Wilhelm Meisters Erbe: Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung. Eine Inventur [1 ed.] 9783412514358, 9783412514334

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Wilhelm Meisters Erbe: Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung. Eine Inventur [1 ed.]
 9783412514358, 9783412514334

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WILHELM MEISTERS ERBE

H E I KO C H R I S T I A N S

WILHELM MEISTERS ERBE Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung

H E I KO C H R I S T I A N S

Um eine Vorstellung von der Zukunft der vormals buchgestützten Bildung unter digitalen Bedingungen zu gewinnen, muss ihr Verhältnis zur digitalen Technik geklärt werden. Das wird durch ein einfaches Manöver möglich: Man muss die Inhalte, Zugänge und Formate der vordigitalen Periode der Bildung technisch betrachten, die Techniken der digitalen Gegenwart aber kulturgeschichtlich. Gerade die Aufforderung zu einer inhaltlichen Betrachtung der neuen digitalen Netzwerktechnik erscheint zunächst abwegig, denn diese Technik bezieht ihre Legitimation ganz aus der Überwältigungsmacht eines effektiven Funktionierens. Wozu also dieser Schritt zurück? Er ist notwendig, weil mit »Bildung« eine identitätsbildende Tradition auf dem Spiel steht, die bis heute Institutionen und Individuen wechselseitig Halt gibt. Wenn wir nicht plausibel an diese Tradition anschließen, wird es immer unausweichlicher, die permanente, globale technische Neuerung und Effektivitätssteigerung zum einzigen Programmpunkt von Bildung zu erklären. Das Buch will deshalb nicht zuletzt die Frage historisch und technisch differenziert beantworten, was (Medien-) Bildung im Kern ausmacht.

ISBN 978-3-41251-433-4

christians r.indd 3

28.01.20 17:15

HEIKO CHRISTIANS

w il h e l m m eis te r s erbe Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung EINE INVENTUR

BÖHLAU V E RL AG WI E N KÖL N W E I M A R

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften (ZeM)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Friedrich Wilhelm von Schadow, Porträt des Felix Schadow (1829). © Nachkommen des Künstlers, europäische Privatsammlung, 2006 durch Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein erworben. Korrektorat: Andrea Mewes und Susanne Müller, Potsdam Satz und Layout: büro mn, Bielefeld und Johanna Höflich, Visuelle Kommunikation Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51435-8

In memoriam Eugen Rosenstock-Huessy (1888 – 1973)

Inhalt

Prospekt Worum es in diesem Buch geht  ​13

teil 1

Die Geschichte Bildung als Idee und historische Kulturtechnik  ​25 Wilhelm Meisters Erbe  ​27  ​Bildung als Idee  ​32  ​Bildung als historische Kulturtechnik  ​41

Die Gegenwart Bildung nach dem Ende von Kanon und Interpretation  ​49 Nach dem Kanon   ​Gender, Race, Class etc.  ​51  ​Nach der Interpretation  ​Digital Humanities  ​56

teil 2

Die Bildungsdebatte Eine Inventur  ​63 Appellieren  D ​ ie Bildungspolitik  ​65  ​Applizieren  D ​ ie BildungsApp  ​ 68  ​Ausstatten  D ​ ie Bildungsinfrastruktur  ​80   ​Auswendig lernen ​ Die Bildungsvergangenheit  ​85   ​Durchstarten  W ​ inckelmanns Bildungsferne  ​93   ​Einbilden  D ​ er Griechenkult  ​103   ​Eindeutschen ​ Der Römerhass  ​108   ​Empfinden  D ​ ie Herzensbildung  ​114   ​Erleiden  D ​ as Bildungserlebnis  ​121   ​Fabrizieren  D ​ ie Bildungsindustrie  ​130   ​Fernsehen  D ​ er Bildungsauftrag  ​147   ​Formatieren  D ​ er Bildungsroman  ​154   ​Informiert sein  ​Der Bildungsersatz  ​164  ​ Kompetent sein  ​Die Bildungsregulierung  ​168   ​Konsumieren ​ Die Wunschbildung  ​180   ​Kritisch sein  ​Das Bildungs­ideal  ​185  ​ Lesen  ​Das Bildungshandwerk  ​194   ​Pauken  ​Der Bildungsuntergrund  ​206   ​Politisieren ​ Der Bildungsbürger  ​210   ​Prägen  ​Die Bildungsmetaphern  ​222   ​Punkten  ​Die Bildungsbuchhalter  ​236  ​ Radikalisieren  D ​ ie Feindbildung (in der Bibliothek und im Internet)​  ​ 245   ​Reformieren  D ​ er Bildungsfortschritt  ​258   ​Revolutionieren ​ Die Bildungsverheißung  ​266   ​Spielerisch lernen  ​Der Bildungsspaß  ​277   ​Trainieren  ​Die Körperbildung  ​298   ​Umgeben  ​Das Bildungsmilieu  ​307   ​Verlangsamen  D ​ as Bildungsgeheimnis  ​314  ​ Vernetzen  D ​ ie Mengenbildung  ​323   ​Vortragen  D ​ ie Kathederbildung  ​335   ​Wiederholen  ​Der Bildungskanon  ​361

