nicht sehr viel erscheinen; bezieht man diese Zahl jedoch auf die Gesamtzahl der selbständigen badischen Unternehmer, so ist sie außergewöhnlich hoch. Für die Entstehung eines bürgerlichen Selbstbewußtseins so© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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wohl gegenüber Adel und Bürokratie im Lande wie gegenüber den früher entwickelten westlichen und südlichen Nachbarn haben diese Männer eine nicht zu überschätzende Bedeutung gehabt. 2. Wenn sie bisher nicht nach Verdienst gewürdigt worden sind, so mag das — außer an der einseitigen politischen Blickrichtung gerade der badischen Geschichte des Vormärz — auch daran liegen, daß sich ihre Tätigkeit über das gesamte Land verstreute, während im oberbadisch-schweizerischen Grenzgebiet eine Gruppe ausländischer Unternehmer von allem Anfang an ein bedeutendes Übergewicht erlangte. Die meisten gehörten Schweizer, vor allem Basler Bürgerhäusern an, die wie die Merian z. T. schon im 18. Jh. sich in der oberbadischen Eisen- und Textilindustrie betätigt hatten. Zusammen mit dem Haus Koechlin in Mühlhausen sind die Merian beim Aufbau der Kattundruckerei führend vertreten. Auch die Maschinenindustrie verdankt ihnen manches. Aus dem Hause Koechlin stammt neben Peter Koechlin, dem Pionier des Indiennedrucks und der mechanischen Weberei im Wiesental, auch Louis Vetter-Koechlin. Er selbst war Schweizer Bürger und stand als erster Direktor der Ettlinger Spinnerei und Weberei vor. Zusammen mit dem Bankier Louis von Haber ist er zugleich der Organisator einiger der frühesten modernen Interessenverbände in Deutschland geworden. Er gründete und leitete den badischen Industrieverein und den Verein der Baumwollfabrikanten Deutschlands. Beide Vereine traten als „pressure group", wenn man so sagen darf, bei Regierung und Zollverein jahrelang mit Energie und Zähigkeit für Zollerhöhungen ein. Der badische Industrieverein veranstaltete aber auch Industrieausstellungen und begründete ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit — wenn man so will, ein „Klassenbewußtsein" — bei den Industriellen des Landes. Außer diesen beiden großen Unternehmerfamilien seien hier noch an Schweizern, meist Baslern, genannt die Namen Bally (Seidenfabrik in Säckingen seit 1835/36), Sarasin & Häussler (Spinnerei und Weberei in Haagen seit 1835/ 1836), Dietrich von Iselin (Spinnerei und Weberei in Schönau seit 1837), von Christmar und ten Brink (Spinnerei und Weberei Arien seit 1835), Geigy (Spinnerei und Weberei in Steinen seit 1835/36), Gebr. Grossmann (Spinnerei und Weberei in Brombach seit 1837), Markus Böiger (Spinnerei und Weberei in Zell, 1837 konzessioniert, etwas später errichtet). An elsässischen Unternehmern betätigten sich außer den Koechlin vor allem noch die Indiennefabrikanten Dollfuss & Mieg seit 1850 im Großherzogtum. Eine besondere Gruppe bilden die französischen und Schweizer Glaubensflüchtlinge in Konstanz, von denen die Namen Herosé und v. Macaire besonders hervorragen. Selbstverständlich waren in Baden auch englische und französische Techniker am Aufbau der Industrie beteiligt. Die ersten Arbeiter der Pforzheimer Uhrenmanufaktur, die namentlich bekannt sind, waren ausnahmslos Franzosen oder französische Schweizer; der Buchhalter Ador ein Engländer. Er führte als erster die doppelte Buchführung in Süddeutschland ein46. In einzelnen Glas- und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Porzellanfabriken wie bei Lenz in Zell a. Hammersbach waren in den zehner Jahren des 19. Jhs. französische Arbeiter unentbehrlich47. Der Schweizer Düggli, der vor Bodmer 1809 in St. Blasien die Gewehrfabrik begonnen hatte, mußte sie wieder aufgeben, als ihm seine Mutziger Arbeiter arretiert wurden48, Später beteiligten sich die ausländischen Techniker vor allem beim Aufbau der Maschinenindustrie. Sowohl bei Bernoulli & Rowlandson in Immendingen als auch bei Keßler in Karlsruhe waren englische und französische Techniker und Vorarbeiter tätig, wovon Nikolaus Riggenbach in seinen Erinnerungen anschaulich berichtet49. Aber auch die Spinnerei und Weberei in Ettlingen ist im wesentlichen von elsässischen Technikern und Facharbeitern aufgebaut worden, Nachdem eine Kommission der Gründer das Elsaß bereist hatte, um sich über den Stand der dortigen Textilindustrie zu informieren, wurde für die technischen Einrichtungen die Spinnerei und Weberei Hüttenheim im Elsaß als Vorbild gewählt, die seit Jahren einen Reingewinn von mehr als 25 % abwarf. Die Lieferungen der Maschinen übernahm das Haus André Koechlin in Mühlhausen. Aus Mühlhausen kam auch der Betriebsleiter für die Weberei, während der Leiter der Spinnerei aus Münster im Elsaß geholt wurde. Er brachte mehr als hundert Facharbeiter mit50. Auch der bedeutendste der fremden Techniker, Johann Georg Bodmer, brachte sich seine Arbeiter fast alle aus Zürich mit. 1809 kam er, von der Ausschreibung des Klosters St. Blasien für industrielle Zwecke gelockt, ins Land. Neben und nach seiner Tätigkeit als Spinnmaschinen-, Werkzeugmaschinen- und Waffenkonstrukteur widmete er sich der technischen Verbesserung der großherzoglichen Eisenwerke und der Ausrüstung der Mannheimer Münze mit Maschinen. Als Oberverwalter der Hüttenwerke Albbruck und als Kapitän der Artillerie bekleidete er auch Staatsdienerstellungen. 1822 verließ er Baden, um als Konstrukteur in England ganz seinen Erfindungen zu leben51. 3. Seine bedeutsamste Leistung in Baden, die Einrichtung der Spinnerei, Maschinen- und Gewehrfabrik in St. Blasien, hat Bodmer mit der finanziellen Hilfe eines jüdischen Bankiers, David Seligmanns, des späteren Freiherrn von Eichthal, vollbracht. Eichthal gehört zu jener Gruppe jüdischer Hofbankiers, die Teile der badischen Industrie sehr wesentlich angeregt und finanziert hat. Eichthal selbst betrieb außer der Fabrik in St. Blasien in Grötzingen eine Krappund spätere Zuckerfabrik mit wechselndem Erfolg. Sein Vater besaß in Leimen bei Heidelberg schon in den siebziger Jahren des 18. Jhs. eine Tabakmanufaktur. Neben ihm ist vor allem das Karlsruher Bankhaus S. v. Haber als bedeutender Organisator, vor allem der Großindustrie, hervorgetreten. Es gründete den Kinzigtaler und später den Badischen Bergwerksverein, es finanzierte die Ettlinger Spinnerei und Weberei, die Zuckerfabrik Waghäusel und die Maschinenfabrik Keßler in Karlsruhe. Als es Ende 1847 im Anschluß an zwei Konkurse in der Frankfurter Bankwelt seine Schalter schließen mußte, gerieten diese drei bedeutendsten Unternehmungen des Großherzogtums ins Wanken. Außer Haber und Eichthal betätigt sich der Karlsruher Bankier Kusel, teil© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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weise in Verbindung mit Eichthal und dem Frankfurter Bankhaus Philipp Schmidt, industriell. Er war sowohl in St. Blasien wie bei den drei großen Fabriken beteiligt. In Mannheim widmeten sich die Bankiers Hohenemser und Ladenburg neben der Finanzierung von Handel und Spedition auch der beginnenden Industrie52. 4. Neben diesen drei Gruppen der einheimischen und fremden Kaufleute sowie der jüdischen Bankiers sind als vierte Schicht die Beamten in einem beachtenswerten Ausmaß an der Industrialisierung Badens beteiligt. Die Beamten der Hütten- und Salinenverwaltung üben kraft ihrer Stellung teilweise unternehmerische Funktionen aus. Einige von ihnen wie der Geh. Referendar Volz haben sich im Übergang der napoleonischen Zeit große Verdienste um die Erhaltung, Eingliederung und Modernisierung dieser Werke erworben. Auch der schon erwähnte Bodmer hatte zeit- und teilweise die Eigenschaften eines großherzoglichen Beamten. Aufmerksam zu machen ist auch auf den Mechaniker Haberstroh, der hauptamtlich als technischer Referent im Innenministerium angestellt war und als solcher technische Gutachten besonders in Patentfragen abzugeben hatte. Er konnte auf diese Weise neue Erfindungen fördern oder hemmen. Daneben betätigte er sich in Verbindung mit Privatleuten selbst als Konstrukteur und arbeitete z. Β. für Franz Buhl in Ettlingen. An seine Stelle traten als technische Gutachter in den vierziger Jahren mehr und mehr die Lehrer der polytechnischen Schule. Einige von ihnen haben auf die Industrialisierung Badens aktiven Einfluß genommen. Der berühmteste, Franz Redtenbacher, hat z. B. im Auftrage der Regierung 1838 die badische Maschinenindustrie bereist und kritisch begutachtet, um die Frage der zollfreien Einfuhr ausländischer Maschinen zu klären. Seine Patentgutachten der folgenden Jahre gehen oft ins Grundsätzliche. Auch in der Frage der Patentgesetzgebung beriet er die Regierung. Aktiver noch betätigt sich der Bergrat und Chemieprofessor Walchner. Als Geognost bereiste er im Auftrage der Bergund Hüttenverwaltung den Schwarzwald und ließ nach Steinkohlen bohren. Auch dem badischen Bergwerksverein, an dem er finanziell beteiligt war, stand er als Experte zur Verfügung. Er zählt zu den Gründern der Badischen Gesellschaft für Zuckerfabrikation und gehörte die ersten Jahre ihrer Direktion als ständiges geschäftsführendes Mitglied an. Später beteiligt sich vor allem der Chemiker Karl Weltzien beim Aufbau der Mannheim-Ludwigshafener chemischen Industrie. Einer der bedeutendsten Techniker Badens um die Mitte des 19. Jhs. war der Baurat Gerwig, der nicht nur die Schwarzwaldbahn baute, sondern vorher schon als Direktor der staatlichen Uhrmacherschule in Furtwangen (gegr. 1850) bedeutenden Einfluß auf die Modernisierung der Schwarzwälder Uhrmacherei nahm. Der technische Beamte mag in Baden nicht die gleiche Rolle gespielt haben wie in Preußen, besonders im preußischen Bergbau; aber auch hier existiert er und ist aus der Geschichte der frühen Industrialisierung nicht fortzudenken. Was Tullas Rheinkorrektur für die verkehrsmäßige Erschließung Badens und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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damit auch für seine Industrialisierung bedeutete, braucht hier nur erwähnt zu werden. Seine Ingenieurschule bildete den Grundstock zur Polytechnischen Schule und damit zur späteren Technischen Hochschule und ist somit das Anfangsglied einer steten Wechselbeziehung zwischen technischem Beamten, technischem Lehrer und industrieller Praxis. In der Eisenbahnverwaltung fanden die hier ausgebildeten Ingenieure seit den vierziger Jahren ein wichtiges Betätigungsfeld. Da der badische Staat den Eisenbahnbau von vornherein selbst übernahm, setzte er sehr wesentliche Vorbedingungen zur Industrialisierung. Städte wie Weinheim, Heidelberg oder Pforzheim gewannen sehr wesentlich durch ihren frühen Anschluß an das Eisenbahnsystem, während eine der wichtigsten Manufakturstädte, Lahr, beträchtlich verlor, da es nur eine Stichbahn erhielt53. Auch nichttechnische Beamte finden wir bei den großen Industriegründungen der dreißiger Jahre führend beteiligt. Als Kuriosum mag erwähnt werden, daß der im badischen Archivwesen und der Geschichtswissenschaft, auch als Herausgeber der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins wohlbekannte Archivdirektor Mone der erste Präsident der Zuckerfabrik Waghäusel gewesen ist. Als das Staatsministerium 1838 die Beteiligung von Staatsbeamten in der Leitung industrieller Unternehmen von seiner Zustimmung abhängig machte, stellte es sich heraus, daß den leitenden Organen der badischen Gesellschaft für Zuckerfabrikation — der Direktion und dem Ausschuß — nicht weniger als 13 Beamte angehörten. Außer Bergrat Walchner, der ständiges Mitglied der Direktion war, und Archivdirektor Mone, der ihr präsidierte, gehörten zur Direktion noch der Generalstaatskassierer Frulliger, der Major und Flügeladjutant von Krieg, der Ministerialrat Küßwieder und der Oberpostmeister von Kleudgen, während der Amortisationskassendirektor Scholl, der Direktor des landwirtschaftlichen Vereins Freiherr von Ellrichshausen, der Geheime Finanzrat Reinhard, der Ministerialrat Vogelmann, der Polizeidirektor Pivot, der Hauptmann Leiblin und der Kanzleirat Bingner im Ausschuß saßen. Walchner und Mone bezogen als geschäftsführende Mitglieder Direktionsgehälter54. 5. Eine relativ geringe Bedeutung hatten wenigstens während der ersten Phasen der Industrialisierung vor der Jahrhundertmitte die aus dem Handwerk oder ähnlichen Schichten emporkommenden Unternehmer. Teilweise mag der Grund dafür in der noch bestehenden Zunftordnung gesucht werden. Denn während ein Kaufmann ohne weiteres glaubhaft machen konnte, daß er ein industrielles Etablissement zu gründen gedenke, sahen bei jedem Konzessionsgesuch eines Handwerkers Zunftgenossen und Behörden sehr kritisch nach, ob es sich nicht nur um die Umgehung lästiger Zunftvorschriften handele. Auch der Nachweis eines gewissen Vermögens erschwerte kleineren Handwerkern den Anfang. Einige Unternehmen sind so schon im Keim erstickt worden. In mehreren Branchen lassen sich jedoch Ansatzpunkte zu einer Industrialisierung des Handwerksbetriebes feststellen. In Lahr begann Ende des 18. Jhs. der Gerber Wäldin die fabrikmäßige Herstellung von Saffianleder. Noch 1835 hatten seine Söhne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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einen Strauß mit der Rotgerberzunft wegen Benutzung der Lohmühle auszufechten, der von der Zunft mit dem Argument geführt wurde, daß einer der beiden Brüder Wäldin das Zunftrecht der Rotgerber nicht besitze55. Ähnlichen Schwierigkeiten sah sich die Lederfabrik Sammet & Heintze, die Vorläuferin der heutigen Firma Carl Freudenberg, gegenüber, als sie 1828 von dem zunftfreien Mannheim in das zunftgebundene Weinheim übersiedeln wollte. Sammet & Heintze waren allerdings Lederhändler, nicht Handwerker von Beruf56. Gegen Zunftwiderstände mußten sich in den vierziger und fünfziger Jahren auch die ersten Möbelfabrikanten in Karlsruhe und Mannheim durchsetzen. Sie kommen selbst aus dem Schreiner-, Tapezierer- oder Sattlerhandwerk57. In ähnlicher Weise entstehen schon am Ende des 18. Jhs. die Kutschenmanufakturen, die bekanntlich überall in der Zusammenführung bisher selbständiger Handwerker ihren Ursprung haben. Die Papiermühlen, die im Laufe des 19. Jhs. zu Fabriken ausgebaut werden, muß man wohl ähnlich wie die Glashütten als Sonderfall der Industrialisierung betrachten. Hier ist der Übergang zur Fabrik aus dem handwerklichen Betrieb die Norm. Hier liegt der Beginn der Mechanisierung aber schon im 17. Jh., und manche Papiermüller sind schon seitdem über den Lebensbereich eines Handwerkers hinausgewachsen58. In Baden beginnen einzelne Papiermühlenbesitzer wie die Buhl in Ettlingen von vornherein als Unternehmer. In größerer Zahl traten Handwerker in die industrielle Unternehmerschaft auf dem Gebiet des Maschinenbaues ein. Schon der Begründer der badischen Maschinenindustrie, Johann Georg Bodmer, war ja Mechaniker und Sproß eines Zürcher Handwerkergeschlechts gewesen. Auch der eigentliche Begründer der Maschinenfabrik Keßler & Martiensen, Jakob Friedrich Meßmer, war Mechaniker an der Polytechnischen Schule und hatte damit in Karlsruhe eine ähnliche Stelle inne wie sechzig Jahre früher James Watt an der Universität Glasgow59. Er ist übrigens neben Schützenbach der einzige bedeutende badische Techniker der Frühzeit, der das Ausland mit seinem Können befruchtet hat. 1837 ging er zur Maschinenfabrik Graffenstaden bei Straßburg und machte sie als deren Direktor zur bedeutendsten des Elsaß. Hier führte er frühzeitig die planmäßige Lehrlingsausbildung ein. Zu seinen Lehrlingen gehörte u. a. der von Ferdinand Steinbeis mit einem Stipendium nach Graffenstaden entsandte Büchsenmacherlehrling Gottlieb Daimler60. Daß auch die beiden ältesten Mannheimer Maschinenfabriken aus dem Handwerk entstanden, wurde schon erwähnt. In den fünfziger Jahren gesellten sich nun die Mechaniker Haid, Neu, Sebold und Junker zu den handwerklichen Industriegründern, letzterer sich mit dem Karlsruher Kaufmann August Ruh verbindend. Daß Handwerker sich genossenschaftlich zusammenschlossen, um eine Fabrik zu gründen, kommt in Baden vor 1850 nur selten vor. 1837 vereinen sich zehn Schönauer Tuchmacher, um eine Tuchmaschine aufzustellen. Die Fabrik kommt auch zustande und firmiert Black & Consorten. 1879 besteht sie noch61. Bei den Glashütten gesellten sich zu den älteren Genossenschaften Herzogweiler und Bubenbach 1800 die Genossenschaften Äule (Gemeinde Schluchsee) und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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1827 Nordrach, wo eine in der napoleonischen Zeit eingegangene ältere Glashütte wieder belebt wird62. 1869 bestehen alle vier noch; die kleinste zählt 26, die größte 52 Genossen bzw. Arbeiter63. 6. Bei der Betrachtung der personellen Kräfte, die für die Industrialisierung des Landes tätig waren, wäre noch die Rolle zu erwähnen, die Wirtschaftspolitiker wie K. F. Nebenius und Karl Mathy gespielt haben. Der Anschluß an den Zollverein (Nebenius) bzw. die Schaffung eines modernen Kreditapparates (Mathy) sind wesentliche Voraussetzungen der Wirtschafts- und Sozialverfassung für die Industrialisierung. Das Gewerbesteuergesetz von 1815 und die Gewerbeordnung von 1862 müssen in ihrer Bedeutung dabei ebenso gewürdigt werden, wie die tägliche Arbeit der Finanzbehörden bei der Förderung der Industrie durch Zoll- und Steuernachlässe. Hier sollen jedoch nicht diese staatlichen Voraussetzungen für den Ansatz der Industrialisierung weiter verfolgt werden64, sondern vielmehr zwei andere Probleme, das der technischen Neuerung (Innovation) und das der Kapitalakkumulation. 1. Daß Baden in diesen ersten Stadien der Industrialisierung technisch ein ausgesprochen nehmendes, kaum gebendes Land war, zeigt sich besonders im Patentwesen65. Epochemachende Patente sind in dieser Zeit weder von Baden ausgegangen noch in Baden genommen worden. Das lag zum Teil allerdings daran, daß die Patentgesetzgebung hier wie in Deutschland ganz allgemein noch kaum entwickelt war. Ein Patent in Baden zu nehmen, nützte einem Erfinder wenig, da der Schutz, den er dadurch genoß, gering war. So hat Bodmer in seiner badischen Zeit seine Patente vor allem in Frankreich gesucht. In Baden begnügte er sich mit einem allgemeinen Privileg im Zusammenhang mit seiner Fabrikgründung. Wirtschaftlich wichtig sind vor allem seine Verbesserungen an Spinnmaschinen geworden. Sie fanden in St. Blasien und bei der von ihm eingerichteten Spinnerei Buhls Anwendung. Seine ingeniösen Werkzeugmaschinen blieben auf seine St. Blasischen Anstalten beschränkt. Seine Hinterladerkanone hat er am Schluchsee wohl erprobt, für die badische Artillerie aber nicht gebaut. Stärker im industriellen Bereich hat sich eine andere Erfindung ausgewirkt, die in Baden gemacht wurde: das neue Verfahren der Rübenzuckerproduktion durch vorherige Trocknung der Rüben, das der Freiburger Techniker Sebastian Schützenbach 1835 zum Patent anmeldete. Auf ihm beruht die Zuckerfabrikation in Waghäusel. Es ist einige Jahrzehnte mit Erfolg angewandt worden. Mehr auf ihre eigenen Betriebe beschränkt blieben wohl die verschiedenen Erfindungen badischer Buch- und Steindrucker. Immerhin zeigen sie, daß Talente vorhanden waren. Technische Ideen, die industriell nicht oder noch nicht verwertbar waren, gab es natürlich auch hier öfters. Das bekannteste Beispiel ist das Zweirad des badischen Forstmeisters Freiherr von Drais. Im Unterschied zu diesen tüftelnden Einzelgängern kommen seit den 30er Jahren auch Vorschläge aus der Praxis und für die Praxis des industriellen Betriebs, so vor allem Verbesserungen an Maschinen und Verfahren der Textilindustrie. In den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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50er Jahren sind hier besonders die chemischen Patente von Dr. Carl Clemm vom Verein chemischer Fabriken in Mannheim zu nennen. Die erwähnten Maschinenbauer begannen ihre Fabriken fast alle auf Grund eigener Erfindungen; so besonders Sebold, dem mehrere neue Maschinenkonstruktionen für die Zündholzherstellung gelungen waren. Sehr wesentliche Erfindungen wurden aber aus dem Ausland eingeführt, so der Rouleaux-Druck und seine verschiedenen Verbesserungen aus dem Elsaß oder die Langsiebmaschine aus England oder der Mayersche Expansionsschieber für Lokomotiven, der eine Kohlenersparnis von 30—40 % gewährte, aus Straßburg. Doch gehören die Lokomotivkonstruktionen der Keßlerschen Fabrik schon in den vierziger Jahren nicht nur zu den frühesten, sondern auch zu den besten in Deutschland. Bedeutende Wettkämpfe der Bahnverwaltungen sind von den Keßlerschen Lokomotiven gewonnen worden. Baden war so zwar keine Region technischer Innovation im eigentlichen Sinne, aber doch auch kein technisches Niemandsland. Nachdem die Anfänge der industriellen Technik vom Ausland übernommen waren, schaltete sich die badische Industrie und Technik erst langsam, seit den sechziger Jahren jedoch mit sehr bedeutenden Erfindungen in den Prozeß des technischen Fortschritts ein. Die Erfindung des Automobils in Mannheim wurde dann in den achtziger Jahren zum sichtbarsten Zeichen, daß Baden zu den technisch entwickelten Ländern aufgerückt war. 2. Die Kapitalakkumulation so genau zu verfolgen, wie das der Nationalökonom möchte, ist leider nur selten möglich. Es gibt keine finanziellen Patentämter, in denen die Ansammlung industriell verwertbaren Kapitals von Amts wegen registriert würde, und die Beteiligten selbst halten mit ihren Äußerungen sehr zurück. Bezeichnend dafür sind einige Stellungnahmen badischer Industrieller bei der ersten statistischen Erhebung der Gewerbe im Großherzogtum 1809. Keinem „aus der fabrizierenden und handelnden Klasse" könne es gleichgültig sein, ob der Umfang „und das periodische Steigen und Sinken seines Gewerbes" laut werde und er damit „den Nebenbuhlern" Gelegenheit „zu mancherlei schädlichen Maßregeln" gebe, heißt es da66. Einzelne Industrielle wie der Krappfabrikant Seligmann oder der Knopffabrikant Gehres in Grötzingen weigerten sich rundweg, die Tabellen auszufüllen. Die Gebr. Lotzbeck trafen die allgemeine Ansicht wohl am besten, wenn sie ihrem Bezirksamt schrieben, daß diese Tabellen, die Angaben über Herkunft der Rohstoffe und Höhe des Umsatzes verlangten, „gegen allen Plan und Begriff von jeder Fabrik und die damit verbundene Industrie" laufen67. Der Freiherr von Eichthal wich bei den Besuchen, die Ministerialkommissionen seiner Fabrik von Zeit zu Zeit abstatteten, den Fragen nach dem finanziellen Status jedesmal aus, während er über technische, betriebsorganisatorische und Arbeiterfragen bereitwillig Auskunft gab. Erst aus seinen Konkursakten erfahren wir, daß er 1840 ein Darlehen in Höhe von 600 000 Gulden bei einem Frankfurter Handelshaus aufgenommen hatte und in diesem Jahr der Wert seines St. Blasischen Vermögens auf 1,5 Mill. Gulden geschätzt worden war, von denen je die Hälfte auf Liegenschaften und Fabrikeinrichtungen fiel68. Woher er die Mittel zu diesem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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großartigen Aufbau hatte, kann bisher nur geschlossen werden. Aus seinen frühindustriellen Unternehmungen konnten sie nicht stammen, denn sie hatten alle nur zweifelhaften Erfolg. Viel eher läßt sich vermuten, daß sie aus seiner Tätigkeit als Hofbankier, Kriegskommissar und Großherzoglicher Salzadmoniteur, überhaupt aus Tätigkeit in Handel, Kommission und Bankgeschäft herrührten. Ein anderer jüdischer Anreger der badischen Industrie und der Bautätigkeit in der Landeshauptstadt, Elkan Reutlinger, hatte sein beträchtliches Vermögen jedenfalls in wenigen Jahren als Kriegskommissär gewonnen. Das des finanzkräftigsten Karlsruher Unternehmers und höchsten Gewerbesteuerzahlers des Landes, S. v. Haber, stammte aus seiner Tätigkeit als Hofbankier. Eine genaue Untersuchung dieser pfälzisch-badischen Hofbankiers und jüdischen Geschäftsleute in den Residenzen steht noch aus69. Der Handel dürfte auch die wesentlichste Kapitalquelle der meisten der nichtjüdischen badischen, Schweizer und elsässischen Unternehmer gewesen sein, die die Industrie in Baden in der ersten Hälfte des 19. Jhs. aufbauten. Soweit es sich dabei nur um Filialen ausländischer Fabriken handelte, kommt der industriellen Tätigkeit im Ursprungsland natürlich Bedeutung zu. Dann kann man freilich bei den Neugründungen in Baden kaum mehr von primärer Akkumulation sprechen. Bei der ersten Fabrikgründung in ihren Heimatländern nahmen diese Unternehmer das Kapital zumeist aus Seiden- oder Baumwollhandel, der sich im 18. Jh. zunächst einen Verlag, im 19. Jh. dann Fabrikationsstätten angegliedert hatte. Hier entspricht die Entwicklung am Oberrhein durchaus der am Niederrhein70. Wie sehr Handel und Bankgeschäft in den zwanziger Jahren finanziell noch gegenüber der Industrie dominieren, zeigen einige Zusammenstellungen über die Höhe des Betriebskapitals der wichtigsten Gewerbesteuerzahler des Landes71. Als Betriebskapital ist dabei nach dem Gewerbesteuergesetz von 1815 die in Selbsteinschätzung ermittelte, von Bürgerkommissionen überprüfte Summe aus dem Wert der Gewerbsberechtigung, des Anlagekapitals und der Vorräte verstanden. Es sind also nur die technischen, die sichtbaren, nicht die kommerziellen, unsichtbaren Vermögenswerte eingeschlossen, die im Handels- und Bankgeschäft ja die wichtigsten Posten ausmachen72. Eine entwickelte Industrie müßte also schon wegen ihres bedeutend höheren Anlagekapitals stets an der Spitze marschieren. In Baden aber werden die Tabellen in den großen Städten noch durchweg von Bankiers und Kaufleuten angeführt, 1826 in Karlsruhe von S. v. Haber mit 60 000 fl., in Mannheim von dem Bankhaus Reinhard mit 30 000 fl., in Heidelberg von der Buchhandlung Gebr. Zimmermann mit 40 000 fl., in Pforzheim von der holländischen Handelskompagnie mit 50 000 fl. Einzelne Fabrikanten folgen an einem vorderen Platz, wenn sie gleichzeitig den Handel betreiben wie der Tabakfabrikant Griesbach in Karlsruhe oder der Spiegelfabrikant Schmucken in Mannheim mit je 25 000 fl. Das Gros auch der größeren Fabrikanten rangiert aber erst nach den vermögendsten Tuch-, Holz- oder Tabakhändlern. So steht in Karlsruhe der Bijouteriefabrikant Öhlenheinz an 7., der Kutschenfabrikant Reiß an 8. Stelle; in Mannheim der 25 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Tabakfabrikant Thorbecke an 7., der Krappfabrikant Völker an 12. Stelle, in Pforzheim der Tuchfabrikant Finkenstein an 4., die größten Bijouteriers an 5. bis 10. Stelle. In Heidelberg folgen auf die Buchhandlung Zimmermann der Wachsfabrikant Klingel mit 20 000 fl., die Tabakhandlung Hirschhorn & Traumann mit 16 500 fl., die Buchhandlung Bassermann und der Tabakfabrikant und Großhändler Landfried mit je 13 500 fl., der Spezereihändler Guttenberger und der Krappfabrikant Fries mit je 10 500 fl. Eine wichtige Sondergruppe dieser Kapitalansammlung aus dem Handel bilden in Baden Holzhandel und Holzflößerei. Aus ihnen stammt z. B. das Kapital der Industriellenfamilien Benckiser in Pforzheim und Lidell in Karlsruhe. Ihm dürften aber auch industrielle Gründungen wie die Rinderschwender Glashütte in Gaggenau zuzurechnen sein, denn Rinderschwender war einer der größten Teilhaber der Gaggenauer Flößereigenossenschaft. Neben dieser Kapitalansammlung in Handel-, Kommission-, Spedition- und Banktätigkeit liegt die zweite Hauptquelle der Kapitalsammlung in dem, was man schlagwortartig oft als „feudalen Reichtum" bezeichnet, im wesentlichen also aus Einnahmen, die ihren Ursprung in der älteren Herrschafts- und Sozialordnung haben. Damit sind zunächst die Vermögen gemeint, über die der Großherzog und seine Familie verfügen, gleichgültig, ob sie aus seiner Eigenschaft als Landes-, Gerichts- oder Grundherr herrühren, dann ähnliche Vermögen bei den Standes- und Grundherren, drittens solche Grundrenten, die auch von Bürgerlichen bezogen werden konnten. Hier spielen in Baden besonders die Beziehungen des Fürstenhauses zum Zaren eine Rolle. Badische Adelige und Kaufleute betätigten sich in Rußland, kauften sich dort an und bezogen zum Teil beträchtliche Renten, entweder für geleistete Dienste oder aus Grundbesitz, den sie in Rußland erworben hatten. Einer der bekanntesten dieser russischen Rentiers ist der Kaufmann Karl Weltzien, der 1823 aus Petersburg nach Karlsruhe kam und seine großen Einkünfte zum Teil industriell verwertete. Auch hierüber stehen genauere Untersuchungen noch aus73. Schließlich gehören hierher die Vermögen, welche die hohe Beamtenschaft im badischen (z. T. auch ausländischen) Dienste ansammelte. Daß sie bei der Erstfinanzierung der großen Aktiengesellschaften eine Rolle spielte, ging schon aus dem Verzeichnis der Direktions- und Ausschußposten der badischen Gesellschaft für Zuckerfabrikation hervor. Genaueres erfahren wir aus dem Verzeichnis der ersten Aktionäre der Spinnerei & Weberei Ettlingen74. Die zunächst ausgegebenen Aktien im Werte von 1,2 Mill. Gulden wurden von 181 Aktionären gezeichnet. Davon tragen 74 adelige, 107 bürgerliche Namen. Aber nur der geringere Teil der Bürgerlichen kam aus der Wirtschaft; ganze 22 Aktionäre oder 12 % waren Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker. Ihnen, den 6 freiberuflich Tätigen (Ärzten, Rechtsanwälten) und 2 Angestellten standen 79 bürgerliche Beamte und Offiziere gegenüber. Selbst wenn man alle, bei denen Berufsangaben fehlen, noch zur Gruppe der wirtschaftenden Bürger zählt, erreicht ihr Anteil kaum 30 %. Allein 12 Aktionäre kamen aus dem Hause des regierenden Fürsten oder den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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standesherrlichen Familien, 7 waren Minister und Gesandte, 22 Ministerialbeamte, 21 höhere Beamte wie Kirchenräte, Pfarrer, Professoren, Rechnungsräte, 11 mittlere und untere Beamte wie Förster, Sekretäre und Registratoren, 26 Offiziere, davon 2 Generale. Die Zahl der adeligen Ehefrauen betrug 12, die der meist ebenfalls adeligen Witwen 14. Dieses Bild entspricht zwar nicht dem wirtschaftlichen Gewicht, denn die Höhe der Anteile ist nicht bekannt — sicher besaßen die Initiatoren Buhl, v. Haber, Vetter-Koechlin etc. die Mehrheit — aber man sieht daraus, daß die Gründung der beiden großen Aktiengesellschaften im Karlsruher Raum 1836 nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis gewesen sein muß. Daher nahmen auch so viele Beamte ganz selbstverständlich Posten in der Verwaltung dieser Unternehmen an. Es ist jedoch bezeichnend für die Eigendynamik, die sowohl der Staatsapparat wie die Unternehmer entwickelten, daß sie sehr bald in scharfen Gegensatz zur Finanzverwaltung gerieten. Nur wenige Jahre vergingen, bis der Finanzminister auf eine Eingabe der Zuckerfabrik Waghäusel die Randbemerkung schrieb, sie sei „ebenso unbescheiden als unbegründet" und müsse daher „natürlich" unberücksichtigt bleiben75. Sehr anders setzte sich die Eigentümerschaft der Maschinenfabrik Keßler zusammen, nachdem Keßler sie infolge der Krise von 1847/48 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt hatte. Wir lernen die Namen der Aktionäre aus dem Liquidationsprotokoll vom 30. 10. 1851 kennen76. Das Aktionärsverzeichnis enthält 73 Namen aus Westdeutschland und Frankreich. Die wichtigsten waren die Eigentümer der Gutehoffnungshütte: Jakobi, Haniel & Huyssen sowie Franz Haniel in Ruhrort hielten je 24 Stimmen a 2500 fl., also 60 000 fl. Vermutlich sind sie als Gläubiger der Maschinenfabrik in der Krise Aktienbesitzer geworden. Das gleiche ist anzunehmen von mehreren anderen rheinischen und saarländischen Großaktionären, der Firma F. Michels & Co. in Eschweilerau mit 60 000 fl., Napoleon Schleicher in Stollberg mit 10 000 fl. etc. Umgekehrt dürften Aktienbesitzer wie der Heilbronner Papierfabrikant Schäuffelen Kunden Keßlers gewesen sein. Auch die Bankwelt ist reichlich vertreten. Außer dem Bankhaus Schätzler in Ausgburg, das auch in St. Blasien Interessen hatte, finden sich Karlsruher, Mannheimer, Frankfurter und Kölner Bankiers wie Salomon Oppenheimer & Co., Löw Homburger, Gebr. Bethmann, Seligmann Ladenburg, Rothschild & Söhne. Von den badischen Industriellen seien Louis Merian in Höllstein und Louis Görger in Gaggenau genannt. Mit 13 Stimmen ist die großherzogliche Hüttenverwaltung in Albbruck, mit einer die großherzogliche Amortisationskasse vertreten. Bei der Gründung der Maschinenbaugeseilschaft Karlsruhe, die aus dieser Liquidation hervorging, erwarb nun von den ausgegebenen 900 Aktien à 500 fl. die badische Regierung 100 und war damit der größte Aktionär. Eine Kölner Gruppe (die Gebr. von Rath, Salomon Oppenheimer, Gustav Mevissen und Franz Haniel in Ruhrort, die je 75 Aktien, insgesamt also ein Drittel der Aktien erwarben), hatte nämlich zur Bedingung für ihre Beteiligung gemacht, daß sich der badische Staat selbst wesentlich und auf geraume Zeit in dem Unter25*

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nehmen engagiere. Die Gebr. Rothschild übernahmen 46, die Gebr. Bethmann 24, Lorenz Schätzler 20 Aktien. Außer dem vorhin schon erwähnten Kreis westdeutscher und französischer Kaufleute und Fabrikanten tauchen nun zwei Beamte auf, die im Namen der Regierung die Umgründung vorgenommen hatten, der Ministerialrat Prestinari mit 10 Aktien und der Legationsrat Gustav Kühlental mit 4 Aktien; außerdem der Konsistorialrat Dr. Schwelem aus Speyer und der Archivar Karl Rau. Ein besonders hoher Anteil von Witwen und Ehefrauen, wie er in Ettlingen bestand, ist bei der Maschinenfabrik nicht festzustellen. Wenn wir hier als Aktionäre der großen badischen Aktiengesellschaften einmal die westdeutsch-französische Finanz- und Industriellenwelt, zum anderen den Adel und die höhere Beamtenschaft kennengelernt haben, so dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß diese Gesellschaften ja nur einen Teil der badischen Industrie ausmachten. Sie beschäftigten Ende der vierziger Jahre erst etwa 15 % der Industriearbeiter Badens. Im Grunde nehmen sie eine Sonderstellung im Lande ein. Das manchmal gehörte Urteil, die badische Industrialisierung unterscheide sich von der württembergischen auch durch ein Dominieren der Großindustrie, ist in dieser Zuspitzung falsch. Gewiß besitzen die drei großen Fabriken ein besonderes Gewicht. Bestimmend war und blieb aber auch für Baden weiterhin der aus einem Einzelhandelsunternehmen erwachsene kleinere und mittlere Betrieb. Und dieser wurde gewöhnlich von einem kleinen Kreis verwandter oder eng bekannter Kaufleute finanziert. Ein anschauliches Beispiel dafür gibt die frühe Geschichte der Firma Freudenberg in Weinheim77. Als der Zusammenbruch einer Mannheimer Bank Ende 1847 auch die kleine Lederhandlung Sammet & Heintze mit ins Unglück zog, an der der junge Carl Freudenberg mit seinen Ersparnissen und einer Einlage seiner Frau beteiligt war, taten sich die Verwandten aller drei Familien zusammen, um die Gläubiger zu befriedigen und die Grundlagen zu einem neuen Geschäft zu legen. Sammet beschränkte sich auf seinen Lederhandel in Mannheim. Sein Neffe Carl Freudenberg und Heinrich Heintze betrieben unter neuer Firma die 1828 von Sammet & Heintze angekaufte Gerberei in Weinheim. Als Wormser und Mainzer Lacklederfabrikanten bald darauf den jungen Unternehmern das Angebot machten, sie in der Lacklederproduktion einzuführen, und ein schönes Geschäft, vor allem mit England winkte, entschloß sich Freudenbergs Schwiegervater, ein pfälzischer Einzelhändler, sich mit seinem Kapital dabei zu engagieren. Über die genaue Höhe dieser Beträge erfahren wir zwar nichts; gleichgültig aber, ob es sich dabei um 10 000 oder um 50 000 Gulden gehandelt haben mag: das Beispiel zeigt, auf welchem Wege die Fabrikgründung und ihre Finanzierung geschah und bis heute in Tausenden von Fällen immer wieder geschieht. Nicht anders war es 15 Jahre später, als der junge Kaufmann Heinrich Lanz in der Firma seines Vaters mit seinen eigenen Ersparnissen und der Mitgift seiner Frau in Höhe von 10 000 Gulden mit dem Bau von landwirtschaftlichen Maschinen begann78; nicht anders in den Anfängen von Josef Vögele, dem in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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jungen Jahren die Ehefrau statt des Gesellen beim Schmieden zuschlug, ehe sie soweit waren, daß ihnen die Verwaltung der badischen Eisenbahnen das Hartgeld mit Schubkarren ins Haus schickte und Frau Vögele die Rollen abzählte, bis sie ihre 15 000 Gulden zusammen hatte79. Beide Möglichkeiten des Ansatzes, der große, grundsätzliche, aus einem bewußten Gründungsakt weitschauender, kenntnisreicher und kapitalkräftiger Männer herrührende und der kleine, fast zufällige, mit dem irgendein unbekannter Kaufmann oder Handwerker eine Chance ergreift, stehen am Anfang der Industrialisierung. Der erste mag als weithin sichtbares, markantes Ereignis augenfälliger sein; der zweite in seiner hundert- oder tausendfachen Wiederholung aber ist der wichtigere. Er erst ermöglicht den materiellen Fortschritt eines Volkes auf breiter Basis und garantiert, daß trotz Fehlschlägen und nicht entwickelter Keime schließlich doch allerorten die Früchte dieser Mühen reifen. Wenn wir eine Lehre aus der Industrialisierung Europas für die heute der industriellen Entwicklung harrenden Völker anderer Weltteile ziehen wollen, so sollte es vor allem die sein, daß alle Planung und Gründung nichts nutzt, wenn nicht in der Bevölkerung gleichzeitig der „Geist der Industrie" gepflanzt wird, den die Englandreisenden des frühen 19. Jhs. im Mutterland der Industrie so bewunderten. Nur dann ist eine Industrialisierung unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft möglich. Wer die Industrialisierung Europas im 19. Jh. verfolgt, sollte daher auch nicht vergessen, daß ihr fast ein Jahrhundert der „Erziehung zur Industrie" durch die aufgeklärten Landesfürsten und freien Bürgervereinigungen vorangegangen war. Versuchen wir nun noch, die Ergebnisse der Industrialisierung Badens in den ersten sechs Jahrzehnten zwischen 1809 und 1869 in Zahlen zusammenzufassen, so zeigt sich, daß Baden während dieser ganzen Zeit sich im ersten Stadium der Industrialisierung befand, das durch den Ansatz und das Wachstum der Konsumgüterindustrien gekennzeichnet ist. Die beiden repräsentativen Industriegruppen, Textil- und Nahrungs- und Genußmittel, lösen sich dabei gegenseitig ab. Zu Beginn herrscht die Nahrungs- und Genußmittelindustrie vor, dann wächst zunächst die Textilindustrie Oberbadens. 1849 besitzt sie nicht nur ein relatives Übergewicht über die anderen Konsumgüterindustrien, sondern ein absolutes im ganzen Industriesystem. Mehr als die Hälfte aller Arbeiter sind in ihr beschäftigt. Danach beginnt die Nahrungs- und Genußmittelindustrie vor allem durch die Ausdehnung der Tabakfabrikation erneut stärker zu wachsen. Berücksichtigt man nur die Betriebe mit mehr als 20 Arbeitern — wie das die badischen Fabrikstatistiken zwischen 1861 und dem 2. Weltkrieg tun — so ergibt sich, daß die badische Fabrikindustrie, gemessen an der Betriebszahl von 1809 bis 1869 auf reichlich das Zehnfache, gemessen an der Arbeiterzahl auf rund das Siebzehnfache gewachsen ist. 1809 gab es 41 Betriebe mit 1963 Arbeitern in dieser Größenklasse; 1869 dagegen 408 Betriebe mit 36 090 Arbeitern. Die durchschnittliche Betriebsgröße für die Fabriken mit mehr als 20 Arbeitern stieg von 48 auf 88. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Teilt man die sechs Jahrzehnte in drei gleichlange Perioden von je zwanzig Jahren, so zeigt sich deutlich, daß der prozentual stärkste Zuwachs nach dem Beitritt Badens zum Zollverein liegt: von 1809 bis 1829 erhöhte sich die Fabrikarbeiterschaft um 40—45 %, von 1829 bis 1849 um mehr als 300 %, von 1849 bis 1869 um knapp 200 %. Setzt man den Stand von 1925 — der letzten Zählung, die nur die Betriebe über 20 Arbeiter berücksichtigt80 — mit 100, so besaß Baden 1809 1,7% der Betriebe und 0,8 % der Arbeiter, 1829 2,4 % und 1,1 %, 1849 5,6 % und 5 % und 1869 16,9 und 14,4%. Das deutet schon darauf hin, daß in der Zeit bis 1925 noch einmal ein gewaltiges Wachstum stattgefunden haben muß. Wir finden es vor allem in den Jahren zwischen 1882 und 1899, also in den Jahren der „Großen Depression". Während sich von 1869 bis 1882 die Zahl der Betriebe knapp verdoppelte, die Arbeiterzahl um etwa 80 % vermehrte, wuchs die Betriebszahl zwischen 1882 und 1899 absolut fast um 1000 von 769 auf 1724, prozentual um 124%, die Arbeiterzahl absolut um 85 000 von 60 210 auf 145 777, prozentual um 142 %. Zwischen 1899 und 1912 beträgt dann das Wachstum der Betriebe nur noch 472 oder 2 7 % , der Arbeiter 68 342 oder 47 % und zwischen 1912 und 1925 sogar nur noch 212 bzw. 9,7 % bzw. 37 011 bzw. 17,3%. Der Anteil der einzelnen Industriezweige verschiebt sich dabei zwar im einzelnen, zeigt im ganzen jedoch eine bemerkenswerte Konstanz. Die einmal in Baden heimisch gewordenen Industrien behaupten sich zäh. Vor allem die für Baden charakteristischen Tabak- und Bijouteriewarenindustrien machen — bis zu den technisch bedingten Umstellungen nach dem zweiten Weltkrieg in der Tabakindustrie — das Wachstum der Gesamtindustrie nicht nur mit, sondern führen es zeitweise an. Die klassischen Partner als „vorherrschende Industrien", (W. G. Hoffmann), die Textil- und die Metallindustrie, erringen dank der Stärke dieser traditionsreichen Sonderindustrien diesen Rang in Baden nie mit der Eindeutigkeit, die sich bei der Betrachtung größerer Wirtschaftsräume, etwa Gesamtdeutschlands, ergibt. Gliedert man die beiden großen Industriegruppen der Konsumgüter- und der Investitionsgüterindustrien auf in Industriezweige, so zeigt sich neben dem ständigen Kampf um die Vorherrschaft zwischen Textilien und Nahrungs- und Genußmitteln bis zum Ende des 19. Jhs. der hohe Anteil der Gold- und Silberwaren, aber auch der Papier- und Holzindustrie. 1829 liegen, gemessen an der Arbeiterzahl, Textil- und Nahrungs- und Genußmittel Kopf an Kopf, dicht gefolgt von Bijouterie und Eisenhütten. Diese vier Industriezweige vereinen auf sich fast 70 % aller Industriearbeiter. 1849 hat die Textilindustrie einen großen Vorsprung; 1869 haben die Nahrungs- und Genußmittel schon wieder aufgeholt; 1882 übertreffen sie die Textilindustrie weit. Allein die Tabakindustrie zählt nun mit 30 464 Arbeitern mehr Beschäftigte als die gesamte Textilindustrie. 1925 liegen Textil- und Tabakindustrie Kopf an Kopf. Die Nahrungs- und Genußmittelindustrien zusammen besitzen einen leichten Vorsprung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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vor den vereinigten Textil- und Bekleidungsindustrien. Freilich haben sie die erste Stelle nun an die Metallindustrie abgetreten. Zieht man diese Linie bis zur Gegenwart durch, so tritt die Vorherrschaft der für eine ausgebaute Industriewirtschaft typischen Investitionsgüterindustrien, besonders des Maschinen- und Fahrzeugbaues und der Elektrotechnik noch deutlicher hervor. Vergleiche der absoluten Zahlen sind nur schwer möglich, weil die Statistik nun alle Betriebe mit mehr als 10 Arbeitern, statt wie früher mit mehr als 20 Arbeitern erfaßt. Die Prozentzahlen geben jedoch ein eindrucksvolles Bild der Verschiebung81. 1958 stand auf dem Gebiet des ehemaligen Landes Baden bei einer Gesamtarbeiterzahl von mehr als 400 000 der Maschinenbau mit 50 000 Arbeitern oder 12 % an der Spitze, gefolgt von der Elektrotechnik mit knapp 12 %. Die Nahrungs- und Genußmittel nahmen mit 40 000 Arbeitern (davon 20 800 in der Tabakverarbeitung) rund 10 % ein, die Textilindustrie mit 38 000 Arbeitern reichlich 9 % . Vor der Schmuckwarenindustrie mit ihren 12 000 Arbeitern rangierten noch der Fahrzeugbau und die Chemie mit je 17 000 Arbeitern. Die Investitionsgüterindustrien insgesamt haben nun der Konsumgüterindustrie den Rang abgelaufen. Betrachtet man diese Zahlen, so wollen einem die Anfänge um die Wende vom 18. zum 19. Jh. unscheinbar und bedeutungslos vorkommen. Doch haben sie den Grund zu dem industriellen Wachstum gelegt, von dem auf dem badischen Raum, der 1809 erst 900 000 Menschen zählte, sich heute mehr als 3 Millionen ernähren können.

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H a n d w e r k u n d Industrie im Markgräflerland Wer heute das Markgräflerland im äußersten Südwesten der Bundesrepublik durchstreift, findet einen Landstrich vor, der bei Bewahrung mannigfacher ländlicher Reize und noch immer ohne ein großes städtisches Zentrum sich, zumindest im Süden, stark durchindustrialisiert darstellt. Im Landkreis Lörrach, der sich größtenteils aus ehemals Markgräfler Gebiet zusammensetzt, sind im Herbst 1963 mehr als die Hälfte (54 %) aller Beschäftigten in Industrie und Handwerk tätig gewesen und haben fast zwei Drittel (62 %) der gesamtwirtschaftlichen Leistung des Kreises erstellt. Nur 5 % des Inlandsproduktes kam noch von der Land- und Forstwirtschaft, in der allerdings noch 14,5 % aller Beschäftigten tätig sind. Nicht so auffällig ist der Industrialisierungsgrad und die Gewerbedichte im Landkreis Müllheim, in dem ebenfalls Teile des Markgräflerlandes aufgegangen sind. Hier beträgt der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung noch reichlich ein Viertel (28 %) und ihr Anteil an der Werterstellung 17,4 %, wobei der Weinbau eine wichtige Rolle spielt; nur 35,7 % der Erwerbstätigen arbeiten in Industrie und Handel und erstellen dabei knapp 42 % des Inlandsproduktes des Kreisgebiets. Hier spielen infolge des Fremdenverkehrs die Dienstleistungen eine auffallende Rolle. Immerhin, selbst in einem heute als „unterentwickelt" geltenden Kreis wie diesem, dessen Industrieproduktion um 15 % unter dem Durchschnitt des Landes Baden-Württemberg liegt, sind die Charakterzüge einer Agrarlandschaft, die das Markgräflerland über Jahrhunderte so auffallend trug, stark zurückgedrängt1. Dieses Bild einer gewerbereichen Landschaft, in der viele Hände in der Weiterverarbeitung beschäftigt sind, ist historisch jedoch recht jung. Die Industrie setzt erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit einzelnen Betrieben ein und wächst nach dem Anschluß des Großherzogtums Baden an den Zollverein im Jahre 1836 in die Breite. In dem Zeitraum, von dem wir hier zu handeln haben — der Zeit vom späten Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts—, können wir nur die Anfange dieser Entwicklung verfolgen. Im Spätmittelalter, einer Blütezeit des Städtewesens gerade in Oberdeutschland, besaß das Markgräflerland, d. h. die Herrschaften Rötteln, Sausenberg und Badenweiler, ebenso wie die Markgrafschaft Hochberg, noch keine urbanen Züge. „Bis auf Markgraf Christoph (1475—1527) war das städtische Leben in der Markgrafschaft sehr schwach entwickelt gewesen", urteilte Eberhard Gothein im Jahre 1910. „In den oberländischen Besitzungen blieb dies auch weiterhin so. Emmendingen in der Markgrafschaft Hochberg, Schopfheim, Sulzburg und Rötteln hatten nur den Namen von Städten, selbst als Marktflecken blieben sie bedeutungslos."2 Noch im 18. Jahrhundert konnte Österreich Einspruch gegen die Verleihung des Stadtrechts an Lörrach erheben, wo sich damals vor den Toren von Basel die erste badische Textilmanufaktur niederließ; Badenweiler besaß noch kein

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Stadtrecht, sondern mußte sich als offener Marktflecken mit einem Marktrecht begnügen. Als der österreichische Kameralist Graf Galler 1785 durchs badische Oberland reiste, charakterisierte er die Städte ganz ähnlich wie Gothein dies für das 15./16. Jahrhundert getan hat: Emmendingen, der „Hauptort in der Markgrafschaft Hochberg", ist ein „Landstädtchen" von reichlich zweitausend Einwohnern, Schopfheim ein „kleines zerfallenes Landstädtchen", das nur „wegen der nahe dabei gelegenen Bleiche einigermaßen bekannt ist". Von der Grafschaft Hochberg bemerkte er im ganzen, „daß die Viehzucht, der Frucht-, Hanf- und Weinbau den beträchtlichsten Nahrungszweig . . . ausmachen; denn die übrigen Arten von Gewerben als Steinbrüche, Ziegeleien, Töpfer-Arbeiten, Branntwein-Brennereien und dergleichen sind von zu geringer Bedeutung"3. Insgesamt charakterisierte Eberhard Gothein die Lage des Markgräflerlandes im 16. Jahrhundert — und diese Charakteristik trifft auch noch bis zum 18. Jahrhundert zu — so: „Der österreichische Breisgau umklammerte das Ländchen von fast allen Seiten, aber auch ihm war durch dasselbe die nächste Verbindung mit der Schweiz nach Basel gesperrt. Dorthin, wohin von Rhein und Wiese alle Wege führten, suchte das im ganzen wohlhabende, aber eines städtischen Mittelpunktes entbehrende Land je länger je mehr seinen wirtschaftlichen und geistigen Anschluß in scharfem Gegensatz zu den breisgauischen Nachbarn: hier ein Bauernland, dort ein Adelsland."4 Ein Bauernland also, ohne eigentliche Städte, ohne ein ausgeprägtes städtisches Gewerbe ist das Markgräflerland. Das weist schon auf ein Charakteristikum hin, das für diese Landschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein von Bedeutung blieb. Wo sich Gewerbe entwickelt, hat es vorwiegend ländlichen Charakter. Dorfhandwerk, Hausindustrie, Verlag, Mühlen, Bergwerke und Eisenwerke — davon wird in erster Linie zu reden sein. Die Grenze zwischen Dorfhandwerk, Hausindustrie und Verlag ist meist nicht scharf zu ziehen. Die Verleger als Unternehmer bemächtigen sich oft einer schon vorhandenen Hausindustrie, andererseits sind sie bemüht, neue Hausindustrien zu schaffen, bestehende auszudehnen. I. Handwerk und Hausindustrie. Beginnen wir mit dem Handwerk. Über den Besatz mit Handwerken wissen wir wenig Exaktes für das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit, da sich Gothein, wie die älteren Wirtschaftshistoriker überhaupt, vor allem um das zünftige Handwerk, um den Erlaß und Wandel von Zunftordnungen gekümmert hat, weniger um die Existenz gesetzesloser Handwerker, die ja den größten Teil des Dorfhandwerks ausgemacht haben. Wir dürfen daher vermuten, daß der Bestand an Grundhandwerkern wie Schneidern, Schustern, Bäckern, Metzgern, Maurern, Zimmerleuten, Schreinern, Wagnern und im Markgräflerland sicher auch Küfern doch größer war, als Gothein annahm. Exakte Zahlen gibt er nicht; doch lassen die topographischen Lexika der späteren Zeit einen ganz beachtlichen Handwerkerbestand erkennen. So verzeichnet das „Historisch-statistisch-topographische Lexikon von dem Großherzogtum Baden" von J . B. Kolb (1813—1816) für Lörrach allein 20 Schuhmacher und 9 Bäcker und für Müllheim mit seinen damals 1831 Einwohnern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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immerhin 13 Schneider, 12 Metzger, 10 Schuhmacher und 8 Bäcker. Auch Kandern, seit 1810 Stadt, hat neben seiner Eisenhütte mit angeschlossenen Betrieben und seinen Hafnern um dieselbe Zeit bei 1320 Einwohnern 10 Schuster, 8 Schneider und 12 Bäckermeister, „berühmt durch vorzüglich schönes Brot und hauptsächlich durch die beliebten kleinen Brezeln, die weit verschickt werden"5. Wir dürfen wohl annehmen, daß diese Handwerke nicht alle erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entstanden sind, sondern den gewerblichen Grundbestand schon in den früheren Jahrhunderten bildeten. Drei Gewerbe sind für unser Gebiet besonders erwähnenswert, weil für sie immerhin schon im 16. Jahrhundert die Gründung von Landeszünften für nötig befunden wurde, die Küfer, die Hafner und die Leineweber. Im Jahre 1575 wandten sich die sämtlichen Küfer der Herrschaft Badenweiler an den Vogtstag, die ständische Vertretung der zwölf Vogteien des Markgräflerlandes, mit der Bitte, ihnen eine gemeinsame Ordnung zu geben. Der Anlaß war, wie so oft bei Zunftbildungen, der Wunsch, fremde Küfer, die weder Fron noch Steuer zahlten, auszuschließen. Die Küfer erhielten auch eine Zunftordnung. Sie trug jedoch einen relativ liberalen Charakter, stellte keine sehr hohen Anforderungen an das Meisterstück — ein einfaches, leicht verkäufliches Faß — und suchte die Verwaltung gerecht über die ganze Herrschaft zu verteilen: die beiden Zunftmeister sollten in Opfingen und Britzingen, der Waibel in Müllheim wohnen. Mit der Freiburger Küferzunft behielt man offenbar enge Verbindung, jedenfalls holte man von ihr gelegentlich Rechtsauslegungen ein. Dreizehn Jahre nach der Herrschaft Badenweiler schuf auch der ständische Ausschuß von Hochberg eine gemeinsame Küferordnung, wobei neben der Sausenberger die Freiburger als Vorbild diente. Interessant ist, daß der ständische Ausschuß das Statut nach seiner Annahme in den Reborten herumschickte, um die Zustimmung jedes einzelnen Küfers einzuholen6. Hafner gab es in vielen Orten Südwestdeutschlands, sowohl im Schwarzwald wie entlang des Rheins, eines der bedeutendsten Hafnerzentren aber war Kandern7. Der dort urkundlich am frühesten nachgewiesene Hafner starb 1597. Aber schon viel früher, spätestens zu Beginn des 15. Jahrhunderts, existierten im Badischen Hafnerverbände, zu denen auch Breisacher Meister gehörten, obwohl sie einen anderen Landesherren hatten. Markgraf Christoph (1475 bis 1527) stiftete 1512 einen Landesverband der Hafner mit einem Brudertag, der alljährlich an einem anderen Ort stattfinden sollte. Der Verband kannte keinen Ausschluß fremder Hafner, die Verkehrs- und Gewerbefreiheit beschränkte er nicht, und E. Gothein hat daher von ihm gesagt, daß er keine Zunft gewesen sei8. Immerhin waren Regeln für das Ofensetzen gegeben, das Hausieren verboten, der Besuch heimischer und fremder Märkte hingegen empfohlen worden, und der Drang der Handwerker ging auch hier auf Ausschluß Fremder, weil Baden durch seine freie Ordnung zum Zufluchtsort vieler vertriebener Hafner aus anderen Territorien wurde. Die Landesherren widerstrebten dem allerdings: sie wollten einen Verband von Bruderschaften, nicht jedoch eine geschlossene Zunft, und Markgraf Georg Friedrich (1604—1618) hat die Bruder© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Schaften in Rötteln-Sausenberg neu eingeführt. Ein besonderes Charakteristikum der Hafnerverbände, ähnlich wie das der Keßler, war ihre Überterritorialität. 1622 bestätigte Kaiser Ferdinand eine Hafnergesell- und Bruderschaft für das Elsaß, den Sundgau, den Breisgau und die Ortenau. Aber in der Folgezeit wuchs auch hier der Einfluß der Landesherrschaften und Territorialgrenzen. 1719 trennten sich die badischen Hafner in Kandern von ihren Breisacher Zunftgenossen. Sie blieben aber bis ins 19. Jahrhundert gegenüber Gesellen aus der Nachbarschaft offen, und Gerd Spies urteilt, daß „durch die Einwanderung von Hafnern aus der Schweiz, aus dem Elsaß und der Pfalz" die Kanderner Hafnertechnik hochentwickelt und Kandern „zum bedeutendsten Hafnerort Südwestdeutschlands" wurde9. Die Kanderner Hafner stellten ebenso wie die Villinger vor allem zylindrische Krüge her. Aber auch Teller mit dunkelbrauner oder schwarzer Grundierung und mit leuchtenden Blumen waren bei den Schwarzwälder „Bauernhafnern", wie Gerd Spies die Kanderner und Villinger nennt, beliebt. „Braun, fast schwarz, war die gebräuchlichste Grundfarbe. Bei der Bemalung wurde gelb und grün bevorzugt." Die Schwarzwälder Schüsseln besaßen schmale, nach außen abgeschrägte Randformen mit ineinandergreifenden S-förmigen Strichen an Bord. Man nannte sie „Schweizer Schüsseln", und als solche wurden sie bis nach Württemberg hinein fabriziert10. Auch im 19. Jahrhundert blieb das Schweizer Vorbild für die Kanderner Hafner maßgebend, und die Gewerbeschulen unterstützten nun diese Nachahmung, indem sie mit staatlicher Unterstützung Platten, Schüsseln und Töpfe (meist mit Edelweißmustern) in der Schweiz kauften und als Vorlagen für den Unterricht verwandten. Kanderner Geschirr konnte man oft nur durch die Farbe des Scherbens von „echt Schweizer" Geschirr unterscheiden. Auch im 19. Jahrhundert kamen, vom guten Ton der Gegend angelockt, noch viele Fremde nach Kandern und brachten neue Ideen und Formen mit, so daß die Kanderner Hafner sich länger gegenüber der Konkurrenz von Fayencemanufakturen und der Kunstkeramik behaupten konnten, ohne sich streng auf Spezialitäten zu werfen, wie es andere Hafnerorte taten. Dazu mag auch die Absatzorganisation beigetragen haben. Das Hafnergeschirr wurde zusammen mit den Produkten der Schwarzwälder Glashütten und Uhrmacher auf dem Hausierwege vertrieben, außer auf dem Schwarzwald selbst besonders in der Schweiz und im Elsaß, wohin noch bis um 1930 Kanderner Hafnergeschirr regelmäßig ging. Die sog. „Elsaßträger", zunächst Angestellte der Glashütten, hatten sich schon im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert zu Handelskompagnien zusammengeschlossen und von den Glashütten unabhängig gemacht. Bis 1895 bestand die Kompagnie für das Elsaß, die in jeder größeren Stadt zwischen Straßburg und Basel eine Niederlassung besaß. Sie verkaufte wohl einen großen Teil der Produktion der Kanderner „Dreckbecken" — wie der Volksmund die Kanderner Hafner nannte11. Schließlich aber konnte sich dieses Handwerk doch nicht gegen die Industrie und gegen das besonders im 20. Jahrhundert aufkommende Kunsthandwerk behaupten, und heute ist es so gut wie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ausgestorben. Wenn man das sagt, muß man jedoch gleich vor einem falschen Schluß warnen, nämlich dem von der Verdrängung des Handwerks durch die Industrie schlechthin. Denn Handwerke, die eine gewisse Affinität zur „Kunst" haben, werden in ihrer Bedeutung im Rahmen des Handwerks meist überschätzt. Es sind dies interessante, aber meist zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallende Handwerkszweige gewesen. Wirtschaftlich viel bedeutender waren die Grundhandwerke, die sich auch bis heute fast alle nicht nur gehalten, sondern meist absolut wie relativ — relativ gesehen im Verhältnis zur Bevölkerung, manchmal sogar im Verhältnis zur Industrie — sogar vermehrt haben, so daß die Handwerksdichte in Deutschland sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute mehr als verdoppelte. Während um 1800 vier Handwerker auf 100 Personen kamen, sind es heute reichlich acht. Auch die Kanderner Hafner haben stets nur ein kleines Handwerk gebildet. 1813 zählte es sieben Meister — weniger als Bäcker, Schuster oder Schneider12. Und in dem „Universallexikon vom Großherzogtum Baden", das 1843 von „vielen Gelehrten und Vaterlandsfreunden" herausgegeben wurde, ist unter Kandern nur von „mehreren tüchtigen Hafnern" die Rede, ohne daß eine Zahl angegeben wird13. Die Gewerbezählung von 1829 verzeichnet für das ganze Großherzogtum Baden 631 Hafnermeister mit 316 Gehilfen; die Hafner nehmen im badischen Handwerk danach, gemessen an der Meisterzahl, den 24. Platz, gemessen an der Beschäftigtenzahl den 20. Platz ein14. Die Spitze hielten mit 10 797 Meistern und 3812 Gehilfen, also 14 609 Beschäftigten, die Leineweber vor den Schuhmachern (10 572), Schneidern (6995) und Bäckern (5540)15. Die Leineweber, jene verachteten armen Teufel, die vielfach gar nicht als echte Handwerker anerkannt waren, sondern als unzünftige Hausindustrielle galten, hielten in Baden noch die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die Spitze unter den Handwerkern, wenn man nach der Zahl der Beschäftigten geht. Und zwar nahmen sie absolut noch immer zu, wenn auch langsamer als manche andere Handwerke. 1810 hatte es im ganzen Großherzogtum knapp 10 000 Leineweber gegeben, 1844 waren es 15 786, der Zuwachs seit 1810 betrug immerhin 58,4%, ein beachtlicher Anstieg, bedenkt man die Thesen von der ruinösen Konkurrenz der Fabrikindustrie gegenüber den Textilgewerben16. Dem Betriebskapital nach rangierte die Leineweberei jedoch keineswegs an der Spitze — ein Beweis, daß sie in der Tat ein Gewerbe der armen Leute war. Für 1829 wird ihr gesamtes Betriebskapital mit noch nicht 20 000 Gulden angegeben, d. h. im Durchschnitt aller Betriebe mit weniger als 2 fl.! Die weitaus größte Zahl der Leineweber rechnete auch zu den Handwerkern ohne Betriebskapital. Aber auch noch das mittlere Betriebskapital der Leineweber, die nicht völlig kapitallos waren, lag mit 450 fl. unter dem der Mehrzahl der anderen Handwerke. Gemessen an der Summe des Betriebskapitals rangierten die badischen Leineweber 1829 an 42. Stelle, gemessen am durchschnittlichen Betriebskapital sogar ziemlich an letzter Stelle aller rund 240 Handwerkszeige, die die badische Gewerbestatistik der damaligen Zeit kennt17. Doch kehren wir wieder zu den älteren Zeiten und zum Markgräflerland zu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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rück. Die Leineweber der Markgrafschaft Hochberg erhielten schon 1584 eine Landeszunft, eine der ältesten, wenn nicht die älteste, die für Leineweber bekannt ist18. Schon früher waren hier die Meister des Wolle- und Leineweberhandwerks jährlich auf dem Rathaus von Emmendingen zusammengekommen, um ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu beraten. Nun wurden die Leinevon den Wollewebern getrennt. Wenige Jahre später wurden auch die Leineweber der Herrschaft Rötteln zu einer Zunft vereinigt. E. Gothein sieht darin einen charakteristischen Ausdruck für das Streben der Landesherren, ordnend in die wirtschaftlichen Beziehungen der Untertanen einzugreifen — das Zeitalter des Merkantilismus und Absolutismus kündigt sich an. Die Leineweberei, die, wie Gothein mit Recht bemerkt, überall verbreitet war, wird zu einem „Lieblingsgegenstand" solcher bevormundender, regulierender und aufmunternder Tätigkeit. Im Gegensatz zur städtischen Tuchmacherei war sie vorwiegend ein ländliches Gewerbe geblieben, selbst dort, wo sie wie um St. Gallen und Konstanz schon im 13. Jahrhundert sich zu einem Exportgewerbe entwickelt hatte. In der Rheinebene, wo überwiegend Hanf gebaut und verwebt wurde, blieb sie Heimarbeit im Dienste des Bauern, und in den Gebirgsgegenden war sie, wie noch heute, als Störarbeit verbreitet19. Einen wesentlichen Grund des landesherrlichen Eingreifens bildete der ständige Zank zwischen den Bauern und den Leinewebern, die sich gegenseitig der Betrügereien bezichtigten. Die Bauern warfen den Webern vor, daß sie das ihnen anvertraute Garn veruntreuten, also weniger Ware lieferten als sie sollten; die Weber beschuldigten die Bauern, daß sie schlechtes Garn produzierten, das z. T. unbrauchbar sei. So wurde die Ordnung erlassen, „damit die Ämter des täglichen Überlaufens, die gemeinen Meister solcher Bezichtigung überhoben seien, und damit auch der gemeine Mann wissen möchte, daß mit seinem Garn aufrecht und redlich gehandelt und des Lohnes halben niemand beschwert werde"20. Es wurden vier Schauer eingesetzt, die gleichzeitig als Schiedsrichter zwischen Meistern und Kunden tätig sein sollten. Im Sausenberg-Röttelnschen konnten die Kunden hingegen wählen, ob sie ihre Streitigkeiten mit den Meistern vor der Zunft austragen oder lieber dem Vogt zur Schlichtung übertragen wollten. Hier sah die Zunftordnung auch besondere Bestimmungen für diejenigen Leineweber-Knappen vor, die auf Stör, d. h. im Bauernhaus arbeiteten. Nach altem Brauch wurde ihnen, wenn sie verheiratet waren, geboten, „ihre Weiber eine Meile wegs von sich zu schaffen, damit selbige den Kunden nicht überlästig seien"21. An diese alte Hanfleinenweberei knüpften dann im 18. Jahrhundert private Unternehmer, Staatsbeamte wie der Obervogt von Wallbronn und schließlich der Markgraf Karl Friedrich selbst Bestrebungen an, weitere „Industrien" im Markgräflerland heimisch zu machen, vor allem das Spinnen noch weiter zu verbreiten und zentralisierte Verarbeitungsstätten einzurichten, aus denen um die Wende zum 19. Jahrhundert dann die moderne Textilfabrikindustrie hervorgegangen ist. Wiederum geht der eigentliche Impuls von Basel und Mülhausen aus, dessen sich ausbreitende Baumwollfabrikation immer mehr Zuliefe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ranten, außer Webern nun vor allem auch Spinner, braucht. Als Basels Vorposten auf badischem Boden entsteht die Industriestadt Lörrach, und das Wiesetal entlang zieht sich eine Kette von Textildörfern und -Städten, flußaufwärts Schritt für Schritt von Basler Unternehmern erschlossen, flußabwärts von Schwarzwälder Heim- und dann Fabrikarbeitern besiedelt. Die badischen Markgrafen, die im Oberland von altersher auch als Unternehmer eine große Rolle spielten, gründeten in Lörrach 1713 eine Walke und eine Färberei, um auch die Zurüstung, die noch fast ganz in Basel selbst lag, nach Baden zu ziehen. Sie rentierte sich aber nicht, fand nicht einmal einen Käufer und nur mit Mühe einen Pächter. Der Obervogt von Wallbronn wollte, entsprechend den Bestrebungen so vieler Obrigkeiten des 18. Jahrhunderts, vor allem den ländlichen Hausfleiß durch zwangsweise Einführung der Spinnerei vermehren. Er war einer jener rücksichtslosen herrschaftlichen Wohltäter, an denen das 18. Jahrhundert in kleinen und großen Gemeinwesen so reich ist, führte er doch auch einen Kampf gegen die alte Markgräfler Volkstracht, indem er den Schneidern gebot, statt Zwickelröcken und Ärmeln nur noch Faltenröcke anzufertigen, „denn jene seien die schädlichste Gewohnheit, weil man mit einem solchen Rock, wenn er abgängig, nicht einmal ein paar Strümpfe besohlen könne". Und er ließ sich davon auch nicht abbringen, obgleich die Schneider ihm vorstellten, „daß es bei den hiesigen Weibsbildern und sonderheitlich bei den betagten so schwer hergehe, solcherlei neumodische Kleider zu tragen, als eine andere Religion anzunehmen". Der Kampf scheint erfolgreich gewesen zu sein; jedenfalls führt Gothein die Einführung der jetzigen Markgräfler Volkstracht, „unzweifelhaft der edelsten und einfachsten unter allen deutschen", auf Wallbronns „hausväterliche Tyrannei" zurück22. In Markgraf Karl Friedrich fand der Lörracher Obervogt jedoch einen Landesherren, der bei grundsätzlicher Übereinstimmung in der Zielsetzung ganz andere Mittel zu ihrer Verwirklichung einzusetzen wünschte: statt Zwang Aufmunterung, statt Monopolen Konkurrenz, statt Kontrolle Einsicht. In einer Denkschrift an den Obervogt ließ er 1758 seine Grundsätze darlegen: „Zum Hanfbau sei der Unterthan nicht erst zu animieren; den treibe er sowieso genug. Den Hanfverkauf ins Ausland zu hindern, heiße hingegen: den Landmann abhängig machen von der Willkür einer Handelsgesellschaft. Vollends die Fixierung des Hanfpreises sei ein Monopol, unter dem notwendig der Anbau zurückgehen müsse. In Handelssachen sei überhaupt nicht anders als in der größten Not und aus sehr dringlichen Ursachen einzugreifen, zumal in solchen Landen, die sich mit anderen vermischt befinden."23 Vor allem gegen den Plan Wallbronns, eine gleitende Spinntaxe einzuführen, die sich nach den Lebensmittelpreisen richten sollte, und jedem Untertanen, außer denen mit Rebland, eine Pflichtzahl von zu spinnenden Schnellern aufzuerlegen, wandte sich der Markgraf, und zwar mit einer nationalökonomisch bemerkenswerten Begründung, die man immer im Auge behalten sollte, wenn man die Lohnhöhe der Spinnerinnen in den mechanischen Spinnereien einige Jahrzehnte später als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Hungerlohn klassifiziert. „Bekanntlich", so doziert der Markgraf, „könne niemand beim Spinnen allein seinen Unterhalt finden; man dürfe es nur als Nebenarbeit und zufälligen Gewinn ansehen. Es sei also unmöglich, jemand zu zwingen, um so geringen Lohn zu arbeiten, daß er dabei seinen Unterhalt nicht finden könne."24 Spinnen wird hier also deutlich als eine Nebenarbeit klassifiziert, zur Ausfüllung leerer Stunden, in denen man sich etwas nebenbei verdienen kann, nicht jedoch als ein voller Lebensunterhalt. Markgraf Karl Friedrich wäre aber kein Kind seines Zeitalters des aufgeklärten Despotismus gewesen, hätte er nicht gelegentlich auch sanfte Gewalt zur Erziehung seiner Landeskinder für nötig befunden, wenn diese allzusehr ihre Pflicht als brave Untertanen und Familienväter oder -mütter zu vernachlässigen drohten. Als 1760 die Lebensmittelpreise sanken und mit ihnen die Lust, sich durch Spinnen etwas zusätzlich zu verdienen, verfügte er besorgt: „Diesem unartigen und mit den Pflichten eines guten Untertanen gegen sich selbst und die Seinen nicht zu vereinbarenden Betragen, wonach sie sich dem Müßiggang ergeben, da sie doch vielmehr dem grundgütigen Gott für den verliehenen Segen mit stetem Beten und Arbeiten danken sollten, sei kein freier Lauf zu lassen, und jeder Arme, der für sich selbst wenig Geschäfte habe, solle 8 Pfund jährlich für die Fabrik spinnen."25 „Die Fabrik", dieser im 18. Jahrhundert oft zu findende Terminus, meint, in unsere Sprache übersetzt, Verleger. Solche Verleger bemühten sich vor allem von der Schweiz aus um zusätzliche Arbeitskräfte, nun weniger für das Hanf- als für das Baumwollspinnen. Die Landesherren wiesen ihnen „Spinnquartiere" zu, Bezirke, in denen sie gewöhnlich für 20 Jahre ein „Privilegium exclusivum" bekamen, wofür sie sich verpflichteten, die ländliche Bevölkerung, besonders die Frauen und Kinder, zur „Industrie" zu erziehen, d. h. zum anhaltend fleißigen Spinnen. Freilich nahmen es weder die Verleger noch die Herrschaft mit der Durchführung solcher regionalen Monopole sehr genau. Den Untertanen blieb es unbenommen, für welchen Verleger sie arbeiten wollten. Nur sollten die Verleger lediglich in ihrem Bezirk Öffentliche Baumwollniederlagen und Ausgabe- und Annahmestellen unterhalten. 1755 war einem Aargauer Bürger namens Hunziger ein solches Privileg für Hochberg und Badenweiler eingeräumt worden, andere Verleger saßen in Binzen, Lörrach und Schopfheim. Der Lörracher, der für Mülhauser Auftraggeber arbeitete, pflegte die höchsten Löhne zu zahlen, weshalb viele aus dem Schopfheimer Bezirk lieber bei ihm arbeiteten. Übrigens blieb im Markgräflerland wie in der Rheinebene überhaupt das Weben wichtiger als das Spinnen, das man mehr in den oberen Schwarzwald, in die österreichischen Lande und nach St. Blasien vergab, wo die Löhne niedriger standen. In der Basler Region selbst konzentrierten sich hingegen die weiterführenden und höher bezahlten Arbeiten wie Weben, Bleichen, Walken, Färben, Zurüsten, und hier kam es auch relativ früh zur Bildung geschlossener „Etablissements", zu Manufakturen. II. Manufakturen und Fabriken der Textilbranche. Die älteste Manufaktur für Indiennedruck (Kattun) in unserem Bezirk kam um die Mitte des 18. Jahr© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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hunderts zustande, und sie besteht, wenn auch unter mehrmaligem Firmenwechsel, noch heute. Das ganze 19. Jahrhundert war sie die größte Kattundruckerei Deutschlands und zeitweise Badens größte Fabrik überhaupt, zugleich die erste, die — gleichzeitig mit der Bodmerschen Fabrik in St. Blasien — im Jahre 1809 zum mechanischen Betrieb überging, indem sie aus Frankreich eine Rouleauxdruckmaschine beschaffte, um den älteren Handdruck zu ersetzen. Der Initiator dieser Gründung war der Obervogt von Wallbronn. Er versuchte, wohl nach Schweizer Vorbild, in den 1740er Jahren eine Aktiengesellschaft für Indiennedruck mit einem Grundkapital von 20 000 fl. zu gründen. Das mißlang zwar, da sich nicht genug Interessenten fanden, doch veranlaßte er daraufhin einen aus Bern vertriebenen Drucker namens Küpfer, sich in Lörrach niederzulassen, und sorgte für das nötige Privileg. Küpfer forderte kein „privilegium exclusivum", also kein Monopol, denn ihm kam es weder auf Sicherung der Arbeiterschaft noch auf Abwehr der Konkurrenz im Inland noch auf Ausschluß fremder Fabrikate an. Sein Absatz lag im Ausland; er konkurrierte nur mit der Schweizer Industrie, gegen die ihn ein badischer Landesherr ohnehin nicht schützen konnte. Der Verzicht auf ein Monopol zeugt von einer neuen Auffassung von Industrie. Sie entsprach der des Markgrafen, setzte sich aber noch lange nicht überall durch und wurde auch von den Nachfolgern Küpfers nicht immer eingehalten. Mindestens Zoll- und Steuererleichterungen sind von ihnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in großem Umfang beantragt worden. Das Absatzgebiet war und blieb in der Tat vorwiegend das Ausland. Zunächst ging der größte Teil der Ware nach Holland und Rußland, im 19. Jahrhundert dann in die Türkei, nach Griechenland, überhaupt nach Südeuropa und dem Orient. Modische, leichte bedruckte Baumwollstoffe wurden hergestellt, und die Zahl der Arbeiter, auf 200 projektiert, erreichte bald für damalige Verhältnisse ziemlich große Ausmaße (1785: 200 bis 300). Erst in den 1830er Jahren überschritt sie allerdings das erste Tausend. In den Wirren der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege kam das Unternehmen eine Zeitlang zum Erliegen. Der holländische und der russische Markt fielen ziemlich gleichzeitig aus, auch der Absatz nach Frankreich war erschwert. Zunächst half ein hypothekarisch gesichertes Darlehen des Markgrafen über 30 000 fl. Nach 1803 traten erneut Absatzschwierigkeiten auf, denen Küpfer 1805 schließlich erlag. Für einige Jahre übernimmt nun der Landesherr den Betrieb und führt ihn als „Zitz- und Kattunfabrik" weiter. 1808 kaufen ihn der Basler Merian und der Mülhauser Koechlin, und damit kommt er in den Besitz von bedeutenden und kapitalkräftigen Unternehmerfamilien, in dem er bis ins 20. Jahrhundert geblieben ist26. Im Jahr der ersten Gewerbezählung im Großherzogtum, 1809, ist die Fabrik von Merian und Koechlin mit 150 Arbeitern die größte des Landes. In den folgenden Jahren schwankt die Arbeiterzahl zwischen 200 und 300 und steigt in den 1820er Jahren schon auf über 500 an. Webereifilialen werden in Steinen, Zell und Schönau eingerichtet, die im Jahr 1824 zusammen 508 Arbeiter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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beschäftigen. Durch den Zollverein nimmt das Geschäft einen weiteren Aufschwung. 1837 beschäftigt das Unternehmen in seinen oberbadischen Betrieben gegen 1700 Arbeiter und produziert Waren im Wert von mehr als 1 Mill. fl. Technische Neuerungen wie der Turbinenantrieb und die Dampffärberei werden eingeführt, einige Jahre später auch der Vierfarbdruck. 1840 bilden die Webereiabteilungen der Firma nach der Spinnerei und Weberei A. G. in Ettlingen mit fast 500 Webstühlen die zweitgrößte Weberei Badens. Im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts ist die Fabrik dann wie viele Textilfabriken von Maschinenfabriken und chemischen Werken überflügelt worden. Immer aber behielt die „Manufaktur Koechlin, Baumgartner & Cie.", wie sie seit 1854 firmierte, einen hervorragenden Platz im Kreis der oberländischen Industrie. Von den 972 Fabrikarbeitern, die Lörrach 1861 zählte und die es zur sechstgrößten Industriestadt Badens machte, waren die meisten dort beschäftigt, bei der Berufs- und Betriebszählung des Deutschen Reiches von 1882 nimmt sie mit 1181 die zweite Stelle unter den badischen Fabriken nach der Spinnerei und Weberei Ettlingen (1717 Arbeiter) ein, 1899 mit 924 Arbeitern freilich nur noch die neunte. Die größten Betriebe wie die Maschinenfabrik Gritzner in Durlach und die Landmaschinenfabrik Heinrich Lanz in Mannheim haben nun mehr als doppelt so viele Arbeiter. 1925 taucht sie dann unter den ersten 20 Industriebetrieben des Landes nicht mehr auf. Die größten Firmen wie Benz und Lanz haben nun zwischen vier- und fünftausend Arbeiter. Mit 847 Arbeitern war die „Manufaktur Koechlin, Baumgartner & Cie." jedoch noch immer die größte Textilfabrik Oberbadens27. Wir müssen hier die Geschichte dieser Pionierfirma abbrechen, um Raum für noch einige andere Firmen und Industriezweige zu gewinnen. Zunächst wäre zu erwähnen, daß die Firma Koechlin, so bedeutend sie war, im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht mehr der einzige geschlossene Textilfabrikbetrieb im Markgräflerland blieb. Andere setzten sich ihr an die Seite, so der Schopfheimer Drahtzugbesitzer Ernst Friedrich Gottschalk, der im Zusammenhang mit der Gründung des Zollvereins als einer der ersten NichtSchweizer Unternehmer in Oberbaden die Konzession zur Errichtung einer mechanischen Spinnerei und Weberei erwirkte und 1837 mit 97 Arbeitern die Produktion aufnahm. Seit 1841 firmierte er mit seinem Schwager Grether in Lörrach, und sein Betrieb in Schopfheim beschäftigte bald gegen 300 Arbeiter. 1847 entstand eine Filiale in Atzenbach, die bald den Mutterbetrieb überflügelte und in den 50er Jahren bereits 500 Arbeiter zählte. Nachdem noch einige andere Unternehmer, z. B. der Schweizer Textilfabrikant Oberst Geigy, sich an ihr beteiligten, wurde sie 1855 als Spinnerei Atzenbach, Sitz Schopfheim, mit einem Grundkapital von 700 000 fl. verselbständigt und dürfte neben Ettlingen die größte Spinnerei Badens gewesen sein. Der eben genannte Oberst Geigy besaß überdies seit der Gründungswelle von 1835 bis 1837 in Steinen eine Baumwollspinnerei; eine weitere gründeten die Basler Sarasin & Häußler in Haagen. Sie gehörte mit ca. 500 Arbeitern bald zu den größten des Landes. 1837 gründen die aus Aarburg stammenden Gebr. Großmann in Brombach eine Baum26 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Wollspinnerei und erwerben dazu 1850 aus dem Besitz von Zimmermeister Staub in Lörrach einen zweiten Betrieb, der 1854 schon 120 Arbeiter beschäftigt. 1882 überragt die Fa. Gebr. Großmann mit 990 Arbeitern sogar die Koechlinsche Fabrik, und 1925 rangiert sie mit 841 Arbeitern unmittelbar nach dieser. In diesem Jahr gibt es in Lörrach zehn Textilfabriken mit 2517 Arbeitern und im unteren Wiesetal in neun Gemeinden 16 Textilfabriken mit 4501 Arbeitern. Das Badische Statistische Landesamt beschreibt in diesem Jahr das Wiesetal als das wichtigste Zentrum der badischen Textilindustrie mit 40 Betrieben und an die 10 500 Arbeitern. „Ausgehend von dem noch ganz in der Ebene und unmittelbar unterhalb von Basel am Rhein gelegenen badischen Ortsteil WeilSchusterinsel über die Stadt Lörrach, die die Ausmündung des Wiesentals beherrscht und den wirtschaftlichen Mittelpunkt der ganzen Wiesentäler Industrie bildet, bis hinauf an den Fuß des Feldbergs reiht sich Fabrik an Fabrik. Bei jeder neuen Talwendung grüßen den Wanderer immer wieder die Rauchfahnen der mächtigen Fabrikschlote von Spinnereien und Webereien, die kein Ende nehmen zu wollen scheinen und Zeugnis ablegen von dem industriellen Gewerbefleiß, der diese Tallandschaft und ihre Bevölkerung auszeichnet."28 Ist es in der ehemaligen Herrschaft Rötteln vor allem die Baumwollindustrie, die sich ausbreitet, so hat in der Markgrafschaft Hochberg die Hanfspinnerei und Weberei eine bemerkenswerte Entwicklung genommen. Als 1785 der österreichische Kameralist Graf Niklas von Galler durch das badische Oberland reiste, widmete er einer solchen Unternehmung in Emmendingen einen längeren Absatz: „Mit Anfang des Jahres 1784 wurde in Emmendingen von einem Entrepreneur eine Hanf- und Wollenspinnerei errichtet", heißt es hier29. Dieser Unternehmer namens Vogel hatte dafür einen Vorschuß aus der herrschaftlichen Kasse von ca. 11 000 fl. bekommen und eine Gratifikation von 50 Louisdor zur Unterrichtung von Kindern sowie ein weiteres Darlehen von 11 000 fl. beantragt. Genau fünfzig Jahre später richtete dann in Emmendingen der Kaufmann Karl Helbing die erste mechanische Hanfspinnerei Badens ein, die mit ca. 30 Arbeitern sehr klein blieb, wegen der Verarbeitung einheimischer Produkte jedoch die besondere Aufmerksamkeit des Staates auf sich lenkte und schon 1838/39 Preise bei Industrieausstellungen erhielt, weil ihr Hanfgarn dem englischen gleichkomme. 1857 wurde sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, Helbing blieb jedoch als Direktor an der Spitze. 1887 nahm sie die Ramiespinnerei auf — Ramie ist eine ostasiatische Nesselart — und wurde die führende Spezialfirma auf diesem Gebiet in Deutschland. 1925 zählte sie mit 1400 Arbeitern zu den bedeutendsten Fabriken Badens30. Ein paar Worte müssen auch noch der Seidenindustrie gewidmet werden, besonders der Seidenbandweberei, die wiederum von Basler und Mülhauser Unternehmern entlang der Schweizer Grenze eingeführt wurde. Der schon zitierte Nikolaus von Galler erwähnt 1785 außer der Manufaktur von Küpfer in Lörrach auch noch eine Satinfabrik, die drei Jahre zuvor von einem Mülhauser Tuchscherer gegründet worden war und 80 Haushaltungen beschäftigte31. Zu der nach der Gründung des Zollvereins zugewanderten Industrie gehört © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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auch die Seide — allerdings mit dem Zentrum in Säckingen, also im ehemals österreichischen Gebiet. Eine einheimische Seidenweberei wurde schon 1775 in Kandern eingerichtet. Sie ist der Stammsitz der noch heute in Freiburg bestehenden Fa. Mez. 1829 zählte sie 9 Arbeiter, blühte dann schnell auf und gehörte mit elf Filialen zeitweilig zu den größten Unternehmen Badens32. III. Die Eisenindustrie. Damit wollen wir die Textilindustrie endgültig verlassen und zu einem Industriezweig übergehen, der heute keine Rolle mehr spielt, in älteren Jahrhunderten und bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein jedoch für das Markgräflerland außerordentlich wichtig war: die Eisenindustrie und der damit verbundene Bergbau. In der badischen Industriestatistik von 1809 rangiert, gemessen an der Arbeiterzahl, nach Merian & Koechlin die herrschaftliche Eisenhütte in Kandern mit 141 Arbeitern an zweiter Stelle, und gemessen am Umsatz liegt, von allen Betrieben, die ihren Umsatz angegeben haben, die ebenfalls herrschaftliche Eisenhütte in Hausen mit 90 000 fl. an der Spitze33. Im Universallexikon vom Großherzogtum Baden aus dem Jahre 1843 ist noch rund ein Drittel des Beitrags über Kandern seinem Bergbau und seinem Hüttenwerk gewidmet: „Es ist hier ein großes Eisenwerk, welches einen Hochofen mit einem Cylindergebläse, eine Großschmiede mit zwei Großfeuern und eine Kleinschmiede mit einem Kleinfeuer enthält; die Großfeuer sind mit Glühöfen versehen, worin die Gebläseluft erwärmt und das zu verfrischende Roheisen zum Einschmelzen im Frischfeuer vorbereitet wird. In den Kaminen der Frischfeuer sind Backofen und Waschkessel angebracht, wodurch vieles Holz erspart wird. Die jährliche Eisenproduktion beträgt etwa 12 000 Zentner Roheisen und 2000 Zentner Stab- und Kleineisen. Das Eisenwerk Kollnau erhält seinen Roheisenbedarf größtenteils von hier. Der riesige Eisensteinbergbau ist der wichtigste im Lande und teilt sich in verschiedene Reviere, welche etwa eine Quadratmeile umfassen, nämlich in die Erzreviere Kandern, Holzen, Tannenkirch, Hertingen, Liel, Altingen, Auggen und Kleinenkens. In diesen Revieren befinden sich über 40 Stollen und Schachten, bei welchen etwa 200 Bergleute beschäftigt sind. Der Transport der Erze gibt ebenfalls über 200 Fuhrleuten Beschäftigung, wie auch verschiedene Gewerbe dadurch Nahrung erhalten. Die Erze bestehen teils aus schaligem Toneisenstein, dem sogenannten Reinerze, teils aus Bohnerz, welche etwa 36 bis 40% Eisen enthalten; das daraus gelieferte Fabrikat wird sehr gerühmt. Die jährliche Gesamterzförderung beträgt durchschnittlich 24 000 Malter. Das Bergwerk Kandern versieht nicht nur das eigene Hüttenwerk, sondern auch die ärarischen Hochöfen zu Hausen, Wehr, Albbrugg und Oberweiler mit den nötigen Erzen."34 Auch das Eisenwerk Hausen gehörte noch zum markgräflichen Territorium und war in herrschaftlichem Besitz. Das Universallexikon meldet von ihm, daß es schon über 350 Jahre bestehe, im 17. und 18. Jahrhundert an Basler Handelshäuser verpachtet war und „in neuerer Zeit trefflich eingerichtet" worden sei. Zusammen mit einem zugehörigen kleinen Werk auf der Gemarkung Zell umfaßte es damals, 1843, einen Hochofen mit Zylindergebläse, fünf Frisch26*