Anhang Textnachweise  375 Danksagung  377 Literatur  380 Personenregister  421

Unsere Erbschaft waren die Methoden, das heißt die Klassiker. J. O r t e g a

y

G a s s e t , G o e t h e (1932)

Alles, was den Menschen durcheinanderbringt, bringt ihn in seinem Zeitgefühl durcheinander. Macht über sich = Macht über die Art, die Zeit zu fühlen. S i m o n e W e i l , C a h i e r s (1941)

Prospekt Worum es in diesem Buch geht

prospekt

In diesem Buch geht es um die Gegenwart. Es geht um die ‚breite Gegenwart‘ (H. U. Gumbrecht) des Digitalen und ihr Verhältnis zur vor-­digitalen Geschichte. Das ist zugegebenermaßen eine erste Unterscheidung, die ziemlich grob ausfällt. Sie bleibt auch kritisierbar, weil sie außerdem noch an den Gemeinplatz von der notorischen ‚Gegenwartsversessenheit‘ der Gegenwart anschließt. Diese hat man schon vielen Gegenwarten vorgeworfen.1 Doch die Alternative dazu ist weder der Verzicht auf Unterscheidungen noch auf eine Kritik der Gegenwart. Und tatsächlich hilft diese alte Unterscheidung von digitaler Gegenwart und analoger Vergangenheit, einige Konturen der neuen Verhältnisse besser zu erkennen: Bis zum Anbruch der digital dominierten Gegenwart war Bildung buchgestützt, war Bildung historisch-­ästhetische, literarische Bildung. Ihr Programm hatte deshalb auch nur unscharfe Konturen, was die Techniken ihrer Vermittlung oder gar die Technik als Gegenstand anging. Bücher und den Umgang mit ihnen rechnete man der Sphäre des Geistes zu, nicht der Technik. Dafür aber forcierte Bildung die ethischen Implikationen ihres vor allem ästhetischen Sachgebiets. Nüchternere Aspekte des Themas blieben meistens auf der Strecke. Die materielle Basis der Bildung beispielsweise waren die Verteilung und der Gebrauch der Bücher, ihr Ergebnis war die Linearität der Geschichte oder – später – zumindest die relative Folgerichtigkeit von sich beständig vermehrenden Geschichten. Diese Geschichten standen eben in Büchern. Nach ihrem Vorbild sollte sich auch das Individuum bilden, sich eine wiederum für andere vorbildliche, individuelle Geschichte zulegen, der ein ausgewogener Lebensplan zugrunde lag.

* Heute hat eine völlig neue und wesentlich schnellere Umgebung technischer Netzwerke die materielle Basis, das Programm, die Techniken und die Formate der alten Bildungsidee marginalisiert. Um nun wieder eine Vorstellung von der einst buchgestützten Bildungsidee unter den neuen digitalen Bedingungen gewinnen zu können – ohne Technik zu negieren –, muss ihr Verhältnis zu dieser digitalen Technik geklärt werden. Das wird durch ein scheinbar einfaches Manöver 15

1 Einen frühen Überblick (und ein weiteres Beispiel) liefert schon Harold A. Innis, A Plea for Time, New Brunswick (1950).