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und vier Kleinfeuer und produzierte im Jahr 12 750 Zentner Roheisen, 7850 Zentner Stabeisen und 5420 Zentner Streck- und Zaineisen im Wert von zusammen 110 420 Gulden. Den Absatz fand es zumeist in der Schweiz. Wie bei den älteren Werken üblich, wurden seine Einwohner getrennt von denen der Ortschaft gezählt. Es waren 106 Evangelische und 44 Katholische gegenüber 434 evangelischen und 18 katholischen Einwohnern im Dorf35. Das dritte Eisenwerk auf markgräflichem Boden, Oberweiler bei Badenweiler, war das kleinste der acht herrschaftlichen Eisenwerke im Großherzogtum Baden. Es unterhielt 1843 einen Hochofen mit zwei Frischfeuern und einem Kleinfeuer und produzierte 6202 Zentner Roheisen, 2160 Zentner Stabeisen und 1198 Zentner Streck- oder Zaineisen für insgesamt 44 032 fl.36. Das Jahr, das wir hier für einen Querschnitt gewählt haben, fällt ungefähr an einen Wendepunkt in der Geschichte der markgräflichen Eisenwerke. Sie hatten in den dreißiger Jahren noch einmal einen Aufschwung erlebt, weil sie vorzügliche Ware lieferten, die z. Β. für die Werkzeugproduktion gebraucht wurde, ein geschmeidiges, nicht zu sprödes Eisen, das mit Holzkohle hergestellt wurde. Mit den technischen Fortschritten bei der Eisen- und Stahlproduktion mit Hilfe von Koks, der Verminderung der Transportkosten durch die Eisenbahn und dem Wegfall der Zollschranken verminderte sich jedoch der Preis vor allem des saarländisch-pfälzischen Eisens so stark, daß der Absatz des teuren Holzkohlenprodukts sich immer stärker auf wenige Spezialbedürfnisse beschränkte, so daß der badische Landtag in den 1860er Jahren auf Antrag der Regierung beschloß, die Werke entweder stillzulegen oder zu verkaufen. Damit endete eine rund dreihundertjährige Geschichte herrschaftlicher Eisenerz- und Eisenproduktion in der Markgrafschaft. 1512 hatte Markgraf Christoph das Hammerwerk Kandern aus der Gantmasse eines Herrn von Horneck für nur 186 fl. erworben und an zwei Geschützmeister Kaiser Maximilians weiter zu Lehen gegeben, die neben Kanonenkugeln auch eiserne Schmiedeund Hausöfen herstellten, vor allem aber, wie noch im 19. Jahrhundert, Stabeisen zur Weiterverarbeitung durch Handwerker. Und 1595 hatte Markgraf Georg Friedrich das Werk zu Oberweiler für 9174 fl. gekauft, um es im Zusammenhang mit dem neu aufblühenden Eisenbergbau selbst zu nutzen37. Fast ein Jahrhundert später war dann Hausen hinzugekommen, das durch einen Emmendinger Juden namens Löwel errichtet wurde, der 1680 von Markgraf Friedrich Magnus das Recht erhielt, bei Hausen nach Eisenerz zu graben und der 1682 nach Errichtung zweier Schmelzöfen die ersten Masseln goß. Er pachtete dann zusammen mit zwei Gesellschaftern aus Mömpelgard auch die Werke Kandern und Oberweiler. Von ihm gingen sie an einen Unternehmer aus Kolmar über, dann an eine Schaffhausener Gesellschaft, schließlich an Basler Unternehmer und 1717 wieder in herrschaftliche Regie38. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die herrschaftlichen Werke nach streng kameralistischen Grundsätzen geführt. Die Finanzverwaltung gab den Hüttenmeistern genaue Anweisungen über Produktionshöhe, Preise, Einnahmen und Ausgaben. 1823 forderte die Bergwerkskommission, daß sie stär© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ker nach kaufmännischen Grundsätzen geführt werden müßten, sollten sie auf die Dauer rentabel sein, und seit 1828 wird auf die Aufstellung eines Etats verzichtet39. Immerhin rechnete man aus, daß sie noch 8 % jährlich abwarfen, und daher lehnte der Landtag den vorgeschlagenen Verkauf ab, obwohl seine Budgetkommission Jahr für Jahr der Regierung den Verkauf empfahl, schon weil es „Grundsatz sei, daß der Staat selbst kein Gewerbe treibe", und feststehe, daß der Staat als kostspieligster Administrator den Nationalwohlstand schädige, wenn er diesen Grundsatz verletze. Interessant ist die Frontstellung, die sich beim Landtag in diesen Debatten ergibt. Altliberale und juristische Staatsbeamte wie Rottek stimmen gegen den Verkauf, technische Beamte wie der Hofrat Walchner und Kaufleute wie Buhl und Völker dafür. Jene bringen volkswirtschaftliche Gründe vor wie den möglichen Ruin der Wälder durch Privatbesitzer, diese privatwirtschaftliche wie den Mangel an langfristiger Rentabilität40. Immerhin wird noch für 1848/49 ein Reingewinn von 30 000 fl. errechnet41. Am 31. 12. 1847 repräsentieren die drei Markgräfler Hütten mit den dazugehörigen Ton- und Weiße-Erde-Gruben zu Balg und Oberweiler einen Wert von 805 000 fl., und ihr mittlerer Ertrag für die Periode von 1838 bis 1847 wird mit fast 43 000 fl. angegeben42. Zusammen machten sie noch eines der größten Unternehmen des Landes aus. Vor ihm standen an Kapitaleinsatz nur die Zuckerfabrik Waghäusel mit einem Grundkapital von 1,2 Mill. fl. und die Spinnerei und Weberei Ettlingen mit einem Kapital von 1 Mill. fl. Mit den übrigen staatlichen Eisenwerken bildeten sie sogar den größten Industriekomplex im Großherzogtum. In den fünfziger Jahren zeigt sich jedoch, daß die Rentabilität immer stärker nachläßt. Finanzminister Regenauer rechnet zwar aus, daß alle sechs staatlichen Hüttenwerke Badens — zwei der vormals acht Werke arbeiten schon nicht mehr — bei einem Kapital von 2 Mill. fl. noch 3 % abwerfen, aber eine Weiterführung sei nur noch durch Rücksicht auf den Holzabsatz und auf die Arbeiter gerechtfertigt43. Zu Beginn der 60er Jahre wird dann der Betrieb in allen Werken eingeschränkt, und Verkaufsverhandlungen werden eingeleitet. Das Eisenwerk Hausen erwirbt Carl Grether in Schopfheim für 125 000 fl., das benachbarte in Zell A. Koechlin für 12 000 fl. Beide Werke stellen die Eisenproduktion ein, während in Kandern eine private Hüttenwerksgesellschaft den Betrieb noch zu Beginn der 70er Jahre zeitweise fortsetzt44. Auf die Dauer hatte die Eisenindustrie in Baden nur noch in der Weiterverarbeitung, der Gießerei und der Metallwarenfabrikation, dem Maschinenbau und der Fahrzeugherstellung eine Zukunft. Auch an ihr blieb das Markgräflerland nicht unbeteiligt, war doch in Höllstein bei Lörrach schon 1835 die Zweitälteste badische Maschinenfabrik entstanden, fast gleichzeitig mit der fürstl. fürstenbergischen in Immendingen- Sie wurde von dem Basler Louis Merian gegründet und stellte hauptsächlich Textilmaschinen, dann Drehbühnen, Werkzeugmaschinen, Eisenbahnweichen und in den 1860er Jahren auch Turbinen her. Sie blieb stets klein, begann mit ca. 15 Arbeitern und erreichte 1862 einen Höchststand von 80 Arbeitern. In den vierziger Jahren gliederte sie sich eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Spinnerei und Weberei an, die 1869 169 Arbeiter beschäftigte. Ende der 1860er Jahre stellte sie ihren Betrieb wieder ein45. Insgesamt hat sich die moderne Metallindustrie im Markgräflerland nicht im gleichen Umfang niedergelassen wie die Textilindustrie. In Lörrach gab es 1925 zwar sieben Fabriken der Metallbranche, davon jedoch nur eine mit mehr als 100 Arbeitern46. IV. Damit sind natürlich längst nicht alle Industriezweige genannt, die im Laufe der Geschichte für das Markgräflerland Bedeutung hatten. Zum Abschluß sei nur noch einer erwähnt, die Papierfabrikation, die unter dem Einfluß der Druckerstadt Basel sich seit der Reformation im Oberbadischen ausbreiten kann. In Lörrach gab es am Ende des 17. Jahrhunderts drei Papiermühlen, die aber bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts alle wieder verschwunden sind. In Höfen bei Schopfheim bestand eine Mühle schon vor 1650. 1797 geht sie für 30 000 fl. in den Besitz zweier Basler Kaufleute über, die dort 1805 56 Personen beschäftigen, 1814 sogar 120, so daß sie im Lexikon von dem Großherzogtum Baden „wegen ihrer vortrefflichen Einrichtung, der besonderen Reinlichkeit, die hier herrscht, und wegen des vielen Papiers, welches sie in vorzüglich guter und schöner Qualität liefert", als „merkwürdig und beschauenswert" geschildert wird47. 1834 erwirbt sie Joh. Heinr. Sutter für 40 000 fl. und stellt sie auf mechanischen Betrieb um. Auch Kandern besitzt eine alte Papiermühle, die 1824 im Besitz des Baslers Thurneisen ist und 5 Arbeiter hat. 1838 stellt Thurneisen den Antrag, sie nach Maulburg verlegen zu dürfen, wo er eine Papierfabrik errichten will. Einem anderen Basler Papierfabrikanten, Oser, war 1828 die Konzession zu einer Papierfabrik in Brombach verweigert worden, weil die einheimischen Papiermüller und die Zollbehörden vermuteten, daß diese Gründung nur dazu bestimmt sei, das Ausfuhrverbot für Lumpen zugunsten von Osers Baseler Werk zu umgehen. Die gleichen Bedenken werden auch jetzt wieder vorgebracht, diesmal aber erreicht die Regierung die Konzession. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war die Schopfheimer Fabrik Suiters, seit 1835 mit einer Papiermaschine ausgerüstet, mit 60 Arbeitern die viertgrößte Papierfabrik im Großherzogtum, und die Maulburger rangierte mit 39 Arbeitern an sechster Stelle48. Damit wollen wir den Rundgang durch Handwerk und Industrie des Markgräflerlandes schließen. Zum Abschluß sei noch einmal auf die heutige Industriestruktur dieses Landes hingewiesen. Sie zeigt uns einerseits, wie ungemein vielfältig das gewerbliche Leben in den letzten hundert Jahren geworden ist, andererseits, wie sehr gerade im Wiesetal die Tradition der Textilindustrie sich erhalten hat trotz aller Schwierigkeiten, in die diese in hochentwickelten Industriestaaten zu kommen pflegt, weil andere, kapitalintensivere Industrien eine höhere Produktivität erzielen können. Nach wie vor tritt auch der Einfluß Basels als Vorort markgräflicher Industrie deutlich hervor. Unternehmerinitiative, Kapital und technischer Fortschritt sind hier seit Jahrhunderten in besonderem Maße beheimatet. Die Gewerbegeschichte des Markgräflerlandes beweist so, wie stark sich natürliche Gegebenheiten und gewerbliche Traditionen gegenüber politischen Hemmnissen behaupten können. Sie zeigt auch, daß, wenn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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diese politischen Grenzen nicht zu weltanschaulichen Barrieren ausgebaut werden, spezifische wirtschaftliche Probleme eines Grenzlandes nicht aufzutreten brauchen, wie sie früher an anderen Grenzen des Deutschen Reiches und heute an der Zonengrenze so ins Auge fallen. Das Markgräfierland ist in dieser Beziehung besonders glücklich gewesen, und es mag sein, daß der nüchterne und zugleich lebensfrohe Charakter der Alemannen, deren Lebensäußerungen auf den verschiedensten Gebieten in dieser Vortragsreihe lebendig werden sollen, zu ihrer vergleichsweise glücklichen Geschichte beigetragen hat.

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D i e A n f ä n g e d e r F a b r i k v o n St. Blasien (1809—1848) Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Industrialisierung Wann die Industrialisierung eines Landes beginnt, ist selten mit einem exakten Datum zu belegen. Je nachdem, ob man als entscheidendes Merkmal der Fabrikindustrie die Zentralisierung der arbeitsteiligen Produktion an einem Ort, die Stufe der Manufaktur also, oder die Mechanisierung des Arbeitsvorgangs bzw. der Antriebskraft oder die Organisation von Produktionsunternehmen als Kapitalgesellschaften ansieht, je nachdem also, ob man mehr die betriebliche oder die technische oder die wirtschaftliche Seite der Fabrik ins Auge faßt, liegt der Beginn der Fabrikindustrie in einer anderen Zeit. Will man den Vorgang der Industrialisierung als Ganzen erfassen, muß man somit verschiedene Etappen unterscheiden. In Baden setzt die erste nach mancherlei Vorläufern seit dem Ende des 17. Jahrhunderts um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Die Lörracher „Cotton- und Indiennefabrique" des Schweizer Unternehmers Küpfer ist die hervorstechendste Gründung dieser Zeit (1753). Aus ihr entsteht später die Indiennefabrik Koechlin (1809). Andere Textil- und Tabakmanufakturen folgen. Auf dieser Stufe des Manufakturbetriebes stehen auch die Pforzheimer Uhren- und Bijouteriebetriebe, deren erster als herrschaftliches Unternehmen 1767 gegründet wird. In den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts liegen die Anfänge der Konstanzer Indiennemanufakturen, deren bekannteste später Macaire & Co. und Gabriel Herosé sind. Auch die Glashütten, Porzellan- und Fayencemanufakturen des Landes stammen aus dem 18. Jahrhundert, so die Glashütte Äule von 1716, die Rinderschwendersche Glashütte in Gaggenau von 1771, die Fayencemanufakturen Mosbach, Durlach und Zell a. H. 1774 gründen in Lahr die Gebr. Lotzbeck die erste Schnupftabakmanufaktur, ein Jahr später entsteht in Mannheim eine Tapetenfabrik, 1796 in Lahr die Zichorienfabrik von C. Trampler. Auch die hausgewerbliche Uhren-, Textil- und Strohhutfabrikation setzt sich im 18. Jahrhundert auf dem Schwarzwald fest1. Je nach dem Wert, den man dieser Form der Manufaktur- und Hausindustrie beimißt, kann man diese erste Etappe als vor- oder schon als frühindustrielle Zeit bezeichnen. Sie wird abgelöst durch eine zweite Stufe, auf der die Arbeits- und Antriebsmaschine in den Betrieb eingeführt wird. Sie soll hier als die entscheidende Wendung zum Fabrikbetrieb gesehen werden. Denn so wichtig es ist, daß die Produktion an einem Ort zusammengefaßt und die Arbeit dabei geteilt wird — bleibt sie auf dieser Stufe stehen, so wird aus der Manufaktur nie eine Fabrik, mag sie auch oft als solche bezeichnet werden.

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Die Anfänge der Fabrik von St. Blasien (1809—1848)

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Die dritte Etappe beginnt mit der Entstehung der meist als Aktiengesellschaft begründeten Großbetriebe, in Baden in der Mitte der dreißiger Jahre. Die badische Gesellschaft für Zuckerfabrikation, die Spinnerei und Weberei Ettlingen und die Maschinenfabriken in Karlsruhe, Immendingen und Höllstein sind die bedeutendsten Beispiele. Hier finden sich die „Kapitalisten" zum erstenmal zur gemeinsamen industriellen Verwertung ihres Kapitals zusammen. Diese „kapitalistische" Form der Unternehmung ist zwar besonders charakteristisch für die große Industrie Westeuropas und Amerikas, keineswegs oder gar notwendig jedoch auf sie beschränkt, Auch Handels- und Versicherungsunternehmen kennen diese Organisationsform schon lange bevor von einer technischen Form der Fabrik gesprochen werden kann, und unter einer anderen Wirtschaftsverfassung ist die Fabrik ohne kapitalistische Organisation möglich. Oft genug wachsen andererseits die großen Fabriken ohne Kapitalhilfe ganz aus kleinen Anfängen eines einzelnen heraus. Die kapitalistische Form der Unternehmung kann daher ebensowenig wie die bloße Zentralisierung der Produktion ohne besonderen Maschineneinsatz als das entscheidende Merkmal der Industrialisierung angesehen werden. Der Einsatz von Arbeitsmaschinen jedoch und die Verwendung von mechanischer Arbeitskraft konstituiert eine Fabrik sehr wesentlich. Zwar sind auch sie nicht auf Fabrikbetriebe beschränkt. Mit dem Elektromotor und der Werkzeugmaschine sind beide auch in Handwerksbetriebe vorgedrungen, nachdem zuvor schon kleine Dampfmaschinen ähnliche Dienste leisten konnten. Dennoch kann man die Vorherrschaft der Maschine bei der Organisation der Produktion als das wesentliche Merkmal der Fabrik bezeichnen. Denn die Maschine war es, die die Produktion sprunghaft in die Höhe trieb, und die Maschine war es, die als das „Schicksal" einer neu heraufziehenden Zeit schon früh erkannt wurde, weil sie mit der Veränderung der Produktionsverhältnisse auch eine tiefgreifende Wandlung der sozialen Struktur erzwang. Versteht man unter Industrialisierung die Einführung der Arbeitsmaschine in den Produktionsvorgang, so kann man ihren Beginn für Baden mit großer Exaktheit auf das Jahr 1809 festlegen. In diesem Jahr nämlich zog Johann Georg Bodmer mit seinen Spinnmaschinen aus Zürich im Kloster St. Blasien ein und errichtete die erste mechanische Spinnerei Badens, und in diesem Jahre brachte Peter Koechlin die erste Rouleauxdruckmaschine aus Mühlhausen i. E. nach Lörrach, um sie in der Indiennemanufaktur Merian & Koechlin einzusetzen. Beide Vorgänge sind jedoch keine isolierten und zufälligen Ereignisse, sondern sind Teil einer größeren Reihe von Versuchen, neue „Nahrungszweige" im eben konstituierten Großherzogtum heimisch zu machen. Der badische Staat ist an ihnen wesentlich beteiligt. Der wichtigste dieser Versuche soll hier geschildert werden2. Die Napoieonischen Kriege und der Zusammenbruch des Deutschen Reiches hatten viele Teile Oberbadens, besonders die neugewonnenen ehemals geistlichen und oberösterreichischen Gebiete des südlichen Schwarzwaldes, in große Not gebracht. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgebaute wirt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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schaftliche Verbindung mit der Schweizer Textilindustrie drohte abzureißen. Die Klöster als Nahrungsquelle armer Waldbewohner verschwanden. Die lokalen Behörden, aber auch die Karlsruher Zentralinstanzen suchten nach Wegen, der drohenden Not auf dem Schwarzwald Herr zu werden. Bereitwillig griffen sie nach den Angeboten privater Unternehmer, durch die Einführung neuer Industriezweige oder durch Wiederaufrichtung der alten der Bevölkerung Arbeit und Brot zu bringen. Das große Benediktinerkloster in St. Blasien war eine der schwierigsten Erbschaften, die die Säkularisation dem badischen Staat hinterlassen hatte. Abgeschnitten von der Welt, ein Monument mönchischer Kulturarbeit, stand es nun einsam, der Verwitterung preisgegeben. Um die Baulichkeiten zu erhalten, schlug Baudirektor Weinbrenner vor, hier Gewerbe anzusiedeln. Auch die Pfarrer der Umgebung sahen in der Gründung einer Fabrik einen großen Nutzen und begrüßten die Absicht der Regierung, das ehemalige Stift St. Blasien in eine „gemeinnützige Manufaktur" umzuwandeln3. Am 9. Mai 1808 gab daher der Geheime Rat der großherzoglichen Kammer in Freiburg auf, „das Kloster St. Blasien, mit Ausschluß der Kirche, durch inund ausländische Zeitungen feilzubieten, den Verkauf bei dem Meistgebot auszusetzen und von dem Erfolg Bericht zu erstatten"4. Zu Beginn des Jahres 1809 bot Johann Caspar Bodmer aus Zürich im Namen der Gesellschaft J . J . Wuest & Co. und der Gebrüder Bodmer an, das Kloster, 60 Juchert Wald und 10 Juchert Matten zu kaufen, wenn ihnen die Benutzung der Wasserkraft zu industriellen Unternehmungen gestattet werde. Das Finanzministerium schickte daraufhin den Oberforstmeister Gerer aus St. Blasien nach Zürich, um Erkundigungen über die Kauflustigen anzustellen. Sein Bericht war, was die finanziellen Verhältnisse der Antragsteller betraf, nicht gerade ermutigend, doch konnte er melden, in Johann Georg Bodmer, dem eigentlichen Unternehmer, einen Techniker großen Formats entdeckt zu haben, der das Beste für das Großherzogtum erreichen und den Schwarzwald unter „hunderterlei Formen an dem hereinziehenden Gewinn Teil nehmen" lassen würde. „Der wichtigste Gewinn für das ganze Land", so resümierte er seinen Bericht, „bestünde aber meines Erachtens in der Errichtung guter Spinnmaschinen und in der Emporbringung der Weberei, die am Ende nicht nur den Verlust der Handspinnerei ersetzen, sondern unter einer guten Leitung und kleinen Aufmunterung denselben übertreffen könnte. Auf die Verbreitung solcher Maschinen und Webereien inner dem Lande müßte das Hauptaugenmerk gerichtet werden, und hierzu wäre die Fabrik zu St. Blasien das Samenkorn, welches man mit Sorgfalt kultivieren müßte." Damit schlägt der in Gewerbesachen erfahrene Oberforstmeister zum ersten Male das Thema an, das in den nächsten Jahren im Mittelpunkt aller Betrachtungen um das Schicksal St. Blasiens stehen wird. Neue Gewerbezweige im südlichen Schwarzwald zu pflanzen und der Bevölkerung einen Ersatz für den Verlust der Handspinnerei (und Musselinstickerei) zu bringen, wird das Ziel sein, das die badischen Behörden mit der Unterstützung der Fabriken im Kloster © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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St. Blasien verfolgen und das dieser Anstalt eine weit über das allgemeine Interesse an der Hebung der Gewerbstätigkeit des Landes hinausgehende Anteilnahme sichert. Als „Samenkorn" der Industrie wird die Fabrik in St. Blasien im Baden der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine einzigartige Rolle spielen. Oberforstmeister Gerer übernahm so etwas wie die Patenstelle für das neugeborene Kind. Er ermunterte Bodmer, selbst nach Karlsruhe zu gehen, um den Vertrag abzuschließen, und er ermunterte die Regierung, den Versuch mit ihm zu wagen, obwohl er keine großen Mittel vorweisen konnte. Am 9. Mai 1809 kam ein Vertragsentwurf zustande. Bodmer verpflichtete sich, in dem Klostergebäude eine Fabrik für Baumwollspinn- und Webmaschinen einzurichten, auch andere zu Fabriken und Manufakturen nötigen Vorrichtungen anzulegen und „seinem Etablissement allen nötigen Schwung zu geben". Er erhielt dafür neben der Befreiung von den Zoll-, Steuer- und Milizverpflichtungen das Recht zugesagt, eine eigene Gemeinde der Fabrikarbeiter zu bilden und bei der Rekrutierung und dem Heiratskonsens mitzuwirken. Auch ein fünfzehnjähriges ausschließliches Privileg für alle Erfindungen wurde vereinbart, das von Bodmer gewünschte 30jährige Monopol auf eine Maschinenfabrik am Oberrhein jedoch nur mit der Einschränkung versprochen, daß niemandem die Verfertigung von Maschinen für eigenen Gebrauch verwehrt werden solle. Die Akkorde mit den mechanischen Arbeitern sollen vom Staat garantiert werden, so daß ein Wechsel des Arbeitsplatzes gegen den Willen des Unternehmers ausgeschlossen ist. Als Kaufpreis für die Grundstücke und Gebäude werden 33 000 fl. bestimmt, zu denen 38 000 fl. für das Kupferdach und 5400 fl. für die große Glocke kommen. Insgesamt sollen 76 400 fl. zu zahlen sein, davon 15 000 in bar, der Rest in vier Jahresraten. Noch ehe der Vertrag vom Großherzog ratifiziert war, zog Bodmer am 20. Juli 1809 mit elf sechsspännigen Wagen voller Hausrat, Werkzeuge und angefangene Maschinen in das Kloster St. Blasien ein, um wenige Tage später die Arbeit aufzunehmen. Die Liste der Arbeiter, die er zum 1. August in seiner Fabrik einstellte, zeigt, daß er in der Tat gewillt war, Beschäftigung auf den Schwarzwald zu bringen. Nicht mehr wie bei den Manufakturgründungen im 18. Jahrhundert, etwa bei der Pforzheimer Uhren- und Goldwarenfabrik von 1767, kamen alle Arbeiter aus dem Ausland, sondern Bodmer zog von vornherein Einheimische als Gesellen und Lehrjungen, ja selbst als Meister heran. 20 der 32 Arbeiter stammten aus Baden, 10 aus der Schweiz, einer aus Württemberg und einer aus Ungarn. Bei den Meistern war der Anteil der Ausländer naturgemäß am größten. Fünf brachte Bodmer aus Zürich mit (einen Schreiner, einen Drechsler, einen Schlosser, einen Spinner und einen Mühlenmacher), aus Baden stellte er den Gießmeister und einen Zeugschmiedmeister ein. Die zwölf Gesellen stammten zur Hälfte aus Baden, von den sechs Ausländern waren zwei Schweizer, die beiden Schlosser aber aus Württemberg und Ungarn. Unter den elf Lehrjungen befand sich nur noch ein Schweizer, die beiden Nebenarbeiter, ein Handlanger und ein Gärtner, waren einheimisch. Noch mehr zugunsten der Einheimischen hatte sich das Verhältnis zwei Mo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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nate später verschoben, als von 74 Arbeitern 57 aus Baden, 17 aus dem Ausland waren, wobei außer den fünf Meistern des Stammpersonals und den Mühlenmachern, die Bodmer zu Beginn mitgebracht hatte, vor allem die typischen Wanderhandwerke der Schlosser, Schreiner und Drechsler den ausländischen Die Arbeiter der Maschinenfabrik St. Blasien bei ihrer Gründung am 1. August 1809 Zahl Beruf 10 6

Schreiner Drechsler Schlosser Spinner Mühlenmacher Gießer Zeugschmied Nagler Gärtner Handlanger

32

Meister Gesellen Aus- In- Aus- Inland land land land 1 5 1 2 1 1

=5

+2

Lehrjungen Nebenarbeiter Aus- In- Aus- Inland land land land 3 4 1 3

2 1 6

+6

1 + 10



1 1 +2

Die Arbeiter der Maschinenfabrik am 1. Oktober 1809 Zahl Beruf 16 8 21 1 3 2 2

2 1 2 4 2 3 74

Schreiner Drechsler Schlosser Spinner Mühlenmacher Gießer Zeugschmiede Kupferschmied Nagler Spengler Feilenhauer Formerin Spinnerin Zylinderüberz. Gärtner Steinhauer Maurer Handlanger Handelsleute Hausmägde

Meister Gesellen Lehrjungen Nebenarbeiter Aus- In- Aus- In- Aus- In- Aus- Inland land land land land land land land Τ 5 Γ 1 2 1 3 1 5 4 10 2

1

1

1 1

=5

+7

10 + 14

1

Γ + 23

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2 1 2 4 1 1 3 Γ + 13

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Anteil stellten, deren Angehörige wohl auf dem normalen Weg des wandernden Handwerksburschen in die Bodmersche Fabrik fanden. Die Liste dieser Arbeiter zeigt jedoch zugleich, wie stark eine Maschinenfabrik der Frühzeit in die herkömmliche Gewerbestruktur eingriff, indem sie aus den vielfältigsten Berufen sich ihre Facharbeiter suchte. Das Eintreten in eine solche Fabrik kann nicht als Abstieg betrachtet werden, denn jeder der Arbeiter wurde in seinem Beruf beschäftigt, und Bodmer konnte nur Könner ihres Fachs gebrauchen. Handwerklich im besten Sinne waren die Aufgaben, die er ihnen stellte. Jeder mußte alles hergeben, was er in seinem Gewerbe gelernt hatte, um den Aufgaben gerecht werden zu können, die ihm hier gestellt wurden. Und es ist in den Wandertagebüchern der Zeit oft genug bezeugt, daß es gerade die lernbegierigen, aufgeweckten Burschen waren, die sich in den Maschinenfabriken zusammenfanden. Wenige Monate später wurden die technischen Einrichtungen der Bodmerschen Fabrik im Auftrage der badischen Staatsregierung von zwei Sachverständigen, dem Ettlinger Fabrikanten Franz Buhl und dem Heidelberger Professor der Mathematik, Hofrat von Langsdorf, einer Prüfung unterzogen. Ihr Bericht darf als die wichtigste Quelle über die Anfänge der St. Blasischen Fabrik und als eines der bedeutendsten Dokumente der frühen Geschichte des Maschinenbaus in Deutschland gelten. Er ist zugleich ein glänzendes Zeugnis für das Erfindertalent Johann Georg Bodmers und eine Rechtfertigung der Förderung, die Oberforstmeister Gerer dem jungen Mechaniker im Namen der badischen Regierung bis dahin hatte zuteil werden lassen5. Die Bodmerschen Maschinen unterschieden sich von den bisher bekannten englischen nach dem Urteil der Gutachter zwar nur in Einzelheiten, „aber die Leichtigkeit, mit welcher diese hier angebracht sind, zeichnet das Talent des Künstlers so auffallend aus, daß man dasselbe zu ehren gezwungen wird". Die wichtigste Verbesserung Bodmers war der Ersatz der witterungs- und temperaturempfindlichen Saiten, die die Umdrehung der Spindeln bewerkstelligten, durch hölzerne Ketten nach der Art der Uhrketten, an denen rhomboidisch ausgeschnittene Stücke von geschmeidigem Sohlenleder befestigt waren. Außerdem gaben Bodmers Maschinen die Möglichkeit, sowohl naß wie trocken zu spinnen, den Fadenbruch geringer zu halten und die hölzernen oder metallenen Tambours an den Kartätschmaschinen durch besonders zugerichtete und gepreßte Pappendeckel zu ersetzen, die sich nicht so wie die bisherigen Stoffe veränderten und daher gleichmäßiger arbeiteten. Ebenso große Bewunderung wie die Verbesserungen an den Maschinen selbst erregten der Herstellungsprozeß und die Organisation der Arbeit in den Bodmerschen Werkstätten, und die Kommissare nannten Bodmer, diesen 23jährigen Mann, „unter den Künstlern, was Napoleon unter den Helden und Monarchen ist". Angesichts der Tatsache, daß Bodmer 20 Jahre später in Baden schon vergessen war und auch in England als Techniker nie jenen Ruhm errang, der etwa Zeitgenossen wie Trevithick oder Nasmyth gezollt wurde, erscheint das enthusiastische Urteil des Herrn von Langsdorf stark übertrieben. Aber neuere englische Forschungen zur Technik© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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geschichte sind zu dem Schluß gekommen, daß Bodmer mit seinen Hunderten von Erfindungen und Verbesserungen an Werkzeugmaschinen in der Tat den Titel eines „ungekrönten Königs der modernen Werkzeugtechnik " verdiene6. Es ist jedenfalls das Verdienst badischer Beamter wie des Oberforstmeisters Gerer und des Hofrats v. Langsdorf, dieses Talent entdeckt und in seiner Bedeutung richtig eingeschätzt zu haben. Von Langsdorf empfahl dem Ministerium, Bodmer in jeder Weise entgegenzukommen, Doch die Regierung konnte sich nicht entschließen, den Kaufvertrag zu ratifizieren, da ihr nicht garantiert erschien, daß Bodmers Fabrik genügend Menschen beschäftigen werde, um den „Nahrungsstand" des Schwarzwaldes zu heben, und so blieben die Verhältnisse in St. Blasien noch für Monate ungewiß. Bodmer hatte inzwischen die ersten Maschinen aus seiner Werkstatt bei der Firma Buhl in Ettlingen abgeliefert und aufgestellt. Dann war er nach Paris gereist, um die Interessen seines Spinnmaschinen-Patents wahrzunehmen und wegen einer neuen Erfindung an Kanonen mit einem Hinterlader zu verhandeln. Er hatte einen Assoziationsvertrag mit dem „Ersten Kaiserlichen Mechaniker", Charles Albert, abgeschlossen, dem Erfinder einer Dampfmaschine und Besitzer einer bedeutenden Spinnerei, der sich auch mit der Herstellung von Spinnmaschinen beschäftigte. Zur Auswertung des fünfjährigen Patents auf Spinnmaschinen, das Bodmer 1808 in Frankreich erhalten hatte, hatten beide eine Interessen- und Fabrikationsgemeinschaft gegründet, der Charles Albert als Gerant, Bodmer als Kommanditist angehörte. Alberts Fabrik in Paris und Bodmers Fabrik in St. Blasien sollten jeweils die Teile herstellen, die sie billiger fabrizieren konnten. Die Artikel sollten eine Marke „Mecaniques Bodmeriennes" erhalten, der Ertrag geteilt werden, in der Finanzierung ihrer Fabriken die Partner aber selbständig bleiben. Inzwischen war jedoch Bodmers Fabrik finanziell in schlimme Bedrängnis geraten. Die Arbeiten waren während seiner Abwesenheit nur „mit allerlei Störungen im Betrieb" und mit „vielfachem Schaden infolge mangelnder Aufsicht" weitergegangen. Alte und neue Gläubiger hatten sich gemeldet. Mit der Zahlung von Materialien, Lebensmitteln und Löhnen war er im Rückstand. Am 22. Mai 1810 befaßte sich das Direktorium des Wiesenkreises mit dem „äußerst mißlichen Zustand der Bodmerschen Fabrik" und mit den „darauf angemeldeten Schulden". Es ließ Arrest auf die Effekten legen und zeigte dem Innenministerium an, daß offenbar die Fabrikanlagen zu St. Blasien bei ihrer Einrichtung nicht gehörig geprüft und angemessen beurteilt worden seien. Es sprach in harten Worten von „vernachlässigter Aufsicht" und „leichtsinnigen Schuldenkontrahierungen". Das Finanzministerium beschloß jedoch, Bodmer das Vertrauen nicht zu entziehen, seine Rückkehr aus Frankreich und die von dort einlaufenden Zahlungen abzuwarten und dann den Pachtvertrag mit ihm abzuschließen. Bodmer selbst teilte es mit, daß ihm das Kloster erst verpachtet werden könne, wenn er das zum Betreiben der Fabrik nötige Kapital nachgewiesen habe. Bodmer entschloß sich daher bei einem Besuch Alberts in St. Blasien, mit ihm und einigen noch zu findenden französischen Geldgebern eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 15 000 ffrs. zu gründen. Albert glaubte, die Interessenten in Straßburg finden zu können, kam aber unverrichteter Dinge zurück. So beteiligten sich zunächst nur Albert und Gerer mit je 10 000 fl. Das genügte nicht. Bodmer sprach daher, mit Empfehlungen aus Paris, vermutlich von dem dort ansässigen Bruder Seligmanns, dem späteren Baron Louis d'Eichthal, ausgestattet, bei dem reichen Karlsruher Hofbankier David Seligmann vor, und hier hatte er den gewünschten Erfolg. Seligmann war bereit, einen Teil seines beträchtlichen Kapitals Bodmer zur Verfügung zu stellen. Zunächst wollte er sich mit 25 000 fl. an der Aktiengesellschaft beteiligen, weitere 20 000 fl. stellter in in Aussicht. Seligmann hat später seine Beteiligung an der Gesellschaft als „ein Werk des Zufalls" bezeichnet, das eine Folge seiner „Liebhaberei für Industrie" gewesen sei7. Jedenfalls aber war mit seinem Beitritt der Bann gebrochen, der bis dahin über dem Bodmerschen Unternehmen lag. Es stand finanziell auf gesunden Füßen, und die Behörden zweifelten nicht mehr an seinem Fortbestand. Am 6. November 1810 schlossen Bodmer, Albert, Seligmann und Gerer einen Gesellschaftsvertrag8. Danach überließ Bodmer „alle seine in St. Blasien vorfindlichen Werkzeuge, Maschinen-Vorräte und Mobilien" der Gesellschaft für einen vorläufigen Kaufpreis von 20 000 fl., aus denen seine Schulden bezahlt werden sollten. Außerdem trat er alle Einkünfte aus dem mit Albert am 10. Mai 1810 geschlossenen Vertrag an die Gesellschaft ab und verpflichtete sich schließlich, während der Dauer des Gesellschaftsvertrages „in St. Blasien zu verbleiben, das dortige Etablissement . . . in artistischer Hinsicht zu leiten und alles zu dessen Emporkommen anzuwenden, was in seinen Kräften und Kenntnissen liegt". Als Entgelt erhielt er ein jährliches Honorar von 1800 fl. und, sobald alle seine die St, Blasische Fabrik betreffenden Schulden getilgt sein würden, den vierten Teil des Geschäftsgewinns. Die anderen Gesellschafter verpflichteten sich, einen Fonds von 100 000 fl. aufzubringen. Albert versprach, der Gesellschaft „gute und tüchtige Arbeiter" und später auch einen „guten und ausgelernten Spinner" zu beschaffen, für Bodmers Erfindungen in der Baumwollspinnerei französische Patente zu besorgen, den Absatz von Spinnmaschinen in Frankreich „nach Kräften zu betreiben" und zu diesen Maschinen alle Teile vorzugsweise in St. Blasien anfertigen zu lassen. Er erhielt das. Alleinverkaufsrecht aller nach dem Bodmerschen System angefertigten Maschinen in Frankreich. Seligmann übernahm die Einrichtung des Handelswesens in St. Blasien und die Geschäfte bei der Landesregierung in Karlsruhe, Gerer machte sich verbindlich, „auf die Hauptkasse des Etablissements sowie auf dessen Betrieb im ganzen, soviel es seine Amtsgeschäfte erlauben, zu wachen". Die Geschäftsführung war also nicht in zwei Teile, die kaufmännische und die technische, sondern in drei Teile geteilt: „das Artistische", das im Namen der Gesellschaft Bodmer und Albert führten, „das Merkantilische", das Seligmann durch einen Stellvertreter besorgte, und „das Ökonomische im Allgemeinen", für das Oberforstmeister Gerer verantwortlich war. In wichtigen Fällen sollten die vier Geschäftsführer zusammentreten und den Gang der Geschäfte bestimmen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Die Gesellschaft führte die Firma „Societé de St. Blaise" bzw. „St. Blasische Gesellschaft". Sie begann am 11. November 1810 und endete am 11. November 1825. Der Gesellschaftsvertrag enthielt im § 10 auch eine erste Andeutung über die Erweiterung des Unternehmens. „Die Hauptfabrikation soll zwar in Spinn- und anderen Maschinen bestehen", heißt es hier, „jedoch wird die Gesellschaft, um die neuen Maschinen in Gang zu setzen und verkäuflich zu machen, einige Serien von Maschinen im Gange unterhalten und so auch die Spinnerei selbst betreiben. Die Frage, ob mit der Zeit Weberei und Färberei damit verbunden werden sollen, behält sich die Gesellschaft nach weiterer Überlegung zu entscheiden vor." Unmittelbar nach Abschluß des Vertrages wandte sich Seligmann an den Geheimrat Volz mit der Bitte, der Gesellschaft nun das Kupfer vom Dach der Kirche in St. Blasien als Darlehen zu überlassen. Nachdem der Fortbestand des Unternehmens durch Seligmann gesichert war, verlor es jedoch für die Regierung das dringende Interesse, das es bisher gehabt hatte, und es dauerte noch fast ein Jahr, bis der Pachtvertrag unterzeichnet wurde. Er enthielt fast alle ursprünglich vorgesehenen Bestandteile9. Er übergab der Gesellschaft auf fast zehn Jahre das gesamte Kloster kostenlos, die Mahl- und die Sägmühle und sonstige Nebengebäude gegen eine ihrem bisherigen Ertrag entsprechende Pacht und den Erlös aus der Versteigerung des Kupferdaches der Kirche als Darlehen auf vier Jahre. Nach zehn Jahren sollte die Gesellschaft das Kloster für 25 000 fl. kaufen können. Die Grund- und Häusersteuer der Gebäude wurde weiterhin von der herrschaftlichen Kasse übernommen. Der Gesellschaft blieb nur die Entrichtung einer mäßigen Gewerbesteuer, die sich nicht über 30 fl. jährlich belaufen durfte; von der Vermögenssteuer, die zur Bestreitung der Kriegslasten erlassen worden war, blieb sie frei. Auch andere mögliche außerordentliche Abgaben sollten von den Unternehmern nicht erhoben werden, „jene ausgenommen, wovon auch die privilegiertesten Stände im Staat nicht frei belassen werden können". Völlig befreit wurde die Gesellschaft vom Ausfuhrzoll für ihre Erzeugnisse; nicht jedoch vom Einfuhrzoll für Rohmaterialien. Der Impost, der statt des gewöhnlichen Zolls für Baumwolle erhoben wurde, sollte jedoch nur notiert und als Fabrikationsprämie der Gesellschaft belassen werden. Erinnern schon diese Bestimmungen an das typische Manufakturprivileg des 18. Jahrhunderts, freilich ohne dessen hervorstechendstes und wichtigstes Kennzeichen, das Privilegium exclusivum, so gehen auch die in „polizeilicher Hinsicht" der Gesellschaft zugestandenen Vorrechte weit über das hinaus, was dann im Laufe des 19. Jahrhunderts üblich wurde. Außer einem zehnjährigen Patent für alle Erfindungen spricht der Vertrag der Gesellschaft die Befugnis zu, ihre „Kunstarbeiter" zehn Jahre lang an die Fabrik zu binden, Lehrlinge in allen Handwerken, die in der Fabrik betrieben werden, auszubilden und loszusprechen und für ihre Belegschaft das Bier- und Weinschank-, Back- und Metzgereirecht auszuüben. Dafür sind zwar die Konsumtionsabgaben wie die Akzise, nicht aber Gewerbesteuern zu zahlen. Außerdem übernimmt die Gesellschaft als Pächter und Eigentümer alle Wege, Straßen, Kanäle und Brücken, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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wie sie auf dem an sie übergehenden Terrain vorhanden sind. Für die Waren der herrschaftlichen Ziegelhütte in St. Blasien erhält sie ein Vorkaufsrecht, und es wird ihr zugesichert, daß die Ziegelhütte, das Gasthaus und die im Kloster noch vorhandenen „Mobilien und Materialien", wenn sie verkauft werden sollten, nur öffentlich versteigert werden, so daß sie Gelegenheit hat, dabei zu konkurrieren. Damit war nun endlich die rechtliche Grundlage für das Verbleiben der Fabrik in St. Blasien geschaffen. Uneinigkeit unter den Teilhabern drohte aber bald die Gesellschaft wieder auseinanderzureißen. In dieser Situation sprang Seligmann ein zweites Mal ein. Er übernahm die Aktien von Gerer und Albert und damit die ganze Fabrik auf seine Rechnung. Er zahlte seine Partner bar aus und beglich auch die Schulden Bodmers. Bodmer blieb zunächst sein technischer Direktor. Trotzdem florierte offenbar die Fabrik in den ersten Jahren nicht so, wie man es erwartet hatte. Noch immer waren die Aufwendungen höher als die Erträge, und Seligmann sah sich nach weiteren Erleichterungen durch den Staat um. Am 13. März 1812 bat er den Großherzog, eine Kommission einzusetzen, die den Wert seiner Fabrik für den Schwarzwald prüfen sollte. Genauso wie Hofrat von Langsdorf und Fabrikant Buhl waren die neuen Kommissäre überrascht von dem Umfang und der technischen Vollendung der Betriebe10. Bodmer hatte die Wasserkraft so verbessert, daß sie 48 PS leistete und Spinnmaschinen in drei Stockwerken treiben konnte. 154 Personen, davon 73 Inländer, waren nun in der Maschinenfabrik beschäftigt. 36 Lehrjungen, von denen nur einer aus dem Ausland kam, wurden ausgebildet. Die größte der Werkstätten war die Schreinerei. Sie beschäftigte 63 Personen. Es folgte die Schlosserei mit 38, die Dreherei und die Schmiede mit je 17 Arbeitern. In der Gießerei waren 3, in der Spenglerei 2 Personen tätig. Aber immer noch war alles im Aufbau, und die Zahl der Arbeiter, die auf längere Sicht gebraucht würden, noch nicht festzustellen. Die Lohne der Gesellen wurden mit durchschnittlich 1 fl. täglich ohne die Kost angegeben, einige kamen bis nahe an 3 fl., und „unter den geschickten Kunstarbeitern" gab es mehrere Meister, die regelmäßig 3 fl. täglich verdienten. Besonders hoben die Berichterstatter die Sorgfalt hervor, mit der man sich der Ausbildung der Lehrjungen widmete. Über die wirtschaftlichen Verhältnisse schwieg sich Seligmann bei dieser wie bei anderen Gelegenheiten aus. Nur wenige, mehr indirekte Angaben lassen die Größenordnungen erkennen. Danach beliefen sich die jährlichen Ausgaben auf mindestens 160 000 fl., in denen freilich auch die Kosten des Haushalts für die „Fabrikfamilie" eingeschlossen waren. Als Beschaffungspreis für Maschinen und Werkzeuge gab er 100 000 fl. an. Der Verbrauch an Eisen aus den staatlichen Werken in Albbruck und Kutterau belief sich vom Januar 1810 bis Juni 1812 nach amtlichen Angaben auf 5ÖÖ Zentner Gußwaren und 800 Zentner Schmiedeeisen im Wert von etwa 20 000 fl. Für Holz verschiedener Art wurden von 1809 bis 1811 5725 fl. ausgegeben. Beide Ausgabenarten zeigten steigende Tendenz. Den Umsatz nannte Seligmann auch in seiner ungefähren Höhe nicht. Doch waren bisher nur 2600 Spin27 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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deln verkauft worden, davon 1800 an Buhl. Auch über die Preise seiner Maschinen sagte Seligmann nichts. Einen großen Fortschritt hatte jedoch die Fabrik in St. Blasien seit 1809 zu verzeichnen. Neben den Maschinenwerkstätten bestand nun eine eigene mechanische Spinnerei. Noch war sie mehr eine Probeanstalt, die Kauflustigen den Gang der Maschinen demonstrieren sollte. Sie beschäftigte erst 40 Personen, meist Kinder, doch stand ihre Ausdehnung auf dem Programm. Die Kinder in der Spinnerei verdienten im Durchschnitt 15 Kreuzer täglich, also ein Viertel des Tagelohnes eines durchschnittlichen Handwerkers in der Maschinenfabrik. Aber die Kommission sah in der Spinnerei, wie die Zeitgenossen überhaupt, gerade deshalb eine gemeinnützige Anstalt, weil sie Kinder zu regelmäßiger Arbeit erzog. Zugleich wies sie diesmal freilich auch auf zwei Schwierigkeiten hin, die die Kommission von 1809 teils noch nicht erkannt, teils nicht für so wichtig gehalten hatte. Die eine lag im Standort der Fabrik. Vor allem die Verkehrsverhältnisse bildeten ein großes Hindernis. Was man zunächst, im Sinne des 18. Jahrhunderts denkend, als einen Vorzug St. Blasiens angesehen hatte, die Abgeschlossenheit, die den Wegzug der „Kunstarbeiter" erschwerte und in gleichsam klösterlicher Weltferne eine musterhafte, sich ganz selbst tragende „Ökonomie" gestattete, erwies sich unter den Bedingungen einer immer mehr sich verflechtenden Marktwirtschaft als schweres Hindernis. Industrie, so stellte es sich heraus, konnte man nicht für sich betreiben wie Kunst oder Wissenschaft, sondern man mußte den Anschluß an den Verkehr, die ständige Kommunikation, die leichte Erwerbsmöglichkeit für die hunderterlei kleinen Bedürfnisse einer Fabrik und ihrer Arbeiter haben. Die Lage zwang jedoch, die Fabrik zu einer sich selbst versorgenden Anstalt zu machen, die ihren Arbeitern sogar Unterkunft und Verpflegung stellte, die eine eigene Schule und eigene Versorgungsbetriebe brauchte. Die Fabrik mußte also — das war die Erkenntnis der Kommission — St. Blasien zu einer Industriestadt und einem Handelsplatz machen oder wieder eingehen. Die zweite Gefahr, die ihr drohte, lag in der Person dessen, dem sie ihr Entstehen verdankte. Bodmer war, das zeigte sich immer deutlicher, kein Fabrikant, auch kein technischer Betriebsleiter, sondern ein Erfinder. Was seine Größe als Techniker ausmachte, war zugleich seine Schwäche als Fabrikdirektor. Die Kommission meldete, „daß so groß auch Bodmers mechanisches Genie ist, derselbe noch zu wenig Erfahrung und vielleicht auch wissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen scheint, um dem einmal von ihm erdachten Fabrikationssystem getreu zu bleiben". Sich bloß seinem Genie überlassend, verfalle er fast täglich auf neue Ideen, verwerfe heute wieder, was er gestern erst erdachte, verzögere dadurch die Ausbildung der einzelnen Werkstätten, vermehre den Kostenaufwand und raube dadurch St. Blasien den eigentlichen Fabrikcharakter, „der sich in einer stets gleichen Arbeit aussprechen muß". Während des zehntägigen Aufenthaltes der Kommission in St. Blasien waren die beiden wichtigsten Maschinen, die Teilungs- und die Kannaliermaschine nicht gelaufen, weil man damit beschäftigt war, neue Verbesserungen anzubringen. Auch bei den nach Ettlingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gelieferten Spinnmaschinen war die zweite Sendung nach einem anderen System gearbeitet als die erste. „Nichts schadet aber wohl einer beginnenden Anstalt mehr als häufige Veränderungen in dem einmal angenommenen Fabrikationssystem." In diesen beiden Bemerkungen zeigt sich der eigentümliche, ja vielleicht einmalige Charakter der Fabrik von St. Blasien. Nach Grundsätzen geplant und aufgebaut, die einer älteren Zeit angehören, wirkt in ihr ein Techniker als treibende Kraft, dessen Arbeitsweise ganz der „modernen" Industriewelt zugehört, ein Konstrukteur von hohen Graden, der ein eigenes Ingenieurbüro braucht, um seine Ideen zu realisieren und an die industriellen Bedürfnisse zu adaptieren. Man könnte sich Bodmer als Entwicklungschef einer großen Firma des 20. Jahrhunderts vorstellen oder noch besser als Inhaber eines eigenen Ingenieurbüros, wüßte man nicht, daß er als self-made-man, der keine Schulen besucht hat, ganz in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gehört, die noch keine technischen Ausbildungsstätten kennt. Es ist daher kein Zufall, daß Bodmer seine eigentliche Lebensaufgabe erst in England fand, wo allein zu dieser Zeit die Möglichkeit gegeben war, als schöpferischer Techniker zu leben. Nur hier gab es genügend industrielle Umwelt, die nach seinen Ideen fragte, nur hier die Unternehmer, die es sich leisten konnten und die davon Nutzen hatten, wenn sie Bodmer ein eigenes Konstruktionsbüro zur Verfügung stellten. Wenn Bodmer wenige Jahre nach dem Besuch der Kommission von 1812 aus der Fabrik St. Blasien ausschied, so ist das nicht nur auf seine völlige finanzielle Überanstrengung oder auf persönliche Zwistigkeiten mit Seligmann zurückzuführen. Nach allem, was wir nachträglich von ihm und vor allem von Seligmann über die Gründe des Konflikts erfahren, handelte es sich dabei um den typischen Gegensatz von Techniker und Finanzmann. Bodmer hauste ohne Rücksicht auf die Mittel, die Seligmann zur Verfügung stellen konnte; Seligmann aber wollte Ergebnisse sehen. Für ihn als Kaufmann zählten naturgemäß nicht die Investitionen und die Produktion, sondern der Verkauf, Mit bitteren Worten hat er sich später immer wieder über Bodmers Verhalten beklagt, „Ich weiß, was er mit fremdem Gut zu unternehmen fähig ist, wenn er darüber zu disponieren befugt ist", schreibt er in einer Eingabe an das Finanzministerium11. Und ein andermal, als Bodmer schon einige Jahre Oberverwalter der badischen Hüttenwerke in Albbruck ist, bemerkt er — und noch immer spricht die Kränkung aus seinen Worten: „ . . . Er ist aber ein Genie. — Das ersetzt vieles: nur ist der Ersatz mit Kosten verbunden; daher waren Hunderttausende meines redlich erworbenen Vermögens zu diesem Zweck notwendig."12 Bodmer andererseits hat das Gefühl, seine beste Kraft der Fabrik gewidmet und keinen Nutzen davon gehabt zu haben. „Bekanntlich habe ich alle Zeit, die ich nicht für den Dienst gnädigster Herrschaft verwenden mußte, in dem Etablissement des Herrn von Eichthal zugebracht, um die dortigen technischen Geschäfte zu führen", berichtet er seinerseits dem Finanzministerium, „ohne daß eine mündliche noch schriftliche Übereinkunft über die Art, wie ich dies zu besorgen habe oder wie die Arbeiten eingeteilt werden müssen, getroffen wurde, 27*

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sondern ich unterzog mich diesem Geschäft stillschweigend nach meinen besten Kräften nur zum Nutzen des Eigentümers."13 Solange beide noch miteinander arbeiteten, wuchs trotz aller Schwierigkeiten die Fabrik zu einer erstaunlichen Hohe. Im Herbst 1816 besuchte auf Antrag des Eigentümers, des nun zum Freiherrn von Eichthal avancierten David Seligmann, erneut eine Regierungskommission St. Blasien. Wieder war ihr Gutachten voll Lob und Verwunderung ob der industriellen Anstalten, die sie im hohen Schwarzwald antraf. Inzwischen hatte die Fabrik St, Blasien in der Tat eindrucksvolle Beweise ihres Wertes geliefert. Die Fabrikbevölkerung, die 1812 erst 246 Menschen betragen hatte, war inzwischen auf 809 angestiegen. 592 Personen waren in den drei Fabriken beschäftigt, 9 auf den Büros, 45 in der Landwirtschaft, 21 als Handwerker; dazu kamen 142 mit im Fabrikgelände lebende und wohnende Frauen und Kinder. Ihrer Herkunft nach waren die Arbeiter weit gestreut; nicht nur Franzosen und Schwarzwälder kamen hier zusammen, sondern Handwerker aus vielen Teilen Deutschlands, aus Prag, Berlin und Leipzig, aus Bayern, Württemberg und der Schweiz. 73 arbeiteten in der Maschinenfabrik. Nach wie vor war sie der kostbarste und wichtigste Teil. Außer den Maschinen für den eigenen Betrieb und den Spinnmaschinen konnte sie nun Werkzeugmaschinen für die Herstellung von Gewehrschlössern und einen Balancier für die Münze in Mannheim vorweisen. Die Spinnerei besaß nun 12 000 Spindeln. Bei den neuesten Maschinen konnten 960 Spindeln von einer Person bedient werden. 324 Arbeiter waren hier beschäftigt, meist Kinder, deren Eltern in der Nachbarschaft St, Blasiens lebten. Auch die erwachsenen Spinner waren meist Schwarzwälder. Der Absatz ging vor allem nach der Schweiz. Der Abfall der Maschinenspinnerei wurde in der Umgegend St. Blasiens in Handarbeit zu grobem Garn versponnen und brachte so einen Nebenverdienst ins Land. Als dritter Teil war eine Gewehrfabrik hinzugekommen, nachdem das Kriegsministerium am 10. Oktober 1813 einen Vertrag mit der Gesellschaft abgeschlossen hatte, der ihr einen bestimmten Absatz und die Freistellung ihrer Arbeiter von dem Militärdienst garantierte. Hier waren 193 Menschen beschäftigt, darunter 68 Konskribierte. Auch hier mußte mit ausländischen Arbeitern begonnen werden; inzwischen konnten aber die meisten Arbeitsplätze mit Einheimischen besetzt werden. Das Herzstück der Gewehrfabrik bildete die Schloßmechanik. Dort arbeiteten 14 „äußerst wichtige" Maschinen bodmerscher Konstruktion, die noch in keiner anderen Gewehrfabrik bekannt waren. Sie feilten, drehten und bohrten die rohgeschmiedeten Schloßteile „ohne weitere Bearbeitung durch Menschenhände" und brachten nicht nur bei einer geringeren Anzahl von Arbeitern einen höheren Ausstoß wie zuvor, sondern vor allem einen ungewöhnlich „hohen Grad von Akkuratesse" der Arbeit, der die Austauschbarkeit der Stücke ermöglichte14. Damit war das von Ely Whitney in Amerika 1798 erstmals angewandte Prinzip der Austauschbarkeit auch auf dem europäischen Kontinent ein© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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geführt. Bodmer hatte damit sein erstes Meisterstück auf dem Gebiet des Werkzeugmaschinenbaus geleistet. An die Gewehrfabrik schloß sich eine Feilenhauerei an, die neun Arbeiter, davon fünf Inländer, beschäftigte. Die Hauptperson war ein Engländer, denn er erteilte den Einheimischen Unterricht. Die Abgelegenheit St. Blasiens brachte es mit sich, daß sich die Fabrik nicht in den Produktionswerkstätten erschöpfte, sondern eine eigene „Ökonomie" besaß. 27 Männer und 18 Frauen arbeiteten in der Landwirtschaft. Sie versorgten die gesamte Fabrikbevölkerung, denn alle Arbeiter wohnten im Klostergebäude selbst. Die verheirateten führten ihren eigenen Haushalt, die ledigen erhielten gemeinschaftliche Verpflegung und Wohnung. Die Beschreibung dieses gemeinschaftlichen Lebens erinnert an Praktiken, die im Frühstadium der Industrialisierung auch heute noch, vor allem in China, versucht werden. Sie zeigt, daß die Verpflanzung der Industrie in eine gewerblich nicht vorbereitete Gegend besonderen Schwierigkeiten begegnet und offenbar besondere Lebensformen, wenn nicht nötig, so doch nützlich macht. Außer für Wohnung, Kost und Krankenpflege sorgte die Fabrik auch für Schulunterricht und Gottesdienst. Den Verdienst der Arbeiter befand die Regierungskommission auch 1816 als gut. „Jeder, der nicht mehr Lehrling ist, kann sich neben freier Kost und Quartier in einigen Jahren soviel zurücklegen, daß er in den Stand kommt, sich selbst zu etablieren." In der Gewehrfabrik kamen die Arbeiter nach Abzug der Kosten für Quartier und Verpflegung, wofür ihnen 32 Kreuzer täglich angerechnet wurden, auf einen frei verfügbaren Lohn von 20 bis 50 Gulden im Monat, oder, den Monat zu 26 Arbeitstagen gerechnet, auf einen Tagelohn von 1½ bis 2½ fl. Die Kinder in der Spinnerei erhielten Kost und Wohnung frei, daneben 20 bis 25 Gulden im Jahr, sie kamen, das Arbeitsjahr mit 300 Tagen gerechnet, somit auf 14—16 Kr. am Tag. Mehr trug die Kinderarbeit auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts selten ein. 1816 aber wären viele erwachsene Handspinner froh gewesen, hätten sie diesen Tagelohn erreicht, und mancher Schulmeister auf dem Lande kam kaum höher als diese Fabrikkinder, stellte doch der Badische Merkur noch 1831 fest, daß der staatliche Zuschuß zur Lehrerbesoldung kaum hinreiche, jedem Lehrer ein Minimum von 100 fl. im Jahr zu sichern15. Die Zahlungen an sämtliche Fabrikarbeiter beliefen sich in acht Monaten auf 50 345 fl., auf das Jahr umgerechnet auf 75 527 fl. Die Kost für Wohnung und Verpflegung setzte die Kommission in etwa der gleichen Höhe an; sie errechnete so einen Lohnaufwand von jährlich 150 000 fl. Das bedeutet einen durchschnittlichen Tagelohn von 50 Kreuzern. Nach allem, was wir über die Lohnhöhe in Baden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wissen16, besteht somit das Urteil der Kommission, daß die Löhne gut seien, zu Recht. Wie hoch die anderen einmaligen oder laufenden Unkosten des Betriebs waren, gab Seligmann diesmal ebensowenig an wie vier Jahre zuvor. Er versicherte vielmehr der Kommission, „daß in seinem ganzen Etablissement nichts © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ein Geheimnis sei als das, was er schon aufgeopfert habe, um dasselbe unter den ungünstigen Verhältnissen der Zeit soweit zu bringen als es jetzt ist und um das Verhältnis herbeizuführen, unter dem es sich einzig rentieren könne". Die Kommission berechnete jedoch aus den Bezügen aus den herrschaftlichen Eisenwerken, aus den Kosten des Wasserreservoirs und aus dem Wert der maschinellen Einrichtung, daß mindestens 700 000 bis 800 000 Gulden in dem Werk stecken mußten. Und sie kam zu dem Ergebnis, daß es nur nutzbringend arbeiten könne, wenn der Arbeitslohn und die Gesamtkosten herabgesetzt würden. Sie schlug daher der Regierung vor, der Fabrik einige finanzielle Erleichterungen zu verschaffen, vor allem die Steuerfreiheit für weitere fünf Jahre zu verlängern und für den Verkauf staatlicher Güter an die Fabrik niedrige Preise festzusetzen. 1823 bat der Freiherr von Eichthal noch einmal um Zoll-, Akzise- und Gewerbesteuerfreiheit auf zehn Jahre für St. Blasien, und noch einmal kam ihm der Großherzog großzügig entgegen. Während das Finanzministerium nur auf eine dreijährige Befreiung antrug, genehmigte er die zehnjährige Frist17. Um diese Zeit hatte Bodmer nicht nur St. Blasien, sondern auch das badische Land bereits verlassen und war nach England übergesiedelt. Seitdem hatte die Fabrik in St. Blasien ihren Höhepunkt überschritten. Jahrelang konnte sie den erreichten Stand wohl noch halten, aber das Fehlen des belebenden Elements, des technischen Fortschritts, den Bodmer wie kein anderer im Baden seiner Zeit verkörperte, machte sich auf die Dauer bemerkbar. 1821 stand die Arbeiterzahl noch auf 800. Aber das Schwergewicht hatte sich von der Maschinenfabrik und der Gewehrfabrik schon mehr zur Spinnerei verlegt. Keiner der Arbeiter stammte mehr aus dem Ausland. Als weitere Bestandteile des Unternehmens hatte sich Eichthal noch das herrschaftliche Eisen- und Hammerwerk in Kutterau bei St. Blasien angegliedert, auch eine chemische Schnellbleiche eingerichtet. Jährlich verbrauchte er nun 2000 bis 3000 Zentner Roh- und Gußeisen und dieselbe Menge Stabeisen, 500 bis 600 Zentner Stahl, mehrere hundert Zentner Zinn, Blei, Messing und Kupfer, 500 bis 600 Stämme Holz und 300 bis 400 Zentner Baumwolle. Als Arbeitslohn gab er mit 120 000 fl. jährlich eine Summe an, die etwas niedriger lag als der Aufwand für Lohn, Kost und Wohnung der Arbeiter im Jahre 1816, aber beträchtlich über dem damals ausgezahlten Jahreslohn. Nähere Angaben machte Eichthal auch diesmal nicht18. Insbesondere vermied er wieder jede Größenangabe für den Umsatz. Wenn nach einem Bericht des Oberrheinkreises der Wert der Produktion zu Beginn der 20er Jahre bei 60 000 fl. gelegen haben soll, so war das offensichtlich zu niedrig gegriffen19. Vermutlich lag dem eine Angabe Eichthals zugrunde, die man, nach der Faustregel des badischen Finanzministeriums für die Größenangaben in der Gewerbestatistik, verdoppeln muß. Dann kommt man auf die gleiche Summe, die Eichthal 1821 an Arbeitslöhnen gezahlt haben will, und damit der Wirklichkeit offensichtlich viel näher. Man wird den Wen der hergestellten Produkte wohl mindestens mit 150 000 fl. ansetzen müssen. In den 20er Jahren ist Freiherr von Eichthal ganz damit beschäftigt, das Er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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reichte zu halten. Jetzt wird er auch rechtlich Herr über seine Fabrikarbeiter. Schon 1815 waren zunächst die Arbeiter der Gewehrfabrik der Polizeiaufsicht des Unternehmers unterstellt worden. Am 16. August 1827 genehmigte der Großherzog schließlich die Gründung einer Fabrikgemeinde. Nach der Verkündigung der neuen Gemeindeordnung von 1835 mußte sie, wie jede andere Gemeinde, einen Bürgermeister, Gemeinderat und Gemeinderechner wählen. Die Einwohner ohne Gemeindebürgerrecht galten als Staatsbürger und standen unter der Ortspolizei des Bürgermeisters. Die Fabrikgemeinde hatte ein Steuerkapital von 128 445 fl. (weit mehr als der Ort St. Blasien mit 20 990 fl.) und umfaßte auch die von den Besitzungen Eichthals umschlossenen ärarischen und privaten Besitzungen. Am 11. August wurde der Freiherr von Eichthal von vier wahlberechtigten Bürgern mit drei Stimmen zum Bürgermeister gewählt und vom Bezirksamt bestätigt20. Zu Beginn der 30er Jahre scheint der Scheitelpunkt der Entwicklung der St. Blasischen Fabrik überschritten zu sein. Das besondere Staatsinteresse erlosch. Die Privilegien Hefen 1828 aus. St. Blasien mußte sich in die allgemeinen Regeln des Gewerbelebens in Baden einfügen. Es ist wie ein Schlußstrich unter die besondere Verbundenheit der badischen Regierung mit dem Werk in St. Blasien, wenn der Kreisdirektor Dahmen in Freiburg am 16. November 1831 schreibt, daß, was auch immer das Schicksal des Werkes und seines Unternehmers sein werde, „die große Frage" der Erziehung des Schwarzwälders zur Fabrikindustrie „für den Staat" gelöst sei. „Der Volkscharakter hat eine Richtung erhalten, die schon in einem Menschenalter die reichlichsten Früchte in jedem Individuum tragen wird." Es nützte dem Freiherrn von Eichthal im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf der Zukunft wenig, wenn der Kreisdirektor noch einmal in überschwenglichen Worten auf seine ungewöhnlichen Verdienste hinwies, auf seinen „seltenen, glücklicherweise mit reichen Mitteln gepaarten" Unternehmungsgeist, seine „keine Opfer scheuende" Tätigkeit und das „belebende Feuer", das er im Schwarzwald im „reinsten staatswirtschaftlichen Sinne" entzündet habe21. Von nun an zählte nicht mehr sein Patriotismus, sondern seine Leistungsfähigkeit als Fabrikant. Damit war es aber nicht zum besten bestellt. Daß er in den technischen Fabrikgeschäften nicht „sonderlich verständig", dafür aber eigenwillig gewesen sei, ist mehrfach überliefert. Auch seine anderen industriellen Unternehmungen lassen darauf schließen. Die seit langem betriebene Krappfabrik in Grötzingen florierte nie besonders, das große Projekt einer Marmorfabrik wurde begraben, ehe es ganz geboren war, die Karlsruher Spielkartenfabrik, die er eine Zeitlang besessen hatte, gab er 1804 auf, verschiedene kleinere Versuche, in Grötzingen einen zusätzlichen Betrieb aufzubauen, der das Saisongeschäft der Krappverarbeitung ergänzen könne, scheiterten, und auch die Zuckerfabrik, die er schließlich mit dem Anschluß an den Zollverein errichtete, bestand nur einige Jahre. Von Eichthal hat sein Interesse für die Industrie selbst als „unglücklich" bezeichnet. Durch sie sollte er verlieren, was seine Vorfahren und er im Handel- und Bankgeschäft, durch Hof- und Militärlieferungen und als Verwalter des staatlichen Salzmonopols gewonnen hatten. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Es ist eigentümlich, daß wir aus den dreißiger Jahren, als die badische Industrie ihren ersten großen Aufschwung nahm, von der Fabrik in St. Blasien fast nichts mehr hören. Eichthal zählte zwar immer noch zu den bekanntesten Industriellen des Landes, aber er stand nicht mehr allein. Der Zollverein veranlaßte die Gründung zahlreicher Spinnereien in Baden und vermehrte somit die Konkurrenz für die Eichthalschen Fabrikate im Inland, ohne daß er durch einen hohen Zollschutz ihn vor der ausländischen stärker als bisher schützte. Durch technische Verbesserungen suchte v. Eichthal sein Werk auf der Höhe zu halten. So ersetzte er die Wasserräder durch Turbinen, und als auch diese nicht genügend Kraft lieferten, stellte er 1840, als erster auf dem europäischen Kontinent, eine Turbine der Konstruktion Fourneyrons auf, die bis zum Aufkommen der Kaplanschen Turbinen am Ende des Jahrhunderts zu der führenden Turbinenkonstruktion wurde. Trotzdem sehen wir zu Beginn der vierziger Jahre den Freiherrn von Eichthal in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten. Am 4. April 1840 nimmt er beim Handlungshaus Philipp Nikolaus Schmidt in Frankfurt ein Darlehen von 600 000 fl. auf und verpfändet dafür einen Teil seiner Gebäude und Liegenschaften in St. Blasien. Drei Jahre später verkauft er die Hammerschmiede mit der Eisengießerei, zwei Laborantenhäusern, einer neuen Kohlenscheuer und allem Zubehör an die großherzogliche Domänendirektion22. Ende 1844 bittet er um ein staatliches Darlehen wegen der „augenblicklich ungünstigen Handelsverhältnisse". Noch immer beschäftigt die Fabrik gegen 400 Arbeiter, außerdem mittelbar viele Fuhrleute, Kohlenbrenner, Holzmacher und Handwerker. Das Darlehen wurde jedoch nicht oder nicht schnell genug gewährt. Auch der Versuch, die Liegenschaften in St. Blasien an den Staat zu verkaufen, scheiterte, da Eichthal die gebotenen 100 000 fl. nicht genügten. So schenkte er am 8. September 1845 seinem Schwiegersohn, dem Bezirksbaumeister Berckmüller in Karlsruhe, „sein sämtliches Besitztum in St. Blasien an Gärten, Gebäuden, Fabrikeinrichtungen nebst beweglichen und unbeweglichen Gegenständen zu Eigentum, um hierdurch der Frau des Geschenknehmers für ihr mütterliches Vermögen Ersatz zu leisten". Berckmüller übernahm die Verpflichtung, mit einer sich bildenden Handelsgesellschaft die Spinnerei in St. Blasien fortzutreiben und seinem Schwiegervater eine jährliche Rente von 6000 fl. zu zahlen. Kurz darauf wurde zwischen den Hauptgläubigern der Fabrik, Berckmüller, dem Hofrat Dr. Friedrich Ferdinand von Kersdorf in Augsburg (einem Neffen Eichthals) und Dr. med. Karl Kusel aus dem Bankhaus Kusel in Karlsruhe, ein Gesellschaftsvertrag geschlossen mit dem Ziel, die Besitzung allmählich von Schulden freizumachen und Eichthal die Rente zu zahlen. Für ein paar Jahre konnte sich die Gesellschaft über Wasser halten. Aber die allgemeine Krise in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre scheint über ihre Kraft gegangen zu sein. Der Zusammenbruch des Bankhauses Schmidt in Frankfurt, die sich anschließenden Konkurse der großen Karlsruher Bankiers Haber und Kusel zogen auch St. Blasien mit sich. Am 24. Mai 1850 meldete das Bezirksamt, daß bis auf 26 alle Arbeiter entlassen seien und die Fabrik nur noch sehr schwach betrieben © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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werde. Im Juni 1850 hört der Betrieb ganz auf, Anfang Februar 1851 werden die Zahlungen eingestellt. Nach amtlicher Erkenntnis wird die Zahlungsunfähigkeit auf den 17. Juni 1850 festgesetzt. Die Liquidation ergibt eine Schuldensumme von 878 393 fl., der ein Gesellschaftsvermögen von 104 396 fl. gegenübersteht, in das sich die Gläubiger auf dem Vergleichsweg teilen. 1840, als Eichthal sein Darlehen nahm, war der Wert seines Vermögens in St. Blasien noch auf 1,5 Mill. Gulden geschätzt worden23. Als man 1851 zum Zwecke der Versteigerung die Anlagen wieder schätzte, wurden sie noch mit 185 748 fl. bewertet. Die Versteigerung am 11. Oktober 1852 brachte ganze 87 000 fl. Den Zuschlag erhielt der Bankier J . E. Obermayer aus Augsburg, der sich im nächsten Jahr mit dem Schopfheimer Fabrikanten C. W. Grether assoziierte und Grether den Wiederaufbau der Spinnerei ganz überließ. Grether ließ einen neuen Kanal für die Turbinen und das Wasserrad der mechanischen Werkstätte legen, so daß die gesamte Wasserkraft nun 270 PS betrug, stellte eine Dampfmaschine für die Heizung auf und schaffte neue Maschinen an. 1855 beschäftigte die Fabrik wieder 296 Arbeiter, darunter 170 Kinder. Sie besaß 48 Selfactors mit 19 300 Spindeln und verarbeitete Rohstoffe im Wert von 120 000 fl. Ihr Umsatz betrug nach Angaben für die Statistik 170 000 fl.24. Die Arbeiter hatten wie unter Eichthal ihre Schlafstätten im Kloster. Für Kost mußte nun jeder selbst sorgen. Auch die beiden Krankenstuben und eine Unterstützungskasse wurden aufrechterhalten, jedoch nicht mehr vom Fabrikanten, sondern aus Beiträgen und Strafgeldern der Arbeiter getragen. Der Taglohn eines männlichen Arbeiters belief sich nun im Durchschnitt auf 1 fl. 12 kr., der Arbeiterin auf 44 kr. Die Weberei, die Eichthal nur probeweise auf einigen Stühlen eingeführt hatte, ergänzte die Spinnerei. Grether fertigte eine Zeitlang Zeuge aus weißer und gebleichter Baumwolle an, doch 1862 stellte auch er die Weberei wieder ein25. 1869 hatte die Spinnerei St. Blasien 284 Arbeiter, Sie gehörte damit nicht mehr zu den ersten, aber immer noch zu den größeren Fabriken des Landes. Grether vererbte sie seinem Schwiegersohn Ernst Friedrich Kraft, von dem sie auf den Sohn und die Enkelsöhne überging, bis sie im Jahre 1933 als Opfer der Weltwirtschaftskrise endgültig ihren Betrieb einstellte. Überblickt man die ersten vierzig Jahre ihrer Geschichte, so lassen sich einige bemerkenswerte Züge herausarbeiten. St. Blasien stellt innerhalb der badischen Industrie einen einmaligen Fall dar, der aber exemplarisch sein dürfte für die Versuche, in eine für die Industrialisierung wenig vorbereitete Landschaft eine Fabrik und damit die moderne Industrie überhaupt zu verpflanzen. Gewiß waren die Schwarzwälder als gewerbefleißiges und geschicktes Volk nicht gänzlich ohne Voraussetzungen für diesen Versuch. Immerhin war es ja Jahrzehnte zuvor schon gelungen, verschiedene Heimindustrien hier einzuführen. Trotzdem kann man sich kaum eine Umwelt denken, die der Industrie größere Hindernisse in den Weg hätte legen können. Entgegen allen, damals freilich noch kaum vorhandenen Lehren vom richtigen Standort, wurde die Fabrik, fern jeden Verkehrs, in das unwegsame Gebirge gesetzt, selbst der wesentliche Vor© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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zug eines Gebirges, die Wasserkraft, war nicht besonders günstig. In gewisser Weise kann man in der Wahl eines Klosters eine fast symbolische Handlung erblicken; zum zweitenmal sollte hier, nun in säkularisierter Form, ein Ausgangspunkt der Kultur geschaffen werden. Aber im Vordergrund standen doch die praktischen Überlegungen, daß man leerstehende Gebäude nutzen und der Bevölkerung einen Verdienst schaffen müsse. Als treibende Kraft dieses altertümlichen Versuchs erscheint nun aber ein sehr moderner Techniker, nicht einer von jenen gerade im schwäbisch-alemannischen Raum so häufig zu findenden bedächtigen Typen, die in heimischen Traditionen wurzelnd sich gemächlich neuen Formen anpassen, sondern ein Mensch, dessen Erfindungs- und Fortschrittswut keine ruhige Entwicklung aufkommen läßt und der seine Fabrik sprunghaft vorantreiben will, bis sie zu den ersten der Welt zählt. Die Vertreter des Staates, der von Anfang an wesentlich engagiert ist, sind sich der Einmaligkeit und Großartigkeit dieses Versuchs gewiß bewußt, können sich jedoch nicht entschließen, ihrerseits eine der Größe des Experiments entsprechende Anstrengung zu unternehmen, sondern lassen sich ihre Unterstützung Schritt für Schritt abringen, nicht eigentlich widerwillig, auch nicht skeptisch, sondern lediglich zögernd, hinhaltend, abwartend. Man kann nicht sagen, daß die badischen Beamten nicht begriffen hätten, welche Chance sich dem Lande hier bot. Geradezu beschwörend ist die Denkschrift, die der für die Hüttenwerke verantwortliche Geheime Referendär Volz 1816 verfaßt, als Bodmer im Begriff ist, nach England zu gehen. Um ihn endgültig für Baden zu gewinnen, lenkt er die Aufmerksamkeit der „Staatsmänner" auf die Frage, ob Baden es gleichgültig geschehen lassen könne, daß er „sein großes Talent" ins Ausland bringe, nachdem er in fünf bis sechs Jahren ein so vollendetes Werk in den Schwarzwald gestellt hat, „daß außer in England nichts ähnliches gefunden werden kann"26. Man kann auch nicht sagen, daß die Verantwortlichen, der Großherzog und die Minister, diesen Ruf nicht gehört hatten. Immerhin gingen sie auf die Volzschen Vorschläge ein, bewilligten Bodmer eine staatliche Anstellung mit einem Gehalt — 6000 Gulden im Jahr — das damals kaum ein Minister bezog. Immerhin gelang es ihnen, Bodmer noch sechs Jahre im Lande zu halten. Man wird durchaus sagen können, daß sie sich dem Argument von Volz — „je weniger wir durch Handelsgesetze Vorteile erreichen können, desto wichtiger sind Talente, welche die Konkurrenz besiegen" — nicht verschlossen. Aber dann geschah doch auch wieder nichts Entscheidendes. Man besoldete Bodmer zwar, aber die Reisekosten nach England, die man ihm versprochen hatte, bekam er nie ersetzt, man benutzte zwar sein Talent, aber nicht in der außergewöhnlichen Weise, die ihm zugekommen wäre. Und schließlich ließ man ihn ohne weiteres ziehen. Niemals ist in Baden der Versuch wirklich gemacht worden, den Preußen seit Friedrich dem Großen und weit bis ins 19. Jahrhundert immer wieder praktizierte, die staatlichen Werke als Musteranstalten für die private Industrie auszubauen. Die Industrialisierung ist für Baden kein Programm. Man stemmt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sich nicht gegen sie, man begrüßt sie und fördert sie auch, aber ihre ganze umwälzende Kraft für die Sozial- und Wirtschaftsverfassung erkennt man nicht. Im Grunde wehrt man sich doch gegen sie, denn so sehr das einzelne industrielle Werk begrüßt wird, so mißtrauisch ist man gegen das „Fabriksystem" als Ganzes, wie man es in England und teilweise in Frankreich und Preußen zu erkennen glaubt. Das „glückliche Badnerland" sollte so bleiben, wie es war — ein Land tätiger Bauern und Bürger, kleiner Gewerbe und treuer Beamter, ein Land des mäßigen Fortschritts, der behutsamen Neuerung, der klugen Selbstbescheidung. Daß die Grundlagen, auf denen diese Ideale beruhen, brüchig werden, daß neue, vorwärtsdrängende Kräfte sich melden, daß unbekannte Probleme auftauchen, die neue Lösungsmethoden fordern, kurz, daß eine neue Zeit sich anbahnt, dringt nur manchmal und noch nicht recht glaubhaft an das Ohr der Zeitgenossen. Noch lassen mehr die politischen Stürme, von der liberalen und radikalen Opposition entfacht, das Land aufhorchen. Die politische Verfassung, obwohl die fortschrittlichste Deutschlands, wird fragwürdig; die soziale und wirtschaftliche scheint unangefochten zu stehen. Und die Fabrik in St. Blasien, eine der frühesten und großartigsten Deutschlands, wirkt noch wie ein Fremdkörper in einem agrarisch-kleingewerblich orientierten Land.

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Drei Schweizer Pioniere der Industrie Johann Conrad Fischer 1773—1854

Johann Caspar Escher 1775—1859

Johann Georg Bodmer 1786—1864

Im Sommer 1814 reisten zwei Schweizer Unternehmer unabhängig voneinander nach England, um die Fortschritte der britischen Industrie zu studieren. Der eine von ihnen, Johann Caspar Escher aus Zürich, der Gründer der Firma Escher Wyß, betrat zum erstenmal englischen Boden; der andere, der Schaffhauser Kupferschmied und Stahlindustrielle Johann Conrad Fischer, hatte hier schon vor zwanzig Jahren als Wanderbursche entscheidende Eindrücke empfangen. Escher blieb drei Monate und sah außer London und dem mittelenglischen Industriegebiet auch Schottland, Fischer nahm sich nur fünf Wochen und besuchte vor allem die Firma Boulton & Watt in Soho bei Birmingham, die erste Dampfmaschinenfabrik der Welt. Beide veröffentlichten Notizen von ihrer Reise, die der junge Zürcher Mechaniker Johann Georg Bodmer eifrig studierte, ehe er sich 1816/17 auf eine ähnliche Studienfahrt begab, um sich für das Amt eines Oberverwalters der badischen Hüttenwerke Albbruck vorzubereiten. Auch er führte ein Tagebuch auf dieser Reise, das aber erst 120 Jahre später veröffentlicht wurde. Alle drei Reiseberichte gehören zu den aufschlußreichsten Dokumenten der Frühgeschichte der kontinentalen Industrie und sind besonders eindrucksvolle Beweise von dem großen Anstoß, den die ersten Pioniere der Industrialisierung in England erfahren haben1. „Indessen wüßte ich mir jetzt doch kein Land und keine Stadt auf diesem Planeten zu denken, die so viel Reiz für mich hätte als die, der wir entgegengehen", beschließt Johann Caspar Escher seinen ersten Brief aus Calais, und Johann Georg Bodmer bekennt nach der Besichtigung eines Londoner Eisenwerks: „Wie weit wir, gerade auch in dieser, unserm Lande so nöthigen Brangen hinter den Engländern sind, ist unbegreifflich . . ."2 Immer wieder vergleichen diese lernbegierigen Techniker die heimischen Zustände mit dem, was sie im Mutterland der Industrie zu sehen bekommen, und meist fällt der Vergleich zuungunsten ihrer Heimat aus. „Es ist hier alles weit vollkommener als in Schottland", notiert Escher in Manchester, „es herrscht eine unglaubliche Reinlichkeit, die wir nie zu ereichen imstande sind, wir müßten denn alle unsere Leute fortjagen und neue Schüler erziehen." Und Bodmer resümiert seinen Eindruck von einer Spinnerei in der gleichen Stadt: „Wie hart wird es halten, unsere Deutschen dahin zu bringen"3. Nur der selbstbewußte Schaffhauser Handwerksmeister Fischer findet hie und da etwas auszusetzen an den englischen Methoden und der Hartnäckigkeit, mit der das Inselvolk an seinen Vorurteilen allem Ausländischen gegenüber festhält. Als er die mühsame, „ja man möchte fast sagen einfältige Art", Uhrenfedern zu verfertigen, sieht, kann er

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sich eines überlegenen Lächelns nicht erwehren und versucht seine mißtrauischen Gastgeber zu belehren; aber wenn er auch die Überlegenheit der deutschen Hammerschmiede „an Fertigkeit und Kraft" betont, so bewundert er doch zugleich die „verständige Einrichtung" des englischen Industriewerks, das alle nötigen Werkzeuge auf dem Raum eines Wohnzimmers zu arrangieren weiß, und als er die große Dampfmaschinenfabrik Boulton & Watt verläßt, ist auch er voll nachdenklicher Betrachtung, „wie weit Fleiß, Verstand und Beharrlichkeit den Menschen bringen können"4. Denn in einem sind sich die drei Schweizer Reisenden einig: Neben der Produktion besserer Werkstoffe und Maschinen ist die Benutzung der Energie der Dampfmaschine der Schlüssel zur Industrialisierung des Landes, der Quell, aus dem Wohlstand und Fortschritt fließen. „Ungeheuer ausgebreitet ist der Gebrauch der Dampfmaschinen in England", schreibt Johann Caspar Escher am 30. August 1814 aus Glasgow, „alle Fabriken, in denen Öfters große Lasten gehoben oder anhaltende Bewegungen hervorgebracht werden müssen, besitzen dergleichen. Selbst bei einem Bratspießmacher sah ich gestern im Vorbeigehen eine niedliche kleine Dampfmaschine, die ihm seine Drehstühle und Räderschneidzeuge in Bewegung setzte und beinahe keinen Platz verschlug."5 Als die drei Schweizer England besuchten, hatten sie selbst schon reiche Erfahrungen auf technischem Gebiet gesammelt und bedeutende Leistungen erbracht. Johann Conrad Fischer, der älteste von ihnen, hatte sich nach einer mehrjährigen Wanderschaft durch Deutschland, Schweden, England und Frankreich 1795 in seiner Vaterstadt als Kupferschmied niedergelassen, das Meisterrecht der Schmiedezunft erworben und im Jahre 1802 im Mühlental bei Schaffhausen begonnen, auf eigenem Wege die Herstellung des Tiegelgußstahles, der in England schon seit fünfzig Jahren bekannt war, zu erproben. Johann Caspar Escher, der Sohn eines Zürcher Kaufmanns, hatte 1805 zusammen mit seinem Vater und einer Reihe anderer Zürcher Bürger die Firma Escher Wyß & Co. gegründet und sie in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens zu einer Musterspinnerei und der führenden Textilmaschinenfabrik der Schweiz entwickelt. Johann Georg Bodmer hatte nach mancherlei Versuchen und Erfindungen 1809 eine eigene Spinnmaschinen- und Gewehrfabrik in St. Blasien im Schwarzwald eingerichtet und war von der badischen Regierung mit der Verwaltung und Modernisierung der Eisenwerke in Albbruck betraut worden6. Aller drei Lebensläufe kreuzten sich mehrmals, ohne daß es zu ständiger Zusammenarbeit kam. 1802 fuhren Fischer und Escher zusammen nach Paris, um die Kupolofengießerei kennenzulernen. Einige Jahre später arbeitete Bodmer als Konstrukteur in der Firma Escher Wyß. Escher war ebenso wie ein Bruder Bodmers in Zürich Großabnehmer des Fischerschen Gußstahls. Bodmer zählte, als er in England ein Konstruktionsbüro unterhielt, den einzigen Sohn Eschers zu seinen Eleven und Johann Conrad Fischer mehrmals zu seinen Besuchern. Diese Begegnungen zeigen, wie klein der Kreis derer war, die die Industrialisierung eines Landes in ihren Anfängen trugen. Sie lassen aber auch erkennen, auf welchem Wege sich die neuen Erkenntnisse ausbreiteten. Auf seiner Eng© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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landreise von 1825 notierte Fischer in seinem Tagebuch: „Des Abends indessen hatte ich das Vergnügen, den Herrn Georg Bodmer in seinem Logis zu finden. Dieser geschickte und in der Spinnerei besonders so erfahrene Mechaniker, ist für seine Person wahrscheinlich für die Schweiz und das Land, dem er mit unbescholtener Ehrlichkeit gedient hat, verloren, da er für seine Thätigkeit in England einen größern Spielraum, und für die Anwendung derselben eine bessere Belohnung findet. — Hauptsächlich erfreulich ist es aber, daß er so viel vaterländischen Sinn behalten, jungen hoffnungsvollen Schweizern, deren ich vier bei ihm antraf, den Zutritt in seine Werkstatt zu gestatten, ihnen seine Pläne mittheilt, und ihre Entwürfe und Zeichnungen leitet."7 Bodmer hatte nämlich sein Konstruktionsbüro mit einer Art Lehrwerkstätte verbunden, um dem technischen Nachwuchs, der vom Kontinent zur Ausbildung nach England kam, eine gute Schule zu geben. So wurde sein Haus zu einem Treffpunkt begabter Ingenieure und eine Keimzelle der technischen Entwicklung Mitteleuropas. Johann Conrad Fischer hat lebendig geschildert, wie er in diesem Schweizer Zirkel in Manchester zu Mittag speiste: „Es wurde, wie leicht zu begreifen ist, vieles über unser Vaterland und hauptsächlich über die Art und Beschaffenheit seiner Industrie und der Verschiedenheit derselben in verschiedenen Kantonen gesprochen. Ich konnte mich der Bemerkung nicht enthalten, daß noch an gar manchen Orten, und besonders in meiner eigenen Vaterstadt, das Zusammenhalten und die Verbindung der Reichern, der Thätigern und Kenntniß Besitzenden, um etwas Gemeinschaftlich-Nützliches hervorzubringen, nicht recht fort wolle, und man das Vis unita fortior auch gar nicht zu begreifen scheine. Wie sehr steht England mit uns im Gegensatz! In diesem Lande, welches nun eine lange Erfahrung von Prosperität und zunehmenden Reichthums vor sich hat, steht selten einer allein, weit häufiger bilden sich sogar ganze Gesellschaften, um neue Unternehmungen auszuführen."8 Seine jungen Landsleute in England gefielen J . C. Fischer sehr. „Sie benutzen ihre Zeit in diesem merkwürdigen Lande in verschiedenen Fächern von Wissenschaften und Industrie auf das Beste. Mögen sie alle ihr Vaterland gesund und wohl wieder sehen, und der Nutzen von ihren Bemühungen wird gewiß nicht ausbleiben."9 Zumindest einer dieser „jungen hoffnungsvollen Schweizer", die unter Bodmers Augen ihre ersten selbständigen Schritte unternahmen, hat diesen Wunsch erfüllt. Der junge Escher übernahm, als er 1826 in die Heimat zurückkehrte, den Maschinenbau in der väterlichen Firma, begann Dampfmaschinen, Dampfschiffe und Turbinen zu bauen, erschloß dafür neue Absatzgebiete in Italien, Österreich und Süddeutschland und verlegte damit das Schwergewicht der Firma von den Textilmaschinen auf die thermischen und hydraulischen Maschinen, das sie bis heute beibehalten hat. Johann Conrad Fischer traf auch ihn in Manchester und verdankte seiner Hilfe die Einführung in mehrere Industriebetriebe, besonders die Ormrodsche Eisengießerei, wo er eine vertikale Bohrmaschine zum Bohren der Zylinder der Dampfmaschinen fand, die der horizontalen Watts überlegen war. Auch zu William Fairbairn, einem der geschicktesten Mühlenbauer seiner Zeit, der in Zürich die Werkstät© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ten Eschers eingerichtet hatte, begleitete Albert Escher den Freund seines Vaters „unter vielen interessanten Gesprächen", nachdem seine englische Frau dem Gast einen Einblick in das englische Familienleben gewährt hatte10. Wenn trotz dieser mancherlei Begegnungen die drei Pioniere der Schweizer Industrie über gegenseitige Hochachtung und gelegentliche Geschäftsbeziehungen nicht hinauskamen, so mag daran der kontinentale „Individualgeist" schuld gewesen sein, den Fischer so oft in seinen Tagebüchern beklagte. Aber sicher lag es auch daran, daß jeder von ihnen einen verschiedenen Typ des frühen Unternehmers verkörperte. Johann Conrad Fischer war ohne Zweifel der ausgeglichenste und vielseitigste. In der festgefügten Welt des alten Handwerks groß geworden, wuchs er ohne Bruch in die neuen Aufgaben hinein, die die industrielle Revolution dem Gewerbe stellte. Vom Vater und Großvater hatte er das handwerkliche Geschick und soziale Selbstbewußtsein des geachteten Zunftgenossen ererbt, in der aufgeklärten, zukunftsfreudigen Luft des späten 18. Jahrhunderts seine geistige Bildung empfangen. Die politische Mitverantwortung des Bürgers war dem Sproß eines Geschlechts von Zunftobmännern und Ratsherren selbstverständlich und konnte weder durch die Revolution der schweizerischen Verfassung noch den vielfältigen neuen Pflichtenkreis des industriellen Unternehmers beeinträchtigt werden. So blieb auch er wie seine Vorfahren Zunftobmann und Ratsherr, ließ sich zum Abgeordneten seines Kantons wählen und auf Gesandtschaften schicken. Johann Caspar Escher dagegen hat kaum eine politische Stellung eingenommen. „Mit dem Kampf der politischen Doktrinen, mit den Verfassungsfragen und legislativen Reformen konnte sich der rastlose Industrielle nicht eindringlich beschäftigen, und das Herumfahren in allerlei Dingen war nicht seine Sache." So charakterisiert sein frühester Biograph Eschers Stellung zur Politik11. „Die Periode der Revolution, der langjährigen Kriege und der Restauration brachten den Werkführer nicht von seiner Neumühle weg." Nur kurze Zeit hat er dem Großen Rat und dem Stadtrat von Zürich angehört und sich in seiner Arbeit auf die Gebiete beschränkt, die er als Fachmann beherrschte. In Gewerbesachen, bei Bauten und technischen Fragen redete er ein gewichtiges Wort mit und leitete vor allem die baulichen Angelegenheiten des Spitals, dem er, wie schon sein Vater, lange Jahre als Pfleger angehörte, aber die grundsätzlichen politischen Fragen seiner Zeit berührten ihn wenig. In dieser Reduktion auf das Fach zeigt sich ein typischer Zug politischer Verarmung, der in Deutschland noch mehr als in der Schweiz sich ausprägen sollte. Als unpolitischer Experte mit konservativen Neigungen war Escher der Fortschrittspartei seiner Heimat nicht genehm und mußte in den dreißiger Jahren mit der konservativen Fraktion des Stadtrats weichen. Fortan widmete er sich nur noch den Plänen des Eisenbahnbaus, und als er damit nicht durchkam, zog er sich ganz auf sein Unternehmen zurück, das er als tüchtiger Kaufmann wirtschaftlich hochbrachte. Johann Georg Bodmer schließlich stand gänzlich fern von jeder Politik. Wie fast bei allen seinen Brüdern war sein bürgerliches Selbstbewußtsein durch den Einsturz der alten Verfassung im Gefolge der Französi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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schen Revolution aufs tiefste gebrochen. Die Bodmer seiner Ahnenreihe hatten durch sechs Generationen und zweihundert Jahre als Tuchscherer in Zürich gelebt und als Meister eines niedergehenden Handwerks sich nur um so beharrlicher an die Zunftordnung geklammert. Sein Vater hatte zwar neue Fabrikationsmethoden benutzt und damit als einer der ganz wenigen seines Berufes sich in Zürich über Wasser gehalten, aber die Reglementierung der Arbeit war ihm so wichtig gewesen, daß er jeden Tag um die gleiche Stunde Feierabend gemacht und auch seinen Söhnen, Knechten und Mädchen selbst bei dringenden Geschäften verboten hatte, länger zu arbeiten12. Als die französischen Truppen die Helvetische Republik brachten, gingen vier der fünf Bodmersöhne außer Landes und schlossen sich den Emigrantentruppen an. Nur einer von ihnen fand wieder in ein geordnetes bürgerliches Leben zurück. Die anderen versuchten ihr Glück in fremden Ländern und kamen nie wieder ganz ins Gleichgewicht. Johann Georg, zur Teilnahme an den Kriegen noch zu jung, war der am einseitigsten Begabte; ein rastlos tätiger Konstrukteur, der die Stunden zählte, in denen er nicht am Zeichentisch saß, verstand er weder, ein bleibendes Werk zu schaffen, noch menschliches Glück zu finden. Während er Patent auf Patent häufte, nahmen andere die Gewinne ein, und ehe der wirtschaftliche Erfolg einer Erfindung eintrat, hatte es ihn schon wieder zu einer anderen Firma oder in ein anderes Land getrieben. Sein gefurchtes, strenges Gesicht erhielt trotz der hellen, blitzenden Augen bald einen grämlichen, mürrischen Zug, das Zeichen der Enttäuschung und der durch Willenskraft immer wieder überwundenen Resignation. Johann Caspar Eschers Porträt zeigt hingegen ein wohl ebenfalls gefurchtes, aber verhaltenes Antlitz, die überlegene Haltung eines Mannes, der das Leben gemeistert hat, während Johann Conrad Fischer uns in seinen Abbildungen zufrieden, heiter, fast behäbig entgegentritt. Dem entsprechen auch die Aufzeichnungen, die die drei so verschiedenen Techniker hinterlassen haben. Wenn Bodmer in seinen Tagebuchblättern mit seinen eigenen Schwächen ringt und einmal ein Morgengebet notiert, „gemacht nach langer und anhaltender Selbstprüfung und nach gefaßtem Entschluß, über mich selbst Meister zu werden"13, so hat Johann Caspar Escher nur in seiner Jugend auf sich selbst reflektiert und Fischer in seinen Reisejournalen umsichtig und diszipliniert die ihm begegnenden Verhältnisse geschildert. Fischers Berichte sind vielseitig, lebendig und klug, die Eschers klar, fast trocken und knapp, Bodmers dagegen fragmentarisch, selbstquälerisch-bohrend und mißtrauisch. Auch der verschiedene Bildungsgang spiegelt sich in ihnen wider. Hatte Bodmer die Schule nur als notwendiges Übel betrachtet, dem man so schnell wie möglich entrinnen mußte, so war dem Schaffhauser Meistersohn eine sorgfältige klassische und naturwissenschaftliche Bildung zuteil geworden, deren er sich gern erinnerte und die er ständig im Selbststudium erweiterte, und der widerspenstige Kaufmannskommis aus Zürich hatte wenigstens während seiner Wanderjahre in Italien die Lücken seines Schulsackes notdürftig zu stopfen versucht und sich in fleißiger Arbeit zum Architekten gebildet. Bodmer aber blieb Zeit seines Lebens ein Bastler und Tüftler, dem selbst das Erlernen des Englischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Mühe machte. So ist es nicht verwunderlich, daß, während der Schaffhauser Kupferschmied wohlausgebildete und etablierte Söhne hinterließ, die sein Werk fortführten, und der Zürcher Fabrikant eine solide, weitberühmte Firma, von der Arbeit Bodmers, des „ungekrönten Königs der modernen Werkzeugtechnik", nichts als ein Haufen Zeichnungen, Tabellen und Patente übrigblieb und seine Kinder, wie zu Lebzeiten des Vaters unter seiner Launenhaftigkeit und Tyrannei, nun unter der fast vollkommenen äußeren Erfolglosigkeit seines wechselvollen Lebens litten. Es sind weniger Unterschiede der Generation, der sozialen Herkunft oder der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die die Verschiedenheit der drei Lebensschicksale bestimmen, als der persönlichen Begabung, des Temperaments, aber auch der Religiosität, kurz der Persönlichkeitsstruktur. Gewiß hatte Bodmer als der Jüngste fast schon einen anderen Ausgangspunkt. Den Zusammenbruch der alten Schweiz im Jahre 1798 erlebte er noch als Kind, während die anderen beiden als junge Männer kräftig im Leben standen. Seine Familie gehörte zur unteren Schicht des Zürcher Bürgertums, dem Handwerk, das seit dem 16. Jahrhundert von Kaufleuten und Rentnern in seiner sozialen und politischen Bedeutung überflügelt worden war, hatte sich doch von 1637 bis 1762 die Oberschicht verdreifacht, während die Zahl der Handwerker gleich geblieben war, so daß im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Hälfte der Bürgerschaft aus Kaufleuten, Rentnern, Geistlichen und Gelehrten bestand. Seit 190 Jahren war kein Handwerker mehr Bürgermeister gewesen. Nur noch jeder 26. Handwerker saß im Rat gegenüber jedem Dritten der Oberschicht. 1637 hatten die Handwerker noch die Hälfte aller Sitze eingenommen, 1790 war es kaum noch ein Fünftel, im Kleinen Rat nicht mehr als 6 %14. Bodmer kam also aus einer stagnierenden, gedrückten Schicht, der der freie, weltläufige Lebensstil abhanden gekommen war und die sich um so mehr der Pflege des Privaten und einer intensiv erlebten Frömmigkeit hingab. Vieles Disharmonische in Bodmers Charakter mag daher zu erklären sein; sein Arbeitsfanatismus, die Strenge seines Berufsethos und die Gnadenlosigkeit seiner Religiosität. Wo immer Bodmer erschien, fiel neben seinem technischen Ingenium die Heftigkeit seines Wesens, das Ungestüme seiner Experimente und die Ruhelosigkeit auf, mit der er von einem Versuch zum andern getrieben wurde15. Die letzte Quelle dieses unsteten Erfinderlebens aber erschließt sich erst aus seinen Tagebüchern. In ihrer schonungslosen Selbstkritik sind sie der Spiegel eines hart mit seinen Unzulänglichkeiten ringenden Menschen, dessen Wille auf Vervollkommnung der irdischen Existenz gerichtet ist, Bodmer war als Zürcher reformierter Konfession. Das kalvinistische Arbeitsethos zeigt sich bei ihm in reiner Gestalt. Geizig mit seiner Zeit, streng mit seinen Fehlern, unerbittlich in den Ansprüchen auch an seine Mitmenschen, suchte er in ständiger Arbeit die Rechtfertigung seines Lebens. „Mit meiner Zeit geht es mir wie vielen, ich habe zu wenig und benutze diejenige, die ich habe, nur halb", schreibt er in England einmal in sein Tagebuch, und wenig später heißt es: „. . . ich fiel in der Unterhaltung mit ihm wieder einmal in meinen großen schrecklichen Fehler, den Zorn, und sagte ihm 28 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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harte Worte, die den sonst nur zu kaltblütigen Mann beinahe in Harnisch brachten . . ." Daß er gezwungen ist, um das Ziel seiner Reise zu erreichen, „manchen freundlichen Mann" sich durch „unschuldige Fragen" geneigt zu machen, einen Hochofen zu zeigen oder den Gang einer Maschine zu erklären, macht ihm Gewissensbisse, und nur schwer kann er sein Auftreten als „Wolf im Schaafbelz" damit rechtfertigen, daß Moses für sein Volk das gleiche getan habe. „Nach dem Mittagessen mußte ich bon gré mal gré in ein Conzert, wo ich nicht sonderlich erbaut war", notiert er unter dem 27. 11. 1816, „was mich (aber) am meisten ärgert, ist, daß ich immer etwas lügen muß, um etwas zu sehen, ich ging mit dem Tag mittelmäßig zufrieden um 1 Uhr zu bette." Und einmal schreibt er nach einem besonders mißlungenen Tag seufzend: „Möge der Himmel mich durch alle meine Erfahrungen besser, klüger und gefälliger machen, aber auch besser die Menschen kennen lehren."16 Nichts jedoch kennzeichnet den strengen Willensmenschen kalvinistischer Prägung so wie das Gebet, das in einem anderen seiner Tagebücher sich findet: „Gib oh Herr, nach Deiner unendlichen Güte mir Kraft, nach einer weisen Einteilung meiner Zeit für Seele und Leib, Zeitliches und Ewiges zu sorgen und dadurch mein Inneres wie meine Berufsgeschäfte zu verbessern. Laß keine Minute mir ungenützt vorüber — oder wohl gar verloren gehen. Wie oft hängt alles, was der Menschen Glück und Heil oder Unglück und Verderben bestimmt, von einer Minute ab, und wie nachlässig gehen wir mit dem köstlichsten aller Güter um. Laß mich bedenken die Kürze der Lebenszeit und die Nähe der Rechenschaft und was mich erwartet, würde ich mein Talent, was Du mir gegeben, nicht nach Deinem Willen anwenden."17 Bodmers Tagewerk war von früh um vier bis nachts um elf auf das genauste eingeteilt. Um ½7 Uhr hatte er bereits überall nach dem Rechten geschaut und seinem Sohn samt den Arbeitern die Anweisungen für den Tag gegeben. Dann konnte er bis um die Mittagsstunde „anhaltend zeichnen", um am Nachmittag geschäftliche Verhandlungen zu führen und am Abend die Korrespondenz zu erledigen, die Bücher zu führen und die Kinder zu unterrichten. Neben diesem Fanatiker der Leistung wirkt Johann Caspar Eschers Lebensstil fast bukolisch-beschaulich. Auch er war reformierten Glaubens und von dem gleichen Ethos beseelt wie Bodmer. Aber er gehörte einer Familie an, die in dem gleichen Entwicklungsgang, in dem die Tuchscherer Bodmer gedrückte Kleinbürger geworden waren, Wohlstand und Ansehen erlangt hatte. Im Seidenhandel vor allem hatten die Escher vom Felsenhof sich ihr Vermögen errungen, das ihnen einen Lebensstil gestattete, der zwischen dem des tätigen Kaufmanns und des saturierten Rentners lag18. Zweifellos war Johann Caspar Escher mehr der tätigen Seite zugewandt, sonst hätte er sich nicht, nachdem seine Versuche, sich als Architekt ein Auskommen zu schaffen, unbefriedigend geblieben waren, dem völlig neuen, unüberblickbaren Zweig der mechanischen Spinnerei zugewandt. Aber auch in den ausgreifendsten Perioden seines Lebens verliert er nur selten das Gleichmaß und die Souveränität. Zwar kennt auch er Zeiten der Depression, und von seinem Sohn wissen wir, daß die Sorgen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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um die Firma ihn niederdrücken und seine Arbeiter um ihr ruhiges Brot beneiden lassen konnten19, aber nur aus seiner Jugend gibt es Zeugnisse eines ähnlichen seelischen Ringens, wie es Bodmer sein Leben lang ausfocht20. „Wenn es möglich ist, will ich es durchsetzen und alles daran wagen, etwas Gründliches zu lernen", schreibt der Neunzehnjährige in sein Tagebuch, als der Vater ihm mitteilt, daß die Finanzen es nicht erlaubten, das Studium der Architektur in Italien weiterzuführen. „Nichts ist verächtlicher als ein Mensch, der alles nur halb weiß, nichts recht und gründlich versteht. Jeder Stand macht dem Menschen Ehre, sobald er alle Pflichten desselben erfüllt, heiße er Staatsmann, Kaufmann oder Künstler. Wogegen nichts gefährlicher ist, als halb zu wissen und zu glauben, über alles reden zu dürfen und alles zu verstehen. Und ich sollte mich unter diese Klasse von Menschen zählen müssen? Hoffentlich nein! Nein, gewiß nicht!" Als Johann Caspar Escher das niederschrieb, schien er zum zweitenmal in seinem Beruf gescheitert zu sein. Denn ehe er bei Weinbrenner in Rom in die Schule ging, hatte er beim Vater den Seidenhandel gelernt und in Livorno ausgeübt. Er war dann diesem ungeliebten Beruf entflohen, weil er lieber Schiffe, Maschinen und Gebäude zeichnete, als auf dem Comptoir zu sitzen. „Seitdem ich auf der Welt bin, liebte ich solche Dinge", hatte er damals geschrieben, „und werde mich gewiß nach meiner Rückkunft in die Heimat hauptsächlich auf mechanische Künste, Baukunst und Geometrie legen. Mein Kopf begreift solche Dinge leicht und scheint eher dafür als für die Handlung geschaffen zu sein." Nun fürchtete er, daß nichts aus ihm werde, weder ein Architekt noch ein Kaufmann. Und es bedurfte seiner ganzen Willenskraft, in dieser Lage nicht zu verzweifeln. „Du Narr", redet er sich selber zu, „wenn du auch nicht so lange du es wünschest, in der Fremde studieren kannst, durch Fleiß und Arbeit kann man in jedem Winkel der Welt sich vervollkommnen, geschickt und brauchbar werden. — Also Animo! nicht verzagt, den Mut nicht verloren! Benutze die Gegenwart, damit du vor der Zukunft nicht zu zittern brauchst. Das Grübeln, Zappeln und Ängsten über das, was in der Zukunft werden soll, macht die Sache nur schlimmer, nicht besser. Darum kümmere dich einzig darum, dich so zu betragen, daß du keine deiner Handlungen bereuen dürfest." In späteren Jahren verschwinden solche Reflexionen aus den Tagebüchern fast ganz. Nicht mehr die eigene Person, sondern das Werk steht im Vordergrund, und die Zeit langt kaum noch, in Stichworten die wichtigsten Geschäfte anzudeuten21. Nie aber ergreift ihn die Arbeit so, daß er darüber alles andere vergäße. Die Pflege eines behäbigen Familien- und Landlebens gehörte zu den selbstverständlichen Lebensbedürfnissen. Vom Vater hatte er ein Weinund Obstgut als bürgerlichen Landsitz ererbt, eines jener herrschaftlichen Besitztümer, durch die die reichen Zürcher Kaufleute ihren Lebensstil dem Adel anzugleichen suchten22. Ihm widmete er sich mit Sorgfalt. Er erneuerte die Rebensorten, baute Stützmauern, Treppen und eine Zufahrtstraße, gestaltete den Garten, die Scheune und den Stall neu und baute den Keller aus, um den höheren Ertrag seines Weingutes sachgemäß zu lagern. Nur die Wohnhäuser, in denen Goethe einst zu Gast gewesen war, ließ er unverändert in ihrem brei28*

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ten, ausladenden Stil des 18. Jahrhunderts bestehen. Mit seiner vierköpfigen Familie verbrachte er hier idyllische Sommer und erwarb sich, wenn er freundlich-herablassend in seiner Kutsche in die Stadt fuhr, das Ansehen eines wohlwollenden Aristokraten. Gleich anderen vornehmen Zürchern veranstaltete er „Bauerngespräche", die die Landbewohner zur rationelleren Bodenbewirtschaftung anleiten sollten. Seine Weinberge galten weit und breit als mustergültig. Der Begründer der Schweizer Maschinenindustrie war ein in vieler Hinsicht typischer Bürger seiner Heimat: ohne Extravaganzen und Genialität, aber zielstrebig, umsichtig und unternehmend, ein Mann mit Energie und Weitblick, der seine spezifische technische Begabung nutzt, um in seiner angestammten Welt etwas Tüchtiges darzustellen. Daß er damit zum Pionier einer neuen Zeit, zum Revolutionär von Wirtschaft und Gesellschaft wurde, ist ihm selbst wohl nur selten bewußt geworden. Dieses Bewußtsein aber ist sehr ausgeprägt in Johann Conrad Fischers Tagebüchern. Als Fischer 1825 wieder nach England reist, begrüßt er das Land der industriellen Revolution fast hymnisch. „Und also sehe ich dich wieder, du merkwürdiges Eiland, du Herrscherin in fünf Weltteilen! . . . Herrlich im Sonnenschein treten deine senkrecht abgeschnittenen weißen Ufer hervor . . . bald Landhäuser, bald Castelle . . . bald ummauerte Fabriken, wo der hohe rauchende Schlot das Wirken des unermeßlichen Hebels englischen Gewerbefleißes ankündigt. . ."23 Der Anblick der „rauchenden Werkstätten", der „immer steigenden Betriebsamkeit" der Bewohner, „Londons unendliches Gewühl" erweckt in ihm außer dem Gefühl der Bewunderung ein gesteigertes Bewußtsein von den großen Aufgaben, denen auch der Kontinent entgegengeht. „Sollen wir, sagte ich zu mir, selbst nur immer die Nachahmer sein, und ist es nicht möglich, daß wir auch etwas Vorzügliches und Ausgezeichnetes im Industriefach . . . aus uns selbst leisten werden? Will man sich nie durch Verbindung stark machen, und will der Reichtum nie zur Experienz und zur Wissenschaft sich gesellen?"24 Besonders im Eisenhüttenwesen, dem nach seinen Ideen und Erfahrungen „noch eine so große und vorteilhafte Revolution bevorsteht", fehlt diese Assoziation der drei Grundkräfte, auf denen die industrielle Revolution aufbaut. Wie groß ist hier der Gegensatz zu England! Denn den Engländern ist „nichts zuviel und nichts zu heterogen, daß sie es nicht zusammenbringen, wenn es ihrem Unternehmungsgeist zusagt". Um seine Landsleute wachzurütteln, um ihnen vor Augen zu führen, was sie zu tun haben, wenn sie den großen Vorsprung Englands aufholen wollen, zeichnet er seine Eindrücke so genau auf und eilt, sie zu veröffentlichen. „Möge mein Geist sich zu der Kraft erheben", beginnt er die Schilderung seiner zweiten Englandreise, „die ein auch nur flüchtiges Auffassen so vieler merkwürdiger Gegenstände erheischt."25 Dieses gesteigerte Bewußtsein von den unerhörten Dingen, die auf der britischen Insel vorgehen, hat Johann Conrad Fischer bis an das Ende seines Lebens nie verlassen. Als der Achtundsiebzigjährige 1851 zur Londoner Weltausstellung fährt, packt ihn ein „stummes Erstaunen", wenn er diese Leistungsschau des menschlichen Unternehmungsgeistes mit den Zuständen von 1794 vergleicht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Wie ein Jüngling berauscht er sich an den technischen Wundern, läuft den ganzen Tag von einem Stand zum andern und vergißt darüber das Essen. „Alle Augenblicke will ich fortgehen und komme wie aus einem bezauberten Schloß nicht heraus."26 Kaum zurückgekehrt, macht er die Mitglieder der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft in einer Rede in Glarus noch einmal auf das Phänomen der industriellen Revolution aufmerksam: „In England . . . ist in der That Großes, man möchte sagen, fast Unglaubliches geschehen, und hier ist . . . der Beweis geleistet worden, was das Zusammenwirken einzelner, aber durch Einigkeit und den gleichen Geist beseelter Partner hervorbringen kann . . ."27. Daß in Schaffhausen sich noch keine größere Industrie ausbilden konnte, kann freilich nicht wundernehmen, wenn man weiß, wie tief gerade hier die zünftlerische Mentalität verwurzelt war. Das Aufkommen der Baumwollindustrie, das Zürich, Basel oder St. Gallen seit dem 16. Jahrhundert zu aufgeschlossenen Handeisstätten machte, hatte Schaffhausen nicht berührt. Die Handwerkerschaft hatte sich bis zur Revolution von 1798 ihre alte soziale und politische Stellung erhalten. Seit fast vierhundert Jahren übte sie die Herrschaft über Stadt und Landschaft aus. Den Adel hatte sie als zwölfte Zunft der Bürgerschaft eingegliedert. Von ungefähr 5000 Einwohnern, die die Stadt 1766 zählte, waren 770 Handwerker. Mit ihren Familien bildeten sie mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Jahrzehntelang war kaum noch jemand neu zum Bürgerrecht zugelassen worden. In den letzten 70 Jahren des Schaffhauser ancien régime hatte es nur sieben Neubürger gegeben28. Der Geist zünftiger Tradition herrschte noch 1851 vor. Am 9. April 1851 erschien im Schaffhauser „Tageblatt" ein Artikel „Über den gegenwärtigen Stand der Gewerbe", in dem darauf aufmerksam gemacht wurde, daß draußen in der Welt „Waren in Metall, Baumwolle, Seide, Wolle etc., ferner die Produkte der Mechaniker und Chemiker nur noch in Großbetrieben hergestellt werden". Die Produzenten seien Kapitalisten, die selbst nicht mitarbeiteten, sondern nur die Kräfte von Arbeitern in Lohn nähmen. Ein großer Teil der Handwerker sei dadurch schon zu Taglöhnern herabgesunken, bei andern sinke der Wohlstand von Jahr zu Jahr, und es sei die Zeit abzusehen, wo auch sie ihre Selbständigkeit verlören. „Was in größeren Städten verwirklicht ist, wird in kleineren nicht auf sich warten lassen. Bald wird kein Handwerkerstand mehr vorhanden sein, wir werden nur mehr Kapitalisten und — Tagelöhner im Dienste des Kapitals haben. "29 Johann Conrad Fischer teilte diese Sorge seiner Handwerksgenossen nicht. Wenn er auch kein Prediger der Gewerbefreiheit war, so hielt er es doch für unmöglich, durch eine Gewerbeordnung „in die mittelalterliche Zeit" zurückzukehren. Für ihn stand fest, „daß das erfolgreichste Mittel darin Hegt, . . . daß ein Jeder lieber sich selbst zu helfen trachtet, als sich auf andere zu verlassen. Daß ein Jeder die Zeit als eine wahre und unerschöpfliche Goldgrube benutzt und durch diese Benutzung sich in den Stand setzt, . . . gut und wohlfeil zu arbeiten, wo es ihm dann auch nicht an Kunden und somit an Verdienst nicht mangeln wird . . ."30 Setzte sich Fischer damit auch am Ende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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seines Lebens in Gegensatz zu seinen Standesgenossen, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß er aus der Tradition des alten, des Regierens gewohnten Schaffhauser Handwerkerstands seine seelische Kraft nahm, daß seine Herkunft sehr wesentliche Züge seines Charakters geprägt hat. J . C. Fischers Vorfahren lebten seit dem 16. Jahrhundert als Bürger in Schaffhausen. Im 17. Jahrhundert gehörten sie meist als Kürschner der Schneiderzunft an. Der Urgroßvater war Zunftmeister der Schneider, Ratsherr und Vogtrichter und mit der Tochter des Zunftmeisters der Gerber verheiratet. Der Großvater lernte die Kupferschmiedprofession, wurde Obmann seines Handwerks und trieb daneben Handel mit Messingwaren, Hanf, Flachs, Kaffee, Dörrobst, Kirschwasser und Wein. Auch der Vater betrieb neben der Kupferschmiede und der Herstellung von Feuerspritzen den „nicht unbedeutenden" Weinhandel. Auch er war seines ehrsamen Handwerks Obmann und „wegen seiner guten Beredsamkeit und furchtlosen Freimütigkeit" Ratsherr und Vogtrichter. Johann Conrad selbst heiratete eine Adelige, folgte dem Großvater und Vater als Obmann der Kupferschmiede, saß mit 24 Jahren im Stadtrat, mit 26 als Unterstatthalter in der kantonalen Regierung, administrierte die Bergwerke und kommandierte als Oberstleutnant die Artillerie. Gelegentlich präsidierte er dem Schaffhauser Stadtrat, vertrat den Kanton als Gesandter und stand ihm ein Jahr lang als Statthalter vor. Sein echt schweizerischer Bürgerstolz gründete sich darauf, einem Geschlecht anzugehören, das niemals „die Wohltat Anderer oder der öffentlichen Anstalten" in Anspruch nehmen mußte. Schon die Generation der Großeltern war weit gereist. Der Großvater hatte in Hamburg, ein Großonkel elf Jahre lang als Kupferschmied und Ziseleur in London gearbeitet. Der Vater hatte Lateinisch, Französisch, Geometrie, Zeichnen und „nach damaliger Sitte für junge vermögliche Bürgersöhne" Tanzen und Fechten gelernt. Während einer neunjährigen Wanderschaft war er durch Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen, Preußen, Dänemark und Holland nach England gekommen, hatte fünf Jahre lang in der Königlichen Gießerei in Woolwich gearbeitet und so gut verdient, daß er wertvolle Manufakturwaren nach Hause schicken konnte. Dieser „strenge, weitgereiste, welterfahrene und sehr geschickte Mann" wurde von seinem Sohn Johann Conrad als Vorbild eines freien, in sich selbst ruhenden Bürgers verehrt, dessen Lebensstil auch der erfolgreiche Sohn kaum wesentlich überschritt. Noch der Einundachtzigjährige bezeichnet sich in seinen „Biographischen Notizen" als „seines Handwerks ein Kupferschmied und Glokengießer und beeder ehrsamen Handwerke Obmann"31. Auch gleicht seine Gießerei im Mühlental eher einer Werkstatt als einer Fabrik. Nie waren dort mehr als fünfzehn Arbeiter beschäftigt, und seiner eigenen Hände Arbeit wurde darin nie überflüssig. Die Stahlkapazität blieb mit 500 Zentnern im Jahr äußerst gering. Auch sein Vermögen war nicht das eines Industriellen. Bei seinem Tode hinterließ er Liegenschaften im Wert von 31 124 Franken und Kapitalien im Betrag von 33 797 Franken. Wenn er dennoch zu den bedeutendsten mitteleuropäischen Unternehmern des beginnenden 19. Jahrhunderts gehört, so liegt das an den Anregungen, die er gab, den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Fabriken, die er für seine Söhne gründete, und den metallurgischen Arbeiten, mit denen er als erster auf dem Kontinent den Geheimnissen der Engländer auf die Spur kam. Das persönliche Verhältnis zu seinem Lebenswerk unterscheidet sich dabei beträchtlich nicht nur von Bodmer, sondern auch von Escher. Obwohl auch er reformierten Bekenntnisses war, fehlt ihm die Härte, die Unerbittlichkeit und Kompromißlosigkeit, die den echten Kalvinisten kennzeichnet. Johann Conrad Fischer ist von einer auffallenden Weltoffenheit, ein universaler Erkenntnisdrang treibt ihn vorwärts, hält ihn aber zugleich in einem ruhigen Gleichgewicht, so daß er als ein echter Gebildeter mit den großen Naturwissenschaftlern seiner Zeit verkehren kann, obwohl er nie eine eigentliche wissenschaftliche Ausbildung genossen hat. In seinen Tagebüchern weist er sich als ein vielinteressierter Reisender aus, der in der europäischen Literatur ebenso zu Hause ist wie in den handwerklichen Grundlagen der beginnenden Industrialisierung. Schon als wandernder Geselle beschreibt er die fremden Weiten, die sich ihm auf seiner Reise durch Deutschland, Skandinavien und England darbieten, mit wachem Auge, scharfer Beobachtungsgabe und gutem schriftstellerischem Geschick. Er beobachtet die Landschaft und die Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner, vergleicht den schwedischen und den dänischen Nationalcharakter, beschreibt Kirchen, Schlösser, Garten und die Schätze der Museen, der Kunstund Naturalienkabinette. Modelle von Landmaschinen und Mühlen, Grubeneinrichtungen, Schleusen, Brücken, Pumpen, Textilmaschinen und Uhrwerke, alles studiert er mit der gleichen Aufmerksamkeit und der gleichen Hingabe. Wenn Bodmer jede Beschäftigung, die ihn von seiner eigentlichen Tätigkeit ablenkte, als lästig empfand, der junge Escher aus seiner vorbestimmten Bahn ausbrach, um sich einen Beruf nach eigenem Wunsch zu wählen, nimmt Johann Conrad Fischer das Leben in seiner ganzen Fülle in sich auf, greift nach allen Seiten aus und kann kaum genug sehen und lernen. „Sie können sich kaum denken, was der Fischer für ein geschickter junger Mensch ist", schreibt einer, der ihn als Zwanzigjährigen kennenlernte, „— und alle die Wissenschaften, auf die er sich mit gutem Erfolg gelegt hat; wenigstens scheint es beinahe unglaublich, wenn man bedenkt, wie wenig Gelegenheit er dazu in seiner Vaterstadt gehabt hat."32 Ganz gerecht wird dieser dänische Beobachter damit freilich der Schulbildung Fischers nicht. Der Handwerkerssohn, der selbst zum Handwerker bestimmt war, besuchte bis zu seinem 14. Lebensjahr die Lateinische Schule Schaffhausens, in der er auch Griechisch lernte und eine erstaunliche Vertrautheit mit der klassischen Literatur bekam. Als Lehrling nahm er Unterricht in Mathematik und Physik bei dem einstigen Kürschnergesellen Christoph Jezler, der sich bei Euler zum Mathematiker gebildet hatte, und bei dem Artilleriehauptmann Hurter. Jezler, dessen geistiger Persönlichkeit der Kupferschmiedelehrling wohl am meisten verdankt, war der Künder der Aufklärung in Schaffhausen. Ein Reformer auf vielen Gebieten, ein Philanthrop und Naturfreund, wie Albrecht von Haller ein Entdecker der Alpen, hatte er jenen bohrenden Erkenntnisdrang des Rationalisten mit der versöhnenden Milde der mensch© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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lichen Toleranz zu verbinden vermocht, die auch Fischers Persönlichkeit kennzeichnet. Toleranz auch im Religiösen war Johann Conrad Fischers Wesensart. Wenig konnte ihn so erbittern wie der aufdringliche Bekehrungseifer, dem er öfters in England begegnete. Das öffentliche Glaubensbekenntnis verletzte sein Taktgefühl. Gebet war ihm eine Sache der Einsamkeit. Aber es ist ihm auch nicht ein Mittel der Selbstanalyse und -anklage wie dem strengen Kalvinisten, eher Befreiung und Versöhnung mit Gott. Seine Frömmigkeit ist weder überschwenglich noch asketisch, sie ist ganz selbstverständlich und unproblematisch. Die Bibel ist ihm das große, unerschöpfliche Buch aller Bücher, das er gründlich kennt und aus dem er immer wieder Kraft, Trost und Weisheit schöpft. Es ist Gottes Welt, in der er tätig und nützlich sein will. Es sind Gottes Gebote, denen er sich unterwirft. Es ist der christliche Glaube, der gültig und in seiner protestantischen Form richtig ist. Johann Conrad Fischers Religiosität ist von einer Ursprünglichkeit und Naivität, daß sie des dogmatischen Gebäudes fast ganz entraten kann. Sie hilft ihm, sein irdisches Dasein zu runden und zu erfüllen, so daß der 81jährige befriedigt auf sein Leben zurückblicken kann, in dem Gefühl, das Seine getan zu haben, die gottgesetzte Erde lebenswert zu machen. Der äußere Lebensgang und -erfolg der drei Schweizer Unternehmer entspricht in erstaunlicher Genauigkeit ihren inneren Anlagen. Fischer geht seinen Weg fast, wie er für ihn vorbestimmt scheint. Er erlernt das väterliche Handwerk, wandert durch Europa, läßt sich als Bürger und Meister in seiner Heimat nieder und übt seinen Beruf bis an sein Lebensende aus. Was ihn aus der Massc der Handwerker heraushebt, ist die Erkenntnis von den zukunftsträchtigen Prinzipien der Naturwissenschaft und Technik. Ohne seinen Stand zu verlassen, weitet er ihn über die Grenzen des Herkömmlichen aus und tut unversehens den Schritt in die moderne industrielle Technik. Als experimentierender Metallurg bricht er das englische Gußstahlmonopol und entwickelt den Stahlformguß wie den Temperguß. Als Fabrikant errichtet er Gußstahlwerke in La Roche und Montbéliard im Französischen Jura und für seine Söhne in Hainfeld und Traisen in Österreich, ohne schon selbst in seinem Werk im Mühlental bei Schaffhausen zur industriellen Produktion überzugehen. Gerade das aber tut Johann Caspar Escher in Zürich. Indem er sich in seiner Tätigkeit und seinen Interessen beschränkt, wird er zum Vater der Schweizer Maschinenindustrie. Seine Maschinenspinnerei in der Neumühle ist für Jahre die führende in der Schweiz. 1810 nimmt er den Spinnmaschinenbau für fremde Rechnung auf. Bald betätigt er sich auf allen Zweigen des damaligen Maschinenbaus. Transmissionen, Wasserräder, Dampf- und Wasserheizungen, Turbinen, Textilmaschinen, Werkzeugmaschinen, Papiermühlen, Dampfkessel und schließlich Dampfschiffe und Lokomotiven verlassen seine Werke. Wo immer ein Bedarf an Maschinen entsteht, nimmt sich Escher der Konstruktion und Produktion an, wo ein Produktionszweig bei zunehmender Konkurrenz uninteressant wird, gibt Escher ihn wieder auf. So stellt er den Lokomotiv- und Heizungsbau nach wenigen Jahren wieder ein, so verfertigt er Waffen, wenn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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sie benötigt werden, und läßt wieder davon ab, wenn er sich keinen Gewinn mehr verspricht. Die technische Erfahrung und Vielseitigkeit seines Unternehmens sichern ihm lange die Überlegenheit auf den neuaufkommenden Gebieten. Er sorgt für ständige Modernisierung des Maschinenparks und stellt an die Spitze der schwierigsten Abteilungen englische Ingenieure mit hohen Gehältern. Als die Zürcher Neumühle, sein ursprünglicher Standort, zu klein wird, erwirbt er mehrere andere Mühlen und militärische Befestigungswerke und verwandelt sie zunächst provisorisch in Produktionsstätten. Augenzeugen berichten, wie man beim Eintritt in das Gelände der Firma Escher & Wyß am Rande von Zürich in eine ganz andere Welt zu kommen schien. Schornsteine und Schmiedefeuer, Lagerplätze und Dampfmaschinen, das tausendfältige Surren und Lärmen, das Verladen von Eisen und Stahl, die sprühenden Funken und das Durcheinanderlaufen der Arbeiter hatte für die biedermeierlichen Zeitgenossen der industriellen Evolution Mitteleuropas etwas Beängstigendes. „Das Ohr ward betäubt von dem Sausen und Schwirren, dem Ächzen und Schnarren der tausend arbeitenden Werkzeuge, von dem dumpfen Rauschen der Windflügel, von dem Klopfen und Hämmern der Nietarbeiter, von den wuchtigen Schlägen der Schmiedehämmer, zwischen denen die gewaltigen Dampfhämmer schnell und donnerartig einbrachen."33 Was Fischer in England staunend ansah, hat Escher in Zürich selbst begonnen. Er brachte es auch fertig, „Reichtum, Experienz und Wissenschaft" zusammenzubringen. Zu mehreren neuen Firmengründungen ergriff er die Initiative und stellte Finanzkraft und technische Erfahrung seiner Stammfirma zur Verfügung. Die Zürcher Dampfschiffahrtsgesellschaft, eine Flachsspinnerei in Urach und eine im Sittertal bei St. Gallen gehen auf seine Tatkraft zurück. Vorübergehend beteiligte er sich an mehreren Baumwoll- und Flachsspinnereien außerhalb der Schweiz, um ihnen auf die Beine zu helfen, und in Leesdorf bei Wien sowie in Ravensburg gründete er Filialen seiner Firma, die es ihm ermöglichten, die Zollschranken Österreichs und des Zollvereins zu überspringen. Die Arbeiterzahl in seinem Zürcher Werk wuchs auf 1200 an. Er richtet für sie Kranken-, Invaliden-, Alters- und Unterstützungskassen ein, gründet eine Werksparkasse, eine Suppenanstalt, eine Fabrikschule und baut Arbeiterwohnungen. Am Ende seines Lebens ist Escher als der erste Industrielle seines Landes anerkannt und geschätzt. Nur der frühe Tod seines Sohnes hindert ihn am weiteren Ausbau seines Werkes und ermöglicht es anderen, ihn einzuholen. Johann Georg Bodmer dagegen blieb der wirtschaftliche Erfolg seiner vielseitigen Erfindertätigkeit versagt. Keine Firma trägt seinen Namen weiter. Nur die Werke des Schwiegersohnes Reishauer, denen er mit seinen eigenwilligen Konstruktionen zu einem ersten Aufstieg verhalf, bilden einen gewissen Ersatz für die gescheiterten eigenen Unternehmen. Ob es die Fabriken in St. Blasien waren, die schon nach Jahresfrist wegen finanzieller Schwierigkeiten in andere Hände übergingen34, oder die Färberei in Egerton bei Bolton, die er in Assoziation mit einem englischen Kaufmann errichtete, oder seine Tätigkeit für die Firma Birley & Co., nichts gelang auf die Dauer. „Ich bin nie genug Schelm © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gewesen, um ein guter Händler zu sein", äußerte er am 20. September 1838 seinem Gönner Birley gegenüber35. Er war auch zuwenig Menschenkenner, um mit seiner Mitwelt ins reine zu kommen. Überall, wo er arbeitete, schied er im Zorn. So ist er zwar in der Geschichte der Technik als einer der genialsten Konstrukteure des 19. Jahrhunderts bekannt, in der Wirtschaftsgeschichte der werdenden Industrie Europas aber längst vergessen. Jeder der drei Schweizer ist so in einer besonderen Weise ein Pionier der Industrialisierung geworden. Gemeinsam ist ihnen das technische Talent, die konstruktive Begabung, der Drang, neue Wege zu finden und zu begehen. Ihr unternehmerischer Erfolg war umgekehrt proportional zu der Große dieser Begabung. Schon zu Beginn der Industrialisierung zeichnet sich eine Arbeitsteilung ab, bei der der Kaufmann und der Ingenieur in einen Gegensatz geraten. Rentabilität und technische Perfektion gehen nur selten eine harmonische Ehe ein. Aber je größer die Spannung ist, desto größer die Möglichkeit fruchtbarer Entladung. Daß Johann Caspar Escher sie in seiner Person vereinigte, macht das Geheimnis seines Erfolges aus, daß Georg Bodmer der eine Pol fehlte, ließ ihn scheitern. Bei Johann Conrad Fischer hat das TechnischWissenschaftliche deutlich ein Übergewicht, den wirtschaftlichen Aufstieg sollten erst seine Söhne bringen.