prospekt

möglich: Man muss nur die Inhalte, Zugänge und Formate der vor-­ digitalen, klassischen Periode der Bildung technisch betrachten, die Techniken ihrer digitalen Gegenwart aber inhaltlich oder kulturell. Gerade die Aufforderung zur ‚inhaltlichen Betrachtung‘ der neuen digitalen Netzwerktechnik aber scheint ewig-­gestrig. Bezieht diese Technik doch ihre Legitimation ganz aus der Überwältigungsmacht eines unwiderstehlich effektiven Prozessierens und Funktionierens. Wozu also dieser bewusste Rückschritt – oder besser: Schritt zurück? Er ist notwendig, weil der Einsatz so hoch ist, weil eine identitätsbildende Tradition auf dem Spiel steht, die gerade in den Zusammenhängen von Bildung zentral ist. Traditionen geben Institutionen und Individuen Halt. Wenn man sie abschafft bzw. nicht plausibel an sie anschließt, wird es immer schwieriger, die Alternative – die permanente Neuerung – nicht zum einzig verbliebenen und einzig sinnvollen Programmpunkt zu erklären. Dass der Anschluss an die Tradition aber seinerseits keine simple und unproblematische Operation ist, kein einfaches Stehenbleiben oder Umkehren, gab Josef Pieper früh zu bedenken: 2

Es gibt zweifellos Konservatismen, welche, im Gegenteil, Tradition

Josef Pieper, Tradition in der sich wandelnden Welt (1960), in: ders., Tradition als Herausforderung. Aufsätze und Reden, München (1963), S. 11 – 35, hier: S. 26.

gerade verhindern – weil sie sich an das zufällige geschichtliche Erscheinungsbild des tradendum klammern, welches aber vielleicht, wenn überhaupt, nur unter neuen äußeren Formen in die Zukunft hinübergetragen, ‚überliefert‘ werden kann.2

Gelingt es hier, beobachtend einen Schritt zurückzutreten, wird – in Sachen Bildung – aus dem fast unüberbrückbaren Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart wieder eine Kontaktzone, wird deutlich, wie gerade in den neuen medialen Umgebungen mit ihren ‚neuen äußeren Formen‘ alte Bildungsziele und Bildungsformate wieder an Aktualität gewinnen.

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prospekt

Von der Notwendigkeit einer Inventur Es geht also um Antworten auf das, was seit einiger Zeit unter der Überschrift ‚Die Bildungsfrage‘ diskutiert wird. Dahinter verbirgt sich eine heftige Debatte über das Verhältnis von allgemeinen gesellschaftlichen – digitalen – Technisierungsschüben und den Programmen von Bildungsinstitutionen. Auch diese Konstellation als solche ist nicht neu, tritt sogar periodisch auf. Auslöser für diese Debatte ist die Tatsache, dass heute Bildungsziele immer häufiger als reine Ausstattungsprobleme reformuliert werden. Wer Zugang zu neuester Technik hat – heißt es –, lernt auch automatisch gut, schnell und genug. Die Forderung nach Ausstattungsgerechtigkeit liegt dann ebenso nahe wie der nächste Großauftrag für die Digitalwirtschaft. Als neu und gut gilt in diesem Zusammenhang, was global, in den postindustriellen Produktions- und Unterhaltungsumgebungen, schon effektiv irgendwie eingesetzt wird. Eingeübt werden soll folglich im Falle von Bildung vor allem die Bedienung entsprechender Geräte und Interfaces. Eine rückgekoppelte Auswertungs- und Kontrollschleife erledigt den Rest. Der Maßstab ist hier kein geringerer als das Schritthalten im globalen Wettbewerb. Dieses Buch skizziert die Entwicklung bis zu einem solchen Szenario und versammelt und prüft, was möglicherweise übersehen wird. Damit es das kann, nimmt das Buch eine medien- und kulturhistorische Perspektive ein. Nur sie erlaubt es, das scheinbar ganz Neue in vergleichbare, vergangene Konstellationen zu stellen. Wenn es nämlich wirklich so wäre, wie die Debatte in Teilen suggeriert, dass Bildung nur mehr eine Art medialer Effekt oder eine Unterfunktion der richtigen, technischen Umgebung ist, bestünde die Notwendigkeit einer solchen Zwischenbilanz nicht. Aber diese einfachste, schönste und gerechteste Lösung aller Probleme mit Bildung ist, so der Verdacht, eher eine wiederkehrende Technikfantasie, eher ein Erlösungsphantasma als eine Lösung. Mit so etwas lässt sich gut Politik (und viel Geld) machen, aber kaum eine sinnvolle Antwort auf Fragen der Bildung geben. Den Dilettanten erkennt man, schreibt Goethe 1833

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prospekt

in den ‚Maximen und Reflexionen‘, an dem „Fehler, Phantasie und Technik unmittelbar verbinden zu wollen“.