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Karl M e z ( 1 8 0 8 — 1 8 7 7 ) Ein badischer Unternehmer im 19. Jahrhundert Auf den Seidenindustriellen Karl Mez aus Freiburg im Breisgau paßt kaum eine der Vorstellungen, die wir uns vom Unternehmer des 19. Jahrhunderts gebildet haben. Er ist weder der hemdsärmelige Handwerker, der sich mit Zähigkeit und Beharrlichkeit emporarbeitet, noch der wagende, kombinierende Kaufmann, weder ein kühler Spekulant, noch ,ein tüftelnder Techniker. Als zugleich liberaler Politiker und bekenntnisfreudiger, missionseifriger Christ, als erfolgreicher Fabrikant, als Philanthrop, Moralist, ja Pietist und oppositioneller Abgeordneter des Badischen Landtags, der in der Paulskirche dem demokratischen „Märzverein" angehörte, widersetzt er sich jeder klischeehaften Einordnung. Es ist schwer zu sagen, welche seiner Tätigkeiten das Übergewicht hatte. Der Umfang seiner theologischen Korrespondenz, die vielen Ehrenämter in innerer und äußerer Mission, die unentwegten Opfer für Kirchen und Missionszwecke lassen ihn als glaubensstarken Werkchristen erscheinen; daneben steht jedoch der energische Ausbau seiner Firma und, nur zeitweilig beeinträchtigt durch Revolution und Reaktion, die politische Tätigkeit als Abgeordneter, in der er sich als echter Volksmann, als liberaler Demokrat zeigt. Sein Biograph aber nennt ihn einen „Vorkämpfer für christlichen Sozialismus"1. Seine ökonomischen Grundsätze lassen sich so wenig wie seine ganze Persönlichkeit mit geläufigen Kategorien bezeichnen, denn sie sind nicht als rationale Analysen entstanden, auch nicht einfach der Tradition oder der zeitgenössischen Kontroverse entnommen, sondern Früchte eines lebhaften, aber nicht sonderlich logischen Geistes, eines philanthropischen Temperamentes, das sich um Widersprüche wenig schert, solange nur das Herz beteiligt bleibt. In einer Rede vor der Zweiten Kammer des Badischen Landtages hat Karl Mez sein Ökonomisches Glaubensbekenntnis abgelegt, das man eher einem Zunftmeister als einem Industriellen zutraute und das doch Elemente eines kontrollierten Liberalismus mit starker Staatsautorität enthält, wie er im 20. Jahrhundert zur Geltung gekommen ist. „Meine Grundsätze sind einfach", ruft er bei der Diskussion um die Gewerbeordnung seinen Landtagskollegen zu. „Der erste Satz ist der: man gebe dem Gewerbestand eine größtmögliche gründliche Bildung; mein zweiter: man gestatte dem einzelnen nicht, in verschiedene Gewerbe zu gleicher Zeit einzugreifen; mein dritter: man verhinderne den einzelnen, seinem Gewerbe eine allzu große Ausdehnung zu geben." Der Widerspruch, der sich im Hause erhob, hinderte ihn nicht, seinen Maximen eine gewichtige Begründung hinzuzufügen: „Für diese meine Grundsätze habe ich Antecedentien. Man gestattet im Staat dem Hofgerichtsrat nicht, sich mit den Postangelegenheiten zu befassen, und man leidet überhaupt in der civilisierten Welt nicht mehr, daß ein Staat ein allzugroßes Übergewicht über die anderen erlange. Ähnliche Grundsätze kön-

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nen wir ganz füglich im Gewerbewesen einführen, und ich habe auch die feste Überzeugung, daß nur durch Einführung solcher Grundsätze den vielen Mißständen und Klagen, die wir von dem Gewerbestand vernehmen, dauernd gründlich abgeholfen werden kann."2 Die letzte Begründung dieser für seine liberalen Freunde so bestürzenden Thesen von der staatlichen Kontrolle der Gewerbstätigkeit erfährt man jedoch erst, wenn man bedenkt, daß im Mittelpunkt seines ganzen Denkens und auch seiner ökonomischen Auffassungen das ewige Heil und das untrennbar damit verbundene irdische Wohl der Menschenseele steht. Um den göttlichen Auftrag zu erfüllen, bebauen die Menschen den Acker, betreiben den Handel und gründen Fabriken, und ihr wirtschaftliches, sittliches, aber auch geistliches Wohl zu fördern, ist der Sinn dieser Unternehmungen. Deshalb verurteilt Karl Mez die großen Industrieansammlungen und bringt die Arbeit seinen Arbeiterinnen aufs Land, indem er auf den Dörfern Filialen gründet. Deshalb sieht er in den Fabriken zuerst Erziehungsund Bildungsanstalten, dann „Bewahranstalten für Erwachsene", dann Mittel, um den Menschen Arbeit zu geben, und erst zum Schluß Verdienstquellen für die Unternehmer. Deshalb sind es nicht die Aktionäre und Gläubiger, um derentwillen die Industrie blühen soll, sondern vor allem die Arbeiter, denen sie Erziehung, Aufsicht und das tägliche Brot vermitteln. Diese ganz christlichpatriarchalische Haltung steht mit seinem liberalen Glaubensbekenntnis von der konstitutionellen Monarchie als Übergangslösung und der demokratischen Republik als idealem Zukunftsziel in Staat und Wirtschaft nur scheinbar in Widerspruch. Denn die Menschen müssen erst zu einer freien, verantwortlichen Selbstbestimmung erzogen werden, und diese Erziehung muß auch den Erwachsenen zuteil werden, die sich als Fabrikarbeiter der überlegenen Einsicht und Reife ihres Patrons unterwerfen. In einer Stellungnahme zu der sogenannten „Dreifabrikenfrage" hat der Abgeordnete Mez noch einmal seinen Standpunkt fixiert. Die drei größten Fabriken des Landes, die Zuckerfabrik Waghäusel, die Spinnerei und Weberei Ettlingen und die Maschinenfabrik Keßler in Karlsruhe waren während der wirtschaftlichen Depression, die der 48er Revolution vorausging, notleidend geworden. Die ungünstige Relation des Eigenkapitals zum Fremdkapital, die so viele Neugründungen in der Krise gefährdet, hatte sie an den Rand des Bankrotts gebracht. Mez sah den Hauptgrund für den drohenden Zusammenbruch in einem Verstoß gegen den dritten seiner Grundsätze. Man hatte die Unternehmungen zu groß angelegt und konnte sie nun nicht halten. „Als entschiedener Freund der Industrie wünschte ich, daß sie sich im Lande mehr verteilte, daß anstatt einzelner so großer Anstalten mehrere kleinere entstünden, weil ich die feste Überzeugung habe, daß sie dann wohltätiger wirkten für des Volkes Wohl", erklärte er den Abgeordneten. Deshalb würde er, wollte man sie neu gründen, einer Unterstützung widersprechen und dafür plädieren, mehrere kleinere Firmen zu errichten. Nun aber handele es sich darum, Tausenden von Menschen den Arbeitsplatz zu erhalten. Deshalb könne man ihnen eine Unterstützung nicht versagen. Die Frage lautet für ihn nicht: Verlieren die Ak© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Karl Mez (1808—1877)

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tionäre und Gläubiger ihr eingesetztes Kapital? Sondern: Wer zahlt den Arbeitern die 800 000 Gulden Lohn, die sie in diesen Werken jährlich bekommen? „Glauben Sie vielleicht, daß diese Menschen gleich wieder anderes Brot fänden? Oh, gehen Sie doch hinaus und erkundigen Sie sich, wie es bei ihnen ausgesehen hat vor der Errichtung der Anstalten. Gehen Sie namentlich in den nahegelegenen Hardtwald, und wo früher wenige elende Hütten standen, werden Sie jetzt ein großes Dorf voll niedlicher geräumiger Häuser finden, bewohnt von Menschen, die jetzt ihr ehrliches, schönes Auskommen haben, während sie früher dem traurigen Gewerbe von Wilderern und Holzfrevlern aus Mangel an anderem Gewerbe sich hingeben mußten."3 So stand auch seine Unternehmertätigkeit unter dem Leitsatz, möglichst vielen Menschen ein besseres Brot zu bringen und die „Segnungen" der Maschinenindustrie überall zu verbreiten. Denn so fremd ihm jede Fortschrittsgläubigkeit blieb, so sehr empfand er die Mechanisierung der Produktion als echte, von Gott zum Wohle der Menschen gesegnete Unternehmung. Das höchste Lob zollte er schon seinem Großvater, dem Gründer der Firma Mez, weil er nicht wie andere in ähnlicher Lage sich von der Not wie ein „gedankenlos dahinvegetierendes Lasttier" durchs Leben hatte treiben lassen, sondern frühzeitig erkannt hatte, „bis zu welchem Grade von physischem und moralischem Wohlsein eine höhere Industrie die Menschen erheben kann."4 Es ist von hohem geschichtlichem Interesse zu verfolgen, wie hier ein bibelstrenger Christ in vollem Bewußtsein der sozialen Veränderungen, die die industrielle Revolution heraufbeschwört, diese Entwicklung als einen Gott wohlgefälligen Dienst am Mitmenschen aufnimmt und mit vollem Herzen ebenso betreibt wie die Verbreitung von missionarischen Traktaten und die Unterstützung evangelischer Liebeswerke. Hier ist nichts zu spüren von dem Gegeneinander von Kulturoptimismus und -pessimismus, von dem Aufbrechen eines Klassenkampfes oder der Verteidigung einer hergebrachten sozialen Ordnung. Die Kategorien, in denen Mez denkt, sind Frömmigkeit oder Unfrömmigkeit, christlicher Lebenswandel und antichristliche Sittenwidrigkeit, Beförderung oder Behinderung der Arbeit am ewigen Himmelreiche. Der Fabrikant Karl Mez will mit seiner Seidenfabrik der Ausbreitung des wahren Christentums ebenso dienen, wie der liberale Politiker mit seiner Kritik am Obrigkeitsstaat und der kämpferische Mann der Kirche, der sich schützend vor verfolgte Pietisten und angreifend gegen freisinnige Theologen, hilfreich hinter das Basler Missionswerk und ratgebend zu den Wernerschen Anstalten stellt. Unternehmertätigkeit, politische Volksvertretung und ausübendes Christentum haben das gleiche Ziel, die christliche Liebe und das Gesetz Gottes auf dieser Erde nach Kräften auszubreiten. Wie sehr ihm Mission und Geschäft, Erziehung und Politik ineinanderfließen, zeigen am augenscheinlichsten die Briefe, die er seinem Sohn Karl nach Marseille sandte, wo der Erbe des Werks einen Teil seiner kaufmännischen Ausbildung empfing. „Ach, lieber Karl! Wie hat Dir der Herr überall die Wege so freundlich geebnet! Sei doch ja recht dankbar! Wie viel mehr und bessere Gelegenheit zum Lernen bietet sich Dir dar als mir in seiner Zeit, und doch muß © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ich bekennen, daß der Herr auch mich so ganz unverdienter Weise durch väterliche Leitung und auf alle Art reichlich gesegnet hat, wofür ich Ihm auch Lob und Preis und Dank sage in Ewigkeit! Dir aber werden solche Thüren aufgethan, wie es nur bei ganz wenigen, besonders Auserwählten der Fall ist . . . Der Herr vertraut Dir viel, wird also dereinst viel von Dir fordern . . . Wie selig ist es, ein Arbeiter in seinem Weinberg zu sein! . . . Ach, so eine Seidenfabrik kann ein herrlicher Weinberg Gottes sein! Kommt nur darauf an, daß Gottes Werk getrieben wird, nämlich Arbeit an den Seelen in Christi Sinn. . . Brianza und Cevennen! Welche Gegenden für einen Seidenmann! Du bist beneidenswert. Was kannst Du für vergleichende Betrachtungen anstellen an diesen zwei Orten, wo man die schönste französische und die schönste italienische Seide zieht."5 Und einen Monat später schreibt er: „ . . . Ο möchte unser Thun ein solches sein, daß wir könnten darin selig sein (siehe Jak. 1,25). Lieber Sohn, laß uns tüchtige Kaufleute sein und werden, richtig spekulierend, nach der einen, einzig echten Perle suchend und nicht rastend, bis wir sie erhandelt haben! Unsere Geschäfte gehen überalle gesegnet. Hier in Deutschland viel Geschäft zu schönen, sehr lohnenden Preisen. Nie waren unsere Geschäfte so blühend wie jetzt. Nicht nur wird unsere Nähseide überall mit Vorzug genommen, jetzt auch in New York, sondern auch unseren Tramen gibt man den Vorzug. In keinem fertigen Artikel haben wir Vorrat, dagegen noch ziemlich in älterer billigerer Grège. Unsere Arbeit an den Seelen derer, die mit uns arbeiten, hat ernstlich begonnen, und dies ist eine direkte Arbeit für das Reich Gottes. Schöne Nähseiden und gute Tramen machen, kann mittelbar auch dem Reich Gottes dienen, durch Wohlthun etc.; aber Arbeit an den Seelen in Christi Sinn ist die direkteste, höchste Arbeit in diesem Reich."6 Es wäre zu billig, wollte man hinter diesem fast kalvinistischen Geschäftsethos und dem gleichzeitig pietistischen Gefühlsüberschwang nur nacktes Geschäftsinteresse versteckt sehen. So sehr Mez die „schönen, sehr lohnenden Preise" und der gute Geschäftsgang freuen, so vielfältig seine kaufmännischen Bemühungen sind, so echt ist doch auch sein wortreiches Glaubensbekenntnis. Die unbezweifelbaren persönlichen Opfer, die er den verschiedensten christlichen Zwecken brachte, sein mutiges Einstehen für verfolgte Sektierer reden eine zu deutliche Sprache, als daß man diesen Mann als einen raffinierten Spekulanten in frommen Redensarten abtun könnte. Deutlich genug hat er auch mit seinen oft aufdringlichen christlichen Gebärden seine liberalen Freunde vor den Kopf gestoßen und ist ihnen doch in ihren politischen Kämpfen stets freudig beigesprungen. Gewiß trennte sich im Verlauf der Revolution Friedrich Hecker mehr und mehr von dem ihm so temperamentsverwandten, aber streng rechtlich gesinnten Freunde, und der nüchternere Bassermann reagierte gegen seinen Überschwang mit kritischer Distanz; in allen entscheidenden innerpolitischen Fragen der Paulskirche, dem Wahlrecht, der Reichsverfassung, der Justizreform, der Pressefreiheit blieb Mez jedoch stets ein aufrechter Liberaler, und es kümmerte ihn nicht, wenn er gleichzeitig der badischen Revolutionsregierung und der konterrevolutionären Reaktion verdächtig war. „Die Form © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ist mir nicht wichtig, aber das Wesen einer freiheitlichen, volkstümlichen Regierung — das will ich", ruft er den in Frankfurt versammelten Abgeordneten zu. „Ich erkläre, daß ich einer bestimmt und fest ausgesprochenen Fahne folge, ich stehe neben der Tricolore, mit dieser werde ich stehen, mit dieser werde ich fallen."7 Ungeschickt in der Form manchmal, aber untadelig in seinem Wollen bestand er die politischen Kämpfe seiner Zeit und bekannte sich auch in ihnen zu seinem Glauben. Als am 31. März 1848 das Vorparlament sich unter dem Geläut der Glocken und den Böllerschüssen der Kanonen feierlich zu seiner konstituierenden Sitzung versammelte, sprang der Abgeordnete des badischen Schwarzwaldes auf das Podium und rief in den spannungserfüllten Saal der Paulskirche: „Mitbrüder! Deutsche Männer! Franklin, der große Franklin, der Mann des Verstandes und der Freiheit und der Tugend, hat in seinem Leben oft gesagt: lebendig sei er von der Wahrheit des biblischen Satzes überzeugt: ,Wo der Herr nicht mitbauet, da arbeiten umsonst, die da bauen.' Meine Mitbrüder! Ich erkläre hier von dieser Tribüne aus, daß ich wie Franklin fest an diesen Satz glaube. Ich erkläre, daß ich, wie Franklin oft getan hat, den Herrn bitte, mitzuhelfen an unserem Bau, damit er gedeihe. Wir haben vor, einen großen und mächtigen Bau zu errichten, und bedürfen einer guten und starken Hülfe. Ich schlage daher vor und bitte den Herrn Präsidenten, Männer, die mit mir und mit Franklin an die Wahrheit seines Satzes glauben, aufzufordern, dies auszusprechen und anzuerkennen, daß sie sich erheben."8 Die ganze Versammlung erhob sich zum Zeichen ihrer Zustimmung von ihren Sitzen, nach dem Zeugnis Friedrich Daniel Bassermanns „mit einem mitleidigen Lächeln"9. Es ist leicht, dieses mitleidige Lächeln aufzusetzen, wenn wir die Reden und Briefe, die Traktate und Programme dieses eifrigen Bruders in Christo lesen. Vor dem Lebenswerk Karl Mezens, dem Aufbau einer der solidesten Unternehmungen am Oberrhein, vor seiner christlichen Liebestätigkeit und seinem unverdrossenen Kampf für Recht und Gerechtigkeit in Stadtrat, Landtag und Nationalversammlung wird man aber trotz aller Schrullen und Sonderbarkeiten, die ihn kennzeichnen, nur die höchste Achtung empfinden können. Karl Mez wurde am 20. April 1808 in Kandern, im äußersten Südwesten des badischen Oberlandes, nahe der Schweizer Grenze, geboren. Dort hatte sein Großvater als Posamentier das Bürgerrecht erworben und mit einem Bandstuhl sich niedergelassen, um seidene Bänder zu weben und auf dem Wochenmarkt zu verkaufen. Seine Produkte müssen außergewöhnlichen Anklang gefunden haben, denn bald konnte er sich einen zweiten und dritten Webstuhl anschaffen und mehrere Gesellen beschäftigen. Käufer kamen in die Wohnung, er selbst zog mit einem Korb auf dem Rücken auf die Jahrmärkte in der Gegend, manchmal die Nacht hindurch wandernd, um rechtzeitig von einem Marktort zum andern zu kommen, und nach wenigen Jahren besaß er einen Einspänner und einen offenen Messestand. 1775 beschäftigte er mehr als 20 Gesellen, zehn Jahre später nahm er seinen Sohn in das Geschäft auf, dehnte den Großhandel nach Müllheim und anderen Orten aus, und 1807 arbeiteten in seiner Fabrik 40 Personen an 28 Webstühlen. Die Mitbürger, die sich einst © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gegen seine Aufnahme gesperrt hatten, machten ihn zum Gemeindevorstand, und als er 1816 starb, trug ihn der Magistrat zu Grabe. Drei Söhne führten den Betrieb weiter. Der Älteste leitete die Weberei und gründete ein Ellenwarengeschäft, an dem sich der zweite Bruder beteiligte. Der jüngste Sohn zog nach Freiburg im Breisgau, richtete ein Warengeschäft ein, erwarb als erster Evangelischer das Bürgerrecht der Stadt, und seine katholischen Mitbürger wählten ihn in den Gemeinderat. Da er kinderlos blieb, nahm er die Söhne seiner Brüder in sein Haus zur Erziehung und später in sein Geschäft auf. Karl Mez war der Sohn des ältesten. Mit drei jüngeren Geschwistern wuchs er die ersten Jahre seines Lebens hauptsächlich unter der Obhut der Mutter auf, von der er „eine gewisse Spekulationsgabe", die starke Lebhaftigkeit und wohl auch den frommen Sinn ererbte, während der Vater eher als vorsichtig, ängstlich und ganz seiner Arbeit hingegeben geschildert wird10. In Freiburg nahm der begabte und lebendige Knabe manche Eindrücke auf, die für sein späteres Leben von Bedeutung wurden. Die Diaspora prägte seine betont evangelische Christlichkeit, das eben gegründete „polytechnische Institut" vermittelte ihm die ersten gewerblichen und technischen Kenntnisse. 1822 trat der Vierzehnjährige in das kaufmännische Geschäft der Brüder Girard in Freiburg in der Schweiz als Lehrling ein und lernte drei Jahre die Kaufmannschaft, wobei man an ihm schon die später so ausgeprägte Vorliebe für systematische Ordnung auch der kleinsten Dinge und für strenge Zeiteinteilung bemerkte, ein Erbstück also wohl des pedantischen Vaters. Bei dem Geschäftsführer der Firma nahm er Unterricht in französischer Korrespondenz und Konversation und bei einem Kapuziner in den Anfangsgründen der italienischen Sprache. Der fromme Klosterbruder scheint zum freundlichen Mentor des strebsamen Lehrlings geworden zu sein, denn ein Tagebucheintrag besagt, daß dieser Umgang seinem „strebenden Geist ein geistiges Viatikum zur Reise in die Welt" gegeben habe11. Nach seiner Rückkehr nach Freiburg und Kandern zeigte sich zum ersten Male die Mez eigentümliche Verflechtung von kaufmännischen und karitativen Motiven. Der Gegenstand seiner Sorge waren die Waldkircher Granatschleifer. Die Breisgauer Edelsteinschleiferei hatte einst in hoher Blüte gestanden, als sie in den niederösterreichischen Landen eine Monopolstellung besaß. Im Laufe des späteren 18. Jahrhunderts hatte sie dieses Monopol teils aus technischen, teils aus wirtschaftspolitischen Gründen verloren und war der neu auftauchenden böhmischen und badischen Konkurrenz fast erlegen. Nur Reste des aristokratischen Gewerbes konnten sich in das 19. Jahrhundert retten, und auch in den zwanziger Jahren kämpften sie mühsam um ihre Existenz12. Der junge Mez erkannte, daß man ihr vor allem neue Absatzgebiete erschließen müsse, und als er zu seiner weiteren Ausbildung auf Wanderschaft nach Italien ging, führte er ein Säckchen mit Granatsteinen bei sich, um sein kaufmännisches Geschick zu erproben. Mit dem Absatz der Edelsteine hatte er freilich kein Glück, um so wichtiger wurde die Reise für seine eigene geistige und technische Bildung. Während eines mehrjährigen Aufenthalts in Mailand lernte er alle Zweige der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Seidenfabrikation kennen, ersann seine ersten Verbesserungsvorschläge und erwarb eine umfängliche Kenntnis der italienischen Sprache und Kultur. Bei seiner Rückkehr in die Heimat begann der kaum Zwanzigjährige sogleich eine lebhafte Unternehmertätigkeit. Er trat in das Bank- und Gemischtwarengeschäft seines Oheims in Freiburg ein, erweiterte es durch den Seidenhandel, den er in Verbindung mit seinem Mailänder Prinzipal betrieb, und veranlaßte Vater und Onkel, sich zu einer gemeinsamen Firma „Gebrüder Mez" mit dem Hauptsitz in Freiburg zu verbinden. Als Vertreter dieser Firma bereiste er zu Pferde den badischen und württembergischen Schwarzwald mit Musterkarten. Sein Biograph bezeugt, daß von dieser Zeit die enge Berührung mit dem Landvolk herrührt, die er später als Fabrikant und Politiker intensiv pflegte, und aus seinen Briefen wissen wir, daß sich hier die wichtige Geschäftsbeziehung mit dem Frankfurter Handelshaus J . C. Weißer anbahnte, das in späteren Jahren den Alleinvertrieb der Mezschen Fabrikate in Deutschland übernahm. Hatte er so einen weiteren Absatzkreis für die Erzeugnisse der Firma aufgebaut, so machte er sich fast gleichzeitig daran, den Produktionsbetrieb in die Hand zu nehmen. Die aus Mailand bezogene Nähseide entsprach nicht allen Ansprüchen. Sie wurde in Neapel hausindustriell hergestellt in einem Verfahren, das der Seilerei ähnelte. In einer Länge von 24 Ellen zwirnte man die Seide auf dem Seilerrad und färbte sie schwarz, wobei man sie stark mit Blei beschwerte, um das Gewicht zu vergrößern, denn der Preis wurde nach Gewicht berechnet. Karl Mez versuchte nun, die Seide ohne Beschwerung schwarz zu färben. Er veranlaßte einen in Frankreich tätigen Färber, sich in Hirschhorn am Neckar niederzulassen und für ihn Seide extra leicht zu färben. Daneben studierte er die Technik des Webstuhls und der Zwirnmaschine und führte mehrere wesentliche Verbesserungen ein. Vor allem konstruierte er eine Zwirnmaschine, die es möglich machte, einen fortlaufenden Faden zu zwirnen. Die erste Zwirnmaschine der Firma Mez wurde mit einem Schwungrad von der Hand getrieben. Dann erwarb Karl Mez ein Grundstück an einem Mühlbach der Dreisam und richtete eine kleine mechanische Zwirnerei ein. Bald wuchs sie über die bescheidene Wasserkraft hinaus, und Mez errichtete in einer stillgelegten Granatschleiferei eine zweite Werkstatt. 1828 erwarb er das ehemalige Fürstlich Fürstenbergische Hammerwerk in der Karthäuserstraße als dritte Produktionsstätte. Nachdem Vater und Oheim in Kandern im Jahre 1832 das Seidenbandgeschäft ihren drei Söhnen übergeben hatten, wurde es nach Freiburg verlegt, und zwei Jahre später baute Karl Mez auf eigene Rechnung auf seinen Grundstücken im Dreisamtal eine größere Seidenzwirnerei und legte damit den Grundstock zu den ausgedehnten Fabrikanlagen der Firma Mez in Freiburg13. Worin das Geheimnis des geschäftlichen Erfolges der Seidenfabrik Mez lag, können wir aus verschiedenen Tatsachen schließen. Nach der Gründung des Zollvereins erlebte die neu entstehende badische Textilindustrie, die großenteils als Zweigunternehmung schweizerischer Firmen entstand, allgemein einen Aufschwung. Die Standortnachteile der im äußersten Südwesten des Zollgebietes gelegenen Firmen wurden offenbar kompensiert durch die natürlichen Stand29 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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ortvorteile an den wasser- und energiereichen Schwarzwaldflüssen. Während die früher hauptsächlich nach dem Süden, der Schweiz, Frankreich und Italien gerichteten Geschäftsbeziehungen erhalten blieben, öffnete sich nun nach Norden und Osten ein neues Absatzgebiet. In den ärmlichen Gebirgsgegenden standen billige Arbeitskräfte zahlreich zur Verfügung. Karl Mez machte sich diese Erkenntnis planmäßig zunutze. Aber es ist bezeichnend für ihn, daß ihn bei der Gründung seiner Filialen nicht zuerst geschäftliche Überlegungen leiteten, sondern moralische und pädagogische, ja christlich-humane. Er wollte die Arbeit den Menschen aufs Land bringen, wollte die Mädchen, die er in der Hauptsache beschäftigte, nicht aus ihren Familien reißen, sondern ihnen mit der Erwerbs- zugleich eine Erziehungsanstalt zur Verfügung stellen. Jetzt kamen ihm die ausgedehnten Geschäftsreisen, die er ein paar Jahre zuvor geführt hatte, zugute. Er suchte sich Gemeinden aus, in denen ein Überfluß an weiblichen Arbeitskräften bestand und richtete in einem möglichst zentral gelegenen Lokal Windereien ein. Von 1838 bis 1873 entstanden so zehn Filialen, die bis nach Karlsruhe im Norden und bis über Villingen hinaus im Osten reichten. Nachdem er im Jahre 1851, also kurz nach der schweren Krise, die in Baden durch die blutige Revolution noch verstärkt worden war, eine zweite Fabrik in Freiburg erbaut hatte, beschäftigte er bald 1000 Arbeiter in seinen Betrieben, und die Firma Mez war nicht nur die drittgrößte Textilfabrik Badens, sondern wahrscheinlich die bedeutendste Seidenproduktionsstätte Deutschlands14. Diese besondere Stellung verdankte die Seidenweberei Mez nicht nur der technischen, sondern ebenso der kaufmännischen Leistung ihres Seniorchefs. Nachdem er als Musterreiter persönlich die wichtigsten Geschäftsbeziehungen angeknüpft hatte, übergab er den Alleinvertrieb seiner Produkte der Firma C. F. Weißer in Frankfurt. Ähnlich erwarb er sich Alleinvertreter für Skandinavien, England, Belgien, Frankreich, Italien, den Orient und Südamerika. Ebenso zielstrebig baute er den Einkauf aus. Bis in die vierziger Jahre wurde die Nähseide aus groben handgesponnenen italienischen Seiden hergestellt, die sehr schwer zu winden waren und sorgfältig von Unreinigkeiten gesäubert werden mußten. Als diese Bezugsquelle noch dazu von einer Fleckkrankheit der Raupen bedroht war, wurde es zu einer Lebensfrage der Seidenindustrie, sich eine qualitativ und quantitativ befriedigende Rohstoffbasis zu sichern. Karl Mez reiste mehrere Male nach Kleinasien, um die dortige Seidenproduktion kennenzulernen. Als erster ließ er in großem Umfang kleinasiatische Raupeneier nach Italien bringen, um eine widerstandsfähigere Raupenart zu züchten. Da er auf diesen Reisen die Überlegenheit der orientalischen Seide erkannte, entschloß er sich, seinen Bedarf im Orient selbst zu decken. Im Juli 1840 sandte er einen jungen Kaufmann aus Kandern nach der Levante, um einen passenden Ort für den Einkauf der besten türkischen Rohseide, der „Amasia", ausfindig zu machen. Es mag penetrant sein zu bemerken, entspricht aber den Tatsachen, daß auch dabei ihn nicht das geschäftliche Interesse allein, sondern ein echter missionarischer Drang leitete. Die eingehenden Instruktionen, die er seinem Vertreter mitgab, handelten außer von Vorsichtsmaßregeln und Handelsbedin© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gungen auch von den letzten Zwecken der Menschheit: „Der Handel in entfernten Gegenden ist zunächst der Religion das mächtigste Mittel zur Civilisation der Völker. Da die Beförderung von Tugend und Glückseligkeit der Menschen Wille und Absicht Gottes ist, so darf sich jeder als ein treuer Arbeiter im Weinberg des Herrn betrachten, der mit redlichem Sinn und strengem Pflichtgefühl sich solchem Handel widmet." Kennte man nicht die tatsächliche missionarische Tätigkeit Mezens, die sich an diese Niederlassung in Amasia anschließt, so konnte man diese Instruktion als Gipfel der Heuchelei, als einen typischen Ausdruck europäischer kolonisatorischer Hybris bezeichnen und die sich anschließenden Schlußworte als primitive darwinistische Blasphemie: „Überall ist Kampf, nur durch Kampf gelangt man zum Sieg! So sei denn Gottes Gnade stets mit dir!"13 In den vierzig Jahren, die die Firma Mez ihre Niederlassung in Kleinasien hielt, entstand in Amasia in der Tat eine kleine Kolonie. Mez kaufte Grundstücke und Wasserkräfte und errichtete eine Reihe von Gebäuden. Neben dem Einkaufs- und Handelsgeschäft mit Rohseide entstand eine Holzsägerei, eine Mahlmühle, eine Zündholzfabrik und ein umfangreicher Handel in Mehl und anderen Landesprodukten. 1858 nahm eine Seidenspinnerei die Arbeit auf. Mez siedelte deutsche Kaufleute und Handwerker an, baute ein Missionshaus und sandte einen evangelischen Prediger und einen frommen Lehrer mit dem Auftrag nach, den Kolonisten Unterricht und Gottesdienst zu erteilen und die armenische Bevölkerung zu evangelisieren. In regelmäßiger Korrespondenz leitete er selber die Niederlassung und bevormundete brieflich seine Angestellten nicht weniger als die unter seinen Augen arbeitenden Freiburger Fabrikmädchen. Zweimal, 1851 und 1857, reiste er in Begleitung eines Sohnes selbst nach dem Orient. Auf dem Rückwege besuchte er das Heilige Land und die Stadt „des großen Königs" mit ihren Basler Missionsstätten, denen er seitdem ein tatkräftiger Helfer und Freund blieb. Seine anderen auswärtigen Unternehmungen waren weniger erfolgreich. Eine Rohstoffbasis in Nukka in Kaukasien mußte bald wieder aufgegeben werden, weil der Agent erkrankte, eine Seidenzuchtanstalt in Tiflis wurde von der russischen Regierung übernommen, eine geplante Niederlassung in Odessa kam gar nicht zustande, und eine Seidenraupenzucht in Neusatz in Ungarn machte ihm so viel Verdruß, daß er sie nach mehreren Besuchen 1870 wieder aufgab. Aber auch die Niederlassung Amasia war eine Quelle ständiger Sorgen. Jahrelang mußte die Firma in Konstantinopel Prozesse führen, um ihren Besitz vor der Beschlagnahme zu retten, der er als Eigentum Ungläubiger zu verfallen drohte. Durch das Eingreifen Helmuth von Moltkes konnte Frau Caroline Mez zwar als rechtmäßige Eigentümerin eingetragen werden, schließlich wurde aber auch Amasia aufgegeben, nachdem sich in den sechziger Jahren die chinesische Seide den europäischen Markt erobert hatte. Etwa zur gleichen Zeit schränkte Mez auch seinen überseeischen Vertrieb ein und schloß eine Verkaufsfiliale in New York, die fünfzehn Jahre bestanden hatte. Der amerikanische Schutzzoll hatte 1865 diesen Markt unrentabel gemacht. 29*

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Die Firma Mez produzierte weiße Rohseide und Einschlagseide, rote und schwarze Nähseide, verschiedenfarbige Cordonnets, Tramen, Organzine, Nähmaschinenseide, Doppelbänder, die sogenannten „Markgräfler Kappen", und seit 1870 Netzunterkleider, für die Karl Mez eigene baumwollene und seidene Stoffe und eine mechanische Netzknüpfmaschine entwickelte. Denn ähnlich wie später Robert Bosch in Stuttgart hatte er ein reges Interesse an Hygiene und naturgemäßer Gesundheitspflege und wollte vor allem das Wohlbefinden der Arbeiter während ihrer Arbeitszeit erhöhen. Zugleich unterstützte er mit dieser Produktion die Wernerschen Anstalten in Reutlingen, denen er die zu den Unterkleidern verwendeten Netze in Auftrag gab. Mit seinen Produkten beteiligte sich Mez Öfters auf Fabrikausstellungen. In seiner badischen Heimat erhielt er mehrere goldene Medaillen und auf den Weltausstellungen in London und Paris ehrenvolle Erwähnungen und Auszeichnungen. Auch als Preisrichter war er tätig und wurde dafür z. Β. in Wien ausgezeichnet. Seine originellste Leistung aber liegt auf dem Gebiet der be­ trieblichen Sozialpolitik. Mez war einer der frühesten Pioniere des Mitunternehmertums und vielleicht sein erster Praktikant in Deutschland. Längst ehe er aber in den 70ern mit seinen „Bundesfabriken" Schiffbruch erlitt, hatte er schon die verschiedensten Formen der betrieblichen und außerbetrieblichen Fürsorge für seine Arbeitnehmer erprobt. In einem Bericht für die Universalausstellung in Paris im Jahre 1867 hat Mez seine sozialen Grundsätze selbst aufgezeichnet16. „Bei unserem hiesigen Beginnen erkannten wir bald, daß wir hier zu unserem Seidenzwirngeschäft (Nähseide, Cordonnet, Organzine, Trame) nur Mädchen verwenden könnten, und daß wir auch fremde herbeiziehen müßten, wenn wir die zu einem größeren Geschäft notwendige Arbeitskraft haben wollten. Unser Bestreben war von Anfang an dahin gerichtet, die sittliche Gefahr zu vermeiden, welche für die Mädchen darin besteht, daß sie von ihrer Heimat entfernt und nicht so untergebracht werden, daß sie unter guter Aufsicht sind. Dies ist aber der Fall, wenn Mädchen in auswärtige Fabriken kommen, wo sie nur während der Arbeit und oft auch nur für die Arbeit beaufsichtigt und dagegen die Abend-, Nacht- und Sonntagszeit sich selbst überlassen bleiben, sofern sie ihre Wohnung suchen können, wo sie wollen. Weil wir einerseits die hieraus entstehenden sittlichen Schäden erkannten und sich uns andererseits der Gedanke aufgedrängt hatte, Fabriken könnten, wenn recht betrieben, nicht nur in ökonomischer, sondern auch in sittlicher Beziehung höchst wohltätig auf ihre Arbeiter und deren Familien wirken, so bekamen wir die Überzeugung, daß bezüglich der Art des Betriebes eine schwere Verantwortung auf den Fabrikeigentümern oder Leitern lasten müsse, und fühlten uns zu Verbesserungsversuchen ermutigt und innerlich angetrieben. Uns schien es, daß Fabriken in gewisser Beziehung Erziehungsanstalten der Armen werden könnten. Wenn sie diesen höheren Zweck nicht erreichen, so sollten sie zum wenigsten als Bewahranstalten dienen. Solches Ziel muß gesteckt werden, wenn etwas Größeres erreicht werden soll als nur ökonomische Vorteile, welche von sehr zweifelhaftem Wert sind, wenn die Sittlichkeit dabei Not leidet. Der Mensch muß höher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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geachtet werden als die Materie, Ware oder Maschine; man darf nicht vergessen, daß in ihm eine Seele wohnt, welche zum ewigen Leben bestimmt ist und daß zu solcher Seligkeit in diesem gegenwärtigen Leben der Grund gelegt werden soll." Man wird diesem Glaubensbekenntnis eines Unternehmers bei allen Bedenken, die unser emanzipiertes Jahrhundert gegen die Beschränkung der Freiheit des Arbeiters und die patriarchalische Diktatur des Patrons empfindet, Anerkennung zollen müssen. Gewiß war dieses Programm undurchführbar und noch voll der Reglementierung, die das vorindustrielle Wirtschaftsleben Europas kennzeichnete. Das religiös-moralisch-polizeiliche Bevormunden, das der christliche Landesherr so lange gegenüber seinen Untertanen geübt hatte, war mit der Versachlichung des Staates auf den Beamten und mit dem Aufkommen der staatlich privilegierten Manufaktur auch auf die Unternehmer übergegangen. Der Arbeiter wird noch als unmündiges Kind empfunden, das zu seinem Heil mit sanftem Druck oder offener Gewalt geführt werden muß, weil es nicht weiß, was ihm gut ist. Aber so erziehungsbedürftig man ihn auch hält, er wird als „humanum" behandelt und nicht zum Objekt, zum Glied eines Produktionsprozesses gemacht. „Der Mensch muß höher geachtet werden als die Materie, Ware oder Maschine, man darf nicht vergessen, daß in ihm eine Seele wohnt, die zum ewigen Leben bestimmt ist . . ." Karl Mez machte diesen Satz besonders wahr, indem er in seinen Fabriken mit Vorliebe auch solche Mädchen beschäftigte, die durch Körperfehler eine schwere Arbeit nicht verrichten konnten, und indem er dafür sorgte, daß durch Turnübungen Verwachsungen und Haltungsfehler gemildert wurden. Die außergewöhnliche Fürsorge, die Mez seinen Arbeitern widmete, hat mehrfach Anerkennung gefunden. Der Heidelberger Jurist Mittermaier räumte in einer Denkschrift über „Die Fabriken im Großherzogtum Baden und ihre Leistungen für die Verbesserung des Zustandes der Fabrikarbeiter" der Firma Mez einen vorzüglichen Raum ein17, ein ungenannter Sachverständiger, der die Industrie Deutschlands und der Schweiz bereiste, zählte Mez zu den wenigen deutschen Fabrikanten, die nicht bloß über zunehmende Unzuverlässigkeit und Leichtsinn der Arbeiter klagten, sondern sich verpflichtet fühlten, selbst zuzugreifen, „um zunächst ihrer Arbeiter äußere Lage möglichst zu verbessern, sodann aber und vor allem ihr sittliches Wohl und das Heil ihrer Seelen zu fördern"18; und 1867 erhielt Karl Mez in Paris den Orden der Ehrenlegion für seine fabrikatorischen wie sozialpolitischen Leistungen. Zur Verwirklichung seiner Grundsätze beschritt er zwei Wege; er ging den Arbeitern in ihre Heimat nach, und er richtete für die Zentralfabriken Pensionsanstalten mit Kost und Wohnung ein. „Wir haben uns immer gesagt: Fabriken sollten Abieiter sein für den Müßiggang. Da wo Landwirtschaft oder kleinere Gewerbe oder Handel und Künste alle Arbeitskräfte nützlich beschäftigen, da sollen Fabriken ferne bleiben. Ehe eine Fabrik errichtet wird, sollen alle Verhältnisse wohl erwogen werden; und da, wo viele Arbeiter für das Geschäft nötig sind, soll man darauf Rücksicht nehmen, ob so viel vorhanden sind, ohne daß ein Her© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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beiziehen aus ferneren Gegenden notwendig ist. Die Arbeiterfrage ist wichtiger als die Rücksicht auf Wasserkraft, billige Kohle, gute Lage für Einkauf und Verkauf. Es wird sonst eine Klasse von gefährdetem und deshalb gefährlichem Proletariat gebildet, wenn man nach dem heutigen System der Fabriken Arbeitermassen zusammenhäuft. Hier müssen von Zeit zu Zeit große Übelstände entstehen." Umgekehrt sind Fabriken in Gegenden mit Arbeiterüberschuß „Quellen wahrer Wohltaten", nicht nur für die Arbeiter selbst, sondern für die ganze Bevölkerung. „Die Lage der Arbeiter beim Bauernstand ist oft keineswegs eine glückliche, das Elend ist oft sehr groß, besonders auch das sittliche, die Mädchen namentlich verdienen im Sommer oft nur ein kärgliches Brot für den Winter, und daneben sind die Bauernarbeiten sehr schwer. Dies alles wird anders, wenn in ein solches Dorf eine ordentlich geleitete Fabrik kommt, da muß den Mädchen eine bessere Behandlung und ein besserer Lohn gegeben werden, oder sie gehen in die Fabrik."19 Vor allem preist Mez den „sittlichen Nutzen", den die Industrie auf dem Lande hat. Die Mädchen werden der Familie und der Heimat nicht entfremdet, sie können weiterhin Hausund Feldarbeiten verrichten und bleiben in ihrer gewohnten Umgebung. Auch wer der Mezschen These von der „Fabrik als einer Bildungs- und Bewahranstalt" skeptisch gegenübersteht, wird sich diesem Argument nicht verschließen können. Wir wissen heute, wie entscheidend der Prozeß der Entwurzelung, der Verlust der vertrauten Umwelt und der Geborgenheit in einer angestammten Heimat für die Bildung eines Arbeiterproletariats im 19. Jahrhundert war und in anderen Teilen der Welt immer noch ist. Wenn sich auch der Arbeitsmarkt bei der Wahl des Standorts nur in wenigen Industrien so berüdesichtigen läßt wie bei der Textilverarbeitung, so hat doch verfehlte Standortwahl oft zu sozialen Fehlprozessen geführt, und die großen Industrieballungen sind zu einem schweren Problem der modernen Gesellschaft geworden. Trotz aller Naivität enthalten die Mezschen Gedanken manche Momente, die auch heute noch beherzigenswert sind. Auch auf seinem zweiten Wege, der Betreuung der Arbeiter in den zentralen Fabriken, hat Mez eine Richtung eingeschlagen, die sich in einer verwandelten Welt nicht einhalten ließ, deren Ausgangspunkt aber überall Anerkennung gefunden hat. Mez sorgte für seine Arbeiterinnen, indem er sie wirklich in eine „Bewahranstalt" einwies. Eine strenge Hausordnung reglementierte das Leben der Mädchen während der Arbeit und Freizeit, und eine Hausmutter wachte über ihre Einhaltung. Nach zwölfstündiger Arbeitszeit hatten sie abwechselnd Hausarbeit zu verrichten, im Sommer sollten sie sich im Garten betätigen, Lesen und Singen wurde ihnen empfohlen, morgens und abends Andachten gehalten, dafür war der Besuch des Wirtshauses, der Wachtparade, des Theaters und des Tanzbodens verboten und abendlicher Ausgang beschränkt. In einem Brief vom 17. Juni 1869 mahnt Mez die Hausmutter, stets an die „große Pflicht" zu denken, die sie mit dem Fabrikherrn gemeinsam zu tragen habe, „nach Leib und Seele aufs beste für unsere Mädchen zu sorgen". „Dies ist unsere gemeinschaftliche schöne Aufgabe, weil, wenn wir sie recht erfüllen, wir als Nachfolger Jesu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Christi dadurch ein lebendiges Glaubenswerk tun, also etwas Gott Wohlgefälliges. Thun wir aber das uns befohlene Werk nicht recht, so werden wir Strafe leiden müssen. Die Gottesfurcht soll unser gemeinschaftlicher Gesichtspunkt sein. Weil die Seele wichtiger ist als der Leib, so wollen wir auch zuerst mit ihr anfangen. Die Seelen müssen wir bewahren und pflegen."20 Die Mädchen sollen zur Frömmigkeit erweckt werden, gutes Beispiel sehen, Ordnung, Sauberkeit und Sparsamkeit lernen. Sie sollen vor sittlichem Schaden bewahrt werden und einfache, aber gesunde Kost erhalten. Mez legte wie alle Lebensreformer auf eine richtige Auswahl des Küchenzettels und gute Zubereitung großen Wert. Er las Ernährungsvorschriften und Reformbücher und schickte sie seiner Hausmutter, damit sie selbst sehe, daß Pflanzenkost gesünder sei als Fleischkost und Hülsenfrüchte am nährwerthaltigsten. Selbst daß Bohnen zwei Tage vorher eingeweicht werden sollen, vergaß er nicht zu erwähnen. Für das Seelenheil seiner Arbeiterinnen verteilte er Traktate und selbstverfaßte Lebensregeln, in denen er auf der einen Seite „Was uns Glück bringt" beschrieb und auf der anderen Seite warnte vor dem, „was uns Unglück bringt"21. Milch und Obst, Wein „in mäßigen Mengen", Bewegung in freier Luft, Abhärtung des Oberleibes und „pflichtgemäße Anwendung der Zeit" werden empfohlen, denn „Arbeit — macht das Leben süß"; Tabak, Bier, Branntwein, Kaffee, Wirtshaus und Theater werden verworfen, ebenso wie Völlerei und Unkeuschheit, Geiz und Gottlosigkeit, denn „Die Sünde ist der Leute Verderben" und „Müßiggang ist aller Laster Anfang". Aber hinter all diesen skurrilen Zügen verbergen sich wesentliche Ansätze einer betrieblichen Sozialpolitik. Die Firma Mez übernahm zwei der elf Kreuzer, die die Ernährung ihrer Arbeiter täglich kostete. Sie abonnierte ihre Arbeiterinnen im städtischen Hospital und zahlte 40 % des Abonnements. Sie errichtete eine Badeanstalt, in der die Werksangehörigen für 25 Pfennige ein warmes Bad nehmen konnten, sie gründete eine Werkssparkasse, die 5 % Zinsen zahlte und in der einzelne Arbeiterinnen bis zu 500 Gulden ansammelten, und sie baute für verheiratete Arbeiter Werkswohnungen mit Garten, die nur den Nachteil hatten, daß man in ihnen nicht rauchen durfte. Karl Mez' größter Plan war, „Bundesfabriken" zu errichten, in denen die Stammarbeiter Miteigentum und Mitbestimmung besaßen. In einem Entwurf seiner Hand heißt es: „An der Herrschaft sollen die ständigen Arbeiter und die Angestellten (Aufseher, Verwalter, Commis, Direktoren) einen gebührenden Anteil bekommen, so daß dieselbige nicht ausschließlich dem Kapital zustehen soll. Die Herrschaft wird ausgeübt durch einen Verwaltungsrat, welcher die verantwortliche Geschäftsleitung an einen kaufmännischen und einen technischen Direktor mit aller Verfügungsgewalt nach Maßgabe der Statuten überträgt. An den Ergebnissen des Geschäfts, sei es Gewinn oder Verlust, sollen die Angestellten und ständigen Arbeiter billigen Anteil nehmen. Die Bundesfabriken sollen insofern den Aktienfabriken gleichen, als ihr benötigtes Kapital auch in Bruchteilen — Aktien — gesammelt wird, aber in so kleinen Aktien, daß auch Arbeiter Besitzer davon werden können."22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Ein Jahr nach der Gründung des Deutschen Reiches ging Karl Mez daran, diesen Plan zu verwirklichen. Mit einigen gleichgesinnten Freunden kaufte er bei Schopfheim in Baden ein Anwesen mit zwei Fabrikanlagen und gründete die „Mechanische Baumwollenweberei Hasel A.G.". Das Kapital von 80 000 Mark wurde unterteilt in 70 Aktien zu 1000 Mark und 100 Aktien zu 100 Mark. Die 100-Mark-Aktien waren den Arbeitern der Firma vorbehalten, besaßen aber das gleiche Stimmrecht wie die 1000-Mark-Aktien, so daß die Arbeiter mit 100:70 die Stimmenmehrheit besaßen. Auch an der Geschäftsführung waren die Stammarbeiter beteiligt, und um diese seine Lieblingsfabrik auch mit seinem höchsten Streben eng zu verbinden, ließ Mez die Bestimmung in die Statuten aufnehmen, daß ein Teil des Geschäftsgewinnes der Inneren Mission zuzufließen habe. Es war für ihn daher ein harter Schlag, daß dieses Unternehmen nach kurzer Zeit scheiterte. In der Betriebsleitung kamen Veruntreuungen vor, und nach fünf Jahren mußte die Fabrik unter großen Verlusten, die Mez fast allein trug, aufgegeben werden. Nicht besser erging es seinem zweiten Versuch, der Mechanischen Hanf- und Jutespinnerei in Emmendingen, Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg eroberte sich die Baumwolle den europäischen Markt, die Firma erlitt Verluste, die die Mit-„Unternehmer" zu tragen nicht bereit waren. Diese Erfahrung ist nicht ohne symptomatischen Wert. Offenbar war die patriarchalisch-diktatorische Leitung, die Mez in seinen anderen Fabriken übte, noch unentbehrlich. Es fehlte an einer verantwortlichen Führungsschicht unter den Angestellten und Arbeitern, die die Aufgabe des Unternehmers hätten übernehmen können. So ist diese Erfahrung zugleich ein Beweis, daß die ältere Unternehmergeneration des 19. Jahrhunderts mit ihrem Herrn-im-Hause-Standpunkt so unrecht nicht hatte. Die Arbeiter, die zum größten Teil aus der ländlichen Sozialform des „Hauses" kamen, in dem der „Herr" den Ton angab und die Verantwortung trug, wollten geführt und geleitet werden und sich das eigene Denken ersparen. Nicht von ungefähr wetterten ja Marx und Engels im gleichen Atemzug wie gegen die Herrschaft des Unternehmers auch gegen die Unterwürfigkeit und Bedürfnislosigkeit des Arbeiters. Sozialisten und Kapitalisten mußte daran gelegen sein, den Arbeiter aus seiner Unmündigkeit herauszuführen. Da die Sozialisten dabei nur auf die zu sprengenden Ketten, die Unternehmer aber auf die in der Freiheit zu tragende Selbstverantwortung aufmerksam zu machen hatten, fiel es den Sozialisten leicht, den erwachenden Arbeiterstand zu sich hinüberzuziehen. Es hätte einer ganzen Reihe solcher Unternehmungen wie der „Mechanischen Baumwollenweberei Hasel A.G." bedurft, um die Arbeiter langsam an ihre Aufgaben der Mitverantwortung heranzuführen. Daß Karl Mez den Mut dazu hatte, wird man ihm nicht hoch genug anrechnen können, und wenn der Aufbau seiner großen Seidenfirma mit Produktionsfilialen, Einkaufszentren und Absatzbüros eine echte und bedeutsame unternehmerische Leistung darstellt, so ist der Versuch, im Jahre 1872 Miteigentum und Mitbestimmung einzuführen, eine nicht minder bedeutsame, weit in die Zukunft hinausgreifende Tat. Sein christlicher Glaube war es, der ihn auf diesen Weg führte, auf dem er den schwie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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rigsten sozialen Problemen des Industriezeitalters begegnen mußte. „Die sociale Bedeutung der Fabrik ist groß", schreibt er in jener Denkschrift für die Industrieausstellung von 1867. „Wir erkennen wohl, daß eine geänderte Verfassung derselben not tut, und wir gehen schon lange mit dem Gedanken einer Bundesfabrik um, in welcher die besten unter den Arbeitern in ein Genossenschaftsverhältnis mit dem Besitzer treten. Das hohe Ziel für alle menschlichen Verhältnisse ist auch das bei Fabriken anzustrebende, d. h. eine ernstere und treuere Durchführung der christlichen Principien."23 Dieselben christlichen Prinzipien, die Karl Mez bei seiner Unternehmertätigkeit leiteten, leiteten ihn auch in der Politik. Wenn er in sein Tagebuch eintrug, daß der Zweck seines Daseins das Glück und Wohlsein seiner Mitmenschen sei, so versuchte er dieses Wohl nach bestem Wissen und Gewissen als Abgeordneter zu fördern. Mez war ein Volkvertreter im ursprünglichsten Sinne des Wortes, ein Mandatträger, der seinen Auftrag von den Mitbürgern und von Gott zugleich empfing und vor beiden zu verantworten sich schuldig fühlte. Im Jahre 1844 wählte ihn der Wahlkreis Schopfheim/Kandern zu seinem Vertreter in die IL Badische Kammer. Die Kammer machte ihn zu einem ihrer Sekretäre und wählte ihn in den Etatausschuß. Seine Tätigkeit als Abgeordneter ist weit weniger bekannt geworden als die seiner liberalen Parteifreunde Hecker und Struve, Welker und Bassermann, deren Rolle in der Revolution von 1848 sie zu bekannten Figuren der deutschen nationalen Geschichte machte. Auch Mez war Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, des Vorparlaments und des Stuttgarter Rumpfparlaments und hat manchen parlamentarischen Strauß ausgefochten. Aber ohne Zweifel wog seine Tätigkeit weniger als die seiner berühmten Zeitgenossen. Mez war kein Politiker aus Leidenschaft, der alle anderen Interessen hintansetzen konnte. Auch während der Revolution setzte er seine Geschäftstätigkeit fort und widmete sich kirchlichen Aufgaben, Er reiste zwischen Freiburg, Karlsruhe und Frankfurt hin und her und suchte zu schlichten und zu vermitteln. Sein tiefes Rechtsgefühl ließ ihn zugleich in der Nationalversammlung den badischen Großherzog in Schutz nehmen, weil er die Verfassung bedingungslos anerkannt hatte, und in Karlsruhe für die Freilassung und humanere Behandlung der gefangenen Aufständischen kämpfen, da sie von der Regierung lange genug gereizt worden seien. Er besuchte persönlich die Gefängnisse und brachte Linderung, aber er mobilisierte zugleich die Freiburger Bürger gegen die revolutionären Freischaren seines Duzfreundes Hecker, und als die Aufständischen den konservativen Bürgermeister von Kandern durch ein Schwurgericht zum Tode verurteilen wollten und in ganz Freiburg kein Anwalt sich fand, der ihn zu verteidigen wagte, übernahm der Stadtrat Karl Mez die Verteidigung und erwirkte mit einem großen Plädoyer den Aufschub des Urteils und damit die Rettung des Angeklagten. Daß er damit selbst zu einem Verfolgten wurde und mehrmals in der Schweiz Zuflucht suchen mußte, störte ihn ebensowenig wie der Verdacht der Reaktionäre, daß er die Revolution wolle. Ähnlich wie Bassermann hat der Liberale Karl Mez, indem er streng am Prinzip der Legalität festhielt, sich von einem oppositionellen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Republikaner zu einem Hüter der Ordnung entwickelt. Aber seine demokratischen Grundsätze gab er nie auf. Das Prinzip der Souveränität des Volkes blieb ihm heilig. Deshalb galten ihm die Beschlüsse der Nationalversammlung als gültige Gesetze, für deren Durchführung er im Badischen Landtag kämpfte, und der Aufstand der badischen Revolutionäre erschien ihm als ein Verbrechen gegen die „Majestät des Volkes", das er auf das entschiedenste verurteilte. Solange die Badische Kammer rechtens tagt, solange die Abgeordneten des deutschen Volkes in Frankfurt sich versammeln, „so lange müssen wir fordern von jedem rechtlichen Bürger in Deutschland Gehorsam dem Gesetze, das gegeben wird, nur auf diese Weise kann für Deutschland Ersprießliches bewirkt werden"24. Obwohl sich Mez im Landtag wie in der Nationalversammlung der linken Opposition anschloß und besonders mit Hecker lebenslang persönlich verbunden blieb, war ihm die Frage: konstitutionelle Monarchie oder Republik stets zweitrangig. Was er wollte, waren verfassungsmäßig verbürgte politische Freiheiten und Rechte, besonders Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit, und gerechte soziale Zustände, wozu er Schwurgerichte, humanen Strafvollzug, vor allem aber ein geordnetes Wirtschaftsleben, gerechte Steuerverteilung und Fürsorge für die Armen rechnete. Schon in seinem ersten Diskussionsbeitrag in der Badischen Kammer am 12. Juli 1844 hatte er vor dem „Generalkrach" gewarnt, der unfehlbar kommen müsse, wenn der Staat sich nicht anschicke, die sozialen Lasten gleichmäßiger zu verteilen. „Man wird es nach Jahren kaum glauben, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, wo jene, welche es am besten vermocht hätten und welche dazu die größten materiellen Verbindlichkeiten hatten, nichts beitragen mußten zu den Lasten des Staats."25 Deshalb befürwortete er die Einführung einer Kapitalsteuer, ja plädierte für eine Veröffentlichung der Steuerlisten, damit jedermann sehe, was sein Nachbar für die Allgemeinheit opfere. Als vier Jahre später der große „Generalkrach" da war, die Regierung Aufständische einsperren ließ und die Kammer über eine Amnestie verhandelte, wandte er sich empört gegen die Absicht, die Anstifter davon auszunehmen. Denn die Schuldigen saßen nach seiner Meinung nicht nur im Gefängnis, sondern auch auf der Regierungsbank. „Denn, meine Herren, warum hat das Präsidium und das Ministerium uns vor den Märztagen so viele Rechte, die wir damals schon verlangt haben, vorenthalten? Ich will hier nur eines nennen: Das Präsidium des Ministeriums hat letzthin zugegeben, die Regierung könne nur mit der Majorität der Kammer regieren. Meine Herren! Wann hat die Regierung uns dieses früher zugegeben? Niemals! Man hat vielmehr vor kaum einem Jahre das Gegenteil gesagt. Wäre man damals zu solchen Grundsätzen gekommen und hatte die Rechte der Bürger so anerkannt wie jetzt, wahrlich ich glaube, von allen Unruhen und Aufruhren wären keine vorgekommen. Überhaupt wollen wir uns nicht verhehlen, daß die Ursachen dieser Zeiten tiefer liegen. Wir wollen es gestehen, meine Herren, es ist nur eine Quelle, aus der alles dieses hervorgeht, und diese Quelle, ich will sie einmal in diesem Saale nennen, ist die Sünde! Die Sünde ist die Anstifterin all dieses © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Unheils, und alle, welche der Sünde gefrönt haben, alle — von den Thronen bis zum Bettler — sind die eigentlichen Anstifter."26 Wie er sich selbst die Behebung der sozialen Übel vorstellte, hat Karl Mez den Abgeordneten in seiner großen Landtagsrede über die Ursachen der überhandnehmenden Armut vom 30. November 1848 dargelegt27. Logik und Klarheit der Rede, überzeugende Argumentation war nicht seine Sache, aber an die Vernunft und die Herzen zu appellieren, das vermochte er, und so ist diese Rede, die wie alle seine politischen Vorschläge im Grunde unbeachtet blieb, vor allem das Dokument eines begeisterten Menschenfreundes, der die Verantwortlichen aus der Trägheit der Herzen aufzurütteln sucht. Sittenlosigkeit ist für ihn der Hauptgrund der zunehmenden Armut, jene Sündhaftigkeit, von der er ein andermal gesprochen und die ein halbes Jahrhundert zuvor schon Johann Gottlieb Fichte für die Übel seiner Zeit verantwortlich gemacht hatte. Deshalb weist diese soziale Kassandra als Weg aus dem Pauperismus, der so viele seiner Zeitgenossen zu erschrecken begann, vor allem die Erziehung zu höherer Sittlichkeit, auch hier seinem (ihm wohl unbekannten) Vorläufer aus der Zeit der deutschen Erhebung folgend. Die Grundsätze der Volkswirtschaft gehen ihm mit den Grundsätzen der Humanität Hand in Hand: nur durch Ausbildung ihrer moralischen Kraft wird die menschliche Gesellschaft auch zu größerem Wohlstand kommen. Unter den zehn Punkten, die er zur Behebung der Armut vorschlägt, steht die Gründung von Erziehungs- und Bewahranstalten für Kinder und Erwachsene an erster Stelle. Die „väterliche Beaufsichtigung von seiten der bürgerlichen Behörden", die früher so segensreich gewirkt habe, müsse wieder eingeführt werden, Bier- und Weinmäßigkeitsvereine sowie Anti-SchnapsVereine ihre Wirksamkeit unterstützen. Erst dann folgen seine ökonomischen Vorschläge: Kapitalsteuer und progressive Einkommensteuer, Verwendung der Steuern für volkswirtschaftlich nützliche Zwecke statt für Luxus und Repräsentation, Errichtung von Sparkassen und gemeinnützigen Anstalten, wie genossenschaftlichen Dampfwäschereien, Ortsbäckereien, Ortsleihkassen und Liegenschaftsbanken für die kleinen Landwirte, Schutz der Arbeit nach außen und innen, d. h. Zollschutz für die junge Industrie und eine Gewerbeordnung, die die allzugroße Ausdehnung einzelner verhindert, und schließlich Fabrikgesetze, die das Fabrikwesen allmählich von dem rein monarchischen in das konstitutionell-monarchische System und „in späteren Zeiten" in die „edle republikanische Form" überführen. Diese Gedanken zeigen, daß Mez schon damals an die Entwicklung zum Mitunternehmertum dachte, die er ein Vierteljahrhundert später mit seinen „Bundesfabriken" in Gang setzte. Wie in der Politik, so strebte Mez auch in der Wirtschaft die demokratische Republik als ideales Zukunftsziel an, aber er erkannte, daß sie nur allmählich über eine konstitutionelle Zwischenstufe erreicht werden könne. Der Weg dazu ist die Dezentralisation der großen Industrie und ihre Orientierung an dem Arbeitsmarkt. Mez geht so weit, zu fordern, Fabriken in großen Städten zu verbieten und auf das Land zu beschränken. Nur die Eitelkeit, die Residenzstädte stets zu vergrößern, habe zu dieser © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Fehlentwicklung geführt, der man in Deutschland noch Einhalt gebieten könne. „Die Gewerbe28 gehören in die Städte, die Fabriken aber auf das Land." Mit dem ganzen sittlichen Pathos, dessen nur die Parlamente der Frühzeit fähig waren, appelliert Mez in seinen Schlußworten an die Abgeordneten: „Weil nun unsere Zustände mit göttlichem Recht nicht übereinstimmen und ich der Meinung bin, dies göttliche Recht werde sich nicht für immer unterdrücken lassen, deswegen habe ich schon vor Jahren gesagt und sage es noch, diese unsere Zustände sind nicht haltbar. So lassen Sie uns denn alle redlich daran arbeiten, sie zu verbessern: Wir werden dies am sichersten bewirken, wenn wir dafür sorgen, daß der Abscheu vor allen Lastern und die Liebe zu allen Tugenden wieder lebendiger werde." Im Frühjahr 1848 ging Karl Mez als Abgeordneter der Ämter Triberg, Hornberg, Villingen, Donaueschingen und Neustadt nach Frankfurt. Seinen Wahlmännern schrieb er die bedeutungsvollen Worte, die ein Jahrhundert später von neuem eine beklemmende Aktualität bekommen haben: „Ich hoffe, wir werden Freiheit und Einheit nebeneinander stellen können; wäre dem unglücklicherweise nicht so, dann stünde mir die Freiheit höher als die Einheit."29 In der Nationalversammlung ist er außer mit jenem unglücklichen Antrag, darüber abzustimmen, ob, wie Bassermann sagte, „die Versammlung an Gott glaube"30, kaum hervorgetreten. Die zeitgenössischen Berichte Laubes, Biedermanns oder Rümelins erwähnen ihn nicht, aber aus seinen Tagebucheintragungen und den namentlichen Abstimmungen wissen wir, daß er im allgemeinen mit der oppositionellen Linken stimmte mit Ausnahme kirchlicher Fragen oder dem zukunftsträchtigen Problem des Nationalstaats31. Die Radikalen rechneten ihn daher auch zunächst zu den ihren, und die badische Revolutionsregierung unter Brentano trug ihm das Finanzministerium an. Daß er entschieden ablehnte, mit den Umstürzlern zusammenzuarbeiten, trug ihm freilich keine Freunde auf der Gegenseitne ein, und er blieb als Mann der Paulskirche verdächtig, ja verlor nach dem Sieg der Gegenrevolution seinen Sitz im Stadtrat32. Mez wich der Gewalt und zog sich für mehr als zehn Jahre aus dem politischen Leben zurück. Auch ein Mandat für das Abgeordnetenhaus nahm er nicht mehr an. Erst 1863 ließ er sich wieder in den Bürgerausschuß berufen, und im folgenden Jahre war er wieder Mitglied des Stadtrates und des Kreisausschusses. Hier begann er noch einmal eine vielseitige kommunalpolitische Tätigkeit. 1842 hatte er schon die Lesegesellschaft „Harmonie" mitgegründet, ein verspätetes Produkt der bürgerlichen Aufklärung, das den Bürgern gute und belehrende Bücher zugänglich machen sollte, fünf Jahre später war er in den Verwaltungsrat der Blindenbeschäftigungs- und Versorgungsanstalt eingetreten, dem er bis zu seinem Lebensende angehörte und dem er viel Zeit widmete, nun übernahm er das Landwirtschafts-Referat, richtete eine landwirtschaftliche Winterschule ein, an der er selbst Vorträge hielt, und kümmerte sich um die hygienischen Anstalten der Stadt. Im Jahre 1873 reichte er, nachdem er die Wasserversorgung anderer großer Städte studiert hatte, eine Denkschrift ein, die sich mit der Erweiterung der Wasserleitungen befaßte. Ihr folgte wenig später ein Gut© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Karl Mez (1808—1877)

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achten über die städtische Reinigung. Als Mitglied der Kommission für den Bau der Höllentalbahn setzte er sich in Wort und Schrift lebhaft für dieses technisch schwierige Projekt ein. Sich zum Bürgermeister der Stadt Freiburg wählen zu lassen, lehnte er allerdings wegen seiner vielen Geschäftsobliegenheiten kategorisch ab. So blieb auch für ihn das „tolle Jahr", das Jahr der versuchten Revolution, der Höhepunkt seines politischen Lebens. Manche Leidenschaft klärte sich im Laufe der Jahre ab. Als im Spiegelsaal von Versailles die Gründung des Deutschen Reiches proklamiert wurde, begrüßte der 62jährige Karl Mez, wie so viele andere Liberale, diese verspätete und andersartige Erfüllung ihrer Sehnsucht, und als der einstige Kartätschenprinz als deutscher Kaiser Freiburg besichtigte, war der alte Demokrat stolz, von dem Monarchen, der ihn einst maßregeln ließ, wiedererkannt zu werden. Aktiv griff Mez nicht mehr ins politische Geschehen ein. Sein alter Freund Friedrich Hecker besuchte ihn in den siebziger Jahren, und die beiden Mitstreiter und Gegner erinnerten sich ihrer gemeinsamen Tage in Frankfurt und des Schwurs, den sie sich damals gegeben hatten, nicht mehr zu rauchen, um das „ersparte Geld zum Besten der deutschen Flotte auf dem Altar des Vaterlandes niederzulegen." Beide hatten das Versprechen gehalten, Mez war sogar ein erklärter Feind des Tabaks geworden, aber wenn Hecker sinnend meinte: „freilich, die deutsche Flotte haben wir damit nicht zustande gebracht"33, so liegt in dieser Episode manches von der Tragik des deutschen Liberalismus. Stärker als die politische Leidenschaft beherrschte Mez die Leidenschaft des christlichen Bekenntnisses. Schon als Abgeordneter des Badischen Landtages hatte er in Karlsruhe in dem Hause des pietistischen Seminardirektors Stern verkehrt, der damals die Zielscheibe der Angriffe aller Freisinnigen war und bei den Fortschrittlichen des Landes als die Verkörperung des finstern Mittelalters in der badischen Pädagogik galt. Auch später war er mit ihm und seinen Gesinnungsfreunden in Verbindung geblieben, und Stern hat offensichtlich den Einfluß, den er auf den jüngeren Mez als geistlicher Mentor übte, benutzt, ihn von aktiver politischer Tätigkeit zurückzuhalten34. In späteren Jahren jedenfalls wurde Mez von seiner kirchlichen Tätigkeit mehr und mehr absorbiert. In Königsfeld im Schwarzwald kam er mit der Brüdergemeinde in Berührung, in Basel mit dem Missionswerk Christian Friedrich Spittlers. Er trat in das Komitee der Basler Missionegesellschaft ein und übernahm das Referat für die Epileptikeranstalt auf der Pfingstweide bei Tettnang. Er wurde Mitglied des Basler Traktatvereins, selbst Verfasser mehrerer Traktate und ein stets eifriger Verteiler und Spender christlicher Schriften. Er veranstaltete einen Neudruck der Berleburger Bibel, die im 18. Jahrhundert der Quell der frommen Gemeinschaften gewesen war, und ließ sich dieses Unternehmen 20 000 Gulden kosten. Seine Liebe zu Palästina und sein zunehmender Hang zu christlicher Prophetie führten ihn mit den Männern des „Deutschen Tempels" zusammen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, in Palästina eine christliche Kolonie als „Heiligen Tempel" zu begründen, von dem aus das „Panier Jerusalems" erhoben und über alle Länder ausgebreitet werden sollte. Dem Mitbegründer des Tempels, Chri© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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stoph Hoffmann, war er schon in der Frankfurter Nationalversammlung begegnet, wohin Hoffmann als Gegenkandidat von David Friedrich Strauß gewählt worden war. Obwohl zu gegensätzlichen politischen Parteien gehörend, verständigten sich die beiden Männer als Glaubensgenossen, und Hoffmann selbst hat bekannt, daß Mez es war, der diese Verständigung suchte, wobei er seinen politischen Liberalismus ausdrücklich betonte35. Ein anderer christlicher Apostel, mit dem Mez in Verbindung trat und dessen Schriften er unterstützte, war der Pfarrer Clöter in Illenschwang, der die nahe Wiederkunft Christi verkündete und die Christen in seinem „Brüderboten" zur Sammlung und Vorbereitung auf das Jüngste Gericht aufrief. Nähere Beziehungen pflegte Mez mit der aus England sich verbreitenden apostolischen Gemeinde, in der er manchen Freund hatte, ohne sich ihr ganz anzuschließen. Und schließlich hielt er enge Verbindung mit Gustav Werner und seinen Anstalten, stand ihnen mit finanziellem und kaufmännischem Rat, auch mit Spenden zur Seite, kritisierte sie aber auch, weil Werner für seine industriellen Werke Kollekten einnahm, was der Unternehmer Karl Mez als unlauteren Wettbewerb ansah. Werner beriet ihn umgekehrt bei der Einrichtung seiner Bundesfabrik, denn beide Männer trafen sich in der Grundüberzeugung, daß sie nur Verwalter, nicht Eigentümer ihrer Unternehmungen seien. Mezens persönlichste Gabe an die Gemeinschaft der evangelischen Christen aber war die Gründung des evangelischen Stifts in Freiburg. Aus Anlaß seiner silbernen Hochzeit kaufte er 1859 ein Haus mit Garten und Rebland, um der wachsenden evangelischen Gemeinde Freiburgs ein Gemeindezentrum zu verschaffen. Ein Waisenhaus, eine Sonntagsschule, ein Altersheim und ein von Diakonissen geleitetes Krankenhaus wurden darin eingerichtet, später kamen eine Mägdeherberge und Säle für den evangelischen Jünglingsverein hinzu36. Zusammen mit seinen Freunden von der Inneren Mission begann Mez in der evangelischen Synode und der Öffentlichkeit seit der Mitte der 6öer Jahre einen scharfen Kampf gegen die freisinnige Partei der evangelischen Landeskirche, an deren Spitze der Heidelberger Universitätsprofessor Schenkel und Mezens alter liberaler Parteifreund aus dem Badischen Landtag, Dekan Zittel, standen. Er führte diesen Kampf mit solch fanatischem Eifer, daß es ihm schien, als sei ihm in seinem ganzen Leben „kein Geschäft heiliger und wichtiger" gewesen, und daß er sogar erwog, sich mit den Katholiken zu verbünden, um den „Antichrist", den er vor den Toren lauern sah, zurückzuschlagen. Als auf der evangelischen Generalsynode von 1867 gegen die Stimmen einer Minorität, zu der Mez auch hier gehörte — wie einst in der Badischen Kammer und der Nationalversammlung —, die Gleichberechtigung der verschiedenen Richtungen innerhalb der Landeskirche beschlossen werden sollte, wandte der alternde Mez noch einmal seine ganze Beredsamkeit auf, um seine Gegner zu überzeugen. Mit Ungestüm verteidigte er den Katechismus und das Memorieren und bekannte sich zu dem Glauben an die Sündhaftigkeit aller menschlichen Kreatur und die Erde als ein Jammertal, aus dem die Menschen nur durch Christi Blut zu erlösen sind. Noch im Jahre vor seinem Tod sprach der 68jährige auf den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Karl Mez (1808—1877)

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Barmer Festwochen in der überfüllten reformierten Kirche in drückender Sommerschwüle über die Sonntagsheiligung, und seine frommen Zuhörer wurden von dem lebhaften Mann mit den fliegenden Haaren, dem blonden Bart und den hellen, blauen Augen, der wie ein begeisterter Jüngling wirkte, so mitgerissen, daß sie die Hitze des Tages und ihren Stehplatz vergaßen. Als Karl Mez am 28. Mai 1877 starb, konnte er auf ein Leben zurückblicken, dessen Ziel er einst in seinem Tagebuch und in einem Brief an seine Wähler in drei Sätzen festgehalten hatte: „Mein Zweck ist Glück und Wohlsein der Menschen, Industrie ist mir nur ein Mittel zu diesem Zweck. — Eine Vermehrung des Wohlstandes ohne Verbesserung der sittlichen Zustände führt allerlei Gefahr mit sich. — Religion ist mir das Allerwichtigste, sie ist für meine ganze Lebensrichtung Quelle und Grundlage."37

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„Stadien u n d T y p e n " d e r Industrialisierung in Deutschland Zum Problem ihrer regionalen Differenzierung Vor vierzig Jahren schrieb Walter G. Hoffmann sein Buch über „Stadien und Typen der Industrialisierung"1. Er erfaßte darin acht wichtige Industriezweige in möglichst vielen Ländern der Erde (außer Sowjetrußland), unterteilte sie in Konsumgüter- und Kapitalgüterindustrien und versuchte, das Wachstum der beiden Gruppen im wesentlichen mit Hilfe von Beschäftigtenzahlen zu messen. Er kam zu dem Ergebnis, daß alle Länder bestimmte Stadien der Industrialisierung durchlaufen: im ersten Stadium bilden die Konsumgüterindustrien den wichtigsten Industriesektor, im zweiten Stadium beginnen die Kapitalgüterindustrien zu wachsen; sie erreichen die Bedeutung der Konsumgüterindustrien im dritten Stadium und werden im vierten der führende industrielle Sektor. Dies ist ein einfaches Modell, das aber den Vorzug hat, relativ gut empirisch verifizierbar zu sein. Vor zehn Jahren hat Rostow seine Stadienlehre des wirtschaftlichen Wachstums2 geschrieben, die umfassender in der Anlage, schwerer zu beweisen und daher stärker umstritten ist, zumal einzelne seiner Thesen, z. Β. das plötzliche Ansteigen der Investitionsrate im „take-off", von der Forschung eher falsifiziert als verifizert wurden. Andere Forscher haben weniger anspruchsvolle Vergleiche zwischen Industrialisierungsprozessen unternommen mit dem Ziel, gewisse Gesetzmäßigkeiten zu finden, die man als aufeinanderfolgende „Stadien" oder verschiedenartige Verlaufs-„Typen" verstehen kann3. Colin Clark und Jean Fourastié hingegen gehen über das beschränkte Ziel der Erkenntnis des Industrialisierungsprozesses noch hinaus und versuchen, ähnlich wie Rostow, die gesamte wirtschaftliche (und gesellschaftliche) Entwicklung der modernen Welt in Regeln zu fassen4. In ihrer Zielsetzung ähneln sie den großen universalhistorischen Denkern des 19. Jahrhunderts wie Comte und Marx. In ihrer Methodik unterscheiden sie sich jedoch von diesen — und ähneln sich untereinander — an einem entscheidenden Punkt: Die universalhistorische Erklärung wird zu verifizieren versucht, indem man die wirtschaftliche Entwicklung einzelner Nationalstaaten miteinander vergleicht und deren „performance" mißt. Die zu messende Einheit ist eine politische und rechtliche, nicht unbedingt aber auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Einheit. Und die Einheiten sind verschieden groß und verschieden strukturiert: Die Schweiz und Dänemark stehen neben den Vereinigten Staaten, Brasilien oder Indien. W. N. Parker hat diese Neigung der meisten Wirtschaftshistoriker, ihren Forschungen Nationalstaaten als Einheiten zugrunde zu legen, beißend ironisiert: „A strange world it is, peopled by creatures called England, Germany, Denmark, Canada, Japan — with never a footprint of merchants, peasants, manufacturers, and the labor-

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ing poor — or even of Yorkshiremen, Southerners, Bavarians, or Ucrainians . . . National income statistics . . . teach us many curious facts about the comparative anatomy of unlike national beasts. But one should not mistake their tidy cages for the green jungle of economic history."5 W. G. Hoffmann indessen hat in seinem Buch über „Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts" seinen Entschluß, Deutschland in seinen jeweiligen politischen Grenzen zugrunde zu legen, kurz und entschieden verteidigt: „Entweder gibt es jeweils eine Einheit ,deutsche Volkswirtschaft', oder es gibt sie nicht . . . Hätte auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein unabhängiger Staat bestanden, so wäre die gesamte Wirtschaftsentwicklung sicherlich völlig anders gewesen."6 Hier soll nicht über solche interessanten Fragen aus dem Gebiet der „counterfactual history" spekuliert werden, noch soll die Frage diskutiert werden, wer recht hat, Parker oder Hoffmann und Kuznets, der Kritiker oder die Verteidiger der „nationalen Ökonomie", sondern es soll der Versuch gemacht werden, das Modell der „Stadien und Typen" auf Regionen innerhalb eines (wenn auch erst im Entstehen begriffenen) Nationalstaates zu übertragen. Ausgewählt wurden die beiden wichtigsten frühindustriellen Regionen in Deutschland, die auch heute noch das industrielle Kernstück beider deutscher Staaten bilden: Sachsen und Rheinland-Westfalen. Ein solcher Vergleich könnte die Frage beantworten helfen, ob es sinnvoll ist, mit nationalen Durchschnittswerten zu arbeiten oder ob sie nicht die eigentlich interessanten Bewegungen im Industrialisierungsprozeß verdecken. Daß einzelne Regionen die Führung in der Industrialisierung übernehmen können — so wie einzelne Industriezweige in allen Stadien des Industrialisierungsprozesses zu „leading sectors" werden können — und daß andere als „backward areas" zu bezeichnen sind, ist eine generelle Feststellung, die wohl für alle Länder, vor allem aber die größeren, zutrifft. Brasilien mit der hochindustrialisierten Region um São Paulo und unter-, ja völlig unentwickelten und unbevölkerten Regionen im Norden und im Zentrum des Landes, mag als extremes Beispiel dienen. In dem Deutschland des 19. Jahrhunderts waren sicher der agrarische Osten, Teile des Nordwestens und des Südostens industriell unterentwickelt, das Königreich Sachsen und die preußischen Rheinprovinzen mit Teilen Westfalens führten hingegen den Industrialisierungsprozeß an. (Wobei beide natürlich auch ihre unterentwickelten Regionen besaßen, die geographisch oft dicht neben den industriellen Kernregionen lagen.) Ist es möglich, zwischen beiden Gemeinsamkeiten zu entdecken, die ihre Pionierrolle innerhalb Deutschland erklären können, oder unterscheiden sie sich vielmehr als zwei verschiedene Typen der Industrialisierung? Das ist die Hauptfrage, die hier gestellt wird. Um sie vollständig beantworten zu können, müßten für beide Regionen alle jene Faktoren untersucht werden, die als „Ursachen" (besser: Teilursachen) der Industrialisierung in Frage kommen: Bevölkerungsstruktur und -bewegung, Agrarstruktur und -reformen, vorindustrielle Gewerbestruktur, Rohstoffvor30 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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kommen, Erfindungen und deren Verbreitung, Außenhandelsbedingungen, Kapitalbereitstellungen und Kreditapparat, das Vorhandensein von Unternehmerschichten und deren Verhaltensweisen, die staatliche Wirtschaftspolitik etc. Hier können nicht alle behandelt werden, sondern wir müssen einige auslesen und wollen unsere Aufmerksamkeit besonders auf die Bevölkerungs-, die Agrarund die vorindustrielle Gewerbestruktur lenken. Damit ist eine Vorentscheidung über die Art der Untersuchung und Argumentation gefällt. Sie setzt sich nicht einen Vergleich der „performance" beider Regionen zum Ziel, sondern versucht, den Industrialisierungsprozeß aus einigen komplexen Vorbedingungen zu erklären. Zuvor muß jedoch noch einem möglichen Einwand begegnet werden. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, daß in der Periode der Frühindustrialisierung, die man für beide Regionen etwa zwischen 1830 und 1870 ansetzen kann, beide Regionen zu verschiednen Staaten gehörten und daher zwar ähnlich wie Belgien und die Niederlande miteinander verglichen werden können, nicht aber für die Beantwortung der oben angeschnittenen Frage taugen. In der Tat ist die preußische und sächsische Wirtschaftspolitik in vielen Fragen gegensätzlich verfahren. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Frage des Patentrechts, die für die Förderung oder Hemmung technischen Fortschritts von großer Bedeutung ist, vertrat Sachsen die englische Version einer bloßen Anmeldung und zivilrechtlichen Auseinandersetzung um Prioritäten, während Preußen ein Patentrecht mit staatlicher Vorprüfung der technischen Neuheit über eine Patentbehörde und entsprechende staatliche Legitimierung der Neuheit praktizierte. Auf der anderen Seite steht jedoch die Zolleinheit, die zu nehmende Harmonisierung des Zoll-, Steuer- und des Wirtschaftsrechts, die Einheit von Handel und Verkehr — wenn auch nicht der Währung. Es erscheint daher gerechtfertigt, sowohl Sachsen wie Rheinland-Westfalen in dieser Zeit im wesentlichen als Regionen einer deutschen „Nationalwirtschaft", der des Deutschen Zollvereins, zu betrachten. Wenden wir uns nun zunächst der Bevölkerungs-, Agrar- und Gewerbestruktur Sachsens zu. „Das Königreich Sachsen ist das dichtestbevölkerte Land des Zollvereins; schon im Jahre 1834 lebten 5868, 1858 7805 Menschen auf der Quadratmeile": So beginnt Gustav Schmoller 1870 seine Darstellung der sächsischen Kleingewerbe7. „Handel und Gewerbe, seit alter Zeit dort heimisch, sind die wesentlichen Faktoren dieser Bevölkerungsentwicklung. Der Boden ist teilweise karg; im Erzgebirge bietet er selbst dem hartnäckigsten Fleiße große Schwierigkeiten. Der Besitz aber ist ziemlich geteilt. Große und kleine Städte bilden überall gewerbliche Mittelpunkte. Die vielfach verbreitete Hausindustrie der Weberei, der Strumpfwirkerei, der Posamentierarbeiten erstreckt sich ebenso über die Dörfer als über die Städte." Die hohe Bevölkerungsdichte zwang in Sachsen also schon vor der industriellen Revolution zu einer hohen Gewerbedichte, zur ländlichen Heimarbeit mehr noch als zum städtischen Handwerk, und zu einer intensiven, teils gärtnerischen Bodenbewirtschaftung. Bevölkerungsstruktur, Agrarstruktur und vorindustrielle Gewerbestruktur hängen eng © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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miteinander zusammen. Schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte mehr als die Hälfte der Bevölkerung Sachsens zu den ländlichen und städtischen Unterschichten unterhalb der Vollbauern und Vollhandwerker, wie folgende Übersicht über die Sozialstruktur Sachsens zeigt; Sozialstruktur Sachsens 1550, 1750, 18438 Grundherren (Adel) Geistlichkeit Bürger Inwohner in Städten Bauern Gärtner und Häusler Inwohner in Dörfern