* Unterdessen ziehen die großen Debattenvereinfacher – selbsternannte Medienphilosophen, abstraktionswillige Pädagogen und empirisch gestählte Psychologen, oder auch geschäftstüchtige Auftragsgutachter und Lobbyisten – durch die Arenen und predigen publikumswirksam wahlweise gegen ‚Technikfeindschaft‘ und ‚alte Eliten‘ oder gegen ‚digitale Demenz‘ und ‚Sittenverfall‘. In ‚Büchern der Stunde‘ müssen eilig zurechtgezimmerte Zukunftskulissen den undifferenzierten Ausführungen zu ein bisschen populärwissenschaftlicher Standfestigkeit verhelfen, obwohl dem Leser und der Leserin am Ende doch nur die Wahl zwischen Glaube oder Verdammung gelassen wird. Der Fortschritt kennt eben nur Marschierende und/oder Barrikaden, die Kulturkritik nur Abstieg und Verlust. Aber nichts macht vielleicht die herrschende Hysterie und Desorientierung unter Akteuren und Adressaten dieser Diskussion deutlicher als die folgende Anekdote. Sie tauchte im Februar 2019 unter der Überschrift ‚Was Technik in der Schule bringt‘ in der Süddeutschen Zeitung auf: Am 10. Mai 2017 stellte der ‚Aktionsrat Bildung‘, ein Gremium von zehn Bildungsforschern im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, das Gutachten ‚Bildung 2030 – Veränderte Welt‘ vor. Die wichtigste Botschaft: Die Schulen in Deutschland müssten sich der Digitalisierung öffnen. Untermauert wurde diese Forderung mit einer Studie, der zufolge Grundschüler, die einmal in der Woche am Computer arbeiten, in Mathe und Naturwissenschaften ‚signifikant höhere Kompetenzen‘ aufwiesen. Zahlreiche Medien, auch die SZ, griffen genau das auf. Dumm nur: In der erwähnten Studie steht genau das Gegenteil. Die untersuchten Grundschüler wiesen ‚signifikant niedrigere‘ Kompetenzen auf. Bis der Aktionsrat Bildung eine Korrektur verschickte und sich entschuldigte, vergingen fast zwei Wochen. Viel

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prospekt

Zeit also, monierten Kritiker, in der sich die Falschmeldung ungehindert weiter verbreitete.

* Wahr ist, dass sich vieles ändert, wahr ist aber auch, dass bei grundsätzlichen Neuerungen in und an Institutionen Skepsis angebracht ist; denn was so eindeutig nach Fortschritt und demokratisiertem Lernen klingt wie die Parole ‚Neue und bessere Technik für alle‘, hat offenbar Nachteile: Gerade Bildungsinstitutionen vertragen radikale Durchgriffe aus ‚fortschrittlicheren‘ Gesellschaftsbereichen auf ihre tradierten Abläufe und Programme nicht besonders gut. Und in einem technisch aufgerüsteten, ja, technisch dominierten Feld der Bildung sind Unterschiede der Leistung, Begabung oder Leistungsbereitschaft nur schwer so zu markieren, dass dahinter noch ein Bild der Person auftaucht. Das gilt auch für die Integrität des Lehrpersonals. Die von der Pädagogik vorgesehene Abweichung von der institutionellen Norm als Individualisierungsspielraum muss um ihre Zukunft bangen, wenn die neue Norm ein neutrales Bedienungslevel ist, dessen Einübung nur noch beaufsichtigt werden muss. Hier kommt nun also die Methode ins Spiel: Einmal als Methode der Darstellung dieses Buchs in historischen Schnitten, um die notwendige Differenzierungskraft für die laufende Diskussion zu gewinnen – und als sein Thema. Die deutsche Bildungsidee, wie sie um 1800 von prominenten und weniger prominenten Akteuren ausformuliert worden ist, war und ist im Kern eine Methode, ein Set von koordinierten Techniken. Hier wird sie – inhaltlich – unter anderem als spezifische Aneignung des griechischen Altertums vorgestellt. In den seligen Zeiten eigenständiger, kulturwissenschaftlicher Theoriebildung im deutschen Sprachraum wurde diese Idee – technisch – als ‚Aufschreibesystem‘3 rekonstruiert. An der Geschichte der Entstehung und Anwendung der Idee, aber vor allem auch an ihrer Verbreitung, kann man sehr genau erkennen, was Technik im Ver-