1550 % 2 400 0,6 3 5C0 0,9 116 000 26,7 22 000 5,1 215 000 49,5 20 000 4,6 55 000 12,6 100

1750 5 500 4 500 200 000 166 000 250 000 310 000 82 000 1 018 000

% 0,5 0,4 19,7 16,3 24,6 30,4 8,1 100

1843 6 000 4 500 300 000 326 500 250 000 800 000 100 000 1 856 000

o/o 0,3 0,2 16,2 17,6 13,5 46,8 5,4 100

Während um die Mitte des 16. Jahrhunderts die sächsische Bevölkerung zur Hälfte aus Vollbauern bestand, war deren Anteil zweihundert Jahre später auf ein Viertel gesunken; zu den ländlichen Unterschichten, die 1550 etwa ein Fünftel der Bevölkerung ausgemacht hatten, zählten nun mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Auch in den Städten war die Zahl der Nichtbürger weit stärker gewachsen als die Zahl der Bürger. Es ist deutlich: Sachsen verfügte um die Mitte des 18. Jahrhunderts über eine „industrielle Reservearmee" von „Proletariern", oder anders ausgedrückt: Die um 1800 in Sachsen aufkommende textile Fabrikindustrie fand reichlich Arbeitskräfte vor, und zwar solche, die als Heimarbeiter in textilen Arbeiten bewandert waren. Auch die sich anschließenden Maschinenbauanstalten konnten auf genügend handwerklich ausgebildete Gesellen zurückgreifen. Die vorindustrielle Bevölkerungsvermehrung in Sachsen ist kaum mit einer Verstädterung verbunden. 1750 ist der Anteil der Stadtbevölkerung nur um 4 % höher als 1550. Die Verdichtung der Bevölkerung geht also sehr wesentlich auf dem Lande vor sich. Dort setzten auch wirtschaftliche Innovationen ein: „Wenn man die gesamte Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung Sachsens bis zur industriellen Revolution übersieht, ist es gewiß eine allen herkömmlichen Vorstellungen widersprechende Tatsache, daß nicht die Stadtbevölkerung ausschließlich oder auch nur überwiegend der Träger des Fortschritts gewesen ist. In den Städten hat man nach altem Herkommen Gewerbe und Handel betrieben, hat sich die Bevölkerung in ihrem überlieferten sozialen Gefüge bewegt und alles ist nur mit der Zeit quantitativ gesteigert worden. Das qualitativ Neue, das Revolutionierende, hat sich innerhalb der Landbevölkerung entwickelt, die neue Bereiche des Wirtschaftslebens erobern und neue Bevölkerungsschichten aus sich hervorbringen konnte, die unmittelbar mit dem wirtschaftlichen Fortschritt verbunden waren. Sachsens Stellung als gewerbefleißiges Land schon in früheren Jahrhunderten beruhte in besonders 30*

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starkem Maß auf der gewerblichen Produktivkraft seiner Landbevölkerung, nicht nur seiner Städte."9 Wie oft spielt bei dieser Entwicklung das Bodenrecht eine entscheidende Rolle. In Kursachsen galt seit 1628 das Anerbenrecht, d. h. das Bauerngut mußte geschlossen vererbt werden; längst vor der formellen Festlegung war es jedoch schon allgemein üblich, so daß mit der Bevölkerungsvermehrung seit dem späteren Mittelalter ständig der Überschuß der Bevölkerung in andere als rein bäuerliche Betätigungen gezwungen wurde, hauptsächlich in die textile Heimarbeit. Zuvor waren jedoch die mittelalterlichen Bauernhöfe oft geteilt worden: Schon Mitte des 16. Jahrhunderts besaßen in 80 untersuchten sächsischen Dörfern nur 9 % der steuerzahlenden Bevölkerung eine volle Hufe Land oder mehr, 81 % nur eine Dreiviertel- oder Halbhufe, und 10 % eine Viertelhufe. Unter den Dreiviertel-, besonders aber den Halfhufnern gab es viele Bauern, die gleichzeitig webten, wie Heitz nachgewiesen hat10. So ist in Sachsen, wie auch in anderen Regionen Europas mit ähnlicher Struktur11, als Konsequenz ländlicher Besitzrechte und Betriebsgrößen ein dörfliches Textilgewerbe entstanden, das eine gute Voraussetzung für die Mechanisierung und damit Industrialisierung der Textilindustrie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ergab. Erhebliche gewerbliche Nebentäugkeit und schließlich Haupttätigkeit großer Bevölkerungsteile fördert gleichzeitig die Intensivierung der Landwirtschaft. Häusler und Kleinbauern bauen wenig Getreide an, aber halten Vieh für ihren eigenen Bedarf. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gehen die sächsischen Gutsbetriebe, aber auch viele bäuerliche Betriebe zum Anbau von Futterpflanzen, der Stallfütterung und schließlich der künstlichen Düngung über. Es ist kein Zufall, daß im Sachsen-Anhaltischen Raum der führende deutsche Prophet des Kleebaus, Johann Christian Schubart, wirkt. „Um 1800 hatte sich der Kleeanbau und die damit verbundene ganzjährige Stallfütterung in der sächsischen Landwirtschaft allgemein durchgesetzt. Neben Klee wurden auch Luzerne und Esparsette angebaut."12 Nach 1770 kam auch die Futterrübe nach Sachsen. Der Kartoffelanbau verzwölffachte sich zwischen 1755 und 1800 und wuchs bis 1830 noch einmal um mehr als das Dreifache. Seit den 1760er Jahren werden Raps, Hanf, Krapp und Tabak angebaut. Die Einführung von türkischem Weizen und englischem Hedwheat wird versucht. Zur Düngung werden Gipsmehl, Kalk, Mergel, Knochenmehl und Düngesalze verwendet. Über die Viehzucht lassen sich für diese Zeit nur wenige quantitative Angaben machen, „der zunehmende Futterpflanzenanbau und die steigenden Getreideerträge lassen aber mit Sicherheit auf verbesserte und zahlenmäßig zunehmende Tierbestände schließen, konnte doch nur dadurch der so dringend benötigte natürliche Dünger gewonnen werden."13 Seit 1763 300 spanische Merinoschafe in Sachsen eingeführt wurden, nahm die Schafzucht einen schnellen Aufschwung. Um 1800 gab es 1½ Millionen Schafe in Sachsen, darunter 900 000 reinrassige Merinos. Aber auch der herkömmliche Getreideanbau verdoppelte sich zwischen der Mitte und dem Ende des 18. Jahrhunderts: Die Ernten in allen Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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treidearten stiegen von ca. 2,5 Mill. auf über 5 Mill. sächsische Scheffel14. Zusammenfassend wird man also feststellen können, daß der seit Jahrhunderten anhaltende Bevölkerungsdruck lange vor der industriellen Revolution zu einer Diversifikation der wirtschaftlichen Tätigkeit in Sachsen führte, daß daraus eine Qualifizierung der Arbeitskräfte für industrielle Tätigkeiten erwuchs und ein Anreiz zur Intensivierung der Landwirtschaft gegeben war, die zu einer Agrarrevolution" wurde, als die Ideen des Fortschritts im Zeitalter der Aufklärung von West- auf Mitteleuropa übersprangen. Selbstverständlich kamen andere Faktoren hinzu, auf die wir hier nur kurz hinweisen können: die Außenhandelsverbindungen, die unternehmerische Initiative, einsatzfähiges Handelskapital und die finanziellen Institutionen zur Verfügung stellten, oder der Silberbergbau um Freiberg und die dortige älteste Bergakademie Europas, die einen Ansatzpunkt für wissenschaftlich fundierte Technologie darstellte. Insgesamt scheint in Sachsen also eine fast „optimale" Kombination für einen industriellen „take-off" im 19. Jahrhundert gegeben zu sein. Wie stellten sich demgegenüber die späteren preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen um 1880 in Bevölkerungs-, Agrar- und Gewerbestruktur dar? Politisch wie wirtschaftlich zerfallen sie in zahlreiche kleinere Einheiten mit zum Teil sehr gegensätzlichen Strukturen. Traditionelle groß- und mittelbäuerliche Gebiete mit dünner Bevölkerung, durchsetzt von traditionellen leinwanderzeugenden Gebieten in Westfalen; eine schier unübersehbare Vielfalt im Rheinland: alte Hüttenlandschaften um Siegen, dichtbesiedelte Täler, in denen Metallwaren verarbeitet oder Textilien produziert werden (Sauerland, Wuppertal), daneben Wein- und Obstbaulandschaften, berühmte Seidenfabrikation oder Wolle verarbeitende Städte, karge Gebirgslandschaften mit einzelnen Glas- oder Eisenhütten, reiche Ackerbauernschaften und Handels- und Hafenstädte wie Köln und Duisburg, seit Jahrhunderten Mittelpunkte im europäischen Wirtschaftsleben. Daneben gab es verstreute und kleine, vom preußischen Staat, wo er zuständig ist, dirigierte, sonst oft im bäuerlichen Nebenerwerb betriebene Kohlengruben an den Hängen der Ruhr. Alles in allem eine vielseitige Struktur ohne eine einheitliche Wirtschaftspolitik, der Initiative der einzelnen Unternehmer, Korporationen und Städte daher freien Raum gewährend13. Bevölkerungsdichte und Bevölkerungswachstum entsprachen insgesamt nicht den sächsischen Werten. Während im Königreich Sachsen 1816 1,2 Mill. Menschen auf 15 000 km2 wohnten, also 79 pro km2, lebten in der Rheinprovinz um diese Zeit 1,9 Mill. auf 27 000 km2, also knapp 71 pro km2 und in Westfalen 1 Mill. auf 20 000 km2, also 53 pro km2. Auch die Wachstumsrate war in Sachsen im Zeitalter der Frühindustrialisierung höher als im Rheinland und Westfalen. Im Jahresdurchschnitt betrug sie zwischen 1816 und 1855 in Sachsen 1,38%, in der Rheinprovinz 1,17% und in Westfalen 0,93%, so daß um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungsdichte Sachsens sich noch deutlicher von der des Rheinlands, aber vor allem Westfalens abhebt als am Ende der napoleonischen Zeit: 136 pro km2 in Sachsen, 111 pro km2 in der Rheinprovinz © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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und 75 pro km2 in Westfalen16. Auch 1871 besteht noch etwa die gleiche Relation: 171 in Sachsen, 133 in Rheinland und 89 in Westfalen. Erst zwischen 1871 und 1910 übersteigt das Bevölkerungswachstum Westfalens mit insgesamt 132 % und des Rheinlands mit 99 % das des Königreichs Sachsen mit 88 %. Westfalen steht jetzt, von den Stadtregionen wie Berlin oder Hamburg abgesehen, an der Spitze des deutschen Bevölkerungszuwachses, während zu Beginn des Jahrhunderts die nichtindustrialisierten Ostprovinzen wie Pommern, Ostund Westpreußen die Spitze gehalten hatten. Damit ergibt sich schon ein Hinweis, daß es sich bei der Industrialisierung Sachsens und Westfalens offenbar um verschiedene „Typen" handelte, die in verschiedenen „Stadien" einsetzten, während die Rheinprovinz eher dem sächsischen „Typ" zuneigt, ihm aber nicht ganz zuzuzählen ist. Eine Erklärung für die Unterschiede liegt natürlich in den Rohstoffvorkommen. Westfalens Industrialisierung baut ganz überwiegend auf dem Rohstoff Kohle auf, der seit den vierziger Jahren im Ruhrgebiet in moderner Weise im Tiefbau erschlossen wird. Während der Wanderung des Bergbaus nach Norden wächst er immer stärker vom rheinischen in das westfälische Gebiet hinüber. Eisenhütten und Stahlwerke entstehen in unmittelbarer Nähe, die Chemie gesellt sich später dazu. Westfalen und die angrenzenden Teile des Rheinlandes sind durch die Schwerindustrie geprägt, Sachsen und die westlichen und südlichen Teile der Rheinprovinz durch die Konsumgüter (vor allem Textilindustrie) und die Metallverarbeitung. Man wird die Unterschiede im Industrialisierungsprozeß der beiden Regionen jedoch nicht nur in dieser offensichtlichen Verschiedenheit der Naturausstattung suchen dürfen. Wäre das der einzige Unterschied, so hätten Westfalen und die agrarischen Teile der Rheinprovinz auch vor der Periode des Ausbaus der Kohle sich in ähnlicher Weise industrialisieren müssen wie Sachsen und die gewerbetreibenden Teile des Rheinlandes. Kohle und Stahl wären dann hinzugekommen. Das war jedoch nicht der Fall. Der größte Teil Westfalens und manche Teile der Rheinprovinz verharrten in herkömmlichen agrarischen Strukturen bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus, während in Sachsen und in Teilen des Rheinlandes eine konsumgüterorientierte Industrialisierung bereits in vollem Gange war. In beiden bereits stark „vorindustrialisierten" Regionen bedurfte es nur eines kleinen Anstoßes, der Übernahme einiger technischer Erfindungen aus England, um den Prozeß in Gang zu bringen, denn die meisten Voraussetzungen waren in Bevölkerungs-, Agrar- und Gewerbestruktur bereits gegeben. Sie standen am Ende des 18. Jahrhunderts ähnlich wie die englischen Midlands einige Jahrzehnte früher vor „bottlenecks", die durch Bevölkerungsdruck und die Ausschöpfung der meisten vorindustriellen Diversifikationschancen erzeugt waren. Gewiß hätte der Prozeß der Intensivierung der Landwirtschaft mit zunehmender Quote an Heimindustrietreibenden noch weitergehen können. Die Erwerbschancen mußten sich jedoch verringern, je dichter die Bevölkerung auf diese Weise zusammenwuchs, wenn keine entscheidenden Innovationen zustande kamen, die die Produktivität der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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gewerblichen Arbeit entscheidend erhöhte. Innovationsbereitschaft war vorhanden, wovon die landwirtschaftlichen, gewerblichen, wissenschaftlichen und literarischen Vereinigungen zeugen, die die Förderung des materiellen Fortschritts sich zur Aufgabe gemacht hatten. Man wird ohne zu große Spekulationen sagen können, daß auch im wirtschaftlich-intellektuellen Klima Sachsens und der Rheinlande die Erfindungen der industriellen Revolution Englands möglich gewesen wären und im Laufe des 19. Jahrhunderts gekommen wären, hätte England nicht den Anfang gemacht. Dasselbe wird man kaum von Westfalen und seinen rheinischen Angrenzern sagen können. Ohne Anstoß von außen, ohne den großen Bedarf an Kohle und Stahl, ohne fremde Unternehmer, Techniker und schließlich Arbeiter wäre das Ruhrgebiet nicht in wenigen Jahrzehnten erschlossen worden, sondern die alten Reichsstädte und geistlichen Stifte wie Dortmund und Essen wären die kleinen Landstädte geblieben, die sie bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren. Die Industrialisierung des Ruhrgebiets ist eine abgeleitete, eine Industrialisierung des „zweiten Stadiums" von Hoffmann, eine klar einzelnen Faktoren zuzuordnende, während die Industrialisierung Sachsens und der rheinischen Gewerbezonen nicht nur als (fast) originär, sondern auch als diffus angesehen werden muß: Kein einzelner Faktor allein gab hier den Ausschlag. Erst das Zusammenspiel von Bevölkerungsdruck, agrarischer Innovation, gewerblicher Diversifikation, unternehmerischem Potential, Außenhandelsbeziehungen, Kapitalakkumulation, Kreditorganisation und staatlicher Politik — in Sachsen schon durch das Retablissement nach dem Siebenjährigen Krieg — kann die Auslösung des Industrialisierungsprozesses erklären. Dieses Zusammenspiel erklärt aber auch seinen „Erfolg". Wenn wir heute von erfolgreich industrialisierten Nationen und von steckengebliebenen Industrialisierungsprozessen in den eingangs erwähnten Einheiten, den Nationalstaaten, sprechen, so suchen wir die Erklärung für das Steckenbleiben meist im Fehlen von Übertragungsmechanismen, im Nichtvorhandensein sozialer Strukturen und Verhaltensweisen, die den Fortschritt automatisieren. Sachsen hatte offenbar diese Strukturen und Verhaltensweisen in den Jahrhunderten, die der industriellen Revolution vorangingen, in besonders hohem Maße entwickelt und war daher in der Lage, die von England ausgehenden Impulse am schnellsten und erfolgreichsten aufzunehmen. Teile der Rheinprovinz zählen zu dem gleichen Typ, während andere Teile und der größte Teil Westfalens einer besonderen Gunst der Natur und eines enormen Nachfragesogs bedurften, um positiv auf die Impulse zu reagieren, weil gewisse andere Voraussetzungen wie Bevölkerungsdichte, gewerbliche und agrarische Diversifikation noch nicht genügend ausgebildet waren. Daß diese Voraussetzungen allein für eine erfolgreiche Industrialisierung im ersten Stadium noch nicht ausreichen, zeigt jedoch ein Vergleich von zwei in der Grundstruktur nicht unähnlichen Gebieten mit gegensätzlicher Entwicklung im Zeitalter der Frühindustrialisierung: Sachsen und das Minden-Ravensbergische Land in Westfalen. Im Minden-Ravensberger Land hatte sich wie in Sachsen im 17. und 18. Jahrhundert die ländliche Textilindustrie ausgebreitet und zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Regionale Studien zur Industrialisierung

einer hohen Bevölkerungsdichte, vor allem aber zu einem hohen Anteil unterbäuerlicher Schichten, die sich wesentlich durch Heimarbeit oder Saisonarbeit ernährten, geführt. 1770 gehörten in Ravensberg zwei Drittel der Bevölkerung und drei Viertel der Wohnstätten zu diesen Köttern, Heuerlingen und Einliegern, Im angrenzenden Lippe standen 1784 den 2081 Vollbauern 7071 Kötter und Einlieger gegenüber, machten also einen ähnlichen Prozentsatz der Bevölkerung aus. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Vollbauern so wenig, wie sie seit dem Ende des 16, Jahrhunderts gestiegen war (1590: 1923, 1784: 2081, 1852: 2216), nämlich nur um 6,5%, während die Zahl der Kötter um 54,4 % und die der Einlieger um 130 % wuchs. 1852 gab es neben den 2216 Vollbauern in Lippe 13 559 Kötter und Einlieger; sie machten also fast 90 % der ländlichen Bevölkerung aus. Ravensberg hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die höchste Bevölkerungsdichte Westfalens17. Trotzdem fand im Minden-Ravensberger Land in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine „Industrielle Revolution" statt. Handarbeit blieb verbreitet, der Absatz der Textilindustrie ging zurück, nur eine einzelne mechanische Spinnerei entstand 1839. Während das Königreich Sachsen mit einem Anteil yon ca. 38 % bei der Spinnerei und ca. 32 % bei der Weberei die mit Abstand führende Region in der deutschen Textilindustrie darstellte (vor der Rheinprovinz mit 17,6% der Spinnerei und 7,6% der Weberei und Brandenburg mit 10,9% und 6,4 % ) , wurde das Minden-Ravensbergische Land zu einem Notstandsgebiet, dessen Garnausfuhr fast ganz stockte und dessen Menschen statt dessen auswanderten oder sich als Saisonarbeiter in Holland, Hamburg oder dem Ruhrgebiet verdingten. Nur 2,6 % der deutschen Spinnereikapazität und 4,1 % der Weberei fielen auf ganz Westfalen18. Ein wesentlicher Teil der Erklärung dieses Unterschiedes liegt auf der Hand: In Sachsen handelte es sich im wesentlichen um die Baumwollindustrie, die überall in Westeuropa in der ersten Phase der Industrialisierung ein Hauptträger des Wachstums war, in Minden-Ravensberg um Leinenindustrie, die in Deutschland in der gleichen Zeit zurückging19. Man wird also mit H. J . Habakkuk sagen können, daß unter all den vielen Faktoren, die den Industrialisierungsprozeß auslösten (oder stocken ließen) die Erweiterung (bzw. Beschränkung) der Nachfrage der wichtigste gewesen sei20. Selbst die Ravensberger Leineweber kauften in den 1840er Jahren englisches und irisches Maschinengarn und brachten so ihre engsten Landsleute und Verwandten um ihr Brot. Aber wenn wir diese Erklärung akzeptieren, bleiben viele Fragen unbeantwortet: Warum stellten sich die Ravensberger nicht auf Baumwollverarbeitung um, wenn das ein lohnendes Geschäft war? Warum, wenn sie beim Leinen blieben, führten sie so spät und so zögernd die Mechanisierung ein? Man könnte versucht sein, auf staatliche Hemmnisse hinzuweisen, auf den Versuch des kleinen Fürstentums Lippe, die Leinenindustrie in ihrer alten Form zu bewahren und die mangelnde Staatshilfe in Preußen, wo noch 1848 ein Regierungsvertreter in Bielefeld erklären konnte, daß man, um die „Nachteile der Überbevölkerung zu beseitigen", nicht „das Fabrikwesen" einführen, sondern „sich für die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

„Stadien und Typen" der Industrialisierung in Deutschland

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Übersiedlung in andere Provinzen oder für die Verstärkung der landwirtschaftlichen Kultur in der heimischen Provinz zu entscheiden" haben werde21. Aber auch in Sachsen hat sich die Industrialisierung „autonom", ohne Staatshilfe vollzogen. Sachsen hat schon im 18. Jahrhundert keine Peuplierungs- und Siedlungspolitik betrieben und den privaten Unternehmern das Feld überlassen. Staatliche Tätigkeit folgte in Sachsen in der Form von Handelsverträgen, Konsulaten, Ausstellungen, statistischen Erhebungen und Gesetzen der wirtschaftlichen Initiative nach, sie ging ihr nicht voraus, um sie anzuregen22. Reagierten dann vielleicht die Menschen verschieden auf eine ähnliche Situation? Im westfälischen Leinengebiet sträubten sie sich offensichtlich gegen die Mechanisierung. Noch 1850 erhielt ein Bielefelder Unternehmer Drohbriefe, weil er die Maschinenspinnerei einführen wollte. Die ersten Fabriken hatten auch noch nach der Jahrhundertmitte Schwierigkeiten, Arbeiter zu finden und mußten sie aus Schlesien und Böhmen importieren. In Sachsen hingegen wurden die Baumwollgebiete zu Ballungszentren der Bevölkerung, in die man aus der ländlichen Umgebung strömte. Sicher gibt es auch hierfür wieder eine Erklärung, vor allem die höheren Löhne für die nichttextile Saisonarbeit in Nordwestdeutschland und Holland. Worauf es uns hier ankam, war jedoch nicht, eine „letzte" und vollkommen zufriedenstellende Erklärung für die Unterschiede der regionalen Entwicklung zu finden, als darauf aufmerksam zu machen, wie schwierig es ist, bestimmte Verlaufstypen der Industrialisierung zu unterscheiden und zu erklären, sobald man die bequeme Einteilung der Welt in Nationen verläßt und versucht, nach wirtschaftlichen Kriterien zu definierende Regionen der Untersuchung als Einheit zugrunde zu legen. Einfache Gegensatzpaare wie Konsumgüterindustrie versus Kapitalgüterindustrie oder autonome Entwicklung versus staatlich initiierter Entwicklung können zwar für eine ganz grobe Klassifizierung dienen, sind aber keine zureichende Erklärung für die vorzufindenden vielfältigen Unterschiede in den regionalen Typen und Stadien der Industrialisierung

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Verzeichnis der Abkürzungen

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American Economic Review American Historical Review Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Business History Review Cambridge Economic History of Europe Deutsche Rundschau Economic Development and Cultural Change Economic History Review Encyclopaedia of the Social Sciences Festschrift Generallandesarchiv Karlsruhe Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht Handwörterbuch der Staatswissenschaften Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Journal of Economic History Journal of Political Economy Neue Deutsche Biographie Politische Vierteljahresschrift Quarterly Journal of Economics Schmollers Jahrbuch Vierteljahresschrift für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte Weltwirtschaftliches Archiv Zeitschrift für Bergrecht Zeitschrift für das Berg-, Hütten- u. Salinenwesen in dem preußischen Staate = Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins = Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft = Zeitschrift für Politik

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Anmerkungen Einleitung 1 R. Stadelmann u. W. Fischer, Die Bildungsweit des deutschen Handwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes, Berlin 1955. — W. Fischer, Handwerksrecht u. Handwerkswirtschaft um 1800. Studien zur Sozial- u. Wirtschaftsverfassung vor der industriellen Revolution, Berlin 1955. — W. Fischer, Hg., Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit, Göttingen 1957. 2 W. Fischer, Der Staat u. die Anfänge der Industrialisierung in Baden 1800 bis 1850, Bd 1: Die Staatliche Gewerbepolitik, Berlin 1962. 3 Raumordnung im 19. Jahrhundert. (1. Teil) Historische Raumforschung 5, Forschungsberichte des Ausschusses „Historische Raumforschung" der Akademie für Raumforschung u. Landesplanung. Forschungs- u. Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung u. Landesplanung 30, Hannover 1965. 4 Staat u. Gesellschaft im deutschen Vormärz. 1815—1848, Hg. W. Conze, Stuttgart 1962, 19702. 5 W. Fischer, Government Activity and Industrialization in Germany (1815—1870), in: W. W. Rostow, Hg., The Economics of Take-Off into Sustained Growth, London 1963. Dieser Beitrag ist durch den erweiterten, hier wieder abgedruckten Aufsatz aus dem „Kyklos" im wesentlichen überholt. 6 W. Fischer, Die Wirtschaftsgeschichte in den Vereinigten Staaten von Amerika. Bemerkungen zu ihrem gegenwärtigen Stand u. ihren Entwicklungstendenzen, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 119, 1963, S. 377—404. 7 W. Fischer u. G. Bajor, Hg., Die Soziale Frage. Neuere Studien zur Lage der Fabrikarbeiter in den Frühphasen der Industrialisierung, Stuttgart 1967. 8 W. Fischer, Hg., Wirtschafts- u. Sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968. 9 R. Braun, W. Fischer, H. Großkreutz, H. Volkmann, Hg., Die Industrielle Revolution. (Neue Wissenschaftliche Bibliothek Bd. 50) Köln 1972. — Dies., Hg., Gesellschaft u. Staat in der Industriellen Revolution (NWB), Köln 1972.

I. Zur Problemstellung Ökonomische und soziologische Aspekte der frühen Industrialisierung * Dieser Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich im Wintersemester 1964/65 als Einleitung zu einer Vorlesungsreihe der „Historischen Gesellschaft zu Berlin" über Probleme der frühen Industrialisierung an der Freien Universität Berlin und im Sommersemester 1965 innerhalb einer Vorlesungsreihe „Grundprobleme der modernen Gesellschaft" an der Universität Münster hielt. 1 Eine der frühesten systematischen empirischen Analysen ist W. Hoffmann, Stadien und Typen der Industrialisierung. Ein Beitrag zur quantitativen Analyse historischer Wirtschaftsprozesse, Jena 1931. Eine vorwiegend theoretische Analyse (mit umfangreicher Bibliographie auch zur Geschichte der Industrialisierung) bietet S. Klatt, Zur

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Anmerkungen zu S. 15—20

Theorie der Industrialisierung. Hypothesen über die Bedingungen, Wirkungen und Grenzen eines vorwiegend durch technischen Fortschritt bestimmten wirtschaftlichen Wachstums, Köln 1959. 2 Vgl. u. a. W. Tuckermann, Die Neuindustrialisierung der Erde, Schriften des Vereins für Socialpolitik, 171. 1926, 1—54; W. Gerling, Die moderne Industrie. Gedanken zu der Physiognomie, Struktur und wirtschaftsgeographischen Gliederung, Würzburg 19542. 3 Aus der zahlreichen Literatur nenne ich nur: R. Bendix, Work and Authority in Industry. Ideologies of Management in the Course of Industrialization, New York 1956; deutsch: Herrschaft und Industriearbeit. Untersuchungen über Liberalismus und Autokratie in der Geschichte der Industrialisierung, Frankfurt 1960; M. Mead, Cultural Patterns and Technical Change, New York 1955; R. N. Adams u.a., Social Change in Latin America Today, New York 1960; W. Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform, dargestellt am Ruhrgebiet, Tübingen 1957; R. Braun, Industrialisierung und Volksleben. Die Veränderungen der Lebensformen in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800 (Zürcher Oberland), Zürich 1960; ders., Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet im 19. und 20. Jahrhundert, Erlenbach/Zürich 1965. 3a Vgl. K. Borchardt, Europas Wirtschaftsgeschichte — ein Modell für Entwicklungsländer?, Stuttgart 1967. 4 So Klatt, 20. 5 Reale Vergrößerung heißt: unter Ausschaltung von Preisveränderungen. Beste kurze Definition und Analyse bei A. Paulsen, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, IV, Berlin 19653, 150. Vgl. auch P. A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Köln 19643, II, 470, und Klatt, 20, Anm. 7. Über die im Sprachgebrauch der Ökonomen weitgehende Synonymität von „Wachstum" und „Entwicklung" s. G. M. Meier, R. E. Baldwin, Economic Development, New York 1959, 2 f. Interessanterweise findet sich keine Definition des Wachstumsbegriffes bei W. G. Hoffmann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965. 6 W. W. Rostow, Hg., The Economics of Take-Off into Sustained Growth. Proceedings of a Conference held by the International Economic Association, London 1963. 7 W. W. Rostow, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960; deutsch: Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 19672. 8 S. Kuznets, Notes on the Take-Off, in: Rostow, Economics, 22—41. Wieder abgedruckt in seiner Aufsatzsammlung: S. Kuznets, Economic Growth and Structure. Selected Essays, New York 1965, 213—235. Andere, zu ähnlichen Ergebnissen kommende Forscher haben allerdings den eingeführten Terminus „Industrielle Revolution" beibehalten. S. z. B. Ph. Deane, The First Industrial Revolution, Cambridge 1965. 9 Diese Meinung hat in mehreren Schriften vor allem Ulrich Nef vertreten. So z. Β. U. Nef, Cultural Foundations of the Industrial Civilization, New York 1958, 19602; ders., The Conquest of the Material World, Chicago 1964. 10 Ph. Deane u. W. A. Cole, British Economic Growth 1688—1959. Trends and Structure, Cambridge 1964, 62, 142, 166, 271. 11 Für England Deane/Cole, Growth, bes. 80 u. 170; für Kontinentaleuropa R. Ε. Cameron, France and the Economic Development of Europe 1800—1914, Princeton 1961, bes. Kap. VIII—Χ, 204—325. Für die USA vgl. die auch methodisch höchst lehrreichen Untersuchungen von R. W, Fogel, Railroads and American Economic Growth. Essays in Econometric History, Baltimore 1964, der die Notwendigkeit der Eisenbahnen für das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft mit dem Argument, daß Kanäle und Straßen mindestens den gleichen Effekt erzielt hätten, bestreitet, u. A. Fishlow, American Railroads and the Transformation of the Ante-Bellum Economy, Cam© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Anmerkungen zu S. 20—24

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bridge/Mass. 1965, der die Bedeutung der Eisenbahnen als Träger des Wachstums stastistisch untermauert. 12 K. Berrill, International Trade and the Rate of Economic Growth, EHR 12. 1959/1960, 358. Ph. Deane u. H. J . Habakkuk, The Take-Off in Britain, in: Rostow, Economics, bes. 77—80. 13 Deane/Cole, Growth, 28, 49, 115, 288. 14 D. C. North, The Economic Growth of the United States 1790—1860, Englewood Cliffs/N. J . 1961. 15 Deane/Cole, Growth, 212 u. 185. 16 Deane/Habakkuk, Take-Off. 17 Als diese Sätze niedergeschrieben wurden, war das Buch der Münsteraner Wachstumsforscher (W. G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965) noch nicht erschienen; seit es vorhanden ist, gilt diese Forderung um so mehr, einmal um die darin angewandten Methoden zu überprüfen und zu verbessern, zum anderen, um die dort gewonnenen Werte, soweit immer möglich, über das Jahr 1850 hinaus in ältere Zeiten zu verlängern. 18 Zu dieser Diskussion liegen als neue Beiträge u.a. vor: W. Conze, Vom „Pöbel" zum „Proletariat". Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, VSWG 41, 1954, 333—64. Wieder abgedruckt bei H. U. Wehler, Hg., Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 19703, 111—36, und W. Fischer u. G. Bajor, Hg., Die Soziale Frage. Neue Forschungen zur Lage der Fabrikarbeiterschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1967, 17—48; W. Fischer, Soziale Unterschichten im Zeitalter der Frühindustrialisierung, International Review of Social History 8. 1963, 415—35; wiederabgedruckt unten S. 242—57; F. Seidel, Die soziale Frage in der deutschen Geschichte, mit besonderer Berücksichtigung des ehemaligen Fürstentums Waldeck-Pyrmont, Wiesbaden 1964, bes. Kap. „Pauperismus und Proletariat"; A. Kraus, Die Unterschichten Hamburgs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entstehung, Struktur und Lebensverhältnisse. Eine historisch-statistische Untersuchung, Stuttgart 1965; C. Jantke u. D. Hilger, Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg 1965; W. Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg-Berlin 1966, 226—35; ders., Der Pauperismus in Deutschland am Vorabend der industriellen Revolution, Dortmund 1966. 19 Zu verweisen ist hier auch auf die Beiträge von R. Bendix, R. Braun, B. F. Hoselitz und D. S. Landes in: W. Fischer, Hg., Wirtschafts- und Sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968. 20 Vgl. R. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957. 21 Th. Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949; H. Freyer, Artikel „Industrielle Gesellschaft" im Staatslexikon, hg. v. der Görres-Gesellschaft, IV, Freiburg 19596, 285—92. 22 Ansätze schon bei Th. Geiger, ebda; ders., Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, in: Soziologische Gegenwartsfragen, I, Stuttgart 1932; vgl. auch H. Schelsky, Arbeiterjugend gestern und heute, Hamburg 1955; G. Mackenroth, Wandlungen der deutschen Sozialstruktur, GWU 2. 1957; R. Mayntz, Soziale Schichtung und sozialer Wandel in einer Industriegemeinde, Stuttgart 1958; Κ. Μ. Bolte, Sozialer Aufstieg und Abstieg. Eine Untersuchung über Berufsprestige und Berufsmobilität, Stuttgart 1959. 23 Vgl. z. B. W. L. Warner u. P. S. Lunt, The Status System of a Modern Community, New Haven 1942; W. L. Warner u. a., Social Classes in America. Α Manual for Procedure for the Measurement of Social Status, Chicago 1949; G. D. H. Cole, The Conception of the Middle Classes, The British Journal of Sociology 1. 1950; N. Gross, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 25—28

Social Class Identification in the Urban Community, American Sociological Review 4. 1953; S. Ossowski, Die Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein, Neuwied 1962. 24 F. Baiser, Sozial-Demokratie 1848/49—1863. Die erste deutsche Arbeiterorganisation „Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung" nach der Revolution, 2 Bde, Stuttgart 1962; W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963. 25 Vgl. H. Ebel, Die Konzentration der Berufe und ihre Bedeutung für die Berufspädagogik, Köln 1962, bes. 53 ff. u. 112 ff. 26 Eine repräsentative Sammlung solcher Memoiren ist trotz mancher kleiner Sammlungen (z. B. G. Eckert, Aus den Lebensberichten deutscher Fabrikarbeiter. Zur Sozialgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Braunschweig 1954) noch immer ein Desiderat der Sozialgeschichte. Klassische Arbeiter-Autobiographien sind im Englischen Samuel Bamford, Passages in the Life of a Radical (1844) und Early Days (1849), und im Deutschen für die Heimarbeiterschaft des 18. Jahrhunderts Ulrich Braeker, Lebensgeschichte des Armen Mannes im Tockenburg (zahlreiche Ausgaben, die beste hg. v. S. Voellmy, Basel 1945); für das späte 19. Jahrhundert die Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters (Karl Fischer), hg. v. Paul Göhre, 2 Bde, Leipzig 1903/4. Vgl. auch C. Trunz, Die Autobiographien von deutschen Industriearbeitern, Diss. Freiburg 1934. 27 Vgl. W. Fischer, Innerbetrieblicher und sozialer Status der frühen Fabrikarbeiterschaft, in: F. Lütge, Hg., Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich um 1800, Stuttgart 1964, 192—222. Wieder abgedruckt in Fischer/Bajor, Frage 215—52 und in diesem Band. 28 Vgl. dazu R. Engelsing, Lebenshaltungen und Lebenshaltungskosten im 18. und 19. Jahrhundert in den Hansestädten Bremen und Hamburg, International Review of Social History 11. 1966, 73—107. 29 Zur Gegenwart siehe Η. Ρ. Bahrdt, Industriebürokratie. Versuch einer Soziologie des industrialisierten Bürobetriebs und seiner Angestellten, Stuttgart 1958; D. Claessens u.a., Angestellte und Arbeiter in der Betriebspyramide, Berlin o. J . ; G. Hartfiel, Angestellte und Angestelltengewerkschaften in Deutschland, Berlin 1961; für die ältere Zeit: R. Engelsing, Die wirtschaftliche und soziale Differenzierung der deutschen kaufmännischen Angestellten 1690—1900, ZfGS 123. 1967, 347—80 u. 482—514. Für das 19. Jahrhundert siehe nun die Studie von J . Kocka, Industrielle Angestelltenschaft in frühindustrieller Zeit, Status — Funktion — Begriff. Das Beispiel der „Privatbeamten" der Firma Siemens & Halske 1847—1867. In: O. Büsch, Hg., Untersuchungen zu Geschichte der frühen Industrialisierung im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg, Berlin 1970. Ausführlicher in seinem Buch: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969. 30 Vgl. K. Demeter, Das deutsche Offizierskorps in Gesellschaft und Staat. 1650 bis 1945, Frankfurt a. M. 1964. Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Bemerkungen zu W. W. Rostows gleichnamigem Buch und anderen Beiträgen zur Wachstumsforschung 1 Zu dem Buch von: Walt W. Rostow, Stadien, Göttingen 1961. Deutsche Ausgabe von Stages of Economic Growth. 2 Vgl. dazu die „Papers and Proceedings" der der Rostowschen Theorie des „takeoff" gewidmeten Konstanzer Tagung der International Economic Association im Sept. 1960. Erschienen London 1963 unter dem Titel: The Economics of Take-Off into Sustained Growth, Hg. W. W. Rostow. 3 W. W. Rostow, The Process of Economic Growth, Oxford 1953, 19602.

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Anmerkungen zu S. 30—40

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4 B. F. Hoselitz, Theories of Stages of Economic Growth. In: ders. Hg., Theories of Economic Growth, Glencoe 1960. 5 Beispiele für Fehlurteile in der historischen Interpretation ließen sich gerade in den der deutschen Geschichte gewidmeten Teilen leicht aneinanderreihen, so wenn ein „reaktionärer, ehrgeiziger Nationalismus" als die treibende Kraft der deutschen Modernisierung und Industrialisierung angesehen wird. 6 Vgl. auch das inzwischen erschienene Buch von W. W. Rostow, The United States in the World Arena; an Essay in Recent History, New York 1960, dem einige Einzelstudien über eine wirksame amerikanische Außenpolitik gegenüber Rußland, China und den Entwicklungsländern voraufgegangen sind. 7 Es bleibt zum Schluß, einige Worte über die deutsche Übersetzung von Rostows Buch zu sagen. Sie scheint mir dadurch charakterisiert, daß sie gerade von diesem letzten politischen Antrieb abzusehen und die Thesen als rein wissenschaftliche aufzufassen sucht. Daher mildert sie viele der von Rostow schlagwortartig und einprägsam verwandten Formulierungen wie „take off", „manifesto"; ja selbst ein noch so bildhafter Ausdruck wie „drive to maturity" ist im Deutschen mit „Entwicklung zur Reife" konventioneller und schwächer wiedergegeben. Der deutsche Leser wird also schon aus diesen Gründen die Lektüre dieses Buchs nicht so reizvoll finden wie der englische, und wird die Begeisterung, mit der es von vielen „undergraduate students" gelesen wird, die nach einer Erklärung von Geschichte und Wirtschaftswachstum suchen, kaum verstehen. An manchen Stellen hat die Übersetzung anstatt recht salopper Formulierungen ebenfalls wissenschaftsgerechtere zu setzen gesucht. So ist z. B. „compound interest", was eigentlich Zinseszins bedeutet, mit „kumulativer Prozeß" aus der Sprache des Kaufmanns in die des Volkswirts übertragen, und der ungerechtfertigte Gebrauch des ökonomischen Terminus „production function" an einer Stelle richtiger mit „Produktionsmöglichkeit" wiedergegeben worden. Vielleicht hätte für den deutschen ökonomisch nicht vorgebildeten Leser die ökonomische Fachsprache noch weiter aufgelockert werden sollen. Man kann in Deutschland ihre Beherrschung nicht so ohne weiteres voraussetzen wie in England, wo Rostow seine Vorträge gehalten hat. Oft steht mitten in einem allgemeinverständlichen Zusammenhang ein Satz, den nur ein ökonomisch Vorgebildeter verstehen kann, so S. 71: „Das langfristige Wachstum verlangt wie der wirtschaftliche Aufstieg, daß die Gesellschaft nicht nur große Mengen Kapital für Abschreibung und Ersatzbeschaffung und für Wohnungsbau, für gemeinnützige und andere soziale Zwecke zur Verfügung stellt, sondern auch eine Reihe von hochproduktiven primären Sektoren, die auf Grund neuer Produktionsfunktionen schnell wachsen. Nur so ist der gesamtwirtschaftliche marginale Kapitalkoeffizient niedrig gehalten worden." Im ganzen gesehen ist die Übersetzerin ihrer schwierigen Aufgabe jedoch gut Herr geworden.

Die Wirtschaftsgeschichte in den Vereinigten Staaten von Amerika. Bemerkungen zu ihrem gegenwärtigen Stand und ihrer Entwicklungstendenz 1 Für die Möglichkeit, die Eindrücke, die hier wiedergegeben werden, zu sammeln, habe ich vor allem zu danken: Professor Alexander Gerschenkron (Harvard), der mich an seine Universität einlud, Professor Walther G. Hoffmann (Münster), der diese Idee unterstützte, und der Rockefeller Foundation, die die Finanzierung übernahm. Halbjährige Aufenthalte an der Harvard-Universität und der University of California, Berkeley, kürzere Reisen zu mehreren anderen Universitäten des Landes sowie die Teilnahme an Tagungen der Economic History Association im September 1961 in Bloomington/Indiana, der „Business Historians" an der Harvard Graduate School of Business Administration im Oktober 1961 und einer Gruppe für quantitative Wirtschaftsgeschichte im Dezember 1961 an der Purdue Universität in Lafayette/Indiana gaben Gelegenheit zu zahlreichen Gesprächen. Für viele Anregungen möchte ich vor allem

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Anmerkungen zu S. 40—41

danken: Moses Abramovitz (Stanford), Howard F. Bennet (Northwestern), Rondo E. Cameron (Wisconsin), Alfred D. Chandler (MIT), Thomas C. Cochran (Pennsylvania), Arthur H. Cole (Harvard), Paul David (Stanford), Lance E. Davis (Purdue), Richard A. Easterlin (Pennsylvania), Albert Fishlow (Berkeley), Herman Freudenberger (Tulane), Gregory Grossman (Berkeley), Earl J . Hamilton (Chicago), Oskar u. Mary Handlin (Harvard), Lawrence A. Harper (Berkeley), Ralph u. Muriel Hidy (Harvard), Bert F. Hoselitz (Chicago), Jonathan R. T. Hughes (Purdue), Arthur M. Johnson (Harvard), Donald L. Kemmerer (Illinois), Herbert Kisch (Michigan State), Fred W. Kohlmeyer (Illinois), Eric E. Lampard (Wisconsin), David S. Landes (Berkeley), Harvey Leibenstein (Berkeley), Theodore F. Marburg (Marquette), Douglass C. North (Washington), Goran Ohlin (seinerzeit in Columbia), William N. Parker (seinerzeit North Carolina), Fritz Redlich (Harvard), Raymond de Roover (Brooklyn), Hans Rosenberg (Berkeley), Domenico Sella (Wisconsin), Roger S. Taylor (Amherst) und Harold F. Williamson (Northwestern). Für die kritische Durchsicht dieses Berichts und zahlreiche Verbesserungsvorschläge danke ich besonders Fritz Redlich und Ralph W. Hidy, Harvard, sowie William N. Parker, Yale. Selbstverständlich sind alle darin ausgedrückten Meinungen lediglich die meinen, so wie auch alle Irrtümer und Fehlinterpretationen nur mir zur Last fallen. 2 Es ist bezeichnend, daß in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates für den Ausbau der deutschen Universitäten für jede Universität ein Lehrstuhl mit dieser Doppelbezeichnung vorgeschlagen wurde, der meist in der Sozial- und Wirtschafts- (bzw. Rechts- und Staatswissenschaftlichen) Fakultät, manchmal auch in der Philosophischen Fakultät beheimatet sein soll. 3 Daß darüber hinaus viele andere Bereiche wie das Recht, die Technik etc. von ihm berührt werden, hat es mit jedem Wissensgebiet gemeinsam. Konstituierend für es ist jedoch, daß es im Schnittpunkt von Geschichte, Ökonomie und Soziologie liegt. 4 Eine Unterscheidung der von der Nationalökonomie geschaffenen, an dem „modernen" engeren Begriff von Wirtschaft und Gesellschaft orientierten (Sozial- und) Wirtschaftsgeschichte von der „Sozialgeschichte im weiteren Sinn", die ein Aspekt der allgemeinen Geschichte sei, findet sich bei O. Brunner, Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Zeitschrift für Nationalökonomie 7, 1936, 672 ff., und abgewandelt in: ders., Neue Wege der Sozialeeschichte. Göttingen 1956. 11. 5 Vgl. etwa G. M. Trevelyan, English Social History, London 1946, VII; H. J . Perkins, What is Social History? Bulletin of the John Rylands Library, Manchester 36, 1953. 6 Am stärksten haben in dieser Richtung in den letzten Jahren wohl Wilhelm Abel, Walther G. Hoffmann und Friedrich Lütge gewirkt. Vgl. außer ihren zahlreichen Beiträgen zu einzelnen Sachgebieten ihre grundsätzlichen Äußerungen: W. Abel, Neue Fragen an die Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1962; W. G. Hoffmann, Wachstumstheorie und Wirtschaftsgeschichte, in: Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, Festgabe für A. Müller-Armack, Berlin 1961, 147—158; F. Lütge, Geschichte, Wirtschaft, Wirtschaftsgeschichte, München 1961. 7 Ob das gleiche auch für das Verhältnis von Soziologie und Geschichte bei der Sozialgeschichte gilt, ist weniger eindeutig. Immerhin gibt es Ansätze einer „historisch gesättigten" Soziologie, die eine starke Absorptionskraft gegenüber der Geschichte aufweist und zu einer ebenso starken Dominanz der Soziologie über die Geschichte führen könnte, wie das für die Wirtschaftsgeschichte deutlich sichtbar ist. Als Beispiel mögen die Arbeiten aus dem stark historisch orientierten Department of Sociology an der Universität von Kalifornien in Berkeley gelten, etwa Wolfram Eberhards und Franz Schurmanns Studien zur Sozialgeschichte Ostasiens, Reinhard Bendix' und Seymour H. Lipsets Untersuchungen der Schichtung und Mobilität der amerikanischen Gesellschaft, Kingsley Davis' Arbeiten zur Bevölkerungswissenschaft oder Neil Smelsers bzw. Reinhard Bendix' Studien zur Frühgeschichte der Industrialisierung in Europa. Andere So© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Anmerkungen zu S. 41—43

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ziologen, auf deren Arbeiten liier hinzuweisen wäre, sind Leland Jenks (Wellesley College) und Sigmund Diamond (Columbia). Eine Sonderstellung nimmt Bert F. Hoselitz (Chicago) ein, dessen weite Gebiete umspannenden Arbeiten besonders zu Fragen des wirtschaftlichen Wachstums an der Nahtstelle von Ökonomie, Soziologie und Geschichte stehen. Siehe seinen Aufsatzband: Wirtschaftliches Wachstum und sozialer Wandel, Berlin 1969. 8 Am stärksten wird von ihnen die daraus folgende „Dehumanisierung" (Frederic C. Lane) der Wirtschaftsgeschichte beklagt. 9 Eine grundsätzliche Diskussion des Verhältnisses der ökonomischen Wachstumsforschung, in der sich die Hauptrichtung der nationalökonomischen Wirtschaftsgeschichte manifestiert, fand auf der Tagung der amerikanischen Wirtschaftshistoriker 1960 statt, die unter dem Thema „Aufgaben der Wirtschaftsgeschichte" stand. S. vor allem die Beiträge von C. Goodrich, Economic History, One Field or Two?, L. Ε. Davis, J. R. Τ. Hughes, u. S. Reiter, Aspects of Quantitative Research in Economic History, u. Barry E. Supple, Economic History and Economic Growth. Alle abgedruckt in JEH 20. 1960, 531—558. Auch die Konferenz von 1957 war einer ähnlichen Fragestellung gewidmet. S. die Diskussionsbeiträge von W. W. Rostow, The Interrelation of Theory and Economic History, J . R. Meyer, und A. N. Conrad, Economic Theory, Statistical Inference and Economic History, sowie die höchst klare und wertvolle Zusammenfassung der Diskussionsergebnisse durch S. Kuznets. 10 Ein Beispiel der Verschiedenartigkeit des Ansatzes der Techniken und der Aussagefreudigkeit quantitativer Wirtschaftsgeschichte in den USA gibt der Band 24 der Studien über Einkommen und Wohlstand des Nationalen Büros für Wirtschaftsforschung über die „Trends in the American Economy in the Nineteenth Century", Princeton 1960. Der Herausgeber des Bandes, W. N. Parker, hat in seinem einsichtsvollen Vorwort die Grenzen der verschiedenen angewandten Techniken bezeichnet, A. Fishlow in einer ausgezeichneten Rezension im JEH, 22. 1962, 71—80, die ihnen zugrunde liegenden theoretischen Annahmen und möglichen Fehlerquellen herausgearbeitet. Ähnlich Bd. 30 der gleichen Reihe unter „Output, Employment and Productivity in the United States after 1800", New York 1966. Seit dem ersten Erscheinen dieses Aufsatzes (1963) hat sich die „New Economic History" weiter ausgebreitet und kann heute als die vorherrschende Richtung in der Wirtschaftsgeschichte der USA gelten. Einen Einblick in die Arbeitsergebnisse des letzten Jahrzehnts geben die Aufsatzsammlung: R. W. Fogel u. S. L. Engerman (Hg.), The Reinterpretation of American Economic History, New York 1971 und das Lehrbuch zur amerikanischen Wirtschaftsgeschichte von L. E. Davis u. a.: American Economic Growth. An Economist's History of the United States, New York 1971 sowie L. E. Davis u. D. C. North, Institutional Change and American Economic Growth, London 1971. 11 Außer dem in Anmerkung 1 genannten Sammelband können als die hauptsächlichsten monographischen Ergebnisse dieser Forschungsrichtung die Arbeiten des „National Bureau of Economic Research" und neuerdings auch der „Resources for the Future Inc." angesehen werden, z. Β. S. Kuznets, Capital in the American Economy. Its Formation and Financing, Princeton 1961, und seine Vorläufer für verschiedene Sektoren der amerikanischen Wirtschaft von anderen Mitarbeitern des National Bureaus, sowie H. S. Perloff u. a.: Regions, Resources and Economic Growth, Baltimore 1960. Eine vollständigere Bibliographie dieser Arbeiten findet sich in meinem Literaturbericht „Neuere Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der USA", VSWG 49. 1962, 459—538. Die wichtigste Vorarbeit für solche Bemühungen ist mit den „Historical Statistics of the United States" geleistet worden, die in ihrer 2. Auflage (Bureau of Census, Washington D. C. 1960) aus einer engen Zusammenarbeit des Bureau of Census mit der Economic History Association, dem Social Science Research Council und 125 Universitätsgelehrten hervorgegangen ist. Über die institutionelle Seite dieser Zusammenarbeit s. unten S. 57. Neuerdings verstärken einige der „new economic 31 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 43—45

historians" ihre Bemühungen, auch die europäische Wirtschaftsgeschichte einer Re-Interpretation im Lichte moderner nationalökonomischer Theorien und mit Hilfe quantitativer Schätzungen zu unterziehen, unterschätzen dabei aber wohl die Schwierigkeiten, die aus der ungleich vielgestaltigeren Wirtschaftsgeschichte Europas herrühren. Vgl. D. C. North u. R. P. Thomas, An Economic Theory of the Growth of the Western World, In: The Economic History Review. 2. ser. XIII. 1970, 1—17; die Referate des 30. Kongresses der Economic History Association in: The Journal of Economic History, XXXI. 1971, Heft 1 und D. C. North u. R. P. Thomas, The Rise of the Western World: A New Economic History, New York 1972. 12 Ein etwas früheres Beispiel ist W. W. Rostow, British Economy of the Nineteenth Century. Essays, Oxford 1948, ein neueres Η. Η. Segal u. M. Simon, British Foreign Capital Issues, 1865—1894, JEH 21. 1961, 566—81. 13 Führend ist auf diesem Gebiet wiederum Simon Kuznets tätig. S. z. Β. das von ihm mitherausgegebene Buch: Economic Growth: Brazil, India, J apan, Durham 1955, und seine umfangreiche Aufsatzfolge: Quantitative Aspects of the Economic Growth of Nations, Economic Development and Cultural Change. Bisher 6 Folgen in den Bänden 5—9, 1956—1961. S. auch die Kuznets zum 60. Geburtstag gewidmeten „Essays in the Quantitative Study of Economic Growth", ebda, 9, Η. 3 (April 1961), und zahlreiche andere Beiträge in dieser vom „Research Center in Economic Development and Cultural Change" der University of Chicago unter dem Vorsitz von B. F. Hoselitz herausgegebenen Zeitschrift. Als Beispiel einer ausgezeichneten Monographie über ein nicht-angelsächsisches Land sei erwähnt: H. Rosovsky, Capital Formation in Japan 1868—1940, Glencoe 1961. 14 North, Growth. In der Zwischenzeit sind verfeinerte Theorien zur Erklärung der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte entwickelt worden (s. Fußnote 11). 15 Auf beide Möglichkeiten hat auch R. A. Easterlin in seiner kritischen Besprechung von Norths Buch im JEH 22. 1962, 122—126, hingewiesen, der ein ausführlicheres, auf der Tagung quantitativer Wirtschaftshistoriker in Purdue im Dezember 1961 diskutiertes Manuskript zugrunde liegt. 16 Sie kann wirkliche Vorgänge höchstens mit Hilfe des Computers simulieren — ein Quasi-Experiment, daß sicher auch in der Wirtschaftsgeschichte mit Erfolg angewandt werden kann. 17 Einen interessanten Versuch in bezug auf Norths These hat eine Gruppe von Nationalökonomen der Purdue-University unter Leitung von L. E. Davis begonnen. Die ersten Ergebnisse ihres mathematischen „Simulation Model of the Northian World" wurden auf der Tagung der quantitativen Wirtschaftshistoriker in Purdue diskutiert, ohne daß bereits schlüssige Ergebnisse erzielt werden konnten, da Norths Modell immerhin so wirklichkeitsnah ist, daß seine mathematische Formulierung erhebliche Schwierigkeiten verursacht. Eines der Ziele des von der Davis-Gruppe begonnenen Versuchs besteht in dieser alternativen Durchspielung des Wirtschaftsprozesses mit Hilfe von elektronischen Rechenmaschinen. 18 Eigentlich müßten die „Kuznetszyklen", um sie von den langen Wellen Kondratieffs einerseits und den kurzen Zyklen Juglars andererseits zu unterscheiden, als „mittlere Schwingungen" bezeichnet werden, wie das von Abramovitz auch getan wird. 19 Von Kuznets selbst sind hier vor allem zu erwähnen: Secular Movements in Production and Prices, New York 1930. Und: Long Swings in the Growth of Population and Related Economic Variables. Proceedings of the American Philosophical Society, CII, I (1958), 25—52. Kuznets vorausgegangen war schon C. A. R. Wardwell, An Investigation of Economic Data for Major Cycles, Philadelphia 1927. Eine erste Verallgemeinerung der speziellen Ergebnisse von Wardwell und Kuznets nahm A. F. Burns vor: Production Trends in the US since 1870, New York 1934. In der Folge wurden sie von anderen Forschern wie Isard, Lewis, O'Hary, Thomas, Cairncross, Abramovitz, Williamson sowie Kuznets selbst auch für andere Bereiche, z. Β. das Transportwesen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Anmerkungen zu S. 45—47

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die Bevölkerungsbewegung und die Zahlungsbilanz, sowie für andere Länder, hauptsächlich Großbritannien, nachgewiesen. Neueste Beiträge sind die Arbeiten von J . G. Williamson, Kuznets' Cycles and Their Effect Upon American Balance of Payments 1820—1913, Diss. Stanford 1961, und: The Long Swing: Comparisons and Interactions between British and American Balance of Payments, 1820—1914, JEH 22, 1962, 21 bis 46; H. J . Habakkuk, Fluctuations in House Building in Britain and the United States in the Nineteenth Century ebda. 1962, 198—230, sowie die ausgezeichneten Zusammenfassungen von M. Abramovitz, The Nature and Significance of Kuznets' Cycles, Economic Development and Cultural Change 9. 1961, 225—48 und The Passingof the Kuznets Cycle, Economica 35 1968, 349—367. 20 Am weitesten ist darin bisher die Purdue-Gruppe unter Führung von L. Davis, J . R. T. Hughes und D. McDougall gegangen. Einige ihrer Studien, meist mit Hilfe von elektronischen Rechenmaschinen durchgeführt, sind: J . R. T. Hughes and Stanley Reiter, The First 1945 British Steamships, Journal of the American Statistical Association LIII. 1958, 360—81; L. E. Davis and J . R. T. Hughes, A Dollar-Sterling Exchange 1803—1895, EHR 13. 1960, 52—78, sowie die Arbeiten von L. E. Davis über die Finanzierung der Textilindustrie Neu-England. Einen Eindruck von den Auswirkungen der neuen Richtung auf die akademische Lehre gibt das Lehrbuch der Gruppe (L. E. Davis, J , R. T. Hughes, D. M. McDougall: American Economic History. The Development of a National Economy, Homewood 1961, VIII), das zugleich in Wirtschaftstheorie und -geschichte einführen will, wobei allerdings beide nicht recht auf ihre Kosten kommen. Vgl. aber die in Anm. 11 genannte neue Literatur. Daß aber auch Historiker die maschinellen statistischen Techniken nicht verschmähen, mag am Beispiel der ausgezeichneten Untersuchung von B. und L. Bailyn, Massachusetts Shipping 1697—1714, a Statistical Survey, Cambridge/Mass. 1959, ersehen werden. Generell nun: E. Shorter, The Historian and the Computer, Englewood Cliffs, Ν. J. 1971. 21 J . Η. Claphams Beitrag: Economic History as a Discipline, Encyclopaedia of the Social Sciences 5. 1931, 327—30. Er unterscheidet (S. 328) den „induktiven Ökonomen", der nur in zweiter Linie Historiker ist, von dem eigentlichen Wirtschaftshistoriker und weist dem ersteren die quantitative Arbeit auf denjenigen Gebieten an, die feinerer statistischer Methoden bedürfen. 22 Die bisher entschiedenste Stellungnahme für eine solche Entwicklung stammt von W. Abel in seiner in Anmerkung 6 genannten Schrift, 23 f. Danach ist die Wirtschaftsgeschichte nichts als angewandte Wirtschaftswissenschaft und hat sich nach Interesse, Methode und Gegenstand von sonst eng mit ihr in Beziehung gesetzten Bereichen der Geschichte, z. B. der Sozial-, Rechts- oder Kulturgeschichte zu unterscheiden. 23 Am weitesten in dieser Richtung ist bisher die Ruhr-Universität in Bochum mit der Einrichtung von drei Lehrstühlen mit verschiedenen Forschungs- und Methodenschwerpunkten gegangen. 24 S. u. a. F. Redlich, Die Anfänge der Firmengeschichtsschreibung in Deutschland, Beiheft I der „Tradition" und seinen Beitrag: Approaches to Business History, zur Business History Konferenz in Harvard 1961, abgedruckt in dem dieser Konferenz gewidmeten Heft 1/1962 der BHR, 61—70. 25 Ihre erste Institutionalisierung fand sie, als 1927 die Harvard Business School einen Lehrstuhl dieses Faches einrichtete und N. S. B. Gras übertrug. 26 Das war wohl das Hauptergebnis der oben, Anm. 1, genannten Konferenz. Siehe die Referate und Diskussionsbeiträge in der BHR 1. 1962, besonders die temperamentvolle Würdigung ihrer Ergebnisse durch Α. Μ. Johnson unter dem Titel: Where Does Business History Go from Here?, 11—20, sowie A. H. Coles Überlegungen; What is Business History? 98—106. 27 H. F. Williamson und A. R. Daum, The American Petroleum Industry: The Age of Illumination 1859—1899, Evanston 1959, und R. W. Hidy, Some Implications 31*

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Anmerkungen zu S. 47—50

of the Recent Literature on the History of Petroleum Industry: A Review Article, BHR 30. 1956, 329—44. Weitere Literaturangaben, auch über andere Industriezweige enthält mein oben, Anmerkung 11, angeführter Literaturbericht. 28 Repräsentativ dafür sind z. B. die Studien von L. Jenks, H. Aitken und A. Chandler. S. z. B. L. Jenks, Early Phases of the Management Movement. Administrative Science Quarterly 5. 1960, 421—47; H. Aitken, Taylorism at Watertown Arsenal. Scientific Management in Action, 1908—1915, Cambridge/Mass. 1961; A. D. Chandler, Strategy and Structure: Chapters in the History of the Industrial Enterprise, Cambridge/Mass. 1962. 29 Zugleich programmatisch und eine Reihe bedeutender Einzelarbeiten zusammenfassend das Buch des Altmeisters der amerikanischen „Business History", Α. Η. Cole, Business Enterprise in Its Social Setting, Cambridge/Mass. 1959, und Τ. C. Cochran: Basic History of American Business, Princeton 1959, sowie Τ. C. Cochran and W. Mil­ ler, The Age of Enterprise: A Social History of Industrial America, New York 1942, 19612. Vgl. jetzt auch A. D. Chandler, Changing Economic Order. Readings in Ame­ rican Business and Economic History, New York 1968. 30 Pionierarbeit auf diesem Gebiet hat vor allem F. Redlich geleistet, dem die ame­ rikanische „Business History" wesentliche Anregungen verdankt. Seine zahlreichen Arbeiten sind z. Τ. in der Sammlung seiner Aufsätze zur Unternehmergeschichte (Tübingen 1963), z. Τ. in der Aufsatzsammlung: Steeped in two Cultures, New York and Evanston 1971, vereinigt. Andere Arbeiten dieser Art sind durch das frühere Research Center in Entrepreneurial History an der Harvard-Universität angeregt und meist in dessen „Explorations in Entrepreneurial History" veröffentlicht worden. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die Tagung der Eleutherian Mills-Hagley Foundation unter Leitung von H. F. Williamson unter dem Thema: „Evolution of Management Structures of Large Scale Business Organisations" im Frühjahr 1972. 31 Nach einer Formulierung von F. Redlich auf der oben genannten Konferenz. Siehe BHR 36. 1962, 63. 32 Hier seien nur die bisher erschienenen Bände der zehnbändigen „Economic History of the United States" aus der Feder von F. A. Shannon, G. Soule, B. Mitchell, H. Faulkner, G. Taylor, P. Gates, E. Kirkland und C. Netteis genannt. Für eine vollständigere Würdigung und Bibliographierung der Arbeiten zur amerikanischen Wirtschaftsgeschichte (wenn auch nicht der amerikanischen Wirtschaftshistoriker!) s. das bibliographische Heft 1, JEH 19. 1959, 1—121, und meinen daran anschließenden bibliographischen Aufsatz in: VSWG 49. 1962, 459—538. 33 Cochran kam zu diesem Ergebnis auf Grund seines bibliographischen Berichts zu Neuerscheinungen für das 20. Jahrhundert seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. JEH 19. 1959, 64. 34 Für das Gebiet der deutschen Geschichte scheint mir der Aufbau des als Lehrbuch viel benutzten Werkes von T. F. Hamerow, Restoration, Revolution, Reaction: Economics and Politics in Germany, 1815—1871, Princeton 1958, charakteristisch zu sein. Es schildert zunächst die Wirtschaft Deutschlands, baut darauf die gesellschaftliche Struktur auf und kommt von dort zu den politischen Ereignissen. 35 Daß dem Isolationismus gegenüber Europa ein massiver Interventionismus gegenüber Ostasien parallel geht, hat u. a. G. Mann beobachtet. Siehe sein Buch: Vom Geist Amerikas, Stuttgart 1954. 36 Dieser Widerstand ist z. Τ. erwähnt und übrigens positiv beurteilt in der Darstellung des Universitätsfaches Geschichte an den deutschen Universitäten durch J . Engel in der Festausgabe der HZ zu ihrem hundertjährigen Jubiläum (189, 1959, bes. 323 ff., 348 ff.). 37 Daß die „Verfrühung", die „Überanstrengung" und „Verspätung" Grundthemen der deutschen Geschichte seien, hat H. Heimpel mehrfach geäußert und begründet, zuerst wohl in seiner Aufsatzsammlung: Deutsches Mittelalter, Leipzig 1941. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Anmerkungen zu S. 51—55

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Hier ist besonders auf die Arbeiten von R. E. Cameron und D. S. Landes zu verweisen. Camerons zahlreichen Einzeluntersuchungen über die Faktoren des wirtschaftlichen Wachstums in Frankreich und über Frankreichs Einfluß auf den europäischen Kontinent sind zusammengefaßt in seinem Buch: France and the Economic Development of Europe, Princeton 1961. Landes' Verdienste um die Herausarbeitung der spezifischen Charakteristika des französischen Unternehmertums und französischen Geschäftsgebarens kulminieren bisher in seinem Buch: Bankers and Pashas. International Finance and Economic Imperialism in Egypt, Cambridge/Mass. 1958. Cameron verdanken wir die Auffindung des Archivs der Oppenheim & Cie. in Köln, Landes die Auswertung des Bleichröder Archivs in New York. 39 Außer den eben in Anmerkung 38 genannten Werken s, vor allem D. S. Landes' Beitrag: Technological Change and Economic Development in Western Europe, 1815— 1914, Cambridge Economic History of Europe VI. 1965. Selbständig als: The Unbound Prometheus, Cambridge 1969. Deutsch bei Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1972. 40 Außer Cameron und Landes u. a Freudenberger, Kitsch, Ch. u. R. Tilly, Lidtke, Shorter u. a. m. 41 Hier sei nur auf die Arbeiten von W. Eberhard, A. Eckstein, A. Gerschenkron, A. Feuerwerker, G. Großmann, T. von Laue, W. W. Lockwood, H. Rosovsky, F. Schurmann usw. verwiesen. 42 Eine einigermaßen vollständige Kenntnis über diese Institutionen sowie über die Lehre der Wirtschaftsgeschichte an hunderten von Universitäten und Colleges ist auch in den USA selbst z. Z. nicht vorhanden, eine Untersuchung, deren Ergebnisse aber erst in einigen Jahren vorliegen werden, jedoch geplant. 43 Bei der großen Unterschiedlichkeit der amerikanischen Universitäten sind Verallgemeinerungen hier besonders gewagt. Die „Identifikation" von Wirtschaftshistorikern ist außerdem schwierig, weil im Unterschied zu der deutschen Gepflogenheit die Professoren nicht für ihr Spezialfach, sondern für das Gesamtfach des Departments ernannt werden, die Wirtschaftshistoriker also entweder als „Professor (Associate Professor, Assistant Professor) of History" oder „... of Economics" in den Vorlesungsverzeichnissen geführt werden. (In einigen wenigen Fällen halten sie „joint appointments" in beiden Departments.) Wer Wirtschaftsgeschichte lehrt, kann man daher nur an den Vorlesungsthemen selbst erkennen. 44 So hat z. B. das Department of Economics der Harvard University je einen Spezialisten für russische und japanische Wirtschaftsgeschichte (Gerschenkron und Rosovsky), das Department of History neben einem Professor für westeuropäische Wirtschaftsgeschichte (Landes) mehrere Professoren, die sich mit amerikanischer Sozialund Wirtschaftsgeschichte befassen (Handlin, Bailyn), die Business School Professoren für amerikanische „Business History" (Chandler, Baughman). 45 Für Überlassung von Material, mündliche und schriftliche Mitteilungen hierzu bin ich R. E. Cameron (Wisconsin) und R. A. Easterlin (Pennsylvania) zu Dank verpflichtet. (Stand von 1962.) 46 Catalogue of the University of Pennsylvania, 1962/63, 146. 47 Ich erkenne dankbar die Anregungen an, die ich während meines Studienjahres 1961/62 in den USA in dem „Workshop" von Harvard unter der Leitung von A. Gerschenkron und dem Stanforder „Research Center in Economic Growth", das unter der kooperativen Leitung von M, Abramovitz, H. B. Chenery und E. Depres stand, erhalten habe. 48 Ich benutze die Gelegenheit, hier meinen Dank für die wertvollen Anregungen abzustatten, die mir die Teilnahme an den Sitzungen der „Group for Training and Research in Comparative Development" an der Universität von Kalifornien, Berkeley, brachte. Die Gruppe, ein vom „Institute of Industrial Relations" (Direktor: Α. Μ. Ross) der Universität organisierter und finanzierter lockerer Zusammenschluß von Sozialwissenschaftlern verschiedener Sparten, zeigt vorbildlich, wie Team-Work in den 38

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USA auf höchster Ebene funktioniert. Sie kombiniert drei Aufgaben: 1. gemeinsame Verantwortung für die Ausbildung und Finanzierung von Doktoranden auf dem Gebiet vergleichender Forschung, 2. regelmäßige Diskussion der in Form von „papers" vorgelegten Forschungen ihrer Mitglieder, 3. gemeinsame Planung und Ausführung eines Handbuchs über Vergleichende Forschung auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. 49 So wird das „Journal of Economic History" von der Economic History Association, die „American Economic Review" von der Economic Association, die „Agricultural History Review" von der Agricultural History Association und die „Labor History" von der Labor History Association herausgegeben. Selbstverständlich gibt es daneben auch Zeitschriften, die von einzelnen Universitäten oder Verlagen herausgegeben werden wie das „Quarterly Journal of Economics" (Harvard), „Journal of Political Economy" (Chicago) oder das „Journal of Interdisciplinary History" (MIT). 50 Die wichtigsten Resultate dieser Anregung sind: O. u. M. F. Handlin, Commonwealth: Α Study of the Role of Government in the American Economy: Massachusetts 1774—1861, New York 1947. L. Hartz, Economic Policy and Democratic Thought: Pennsylvania 1776 to 1860, Cambridge/Mass. 1948. J . N. Primm, Economic Policy in the Development of a Western State: Missouri 1820—1860, Cambridge/Mass. 1954. M. S. Heath, Constructive Liberalism: The Role of the State in the Economic Development in Georgia to 1860, Cambridge/Mass. 1954. 51 Es hat 1959 nach Auslaufen der für zehn Jahre gewährten Mittel seine Tätigkeit eingestellt. 52 Besondere Bedeutung haben die Stiftungen, vor allem Ford, in den letzten Jahren für die Finanzierung der sogenannten „Inter-University-Projects" erhalten, von denen aus unserem Bereich hier nur das kurz vor dem Abschluß stehende fünfjährige Programm für amerikanische Wirtschaftsgeschichte erwähnt sei, an dem die Universitäten Yale, Stanford, Indiana und North Carolina beteiligt sind. Auf einem ähnlichen Projekt beruhte auch die große, in 35 Ländern vergleichend durchgeführte Studie über Arbeiterprobleme im Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung, das im wesentlichen von der University of California, Berkeley, Harvard, Princeton und dem MIT durchgeführt wurde und in dem Buch resultierte: C. Kerr, J . T. Dunlop, F. Harbison, C. A. Myers, Industrialism and Industrial Man: The Problems of Labor and Management in Economic Growth, Cambridge/Mass. 1960. 53 Ein hervorragendes Beispiel für den Einfluß politischer, sozialer und wirtschaftlicher Gegenwartsprobleme auf die wissenschaftliche Forschung stellt das opus von W. W. Rostow, früher Professor für Wirtschaftsgeschichte am MIT, dann Planungschef des Auswärtigen Amtes und Berater der Präsidenten Kennedy und Johnson, dar. Vgl. vor allem die Kombination von historischer Deutung und politischer Entscheidungsbildung in seinem bekannten Buch „Stages of Economic Growth" (Cambridge 1960) und die aufschlußreiche Selbstinterpretation in seinem Vortrag „The Interrelation of Theory and Economic History" im JEH, 17. 1957, 509—23. 64 Es sei darauf hingewiesen, daß eine bedeutende Zahl der heute schnell wachsenden Staatsuniversitäten vor hundert Jahren als „Land-Grant-Colleges" gegründet wurde mit dem ausdrücklichen Auftrag, dem Fortschritt von Landwirtschaft und Industrie sowie der Landesverteidigung zu dienen. (Letzteres brachte ihnen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre einige Probleme im Zusammenhang mit der Bewegung gegen den Krieg in Vietnam. Im Ganzen aber befähigte es sie, auf die „Studentenrevolte" seit 1964 flexibler, aber auch widerstandsfähiger zu reagieren als die deutschen, französischen, italienischen oder japanischen Universitäten.)