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3 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München (1985).

prospekt

4 Maryanne Wolf, Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen, München (2019).

hältnis zu Bildung – jenseits von Ausstattungsfragen – bedeutet. In diesem Buch wird deshalb daran erinnert, dass um 1800 auf ähnliche Probleme mit Bildung die Antwort einer besonderen Methodik des Lesens gegeben wurde. Schließlich steht auch heute immer noch die Formel ‚Lesen und gelesen werden‘ – vor und zwischen allen Bildschirmen – auf der Tagesordnung. ‚Nicht zu vieles, im Buch, flüssig und mehrfach‘ lautete damals, um 1800, die dringliche Empfehlung. Die neueste Forschung dazu, die schon lange nicht mehr aus Deutschland kommt, beschwört genau diese alte Bildungs- und Buchformel.4 Leserinnen und Leser sollten ‚kritisch‘ den ‚tieferen Sinn eines Ganzen‘ ermitteln und schriftlich oder mündlich wiedergeben können. Die Wiederholung, das mehrfache Lesen, war im Rahmen von ‚Bildung‘ nicht bloß auf Repetition oder Durchkämmen des Vorgefundenen, sondern auf Revision der Ergebnisse aus. Diesen Prozess nannte man ‚Verstehen‘. In seiner Umgebung fand man vor allem gedruckte Bücher.

* Wenn wir heute sinnvoll über das Verhältnis von Technik(en) und Bildung diskutieren wollen, dann müssen wir die Praktiken, Prozesse und Effekte im Inneren des Digitalen im Zusammenhang mit den ersehnten Bildungsprozessen analysieren – aber vor allem auch im Zusammenhang mit den schon bekannten. Das kann nur kleinteilig und vergleichsweise gelingen und nur ohne ständigen Rekurs auf eine entweder wunsch- oder aber angstbesetzte Schimäre gesamtgesellschaftlicher Veränderung. Um zu differenzierten Antworten auf die sogenannte ‚Bildungsfrage‘ zu kommen, sind also drei Aspekte von ‚Bildung‘ zentral: (1) Bildung kulturhistorisch betrachtet, d. h. als sich verändernde Methodik der Wissensaneignung und -stabilisierung, (2) ein der Bildungsproblematik angemessener Begriff von Technik als Techniken oder Gebrauchsweisen in und mit Medien, (3) Bildung als Institution und ihr spezifisches Verhältnis zu anderen Umgebungen wie Wirtschaft oder Politik.

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Vor allem der letzte Punkt führt direkt zum Titel dieses Buchs. Denn zu den entscheidenden Umgebungen von Bildung gehört seit der Frühen Neuzeit auch die Unterhaltung. Heute sind die Bereiche Bildung und Unterhaltung scheinbar schon so dicht zusammengerückt, dass man zentrale Elemente des Gamens – wie etwa das scoring oder die levels – in den Rahmen von (hoch-­technisierter) Bildung einfügen will. Aber schon Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre steht als Roman vor allem für die Unmöglichkeit einer klaren Abgrenzung des schweren Bildungsstoffs und seiner Formen von der leichten Unterhaltung. Im Gegenteil: Das Format des gehobenen Bildungsromans war ein zentrales Vehikel von Bildung, das schnell in Serie ging. Der Bildungsroman sollte die Effekte der zwischen neuer, vorauseilender Spannungslektüre und alter, repetitiver Auswendigkeitslektüre ausgehandelten Methode ‚bildenden Lesens‘ an möglichst viele bürgerliche Männer und Frauen vermitteln. Subjektkonstituierung und Romanlektüre gingen überwiegend gut zusammen, lagen ganz im Interesse von Staat und Gesellschaft. Peter Sloterdijk hat das überzeugend und gründlich als spezifische und produktive Dysfunktionalität des modernen Bildungssystems herausgearbeitet. Er spricht von der ‚List der pädagogischen Vernunft‘, die darin bestünde, dass die neuzeitliche Schule ihre Zöglinge zwar nominell auf den

5

Staat und die ‚Gesellschaft‘ hin erzieht, insgeheim aber immer auch,

Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. (2009), S. 548 f.

zuweilen sogar manifest, am Staat und an der ‚Gesellschaft‘ vorbei. In dem resonanzreichen deutschen Wort ‚Bildung‘ kristallisiert sich diese Verfehlung.5

* Solche Allianzen und systematischen Zusammenhänge wollen also gründlich bedacht sein, bevor man irreversibel in die technischen Bedingungen von Bildung eingreift. Auch die hartnäckigen Gerüchte, dass die Silicon Valley-­Manager der Gegenwart ihre eigenen Kinder von der sich weltweit ausbreitenden Produktpalette ihrer Unternehmen zunächst fernhalten (und lieber zu Montessori oder Steiner 21

prospekt

6 Dazu ausführlich Markus Krajewski, Hilfe für die Hilfswissenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.04. 2019, Nr.85, S. N4.

7 Vgl. Ernst Vollrath, ‚Deutschland? Aber wo liegt es?‘, in: liberal 35 (1993), H.2, S. 8 – 14.

geben), bleiben irritierend. Wie sich (kreative) Grauzonen und Bereiche exakter Messbarkeiten im Fall von Bildung gut austarieren, versteht sich offensichtlich nicht von selbst. Technisch erzwungene Vereinseitigungen könnten in dieser Hinsicht riskant sein. Vor allem dann, wenn ausgerechnet im ‚Land der Ideen‘ die Technik nicht verstanden, vulgo: an den Schulen nicht gelehrt, sondern dort nur eingesetzt wird.6 Coding oder Programmieren als Standard-­Unterrichtsfach ist (anders als anderswo) in Deutschland immer noch kein ernst zu nehmendes Thema. Smartphone-­Verbot auf dem Schulhof allerdings auch nicht (wie im Nachbarland Frankreich), das in Deutschland als zu autoritär gilt. Stattdessen – oder besser: gerade deswegen – baut der Global Player der Branche in Deutschland ein Ethik-­Institut an der Technischen Universität München auf. Das hat als Reaktionsweise in (und auf) Deutschland Tradition, ist ein Erbe des deutschen Idealismus, und mag Balsam für das nationale Gewissen sein.7 Wenn man aber einer übersteigerten Angst vor staatlicher Autoritätsausübung reflexhaft mit immer noch mehr Ethik und Didaktik begegnet, bedeutet das für die Technikreflexion nichts Gutes. Schon die Schüler haben das Nachsehen. Die Bildungspolitik hierzulande zitiert einerseits ängstlich den globalen Wettbewerb, macht so Anschaffungsdruck, und verpflichtet andererseits schon die nächste Generation auf das vorgeführte manichäische Weltbild, indem diese Generation, ethisch korrekt, von altvorderen Bürokraten weiterhin in der Unkenntnis reiner Anwendung gehalten wird.

* Unter dem Namensbanner Wilhelm Meister soll hier deshalb ein etabliertes Vokabular kulturhistorisch verortet und ein aktuelles medienwissenschaftlich überprüft werden. Liegen für das eine schon größere Erzählungen bereit, muss das andere noch katalogartig, im Modus der Inventur bewerkstelligt werden. Von der ‚Bildungs-­App‘ und dem ‚Bildungsmarkt‘ über die ‚Bildungsreform‘, die ‚Bildungsindustrie‘, das ‚spielerische Lernen‘ bis zum ‚Bildungserlebnis‘, dem ‚Katheder‘ 22

prospekt

oder dem ‚Pauken‘ ist alles inventarisiert. Die beiden Teile müssen nicht streng nacheinander gelesen werden, ihre verschiedenen Partien und Einträge sind deshalb verlinkt [➤ Lesen, S. 194], und laden zum Springen ein.