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Anmerkungen zu S. 60—63

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II. Staat und Wirtschaft Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung 1 Siehe vor allem sein Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612—1688, Salzburg 1949, besonders 300 ff. und der Aufsatz: Das ,ganze Haus' und die alteuropäische ,Ökonomik', in: ders., Neue Wege zur Sozialgeschichte, Göttingen 1956, 33 ff. 2 Dazu siehe die Beitrage von O. Brunner, W. Zorn und W. Fischer über Österreich, Bayern und Baden in dem Sammelband: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848, Hg. W. Conze, Stuttgart 19702. 3 Für Preußen zuerst entwickelt von W. Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik in Preußen 1815—1825, Stuttgart 1937. Allgemeiner geprägt von W. Conze, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands, HZ 186. 1958, 1—34. 4 Vgl. W. Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- und Staatsverfassung des 19. Jahrhunderts, Berlin 1964. 5 Die Frage der Periodisierung ist hier, wie immer in der Geschichte, schwierig und strittig. Während Rostow die Periode des „Take-Off" für Deutschland mit 1850, frühestens 1840, beginnen läßt — vgl. dazu vor allem sein Buch Stages, dt.: Stadien —, neige ich, in Übereinstimmung mit Hoffmann, Stadien, dazu, sie schon früher, etwa 1815, anzusetzen. Die Periode 1815—1848, auf die ich mich hier hauptsächlich beziehe, gehört für Rostow wesentlich in das Stadium des „Pre-take-off". Viele der Erscheinungen, die hier abzuhandeln sein werden, besonders die starke Rolle der staatlichen Gewerbeforderung beim Beginn der Industrialisierung, sind in der Tat typische Merkmale jener unmittelbaren Vorbereitungszeit, die die Grundlagen für ein stetiges wirtschaftliches Wachstum mittels einer sich selbst vorantreibenden Industrialisierung legten. Wenn ich trotzdem daran festhalten möchte, in dieser Zeit auch schon die Ansätze der Industrialisierung selbst zu sehen, so deshalb, weil sich hier deutlich jene Formen, Methoden und Techniken ausbilden, die in der zweiten Jahrhunderthälfte dann sichtbar zur Industrialisierung Deutschlands geführt haben. Andererseits möchte ich doch nicht so weit gehen wie W. O. Henderson (The Genesis of the Industrial Revolution in France and Germany in the 18th Century, Kyklos 9. 1956, 190—207), der — gleich vielen anderen, vor allem älteren deutschen Wirtschaftshistorikern — die Industrialisierung selbst schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufsucht. Wenn man den Prozeß der Mechanisierung als das entscheidende Merkmal der Industrialisierung ansieht, ist das 18. Jahrhundert in Deutschland eindeutig „Vorgeschichte". (Vgl. dazu meinen Aufsatz: Ansätze zur Industrialisierung in Baden 1770—1870, VSWG 47. 1960, 186—231.) Meine Auffassung deckt sich im wesentlichen mit der J . H. Claphams, The Economic Development of France and Germany 1815—1914, Cambridge 1921, und D. S. Landes', Technological Change and Economic Development in Western Europe. 1750—1870, Cambridge Economic History of Europe, VI, 1965; dt. 1972. 6 Eine zusammenfassende Darstellung dieser vorwiegend von der angelsächsischen Ökonomie entwickelten Modelle gibt Klatt, Theorie. Vgl. auch A. Gerschenkron, Backwardness und ders., Continuity in History and other Essays, Cambridge/Mass. 1968. 7 Typisch dafür etwa: H. F. Williamson und J . A. Buttrick, Economic Development. Principles and Patterns, New York 1954, oder G. M. Meier und R. E. Baldwin, Economic Development. Theory, History, Policy, New York 1957. Weniger ausgeprägt bei W. A. Lewis, The Theory of Economic Growth, London 1955, dt., Tübingen 1956. Ein Gegenbeispiel ist die Studie von J . U. Nef, War and Human Progress. An Essay on the Rise of Industrial Civilization, Cambridge/Mass. 1950. Vgl. auch Ph. Deane, Revolution.

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Anmerkungen zu S. 63—67

8 In manchen Regionen Kontinentaleuropas, zum Beispiel in Flandern, im Niederrheingebiet, in den Hansestädten oder in der östlichen Schweiz, ist Ähnliches zu beobachten, weshalb hier die Industrialisierung früher einsetzte und im wesentlichen ohne Staatshilfe voranging. (Vgl. etwa W. Bodmer, Schweizerische Industriegeschichte. Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, Zürich 1960.) Für diese Regionen treffen die nachfolgenden Bemerkungen daher nur sehr bedingt zu. Sie gelten jedoch für den weitaus größten Teil Deutschlands (und auch Österreichs), nicht etwa nur für das östliche Preußen. 9 Vgl. dazu eine lange Reihe von Interpretationen, die von Thorsten Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution, London/New York 1915, bis zu H.-U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1969, 1972s reicht. 10 Vgl. dazu auch F. Facius, Wirtschaft und Staat. Die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, Boppard 1959. 11 Im folgenden führe ich Gedankengänge fort, die ich zuerst in einem Referat „Government Activity at the Beginning of Industrialization in Germany 1815—1870" für die Jahreskonferenz der International Economic Association, Konstanz, September 1960, entwickelt habe. Es ist gedruckt in W. W. Rostow, Hg., Economics, 83—94. 12 Siehe u. a. K. v. Rohrscheidt, Vom Zunftzwange zur Gewerbefreiheit, Berlin 1898; H. Röhl, Beiträge zur preußischen Handwerkerpolitik vom Allgemeinen Landrecht bis zur Allgemeinen Gewerbeordnung 1845, Leipzig 1900; P. Horster, Die Entwicklung der sächsischen Gewerbeverfassung (1730—1861), Diss. Heidelberg 1908; W. Fischer, Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsverfassung vor der industriellen Revolution, Berlin 1955. 13 Zur preußischen Handhabung siehe Rectanus, Die Preuß. Patentgesetzgebung von 1796 bis zur Reichsgesetzgebung, Zeitschrift des VDI 78. 1934, 657 ff. Neuerdings I. Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806—1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus, Berlin 1965, 64 ff. Über Bayern, wo die Patentgesetzgebung unter dem Titel „Gewerbsprivileg" ein Teil der Gewerbeordnung blieb, vgl. R. Griesbacher, Die Entstehung des gewerblichen Urheberrechts in Bayern von der Zeit des Privilegs bis zur Reichsgesetzgebung, Jur. Diss. Erlangen 1948 (Maschinenschrift). Bayern kannte ursprünglich keine Vorprüfung, ging aber 1853 nach preußischem Vorbild dazu über (Griesbacher, 27 und 74 ff.). Ein Beispiel für die kleinen Zollvereinsstaaten findet sich in dem Abschnitt „Patentgesetzgebung und Patentverleihung" in meiner Heidelberger Habilitationsschrift: Der Staat und die Anfänge der Industrialisierung in Baden 1800—1850, Bd. I, Die staatliche Gewerbepolitik, Berlin 1962, 83—100. 14 W. O. Henderson, The Zollverein, London 19592; W. Fischer, The German Zollverein. A Case Study in Customs Union, Kyklos 13. 1960, 65—89. (In deutscher Übersetzung in diesem Band.) 15 Beispiele für Preußen siehe bei Mieck, Gewerbepolitik, 120 ff.; für Süddeutschland bei Fischer, Staat, 96 ff. 16 Beispiele wiederum bei Mieck, 124 ff.; Fischer, ebda 147 ff. 17 Aufser den obengenannten Arbeiten siehe dazu u. a. H. J . Straube, Die Gewerbeförderung Preußens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung der Regierungsmaßnahmen zur Forderung der Industrie durch Erziehung und Fortbildung, Diss. ΤΗ Berlin 1933; W. O. Henderson, The State and the Industrial Revolution in Prussia 1740—1870, Liverpool 1958; I. Bode, Die staatliche Gewerbe­ förderung im Königreich Sachsen, Diss. Erlangen 1914; L. Vischer, Die industrielle Entwicklung im Königreich Württemberg und der Anteil der Zentralstelle für Gewerbe und Handel daran, Stuttgart 1875; P. Siebertz, Ferdinand von Steinbeis. Ein Wegbereiter der Wirtschaft, Stuttgart 1952. 18 Henderson, Zollverein, 55, 75 ff.

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Anmerkungen zu S. 67—72

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19 Die beste Darstellung, auch der frühen preußischen Eisenbahnpolitik, gibt W. O. Henderson im dritten Teil seines Buchs: The State and the Industrial Revolution in Prussia, unter dem Titel: „The State and the Railways 1815—1870." Dort auch weitere Literatur. Für Baden als Beispiel einer von Anfang an staatseigenen Eisenbahn siehe A. Kuntzemüller, Die badischen Eisenbahnen, Karlsruhe 19532. 20 So kam um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Fünftel der preußischen Kohlenproduktion, 84 % des von Kokshochöfen produzierten Roheisens und 82 % des Salzes aus staatseigenen Werken. Henderson, State, XVII f. 21 Mieck, Gewerbepolitik, bes. 170 ff.; Henderson, State, bes. 59 ff., 96 ff., 119 ff. 22 Henderson, ebda 140 ff. 23 Innerhalb der reichen Krupp-Literatur widmet die Quellenpublikation von W. Boelcke, Krupp und die Hohenzollern. Aus der Korrespondenz der Familie Krupp 1850—1916, Berlin 1956, Frankfurt 19702, diesen Zusammenhängen besondere Aufmerksamkeit. 24 Über die unternehmerischen Kräfte einzelner Landschaften und die wirtschaftliche Entwicklung einzelner Regionen oder Städte in Zeiten aufstrebenden Bürgertums liegen zahlreiche, aber noch längst nicht genug Untersuchungen vor, um ein zutreffendes Bild von der weiten Differenzierung des Geschehens zu geben. An neueren Arbeiten seien außer den Werken P. E. Schramms zur Geschichte des Hamburger Bürgertums, besonders sein großes Buch: Hamburg, Deutschland und die Welt, München 1943, 19522, hier genannt: M. Barkhausen, Staatliche Wirtschaftslenkung und freies Unternehmertum im westdeutschen und im nord- und südniederländischen Raum bei der Entstehung der neuzeitlichen Industrien im 18. Jh., VSWG 45. 1958, 168—241; H. Kisch, The Textile Industries in Silesia and the Rhineland: A Comparative Study in Industrialization, JEH 19. 1959, 541—564; F. Zunkel, Das rhein.-westf. Unternehmertum 1834—1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums, Köln 1962; R. Engelsing, Bremisches Unternehmertum. Sozialgeschichte 1780—1870, Jahrbuch der Wittheit zu Bremen, II, Bremen 1958, 7—112; Fischer, Ansätze, 186—231; W. Zorn, Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648—1870, Augsburg 1961; F. Beck, Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Greiz während des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Industrialisierung in Deutschland, Weimar 1955; W. Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert, Tübingen 1959; Böhme, Frankfurt und Hamburg. Des Deutschen Reiches Silber- und Goldloch und die Allerenglischste Stadt des Kontinents, Frankfurt 1968. 25 H. Hubrig, Die patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, Weinheim 1957; R. Stadelmann und W. Fischer, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes, Berlin 1955, 17 f. und 215 f. 26 Einzelheiten für Preußen und Baden wiederum bei Mieck, Gewerbepolitik, 35 ff., 67 ff., 75 ff., 106 ff.; Fischer, Staat, 165 ff., 180 ff. 27 Ebd., 170 ff. 28 E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Dortmund 1964. 29 Zur Geschichte und Struktur der Handelskammern, aber auch zu den Typen wirtschaftlicher Interessenverbände im 19. Jahrhundert finden sich interessante Bemerkungen bei L. Beutin, Geschichte der süd-westfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen und ihrer Wirtschaftslandschaft, Hagen 1956, bes. 46 ff., 100 ff., 117 ff. 30 W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963; F. Baiser, Social-Demokratie 1848/49—1863. Die erste deutsche Arbeiterorganisation ,Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung' nach der Revolution, 2 Bde, Stuttgart 1962. 31 Vgl. dazu meine Münsteraner Antrittsvorlesung: Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts, ZfGS

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Anmerkungen zu S. 72—86

117. 1961; und den Vortrag: Die Bedeutung der preußischen Bergrechtsreform (1851 bis 1865) für den industriellen Ausbau des Ruhrgebiets, Dortmund 1961. (Beide wieder abgedruckt in diesem Band.) 32 H. Spethmann, Franz Haniel. Sein Leben und seine Werke, Duisburg-Ruhrort 1956, 167. Planerische Gesichtspunkte bei der Industrialisierung in Baden 1 Diese Beschränkung ist nicht nur durch die Notwendigkeit geboten, die wichtigsten Leitmotive herauszuarbeiten, sondern auch durch die Lage der Quellen und der Forschung. Ich stütze mich im folgenden im wesentlichen auf die Ergebnisse meiner Habilitationsschrift: Staat I. 2 Vgl. dazu bes. A. Kuntzemüller, Die badischen Eisenbahnen, Freiburg 1940. 3 Vgl. dazu auch J . B. Trenkle, Geschichte der Schwarzwälder Industrie, Karlsruhe 1874, und F. J . Gemmert, Die Schicksale der Textilfabriken in den säkularisierten Breisgauer Klöstern, Schau-Ins-Land, 77. Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland, Freiburg i. Br. 1959, 62—89. 4 Fischer, Staat I, 213. 5 Ebda, 217. 6 Ebda, 226 f. 7 Ebda, 228. 8 Ebda, 244. 9 Ebda, 385. 10 Ebda, 386. 11 Ebda. 392, 12 W. Fischer, Carl Mez (1808—1877). Ein badischer Unternehmer im 19. Jahrhundert, Tradition 1. 1956, 28; wieder abgedruckt in diesem Band. 13 Selbstverständlich war der Terminus „Mittelstandspolitik" ebenso wie „Arbeitsbeschaffungspolitik" im frühen 19. Jahrhundert noch nicht üblich. Die meist unter dem Schlagwort „Gewerbeordnung" laufenden Bemühungen muß man jedoch durchaus als Mittelstandspolitik im Sinne des 20. Jahrhunderts verstehen. 14 W. Fischer, Staat und Gesellschaft Badens im Vormärz, in: W. Conze, Hg., Staat, Stuttgart 1962, 158 f.; wieder abgedruckt in diesem Band. 15 Fischer, Staat I, 150. 16 Ebda, 150.

Staat und Gesellschaft Badens im Vormärz F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert II, 19492, 226. Das betont auch F. Schnabel, wenn er in Deutsche Geschichte II, 226, davon spricht, daß die Bedeutung des badischen Landtags als „Schule des vormärzlichen Liberalismus" das politische Gewicht des badischen Staates im Vormärz bei weitem übertraf. 3 In den Akten des Generallandesarchivs Karlsruhe (im folg.: GLA) befinden sich viele Personalakten, in denen selbst die Examina, die beim Eintritt in den Dienst abgelegt wurden, enthalten sind und aus denen oft der ganze Lebenslauf eines Beamten verfolgt werden kann. Besonders interessant scheint dabei das Finanzministerium zu sein, das ein Korps tüchtiger Ministerialbeamten besaß, auf die offensichtlich Karl Heinrich Rau in Heidelberg mit seiner zwischen Kameralismus und Liberalismus vermittelnden Wirtschaftslehre einen bedeutenden Einfluß ausübte. Ein Vergleich zwischen den Ministerien, eine Untersuchung der Beamtenlaufbahnen und der Prägung der Beamtenschaft müßte interessante Ergebnisse bringen. Dabei ließ sich wohl auch erhellen, 1 2

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Anmerkungen zu S. 87—92

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wie groß der Einfluß der liberalen Professoren wie Rotteck, Welcker und Mittermaier oder eines Mannes wie des katholischen Professors Buß in Freiburg auf die Beamtenschaft des Landes gewesen ist. 4 Bes. A. Kopp, Zehentwesen und Zehentablösung in Baden, Freiburg 1899. 5 G. Schmollers Geschichte der Kleingewerbe im 19. Jahrhundert, Halle 1870, behandelt 103—107 auch Baden, jedoch nur sehr summarisch. Sie fußt im wesentlichen auf den Angaben von Dietz: Die Gewerbe im Großherzogtum Baden, ihre Statistik, ihre Pflege, ihre Erzeugnisse, Karlsruhe 1863. 6 Darüber vgl. mein Buch: Staat. 7 Studien, die entweder wie N. v. Preradovich (Die Führungsschichten in Österreich und Preußen 1804 bis 1918, Wiesbaden 1955) dem Verhältnis von politischer und sozialer Führungsschicht statistisch näherzukommen suchen oder in der Art von H. Gollwitzer (Die Standesherren, Göttingen 19642) das Bild einer sozial geschlossenen Gruppe der Oberschicht zeichnen, fehlen für Baden noch. Auch einen Beamtenkatalog wie den von W. Schärl (Die Zusammensetzung der bayrischen Beamtenschaft von 1806 bis 1919, Kalimünz 1955) gibt es nicht. 8 Die Zeit der Gründung des Großherzogtums ist besser erforscht. Vgl. bes. W. Andreas, Geschichte der badischen Verwaltungsorganisation und Verfassung in den Jahren 1802—1818, Bd. I, 1913; R. Goldschmidt, Geschichte der badischen Verfassungsurkunde, 1918; F. Schnabel; Sigismund von Reitzenstein. Der Begründer des badischen Staates, 1927; E. Renftler, Aufbau der inneren Verwaltung in Baden seit 1803, Die Verwaltungspraxis 21. 1955, 176 ff. Für den Vormärz neuerdings: E. Angermann, Karl Mathy als Sozial- und Wirtschaftspolitiker (1842—1848), Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins 103. 1955. 8a Hierzu vgl. oben S. 91. 9 L. Müller, Die politische Sturm- und Drangperiode Badens I, Mannheim 1905, 9. 10 Zitiert nach Schnabel, Geschichte II, 231. 11 Damit ist gemeint, daß hauptsächlich Baumwollindustrie und Eisenindustrie zu wenig Schutzzoll erhielten. 12 Universallexikon vom Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1843, 31. 13 Reg, Bl. 1819, 11 ff. 14 Schnabel, Geschichte II, 232. 15 Hof- und Staatshandbuch des Großherzogtums Baden, Karlsruhe 1834, 91 ff. 16 Für die Zeit von 1819—1831 gibt A. Reinhart (vgl. Anm. 27), 85, genaue Tabellen über die berufliche Zugehörigkeit der Abgeordneten. Ihre Zusammenfassungen sind jedoch nur mit Vorbehalt zu benutzen, da sie Bürgermeister und Stadträte als Beamte zahlt — während sie hauptberuflich doch meist Gewerbetreibende waren —, Pfarrer hingegen als Nicht-Beamte. Rechnet man die Zahlen um, so kommt man auch für diese Zeit auf reichlich die Hälfte Beamte in der Kammer. Bemerkenswert ist, daß auch der berühmte liberale Landtag von 1831 34 Beamte, 13 Bürgermeister und nur 12 Handelsleute und Fabrikanten, 3 Gastwirte und 1 Apotheker zählt. 17 Müller, Badische Landtagsgeschichte I. 18 Charakteristisch dafür sind vor allem die Werke von Müller, Badische Landtagsgeschichte, 4 Bde, Berlin 1900—1902, und: Die politische Sturm- und Drangperiode Badens 1840—1850. 2 Bde, Karlsruhe 1905/06. 18a Vgl. W. Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz. In: W. Conze, Hg., Staat, 255. 19 Ähnlich urteilt auch Schnabel, wenn er in seiner Deutschen Geschichte II, 87, davon spricht, daß die konstitutionelle und nationale Bewegung Süddeutschlands in Gefahr gewesen sei, über „dem Stolz auf den konstitutionellen Musterstaat" die weiteren Ziele zu vergessen. 20 F. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 19546, 149. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 97—101

Reg. Bl. 1818, 57 f. Näheres s. Fischer, Staat. 23 GLA 237/111 12. 24 GLA 313/1012. 25 Zwar sind die Akten aller Behörden im GLA zentral gesammelt, aber anfänglich nicht nach der Provenienz, sondern nach einer alphabetischen Systematik geordnet, dabei in Generalia und Specialia gesondert. Die Generalia befinden sich meist bei den Akten der Ministerien, die Specialia bei den einzelnen Gemeinden. Die Akten der Kreisregierungen und Ämter sind fast völlig aufgeteilt. Das erleichtert zwar die Bearbeitung einzelner Sachfragen und die ortsgeschichtliche Forschung, erschwert aber Untersuchungen über Aufbau und Tätigkeit der Verwaltung. Zur Organisation der mittleren Behörden s. L. Seiterich, Kreisdirektorium und Kreisregierung im ehemaligen Großherzogtum Baden und die historische Entwicklung ihrer Zuständigkeiten, rechts- und staatswiss. Diss. Freiburg 1928. 26 Sie sind bei den Landtagsakten im GLA gesammelt. 27 Vgl. A. Reinhart, Volk und Abgeordnetenkammer in Baden z. Z. des Frühliberalismus (1818—1831), Diss. Göttingen 1956 (Masch.-Schr.). 28 A. Christ, Das badische Gemeindegesetz, Karlsruhe 1843, 18453. Der badischen Gemeindeordnung haben sich auffällig viele, vorwiegend juristische Dissertationen angenommen, z. B.: H. Trautwein, Das Zweikörpersystem in der badischen Gemeindeordnung, Diss. Heidelberg 1931; F. Dürr, Die geschichtliche Entwicklung der Gemeindevertretung in Baden, Diss. Heidelberg 1933; A. Welck, Entwicklung und Arten der Gemeindeangehörigkeit in Baden, Diss. Freiburg 1935; A. W. Blase, Die Einführung der konstitutionell-kommunalen Selbstverwaltung im Großherzogtum Baden. Diss. Freiburg 1938; E. Haas, Die Selbstverwaltung der badischen Gemeinde im 19. Jahrhundert, Diss. Freiburg 1947; K. A. Germann, Einflüsse der Juli-Revolution auf die Gesetzgebung Badens im Jahre 1831, Diss. Freiburg 1949; A. Müller, Französische und preußische Einflüsse auf die erste badische Gemeindeordnung von 1831, Diss. Erlangen 1951. 29 Fröhlich, Die Badischen Gemeindegesetze, Heidelberg 1854, 134; R. Goldmann, Die rechtlichen Grundlagen der badischen Gewerbegesetzgebung im 19. Jahrhundert, Diss. Freiburg 1955, 10 u. 42. 30 F. Rettig, Grundzüge einer Gewerbeordnung mit besonderer Rücksicht auf die Verhältnisse im Großherzogtum Baden, Neue Jahrbücher f. Geschichte und Politik 1842, 2, 52—71. 31 Verhandl. d. Ständevers., 2. Kammer, 1843/44/45, 13. Beilg. H., 368—370. 32 Näheres s. im 1. Kapitel meines Buches: Staat. 33 Rettig, Über die Rechtsverhältnisse des Adels im Großherzogtum Baden, in: Neue Jb. f. Gesch. u. Politik, 1840, 2 Bde., 97—146. 34 F. Rettig, Die Polizeigesetzgebung des Großherzogtums Baden, Karlsruhe 1825, 18282, 18393, 18534. 35 Landrecht für das Großherzogtum Baden nebst Handelsgesetzen. Amtliche Ausgabe, Karlsruhe 1846, S. V. 36 S. Federer, Beiträge zur Geschichte des Badischen Landrechts, Diss. Freiburg 1947, bes. 54. 37 VIII. Gefälle, § 35: Reg. Bl. 1819, Nr. XIV, Beilage, wieder abgedruckt in: (von Vogel) Das staatsrechtliche Verhältnis der Standes- und Grundherren und die Leheroverfassung im Großherzogtum-Baden, dargestellt in einer Sammlung der hierüber erschienenen Gesetze und Verordnungen in chronologischer Folge, Karlsruhe 1843, 67. 38 Wie R. Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, München 1948, 79, ausführt. 39 Z. B. der damalige Domänenrat und spätere Finanzminister F. A. Regenauer, 21

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Anmerkungen zu S. 101—109

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Über die Verwaltung der landesherrlichen Zehnten im Großherzogtum Baden und über die Verwandlung dieser Zehnten in ständige Renten, Karlsruhe 1829. 40 A. Kopp, Zehentwesen und Zehentablösung in Baden, Freiburg 1899. 41 Reg. Bl. 1848, 107 ff. 42 L. Seiterich, Kreisdirektorium und Kreisregierung in Baden, 508. 43 Reg. Bl. 1830, 13 ff. 44 Anonym (F. J . Mone), Die katholischen Zustände in Baden. Mit urkundlichen Beilagen, Regensburg 1841. 2. Teil 1843; C. F. Nebenius, Die katholischen Zustände in Baden. Mit steter Rücksicht auf die im Jahre 1841 zu Regensburg erschienene Schrift unter gleichem Titel. Karlsruhe 1842. 45 R. Germanus, Über die Leistungen und Mittel zur Hebung der deutschen Volksschule. Mit Rücksicht auf die Volksschule im Großherzogtum Baden, 4 Hefte, Karlsruhe 1844—46, 18472; R. Germanus, Andeutungen zu einer Reform des Volksschulwesens, zunächst mit Beziehung auf das Großherzogtum Baden, Freiburg 1845; Anon., Das höhere und niedere Studienwesen im Großherzogtum Baden, dargestellt in einer Sammlung der . . . erschienenen Gesetze und Verordnungen, Konstanz 1846; E. Zandt, Beiträge zur Einrichtung des Schulwesens mit Bezug auf die badische Schulfrage, Karlsruhe 1848; Anon., Entwurf einer allgemeinen Organisation des Bildungs- und Unterrichtswesens im Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1848; E. Otto, Die Neugestaltung der Volksschule mit besonderer Rücksicht auf das Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1848; Anon., Grundrisse zu einer Reform des Volksschulwesens mit Rücksicht auf die Volksschule im Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1848; L. Wemmer, Der Kampf der katholischen Kirche um die Schule in Baden, Diss. Berlin 1942; H. Mecking, Das Schulpatronat in Baden in seiner geschichtlichen Entwicklung, Diss. Freiburg 1951. 46 M. Trefzer, Die Gewerbeschulen im Großherzogtum Baden, Offenburg 1833 und Reg. Bl. 1834, 217 ff. 47 Fischer, Staat. 48 Badischer Merkur 1831, 34 f. 49 Müller, Die politische Sturm- und Drangperiode Badens I, 126. 50 Dazu u. zum folgenden s. H. Locher, Die wirtschaftliche und soziale Lage in Baden am Vorabend der Revolution von 1848, Diss. Freiburg 1950; Angermann, Mathy; Fischer, Staat. 51 M. Hecht, Der Geburtenrhythmus in Baden in den letzten 100 Jahren, Archiv für Bevölkerungswissenschaft, Volkskunde und Bevölkerungspolitik 1935, 342 ff. 52 J . Griesmeier, Die Entwicklung der Bevölkerung und Wirtschaft von Baden und Württemberg im 19. und 20. Jahrhundert, Jahrbuch für Statistik und Landeskunde von Baden und Württemberg I. 1954/55, 132. 53 Vgl. Fischer, Ansätze, 210 ff. Wieder abgedruckt in diesem Band. 54 Amtliche Beiträge zur Statistik der Staatsfinanzen des Großherzogtums Baden, Karlsruhe 1851, 37 ff. 55 S. dazu im einzelnen meine Beredinungen im 5. Kapitel von: Staat. 56 Seit dem Erscheinen dieses Beitrags (1962) sind eine Reihe von Untersuchungen veröffentlicht worden, die für dieses Thema beachtet werden müssen. Einen Überblick über die Probleme der politischen Geschichte Badens im Vormärz gibt L. Gall im I. Kapitel seines Buches: Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968. Er hebt die Widersprüche zwischen Verfassungsanspruch und bürokratischer Regierungspraxis hervor und weist auf den wachsenden Gegensatz zwischen doktrinärem, utopischem Liberalismus in der Kammer und pragmatischem „Geheimratliberalismus" der in der Regierungsverantwortlichkeit stehenden Beamten (Nebenius, Winter etc.) hin. Auch betont er, daß der badische Liberalismus des Vormärz auf die bürgerlichen Honoratioren beschränkt blieb, so daß „die noch in den Fesseln der alten Agrarverfassung lebende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 109

bäuerliche Bevölkerung" von der Beteiligung am politischen Leben weiterhin ausgeschlossen war. In seiner Kölner Antrittsvorlesung behandelt L. Gall „Das Problem der Parlamentarischen Opposition im deutschen Frühliberalismus" wesentlich am Beispiel Badens (in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Fs. T. Schieder, München 1968, 153—170). „Die partei- und sozialgeschichtliche Problematik des badischen Kulturkampfes" untersucht der gleiche Autor in ZGO 113. 1965. Zur badischen Verfassungsgeschichte des Vormärz, siehe auch die einschlägigen Kapitel in E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1 u. 2, Stuttgart 1957 und 1960. Mehrere neuere Studien gelten einzelnen Persönlichkeiten der badischen Geschichte des Vormärz und ihrer Politik. Gestalt und Wirken des führenden Kopfes der „Reaktionären" schildert in einer kurzen, soliden Abhandlung Wolfgang von Hippel, Friedrich Landolin Karl von Blittersdorf 1792—1861. Ein Beitrag zur badischen Landtags- und Bundespolitik im Vormärz, Stuttgart 1967. Kurze, aber eindringliche Porträts der Führer des badischen Liberalismus zeichnen H. Ehmke, Karl von Rottek, der „politische Professor", Karlsruhe 1964, und H. Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers K. T. Welcker, Freiburg 1968. Eine umfangreiche, wohldokumentierte Biographie schrieb A. Kaltenbach, Ludwig Haeusser. Historien et Patriote (1818—1867). Contribution à l'éude de l'histoire politique et culturelle franco-allemande au X I X e siècle, Paris 1965. Zu Häusser vgl. auch den Gedenkvortrag von L. Gall, Ludwig Häusser als Historiker und Politiker des kleindeutschen Liberalismus, in: Ruperto-Carola 41. 1967. Vernachlässigt ist dagegen noch immer die Sozialgeschichte und der Zusammenhang von sozialer Bewegung und politischer Verfassung. Wichtig ist hier die gründliche Studie von R. Rürup, Die Judenemanzipation in Baden, ZGO 114. 1966, 241—300. In den allgemeinen Rahmen der deutschen Geschichte stellt R. Rürup das gleiche Problem in seinem Aufsatz „Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland", (in: Fs. M. Göhring, Wiesbaden 1968, 174—199). Die innenpolitische Situation Badens unmittelbar vor der Revolution untersucht M. Scholtissek, Die innere Verwaltung Badens unter Minister Bekk in der vormärzlichen Zeit, phil. Diss. München 1959 (Mschschr.). Zur Geschichte der staatlichen Gewerbepolitik und der frühen Industrialisierung in Baden s. Fischer, Staat I (mehr bisher nicht erschienen). Zur Frage, ob diese Politik eine bewußte „Planung" darstellte s. ders., Planerische Gesichtspunkte bei der Industrialisierung in Baden, (in: Raumordnung im 19. Jahrhundert 1, Hannover 1965, 117—126). Hier wieder abgedruckt. Zentral für das Problem der Modernisierung der Sozialverfassung waren auch in Baden im Vormärz die Agrarfragen. Dazu s. A. Kohler, Die Bauernbefreiung und Grundentlastung in Baden, phil. Diss. Freiburg 1958 (Mschschr.), und G. K. Schmelzeisen, K. v. Rottek und die Zehntfrage, Zeitschrift für Αgrargeschiente und Agrarsozio­ logie 16. 1968, 55—71. Eine Quellenedition zur Bauernbefreiung in Baden wird von H. Rabe (Heidelberg) vorbereitet. Die Bibliographie zur badischen Geschichte von Lautenschlager/Schulz führt leider bisher nur bis zum Jahre 1959. Zu Rate zu ziehen sind besonders die Bde. 3—5, 1961 — 1966. Der Deutsche Zollverein 1 Der vorliegende Artikel enthält die Zusammenfassung eines Vortrags, der im Winter 1952/53 in einem Seminar über Internationale Ökonomische Institutionen gehalten wurde, das unter Leitung von Professor James E. Meade an der London School of Economics stattfand. Deutsche Übersetzung von Henner Papendieck. 2 H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. IV, Berlin 1897, 379. 3 S. die ausgewählte Bibliographie am Schluß des Artikels.

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Anmerkungen zu S. 110—131

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W. M. Frh. v. Bissing, Der Deutsche Zollverein und die monetären Probleme, Schmollers Jahrbuch 79 (1959), 71—86. 5 W. O. Henderson, The Zollverein, Cambridge 1939, 2. Auflage London 1959. 6 H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848—1881. Köln/Berlin 1966, 15. Die detaillierteste Quellensammlung ist noch immer: W. v. Eisenhart Rothe und A. Ritthaler, Die Vorgeschichte und Begründung des Deutschen Zollvereins, 1815—1834, hrsg. von H. Oncken und F. E. Saemisch, 3 Bde., Berlin 1934. Die Verträge selbst finden sich in den jährlichen Gesetzbüchern der betreffenden Staaten; das beste ist die „Gesetzessammlung für die preußischen Staaten". Umfangreiche Aktenbestände enthalten die Archive der Mitgliedstaaten. Ich habe insbesondere die des Finanzministeriums des Großherzogtums Baden im Generallandesarchiv Karlsruhe benutzt. Die beste umfassende Geschichte des Zollvereins gibt W. O. Henderson, The Zollverein, Cambridge 1939, 2. Auflage London 1959. Zur Problematik von Zoll-Unionen im allgemeinen s. J . Viner, The Customs Union Issue, London 1950. J . E. Meade, Problems of Economic Union, London 1953. J . E. Meade, The Theory of Customs Union, Amsterdam 1955. Jüngere Erörterungen spezieller Fragen finden sich in: W. O. Henderson, A Nineteenth Century Approach to a West European Market, Kyklos, X (1957), 448—459. A. Hauser, Die Schweiz und der Zollverein, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 94 (1958), 482—494. W. M. Frh. v. Bissing, Der deutsche Zollverein und die monetären Probleme, Schmollers Jahrbuch, 79 (1959), 71—86. Seit Abfassung dieses Aufsatzes sind mehrere neuere Werke zur Vorgeschichte des Deutschen Reiches erschienen. In unserem Zusammenhang am wichtigsten ist H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848—1881, Köln/Berlin 1966. 4

Der Deutsche Zollverein, die EWG und die Freihandelszone 1 Als Exponenten der beiden Richtungen mögen im deutschen Sprachgebiet E. Salin und W. Röpke gelten. Vgl. etwa Salin, Friedrich List. Kerneuropa und die Freihandelszone, Tübingen 1960; und Röpke, Gemeinsamer Markt und Freihandelszone. 28 Thesen als Richtpunkte, Ordo 10, 1958, 31—62. 2 Vgl. F. Facius, Wirtschaft und Staat. Die Entwickiung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, Boppard 1959, 44 ff. 3 Vgl. meinen Aufsatz: Zollverein, 70 ff. Deutsche Übersetzung wieder abgedruckt in diesem Band. 4 S. die beiden theoretischen Standardwerke zur Zollunionsfrage: J . Viner, The Customs Union Issue, London 1950; J . E. Meade, The Theory of Customs Union, Amsterdam 1955. 5 W. v. Eisenhart Rothe u. A. Ritthaler, Vorgeschichte und Begründung des Deutschen Zollvereins 1815—1834, Berlin 1934, III, 525—541. 6 H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Leipzig 1903, III, 653 f., 672 ff. 7 Vgl. Η. Ρ. Olshausen, Friedrich List und der deutsche Handels- und Gewerbever­ ein, Jena 1935. 8 Henderson, Zollverein, 84 ff. 9 Ρ. Benaerts, Les Origines de la grande Industrie allemande, Paris 1933; Hender­ son, Zollverein; A. H. Price, The Evolution of the Zollverein, Ann Arbor 1949. 10 Henderson, Zollverein, 95.

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Anmerkungen zu S. 131—140

11 Das war besonders bei den Verträgen der Fall, die Preußen mit seinen Enklaven schloß. Vgl. Henderson, Zollverein, 45 f. 12 Der Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bund, Bayern, Württemberg, Baden und Hessen über die Fortführung des Zoll- und Handelsvereins vom 8. Juli 1867 ist abgedruckt in der Gesetzessammlung f. d. preuß. Staat 1867, 1164. Ebenso bei G. A. Grotefend, Die Gesetze und Verordnungen f. d. preuß. Staat u. d. Deutsche Reich, II, Düsseldorf 1884, 655 ff. 13 Die Literatur dazu s. Henderson, Zollverein, 86. 14 W. Paues, Skandinavische Überlegungen zur Kleinen Freihandelszone, EuropaArchiv 1—2/1960, S. 37. 15 Vgl. dazu C. A. Bosshardt, Langfristige Auswirkungen der europäischen Integration auf die Schweizer Volkswirtschaft, Schweizer Zeitschr. f. Volkswirtschaft u. Statistik 96. 1960, 267 f. 16 Die gemeinsame Verwaltung war im Zollverein jedoch nur teilweise eingeführt. Die größeren Staaten behielten ihre eigene Verwaltung bei. 17 Einen Hinweis darauf gibt etwa die Tatsache, daß als Zollvereinsmünze aus der Vielzahl der vorhandenen nur der preußische Taler unverändert anerkannt wurde, dem als zweite offizielle Rechnungseinheit ein süddeutscher Gulden gegenübergestellt wurde, der sich jedoch von dem in Bayern, Württemberg oder Baden schon bestehenden Gulden unterschied. Dem widerspricht allerdings die Tatsache, daß die verschiedenen Verbrauchssteuern der Zollvereinsländer meistens beibehalten und lediglich durch eine Ausgleichsabgabe harmonisiert wurden. 18 S. Barcza, Bibliographie der mitteleuropäischen Zollunionsfrage, Budapest 1917; O. Wagner, Mitteleuropäische Gedanken und Bestrebungen in den vierziger Jahren 1840—48, Diss. Marburg 1935.

Das wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungsbild der preußischen Bergrechtsreform 1851—1865 1 Probevortrag im Rahmen meines Habilitationsverfahrens an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg 1960. 2 Die Gesetze sind abgedruckt in der Gesetzessammlung für den preußischen Staat 1851, 265 ff.; 1854, 139 ff.; 1860, 201 ff.; 1861, 425 ff.; Die Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen in dem preußischen Staate (ZBHS) druckte sie zusammen mit den Durchführungsverordnungen des preußischen Handelsministers wieder ab in 1. 1854, 24 ff.; 2. 1855, 117 ff.; 8. 1860, 217 ff.; 9. 1861, 222 ff.; die ZfB brachte die beiden letzten Gesetze mit Auszügen aus den Debatten des Abgeordneten- und Herrenhauses und mit ihren Motiven in 1. 1860, 1ff.und 2. 1861, 285 ff. 3 Außer den verschiedenen Ausgaben und Kommentaren des ABG s. z. B. R. MüllerErzbach, Das Bergrecht Preußens und des weiteren Deutschlands, 2 Bde., Stuttgart 1916—17; W. Schlüter, Preußisches Bergrecht. Der Aufbau und die Aufgaben der preußischen Bergbehörden unter besonderer Berücksichtigung des Ruhrbergbaus mit einem Überblick über die Geschichte des Bergrechts, Essen 1958; Westhoff-Schlüter, Geschichte des deutschen Bergrechts, ZfB 50. 1909, 27 ff. 4 Als Beispiele seien genannt: H. J . Koch, Die Bergarbeiterbewegung im Ruhrgebiet zur Zeit Wilhelms IL (1889—1914), Düsseldorf 1954, bes. 11 ff. und H. G. Kirchhoff, Die staatliche Sozialpolitik im Ruhrbergbau 1871—1914, Köln 1958, bes. 9 ff. 5 E. Gothein, Bergbau und Hüttenwesen, in: Grundriß und Sozialökonomik, Abt. IV, Tübingen 19232, 334 f. 6 NDB 1. 1953, 32. 7 ZfB 4. 1863, 328. 8 Nach der Übersetzung H. v. Achenbachs, ZfB 2. 1861, 238.

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Anmerkungen zu S. 140—156

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9 Die Auffassung Brassens wirkte sich in der Rechtsprechung auch dadurch aus, daß Brassen in seinem Kommentar zum Berggesetz von 1888, der lange als der maßgebliche galt, den Begriff des Bergwerkseigentums durchweg im Sinne der von ihm intendierten Bergbauberechtigung interpretierte. 10 Freiherr v. Hingenau, ZfB 4. 1863, 429 f. 11 ZfB 1. 1860, 383. 12 Besonders heftig trug diese Meinung O. Hué in seiner Geschichte der Bergarbeiterverhältnisse 2, 1913, unter dem programmatischen Titel „Die Proletarisierung der Bergarbeiter" vor. Neuerdings sind einige Quellenzeugnisse dafür zusammengestellt bei G. Adelmann, Quellensammlung zur Geschichte der sozialen Betriebsverfassung, Ruhrindustrie I, Bonn 1960. 13 ZfB 4. 1863, 432 ff. 14 Vgl. W. Vogel, Bismarcks Arbeitsversicherung. Ihre Entstehung im Kräftespiel der Zeit, Braunschweig 1951, 21. 15 Vgl. A. Loerbroks, Nachruf auf Brassen in ZfB 42. 1901, wieder abgedr. ZfB 100. 1959, 15, die Kurzbiographie Brassens durch W. Pieper in NDB 2. 1955, 537, und G. Boldt, Das Recht des Bergmanns, Tübingen 19603, 9 f.

Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform von 1851—1865 in der Wirtschaftsund Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts 1 Öffentliche Antrittsvorlesung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gehalten am 16. 5. 1961. 2 Zu dem Geltungsbereich der Bergordnungen s. Bergordnungen der Preußischen Lande, Sammlung der in Preußen gültigen Bergordnungen, Hg. H. Brassen, Köln 1858, bes. XXX ff. Zu den verschiedenen Grundsätzen staatlicher Einflußnahme s. d. Kommissionsbericht d. preuß. Abgeordnetenhauses zur Gesetzesvorlage vom 21. 5. 1860, abgedr. in ZfB 1. 1860, 370 f. 3 Daß die „Standesehre" noch nicht zu einem reinen sozialen Prestige geworden war, sondern einen sehr realen Hintergrund hatte, folgt z. Β. daraus, daß Knappschaftsangehörige bei Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte aus der Knappschaft ausgeschlossen werden mußten. (Vgl. d. Erlaß des Oberbergamts Dortmund vom 16. 10. 1853, ZBHS 1. 1854, 221.) 4 Einen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Allgemeinen Berggesetzes gibt H. Brassen, Die Bergrechtsreform in Preußen, ZfB 3. 1862, 234—53. 5 H. D. Krampe, Der Staatseinfluß auf den Ruhrkohlenbergbau in der Zeit von 1800 bis 1865, Köln 1961, 21. 6 Siehe dazu vor allem H. Spethmann, Franz Haniel, bes. 159 ff., 197 ff. 7 Die Bemerkungen Napoleons zu den Gesetzentwürfen hat H. Achenbach, Das französische Bergrecht und die Fortbildung desselben durch das preußische Allgemeine Berggesetz, Bonn 1869, 88 ff., zusammengestellt. 8 E. Gothein, 334 f. 9 Siehe dazu vor allem M. Schulze-Briesen, Der preußische Staatsbergbau im Wandel der Zeiten, 2 Bde, Berlin 1933/34. 10 v. Hingenau, 432 ff. 11 Motive, 64, vgl. H. Brassen, Allgemeines Berggesetz für die Preußischen Staaten vom 24. 6. 1865. Mit Einführungsgesetz und Kommentar, Bonn 1888, 235. Zu der lebhaften Diskussion um den rechtlichen Charakter der Arbeitsordnung — Disziplinarordnung oder privatrechtlicher Vertrag — vgl. d. Aufsatz Brassens, ZfB 2. 1861, 104—115, der sich für den privatrechtlichen Charakter aussprach. Erschwert wurde diese Debatte dadurch, daß der Begriff der Arbeitsordnung in der bisherigen

32 Fischer, Wirtschaft

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Anmerkungen zu S. 157—165

deutschen Berg- und Gewerbegesetzgebung nicht vorkam. Bahnbrechend war hier in der Tat das österreichische Berggesetz von 1854. 12 Berechnet nach den Angaben von A. Serlo, Die Beschwerden gegen die neue Organisation der Knappschaftsvereine im Distrikt des Königlichen Oberbergamtes zu Dortmund, Essen 1859, 20 ff. 13 S. z. Β. ZfB 4. 1863, 131 ff. 14 A. Serlo, 3. Die Bedeutung der preußischen Bergrechtsreform für den industriellen Aushau des Ruhrgebietes 1 Erweiterte Fassung eines Vortrages, der am 5. Mai 1961 vor Kuratorium und Mitarbeitern der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund und am 6. Juli 1961 vor der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte in Dortmund gehalten wurde. 2 T. C. Banfield, Industry of the Rhine, 2. Series, London 1848; L. Schücking, Eine Eisenbahnfahrt durch Westfalen, Leipzig 1855; J . M. Schwager, Bemerkungen auf einer Reise durch Westphalen, bis an und über den Rhein. Leipzig 1804; J . Gruner, Meine Wallfahrt zur Ruhe und Hoffnung oder Schilderung des sittlichen und bürgerlichen Zustandes Westfalens am Ende des 18. Jahrhunderts, Frankfurt 1805. 3 S. die schöne Sammlung von R. Fritz, Das Ruhrgebiet vor hundert Jahren. Gesicht einer Landschaft, Dortmund o. J . (ca. 1957). 4 Ebda, 29 u. 33. 5 Diese und die folgenden Zahlen sind berechnet nach: Die Entwicklung des Niederrheinisch-Westfälischen Steinkohlenbergbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. Verein f. d. bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund, Berlin 1904, 22, 24, 42. 6 Rostow, Stages, dt. Stadien. 7 Für England Deane u. Cole, The Course of British Economic Growth, London 1961. Für die USA: North, Growth. Für Frankreich und Deutschland ist auf die Arbeiten von I. Marczewski u. W. G. Hoffmann zu verweisen. 8 Deane u. Habakkuk, Take-Off. 9 Vgl. N. J . G. Pounds, The Ruhr. Α Study in Historical and Economic Geogra­ phy, London 1953, u. N. J. G. Pounds u. W. N. Parker, Coal and Steel in Western Europe. The Influence of Resources and Techniques of Production, London 1957, bes. 218 ff. 10 L. Beck, Die Geschichte des Eisens. IV, Braunschweig 1899, 990; P. Benaerts, Les origines de la grande Industrie allemande, Paris 1933, 457. 11 Auf diese Kombination weist besonders hin: D. S. Landes, Technological Change and Economic Development in Western Europe 1750—1945, Cambridge 1970, dt. Köln 1972. 12 Bergordnungen der Preußischen Lande. Sammlung der in Preußen gültigen Bergordnungen, Hg. H. Brassert, Köln 1858, 857. 13 A. Haßlacher, Der Steinkohlenbergbau des preußischen Staates in der Umgebung von Saarbrücken, II. Teil. Geschichtliche Entwicklung des Steinkohlenbergbaus im Saargebiet, Berlin 1904, 14 ff. 14 H. Fechner, Geschichte des schlesischen Berg- und Hüttenwesens in der Zeit Friedrichs des Großen, Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III. 1741—1806, ZBHS 48—50. 1900—1902, bes. 48, 279—401. 15 S. dazu H. v. Achenbach, Geschichte der Cleve-Märkischen Berggesetzgebung und Bergverwaltung bis zum Jahre 1815, Berlin 1869, u. M. Reuß, Mitteilungen aus der Geschichte des Königlichen Oberbergamtes zu Dortmund und des Niederrheinisch-Westfälischen Bergbaues, Berlin 1892.

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Anmerkungen zu S. 165—174

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Krampe, 21. G. Felsch, Die Wirtschaftspolitik des preußischen Staates bei der Gründung der oberschlesischen Kohlen- und Eisenindustrie (1741—1871), Berlin 1919, 12 u. 18. 18 Ebda, 11. 19 H. Fechner, Geschichte, 526. 20 Krampe, 55. 21 Der Gefahr einer Idyllisierung des Verhältnisses von Staat und Unternehmerschaft im Vormärz ist auch Krampe mit seiner verdienstvollen Arbeit nicht ganz entgangen. Vgl. die Darlegungen der Gegensätze bei Spethmann, Haniel. 22 H. Spethmann, Die erste Mergelzeche im Ruhrgebiet, Essen 1947 (hektographiert), 56. 23 Krampe, 46. 24 H. Spethmann, Der Tiefbau der Zeche Schölerpad im Kampf gegen das Direktionsprinzip, Bergfreiheit 1952, Heft 6; ders., Haniel, 159 ff. 25 Krampe, 44. So hatte die Zeche Heinrich im Gebiet des Bergamts Essen noch von 1826 bis 1832 zu kämpfen, ehe sie die Tiefbauerlaubnis bekam. 26 Brassert, Berggesetz. 27 Eine eingehende Untersuchung über die Vorgeschichte der Reform existiert bisher noch nicht. Die beste Darstellung stammt noch von Brassert, Bergrechtsreform. Zu den übrigen Themen siehe meine Aufsätze: Das wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungsbild der preußischen Bergrechtsreform 1851—1865, ZfB 102. 1961, 181—189, u. Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform (1851—1865) in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts, ZfGS 117. 1961, 521 ff. Beide wieder abgedruckt in diesem Band. 28 S. dazu vor allem meinen eben genannten Aufsatz in der ZfB. 29 Allerdings ist im Königreich Sachsen der Kohlenbergbau dem Bergregal bis 1868 nicht, seitdem nur teilweise unterworfen. Schomburg, Das bergbauliche Genossenschaftswesen und dessen Reform, ZfB 3. 1861, 217 ff.; Brassert, Der Königlich-sächsische Berggesetz-Entwurf, ZfB 4. 1863, 154 ff. In Frankreich mußte auf Grund des Ministerialerlasses vom 3. August 1810 der Betriebsplan bei der Konzession vorgelegt werden — eine Bestimmung, die im napoleonischen Gesetz selbst keine Stütze findet, ja, dem Geist des Gesetzes widerspricht. S. dazu H. Achenbach, Das französische Bergrecht und die Fortbildung desselben durch das preuß. Alle. Berggesetz, Bonn 1869, 244 u. 310. 30 Letzteres eine Formulierung des Oberbergamtes Dortmund aus dem Jahre 1846, Krampe, 143. 31 Ebda, 120 u. 131. 32 Am stärksten O. Hue, Die Bergarbeiter. Historische Darstellung der Bergarbeiter-Verhältnisse von der ältesten bis in die neuste Zeit, 2 Bde, Stuttgart 1910/13, ferner Koch, Bergarbeiterbewegung, bes. 11 ff., u. Kirchhoff, bes. 9 ff. 33 Vgl. die Motive zur Regierungsvorlage des Freizügigkeitsgesetzes, ZfB 1. 1860, 365. 34 Auszüge aus den Debatten in ZfB 1. 1860, 422 ff. 35 Boldt, Recht, 12. 36 Vgl. dazu meine beiden obengenannten Aufsätze, bes. ZfB 102. 1961, 183 f. 37 Krampe, 132 f. 38 Vgl. dazu die Arbeiten von W. Brepohl, bes.: Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung, Dortmund 1948; ferner E. Franke, Das Ruhrgebiet und Ostpreußen. Geschichte, Umfang und Bedeutung der Ostpreußen-Einwanderung in das Ruhrgebiet, unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Gelsenkirchen, Rechts- u. Staatswiss. Diss. Marburg 1934, u. W. Köllmann, Grundzüge der Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Studium Generale 12. 1959, bes. 385—388. 16 17

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Anmerkungen zu S. 174—182

Krampe, 60 ff. Ebda, 66. 41 Spethmann, Haniel, 127 ff.; Krampe, 74 ff. 42 Spethmann, 173—192. 43 A. Loerbroks in seinem Nachruf auf Brassert in ZfB 42. 1901, wieder abgedruckt, ZfB 100. 1959, 10 f. 44 Das beste Exempel dafür liefert die mehrfach erwähnte Haniel-Biographie Spethmanns. 45 S. dazu meinen Aufsatz: Die Stellung der preußischen Β ergrechtsreform in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts, ZfGS 117. 1961, 521 ff. (auch in diesem Band). 46 Das Kapitel seiner Geschichte der Bergarbeiter, das die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts behandelt, trägt bezeichnenderweise die Überschrift: Die Proletarisierung der Bergarbeiter. 47 Aus der reichhaltigen und vielschichtigen Literatur über das Verbands- und Kartellwesen sei hier nur auf die (wesentlich auf Schweizer Verhältnisse bezogene) Schrift von E. Gruner, Die Wirtschaftsverbände in der Demokratie, Zürich 1956, hingewiesen. 39 40

Konjunkturen und Krisen im Ruhrgebiet seit 1840 und die wirtschaftspolitische Willensbildung der Unternehmer * Vortrag anläßlich des Tages der Westfälischen Geschichte 1966 in Hattingen/ Ruhr. Für den Druck wurde die Vortragsform im wesentlichen belassen und nur durch Anmerkungen und Nachweise ergänzt. Bei der Durchsicht des Manuskriptes und der Überprüfung der Nachweise unterstützten mich Dr. R. Hildebrandt und Dr. P. Czada. 1 Allgemein dazu: A. Spiethoff, Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Aufschwung, Krise, Stockung. 2 Bde., Tübingen 1955. — Zu den Zusammenhängen von Konjunktur, Unternehmerverhalten und politischen Entscheidungen eindringlich: Rosenberg, Depression. 2 ZBHS 40 ff., 1892 ff. Vgl. auch Fischer, Herz des Reviers, Essen 1965, 9, 68—69; vgl. G. Gebhardt, Ruhrbergbau. Geschichte, Aufbau u. Verflechtung seiner Gesellschaften u. Organisationen, Essen 1957, 492—493, u. F. Schunder, Tradition u. Fortschritt. 100 Jahre Gemeinschaftsarbeit im Ruhrbergbau, Stuttgart 1959, Graphik nach 208. 3 H. Marchand, Säkularstatistik der deutschen Eisenindustrie, Essen 1939, Tab. 2, 70 u. Tab. 34—38, 114—123. Ferner Hoffmann, Wachstum, Tab. 66, 338—342. 4 Fischer, Herz, Tab. 9, 68 u. 209 ff.; Schunder, 211 f.; Gebhardt, 26. Vgl. auch W. Däbritz, Denkschrift zum 50jährigen Bestehen der Essener Credit-Anstalt in Essen, Essen 1922, 73 u. 80. 5 Die Zahlen nach den entsprechenden Jahrgängen (1870—1890) der ZBHS. 6 Fischer, Herz, Tab. 16, 111. 7 Berechnet nach Marchand, Tab. 35—38, 116—122. 8 Fischer, Herz, Tab. 19, 176 f. 9 Die Zahlen nach den entsprechenden Jahrgängen (1870—1897) der ZBHS. 10 Zur Auswertung solcher Berichte für die Wirtschaftsgeschichte vgl. Fischer, Herz, bes. 193—213. 11 Ebda, bes. 231—240. 12 Diesen Zug in der Mentalität des rheinisch-westfälischen Unternehmers hat F. Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834—1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, Köln 1962, vernachlässigt. Er betont in seinem Kapitel über „Die Entfesselung des neuen Wirtschaftsgeistes 1850—1875" (46 bis 65) einseitig den euphorischen Charakter einiger Gründernaturen. Der überwiegende Teil der Ruhrunternehmer zählte jedoch nicht zu diesem Typ, sondern blieb bei allem Unternehmertum bedächtig, vorsichtig und gab sich pessimistisch. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Anmerkungen zu S. 183—195

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13 Vgl. damit die für die ganze deutsche Wirtschaft etwas abweichenden Daten bei Spiethoff, 2, Tab. 1. 14 Aus der umfangreichen Literatur zur Konjunkturlehre und Konjunkturgeschichte sei hier nur das Standardwerk von J . A. Schumpeter, Konjunkturzyklen, 2 Bde., Göttingen 1961, genannt. Eine echte Verbindung von ökonomischer Konjunktur- und allgemeinhistorischer Forschung ist nur selten versucht worden. Wichtig H. Rosenberg, Die Weltwirtschaftskrisis von 1857—1859, Stuttgart 1934, u. ders., Depression. Dort auch weitere Literatur. 15 Zum Problem gleichgerichteten Unternehmerverhaltens vgl. G. Katona, Psychological Analysis of Economic Behavior, New York 1951. 16 Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer Durchsicht der Jahresberichte der Kammern Essen und Mülheim. Ausführlicher dazu die Kapitel „Konjunkturen u. Krisen in der Berichterstattung der Handelskammern" und „Die Stellungnahmen der Handelskammern zur Kartell- u. Konzernbildung" in meinem Buch: Herz, 193—230. 17 Ebda, 262 ff. 18 E. Schröder, Krupp. Geschichte einer Unternehmerfamilie, Göttingen 1957, 73 ff. u. Fischer, Herz, 266. 19 Zu den Stellungnahmen der Ruhrkammern vgl. Fischer, Herz, 231 ff. u. 263 sowie P. H. Mertes, 100 Jahre Industrie- und Handelskammer zu Dortmund. Umrisse der Geschichte einer Ruhrkammer 1863—1963, Dortmund o. J . (1963), 58. Allgemein zu diesem Fragenkomplex K. W. Hardach, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879, Berlin 1967. 20 Fischer, Herz, 272 ff. 21 Ebda, 250. 22 Vgl. dazu Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft, Berlin 1967. 25 Vgl. dazu E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte, Dortmund 1964. 24 Fischer, Herz, 314. 25 Ebda, 328.

Staatsverwaltung und Interessenverbände im Deutschen Reich 1871—1914 1 Vgl. G. Schulz, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung, PVS 2. 1961, 124—154. Die Genesis der agrarischen Verbände schildert Schulz zutreffend, bei den industriellen sind ihm die frühesten nicht bekannt. Zur Korrektur vgl. H. E. Krueger, Historische und kritische Untersuchungen über die freien Interessenvertretungen von Industrie, Handel und Gewerbe in Deutschland, Sch. Jb. 32. 1908, 1581—1614, bes. 1594 f., u. Fischer, Staat, I, 177 bis 179. In Lexica und Handbüchern wird die Entstehung von Interessenverbänden meist viel zu spät, etwa um die Jahrhundertwende, angesetzt. S. z. Β. den Abschnitt „Geschichtliches" im Artikel „Wirtschaftsverbände" im Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 8, Spalte 851 f. 2 Vgl. K. v. Eyll, Die Geschichte einer Handelskammer, dargestellt am Beispiel der Handelskammer Essen, 1840—1900, Köln 1964; W. Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- und Staatsverfassung des 19. Jahrhunderts, Berlin 1964. 3 Fischer, Unternehmerschaft, bes. 63 ff. u. 96 ff. Vgl. auch die umfangreiche Selbstdarstellung des Deutschen Handelstages: Der deutsche Handelstag 1861—1911, 2 Bde, Berlin 1911.

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Anmerkungen zu S. 195—201

4 Das Zitat ist aus den Statuten des Kongresses entnommen; Hervorhebung von mir. Vgl. J . Croner, Die Geschichte der agrarischen Bewegung in Deutschland, Berlin 1909, 25. 5 Ebda, 28. 6 Vgl. Κ. E. Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Ein Beitrag zur Geschichte der innenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches 1890—1914, Wies­ baden 1954, 216 ff.; H. J . Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland, Tübingen 1961, 465 ff. 7 So z. B. A. Albrecht, Verbände, Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 8, Spalte 2, oder Th. Nipperdey, Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg, PVS 2. 1961, 263. 8 Zur Organisation und Mitgliedschaft des BdL vgl. H. Horn, Der Kampf um den Bau des Mittellandkanals. Eine politologische Untersuchung über die Rolle eines wirtschaftlichen Interessenverbandes im Preußen Wilhelms IL, Köln 1964, 8—18. 9 H. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft. Centralverband Deutscher Industrieller 1895—1914, Berlin 1967, 3-—50, u. H. J . Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893—1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1966, 37—50. 10 Am bekanntesten ist die Rolle H. A. Buecks, der mehrere Jahre lang zugleich Geschäftsführer des Langnamvereins, der Nordwestlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller und des Centralverbandes Deutscher Industrieller war, oder die Rolle v. Kardorffs durch seine Doppelmitgliedschaft in industriellen und agrarischen Verbänden. Aber auch auf lokaler und bezirklicher Ebene gibt es diese Ämterhäufung. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, der Geschäftsführer der Südwestfälischen Handelskammer zu Hagen, Max Gerstein, über 50 Verbände und Kartelle von Kleineisenindustriellen ins Leben gerufen und jahrelang selbst geleitet. (Vgl. L. Beutin, Geschichte der südwestfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen und ihrer Wirtschaftslandschaft, Hagen 1956, 118 ff.). I0a Seit dem ersten Erscheinen dieses Beitrages 1967 sind mehrere umfangreiche Arbeiten zu diesem Thema erschienen. Erwähnt seien nur die drei wichtigsten: H. U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1969, 19723; D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897—1918, Köln 1970 (in beiden Werken finden sich ausführliche Bibliographien). M. Stürmer, Hg., Das Kaiserliche Deutschland. Politik u. Gesellschaft 1870—1918, Düsseldorf 1970 (darin besonders H. J . Puhle, Parlament, Parteien u. Interessenverbände 1890—1914). 11 W. Hennis: Verfassungsordnung und Verbandseinfluß, PVS 2. 1961, 25. 12 Ursprünglicher Erscheinungsort: „Landwirtschaftliche Tierzucht" vom 21. 12. 1892. Auszugsweise zitiert bei Croner, 131 f.; O. v. Kiesewetter, 25 Jahre wirtschaftspolitischen Kampfes, Berlin 1918, 22; Horn, Kampf, 10; Puhle, Interessenpolitik, 33. 13 Croner, 185. 14 Ebda. 15 Horn, Kampf, 20; Puhle, Interessenpolitik, 165—184. 15a Der Bericht der Wahlfondskommission des CVDI von 1912 ist abgedruckt bei Kaelble, 214—222. 16 Horn, 69 ff. 17 H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Die deutsche Handelspolitik 1848 bis 1881, Köln 1966, 412, 570 ff.; H. Walther, Τ. Α. v. Möller 1840—1925. Lebensbild eines westfälischen Industriellen, Neustadt a. d. Aisch 1958, 113 ff.; Puhle, Interessenpolitik, 208 f., 237, 263 ff.

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Anmerkungen zu S. 202—205

503

C. L. A. Pretzel, Geschichte des deutschen Lehrervereins, Leipzig 1921, bes. 364. Th. Eschenburg, Herrschaft der Verbände? Stuttgart 1955, 12. 19 Illustrationen zur Stellung des Landrates in Preußen geben die Lebenserinnerungen von H. M. Freiherr von Braun, Weg durch vier Zeitepochen; vom ostpreußischen Gutsleben der Väter bis zur Weltraumforschung des Sohnes, Limburg a. d. Lahn 19653, A. Wermuth, Ein Beamtenleben. Erinnerungen, Berlin 1922; C. Graf Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, 1908—1914, 1. Bd, Berlin 1935, 4; T. Freiherr von Wilmowsky, Rückblickend mochte ich sagen. An der Schwelle des 150jährigen Kruppjubiläums, Oldenburg 19612. 19a Vgl. z. B. die „naive" Schilderung Wermuths über den Beginn seiner Beamtenkarriere 1882: „Der Staatssekretär des Innern von Boetticher, als früherer Landdrost von Hannover mit der Vergangenheit meiner Familie bekannt, war mich in das Reichsamt des Innern zu berufen geneigt." Wermuth, 34. 20 Zu der Einseitigkeit der Auslese und „Gesinnungsschnüffelei" im preußischen Staatsdienst s. E. Kehr, Das soziale System der Reaktion in Preußen unter dem Ministerium Puttkammer, in: E. Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Hg. H.-U. Wehler, Berlin 19702, 64—86. Zur sozialen Zusammensetzung der obersten Reichsbehörden vgl. R. Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck, Münster 1957, 242 ff.; für die Personalpolitik unter Caprivi und Hohenlohe J . Röhl, Deutschland ohne Bismarck, Tübingen 1969; für die Zeit unter Bülow und Bethmann eine Diss. von P. Duggan (Harvard), deren vorläufige Ergebnisse hier referiert sind. Vgl. auch Böhme, Weg, 582 ff. 21 Die meisten Geschichten von Industrie- und Handelskammern, auch meine eigene des Kammerbezirks Essen-Mühlheim (Herz des Reviers, Essen 1965), vernachlässigen diesen Aspekt der Kammertätigkeit. Eine Schwierigkeit besteht darin, den „Verbandseinfluß" von dem einzelner prominenter Bürger zu unterscheiden, da diese oft die Verbände repräsentieren. 22 Böhme, Weg, 202 f. 23 Zu dem ganzen Komplex vgl. W. Boelcke, Hg., Krupp und die Hohenzollern. Aus der Korrespondenz der Familie Krupp 1850—1916, Berlin 1956, Frankfurt 19702. 24 Zahlreiche Lebensläufe dieser Art bei Böhme, Weg, bes. Exkurs I, 313 ff. Beispiele wiederholten Übergangs sind außer Politikern wie Miquel und später Helfferich Beamte wie der Geh. Finanzrat Scheck, der vom preußischen Finanzministerium 1869 in die Disconto-Gesellschaft überwechselte, 1873 jedoch als Chef des Reichseisenbahnamtes wieder in den Staatsdienst zurückkehrte. Ein hübsches Beispiel, wie ein solcher Übergang vom Staatsdiener in die Wirtschaft und zurück in den Staatsdienst sich in den übersichtlicheren Verhältnissen eines deutschen Mittelstaates abspielte, sind die Lebenserinnerungen des württembergischen Staatsrates, Landwehrmajors und Bankdirektors L. Hegelmaier, Beamter und Soldat 1884—1936, Stuttgart 1937, bes. 118 ff. 25 Fischer, Staat I, 292. 26 Vgl. Böhme, Weg, 204 f. (für Bleichröder); C. Lamar, Albert Ballin. Business and Politics in Imperial Germany 1888—1918, Princeton 1967, dt. Hamburg 1969; G. v. Klass, Hugo Stinnes, Tübingen 1958. 27 Böhme, Weg, 388. 28 Walther, Möller, 90 ff., Zitat 98. 29 Ebda, 106 f. 30 Zitiert ebda, 66. 31 Vgl. Horn, Kampf, 51. 32 Daß diese in der Tat verheerend gewesen sind, geht sowohl aus H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, wie aus Böhme, Weg, mit großer Deutlichkeit hervor. 17a 18

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Anmerkungen zu S. 206—217

33 Die Stenogr. Berichte der Enquete sind in 4 Bdn. 1892/93 veröffentlicht worden. Der „Bericht der Börsen-Enquête-Kommission" an die Reichsregierung erschien 1893 im Druck. Zur Kritik vgl. F. J . Pfleger u. L. Gschwindt, Börsenreform in Deutschland. Eine Darstellung der Ergebnisse der deutschen Börsenenquête, 2 Bde, Stuttgart 1896/97, bes. I, 11 ff.; G. Cohn (Mitglied der Kommission, Prof. der Staatswiss. in Göttingen), Beiträge zur deutschen Börsenreform, Leipzig 1895, bes. 33 ff.; O. Stillich, Die Börse und ihre Geschäfte, Berlin 19092, 270 ff. 34 Pfleger/Gschwindt, I, 16. 35 Albrecht, Verbände, 2 ff. 36 Böhme, Weg, 392. 37 Horn, Kampf, 21. 38 Koch, Bergarbeiterbewegung; Kirchhoff, Sozialpolitik. 39 Vgl. Fischer, Herz, 244 ff. 40 Th. Nipperdey, Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, PVS 2. 1961, 272. 41 E. Lederer, Das ökonomische Element und die politische Idee im modernen Parteiwesen, ZfP 5. 1912, 541 ff. 42 Vgl. Conze, Hg., Staat; R. Kosellek, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967. 43 Walther, 76 f. 44 Böhme, Weg, 458 ff., 510 ff. 45 Über diesen Zusammenhang von Wirtschaftskrise, gesellschaftlichem und politischem Wandel s. Rosenberg, Depression. 46 Vgl. W. Herrmann, Bündnisse und Zerwürfnisse zwischen Landwirtschaft und Industrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Dortmund 1965. 47 Vgl. R. H. Bowen, German Theories of the Corporative State with Special Reference to the Period 1870—1919, New York 1947. 48 Vgl. W. M. Freiherr v. Bissing, Autoritärer Staat und pluralistische Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten des Bismarck'schen Reiches, Sch. Jb. 83. 1963, 17—45.

III. Die soziale Problematik der Industrialisierung Arbeitermemoiren als Quellen für Geschiebte und Volkskunde der industriellen Gesellschaft 1 W. Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform, dargestellt am Ruhrgebiet, Tübingen 1957, 29 ff. 2 W. Brepohl, Komplementäre Disziplinen. Bemerkungen über das Verhältnis von Soziologie und Volkskunde, Deutsche Universitätszeitung 9. 1954, Heft 14, 15 ff. 3 Zu diesem Problem der historischen „Übersetzung" vgl. Fischer, Handwerksrecht, 12. 4 Vgl. Stadelmann/Fischer, Bildungswelt, bes. 19 ff. 5 Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Hg. P. Göhre, 2 Bde, Leipzig 1903/04 (K. Fischer); Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Hg. P. Göhre, Jena 1905 (M. W. T. Bromme); W. Holek, Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Hg. P. Göhre, Jena 1909; F. Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters. Hg. P. Göhre, Tena 1911. 6 Ρ. Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Leipzig 1891. 7 F. L. Fischer, Arbeiterschicksale, Berlin 1906. 8 Aus der Gedankenwelt einer Arbeiterfrau. Von ihr selbst erzählt. Hg. C. Moszeik. Pfarrer, Berlin 1909.

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Anmerkungen zu S. 217—221

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9 A. Popp, Jugendgeschichte einer Arbeiterin, München 19273. A. Popp, Aus meinen Kindheits- und Mädchenjahren. Aus der Agitation und anderes, Berlin 19233. 10 D. Viersbeck, Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens, München 1910. 11 Arbeiter-Philosophen und -Dichter. Hg. A. Levenstein, Berlin 1909; Aus der Tiefe. Arbeiterbriefe. Beiträge zur Seelen-Analyse moderner Arbeiter. Hg. Adolf Levenstein, Berlin 1909; Proletariers Jugendjahre, Hg. A. Levenstein, Berlin o. J . ; G. Meyer, Lebenstragödie eines Tagelöhners. Mit Vorwort von A. Levenstein, Berlin 1909. 12 G. Werner, Ein Kumpel. Erzählung aus dem Leben der Bergarbeiter, Berlin 1929; L. Turek, Ein Prolet erzählt, Berlin 1930, 19472. 13 Aus einer Fabrikstadt. Schicksale und Erfahrungen eines Fabrikarbeiters. Von ihm selbst niedergeschrieben und herausgegeben von T. Leberecht, Zwickau 1853. 14 Die Universitätsbibliothek Tübingen beherbergt z. Β. zahlreiche solcher Schriften aus dem Bereich des schwäbischen Pietismus, die sozialgeschichtlich noch nie untersucht wurden. Im Gräflich-Stolbergschen Archiv ruhten bis mindestens vor dem 2. Weltkrieg ungedruckte Aufzeichnungen aus dem Kreis um den Grafen Stolberg. Aus dem Bereich der bergischen Erweckungsbewegung sei hingewiesen auf: F. Krummacher, Eine Selbstbiographie, Berlin 1869; J . W. Fischer, Nachrichten aus meinem Leben, Hg. W. v. Eynern, Zeitschr. d. Berg. Geschichtsvereins 58. 1929, und E. v. Eynern, Erinnerungen aus seinem Leben (mitgeteilt von seinem Sohne M. v. Eynern), Familiendruck o. O. o. J . (Freundlicher Hinweis von W. Köllmann.). Die älteste mir bekannte Selbstbiographie dieser Art findet sich in G. Arnolds Unparteyischer Kyrchen- und Ketzerhistorie von 1699, 424, wo der Salzwirker P. Moritz aus Halle über sein Leben berichtet. 15 Κ. Ρ. Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Hg. Hans Henning, Leipzig 1910; J. H. Jung-Stilling, Sämtliche Schriften I, Stuttgart 1835. 16 Z. B. H. R. G. Günther, Jung-Stillung. Ein Beitrag zur Psychologie des deutschen Pietismus, 19482. 17 Bei Stadelmann/Fischer, Bildungswelt. 18 Ein ausgezeichnetes Beispiel einer solchen Arbeit ist das Buch von R. Vierhaus, Ranke und die soziale Welt, Münster 1957. 19 Allein aus der Urfassung des „Grünen Heinrich" hat Stadelmann, Bildungswelt, 154 ff. eine Biographie des Drechslermeisters Rudolf Keller und seines Kreises fortschtittsfreudiger Schweizer Handwerker erarbeitet. 20 Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Hg. P. Göhre, 2 Bde, Leipzig 1903/04; K. F. Klöden, Jugenderinnerungen. Hg. M. Jähns, Leipzig 1874. 21 Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Hg. P. Göhre, Jena 1905; E. May, Mein Lebenslauf (1889—1920), in: E. Rosenstock, Werkstattaussiedlung. Untersuchungen über den Lebensraum des Industriearbeiters. Sozialpsychologische Forschungen, Hg. W. Hellpach, 2 Bde, Berlin 1922. 22 A. Bebel, Aus meinem Leben, 3 Bde, Stuttgart 1910 ff.; P. Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, 2 Bde, Dresden 1928 ff.; C. Severing, Mein Lebensweg, 2 Bde, Köln 1950 ff.; W. Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, 2 Bde, Stuttgart 1947 ff.; P. Löbe, Der Weg war lang. Lebenserinnerungen, Berlin 19542; K. Schirmer, 50 Jahre Arbeiter, Duisburg 1924. 23 W. Brepohl, Industrievolk, 122 ff.; ders., Vom Werden der industriellen Daseinsform, in: Beiträge zur Soziologie der industriellen Gesellschaft. Hg. W. G. Hoffmann, 15 ff. 24 S. Born, Erinnerungen eines Achtundvierzigers, Leipzig 1898; P. Ernst, Jugenderinnerungen, München 1930; A. Winnig, Frührot. Ein Buch von Heimat und Jugend, Stuttgart 1929; ders., Der weite Weg, Hamburg 1932; ders., Aus zwanzig Jahren, Hamburg 19492; A. Springer, Der Andere das bist Du. Lebensgeschichte eines reichen armen Mannes, Tübingen 1954. 25 Vgl. die Besprechung dieses Buches durch H. J . Teuteberg, Soziale Weit 9. 1958, 367.

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Anmerkungen zu S. 222—225

26 Als Beispiel für viele seien erwähnt: P. E. Schramm, Hamburg, Deutschland u. die Welt, München 1943, Hamburg 19522; R. Wittram, Drei Generationen. Deutschland-Livland, Rußland 1830 bis 1914, Göttingen o. J . (1949); H. Mitgau, Gemeinsames Leben. 1770—1780 in Braunschweigischen Familienpapieren, Wolfenbüttel 1948; ders., Gemeinsames Leben. Der Familienpapiere älterer Teil. 1500—1770, Göttingen 1955. 27 Für die Sozialgeschichte des deutschen Handwerks habe ich das unlängst versucht in: Quellen zur Geschichte des Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit, Göttingen 1957. Mehr als vierzig Lebenserinnerungen aus dem deutschen Sprachgebiet konnten dabei verwendet werden. Eine systematische Suche müßte trotz der großen Kriegsverluste einen noch größeren Ertrag bringen. Für die Arbeiterschaft eine solche Quellensammlung zusammenzustellen, bleibt ein Desiderat, auch nachdem G. Eckert Auszüge (Aus den Lebensberichten deutscher Fabrikarbeiter) für den Schulgebrauch veröffentlicht hat (Braunschweig 1953), da darin fast nur die von Göhre herausgebrachten Lebenserinnerungen berücksichtigt sind.