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teil

1

Die Geschichte Bildung als Idee und historische Kulturtechnik

wilhelm meisters erbe

w ilhelm meist er s er be Wir können zwischen einer Einbildung und einer anderen wählen, um unser Verhalten danach einzurichten, und daraufhin die Probe zu machen, aber wir können nicht zwischen einbilden und nicht einbilden wählen. Der Mensch ist dazu verurteilt, Dichter seines Romans zu sein. J. O r t e g a

y

Gasset

Bevor über ein Erbe verhandelt wird, ist in der Regel jemand verstorben. Im Falle des Wilhelm Meister ist die Sache etwas komplizierter.8 Offiziell hat es ihn in deutschen Bildungsanstalten nie gegeben. Sein Leben, das Johann Wolfgang Goethe in eine Sendung und in Lehr- und Wanderjahre unterteilt hatte, war in der Schule zu keinem Zeitpunkt Pflichtlektüre. – Und doch steht sein Name bis heute für den geflügelten Wunsch, „mich selbst, wie ich da bin, auszubilden“. Wilhelm, dessen Weg viele Berufungen, aber kaum Berufe kannte, formulierte diesen Wunsch in den Lehrjahren von 1795 als Brief an einen Freund aus. Als bildungs- und lebenshungriger, als rastloser und sentimentaler Romanheld galt er seinen Leserinnen und Lesern schnell als besonders ‚deutsch‘. Aber nicht etwa, weil er einen faustischen Entdeckungsdrang verspürte, sondern ausgerechnet weil er aus der Richtungslosigkeit zeitweise eine Tugend machte. Weil er die Kunst liebte, weil ihm alles gleichzeitig zu eng und zu weit war, weil er kein rechtes Verhältnis zum Staat oder zum Hof gewinnen konnte und weil er deshalb seine Vorstellung von Bildung vorerst nicht mit dem übereinzubringen vermochte, was die anderen, schon viel nüchterner, als Erziehung, education, self-­cultivation oder formation bezeichneten. Für das Ausstellen eines Totenscheins spricht also die Tatsache, dass er in den Schulen nie gelesen wurde. Vor 1960 machten ihn abwech27

8 Vgl. zu Geschichte und Metaphorik des Erbes Stefan Willer, Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne, Paderborn (2014).

teil 1 – die geschichte

selnd seine Romanform, seine noch ganz unbürgerliche Liebe zum Theater, seine vielen Frauen oder seine Neigung zu dem schwer definierbaren Halbwesen Mignon verdächtig. Nach 1960 fiel er – Ironie der Geschichte – unter die ebenso modische wie unnachgiebige Kritik alles ‚Bürgerlichen‘. Bleibt jene angedeutete, etwas nostalgische Anmutung, dass der Wilhelm Meister immer noch irgendwie für die sympathischeren Seiten der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte steht. Für jene Vorstellung von Bildung, die anders ist als bei den anderen, und die dennoch nicht automatisch von den ‚Dichtern und Denkern‘ zu den ‚Richtern und Henkern‘ führt. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass die literarische Bildung insgesamt jede Brisanz – und sei es nur diese der politischen Abgründigkeit – verloren hat.

*

9 Vgl. J. F. Blumenbach, Über den Bildungstrieb (Nisus formativus) und seinen Einfluß auf die Generation und Reproduction, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 1. Jg./ 5. Stück (1780), S. 247 – 266 u. J. W. v. Goethe, Bildungstrieb (1810), in: ders., Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erster Band, zweites Heft, Stuttgard u. Tübingen (1820).

Das ist umso bemerkenswerter als Goethe und Bildung einmal fast dasselbe waren. Der bis heute alles überragende deutsche Schriftsteller und passionierte Naturwissenschaftler hatte den 1780 von Johann Friedrich Blumenbach erstmals formulierten – angeblich biologischen – ‚Bildungstrieb‘ in den Mittelpunkt vielfältiger Überlegungen gestellt.9 Aber er hatte auch drei Romane über einen gewissen Wilhelm Meister geschrieben. Eine Theatralische Sendung, zahlreiche Lehrjahre und abschließende Wanderjahre wurden der wohl berühmtesten Roman-­Figur der deutschsprachigen Literatur durch Goethe zuteil. Damit handelt es sich strenggenommen um keine einheitliche Figur mehr, sondern um einen mehrfachen und jeweils ganz verschieden angesetzten Schnitt durch die Zeit. Bei jedem Schnitt aber ging es um die Frage, was einer aus sich machen kann und was aus ihm jemanden macht. Die inneren und äußeren Bedingungen könnten für Goethes Helden dabei, gerade unter dem Aspekt der Bildung, unterschiedlicher nicht sein. Als Wilhelm Meister samt seiner theatralischen Sendung 1776 ausgedacht wurde und unter den uneinigen Deutschen auftauchte, lag die Französische Revolution noch vor Europa. [➤ Durchstarten, 28