Soziale Spannungen in den Frühstadien der Industrialisierung 1 Dieser Aufsatz ist die revidierte Fassung eines Referats, das vor der „Group for Training and Research in Comparative Development" in Berkeley im Jahre 1962 gehalten wurde. Er reflektiert Vorüberlegungen zur Bildung von Auswahlkriterien für eine Aufsatzsammlung zur Sozialen Frage, die inzwischen erschienen ist. (W. Fischer und G. Bajor, Hg., Die Soziale Frage. Neuere Studien zur Lage der Fabrikarbeiter in den Frühphasen der Industrialisierung, K. F. Koehler-Verlag, Stuttgart 1967.) Für Kommentare bin ich den Mitgliedern der Gruppe, insbesondere David S. Landes, Harvard, und Hans Rosenberg, Berkeley, dankbar. Die deutsche Fassung, übersetzt von Henner Papendieck, ist an einigen Stellen verändert und, wie ich hoffe, verbessert worden. Sie versucht jedoch nicht, den vorläufigen Charakter der Überlegungen zu verwischen. 2 Die beste Bibliographie ist immer noch: Paul Mombert, „Aus der Literatur über die soziale Frage und über die Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jhs." in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 9. 1921. Als Quellensammlung: Ernst Schraepler, Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland, Göttingen 1955, Bd. 1, 19602; Bd. 2. 1957, (vgl. ebenfalls die Quellensammlung von C. Jantke und D. Hilger, zitiert in Fußnote 23). Unter den Autoren zur „Sozialen Frage" finden sich führende deutsche Ökonomen und Soziologen des späten 19. Jahrhunderts, so Schmoller, Wagner, Tönnies und Oppenheimer. 3 Ludwig Stein, La question sociale au point de vue philosophique, Paris 1900. J . Biederlack, S. J . , La question sociale, Louvain 1910. Theobald Ziegler, La question sociale est une question morale, Paris 1911. 4 William Oswald Shanahan, German Protestants Face the Social Question, Notre Dame, Indiana 1954. 5 Das bedeutendste ist Louis Blanc: L'Organisation du Travail, Paris 1839. Die klassischen Arbeiten der frühen Sozialisten wie St. Simon, Cabet, Buchez, Proudhon, Fourier usf. brauchen hier nicht aufgeführt zu werden. Eine gute Einführung gibt: Maxime Leroy, Histoire des idées sociales en France, 3 Bde., Paris 1954. 6 Der erste, der diesen Begriff des französischen Sozialismus in Deutschland einführte, war Lorenz von Stein in seinem berühmten Buch: Socialismus und Communi--- im heutigen Frankreich, zuerst erschienen 1842. Er findet sich auch in vielen anderen Interpretationen des europäischen Sozialismus und sozialer Reformbewegungen, z. B. in Ferdinand Tönnies, Die Entwicklung der sozialen Frage bis zum Weltkriege, Berlin 1914, 74—99. 7 Siehe z. B. Edmond Willey, La question des salaires ou la question sociale, Paris

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Anmerkungen zu S. 225—226

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1887; Georges Goyau, Le Pape, les catholiques et la question sociale, Paris 1895; Louis Wuarin, Une vue d'ensemble de la question sociale, Paris 1896; Vazeille, La question sociale est une question de méthode, Paris 1897; Alberth Mathiez, La question sociale pendant la revolution Française, Paris 1905; P. Stanislaus Reynaud, La question sociale de la civilisation Paienne, Paris 1906; L. Gregoire, Le Pape, les catholiques et la question sociale, Paris 1907; Gaston Richard, La morale et la question sociale. Conferences 1909—1910, Paris 1910; Gaston Richard, La question sociale et mouvement philosophique au XIXe siècle, Paris 1911; R. J . Renard, L'église et la question sociale, Paris 1937. 8 Siehe z. B. Gustavo Tiring, L'altruismo et la questione sociale, Livorno 1891; César Santomá, La químíca come solución al problema social, Valencia 1918; Gumerzindo Ascárate, Resumen de un detabe sobre el problema social, Madrid 1881; Jose Martinez Santonja, El problema social, Madrid 1927. Ebenso wie ins Französische sind Biederlacks Bücher auch ins Spanische übersetzt worden: Biederlack, La cuestión social, Burgos 1908; Ziegler, La cuestión social es una cuestión moral, Barcelona 1904. 9 Die Marxisten beziehen sich auf die „Soziale Frage" im allgemeinen in Anführungszeichen oder setzen ein pejoratives „sogenannt" vor den Begriff. Wie weit verbreitet der Gebrauch dieses Begriffes im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts war, wird daraus ersichtlich, daß Ludwig Stein das gesamte System und die historische Entwicklung der Sozialphilosophie unter dem Titel „Die Soziale Frage" subsumierte. Ludwig Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Vorlesungen über Sozialphilosophie und ihre Geschichte, Stuttgart 19032. 10 Siehe z.B.: J . A. Hobson, The Social Problem: Life and Work, London 1902, 1 und John Graham Brooks, The Social Unrest. Studies in Labor and Socialist Movements, New York 1903, 107. 11 Zwei bekannte Sozialwissenschaftler, die diese Ansicht vertreten, sind: Elton Mayo, The Social Problems of an Industrial Society, Boston 1945, 11 f.; und Cora Du Bois, Social Forces in Southeast Asia, Cambridge/Mass. 19592, 22. 12 Dies gilt natürlich nicht für alle Lehrbücher im gleichen Maße. Ein ins Auge fallendes Beispiel: Mabel A. Elliot und Francis Ε. Merrill, Social Disorganisation, New York 1934, 19503. Das erwachende historische Bewußtsein zeichnet sich ab in Büchern wie: Martin Henry Neumeyer, Social Problems in a Changing Society, New York 1952; Jessie Shirley Bernard, Social Problems at Mid-Century; Role, Status, and Stress in a Context of Abundance, New York 1957; Harry Charles Bredemeyer, Social Problems in America, Costs and Casualities in an Acquisitive Society, New York 1960. Eine Ausnahme bildete schon immer die Behandlung der Neger-, Indianer- und Minoritätenfragen, die von ernsthaften Sozialwissenschaftlern stets in ihrem historischen Kontext diskutiert worden sind, zu Beginn der 1960er Jahre, als dieser Aufsatz entstand, aber allgemein außerhalb des Problems einer sich industrialisierenden Gesellschaft als Sonderproblem behandelt wurden. Erst im Laufe der 60er Jahre sind sie so in den Mittelpunkt der sozialkritischen Diskussion Amerikas gerückt, daß man heute (1972) davon sprechen kann, daß sie „Die soziale Frage" Nordamerikas ausmachen. Aus der kaum übersehbaren Literatur erwähne ich nur das höchst lesenswerte Buch von N. Glazer und D. P. Moynihan, Beyond the Melting Pot. The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians and Irish of New York City. Cambridge, Mass. 1963 2. Aufl. (mit neuer Einleitung) 1970. 13 Dies wurde in den USA vornehmlich von Sozialanthropologen erkannt wie: Cora Du Bois, Social Forces in Southeast Asia, Cambridge/Mass. 19592; Margaret Mead. Hg., Cultural Patterns and Technical Change, Paris 1954; Richard Ν. Adams u. a., Social Change in Latin America Today. Its Implication for United Staates Policy, New York 1960. Bezeichnenderweise haben vor allem diejenigen amerikanischen So­ zialwissenschaftler, die sich mit nichtwestlichen Gesellschaften befaßten, den sozio© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 226—227

kulturellen Zusammenhang der sozialen Spannungen betont. Heute ist er Allgemeingut der vergleichenden Modernisierungsforschung. Vgl. statt vieler B. F. Hoselitz, Wirtschaftliches Wachstum und Sozialer Wandel, Berlin 1969, u. D. Lerner, The Passing of Traditional Society, Modernization in the Middle East. (With the collaboration of Lucille W. Persner. and an Introduction by David Riesman), Glencoe/Ill. 1958. 14 Frühe Beispiele für die Theorie, daß dem Staat, insbesondere dem Monarchen, in sozialen Angelegenheiten eine Schiedsfunktion zustehe, da er über und nicht innerhalb der Gesellschaft stehe, geben Robert von Mohl und Lorenz von Stein. Beide Denker vergleicht: Erich Angermann, Zwei Typen des Ausgleichs gesellschaftlicher Interessen durch die Staatsgewalt. Ein Vergleich der Lehren Lorenz Steins und Robert Mohls, in: Werner Conze, Hg., Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848, Stuttgart 1962, (19702), 173—205. Ein ausgeklügeltes System von Körperschaftsorganisationen wurde von Karl Georg Winkelblech vorgeschlagen, der in der 1848er Revolution als Berater der deutschen Handwerker-Bewegung tätig war. Siehe: Karl Mario (Karl Georg Winkelblech), Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie, 1850. 18842. 15 Bis zu einem gewissen Grade gilt das auch für Thomas Carlyle, der den kontinentaleuropäischen Autoren am ähnlichsten ist. Eine Auswahl seiner sozialkritischen Schriften ist: The Socialism and Unsocialism of Thomas Carlyle. A Collection of Carlyle's Social Writings, 2 Bde., New York 1890—91. Die frühe amerikanische Version wird wohl am besten v. Thomas Jefferson repräsentiert. Siehe: The Papers of Thomas Jefferson, hrsg. v. Julian Boyd u. a., Princeton/Ν. J . Die spätere Kombination liberalen Fortschrittsoptimismus und konservativer Fortschritts-Kritik findet sich in: Josiah Strong, Our Country. Its Possible Future and its Present Crisis, New York 1885. 16 Mit als erste erkannten dies industrielle Unternehmer wie der Westfale Friedrich Harkort. Siehe seine: Bemerkungen über Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Classen, Elberfeld 1844. Neudruck Frankfurt/Main 1919, hrsg. v. Julius Ziehen; teilweise wiederabgedruckt in E. Schraepler, Quellen zur Geschichte der Sozialen Frage, Bd. 1, 51—53. 17 Für Deutschland siehe z. B.: Wolfgang Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963; und Frolinde Baiser, Sozial-Demokratie 1848/49—1863. Die erste deutsche Arbeiterorganisation „Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung" nach der Revolution, Stuttgart 1962. Zu der Schweiz vgl. jetzt das umfassende Werk von E. Gruner, Die Arbeiter in der Schweiz, Bern 1968. Für Frankreich immer noch grundlegend: E. Levasseur, Histoire des Classes Ouvrières et de l'Industrie en France de 1789—1870, 3. Bde.; für diesen Zeitabschnitt Bd. I und II, Paris 1904; kurze, instruktive Übersichten der Arbeiterbewegung in den USA und Großbritannien bietet H. Pelling, American Labor. Chicago 1960; ds.: A History of British Trade Unionism. London/New York 1963; ds.: Short History of the Labour Party. London/New York 1968s. Für England erwähne ich aus der zahlreichen Literatur nur: Ε. P. Thompson, The Making of the English Working Class. London 1963, S. G. Checkland, The Rise of Industrial Society in England, 1815—1885. London 1964, und J . Hobsbawm, Labouring Men: Studies in the History of Labour. London 1964. Für die frühen Jahre der englischen Arbeiterbewegung siehe: G. D. H. Cole, Attempts at general union; a study in British trade union history, 1818—1834, London 1953, und den ersten Band seiner History of Socialist Thought: The Forerunners 1789—1850, London 1953; Arthur Aspinall, The early English trade unions; documents from the Home Office Papers of the Public Record Office, London 1949; Robert F. Wearmouth, Methodism and the workingclass movements of England 1800—1850, London 1937. Für die frühen Jahre in den USA: Walter Hugins, Jacksonian Democracy and the Working Class. A Study of the New York Workingmen's Movement 1829—1837, Stanford 1960. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Anmerkungen zu S. 228—235

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18 Für Deutschland siehe: W. O. Shanahan, German Protestants Face the Social Question, Notre Dame, Ind. 1954. Für Großbritannien: Christianity and Industrial Problems. Being the Report of the Archbishop's Fifth Comittee of Inquiry, London 1919. Für Frankreich: Collard, Le Mouvement social dans le Protestantisme Français, Diss. Dijon 1909. Für die USA: Henry May, Protestant Churches and Industrial America, New York 1949. 19 May, Churches, 29. 20 May, Churches, 6. 21 Für Deutschland siehe: Emil Ritter, Die katholisch-soziale Bewegung in Deutschland im 19. Jahrhundert und der Volksverein, Köln 1954. Für die Schweiz: Gregor Beuret, Die katholisch-soziale Bewegung in der Schweiz 1848—1919, Winterthur 1959. Für Frankreich: Jean-Baptiste Duroselle, Les Débuts du Catholicisme Social en France (1822—1870), Paris 1951; und Georges Hoog, Histoire du Catholicisme Social en France (1871 — 1931), Paris. Für die Enzyklika siehe: John Wynne, S, J . , The Great Encyclical Letters of Leo XIII., New York 1902; Two Basic Social Encyclicals, Washington/D. C. 1943. Für die lateinischen und anderen Ausgaben siehe: Μ. Claudia Carlen (comp.), Α Guide to the Encyclicals of the Roman Pontiffs from Leo ΧΙII to the Present Day (1878—1937), New York 1939, 68 f., 198 f.; Etienne Gilson, The Church Speaks to the Modern World. The Social Teachings of Leo XIII., New York, 1954; Anne Fremantle, Hg., The Papal Encyclicals in their Historical Context, New York 1956, 166—195, 228—235. Für die Zeit davor: L. Grégoire, Le Pape, les Catholiqucs et la Question Sociale, Paris 1907. 22 Ein interessantes Anzeichen für die andauernde Sorge der Kirche um soziale Probleme in den sich entwickelnden Regionen ist die brasilianische Ausgabe von Pater C. Van Gestels Introduction à l'Enseignement Social de l'Eglise et la Doctrine Sociale de l'Eglise, unter dem Titel: A Igrejo ea Questao Social, Rio de Janeiro 1956. 23 Als Klassiker gilt: Arnold Toynbee, Lectures on the Industrial Revolution, London 1884, Kap. 9: The Growth of Pauperism, Beacon-Paperback 1956, 67—78. Der jüngste deutsche Beitrag ist: Carl Jantke und Dietrich Hilger, Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg/München 1965. Jantke betont die Einzigartigkeit des Pauperismus-Phänomens in den frühen Stadien der Industrialisierung und legt Wert auf die Unterscheidung zu früheren Perioden (vgl. ebd. 7 f.). 24 Zur Einführung dieses Begriffs vom Französischen ins Deutsche siehe W. Conze, Vom „Pöbel" zum „Proletariat". Sozialgeschitchliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland in: VSWG, 41, 1954. Bemerkenswert die gemeinsame Unterscheidung zwischen „ouvrier", „Arbeiter" als Mitglied der unteren Klassen und dem „Proletair" bzw. dem „proletariat" als „classe dangereuse". Siehe: Louis Chévalier, Classes laboreuses et classes dangereuses à Paris pendant la première moitié du XIXe siècle, Paris 1958; und W. Fischer, Der Staat und die Anfänge der Industrialisierung in Baden, Bd. I, Berlin 1962, 335. 25 F. Hitze, Die Arbeiterfrage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung. Nebst Anlage: Die Arbeiterfrage im Lichte der Statistik, Mönchengladbach 1902, 3. 26 Encyclica Quadragesimo Anno n. 82. Eine kompetente Interpretation gibt: Oswald von Nell-Breuning, S. J . , Die soziale Enzyklika. Erläuterungen zum Weltrundschreiben Papst Pius XL über die gesellschaftliche Ordnung, Köln 1932. 27 W. Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848, Stuttgart 1962, 248. 28 Siehe z. Β. Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Per­ spective, Cambridge/Mass. 1962. 29 Ich verkenne nicht, daß auch in Japan der europäische Einfluß mit der Landung der ersten Portugiesen noch vor der Mitte des 16. Jahrhunderts einsetzt. Aber er blieb doch beschränkt, zumal die meisten Europäer noch vor der Mitte des 17. Jahrhunderts

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Anmerkungen zu S. 236—244

wieder des Landes verwiesen oder — wie die Holländer — in ihrer Bewegungsfreiheit und ihrem Einfluß beschränkt wurden. Wenn es auch falsch wäre, den Beginn der Europäisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts anzusetzen — immerhin war das Studium europäischer Bücher, besonders holländischer medizinischer und naturwissenschaftlicher Werke, schon seit 1720 wieder erlaubt — so liegen doch Europäisierung und Industrialisierung in Japan zeitlich und kausal näher aneinander als in irgendeinem anderen nichtwestlichen Land, 30 Vgl. David Landes, Japan and Europe: Contrasts in Industrialization, in: W. W. Lockwood, Hg., The State and Economic Enterprise in Japan, Princeton/N. J . 1965, 93—182. Deutsch in: W. Fischer, Hg., Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung. Berlin 1968. 31 Cora Du Bois, Social Forces in Southeast Asia, Cambridge/Mass. 19592; Richard Ν. Adams u. a., Social Change in Latin America today. Its Implications for the United States Policy, New York 1960; Rudolf Stucken, Hg., Untersuchungen einzelner Ent­ wicklungsländer. Peru, Tunesien, Ägypten und Syrien, Berlin 1960. 32 Illustrative Beispiele geben: Richard F. Behrendt, The Uprooted: A Guatemala Sketch, in: The New Mexico Quarterly, 19, 1949, 25—31; Morris Siegel, Resistance to Cultural Change in Western Guatemala, in: Sociology and Social Research, 25, 1941; Emilio Willems, Some Aspects of Cultural Conflicts and Acculturation in Southern Rural Brazil, in: Rural Sociology, 7, 1942. Alle drei Artikel sind wiederabgedruckt in: Readings in Latin American Social Organizations and Institutions, hrsg. von Olen E. Leonard und Charles P. Loomis, Michigan State College Press, 1953. 33 Siehe u. a. Oscar Handlin, The Newcomers: Negroes and Puerto Ricans in a Changing Metropolis, Cambridge/Mass. 1959. 34 Dies wird ersichtlich aus vielen autobiographischen Berichten, z. B. Kwame Nkrumah, Ghana: The Autobiography of Kwame Nkrumah, New York 1957. 35 Beispiele sind zu finden in der UNESCO-Veröffentlichung: Industrialization and Urbanization in Africa South of the Sahara, hrsg. von Daryl Ford, Paris 1956. 36 Ein interessantes Anzeichen dafür ist der Mangel an „Sozialistischem Bewußtsein" und „Sozialistischem Arbeitsethos", der eines der größten Probleme der kommunistischen Regierungen darstellt. In unserer Terminologie indiziert er, daß die „Demoralisierung" als Folge der Zerstörung des bestehenden „Arbeitsethos" bislang nicht überwunden werden konnte. 37 Reinhard Bendix, Work and Authority in Industry. Ideologies of Management in the Course of Industrialization, New York 1956. Sidney Pollard, The Genesis of Modern Management. A Study of the Industrial Revolution in Great Britain, London 1965. Soziale Unterschichten im Zeitalter der Frühindustrialisierung 1 Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der am 1.11.1962 auf einer deutschfranzösischen Historikerkonferenz in Paris gehalten wurde. 2 Für die „negative Wertung der Armut" und das „Lob der Kinderarbeit" im 16. bis 18. Jh. gibt es zahllose zeitgenössische Beispiele. Sie sind z. T. angeführt bei W. Sombart, Die Arbeitsverhältnisse im Zeitalter des Frühkapitalismus, ASS 44. 1917/18; K. Hinze, Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in BrandenburgPreußen 1685—1806, Berlin 19632, aber auch in Schriften wie W. Traphagen, Die ersten Arbeitshäuser und ihre pädagogische Funktion, Berlin 1935. Zeugnisse aus den dreißiger und vierziger Jahren d. 19. Jhs. sind angeführt bei Fischer, Staat, 344 f. 3 E. Maschke, Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des späten Mittelalters, vornehmlich in Oberdeutschland, VSWG 46. 1959, 289 ff., 433 ff.; ders. in I. Sydow, Hg., Gesellschaftliche Unterschichten in südwestdeutschen Städten, Stuttgart 1967.

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Anmerkungen zu S. 244—250

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4 H. Mauersberg, Wirtschafts- und Sozialgeschichte zentraleuropäischer Städte in neuerer Zeit. Dargestellt an den Beispielen von Basel, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover und München, Göttingen 1960, 133. 5 Ebda, 132. 6 Ebda, 138. 7 Ebda, 143 ff. 8 W. Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert, Tübingen 1960, 94. 9 W. Conze, Pöbel 41, 340 nach H. Hitzemann, Die Auswanderung aus dem Fürstentum Lippe, Phil. Dissertation Münster 1953 (Maschschr.), 29. 10 E. W. Buchholz, Ländliche Bevölkerung an der Schwelle des Industriezeitalters. Der Raum Braunschweig als Beispiel, Stuttgart 1966. 11 R. Braun, Industrialisierung und Volksleben. Die Veränderungen der Lebensformen in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800 (Zürcher Oberland), Erlenbach 1960, 38 ff. 12 Mitteilungen des Statist. Bureaus in Berlin I, Berlin 1848, 68 ff. und Jahrbuch für die amtliche Statistik des Preußischen Staats 2. 1867, 231 ff.; vgl. auch Conze, Pöbel, 346 f. 13 U. Braeker, Das Leben und die Abenteuer des Armen Mannes im Tockenburg (1781). Hg. K. Wilbrandt, Berlin 1910, 176 u. 186. 14 Braun, Industrialisierung und Volksleben. 15 K. F. v. Klöden, Jugenderinnerungen. Hg. M. Jahns, Leipzig 1874. 16 Göhre, Hg., Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, 2 Bde, Leipzig 1903/04. 17 Vgl. dazu A. Koch, Arbeitermemoiren als sozialwissenschaftliche Erkenntnisquelle, ASS 1929; G. Eckert, Aus den Lebensberichten deutscher Fabrikarbeiter. Zur Sozialgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Braunschweig 1954; Stadelmann/Fischer, Bildungswelt; Fischer, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks, Göttingen 1957; ders., Arbeitermemoiren, wieder abgedruckt in diesem Band. 18 Dieses Moment wird noch bei vielen Agrarhistorikern und Bevölkerungslehrern (z. Β. Mackenroth) überbetont. Auch Conze, Pöbel, 337, scheint dieser Überbetonung noch zu erliegen. 19 A. Skalweit, Das Dorfhandwerk vor Aufhebung des Städtezwanges, Frankfurt o. J . 20 Hinze, Arbeiterfrage, 36 f. u. 171. 21 Über den Zusammenhang von Militärverfassung und Sozialverfassung im Preußen des 18. Jahrhunderts s. O. Büsch, Militärsystem und Sozialleben im Alten Preußen. 1713—1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Berlin 1962. 22 Die besten Beispiele sind G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert, Halle 1870, u. G. F. Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preußens, Leipzig 1887. 23 C. Grünberg, Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlichbäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien, 2 Bde., Leipzig 1893/94; Verein für Socialpolitik: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, 9 Bde., Leipzig 1895—97. 24 Wie sehr schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Handwerk inneren Strukturverschiebungen unterworfen war, zeigt neben Schmoller, Kleingewerbe, K. Abraham, Der Strukturwandel im Handwerk in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Berufserziehung, Köln 1955. 25 W. Wernet, Das gewerblich-kleinbetriebliche Element im modernen Industrialismus, Sch. Jb. 74. 1954, 641—80.

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Anmerkungen zu S, 251—258

26 Die wissenschaftliche Bewertung der „Landflucht" ist ebenso wie die der „Handwerkerfrage" einem starken Wandel unterworfen gewesen. Sie wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fast ausschließlich negativ beurteilt, während sie heute von Ökonomen sowohl wie von Soziologen nicht nur als „notwendig", sondern sogar als „wünschenswert" angesehen wird, da nur mit ihrer Hilfe Lebensstandard und Verhaltensweisen der Landbevölkerung der Industriegesellschaft angepaßt werden können. Der Wendepunkt der Beurteilung liegt für beide Fragen um das Jahr 1930, für das Handwerk gekennzeichnet etwa durch das vierbändige Werk Das deutsche Handwerk, Berlin 1930, für das Thema Landflucht durch das Werk von P. Quante, Die Flucht aus der Landwirtschaft. Umfang und Ursachen der ländlichen Abwanderung, Berlin 1933; s. auch ders., Die Abwanderung aus der Landwirtschaft, Kiel 1958. 27 Eine Zusammenfassung der älteren Lehrmeinung der Soziologie über die soziale Struktur des frühindustriellen Fabrikbetriebes gibt R. Dahrendorf im ersten Teil seines Aufsatzes: Industrielle Fertigkeiten und soziale Schichtung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 8. 1956, 540—568, bes. 542 ff. Dahrendorf selbst identifiziert sich zwar nicht mehr vollständig mit diesen Auffassungen, hält aber die Zwei-Phasen-Theorie aufrecht. Ähnlich auch Th. Geiger, Klassengesellschaft, 87 f. 28 Neben Geiger auch J . Chr. Papalekas (im Anschluß an H. Freyer), Wandlungen im Baugesetz der industriellen Gesellschaft, ZfGS 115. 1959, 13—23. 29 Auf diese innerbetrieblichen Statusunterschiede geht näher ein mein am 5. 3. 1963 vor der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Mainz gehaltener Vortrag „Innerbetrieblicher und sozialer Status der frühen Fabrikarbeiterschaft", in: F. Lütge, Hg., Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich um 1800, Stuttgart 1964, wieder abgedruckt in diesem Band. 30 Beispiele dafür bringt ebenfalls meine in der vorigen Anm. genannte Veröffentlichung. 31 Vgl. dazu allgemein C. Kerr, J . T. Dunlop, F. H. Harbison, C. A. Myers, Industrialism and Industrial Man. The Problems of Labor and Management in Economic Growth, Cambridge/Mass. 1960, bes. 170 ff. u. 197 ff. 32 Für Einzelheiten s. mein Buch: Staat, 367 ff. 33 R. Braun, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland), 37 ff. u. 185 ff. 34 Kerr u. a., Industrialism, 168. 35 Das groteskeste Beispiel dafür ist wohl J . Kuczynski, der „eine fortlaufende Senkung der Kaufkraft" der Arbeiterlöhne für die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts gefunden zu haben glaubt. Da sich nach ihm auch die Arbeitsbedingungen in dieser Zeit „fortlaufend und schnell" verschlechtern, stellt sie „eine Periode unaufhörlicher, eintöniger Verschlechterung der Lage des Arbeiters" dar. (Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1800 bis zur Gegenwart I, Berlin 19473, 48, 69, 75.) Über die Fragwürdigkeit seiner Berechnungen, besonders für das 20. Jahrhundert, hat schon Geiger, Klassengesellschaft, 62 ff., das Nötige gesagt.

Innerbetrieblicher und sozialer Status der frühen Fabrikarbeiterschaft 1 Dahrendorf, Fertigkeiten, 540—568, bes. 542—547. Obwohl er darin vor allem ältere Auffassungen referiert, identifiziert er sich doch im wesentlichen mit der These, „daß der dynamischen Anfangsphase industrieller Entwicklung etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Periode gefolgt ist, in der die Produktion sich vor allem auf Grund intensiver und rationaler Organisation der vorhandenen Möglichkeiten erhöhte". Eine Begleiterscheinung dieses Strukturwandels sei die „Wiederentwicklung menschlicher Fertigkeiten als eines nützlichen Produktionsfaktors" gewesen. Auch die ausführlicheren Ausführungen zur Sozialgeschichte der Industrie in seiner „Industrie- und

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Anmerkungen zu S. 258—259

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Betriebssoziologie" (Berlin 1956), auf die er ausdrücklich verweist, bestätigen sein Festhalten an der Zwei-Phasen-These, wonach die erste zu einer „Gleichmachung aller Lohnarbeiter" (49) geführt habe, weil in der Fabrik „das Maß der erlernten Fertigkeiten oft gleichgültig" geworden sei (50). „So entsteht eine sozial undifferenzierte Masse wenig ausgebildeter Lohnarbeiter, deren Zahl so rasch wächst, daß schon darum zunächst jede Strukturierung unmöglich wird" (51). „Die Phase der Industrialisierung ist (dann) durch die der entwickelten mechanisierten Industrie abgelöst worden, die in ihren sozialen Auswirkungen viele der frühen Prognosen widerlegt hat" (52). 2 Papalekas, Wandlungen, 13—23. 3 Geiger, Klassengesellschaft, 87 f. 4 H. Schelsky, Die Bedeutung des Klassenbegriffs für die Analyse unserer Gesellschaft, Jahrbuch für Sozialwissenschaft 12. 1961, 245. 5 Ebda, 240. Diese Stellungnahme überrascht bei Schelsky insofern, als er gleichzeitig die „Illusion des Ganzen" als den „empirisch nicht aufrechtzuerhaltenden Irrtum der Kiassenlehre" erkannt und mit Recht festgestellt hat: „Gerade die Differenzierung der soziologischen Analyse überwindet die Klassentheorie" (245). Die Erklärung für diesen Widerspruch ist wenige Zeilen später zu sehen in der Feststellung: „Eine solche universale Theorie der industriellen Gesellschaft war allerdings nur möglich an deren Beginn, als alle Erscheinungen dieses gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses noch verhältnismäßig unentwickelt waren und sich daher in einer genialen Systematik zu einer Gesetzlichkeit noch zusammenfassen ließen." Ich würde demgegenüber behaupten, daß das schon damals nicht möglich war und Marxens „geniale Systematik" schon zu ihrer Entstehungszeit eine „Illusion des Ganzen" darstellte. 6 Diese empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung setzt, nicht zufällig, in den gleichen Jahren ein, die man heute weithin als Wendepunkt in der Zwei-Phasen-Entwicklung der Industriegesellschaft betrachtet, in Deutschland in der Mitte der 1880er Jahre, verstärkt dann kurz vor der Jahrhundertwende etwa mit den Enqueten des Vereins für Socialpolitik und den Erfahrungs- und Erlebnisberichten des sozialreformerischen Pastors P. Göhre (1891 ff.). Einen ersten Höhepunkt erreicht sie um 1910 mit den Forschungen R. Ehrenbergs in seinem „Archiv für exakte Wirtschaftsforschung" (zu unserem Thema besonders wichtig seine Studie: Die Frühzeit der Kruppschen Arbeiterschaft 3, 1911) und den Diskussionen im Verein für Socialpolitik über das „Berufsschicksal der Industriearbeiter" (Beiträge dazu von A. Weber und M. Bernays im ASS 34 u. 36. 1910 u. 1912). 7 Vorläufer der empirischen Forschung hat es vor allem in England und Frankreich schon vor der Mitte des Jahrhunderts gegeben (Gaskell, Ure, Villermé, Buret, Banfield, Le Play u. a.). Sie sind in der deutschen industriesoziologischen Literatur neuerdings von Friedrich Fürstenberg, Industriesoziologie. Vorläufer und Frühzeit 1835—1914, Neuwied 1959, erwähnt, aber nicht genügend berücksichtigt worden. Sonst hätte nicht auch Fürstenberg die These vertreten können, daß in der „extensiven Phase" der Industrialisierung der Qualifikationsgrad der verwendeten Arbeit gesunken sei und die Arbeitsverrichtungen zu beliebig austauschbaren Funktionen wurden (14). Daß dabei natürlich auch die Löhne unter dem bei freier Konkurrenz am Arbeitsmarkt sich hemmungslos auswirkenden Bevölkerungsdruck bis zum physischen Existenzminimum und bisweilen darunter sanken, ist eine notwendige Folge dieses Prozesses und wird konsequenterweise auch von F. vertreten (15); die Frage, ob sie sich nicht vorher vielleicht schon am bzw. unter dem Existenzminimum befunden haben, ist gar nicht gestellt. 8 Diese Formulierung wurde gebraucht von FL Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959, 74. 9 Die Kategorie des sozialen Status als Teilhabe an einem Wertganzen ist besonders entwickelt bei H. Kluth, Sozialprestige und sozialer Status, Stuttgart 1957, 94 f. 33 Fischer, Wirtschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 259—264

Vgl. auch R. B. Cattell, The Concept of Social Status, Journal of Social Psychology 15. 1942. 9a Da ich den ersten Teil des Themas unter dem Titel „Soziale Unterschichten im Zeitalter der Frühindustrialisierung in Deutschland" (International Review of Social History 8. 1963, wieder abgedruckt in diesem Band) behandelt habe, beschränke ich mich hier im wesentlichen auf den zweiten Teil, den innerbetrieblichen Status. 10 Ein Beispiel dieser Arbeitsweise geben die an der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund durchgeführten Arbeiten der Arbeitsgruppe H. Popitz, H. P. Bahrdt, E. A. Jüres, H. Kesting (Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, und Technik und Industriearbeit, Tübingen 1957), von denen die erste den sozialen Status der Arbeiter nach der Meinung von Hüttenarbeitern, die zweite den innerbetrieblichen Status von Hüttenarbeitern auf Grund technischer Bedingungen zum Gegenstand hat. 11 Von den zahlreichen betriebssoziologischen Untersuchungen, die vorwiegend auf objektivem Material beruhen, sei hier genannt, weil zum Vergleich mit unseren Ergebnissen besonders interessant: D. Ciaessens, J . Fuhrmann, G. Hartfiel, H. Zirwas, Angestellte und Arbeiter in der Betriebspyramide, Berlin o. J . (1959). 12 Welche Bedeutung rechtliche Bestimmungen bei der sozialen Gliederung der deutschen Arbeiterschaft bis in die 1860er Jahre hinein hatten, ist im Zusammenhang noch nicht erforscht. Daß bestimmte Teile der Rechtsordnung einen nicht unbeträchtlichen Einfluß sogar auf die Formierung der Arbeiterbewegung gehabt haben, wird neuerdings betont von Baiser, Sozial-Demokratie, bes. 33 ff. Andeutungen über Korrelationen zwischen rechtlichem und wirtschaftlichem Status von Fabrikarbeitern in Bayern vor 1848 finden sich bei Zorn, Gesellschaft, 129. Beispiele aus dem Baden der gleichen Zeit bringt mein Buch: Staat, 331 ff. Für das Nachziehen der rechtlich fixierten Sozialordnung des preußischen Bergbaus s. meinen Aufsatz: Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform von 1851 bis 1865 in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts, ZfGS 117. 1961, 521—534, wieder abgedruckt in diesem Band. 13 A. Schröter u. W. Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie in der industriellen Revolution, Berlin (Ost) 1962, 77 f. 14 Ebda, 75 ff., 224 ff. 15 Ein Beispiel aus Chemnitz von 1812 bei R. Strauss, Die Lage und die Bewegung Chemnitzer Arbeiter, Berlin (Ost) 1960, 47. Ähnliche Verhältnisse bestanden in Baden und Württemberg in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. 16 Das ist für das Zürcher Oberland sehr gut nachgewiesen bei Braun, Wandel, 19 ff. u. 31 ff. 17 Einige Mitteilungen über Arbeiterzustände in Chemnitz. Deutsche Gewerbezeitung, Leipzig und Chemnitz 1847, Nr. 45. Abgedruckt in: Beiträge zur Heimatgeschichte von Chemnitz, Heft 1: Quellen zur Lage der Chemnitzer Arbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Chemnitz 1952, S. 34, und — unter Weglassung des letzten Satzes — bei Schröter/Becker, 78 f. 18 Daß die gelernten Handwerker für den Maschinenbau nicht von vornherein tauglich waren, stellen auf Grund von vielfältigen Aussagen der Industriellen auch Schröter/Becker, 77, fest. Sie waren aber leichter als die nichtgelernten für die spezifischen Anforderungen der Maschinenbaubetriebe auszubilden und daher für die schwierigen Arbeitsfunktionen besser geeignet, die mangels eigener Bezeichnungen Handwerksbezeichnungen erhielten: Schmiede, Schlosser, Spengler, Dreher, Kesselschmiede, Tischler etc. 19 Fischer, Staat, 220. 20 R. Ehrenberg und H. Racine, Kruppsche Arbeiterfamilien, 6. Erg.-Heft z. Archiv f. exakte Wirtschaftsforschung, Jena 1912, 28 ff. 21 Strauss, Lage, 31 u. 49. 22 Es ist vielfach beobachtet worden, daß Manufakturen und Fabriken der Frühzeit das Arbeiterkontraktsystem benutzen, bei dem bestimmte Arbeitsvorgänge an einzelne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Anmerkungen zu S. 265—281

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(Meister, Untermeister etc.) vergeben werden, die ihrerseits Arbeiter anstellen und bezahlen. Dieses System scheint sich anzubieten, wo immer ein Produktionsprozeß noch nicht voll durchgebildet bzw. einschneidenden Veränderungen unterworfen ist. So zeigt es sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert beim Übergang gewisser Produktionsprozesse, z. B. der Textildruckerei vom Handwerk auf den zentralen Betrieb, im 19. Jahrhundert aber auch in den USA, bes. in der Nähmaschinen- und Gewehrfabrikation als Methode der Massenproduktion von austauschbaren Teilen, bis der Taylorismus es verdrängte, und heute kommt es beim Übergang zur Automatisierung teilweise wieder zum Vorschein. 23 H. Gröger, Die Arbeits- und Sozialverhältnisse der staatlichen Porzellanmanufaktur Meißen im 18. Jahrhundert, in: Fs. H. Kretzschmar, Berlin (Ost) 1953, 176 f. (Die Monatslöhne der Festlöhner sind von mir umgerechnet.) 24 H. Krüger, Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen. Die mittleren Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin (Ost) 1958, 290 f. 25 Die vergleichenden Untersuchungen der Inter-University-Study von C. Kerr u. a., Industrialism, 253, haben sogar ergeben, daß in entwickelten Industrieländern die Lohnspanne der ungelernten zu den gelernten Arbeitern im Durchschnitt nur eine Relation von 1:1,2—1,3 aufweist. Deutsche Untersuchungen nach dem zweiten Weltkrieg haben allerdings noch größere Spannen gefunden, wobei sich die Extreme immerhin noch wie 1:5 verhalten. Allerdings sind die untersten und obersten Lohngruppen dabei mit 0,1 Prozent aller männlichen Arbeiter äußerst dünn besetzt (s. D. Ciaessens u. a., 132). 26 Krüger, 360. 27 R. Forberger, Die Manufakturen in Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Berlin (Ost) 1958, 224. (Die Einzeljahreslöhne auf Grund der Gesamtangaben von mir errechnet.) 28 E. Neuss, Entstehung und Entwicklung der Klasse der besitzlosen Lohnarbeiter in Halle. Eine Grundlegung, Berlin (Ost) 1958, 184. 29 M. Mohl, Über die württembergische Gewerbsindustrie, Stuttgart 1828, S. 247 ff. 30 Fischer, Staat, 369. 31 Ebda, 370. 32 Beiträge zur Heimatgeschichte von Chemnitz, Nr. 1, Chemnitz 1952, 35. 33 Zum folgenden vergleiche R. Ehrenberg, Frühzeit, 1—164, bes. 50—53, 59—69, 79—85. 34 Ebda, 51 ff. 35 Ebda, 79. 36 Ebda, 84. 37 Das hat teils Ehrenberg selbst im Anschluß an seine Tabellen, ebda, 80—83, getan, teils muß es einer größeren vergleichenden Arbeit vorbehalten werden. 38 Neuss, 170 ff. 39 A. Hauser, Schweizerische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Erlenbach 1961, 185. 40 Köllmann, Sozialgeschichte, 138. 41 Zum folgenden Fischer, Staat, 367 ff. 42 Ein gutes Beispiel ist N. Riggenbach, Erinnerungen eines alten Mechanikers, Buchs-Wendenberg 1887. 43 Wir können hier die Zwischenstufen nicht alle berücksichtigen. Für die Verhältnisse der Gegenwart siehe z. B. die Studie von D. Ciaessens u. a., 132. Danach lag die Hälfte von 3840 untersuchten männlichen westdeutschen Industriearbeitern in der Durchschnittsgruppe 400—500 DM, 24 Prozent in der nächsthöheren, 26 Prozent in der nächstniederen, nur ein ganz geringer Rest von 1,2 Prozent darüber und darunter. Die Frauen verschieben den Durchschnitt nach unten, weil bei ihnen sich zwei Drittel in der Gruppe von 300 bis 400 DM befanden und ein Viertel in der nächstniederen von 200 bis 300. (Werte von 1956/57). — Der durchgehende Trend zur Entdifferen33*

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Anmerkungen zu S. 281—287

zierung der Löhne im Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung ist auf Grund vergleichender Studien allgemein bestätigt bei C. Kerr u. a., 253, wo die große Differenzierung in der industriellen Frühzeit richtig als ein „carry-over from the pre-industrial society" interpretiert ist. Für spätere Phasen in Deutschland s. G. Bry, Wages in Germany 1871—1945, Princeton 1960, bes. 81 ff. und J . H. Müller, Nivellierung und Differenzierung der Arbeitseinkommen in Deutschland seit 1925, Berlin 1954, bes. 48. 44 Sombart u. Hinze. 45 A. Schröter/W. Becker, bes. 76 f. und 225 f. Dazu allgemein wiederum C. Kerr u. a., 252 f. 46 Geiger, Klassengesellschaft, 88. Er begeht jedoch den Fehler, diese Gegenläufigkeit zwei aufeinanderfolgenden Perioden zuzuschreiben. Näher kommt er dem tatsächlichen Sachverhalt schon, wenn er 157 von „wechselnden Entwicklungstendenzen" schreibt, die nicht aufeinanderfolgen, sondern sich ineinanderschieben, „Was Marx sah — und ganz zutreffend beschrieb —, war eine Tendenz zur Austilgung dieser bisherigen frühbürgerlichen, berufsständischen Strukturlinien. Was er voraussagte — und darin irrte er —, war die volle Entfaltung der Klassenstruktur. Die Klassenschichtung setzte sich in der Tat niemals als ein einigermaßen dominanter Schichtungs-Zustand durch. Lange bevor sie die gesamte Gesellschaft durchdringen konnte, brachen schon wieder andere Strukturtendenzen in das Bild ein, bogen die Schichtung ,Kapital und Lohnarbeit' ab und verwischten sie. Diese neuen Strukturtendenzen dringen vor, ehe die vorangehende noch ausreifen konnte." Auch diese Fassung ist jedoch noch ungenau, weil beide Tendenzen, die zur Verschärfung des Klassengegensatzes und die zur Abschleifung der Gegensätze, von Anfang an parallel oder vielmehr gegeneinander verlaufen. 47 Schelsky, Klassenbegriff, 237—269, bes. 260 ff. 48 Dahrendorf, Klassen. Widerrufen in seiner Tübinger Antrittsvorlesung: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, Tübingen 1961, bes. 27. Daß er trotzdem an seiner m. E. richtigen Erkenntnis, „daß soziale Gebilde in einer merkwürdigen Weise zwei Gesichter haben", festhält, geht aus seinen Diskussionsbemerkungen zum Thema „Mensch und Betrieb" auf einer Arbeitstagung der W.-Raymond-Stiftung am 14./15. 4. 1961 hervor: Der Mensch im Betrieb. Freiheit und Persönlichkeit — Möglichkeiten und Grenzen. Teil II: Aus der Sicht der sozialen Gliederung des Betriebs, Köln 1962, 93.

IV. Das deutsche Handwerk im Zeitalter der Industrialisierung Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks Der Versuch dazu ist unternommen, bei Fischer, Handwerksrecht. M. F. Frisius, Der vornehmsten Künstler- und Handwerker Ceremonial Politica, Leipzig 1708. 3 J . u. W. Grimm, Altdeutsche Wälder, Kassel 1813; Jean Paul, Vorschule der Aesthetik, 1804, 1813. 4 R. Wissel, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, 2 Bde, Berlin 1929. Neuauflage (Hg. v. E. Schraepler) Bd. 1 Berlin 1971. 5 Bei Stadelmann/Fischer, Bildungswelt. 6 Denkmäler der deutschen Kulturgeschichte, Abt. 1, Bde. 1 u. 2. (Deutsche Privatbriefe des Mittelalters), Hg. G. Steinhausen, 1899. 1907. 7 Handwerkerbriefe aus der Zeit der Reformation, mitgeteilt von Prof. Dr. Hölscher in Goslar, Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 7. 1903. 8 Die Goldschmiede-Chronik. Die Erlebnisse der ehrbaren Goldschmiede-Ältesten 1 2

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Anmerkungen zu S. 287—291

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Martin und Wolfgang, auch Mag. Peters Vincentz, Hg. C. R. Vincentz, Hannover o. J . (1918). 9 Abgedruckt bei R. Diehl, Erhard Ratdold. Ein Meisterdrucker des XV. und XVI. Jahrhunderts, Wien 1933. 10 Des Kupferschmiedemeisters L. Kleinhempel Hauschronik. Hg. Dr. H. Harms zum Spreckel, Mitteilungen des Vereins für Geschichte von Annaberg und Umgebung 5. Annaberg 1927. 11 J . Butzbach, Chronika eines fahrenden Schülers oder Wanderbüchlein. Übersetzt von Dr. D. J . Becker, Regensburg 1869, Neuausgabe Leipzig 1912. 12 Meister Johann Dietz, des Großen Kurfürsten Feldscher und Königlicher Hofbarbier. Hg. E. Consentius, Ebenhausen o. J . (1915). 13 W. Groos, Wanderschaft eines jungen Handwerkers zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Die Pyramide. Wochenschrift zum Karlsruher Tagblatt vom 27. 6. 1920. 14 Der reisende Gerbergeselle oder Reisebeschreibung eines Weißgerbergesellen, Liegnitz 1751. 15 Gut Gesell und du mußt wandern. Aus dem Reisetagebuche des wandernden Leinewebergesellen Benjamin Riedel. Bearb. u. Hg. F. Zollhöfer, Goslar 1938. 16 J . A. Staerkle, Tagebuch und Reisememoiren 1852—54, Rapperswil 1921. 17 Biedermeier auf Walze. Aufzeichnungen und Briefe des Handwerksburschen Johann Eberhard Dewald 1836—1838. Hg. G. M. Hofmann, Berlin 1936. 18 F. Beumer, Die Wanderjahre des hamburgischen Schneidergesellen F. R. Michaelsen 1834—1839. Auszug aus seiner Familienchronik und aus seinem Tagebuch, Hamburgische Geschichts- und Heimatblätter 2. 1929—31. 19 Ch. W. Bechstedt, Meine Handwerksburschenzeit 1805—1810. Hg. Ch. FranckeRoesing, Köln 1925. 20 E. Ch. Döbel, Wanderungen durch einen Teil von Europa, Asien und Afrika in den Jahren 1830—1836. Bearb. Pfarrer H. Schwerdt, 2 Bde, Eisenach 1837/38. 21 Biedermeier auf Walze, 101. 22 Ebda, 92. 23 Ebda, 196. 24 K. Scholl, Lebenserinnerungen eines alten Handwerkers aus Memel. Hg. M. u. J . Rehsener, Stuttgart 1922; C. Mengers, Aus den letzten Tagen der Zunft. Erinnerungen eines alten Handwerkers aus seinen Wanderjahren, Leipzig 1910. 25 J . C. Fischer, Tagebücher. Neu hg. v. d. G. Fischer A. G. Schaffhausen. Bearb. K. Schib, Schaffhausen 1951. 26 Ebda, 776. 27 A. Zettlers Lehr- und Wanderjahre, München o. J . (1955). 28 O. Walcker, Erinnerungen eines Orgelbauers, Kassel 1948; J . Wild, Aus meinem Leben und Schaffen in München und Berlin. Ein Beitrag zur technischen Entwicklung des deutschen Brauwesens, Berlin 1937; N. Trutz, Vom Wanderstab zum Automobil. Eines deutschen Handwerkers Streben und Erfolg, Paderborn 1914; H. Smalian, Ein Leben im Dienst der Buchdruckerkunst, Berlin 1919; B. Metzel, Von der Pike auf. Aus meinem Buchdruckerleben, Leipzig 1935. 29 K. P. Moritz, A. Reiser. Ein psychologischer Roman. Hg. H. Henning, Leipzig 1910. 30 J . H. Jung-Stilling, Sämtliche Schriften I, Stuttgart 1835. 31 U. Braeker, Das Leben und die Abenteuer des Armen Mannes im Tockenburg, Hg. A. Wilbrandt, Berlin 1910. 32 Biographie eines noch lebenden Schneiders von ihm selbst, Nürnberg 1798. 33 Leben und Ereignisse des P. Prosch, München 1789. 33a Handwerksbarbarei oder Geschichte meiner Lehrjahre, Halle und Leipzig 1790. Neu hg. v. C. Viol, Leipzig 1923. 34 K. F. Klöden, Jugenderinnerungen. Hg. M. Jähns, Leipzig 1874. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 291—297

C. F. Zelters Darstellungen seines Lebens. Hg. J . W. Schottländer, Weimar 1931. R. Köpke, L. Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen I, Leipzig 1855; Erinnerungen aus meinem Jugendleben, in: Briefe von J . H. Voß. Hg. A. Voß, I, Halberstadt 1829; J . G. Seume, Gesammelte Schriften. Hg. J . P. Zimmermann, V, Wiesbaden 1826; G. Keller, Gesammelte Werke, Hg. Ermatinger, I, Stuttgart 1920; F. W. Gubitz, Erlebnisse, 3 Bde., Berlin 1868/69; J . B. Pflug, Erinnerungen eines Schwaben. Hg. J. E. Günthert, 2 Bde., Nördlingen 1874/77; J . W. Schirmer, Düsseldorfer Lehrjahre, DR XI/XII (1877); E. Rietschel, Jugenderinnerungen, Leipzig 1881. 37 P. Rosegger, Aus meinem Handwerkerleben = Waldheimat. Erinnerungen aus der Jugendzeit, 2. Bd. Lehrjahre, Leipzig 1880; H. Hansjakob, Aus meiner Jugendzeit, Ausgewählte Schriften, I, Stuttgart 1922. 38 K. Ernst, Aus dem Leben eines Handwerksburschen, Neustadt 19142. 39 K. Scheffler, Der junge Tobias. Eine Jugend und ihre Umwelt, Leipzig 1927; A. Winnig, Frührot. Ein Buch von Heimat und Jugend, Stuttgart 1929; ders., Der weite Weg, Hamburg 1932; P. Ernst, Jugenderinnerungen, München 1930; W. Hofmann, Mit Grabstichel und Feder. Geschichte einer Jugend, Stuttgart 1948. 40 Born; Bebel, I; Scheidemann, I; Severing, I; Keil; Löbe. 41 Schirmer. 42 J . Hirsch, Mein Leben, Hamburg 1933. 43 Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Hg. P. Göhre, 2 Bde., Leipzig 1903/04. 44 E. May. 44a Aus einer Fabrikstadt. Schicksale und Erfahrungen eines Fabrikarbeiters. Von ihm selbst niedergeschrieben u. hg. T. Leberecht, Zwickau 1853. 45 P. Adam, Lebenserinnerungen eines alten Kunstbuchbinders, Leipzig 1925, Stuttgart 19513. J . Schramm, Mein Leben als Kunstschmied, Berlin 1941. 35 36

Die rechtliche und wirtschaftliche Lage des deutschen Handwerks um 1800 1 Ein Beispiel aus Süddeutschland in: W. Fischer, Das Fürstentum Hohenlohe im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1958, 65. 2 R. Boeckh, Die geschichtliche Entwicklung der amtlichen Statistik des preußischen Staates, Berlin 1863, 31. 2a Seit Erscheinen dieses Kapitels (1955) sind verschiedene Arbeiten erschienen, die zwar nicht für Deutschland insgesamt, wohl aber für einzelne Regionen genauere Berechnungen über die wirtschaftliche Situation des Handwerks in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angestellt haben. Die wichtigsten stammen aus der Schule W. Abels in Göttingen. S. vor allem: W. Abel und Mitarbeiter, Handwerksgeschichte in neuer Sicht (Göttinger Handwerkswirtschaftliche Studien 16), Göttingen 1970, und die Beiträge von F. W, Henning und K. Kaufhold in W. Fischer (Hg.), Beiträge zu Wirtschaftswachstum und Wirtschaftsstruktur im 16. und 19. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Socialpolitik NF 63), Berlin 1971. 3 Für die Einzelheiten vgl. Fischer, Handwerksrecht. 4 Der Anstoß zur Diskussion ist in Deutschland im wesentlichen von W, Eucken ausgegangen und besonders von der sog. „neoliberalen" Schule aufgenommen worden, für deren Bemühungen um die Klärung des Problems das Jahrbuch „Ordo" repräsentativ ist. Von juristischer Seite hat vor allem F. Böhm die Fragen behandelt. Vgl. u. a. W. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 1934, 19506; ders., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1952; ders., Unser Zeitalter der Mißerfolge, Tübingen 1951. Die Bücher von Röpke, v. Hayek, v. Mises und F. Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, Tübingen 1950. Zur Kritik u. a. H. Ritschel, Die Grundlagen der Wirtschaftsordnung, Tübingen 1954.

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Anmerkungen zu S. 297—309

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5 H. Zatschek, Einung und Zeche. Ein Betrag zur Geschichte des Wiener Handwerks, in: Fs. E. Stengel, Münster 1952, 414 ff. 6 Ebda. 7 Geschlossen heißt: die Zahl der Meister ist festgesetzt, gesperrt: die Handwerksgenossen dürfen weder wandern noch sich auswärts niederlassen, geschenkt: die Meister sind verpflichtet, den wandernden Gesellen eine bestimmte Summe auszuhändigen, wenn keine Arbeit vorhanden ist, freie Kunst: es gibt keine Meisterprüfung oder überhaupt keine Zunftverfassung. 8 Vgl. J . G. Sieber, Abhandlung von den Schwierigkeiten in den Reichsstädten das Reichsgesetz vom 16. August 1731 wegen der Mißbräuche bey den Zünften zu vollziehen, Goslar 1771. 9 Die Reichszunftordnung ist vielfach abgedruckt worden, z. Β. in den Gesetzes­ sammlungen von Mylius, Gerstlacher u. a. Bequem in einigen neueren Darstellungen, bes. R. Wissel, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheiten I u. H. Proesler, Das gesamtdeutsche Handwerk im Spiegel der Reichsgesetzgebung von 1530—1806, Berlin 1954. 10 Sieber, 2; J . F. C. Weißer, Das Recht der Handwerker, Stuttgart 1780, S. 76 ff. Vgl. auch J . H. Fricke, Grundsätze des Rechts der Handwerker, Göttingen 1771; J . A. Ortloff, Das Recht der Handwerker, Erlangen 1803; ders., Corpus Juris Opificiarii, Erlangen 1804; E. J . Kulenkamp, Das Recht der Handwerker und Zünfte, Marburg 1807. 11 Besonders kraß bei G. Jahn, Zur Gewerbepolitik der deutschen Landesfürsten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Diss. Leipzig 1909, 53. 12 L. Hoffmann, Das württembergische Zunftwesen und die Politik der herzoglichen Regierung gegenüber den Zünften im 18. Jahrhundert, Diss. Tübingen 1905, 37 ff. 13 In Meister Johann Dietz, Hg. E. Consentius, Ebenhausen o. J . (1915), 333—352, sind Akten aus dem Geh. Staatsarchiv über die Rechtsstreitigkeiten zwischen Dietz und der Innung abgedruckt. 14 Von dem Verfall des Handwerks in den kleinen Städten. Sämtliche Werke, Hist.-krit. Ausgabe IV, 176. 15 E. Michel, Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, Frankfurt 1953s, 51. 16 W. Menn, Wandernde Buchbindergesellen in Greifswald zur Schwedenzeit 1736 bis 1815, Pommersche Jahrbücher 33. 1933, 37. 17 J . Moser, Sämtliche Werke, Hist. krit. Ausgabe IV, 164 f. 18 G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert, Halle 1870, 266 f., 270 ff., 285 f. 18a S. dazu jetzt: K. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution, Weimar 1967. 19 Fricke, 117 ff. 20 A. Thun, Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter, Leipzig 1879, II, 10 ff. 21 Menn, 37. 22 H. Nirrnheim, Zur Geschichte der Bäcker in Hamburg, Mitteilungen des Vereins für Hamburgische Geschichte 8, 529. 23 Zedlers Universallexikon 64, Leipzig 1750, Art. „Zunfft", Teil VIII, 125. 24 J . Hasemann, „Gewerbe", in: Ersch u. Gruber I, 65, 392. 25 Vgl. Kapitel VII, in: Stadelmann/Fischer, Bildungswelt. 26 Schmoller, Kleingewerbe, 113 ff. und 152 ff.; F. Kistler, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Baden 1849—1870, Freiburg 1954, 117. 27 Schmoller, Kleingewerbe, 65 ff. 28 Ebda, 64 ff., 271, 281 ff., 292, 299, 304, 363 ff., 416, 426. 29 Kuczynski, Geschichte I, 38 ff., 81 ff. 30 P. Ernst,Jugenderinnerungen,30. 31 Meister J . Dietz, 30, 34, 94 ff., 123, 200.

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Anmerkungen zu S. 309—319

H. v. Füchtbauer, Georg Simon Ohm, 41, 63, 66. Carl Friedrich Zelters Darstellungen seines Lebens, bes. XIV. 34 Beumer, Wanderjahre. 35 P. E. Schramm, 170. 36 J . C. Fischer, Tagebücher, Hg. K. Schib, Schaffhausen 1951, 12. 37 Von ganz verschiedenen Voraussetzungen und mit ganz verschiedenen Wertungen kommen zu diesem gleichen Ergebnis Kuczynski u. Mitgau, Gemeinsames Leben, 31 f. 38 Für Baden vgl. Kistler, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Baden, 179. 39 Mitgau, 8; Klöden, Jugenderinnerungen, 192 f., 202; Dewald, 23. 40 Klöden, 28, 74, 175 ff. 32

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Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung 1 Erweiterte Fassung eines Vortrages, der am 7. 2. 1964 an der Freien Universität Berlin gehalten wurde. 2 Diese und die folgenden Zahlen nach dem Statistischen Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1963, bes. 255 f., u. H. J . Neubohm, Entwicklungstendenzen im westdeutschen Handwerk, Sparkassenhefte, hg. v. Deutschen Sparkassen- und Giroverband, Nr. 30, Stuttgart 1963, 14 ff. u. 38. 3 Ebda. 4 Zitiert nach K. Marx u. F. Engels, Das Kommunistische Manifest, Singen 1946, 10. 5 W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. u. im Anfang des 20. Jahrhunderts (Berlin 1903), Darmstadt 19548, 279 ff. 6 W. Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, München 1927, 963. 7 Vergleiche z. Β. Roschers Nationalökonomik des Gewerbefleißes und Handels, 1. Aufl. 1881 oder Büchers Die Entstehung der Volkswirtschaft, 1. Aufl. 1893. Eine Auswahl der wichtigsten Lehrmeinungen über das Handwerk bringt der Band 3 der Forschungsberichte aus dem Handwerk, hg. v. Handwerkswissenschaftlichen Institut Münster/W.: Handwerk im Widerstreit der Lehrmeinungen. Das neuzeitliche Handwerksproblem in der sozialwissenschaftlichen Literatur, Münster 1960. Vgl. auch E. Gros, Der Lebensraum des deutschen Handwerks in seiner geschichtlichen Entwicklung, Würzburg 1931. 8 Schmoller, Kleingewerbe, 665. 9 Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland und Österreich, Schriften des Vereins für Socialpolitik, 62—71 u. 76. 1895—97. Vgl. auch H. Grandke, Die vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie. Zusammenfassende Darstellung, Sch. Jb. NF 21. 1897. Zusammen mit der auf gleicher Linie liegenden Untersuchungen von P. Voigt, Die Hauptergebnisse der neuesten deutschen Handwerkerstatistik von 1895, ebda, auch als Separatum erschienen, Leipzig 1897. 10 Vgl. dazu E. Gros, 85 ff. 11 J . G. Hoffmann, Die Befugniß zum Gewerbebetriebe. Zur Berichtigung der Urtheile über Gewerbefreiheit und Gewerbezwang mit besonderer Rücksicht auf den Preußischen Staat, Berlin 1841. 12 W. Stieda, Die Lebensfähigkiet des deutschen Handwerks, Rostock 1897, 4. 13 Stieda selbst bestätigte sie noch einmal ausdrücklich in seinem gleichnamigen Beitrag in dem Handwörterbuch des Kaufmanns II, 1, 1926/27. 14 Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Das deutsche Handwerk, 4 Bde., Berlin 1930.

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Anmerkungen zu S. 319—325

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15 Solche Untersuchungen sind teilweise durch die handwerkliche Selbstverwaltung, teilweise durch die amtliche Statistik durchgeführt worden, und zwar 1931, 1935—39, 1947, 1949, 1956. Außer den Veröffentlichungen des Statistischen Reichs- bzw. Bundesamtes vgl. dazu W. Wernet, Statistik des Handwerks 1931, Stuttgart 1934, und für die Nachkriegszeit besonders Th. Beckermann, Das Handwerk — gestern und heute, Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, Essen, Schriftenreihe NF 15, Essen 1959; ders., Auslese, Wachstum und Differenzierung im modernen Handwerk, ebda Nr. 17, Essen 1960 u. H. I. Neubohm. 16 W. Wernet, Handwerks- und Industriegeschichte, Sammlung Poeschel, Betriebswirtschaftliche Studienbücher, Hg. H. Seischab, Reihe III, Betriebslehre, Stuttgart 1963. 17 G. Schmoller, Kleingewerbe, bes. 107 für Baden, 113 ff. für Württemberg, 152 ff. für Sachsen. Daß der Anstieg in den ersten beiden Jahren 20 % betragen habe, wie K. Abraham, Der Strukturwandel im Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Berufserziehung, Köln 1955, 51, im Anschluß an Κ. Η. Rau, Lehrbuch der politischen Ökonomie II, 1828, 193 ff., für das Königreich Westfalen während der napoleonischen Zeit feststellt, mag in diesem Einzelfall und noch vor Beginn der Industrialisierung zutreffen, kann jedoch nicht, wie Abraham es tut, verallgemeinert werden. 18 Nach den bei A. Skalweit, Das Dorfhandwerk vor Aufhebung des Städtezwanges, Frankfurt/M. o. J., 54 f., mitgeteilten Zahlen von mir berechnet. Auch in Baden finden sich schon 1810 45% der Handwerker auf dem Lande, vgl. Fischer, Staat I, 289. 19 Skalweit, Dorfhandwerk, 69. 20 So besaß Württemberg schon 1861 mit 8,1 Handwerkern auf 100 Personen eine Handwerksdichte wie heute die Bundesrepublik im Durchschnitt (siehe Schmoller, Kleingewerbe, 308), und 1931 wies es eine Handwerksbetriebsdichte von 3,5 auf 100 Personen auf, während der Reichsdurchschnitt bei 2,2 lag, Wernet, Statistik, 125. 21 Skalweit, Dorfhandwerk, 71. 22 Aus der reichen Literatur über die Einführung der Gewerbefreiheit seien genannt: H. Roehl, Beiträge zu den Folgen der absoluten Gewerbefreiheit der preußischen Gesetze vom 2. X. 1810 und 7. IX. 1811, Berlin 1899; K. v. Rohrscheidt, Vom Zunftzwang zur Gewerbefreiheit, Berlin 1898; A. Popp, Die Entstehung der Gewerbefreiheit in Bayern, Leipzig 1928; Fischer, Handwerksrecht. 23 Vgl. dazu jetzt auch: K. Aßmann u. G. Stavenhagen, Handwerkereinkommen am Vorabend der industriellen Revolution. Materialien aus dem Raum BraunschweigWolfenbüttel, Göttingen 1969; W. Abel u. a., Handwerksgeschichte in neuer Sicht, Göttingen 1970. 24 Boeckh, 31. 25 So waren nach Berechnungen der 2. Handwerksenquete 1925 von 4,75 Millionen unselbständiger Handwerker nur knapp die Hälfte in Handwerksbetrieben, 2,5 Mill. jedoch in Industrie- oder anderen nichthandwerklichen Betrieben beschäftigt. S. Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Das deutsche Handwerk, Generalbericht Berlin 1930, 24 ff. 26 Abraham, Strukturwandlungen, 17 ff.; Krug selbst gibt für 23 von 49 von ihm gezählten Handwerken eine Gesamtzahl von 234 841 Meistern und 113 723 Gesellen. Die Lehrlinge sind teilweise bei den Gesellen miterfaßt, zum größten Teil jedoch nicht. L. Krug, Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staats und über den Wohlstand seiner Bewohner 2, Berlin 1805, 173—205. 27 Die Berechnung dieser Zahlen bei Schmoller, Kleingewerbe, 65, übernommen von Abraham, Strukturwandlungen, 55. 28 Über die Methoden der Berechnung und die Schwierigkeiten des Vergleichs s. Schmoller, Kleingewerbe, 70 ff. 29 Erhebung über Verhältnisse im Handwerk, veranstaltet im Sommer 1895, bearbeitet im Kaiserlichen Statistischen Amt, 3 Hefte 1895/96, vgl. auch Voigt u. O. This-

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Anmerkungen zu S. 326—333

sen, Beiträge zur Geschichte des Handwerks in Preußen, Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Anfange des XIX. Jahrhunderts. Hg. F. J . Neumann, VI, Tübingen 1901. 30 Voigt, 2. 31 In Preußen wurden ausgewählt die Regierungsbezirke Danzig (12 Kreise) und Aachen (11 Kreise) sowie die fünf einzelnen Kreise Ober-Barnim, Waidenburg, Kalbe, Einbeck und Solingen. 32 Schmoller, Kleingewerbe, 71 ff. 33 Thissen, 31 ff. 34 Schmoller, Kleingewerbe, 358. 35 Ebda, 361. 36 Ebda, 362 ff. 37 Fischer, Staat I, 290 u. 303. 38 Zahlen für Preußen bei Abraham, 64 u. 87, für Sachsen bei Schmoller, Kleingewerbe, 143 f. 39 Schmoller, Kleingewerbe, 144. 40 Abraham, 64 u. 87. 41 Fischer, Staat I, 303. 42 Schmoller, Kleingewerbe, 144. 43 Ebda, 416, 426, 623, 643. 44 Ebda, 143; Fischer, Staat I, 290. 45 Wie stark es hier auf und ab gehen kann, zeigen die von Schmoller, Kleingewerbe, 380 f. mitgeteilten Zahlen, vgl. auch Abraham, Strukturwandel, 64 u. 87, 46 Abraham, 130. 47 Schröter/Becker, 77 f. u. 224 ff. 48 Ganz ähnlich argumentiert Abraham, 89, in bezug auf das preußische Wagenbauerhandwerk und die Wagenfabriken. Für sie gilt jedoch außer den obigen Argumenten noch, daß sie nachweislich viele branchenverwandte Handwerker wie Stellmacher beschäftigten, deren Zahl ein Vielfaches der eigentlichen Wagenbauer betrug und die daher das von Abraham festgestellte Wachstum der Handwerksgehilfen um 127% der Beschäftigten in den Fabriken um 61 % leicht ausgleichen konnten. (1849 gab es in Preußen nur 671 Wagenbauermeister + Gesellen, dagegen 24 767 Rade- und Stellmacher, gegen 71 000 Tischler und über 21 000 Böttcher, die sehr leicht einen Zuwachs von 506 Gehilfen im Wagenbauerhandwerk und 1000 Beschäftigte in den Fabriken stellen konnten, zumal wenn man berücksichtigt, daß mindestens in den Fabriken auch noch Riemer, Sattler, Drechsler, Schmiede und andere Handwerker beschäftigt waren.) 49 Vgl. Rostow, Leading Sectors and the Take-Off, in: ders., Hg., Economics, 1—21. 50 Neubohm, Entwicklungstendenzen, 25. 51 Η. Bechtel, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, München 1956, 288. 52 In Preußen wurden 1849 die „Lichtzieher" mit den Seifensiedern zusammengezählt. Es gab davon 1369 Meister und 810 Gehilfen, das waren knapp 0,3 % der gesamten Handwerkerschaft! (Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1849, V, 874). Die Berufsgruppe erscheint den meisten Betrachtern so unwichtig, daß sie z. B. weder bei Schmoller, Kleingewerbe, noch bei Abraham behandelt wird. In Baden gab es 1861 noch 249 Seifensieder und Lichterzieher mit 114 Gehilfen, 66 weniger als 1847; Schuhmacher hingegen gab es fast 50mal soviel, R. Dietz, Die Gewerbe im Großherzogthum Baden, Karlsruhe 1863, 29. 53 Charakteristisch dafür ist auch, daß Bechtel, 458, wie viele vor ihm als Ergebnis der von ihm durchaus gesehenen Strukturwandlungen nur eine Tabelle über den „Rückgang der beschäftigten Personen in einigen Handwerkszweigen" mitteilt, nicht aber eine, die den entgegengesetzten Trend nachweist. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

Anmerkungen zu S. 334—345

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54 Auch hier sind wieder viele Qualifikationen anzubringen. So steigen, wie Bechtel, 229, richtig bemerkt, zum Teil schon vor 1849 bzw. 1870 Spezialhandwerke wie die Kürschnerei, Putzmacherei, Hut- und Handschuhmacherei stark an. Ihre absoluten Zahlen sind jedoch so gering, daß sie bei einer Betrachtung des Gesamthandwerks gegenüber den großen Handwerken nicht ins Gewicht fallen. 55 Diesen Vorgang habe ich für Baden in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts genauer untersucht, vgl. Fischer, Staat I, 287 ff.

Die Rolle des Kleingewerbes im wirtschaftlichen Wachstumsprozeß in Deutschland 1850—1914 Hoffmann, 167. Ebda, 13. 3 Ebda, 171 ff. Die Grenzen der Aussagefähigkeit derartiger langfristiger Wachstumsraten des Sozialproduktes, die sich, ganz abgesehen von statistisch-methodischen Problemen, bereits aus der erforderlichen Aggregation heterogener Güterkomplexe ergeben, seien hier lediglich angemerkt. Vgl. u. a. W. Vogt, Gesamtwirtschaftliche Modelle zur empirischen Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung, WA 96. 1966, 248 ff. 4 Ebda, 445 f. u. 33. 5 Ebda, 47, Tab. 8. 6 Ebda, 33, Tab. 6. 7 Ebda, 35 u. 37, Tab. 7 u. 8. 8 Sie ist ausgewertet besonders bei Thissen. 9 Eine gesamtwirtschaftliche Analyse versucht lediglich der Schlußbericht von Voigt, Das deutsche Handwerk, 629—670. 10 Thissen. 11 Die Heimarbeit im rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet. Monographien, hg. im Auftrag des Wiss. Ausschusses der Heimarbeiterausstellung, Frankfurt/M. 1908, 3 Bde, Jena 1909—1914. 12 W. Woytinsky, Die Welt in Zahlen, IV. Buch, 1926, 37. 15 Hoffmann, 212. 14 Ebda, 209. 15 Ebda, 198 f. 18 Ebda, 390 ff. 17 Ebda, 79. 18 Ebda, 80. 19 Allerdings bestehen gerade im Baugewerbe recht unterschiedliche Betriebsgrößenverhältnisse. Die Zahl der Großbetriebe mit mehr als 50 Personen wuchs von 1882 bis 1907 auf das Sechsfache. Der Anteil der in ihnen beschäftigten Personen erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 14 auf 35%. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß ein größerer Teil der zusätzlichen Kraftmaschinenleistung auf die quasi industriell organisierten Bauunternehmen entfiel. Vgl, Woytinsky, 39. 20 A. Noll, Sozioökonomischer Strukturwandel des Handwerks in der zweiten Phase der Industrialisierung. Diss. Münster 1969. 21 Übrigens ist eine Steigerung der Investitionsquote im Zeitraum 1850 bis 1913 auch gesamtwirtschaftlich festzustellen — von unter 10% auf über 15% sowohl in laufenden wie in festen Preisen (Hoffmann, 104). 22 Klatt, Theorie. 23 Hoffmann, 736. Zu den folgenden Zahlen, 730 ff. 1

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Anmerkungen zu S. 345—356 Das deutsche Handwerk im Strukturwandel des 20. Jahrhunderts

1 Die Ergebnisse sind in 9 Bänden auf über 5000 Druckseiten vom Verein für Socialpolitik in den Jahren 1895—97 veröffentlicht worden unter dem Obertitel: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf die Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 62 bis 70 (1895—97). Leiter der Handwerksenquete war K. Bücher, der auch den zusammenfassenden Bericht schrieb und die Konsequenz zog, daß das Handwerk unvermeidlich zum Niedergang bestimmt sei. 2 Ausgewertet bei Voigt, Handwerk, für Preußen außerdem verglichen mit älteren Erhebungen seit 1849 von Thissen. 3 Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft: Das deutsche Handwerk, 4 Bde, Berlin 1930. 4 Die Ergebnisse, die in den amtlichen Werken des Statistischen Bundesamtes, besonders in „Wirtschaft und Statistik" vorgelegt werden, sind besonders von Th. Beckermann vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung in Essen analysiert und interpretiert worden. Seine Arbeiten sind den folgenden Ausführungen sehr wesentlich zugrunde gelegt und dort im einzelnen zitiert. Zu weiteren Arbeiten über das deutsche Handwerk vgl. die vom Handwerkswissenschaftlichen Institut Münster/ Westfalen herausgegebene „Bibliographie des Handwerks", die alle Neuerscheinungen seit 1945 und die Dissertationen seit 1895 erfaßt. 5 Wirtschaft und Statistik 1966, 307; Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1954, 519; 1964, 551; 1966, 148, 548. 6 Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1966, 548. 7 Th. Beckermann, Konjunktur und Konjunkturbeobachtung, in: Das Handwerk in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft, Bad Wörishofen 1966, 86 ff. 8 Ebda. 9 Berechnet nach Wirtschaft und Statistik 1966, 306, Tabelle 1. 10 Th. Beckermann, Das Handwerk — Gestern und Heute, Essen 1959, 11, Übersicht 1. 11 Quelle wie Anm. 9 u. 10. 12 Wirtschaft u. Statistik 1966, 307. 13 Beckermann, Handwerk, 11 (Übersicht 1). 14 Ebda, 39 (Übersicht 5). 15 Ebda, 15 (Übersicht 2). 16 Zu dieser „Gesetzmäßigkeit" s. Hoffmann, Stadien. 17 Beckermann, Konjunktur, 84. 18 Vgl. Beckermann, Handwerk, 10 (Übersicht 1). 19 Ebda, 63. 20 Beckermann, Auslese, 10 ff. 21 Beckermann, Konjunktur, 91. 22 Beckermann, Auslese, 42 ff. 23 Von 1956 bis 1963 ging die Zahl der Inhaber um rund 100 000 = 12 % zurück, die Zahl der Lehrlinge um mehr als 170 000 (—31 % ) , hingegen stieg die Zahl der technischen und kaufmännischen Angestellten um 150 000 oder 85 % (s. Wirtschaft und Statistik 1966, 309, Tabelle 9). 24 Beckermann, Handwerk, 101. 25 Beckermann, Konjunktur, 84. 26 Beckermann, Handwerk, 102 (Übersicht 15). 27 Vgl. etwa die Urteile Schmollers, Büchers, Sombarts und des Vereins für Socialpolitik. Wiedergegeben in: Handwerk im Widerstreit der Lehrmeinungen. Das neuzeitliche Handwerksproblem in der sozialwissenschaftlichen Literatur: Forschungsbericht aus dem Handwerk, Hg. v. Handwerkswiss. Institut Münster, Münster 1960, 24—73.

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Anmerkungen zu S. 356—362

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V. Regionale Studien zur Industrialisierung Ansätze zur Industrialisierung in Baden 1770—1870 1 Erweiterte Fassung eines Vortrages, der am 23. 7. 1959 auf Einladung des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg gehalten wurde. 2 Der Begriff des „Verlages" umfaßt nur die kommerzielle Seite der Produktionsorganisation, Ihm entspricht auf der betrieblichen Seite im allgemeinen die Hausarbeit, gelegentlich auch die Handwerksstätte, doch kann ein Verlag auch eine oder mehrere Manufakturen mit viel Haus- und Handwerksstätten zu einem Unternehmen vereinen. 3 Bücher z. B. im Artikel „Gewerbe" in der 3. u. 4. Aufl. d. HSt, 3. Aufl, IV, Jena 1909, bes. 866; 4. Aufl., IV, Jena 1927, bes. 985; Stieda z. B. im Artikel „Fabrik", ebda, 3. Aufl., IV, 1 ff.; Jahn in seinem Aufsatz; Die Entstehung der Fabrik, Schm. Jb. 69. 1949, 89—116 u. 193—228. 4 HSt, 3. Aufl., IV, 866. 5 Dieser Sammelbegriff „Mechanische Werkstatt" erscheint unzweckmäßig, denn man begibt sich damit der Möglichkeit, die mechanische Werkstatt, wie sie an der Wende des 18. zum 19. Jh. als Vorform der Uhren-, feinmechanischen oder Maschinenfabrik häufig aufkam, als einen besonderen Betriebstyp zu betrachten. Er fehlt denn auch bei den von Jahn erwähnten Frühformen der Fabrik. 6 Bezeichnenderweise kennen die Nationalökonomen, die „Fabrik" in dem oben bezeichneten weiten Sinne gebrauchen, wohl den Terminus „Industrie", nicht aber den der „Industrialisierung". 7 Er wurde nicht, wie oft behauptet wird, von A. Toynbee, dem Älteren, „erfunden", sondern schon lange vor ihm, u. a. auch von Engels, gebraucht. Toynbee hat ihn in seinen „Lectures on the Industrial Revolution" 1882 (new ed. 1908) lediglich in die Geschichtswissenschaft eingeführt. Vgl. dazu: A. Benzanson, Early Use of the Term „Industrial Revolution", QJE 36. 1921/22, 343—449. 8 Eine kurze und prägnante Gegenüberstellung älterer und jüngerer Auffassungen in England und Amerika findet sich in H. Heatons Artikel „Industrial Revolution", ESS 8. 1950, 3 ff. Daß sich die deutsche Nationalökonomie das angelsächsische Verständnis des Industrialisierungsvorganges weithin zu eigen gemacht hat, zeigt die neueste Auflage des HSt (jetzt HSW), das den jeweilgen Stand der Sozialwissenschaften in Deutschland wohl am besten widerspiegelt. Hier ist zum erstenmal das Stichwort „Industrialisierung" enthalten und von W. G. Hoffmann im Sinne einer empirischstatistischen Analyse des Wachstums der Industrieländer dargestellt worden (V. 1956, 224—38). Neuerdings hat sich die deutsche Nationalökonomie auch auf diesem Gebiet in die modelltheoretische Diskussion eingeschaltet, vgl. Klatt, Theorie. 9 Hoffmann, Stadien. 10 H. Linde, Das Königreich Hannover an der Schwelle des Industriezeitalters, Neues Archiv für Niedersachsen, H. 24. 1951, 442. 11 In einem unveröffentlichten Referat vor dem »Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte« in Bad Ems im April 1958. 12 W. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Bad Godesberg 1947, 199 ff. 13 Vgl. u. a. Rostow, Process; ders., Take-off; ders., Stages; D. C. Coleman, Industrial growth and industrial revolution, Economica 36, 1—22; R. M. Solow, A contribution to the theory of economic growth, QJE 70. 1956, 65—94; W. A. Lewis, The theory of economic growth, London 1955. Dt. Die Theorie des Wirtschaftswachstums, Tübingen 1956; Ε. D. Domar, Essays in the theory of economic growth, New York 1957. 13a Mit Baden ist im folgenden, sofern nicht ausdrücklich von der Markgrafschaft Baden die Rede ist, stets der Raum des Großherzogtums Baden gemeint, mit Preußen das Preußen nach 1815.

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Anmerkungen zu S. 362—366

14 Einen guten, wenn auch in Einzelheiten fehlerhaften Überblick gibt; W. Kaiser, Die Anfänge der fabrikmäßig organisierten Industrie in Baden, ZGO NF 46. 1933, 612 bis 633. — Mehr ins einzelne geht mein Buch: Staat I. 15 Für Württemberg vgl. G. Krauter, Die Manufakturen im Herzogtum Wirtemberg und ihre Förderung durch die wirtembergische Regierung in der zweiten Hälfte des 18. Jhs., Diss. Tübingen 1952 (Masch.Schr.). Ein Auszug gedruckt in: Jahrb. f. Statistik u. Landeskunde v. Baden-Württb. 1. 1954/55, 260—277. Für das bayerische Schwaben s. W, Zorn, Grundzüge der Handels- und Industriegeschichte BayerischSchwabens 1648—1870 und Beiträge zur Geschichte des schwäbischen Unternehmertums, 1960. Ein Beispiel aus Norddeutschland ist: D. Herms, Anfänge der bremischen Industrie vom 17. Jh. bis zum Zollanschluß (1888), phil. Diss. Hamburg 1949 (Masch.Schr.). Für andere Territorien sind vor allem Arbeiten aus der Schule F. Lütges zu erwarten. Für Mitteldeutschland hat die marxistische Geschichtsforschung einige bemerkenswerte Beiträge gebracht: Forberger, Manufaktur in Sachsen und Krüger, Geschichte der Manufakturen. Für Baden am besten immer noch E. Gothein, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes u. der angrenzenden Landschaften, Karlsruhe 1892. Für einzelne Manufakturen z. B. W. Stieda, Aus den Anfängen der badischen Fayenceund Porzellan-Industrie, ZGO NF 19, und S. März, Die Fayencefabrik zu Mosbach in Baden. Volkswirtschaftliche und wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen. Hg. W. Stieda, H. 7, 1906. Für das Gebiet der Markgrafschaft Baden befinden sich Manufakturlisten im Generallandesarchiv Karlsruhe (hier im folgenden GLA abgekürzt). 16 Vgl. den populären Überblick »KBC 1753—1953« in: Leuchtende Farben, modischer Druck. Ein Buch vom Entstehen bedruckter Stoffe. Hg. v. der Manufaktur Köchlin, Baumgartner & Cie. AG Lörrach/Baden im 200. Jahr ihres Bestehens. Er beruht auf der gründlichen, leider ungedruckten wissenschaftlichen Firmengeschichte von A. Hottinger, Maschinenschrift im Firmenbesitz. — Umfangreiche Akten befinden sich im GLA Karlsruhe. 17 Aus dem 18. Jh. ausführliche Akten über alle vier Unternehmen im GLA. Zu Mez: Familienchronik im Besitz der Familie und Firma Mez, Freiburg, die mir freundlicherweise ein Exemplar überließ. — J . Kober, Karl Mez. Ein Vorkämpfer für christlichen Sozialismus, Berlin 1892, und W. Fischer, Karl Mez (1808—1877). Ein badischer Unternehmer im 19. Jh., Tradition 1956/57, 26—34 u. 132—142. 18 Akten ebenfalls im GLA Karlsruhe. Zu Eichthal vgl. W. Fischer, David Freiherr v. Eichthal, NDB 4, Berlin 1959, 386. 19 Zur Pforzheimer Industrie vgl. P. Gerstner, Die Entwicklung der Pforzheimer Bijouterieindustrie von 1767—1907, staatswiss. Diss. Tübingen 1908; A. Dissinger, Die Pforzheimer Bijouterieindustrie, Karlsruhe 1925; W. Ruf, Geschichte der Entstehung der Pforzheimer Schmuckwarenindustrie, Düsseldorf 1939. Akten im GLA. 20 Kaiser, 619. 21 Hierzu wie zu allen anderen statistischen Angaben vgl. das 5. Kapitel meines Buches: Staat I. 22 Siehe Stieda, Art. »Fabrik«, HSt IV, Jena 19093, 1 f. 23 Diese Ansätze der napoleonischen Zeit schildere ich ausführlich im 4. Kapitel meines Buches: Staat I, vgl. neuerdings auch F. J . Gemmert, Die Schicksale der Textilfabriken in den säkularisierten Breisgauer Klöstern, Schau-ins-land 77. Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins, Freiburg 1959, 62—89 und den in diesem Band wieder abgedruckten Aufsatz: Die Anfänge der Fabrik von St. Blasien. 24 Vgl. M. Hamburger, Standortsgeschichte der deutschen Baumwollindustrie, Heidelberg 1911; M. Weh, Die Landesgrenze als Standortfaktor untersucht an der oberbadisch-schweizerischen Grenzindustrie, Bonn 1932. Die übrigen Standortfaktoren der badischen Industrien müssen hier außer acht bleiben. 25 Vgl. O. Becker, Die wirtschaftliche Bedeutung der Zuckerfabrik Waghäusel für ihre Umgebung von ihrer Gründung bis auf unsere Zeit, phil. Diss. Heidelberg 1917;

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Anmerkungen zu S. 366—379

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K. Ulrich, Die Frühgeschichte der Rübenzuckerfabrikation in Baden 1799—1840, Die deutsche Zuckerindustrie 32. 1936; 100 Jahre Zuckerfabrik Waghäusel 1837—1937 (Festschrift); R. Mayer, Zuckerrübenbau u. Zuckerindustrie in Baden, phil. Diss. Heidelberg 1939. 26 Statistische Berichte des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Industrie. Endgültige Ergebnisse Oktober 1958, 14 ff. 27 Vgl. dazu die offizielle, auch auf älteres, inzwischen vernichtetes Material des Statist. Landesamtes zurückgreifende Studie: Die Industrie in Baden im Jahre 1925 auf Grund amtlichen Materials mit 16 Karten. Bearb. u. hg. v. Bad. Statist. Landesamt, Karlsruhe 1926. 28 G. Ziegler, Johann Sebastian Clais (1742—1809). Neujahrsblatt der Hülfsgeseilschaft von Winterthur, hg. zum Besten d. hiesg. Waisenanstalten 52 (1915), Winterthur 1914. 29 H. S. Worring, Das Fürstenbergische Eisenwerk Hammereisenbach und die angegliederten Schmelzhütten Ippingen-Bachzimmern und Kriegenthal in den Jahren 1523 bis 1867, Allensbach 1954. 30 Vgl. z. B. GLA 236/6901. 31 Gerstner, 1 ff. 32 Bes. § 23. Reg. Bl. 1808, S. 169. 33 GLA 229/28 854, Forbach. 34 GLA 236/6 552 bzw. 313/1 008. 35 GLA 229/15 103, Bühl. 36 Landrecht für das Großherzogtum Baden nebst Handelsgesetzen, Amtliche Ausgabe, Karlsruhe 1846, 360 ff. Der französische Code de Commerce war in Baden zwar nicht als Ganzes mit dem Code Civil übernommen worden (1810), wohl aber in den Teilen, die die Unternehmungsformen bestimmten. 37 GLA 236/6 464. 38 VI. Konstitutionsedikt § 7 b. 39 GLA 236/5 814. 40 Vgl. F. Hecht, Bankwesen und Bankpolitik in den süddeutschen Staaten 1819 bis 1875, Jena 1880. 41 Verhandig. d. Ständeversamml., 2. Kammer 1843, 10. Beilg. Heft, 31 f. 42 Zur Familie Buhl vgl. Th. Schieders Art. in NDB 3, Berlin 1957, 10 f., dort auch weitere Literatur. 43 Vgl. Anm. 17; Gemmert, 86 ff.; zu C. W. Grether vgl. Bad. Biogr. IV, 160 ff. 44 H. Derwein, Heidelberg im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Ein Stück badischer Bürgergeschichte, Heidelberg 1958. 45 Zusammengestellt nach L. Bauer, Badens Volksvertretung in der Zweiten Kammer, Karlsruhe 1904. 46 E. Gothein, Pforzheims Vergangenheit, Leipzig 1889, S. 56. 47 GLA 237/2 034. 48 GLA 373/Zug. 1908 Nr. 25 Fasc. 225. 40 Vgl. N. Riggenbach, Erinnerungen eines alten Mechanikers, 18903. 50 L. Schmieder, Chronik der Gesellschaft für Spinnerei und Weberei Ettlingen. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des Albtales und zur Geschichte der badischen Textilindustrie. 1836—1936, Karlsruhe 1936. 51 Über Bodmer vgl. den Art. v. P. Schoch-Bodmer in NDB 2, Berlin 1957, 361 f., dort auch weitere Literatur. Neuerdings: W. Fischer, Drei schweizer Pioniere der Industrie. Johann Conrad Fischer 1773—1854, Johann Caspar Escher 1775—1859, Johann Georg Bodmer 1786—1864, Tradition 1958, 215—230. Wieder abgedruckt in diesem Band. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 379—388

52 Vgl. z. B. Karl Ladenburg, Sein Leben und Wirken, von seinen Kindern und Enkeln dargestellt, 1907. Außerdem Bad. Biographien VI, 163 ff. 53 Vgl. A. Kuntzemüller, Die badischen Eisenbahnen 1840—1940, Freiburg 1940. — A. Schaub, Die industrielle Entwicklung der Stadt Lahr, Rechts- u. Staatsw. Diss. Freiburg o. J . (um 1922) Masch. Schr. 54 GLA 236/6 628. 55 GLA 233/18 167. 56 GLA 236/6 883. 57 GLA 236/6 629 u. 6 630. 58 Vgl. das Lebensbild des mitteldeutschen Papiermüllers Keferstein bei Stadelmann/Fischer, Bildungswelt, 117—123. 59 Zu Meßmer vgl. ADB 21, 1885, 500, u. K. Matschoss, Männer der Technik, 175. 60 Vgl. P. Siebertz, Ferdinand Steinbeis. Ein Wegbereiter der Wirtschaft, Stuttgart 1954, u. P. Siebertz, Gottlieb Daimler. Ein Revolutionär der Technik, München 19412. 61 GLA 356 Zug. 1941 Nr. 21. 62 GLA 233/19 178; 237 Zug, 1950 Nr. 11. 63 GLA Cp. 916. 64 Sie behandele ich ausführlich in meinem Buch: Staat. 65 Vgl. dazu das 1. Kapitel ebda. 66 GLA 237/472. 67 GLA 313/978. 68 GLA 391/7 105 u. 237/9 241. 69 Vgl. vorläufig F. Hirsch, 150 Jahre Bauen und Schauen, 2 Bde, Karlsruhe 1928 u. 1932, u. H. Th. Bauer, in: Karlsruhe, Wirtschaftszentrum am Oberrhein, bes. 28 f. 70 Vgl. H. Lehmann, Duisburgs Großhandel u. Spedition vom Ende des 18. Jhs. bis 1905. Duisburger Forschungen. Hg. v. Stadtarchiv Duisburg. 1. Beiheft, DuisburgRuhrort 1958. 71 GLA 237/13 916. 72 Gewerbesteuerordnung, Reg. Bl. 1815, 25 § 3: „Dieses (das Betriebskapital) umfaßt den Wert der ständigen Einrichtungen, welche zur Führung eines Geschäfts an Maschinen, Gerätschaften und Werkzeugen vorhanden sind, und den Wert der Naturund Kunstprodukte, welche sich im Durchschnitt in den im Land befindlichen Magazinen, Speichern und Kellern vorfinden, endlich den Wert der einzelnen Personen zustehenden Gewerbsberechtigungen. Nur das Betriebskapital in dieser Beschränkung, also soweit es seinem ungefähren Betrag nach ohnehin kein Geheimnis sein und nötigenfalls konstatiert werden kann, ist Gegenstand der Gewerbesteuer, wobei niemals das Vermögen, die Aktiva und Passiva und die Geldvorräte in die geringste Betrachtung gezogen werden dürfen." 73 Vgl. vorläufig Bauer, 28 f. 74 L. Schmieder, Chronik der Gesellschaft für Spinnerei und Weberei Ettlingen, 18 f. 75 GLA 237/5 814. 76 GLA 237/12 122. 77 100 Jahre Carl Freudenberg. 1849—1949, bes. 22 ff. 78 Vgl. meine noch ungedruckte Firmengeschichte: Ein Jahrhundert der Landtechnik. Die Geschichte des Hauses Heinrich Lanz 1859—1959. Im Archiv der Firma John Deere AG., Mannheim. 79 100 Jahre Josef Vögele AG. Mannheim 1836—1936. 80 Die Industrie in Baden im Jahr 1925 auf Grund amtlichen Materials mit 16 Karten. Bearb. u. hg. v. Badischen Stat. Landesamt, Karlsruhe 1926. 81 Berechnet nach: Statistische Berichte des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Industrie. Endgültige Ergebnisse Oktober 1958.

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Anmerkungen zu S. 389—403

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Handwerk und Industrie im Markgräflerland 1 Die Daten sind entnommen aus; Die Stadt- und Landkreise Baden-Württembergs in Wort und Zahl. Hg. v. Innen- und Wirtschaftsministerium in Baden-Württemberg, Heft 2 (Müllheim), Februar 1964, Heft 5 (Lörrach), Juni 1964. 2 E. Gothein, Die badischen Markgrafschaften im 16. Jahrhundert, Neujahrsblätter der Bad. Hist. Komm. NF 13. 1910, 51. 3 Das Badische Oberland im Jahre 1785. Reisebericht eines österreichischen Kameralisten mitgeteilt von Bernhard Erdmannsdörffer, Badische Neujahrsblätter, hg. v. d. Bad. Hist. Komm. 3. 1893, 27, 49 u. 35. 4 Gothein, Markgrafschaften, 4. 5 J . B. Kolb, Hist.-statist.-top. Lexikon . . . I, 186. 6 Ε. Gothein, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Land­ schaften, Straßburg 1892, 426 f. 7 Zum folgenden G. Spies, Hafner und Hafnerhandwerk in Südwestdeutschland, Tübingen 1964, bes. 19 f., 38 f. 8 Gothein, Markgrafschaften, 8 u. 85. 9 Spies, 20. 10 Ebda, 38. 11 Ebda, 87. 12 J . B. Kolb, Lexikon I, 186. 13 Universallexikon, 623. 14 W. L. Volz, Gewerbekalender für das Jahr 1834, Karlsruhe (o. J.), 15. 15 Fischer, Staat, 290. 16 Ebda, 303. 17 Volz, Gewerbekalender, 10—27. 18 Gothein, Wirtschaftsgeschichte, 527. 19 Gothein, Markgrafschaften, 86. 20 Gothein, Wirtschaftsgeschichte, 528. 21 Ebda, 529; ders., Markgrafschaften, 87. 22 Gothein, Wirtschaftsgeschichte, 724. 23 Ebda, 725 f. 24 Ebda, 726. 25 Ebda, 726 f. 26 R. Dietsche, Die industrielle Entwicklung des Wiesentales bis zum Jahre 1870, Basel 1937, 32 f. 27 Die Industrie in Baden, hg. v. Bad. Statist. Landesamt 1925, 6 f. u. 170. 28 Industrie, 168. 29 Oberland, 35. 30 Industrie, 191. 31 Ebda, 57. 32 Fischer, Mez, 26—34 u. 132—143. 33 Fischer, Staat, 276. 34 Universallexikon v. d. Großherzogtum Baden, 1843, 623 f. 35 Ebda, 515. 36 Ebda, 853. 37 Gothein, Wirtschaftsgeschichte, 657 f. 38 Dietsche, Entwicklung, 251 f. 39 Ebda, 51. 40 Verhandlungen der Ständeversammlungen des Großherzogtums Baden. II. Kammer 1833, Bd. I, 236 ff., 264ff.;Bd. II, 299 u. 316 ff.; Bd. III, 7 ff.; Bd. IV, 44 ff., 253 ff., 1. Beilage 158 ff., 2. Beilage 44 ff., 201 ff., 3. Beilage 212 ff. 41 GLA Karlsruhe 237/12 401.

34 Fischer, Wirtschaft

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Anmerkungen zu S. 403—417

GLA 237/12 394. A. F. Regenauer, Der Staatshaushalt des Großherzogtums Baden, Karlsruhe 1863, 395 f. 44 Industrie, 67. 45 Schützger, Die oberbad. Baumwollindustrie, 76; Dietsche, Entwicklung, 65 f. 46 Industrie, 66. 47 J . B. Kolb, Lexikon v. d. Großh. Baden 1814, Bd. II, 76. 48 GLA 236/6751; 237/12091 und 12094; 313/1024. 42

43

Die Anfänge der Fabrik von St. Blasiert (1809—1848) 1 Vgl. W. Kaiser, Anfänge, 612 ff., u. Fischer, Ansätze, wieder abgedruckt in diesem Band. 2 Das Folgende fußt wesentlich auf dem 4. Kapitel meiner Habilitationsschrift: Staat. 3 Die Akten über die Fabrik in St. Blasien, auf denen die folgende Darstellung beruht, finden sich im GLA Karlsruhe, vor allem 65/Nr. 494; 76/916; 175/22, 23, 28, 29, 30, 38, 45; 236/6790; 237/9241; 313/1024; 373/Zug. 1908 Nr. 25 Fasc. 228 a; 391/2433, 5701, 5702, 7105, 19827, 26776, 26777. Kurze Darstellungen geben J . B. Trenkle, Geschichte der Schwarzwälder Industrie u. Fritz Hirsch, 100 Jahre Bauen und Schauen, Karlsruhe, II, 1932, 337 ff. Zitat: GLA 391/19827. 4 GLA 391/26776. 5 Der Bericht, »geschrieben auf der Reise von St. Blasien nach Lahr vom 11. bis 13. November 1809«, befindet sich GLA 391/St. Blasien 26777. 6 D. Brownlie, John Georg Bodmer, his life and work, particularly in relation to the evolution of mechanical stoking. Transactions of the Newcomen Societ for the Study of the History of Engineering and Technology, VI. 1926, 86—110; F. Gsell, Die Bedeutung Johann Georg Bodmers für den Werkzeugmaschinenbau. Im Erinnerungsblatt an die Gedenkfeier Johann Georg Bodmer 1786—1864. Zürich, 30. Mai 1939, 29 ff. 7 GLA 391/5701. 8 Eine Abschrift aus den Akten der Fabrik St. Blasien fertigte Oberamtmann Weiß 1874 in seiner sechsbändigen handschriftlichen Geschichte St. Blasiens an. Weiß stellte damals alle Urkunden und Akten, deren er habhaft werden konnte, zusammen und befragte dazu zwanzig ältere Einwohner, die z. Τ. den letzten Abt noch gekannt, den Auszug der Mönche und die Gründung der Fabrik miterlebt, manche auch in ihr von früher Jugend an gearbeitet hatten. Seine Notizen, durch eigenen Augenschein ergänzt, sind eine wichtige Quelle für die Geschichte der Fabrikanlagen in St. Blasien. Sie befinden sich im GLA Abt. 65 (Handschriften), Nr. 494. • Kopie GLA 65/494, I., 40 ff. 10 GLA 391/5701 K. H. Frhr. v. Fahnenberg, ein Mitglied der Kommission, veröffentlichte Teile des Gutachtens zusammen mit einem Überblick über die früheren Gutachten Gerers und v. Langsdorfs in seinem Magazin für die Handelsgesctzgebung und Finanzverwaltung Frankreichs und der Bundesstaaten IV, 1813, 64—76. 11 Bericht vom 18. November 1820 GLA 391/5702. 12 21. März 1819 ebda. 13 2. Dezember 1818 ebda. 14 Kommissionsbericht vom 20. November 1816 GLA 391/5701. 15 Bad. Merkur 1831, 2. 16 Vgl. dazu das 6. Kapitel meines Buches: Staat. 17 GLA 391/5702. 18 Abschrift bei Weiß GLA 65, Nr. 494, I, 192 ff. 19 Ebda, 194. 20 GLA 175/22 u. 23.

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Anmerkungen zu S. 419—432 21 22 23 24 25 26

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GLA 236/6707. GLA 391/7105. GLA 237/9241. GLA 313/1024. GLA 65, Nr. 494, II, 198 ff. GLA 76/916. Drei Schweizer Pioniere der Industrie. Johann Conrad Fischer (1773—1854) Johann Caspar Escher (1775—1859), Johann Georg Bodmer (1786—1864)

1 Eschers „Briefe aus England" erschienen in den „Zürcherischen Beyträgen zur wissenschaftlichen und geselligen Unterhaltung" 1—3, Zürich 1815/16. — Fischers „Tagebuch einer im Jahr 1814 gemachten Reise über Paris nach London und einigen Fabrikstädten Englands vorzüglich in technologischer Hinsicht" erschien 1816 in Aarau. Wiederabgedruckt in: J . C. Fischer, Tagebücher, Hg. K. Schib, Schaffhausen 1951, 61—191. — Bodmers Tagebuch wurde veröffentlicht von H. und P. Schoch-Bodmer: Ein Tagebuch von Johann Georg Bodmer (1786—1864) aus den Jahren 1816/17 nebst biographischen Notizen. Beiblatt 25 zur Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 81. 1936. 2 Zürcherische Beyträge I, 102; Schoch-Bodmer, 9. 3 Zürcherische Beyträge II, 100; Schoch-Bodmer, 18. 4 J . C. Fischer, 86, 92, 96. 5 Zürcherische Beyträge I, 106. 6 Zu J . C. Fischer vgl. die Biographie von K. Schib und R. Gnade, die 1954 innerhalb der „Schriftenreihe zum hundertfünfzigjährigen Bestehen der G.-Fischer-Werke" in Schaffhausen herausgegeben worden ist. Die gleiche Schriftenreihe enthält auch eine Geschichte der Firma „150 Jahre G.-Fischer-Werke 1802—1952", Schaffhausen 1952. Eine biographische Skizze bei Stadelmann/Fischer, Bildungswelt, 158—167. — Zu Escher vgl. besonders das Lebensbild von A. Mousson im XXXI. Neujahrsblatt zum Bestendes Waisenhauses in Zürich, 1868. Die Geschichte der Firma Escher & Wyß ist dargestellt in der Festschrift: 150 Jahre Escher Wyß 1805—1955. Ausführlicher bei Franz H. Hoigne, Gründung und Entwicklung der Spinnerei und Maschinenfabrik Escher Wyß & Cie. 1805—1859. Zürich 1916. — Die Biographie Bodmers schrieben H. und P. Schoch-Bodmer in der großen „Geschichte der Familie Bodmer von Zürich 1543—1943" v. F. Stucki, hg. v. Bodmer-Familienfonds, Zürich 1942. Dort auch weitere Literatur. 7 J . C. Fischer, 261 f. 8 Ebda, 263 f. 9 Ebda, 287. 10 Ebda, 274. 11 H. C. Escher zum Felsenhof. Biographische Skizze, seinen Freunden, Gehülfen und Arbeitern gewidmet (Anonym.), Zürich 1859, 13. 12 Über die Vorfahren J . G. Bodmers s. F. Stucki, Geschichte der Familie Bodmer, 95 ff. 13 Ebda, 148. 14 W. v. Wartburg, Zürich und die Französische Revolution. Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 60, Basel 1956, 22. Vgl. P. Guyer, Die soziale Schichtung der Bürgerschaft Zürichs vom Anfang des Mittelalters bis 1798. Kleine Schriften des Stadtarchivs Zürich, H. 5, Zürich 1952. 15 Den Eindruck, den er bei den Bürgern St. Blasiens im Schwarzwald machte, schildert 50 Jahre später Oberamtmann Weiß in seiner Zusammenstellung zur St. Blasischen Geschichte. GLA Karlsruhe, 65, Nr. 494, I, 197. Auch die Gutachten der nach St. Blasien entsandten Regierungskommission erwähnen das Disharmonische seiner Person; ebda 391, Fasz. 5701.

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Anmerkungen zu S. 432—445

Schoch-Bodmer, 11, 17, 12. Stucki, 151. Vgl. A. Bürkli-Meyer, Geschichte der zürcherischen Seidenindustrie vom Schluß des 13. Jahrhunderts bis in die neuere Zeit, Zürich 1884. 19 S. die in der Firmengeschichte 150 Jahre Escher Wyß, 4, zit. Briefe A. Eschers. 20 Zum folgenden s. Mousson, Lebensbild, 9 ff. 21 Eschers Tagebücher sind nur zum geringeren Teil in Auszügen in Moussons Lebensbild veröffentlicht worden. Die unveröffentlichten befinden sich im Familienbesitz »Zur Schipf«, Herrliberg bei Zürich. (Nach freundlicher Auskunft von Herrn Prof. H. v. Meyenburg, dem Hüter des Nachlasses.) 22 Vgl. W. v. Wartburg, Zürich und die Französische Revolution, 22 f. 23 J. C. Fischer, 204 f. 24 Ebda, 334. 25 Ebda, 205. 26 Ebda, 707. 27 K. Schib u. R. Gnade, 133. 28 Ebda, 13 ff.; vgl. K. Schib, Geschichte der Stadt Schaffhausen, Thayngen-Schaffhausen 1945, u. K. Schib, Die Zunftstadt und der Stadtstaat Schaffhausen, Die Schweizerische Industriegesellschaft Neuhausen 1853—1953. 29 Schib u. Gnade, 132 f. 30 Der Schweizerische Courier, Nr. 18 vom 1. 3. 1850, 85. Vgl. Schib u. Gnade, 191 f. 31 J . C. Fischer, Biographische Notizen 1854 in: Tagebücher, 769 ff. Vgl. Stadelmann/Fischer, Bildungswelt, 159 f. 32 C. H. Vogler, Der Künstler und Naturforscher Lorenz Spengler aus Schaffhausen. 8. Neujahrsblatt des Kunstvereins und des Histor. Antiquar. Vereins zu Schaffhausen 1898, 22, Anm. I. Vgl. J . C. Fischer, Tagebücher, 798. 33 Mousson, Lebensbild, 22. 34 Über St. Blasien, die älteste deutsche Maschinenfabrik, vgl. F. Hirsch, 100 Jahre Bauen und Schauen, Karlsruhe, II, 1932, 337 ff. u. den in diesem Band wieder abgedruckten Aufsatz, „Die Anfänge der Fabrik von St. Blasien". 35 Stucki, 139. 16 17 18

Karl Mez (1808—1877). Ein badischer Unternehmer im 19. Jahrhundert 1 J . Kober, Karl Mez. Ein Vorkämpfer für christlichen Sozialismus, Basel 1892. — Bald nach seinem Tode erschienen zahlreiche Nachrufe in Zeitungen und christlichen Blättern, 1892 im Missionsverlag C. F. Spittler in Basel das Lebensbild von Johannes Kober, das aus einer genauen persönlichen Kenntnis geschrieben ist und seinen umfangreichen Briefnachlaß benutzt. Ein kurzer Abriß in: Badische Biographien III, 82 ff. 2 Verhandlungen der Ständeversammlung des Großherzogtums Baden 1847/48, I, 188. 3 Verhandlungen I, 269. 4 In seinem Entwurf einer Familienchronik. 5 Brief vom 25. 3. 1856, mitgeteilt von Kober, 197 ff. 6 Brief vom 29. 4. 1856, ebda, 201 ff. 7 Wigard, Stenogr. Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Frankfurt 1849, IX, 6831. 8 Offizieller Bericht über die Verhandlungen zur Gründung eines deutschen Parla ments. Frankfurt, 31. 3. 1848, 3. 9 F. D. Bassermann, Denkwürdigkeiten, Frankfurt 1926, 100. 10 K. C. Mez (1747—1816), der Begründer der Firma Mez, hat kurz vor seinem Tode seinen Lebenslauf eigenhändig niedergeschrieben, Karl Mez, sein Enkel, 1841 eine

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Anmerkungen zu S. 445—461

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Familienchronik begonnen. Beide sind wiedergegeben in einem hektrographierten Manuskript zum Stammbaum der Familie Mez von Kommerzienrat Hans Mez (gest. 1954), das mir die Firma Mez, Freiburg, freundlicherweise zur Verfügung stellte, wofür ihr herzlich gedankt sei. Vgl. auch Kober, 50 ff. 11 Kober, 57. 12 Über die Breisgauer Granatschleifereien, vgl. H. Trimborn, Ein Beitrag zur österreichischen merkantilistischen Gewerbepolitik am Beispiel der Borer und Balierer zu Freibure und Waldkirch, Diss. Freiburg 1940, u. Fischer, Handwerksrecht, 88 ff. 13 Zur Entwicklung der Firma, vgl. die Festschrift: 150 Jahre Mez AG., Freiburg 1785—1935, Freiburg 1935. 14 Vgl. R. Dietz, Die Gewerbe im Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1863, 478 f.; F. Kistler, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Baden 1849—1870, Freiburg 1954, 93. Die Arbeiterzahl betrug 1863: 700, 1867: 1000, 1869: 1200. 15 Kober, 101. 16 Der Bericht ist abgedruckt bei Kober, 71 ff. 17 Die Denkschrift von 1857 ist teilweise abgedruckt bei R. Dietz, Die Gewerbe im Großherzogtum Baden, 328 ff., u. bei Kober, 94 ff. 18 Kober, 183. 19 Ebda, 72. 20 Ebda, 84. 21 Ebda, 82. 22 Der Entwurf ist, leider undatiert, abgedruckt bei Kober, 92. 23 Ebda, 79. 24 Verhandlungen der Ständeversammlung des Großherzogtums Baden 1847/48, VI, 159. 25 Abgedruckt bei Kober, 11. 26 Ebda, 13. 27 Verhandlungen der Ständeversammlung des Großherzogtums Baden 1848/49. 8. Beilagenheft, 249 ff. Wieder abgedruckt bei Kober, 213 ff. 28 Gewerbe = Handwerk. 29 Kober, 5. 30 Bassermann, Denkwürdigkeiten, 100. 31 Am 25. 7. 1848 trägt er in sein Tagebuch ein; „Posensche Frage. Meine Ansicht: Posen soll wie bisher bei Preußen bleiben; förmlich einverleiben wollen wir es nicht, weil wir so die polnische Nationalität vernichtet würden." Kober, 28. 32 Mez hatte, als der Magistrat samt dem Regierungspräsidenten beim Herannahen der Preußen geflohen war, im Namen des Gemeinderats die Stadtverwaltung übernommen. Als dann der „Kartätschenprinz" auf dem Rathaus mit dem schnell wiedergekehrten Regierungspräsidenten verhandelte und den Stadtrat draußen stehen ließ, ließ Mez ihm melden, der Gemeinderat von Freiburg habe seine Pflicht getan und sei nicht gewöhnt, vor der Tür zu warten. Die Antwort war seine Entlassung aus dem Rat der Stadt. 33 Kober, 8 f. 34 In einem Brief vom 27. 11. 1863 schreibt er: „ . . . Sie werden Dich doch nicht wieder in die Kammer bringen! In diese lasse ehrgeizige, aber weise und besonnene Männer gehen! Du aber treibe das Reich Gottes und sein Wort . . ." Kober, 41. 35 Ebda, 122 ff. 36 Diese Stiftung, »Ev. Stift« genannt, besteht heute noch am alten Platz, zum Wohl von mehr als 400 alten und jungen, kranken und gesunden Menschen. 37 Ebda, 64 u. 5. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35951-9

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Anmerkungen zu S. 462—473 „Stadien und Typen" der Industrialisierung in Deutschland. Zum Problem ihrer regionalen Differenzierung

1 Hoffmann, Stadien, revidierte engl. Übers.: The Growth of Industrial Economics, Manchester 1958. 2 Rostow, Stages. 3 Z. B. S. Kuznets, Modern Economic Growth. Rate, Structure and Spread, NewHaven 1966; Gerschenkron, Backwardness. 4 C. Clark, Conditions of Economic Progress, London 19573; J. Fourastié, Le Grand Espoir du XXe Siècle. Progrès Technique — Progrès Économique — Progrès Social, Paris 19523; ders., Machinisme et Biet-Être. Niveau de Vie et Genre de Vie de 1700 a Nos Jours, Paris 1962. 3 W. N. Parker, Old Wine in New Bottles: A Review of the Cambridge Economic History, JEH 21, 1966, 99—106,bes.101. 6 Hoffmann, Wachstum. Ausführlicher erläutert S. Kuznets seine Entscheidung, als Einheit den Nationalstaat zugrunde zu legen: Kuznets, Growth, 16—18. 7 Schmoller, Kleingewerbe, 138. 8 Zusammengestellt nach Blaschke, 190 f. Die Zahlen für 1843 sind extrapoliert. • Ebda, 232. 10 G. Heitz, Ländliche Leinenproduktion in Sachsen 1470—1555, Berlin 1961, 48 f. 11 Z. B. dem Zürcher Oberland. Siehe Braun, Industrialisierung. 12 R. Gross, Die bürgerliche Agrarreform in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Untersuchung zum Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in der Landwirtschaft, Weimar 1968, 41. 13 Ebda, 43. 14 Ebda, 55. 15 Vgl. dazu H. Barkhausen, Staatliche Wirtschaftslenkung und freies Unternehmertum im westdeutschen u. im nord- u. südniederländischen Raum bei der Entstehung der neuzeitlichen Industrie im 18. Jahrhundert, VSWG 45, 1958. 16 E. Kirsten, W. Buchholz, W. Köllmann, Raum u. Bevölkerung in der Weltgeschichte, Würzburg 1955, II, 159, 219. 17 K. Horstmann, Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung in Minden-Ravensberg, Lippe u. Osnabrück im ersten u. zweiten Drittel des 19. Jhs., in: Raumordnung im 18. Jahrhundert (1. Teil), Historische Raumforschung 5, Hannover 1965, 99 f. 18 H. Blumberg, Die deutsche Textilindustrie in der industriellen Revolution, Berlin 1965, 55. 19 Vgl, dazu H. Blumberg, Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Leinenindustrie von 1834 bis 1870, in: Mottek/Blumberg/Wutzmer/Becker, Studien zur Geschichte der Industriellen Revolution in Deutschland. Berlin 1960, bes. 137 f. 20 J . Habakkuk, Historial Experiences of Economic Development, in: E. A. G. Robinson, Hg., Problems in Economic Development, London 1965, 119. 21 Horstmann, 109. 22 Blaschke, Industrialisierung u. Bevölkerung in Sachsen im Zeitraum von 1830 bis 1890, in: Raumordnung im 19. Jahrhundert, 93.

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Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte I. 1 Ökonomische u. soziologische Aspekte der frühen Industrialisierung. Stand u. Aufgaben der Forschung, in; W. Fischer, Hg., Wirtschafts- u. Sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin: Colloquium Verlag 1968, 1—20. I. 2 Stadien wirtschaftlichen Wachstums, ZfGS 118. 1962, 511—16. Die anderen Besprechungen erschienen ebda u. in der VSWG. I. 3 Die Wirtschaftsgeschichte in den Vereinigten Staaten von Amerika. Bemerkungen zu ihrem gegenwärtigen Stand u. ihren Entwicklungstendenzen, ZfGS 119. 1963, 377—404. II. 1 Das Verhältnis von Staat u. Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung, Kyklos 14. 1961, 337—63. II. 2 Planerische Gesichtspunkte bei der Industrialisierung in Baden, in: Raumordnung im 19. Jahrhundert, 1. Teil, Hannover: Gebr. Jänecke Verlag 1965, 117—26. II. 3 Staat u. Gesellschaft Badens im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848. Hg. W. Conze, Stuttgart: Klett-Verlag 1962, 19702, 143— 71; Literaturergänzung in der 2. Aufl. 274—75. IL 4 The German Zollverein. A Case Study in Customs Union, Kyklos 13. 1960, 65—89. IL 5 Der Deutsche Zollverein, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft u. die Freihandelszone. Ein Vergleich ihrer Motive, Institutionen u. Bedeutung, Europa-Archiv 16. 1961, 105—14. IL 6 Das wirtschafts- u. sozialpolitische Ordnungsbild der preußischen Bergrechtsreform 1851—1865, ZfB 102. 1961, 181—89. IL 7 Die Stellung der Preußischen Bergrechtsreform von 1851—1865 in der Wirtschafts- u. Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts, ZfGS 117. 1961, 522—34. IL 8 Die Bedeutung der preußischen Bergrechtsreform (1851—1865) für den industriellen Ausbau des Ruhrgebiets, Dortmund: Ardey-Verlag 1961, 5—28. II. 9 Konjunkturen u. Krisen im Ruhrgebiet seit 1840 u. die wirtschaftspolitische Willensbildung der Unternehmer, Westfälische Forschungen 21. Köln 1968, 42—53. II. 10. Staatsverwaltung u. Interessenverbände im Deutschen Reich 1871—1914, in: C. Böhret, D. Grosser, Hg., Interdependenzen von Politik u. Wirtschaft. Fs. G. v. Eynern, Berlin: Duncker & Humblot 1967, 431—56. III. 1 Arbeitermemoiren als Quellen für Geschichte u. Volkskunde der industriellen Gesellschaft, Soziale Welt 9. 1958, 288—98. III. 2 Social Tensions at Early Stages of Industrialization, Comparative Studies in Society and History 9. 1966, 64—83. III. 3 Soziale Unterschichten im Zeitalter der Frühindustrialisierung, International Review of Social History 8. 1963, 415—35. III. 4 Innerbetrieblicher u. sozialer Status der frühen Fabrikarbeiterschaft, in: Die wirtschaftliche Situation Deutschlands und Österreichs um die Wende vom 18. zum 19. Jh. Hg. F. Lütge, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1964, 192—222. IV. 1 Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Aus der Einleitung des Herausgebers im gleichnamigen Buch, Göttingen 1957, 7—21. IV. 2 Die rechtliche u. wirtschaftliche Lage des deutschen Handwerkers um 1800, in: R. Stadelmann u. W. Fischer, Die Bildungswelt des deutschen Handkwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes, Berlin: Duncker & Humblot 1955, 94—116.

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Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte

IV. 3 Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, ZfGS 120. 1964, 687—712. IV. 4 Die Rolle des Kleingewerbes im wirtschaftlichen Wachstumsprozeß in Deutschland 1850—1914, in: Wirtschaftliche u. soziale Probleme der gewerblichen Entwicklung im 15./16. u. 19. Jahrhundert, Hg. F. Lütge, Forschungen zur Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte Bd. 10, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1968, 131—42. IV. 5 Das deutsche Handwerk im Strukturwandel des 20. Jahrhunderts. W. Fischer u. P. Czada, Wandlungen in der deutschen Industriestruktur im 20. Jahrhundert. Ein statistisch-deskriptiver Ansatz, in: G. A. Ritter, Hg., Entstehung u. Wandel der modernen Gesellschaft. Fs. H. Rosenberg, Berlin: de Gruyter 1970, 116—65. V. 1 Ansätze zur Industrialisierung in Baden 1770—1870, VSWG 47. 1960, 186 bis 231. V. 2 Handwerk u. Industrie im Markgräflerland, Das Markgräflerland. Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur. Hg. v. H. Müller, Bühl/Baden: Verlag Konkordia 1969, 190—204. V. 3 Die Anfänge der Fabrik von St. Blasien (1809—1848). Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Industrialisierung, Tradition 7. 1962, 59—78. V. 4 Drei Schweizer Pioniere der Industrie: Johann Conrad Fischer 1773—1854, Johann Caspar Escher 1775—1859, Johann Georg Bodmer 1786—1864, Tradition 2. 1958, 215—30. V. 5 Karl Mez (1808—1877). Ein badischer Unternehmer im 19. Jahrhundert, Tradition 1. 1957, 26—34; 2. 1957, 132—43. V. 6 „Stadien und Typen" der Industrialisierung in Deutschland. Zum Problem ihrer regionalen Differenzierung. Vortrag 1970 in Lyon gehalten, erscheint 1972 in: Actes du Colloque International du C. N. R. S. "L' Industrialisation en Europe au XIXe Siècle", Hg. Pierre Léon.

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Personen- und Namenregister Achenbach, Heinrich von 140 f., 153 Adam, Paul 294 Aitken, Hugh 47 Albert, Charles 414 f., 417 Alldeutscher Verband 212 Allgemeiner Deutscher Handels- und Gewerbeverein 113 Arndt, Paul 342 Badische Bank 373 Badische Gesellschaft für Zuckerfabrikation 367, 373, 380, 409 Badischer Bergwerksverein (früher Kinzigtaler Bergwerksverein) 379 f. Badischer Industrieverein 71, 378 Badisches Statistisches Landesamt 402 Ballin, Albert 203 f. Bally (Seidenfabrik, Säckingen) 378 Baiser, Frolinde 25 Bank von Preußen 70, 112 Baseler Missionsgesellschaft 461 Baseler Traktatverein 461 Bassermann, Friedrich Daniel 88, 105 f., 377, 386, 446 f., 457 Baumwollmanufaktur Waldkirch 371 Bebel, August 217, 293, 296, 302, 311 f. Bechstedt, Wilhelm 288 Bechtel, H. 140, 333 Beckermann, Theodor 355 Bekk, Johann Baptist 88, 97, 102, 105 Benckiser, Gebr. 367, 369, 372, 386 Bergamt Bochum 150, 170 Bergamt Essen 150, 167 Berill, Kenneth 20 Bernoulli & Rowlandson, Immendingen 367, 379 Berstett, Wilhelm Ludwig Freiherr von 88 Bethmann, Gebr. 387 f. Beutin, L. 362 Bilderbeck, Ludwig Freiherr von 366, 375 Birley & Co. 441 f. Bismarck, Otto von 62, 156, 211 Black & Consorten 382 Bleichröder, Gerson von 203 f.

Blittersdorff, Friedrich Freiherr von 88 f., 103 Bloch, Marc 51 Bodmer, Johann Georg 80, 264, 371, 379, 382 f., 409 ff., 428 ff., 432 Böiger, Markus 378 Borchardt, Knut 338 Born, Stephan 221, 293 Borsig, August 68, 313, 331 Bosch, Robert 452 Boulton & Watt 428 f. Bräker, Uli 216, 246 f., 290 f. Brassert, Hermann 140 ff., 153 f. Brauer, Johann Friedrich 101 Brenneisen, Reinhard 366 Brepohl, Wilhelm 214, 222 Bromme, Moritz William Theodor 220 Brunner, Otto 51, 60 Bücher, Karl Wilhelm 45, 341, 360 Bülow, Bernhard Fürst von 202 Buhl, Familie 107, 365, 372, 376, 380, 382 f., 414 Buhl, Florian (1783—1846) 367, 376, 387 Buhl, Franz Albert Martin (1751—1815) 376 Buhl, Franz Anton Christoph (1779 bis 1844) 88, 366, 376, 387, 405, 413, 417 Buhl, Franz Anton Christoph (1808 bis 1862) 88, 100, 106, 376 f. Bundesbahn 199 Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) 199 Bund der Landwirte 197 f., 200 f., 205, 207 f. Butzbach, Johannes 287, 290 Camphausen, Ludolf von 71 Caprivi, Leo Graf von 202 Carlyle, Thomas 232 Carnegie Foundation 57 Centralverband Deutscher Industrieller 197 f., 201, 205, 208 von Christmar & ten Brink (Spinnerei u. Weberei, Arien) 378 Clais, Johann Sebastian 370 Clapham, John H. 46

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Personen- und Namenregister

Clark, Colin 34, 464 Clemm, Karl 384 Codiran, Thomas C. 49 Cole, Arthur H., 21, 47, 57 Collegium theologicum 103 Committee on Economic Growth 57 Committee on Research in Economic History 57 Comte, August de 464 Conze, W. 235 Cornelius, Franz 372, 377 Cotton- u. Indiennefabrique Küpfer, Lörrach 363, 404 Council on Research in Economic History 57 Dahlmann, Friedrich Christoph 142 Dahrendorf, Ralf 24, 259, 283 Daimler, Gottlieb 68, 382 Deane, Phyllis 20 f. Delbrück, Rudolf 202 Denning, August 106, 377 Derwein, Herbert 377 Deutscher Landwirtschaftsrat 196 Deutscher Flottenverein 197 Deutscher Handelstag 195 Deutscher Handels und Gewerbeverein 131 Deutscher Kolonialverein 197 Deutscher Tempel 461 Dewald, Johann Eberhard 288 ff. Die Knappschaft (Verlag) 217 Diest-Daber, Otto von 201 Dieterici, Wilhelm 26, 296, 319 Dietz, Johann 287, 296, 303, 310 Disconto-Gesellschaft 204 Döbel, Christoph Ernst 289 Dollfuss & Mieg (Indiennefabrik) 378 Drais, Freiherr von 383 Düggli (Gewehrfabrik, St. Blasien) 379 Eberhard-Frowein-Verlag 217 Ehrenberg, Richard 47, 273, 276, 278 Eichthal, Freiherr von s. Seligmann d'Eichthal, Louis Baron 415 Eisenwerk Albbruck 365 Engel, Ernst 296, 319 Engels, Friedrich 456 Ernst, Paul 221, 292, 310 Eschenburg, Theodor 202 Escher, Johann Caspar 428 ff. Escher & Wyß 428 f., 441

Ettlingen, Spinnerei . . . s. Spinnerei und Weberei Ettlingen Eucken, Walter 362 Euler, Leonhard 439 Evangelischer Jünglingsverein (Freiburg) 462 Evangelisches Stift (Freiburg) 462 Fairbairn, William 430 Fichte, Johann Gottlieb 459 Finkenstein (Tuchfabrik, Pforzheim) 377 386 Fischer, Franz Louis 217 Fischer, Johann Conrad 290, 428 ff. Fischer, Karl 217, 219 f., 292 f., 302, 311 Flottenverein 212 Ford Foundation 57 Fourastié, Jean 464 Franklin, Benjamin 447 Freudenberg, Carl 382, 388 Freyer, Hans 24, 259 Friedrich d. Große 69, 166, 300, 428 Friedrich Wilhelm II. 166 Fries (Krappfabrik) 386 Fuchs, H. 368 Fürst von Fürstenberg 369 f. Fürstlich Fürstenbergisches Hammerwerk 449 Galler, Graf Niklas von 393, 402 Gamp, Karl 205 f. Gehres (Knopffabrik, Grötzingen) 384 Geiger, Theodor 24, 259, 283 Geigy (Spinnerei u. Weberei, Steinen) 378, 401 Gerer, Oberforstmeister 410 f., 413 ff. Gerschenkron, C. Alexander 35 ff. Gewerbeinstitut in Berlin 68 Glashütte Äule 408 Göhre, Paul 216 f., 222 Goethe, Johann Wolfgang von 216, 218, 291 Görger, Louis 387 Gollwitzer, Heinz 141 Gothein, Eberhard 140, 393 f., 397 Gottschalk, Ernst F. 88, 376, 401 Gottschalk, Johann F. 376 Grasselli, Johann 366 Grether, Carl Wilhelm 376, 401, 405 Grether, Joh. Friedr. 376 Grether und Gottschalk in Schopfheim 107

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Personen- und Namenregister Griessbach, Chr. 377, 385 Gritzner (Maschinenfabrik Durlach) 401 Groß, Emanuel 287 Grossmann, Gebr. (Spinnerei u. Weberei Brombach) 378, 401 Grumbach, F. 338 Gruner, Justus 161 Gubitz, F. W. 292 Gülich & Finkenstein (Wolltuchmanufaktur, Pforzheim) 363 Guggenheim Foundation 57 Gußstahlfabrik Krupp s. Krupp Gutehoffnungshütte 187, 274, 387 Habakkuk, H. J . 38 ff., 472 Haber, Louis 378 Haber, S. v. 105, 379, 385, 387 Haid & Neu (Nähmaschinenfabrik, Karlsruhe) 368, 382 Haller, Albrecht von 439 Handlungsgehilfenverband 198 Haniel, Franz 74, 152, 173 f., 387 Haniel & Huyssen 387 Hansabund 212 Hansemann, Adolph von 204 Hansemann, David 70 f. Hansjakob, Heinrich 292 Hardenberg, Karl August 167 Harkort (Maschinenfabrik, Wetter a. d. R.) 152, 331 Hartung, Fritz 94 Harvard Center in Research in Entrepreneurial History 57 Hasel A.G., Mechanische Baumwollweberei 450 Hecker, Friedr. 105, 446, 457 f., 461 Heinitz, Friedrich Anton Freiherr von 166, 173 Heintze, Heinrich 377, 388 Heintze & Freudenberg 377 Helbing, Karl 88, 100, 107, 366, 376, 402 Henckel von Donnersmarck, Graf 203 Henderson, W. O. 127, 132 Herosé, A.G. 363, 378 Herosé, Gabriel 366, 408 Hesse, Helmut 338 Heydt, August Freiherr von der 71, 152 Hibernia 156, 205, 208 Hingenau, Freiherr von 144, 156 Hintze, Otto 51 Hinze, Kurt 281 Hirsch, Johannes 293

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Hirschhorn & Traumann (Tabakhandlung) 386 Hitze, Franz 232 Hochberg, Gräfin von 370, 375 Hoffmann, Christoph 462 Hoffmann, J . G. 319, 329 Hoffmann, W. G. 33, 292, 296, 338, 361, 390, 464 f. Hohenemser (Bankhaus, Mannheim) 380 Holländische Handelskompagnie 385 Homburger, Low 387 Hoselitz, Bert F. 31 Hugenberg, Alfred 204 Hutchinson Poinsel & Co. 368 Internationaler Statistikerkongreß in Berlin 1863 296 Iselin, Dietrich von (Spinnerei und Weberei, Schönau) 378 Itzstein, v. 88, 105 f. Jahns, Max 216 Jezler, Christoph 434 Jung-Stilling, Johann Heinrich 218, 290 f. Junker & Ruh (Karlsruhe) 368 Kaelble, Hartmut 199 Kanitz, Graf von 201 Kapferer, Franz 376 Kapferer, Heinrich 376 Kardorf, Wilhelm von 203, 205 Keil, Wilhelm 293 Keller, Gottfried 216, 218, 292 Kersdorf, Ferdinand von 424 Kessler (Maschinenfabrik, Karlsruhe) 70, 78, 106, 367, 373, 379 f., 384, 387, 444 Keßler & Martiensen 367, 382 Kienle, Joh. 377 Kinzigtaler Bergwerksverein (später Badischer Bergwerksverein) 373 Klatt, B. Sigurd 33 ff., 345 Kleinhempel, Ludwig 287 Klingel, Wachsfabrik 377, 386 Klöden, Karl Friedrich 216, 219, 246 f., 291, 312 f. Kloster Allerheiligen 366 Kloster Frauenalb 366 Kloster Gengenbach 366 Kloster Günterstal 365 Kloster Schwarzach 365 Kloster St. Blasien 409 ff. Koechlin, André 378 f., 400, 402, 405 Koechlin, Peter 363, 378, 408 f.

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Personen- und Namenregister

Koechlin, Baumgartner & Cie 401 Kölreuter & Salzer (Apotheker, Villingen) 366 Kohlensyndikat s. Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat Kolonialrat 210 Kongreß Norddeutscher Landwirte 196 Kraft, Ernst Friedrich 425 Krüger, Horst 268 Krug, K. 296, 304, 322, 325 Krupp, Alfred 70, 173 f., 187, 203, 273, 277 Krupp, Friedrich (Gußstahlfabrik, Essen) 161, 265, 275 f. Krupp, Gustav, von Bohlen und Halbach 204 Kuczynski, Jürgen 310 Kühlental, Gustav 388 Kusel, Karl 424 Kuznets, Simon 19, 37, 465 Ladenburg (Bankhaus, Mannheim) 380 Landesökonomiekollegium 196 Landfried, P. J . (Tabakmanufaktur, Heidelberg) 366, 377, 386 Langnamverein 177, 189, 192, 205, 210 Langsdorf, von 80, 413 f., 417 Lanz, Heinrich 368, 388, 401 Laroche, Sophie von 216 Leberecht, Tobias 217 Lenz, Friedrich Wilhelm 377 f. Lesegesellschaft Harmonie 460 Levenstein, Adolf 217 Linde, Hans 362 List, Friedrich 113, 131 Löbe, Paul 293 Lotzbeck, Freiherr von 375, 377 Lotzbeck, Gebr., Lahr 364, 384, 408 Lütge, Friedrich 140 Macaire & Co. 363, 378, 408 Märzverein 443 Malthus, Thomas Robert 230 f. Mann, Thomas 219 Mannheimer Bank 388 Markgraf Christoph 394, 404 Markgraf Friedrich Magnus 404 Markgraf Georg Friedrich 394, 404 Markgraf Karl Friedrich 371, 397 ff. Markgräfin Karoline 370 Markgraf Ludwig Wilhelm 370 Markgraf Wilhelm 375

Marx, Karl 24, 32, 45, 230, 232, 244, 283, 318, 456, 464 Maschinenbaugesellschaft Karlsruhe 387 Maschinenbauverein Chemnitz 263 Maschinenfabrik Graffenstaden b. Straßburg 382 Maschinenfabrik St. Blasien 366 Mathy, Karl 71, 78, 88, 94, 100, 106 f., 383 May, Eugen 220, 293 Mayer, Jakob 174 Mayer, Theodor 374 Mecaniques Bodmeriennes 414 Mechanische Hanf- u. Jutespinnerei, Emmendingen 456 Meckel, Elberfelder Handelskammerpräsident 212 Mengers, Christian 290, 311 Merian, Louis 363, 366, 378, 387, 400, 405 Merian & Koechlin (Indiennemanufaktur) 365, 371, 403, 409 Meßmer, Jakob Friedrich 382 Metz, Karl 367 Metzel, Bruno 290 Mevissen, Gustav 70, 387 Mez, Caroline 451 Mez, Karl 376 f., 443 ff. Mez (Seidenbandweberei, Kandern) 364 Michael, Johann 377 F. Michels & Co., Eschweilerau 387 Milde, Karl August 71 Moeller, Theodor Adolf 205 Moser, Justus 303 f. Moltke, Helmuth von 451 Mone, Archivdirektor 103, 381 Moralische Gesellschaft zu Lichtensteig 216 Moritz, Karl Philipp 216, 218, 290 f. Moszeik, C. 217 Müller, Adam 232 Müller, Leonhard 87 National Bureau of Economic Research — New York 57 Naumann, Friedrich 217, 222 Nebenius, Karl Friedrich 88, 94, 103, 107, 383 Neumann, Carl 218, 294 Niedersächsischer Steuer-Verein 113 North, Douglass C. 21, 43 f. Oberbergamt Bonn 150 Oberbergamt Breslau 167

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Personen- und Namenregister Oberbergamt Dortmund 150, 152, 166, 168 Obermayer, J. E. 425 öhlenheinz (Bijouterie) 385 Oppenheimer, Salomon & Co. 387 Orden der Barmherzigen Schwestern 103 Ormrodsche Eisengießerei 430 Oser (Papierfabrik, Basel) 372, 406 Parker, W. N. 464 f. Paulsen, Friedrich 216 Pflug, J . B. 292 Pflugbeil, Benjamin Gottlieb (Kattundruckerei, Chemnitz) 268 f. Pforzheimer Uhren- und Goldwarenfabrik 411 Polytechnisches Institut 448 Popp, Adelheid 217 Porzellanmanufaktur in Meißen 267 Preußische Seehandlung 69 Prince-Smith, John 319 Probst, Johann Gotthilf August 291 Probstei Waldkirch (Baumwollhandweberei) 365, 376 Prosch, Peter 291 Ranke, Leopold von 50 Ratdold, Erhard 287 Rath, Gebr. von 387 Rau, Karl Heinrich 319, 388 Redlich, Fritz 47 Redtenbacher, Franz 380 Regenauer, Finanzminister 88, 405 Reinhard, Bankhaus 381, 385 Reitzenstein, Freiherr von 89 Research Center in Entrepreneurial History 47 Rettig, Regierungsdirektor 83, 98, 100, 106 Reusch, Paul 192 Reutlinger, Elkan 385 Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat 156, 177 f., 190, 208 Ricardo, David 230 Riedel, Benjamin 288 f. Rietschel, Ernst 292 Riggenbach, Nikolaus 379 Rinderschwenderscher Glashütte, Gaggenau 364, 372, 377, 386, 408 Risler & Co. (Achatknopffabrik) 270 ff., 280 Rockefeller Foundation 57 Romberg, Freiherr vom 174

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Rosegger, Peter 292 Rostow, W. W. 18, 28 ff., 332 Rother, Christian von 69 f. Rothschild & Söhne 387 f. Rotteck, Karl v. 88 f., 97, 405 Ruh, August 382 Sammet & Heintze, Lederfabrik 382, 388 Samuelson, Paul A. 40 Sarasin & Häussler (Spinnerei u. Weberei, Haagen) 378, 401 Savigny, Friedrich Karl von 142 Schäufelen (Papierfabrik, Heilbronn) 387 Schätzler, Lorenz 387 f. Schanzlin, Johann Georg 377 Scheffler, Karl 292 Scheidemann, Philipp 293 Schelsky, Helmut 259, 283 Schichau, Ferdinand 68 Schieder, Wolfgang 25 Schirmer, J . W. 292 Schirmer, Karl 293 Schlaff & Co., Kutschenmanufaktur 364 Schleicher, Napoleon 387 Schmidt, Philipp Nikolaus 380, 424 Schmoller, Gustav 296, 308 ff., 318 f., 325ff.,466 Schmuckert (Spiegelfabrik Mannheim) 385 Schnabel, Franz 86 Scholl, Karl 290 Schramm, Julius 294 Schützenbach, Sebastian 382 f. Schubart, Johann Christian 468 Schücking, Levin 161 Schulze-Delitzsch, Hermann 319 Schwager, Johann Moritz 161 Schweitzer & Vögele, Mannheim 367 f. Schweizerische Naturforschende Gesellschaft 437 Sebold, Maschinenfabrik 368, 382, 384 Seligmann, David 364, 367, 374, 379, 384, 387, 415, 417, 419 ff. Seume, Johann Gottfried 292 Severing, Carl 293 Siemens, Werner von 204, 319 Skalweit, August 322 Smalian, Hermann 290 Social Science Research Council 57 Sombart, Werner 20, 45, 140, 281, 317 ff. Sonntag (Papierfabrik, Emmendingen) 377 Sozialdemokratische Partei 201 Spengler, Oswald 215

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Personen- und Namenregister

Speyerer, Wilhelm 88, 377 Spies, Gerd 395 Spinnerei Atzenbach, Schopfheim 401 Spinnerei und Weberei Ettlingen 78, 105, 366 f., 373, 376, 379, 386 f., 401, 405, 409, 444 Spittler, Christian Friedrich 461 Springer, August 221 f. Sutter, Joh. Heinr. 406 Stadelmann, Rudolf 286 Stärkle, Anton 288 Stein, Freiherr vom 152, 166 f., 170, 173 Steinberg, H. G. 75 Steinbeis, Ferdinand 382 Steinhausen, Georg 286 Stift St. Blasien 410 Stinnes, Hugo 173, 182, 203 f., 205 Strauß, David Friedr. 462 Struve, Gustav v. 105, 457 Stumm-Halberg, Freiherr von 203 Technische Deputation für Gewerbe 67 Technischer Verein für das Eisenbahnhüttenwesen s. a. Verein Deutscher Eisenhüttenleute 72 Thissen, O. 341 f. Thoma, Berthold 107, 366, 377 Thorbecke, Α. Η. 366, 386 Thyssen, August 173, 182 Tieck, Ludwig 292 Trampler, C. 363, 408 Treitschke, Heinrich v. 110, 131 Trevithick, Richard 413 Tritscheller, Paul 377 Trötschler (Hammerwerk, Tiefenstein) 377 Trutz, N. 290 Turek, Ludwig 217 Verband deutscher Eisen- und StahlIndustrieller 189, 192, 208 Verein chemischer Fabriken in Mannheim 368, 384 Verein der Baumwollfabrikanten Deutschlands 378 Verein der Wirtschafts- und Steuerreformer 197, 208 Verein Deutscher Ingenieure 7l Verein für bergbauliche Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund 72, 156, 177, 189

Verein für Socialpolitik 222, 318, 327, 341, 349 Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes 71 Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen s. Langnamverein Vetter-Koechlin, Louis 378, 387 Vicari, Hermann von 103 Villiez, Freiherr von 375 Vincentz, Wolfgang 287 f. Vögele, Josef 368, 388 f. Vögele (Maschinenfabrik) 70 Völker (Krappfabrik) 88, 377, 386, 405 Voigt, H. G. 75 Voigt, P. 327 Volz, Geh. Referendar 380, 416, 426 Voß, Johann Heinrich 292 Wäldin (Gerberei) 381, 382 Walchner, Bergrat 380 f., 405 Walcker, Oskar 290 Waltershausen, Sartorius von 140 Warburg, Otto 184 Watt, James 360, 382 Weinbrenner, Baudirektor 80, 410, 435 Weißer, J . C. 449 f. Weltzien, Karl 380, 386 Werner, Georg 217 Werner, Gustav 462 Wernersche Anstalten Reutlingen 452 Wernet, W. 319 Whitney, Ely 420 Wild, Josef 290 Wilhelm IL 204 Winnig, August 221 f., 292 f. Winter, Ludwig SS f., 94 f. Wolff & Sohn (Parfümerien- u. Seidenfabrik, Karlsruhe) 368 Wuest & Co. 410 Zelter, Karl Friedrich 292, 311 Zentralstelle für Handel und Gewerbe in Stuttgart 68 Zettler, Alois 290 Zimmermann, Gebr. (Buchhandlung) 385 f. Züricher Dampfschiffahrtsgesellschaft 441 Zuckerfabrik Waghäusel 78, 105, 367, 379, 381, 383, 405, 444

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Sachregister Adel - Baden 375 - sedikt 89, 92, 102 Agrar-Revolution 20 - Sachsen 468 f. Aktiengesellschaften 108 - Baden 373, 386 ff., 409 Aktiengesetz 139 Allgemeine Gewerbeordnung s. Gewerbeordnung Allgemeines deutsches Handelsgesetzbuch 139 Arbeiter - ausschüsse 146 - bewegung 207, 222, 227, 283 - bildungsvereine 72 - frage 229 - literatur 214 ff. Arbeiterschaft s. Fabrikarbeiterschaft Arbeitgeberverbände 208 Arbeits- funktionen in der Fabrik 253 f. - haus 244 - Ordnung 146, 171 - Organisation 73 - Produktivität 181 ff., 340 - vertrag 143 ff. Armengesetzgebung 231 Aufklärung 71 Auflösungsdekret 92 Außenhandel - Großbritannien 20 f. Auswanderung 248 Badischer Landtag 86 ff. - Abgeordnete 88 f. Banken - Baden 373 - Deutschland 66, 69, 111 f., 187, 347 - Preußen 70 Bauernbefreiung 149 Bauernschaft 250 Baugewerbe 343 ff., 350, 354

Baumwollindustrie - Baden 107 f. - Großbritannien 21 f., 163 - Sachsen 472 Beamte 88 ff., 170, 206, 210 - Baden 87 ff., 380 ff. - Preußen 127 Bergbau 139 f., 149 f., 163 f., 174, 208, 254 - Preußen 165, 169 - Ruhrgebiet 74, 162 Bergarbeiter - freie 143 f., 152, 170, 251 - Tagelöhner 171 Bergleute 144, 151, 221 f. Bergverwaltung 72, 74 Bergbehörden 142, 150, 152, 169 ff. Bergbau s. a. Gewerken u. Knappschaften Bergrecht - Bergbaufreiheit 144, 159 - Berggesetz allgemeines, Preußen 1865, 140, 142, 145 f., 148, 155, 157, 171, 176, 205 französisches von 1810, 141, 150, 153, 168 österreichisches von 1854, 144, 156 - Bergordnung - - 18. Jh. 142 cleve-märkische von 1766 150, 164 f., 169 jülich-bergische 169 kurkölnische von 1669 150 magdeburg-halberstädtische 150 nassau-katzenellenbogische von 1559 150 sächsische 165 schlesische 150, 169 Bergrechtsreform - Preußen 139, 146, 148 ff., 154, 159, 161 ff. Bergregal 155, 164 - Bergwerkseigentum 66, 139, 141 - Bergzehnten 187 - Betriebserlaubnis 168 - Betriebsplan 142 - Betriebszwang 141 f., 170

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Sachregister

Berufsdifferenzierung 253, 264 f. Berufsschulwesen 104 Bevölkerungsstruktur - Sachsen 466 Bevölkerungswachstum 177, 231 - Baden 107 - Rheinland-Westfalen 469 Binnenwanderung 174 Bodenrecht - Sachsen 468 Börsen - gesetz 1896 206 - Verfassung 211 Bürgertum - Baden 375, 377 f. Bürgervereinigung 389 Bureaukratismus 167 Business History 46 Chrematistik 61 Code Civil 141, 154 Code de Commerce 372 Code Napoleon 101 Dampfmaschine 174 Deutscher Bund 113 Dienstleistungssektor 339 f. Dreiklassenwahlrecht 97, 202, 212 EFTA 129 ff. Eisenbahnen 68, 187 f., 210 - Baden 76 - Preußen 65 Eisenindustrie 71, 152, 162 f., 181, 251, 254, 380 - Baden 369, 379, 403 ff. - Großbritannien 163 - Ruhrgebiet 159, 161, 180 f., 470 Evangelische Generalsynode 462 EWG 129 ff. Fabianer 232 Fabrikarbeiterschaft 22, 25, 222, 242, 249, 251 f., 255 f., 309 - Baden 390 - Differenzierung 278 - Herkunft 261 ff. - innerbetrieblicher und sozialer Status 259 ff. - Rekrutierung Baden 411 ff. - Textilindustrie 251, 262 f., 265 Fabrikindustrie - Baden 80 ff., 389 ff., 400 ff. Fabrikschulen 104

Fabrikstatistik - Baden 108 Feudalrechte - Baden 102 Finanzpolitik 66 Finanzverwaltung - Baden 404 f. Flottenpolitik 211 Föderalismus 110 f. Forschung, USA 55 ff. - Finanzierung 57 ff. Frankfurter Handwerker Kongreß 1848 308 f. Frankfurter Nationalversammlung 72, 125, 127, 457 f. Freihandel 124 Freizügigkeitsgesetz von 1860 143, 156, 171 Frühindustrialisierung - Entwicklungsländer 237 ff. - Großbritannien 20 - USA 21 Fürsorge s. Sozialpolitik Gaststättengewerbe 339 Geburtenrate - Baden 107 Geldpolitik - Deutschland 111 f. Gehilfen 329 Gemeindeordnung - Baden 96 f., 101, 423 Genossenschaften 382 f. Gesangvereine 72 Gesellen 302, 308 f., 326, 328 - laden 302 - prüfung 304 - verbände 298, 300 f. Gesindeordnung 171 Gewerbe - ansiedlung, Baden 80 ff. - fleiß 78 - förderung 67 - freiheit 66, 100, 149, 167, 260, 306 ff., 315, 321ff.,437 - - Baden 75, 97 ff. - gesetz Bayern von 1825 307 - Ordnung 66, 73, 98, 100, 102, 139, 146, 152, 168, 306, 323, 443 - - von 1862 383 Norddeutscher Bund 171 - politik 303, 307 - - Baden 371

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Sachregister - recht 152 - schulen 68, 71, 104, 219, 313, 381 - Statistik, Baden 95, 326 f., 340 f., 367 - steueredikt vom 2. Okt. 1810 322 - Steuergesetz - - von 1810 140 - - von 1815 383 - struktur 365, 396 - - Preußen, 19. Jh. 325 ff. - vereine 71 - Verfassung 315 f., 321, 323 Gewerbe s. a. Kleingewerbe Gewerken 168 ff., 173 - Versammlung 142 Gewerkschaften 73, 170, 198, 201, 220, 293 Handelsgesetzbuch 125 Handelskammern 72 f., 196, 198, 206, 209 f., 212 Handelsverein - Mitteldeutschland 113 Handelsvertrag - Preußen und Frankreich 122 - Preußen und Österreich 122 Handwerk 17 f., 100, 219, 248, 250, 253 - Baden 84, 393, 396 - Deutschland 285 ff., 296 ff., 315 ff., 324 ff., 349 ff. - Schweiz 433 ff. - Beschäftigte 351 ff. - Betriebsgröße 19. Jh. 328 - Investitionsquoten 356 - Kapitalbedarf 355 - Korporationen 297 f. - ländliches 304 - Lehrlinge 291 - Meister 303, 309 f., 326, 328 f. - Sozialstruktur 309 - Wanderzwang 308 - Zwangsinnungen 73 Handwerker - bewegung 19. Jh. 321 - kongreß von 1848 323 - stand, rechtliche Stellung 297 - vereine 72 Handwerks - enquête 1895 318 f., 327, 341, 344, 349 - gesetzgebung des 19. Jh. 301 f., 308 - kammern 196, 212, 350 - laden 302 f. - Statistiken 324, 341, 349

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Hüttenwesen s. Eisenindustrie Industrialisierung - Begriff 15 f. - Deutschland 63 ff., 334 ff. - regionale Differenzierungen 464 ff. - Baden 75 ff., 358 ff., 409 - Markgräflerland 392 ff. - Ruhrgebiet 161 ff., 471 - Sachsen 465 - Westfalen 465 ff. - Japan 236 f. - Prozeßanalyse 24, 33 ff., 471 - Typen 362, 464 Industrie - ansiedlung, Baden 75, 79 - bürokratie 26 - gesellschaft 17, 318 - Spionage 67 - struktur, Baden 368, 390 f. - und Handelskammern 195, 350 Industrielle Revolution 17 ff., 22 f., 37, 226 ff. Innovationen 471 Interessenpolitik 194 ff., 199 ff. Interessenverbände 71, 178, 188 f., 308 - Deutschland 378 Judenemanzipation 97 Kapitalakkumulation - Baden 384 ff. Kartelle 71, 73, 185, 189 f. - Zwangskartelle 73 Kathedersozialisten 232 Katholische Kirche - Baden 103 ff., 228 ff., 233 Kaufleute - Baden 375 ff. Kinderarbeit 244 - Baden 418 Klassengesellschaft 253, 259 Kleinbürgertum 218 ff. Kleingewerbe - Deutschland 319, 321, 338 ff. Klöster 79 Knappschaften 143, 145 f., 150 ff., 158, 170 f. Knappschafts - gesetz von 1854 144 f., 157 f., 176 - kassen 222 - Ordnung westfälische von 1824 151 friderizianische von 1767 157 ff. - Versicherung 177

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Sachregister

Koalitionsrecht 207, 227 Koalkionsverbot 171 Kohlenbergbau 72, 74, 162 - Preise 180 - Preußen 65 - Ruhrgebiet 180 - Westfalen 470 - s. a. Bergbau Koksproduktion 164, 174 Kommanditgesellschaften 372 Kommunalpolitik - Baden 460 Kommunismus 240 Kommunistisches Manifest 1848 317 Konjunkturen - Ruhrbergbau 179 ff. Konkursordnung 139 IV. Konstitutionsedikt von 1808 100 f. Kreditbanken s. Banken Labor History 47 Landrecht, allgemeines 150 f. Landwirtschaftskammern 212 Leinenindustrie - Minden-Ravensburg 472 Leineweber 396 f. Lesevereine 71 Liberalismus 65, 73, 77, 85 f., 94, 106, 140, 147, 149 f., 159, 176, 227, 234, 457, 461 f. Löhne 170, 241, 254 ff. - Baden 421 - Deutschland 310 ff. - Handwerk 302 - Hilfsarbeiter 268 - Maschinenbau 251 Lohndifferenzierung 254 ff. - Eisenindustrie 275 ff. - Handarbeiter 280 - Porzellanmanufaktur 267 - Textilindustrie 268 ff. Manufakturen 360, 399 ff. Maschinenbau 253, 331 - Arbeiterschaft 251 - Schweiz 440 - St. Blasien 411 ff. - Werkzeugmaschinenbau, Baden 420 f. Meistbegünstigungsklausel 124 Merkantilismus 77, 166 Minoritäten 237 f. Mitbestimmung 455 Miteigentümergesetz von 1S51 142

Mittellandkanal 207 Mittelstand - Baden 76 ff. - gewerblicher 90, 98 f., 283 Monopole, staatliche 117, 121 Montanunionsvertrag 136 Mutungsfreiheit 146 New Economic History 59 Niederlassungsfreiheit 309 Norddeutscher Bund 111, 114, 126, 133, 139 Organkationsedikt von 1809 103 Papierindustrie - Baden 406 Patentwesen 65 f., 466 - Baden 383 Patriotische Gesellschaften 71 Pauperismus 22 f., 99, 105, 107, 229 ff., 243, 251, 336, 459 Petitionsrecht 96 Planung - Baden 75 Polizeigesetzgebung 100 Porzellanmanufakturen 70 Proletariat 219, 240, 252 Preise - Baden 105 Pressefreiheit 94 Protestantismus 228 Quantitative Methode 42 ff. Reichsgewerbeordnung 73 Reichsverfassung 73 Reichsversicherungsordnung 145 Reichswirtschaftsrat 197, 349 Revolution 1848 - Baden 108 f. Salinen - Baden 369 - Halle 269 Salzmonopole 165 Schiffahrtsverträge - England und Holland 123 Schulwesen 68 - Baden 104 Seidenindustrie - Baden 402, 447 ff.

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Sachregister Sektoren, strategische 18 ff., 44, 187 Sozialdemokratie 220 Soziale Desintegration 233 ff. Soziale Frage 218, 222, 224 ff. Soziale Schichtung 24 f., 234 f. - Deutschland 61 f., 244 f. - Schweiz 245 f. Sozialismus 221, 227 Sozialistengesetz 222 Sozialpolitik 73 - betriebl. 452, 455 Sozialverfassung - Baden 101, 109 Sozialversicherung 145, 157, 159, 176, 188, 207, 227 Sparkassen 346 f. Staatslehre 60 ff. Standardisierung 117 Standeslose 244 ff. Stein-Hardenbergsche Reformen 143 Straßenbau s. Verkehr Technologische Entwicklung 38 ff. Textilgewerbe 396, 399 ff. Textilindustrie 250, 266, 343, 400, 413, 471 - Baden 363, 400 ff. Truckverbot 157 Uhrmacher, Schwarzwälder 84, 104 Unternehmer 71 f., 182 f., 185 ff. - Baden 377, 381, 443 ff. - Ruhrbergbau 176, 188 ff., 207 - Schweiz 428 ff. Unterschichten 242 ff., 252 Verbände s. Interessenverbände Verbrauchssteuern s. Zölle Verkehr - Deutschland 68, 70, 111, 120, 123 f., 169, 211 Verlagssystem 360 - Markgräflerland 399 Versicherungsvereine 145 Verwaltung - Baden 94 ff. - Preußen 174

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Viehzucht - Sachsen 468 Volkswirtschaftsrat - Preußen 197 Währungspolitik 125, 211 Wechselordnung - Deutschland 139 Wiener Bundesakte 137 Wiener Kongreß 112 Zwangsversicherung 145 f., 157 Zehntablösung 376 Zoll 65, 67, 111 f., 119 ff., 130, 188, 211 - Bundesrat 126 - gesetzgebung - - Preußen 67, 111 f., 119 - Parlament 126, 133 - system - - Preußen 113, 130, 132 - Schutzzollsystem 113, 124, 188, 206 - und Handelsverein Thüringen 117 - Verband Bayern-Württemberg 117 - - Preußen-Hessen 113, 117, 120 Süddeutscher 113 Zollverein - Bayern und Württemberg 120, 376 - Deutscher 67, 105, 110 ff., 129, 131, 133, 137, 195, 366 Ausgleichsabgaben 121 - - Einnahmen 120, 122 ff., 126, 134, 136 Grenzen 136 - Präferenzzölle 124 - - Transitzölle 123 Verbrauchssteuern 111, 117, 126 Verwaltung 115 ff. Zuckerindustrie 204 Zunft, Zünfte 261, 298 ff. 323, 394 - gesetze 308 - Ordnung 294 f., 304, 306, 322, 394 - - Baden 371 - zwang 315, 323 - General-Zunftartikel v. 1760 320 - Reichszunftordnung von 1731 302

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K R I T I S C H E Z U R

S T U D I E N

G E S C H I C H T S W I S S E N S C H A F T Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Christian Schröder, Hans-Ulrich Wehler.

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