wilhelm meisters erbe

S. 93] Aufmerksam musterte der Held die Bestände einer älteren, ihm weitgehend verschlossenen Erb- und Adelsgesellschaft. Als er in seinen berühmteren Lehrjahren, nach 1795 also, offiziell die Bühne einer Zeitschrift betrat, herrschten unruhigere Zeiten. Nicht abreißende Flüchtlingsströme und neue National-­Armeen durchzogen den Kontinent, neue Publizisten heizten die Atmosphäre auf, und es kam eine Bewegung in die Welt, die lange Zeit das Lebensgefühl ihrer Bewohner bestimmen sollte. Wilhelm Meister suchte, in dieser allgemeinen Bewegung oder Mobilmachung, für sich selbst einen Lebensinhalt. Als sein Autor 1821 (oder war es 1829?) noch einmal von ihm berichtete, war Wilhelm immer noch, nun als liebevoller Vater, Hobby-­Astronom und angehender Wundarzt, in den Wanderjahren. Ein Hauch von MINT 10 umwehte ihn da schon.

* Vereinheitlicht hat sich also rückblickend nur die begriffliche Perspektive, in der wir diese dreifaltige Figur Goethes betrachten: Bildung. Wilhelms wahre Sendung bestand darin, in bewegten Zeiten seine Berufung zu finden. Die Berufung sollte in einen Beruf überführt werden, aber dabei die Entwicklung einer umfassenderen Persönlichkeit nicht zurückstehen. Seine Umgebung und Epoche begegnete dieser Aufgabe mit der sorgfältigen und sukzessiven Ausbuchstabierung einer ‚universalen‘ Bildungsidee. Aber das noch junge Konzept trug trotz immer neuer Anstrengungen der Präzisierung bei Weimarer oder Berliner Geisteseliten – von Wieland über Herder zu Goethe, Schiller, Humboldt und Schleiermacher – von Anfang an eine Bandbreite von Vektoren und Perspektiven in sich, welche nicht gerade für leichte Überschaubarkeit und Einlösbarkeit sorgte: Der Begriff (Bildung, H. C.) ist von Widersprüchen und Unterscheidungen durchzogen. Wie jedes Nomen actionis kann man ihn als Vorgang oder als Resultat auffassen; im ersten Fall tue ich etwas, im zweiten habe ich etwas, zum Beispiel eine kanonische Bücherkenntnis. Aber auch das Tun, die Praxis selbst ist spannungsvoll,

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10 Buchstaben- und Initialwort aus den Begriffen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.

teil 1 – die geschichte

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entweder reflexiv (ich bilde mich) oder transitiv (man bildet mich),

Heinrich Bosse, Das Dispositiv der Bildung in Jena, in: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich-­ Schlegel-­Gesellschaft  25 (2015), S. 89 – 122, hier: S. 89.

so dass Selbstbildung und Fremdbildung interferieren.11

12 Vgl. dazu Hans Weil, Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn (1930); die Beiträge in Franz Rauhut/ Ilse Schaarschmidt (Hg.), Beiträge zur Geschichte des Bildungsbegriffs, Weinheim (1965); Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis: Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt/M. – New York (1993); Norbert Ricken, Die Ordnung der Bildung: Beiträge zu einer Genealogie der Bildung, Wiesbaden (2006) u. Egbert Witte, Zur Geschichte der Bildung. Eine philosophische Kritik, Freiburg i. Br. (2010).

Abgesehen von der leichten Ironie, dass wir bei Goethe dem Bildungsroman eines Meisters zuschauen, trägt nur der mittlere Roman mit den Lehrjahren wirklich ein Catchword im Titel, das unmittelbar anschließt an die pädagogische Problematik der Bildung. Und auch in diesem wohl berühmtesten Meister-­Buch wird im Sinne der angedeuteten Komplexität nicht entschieden, wie sich die Anteile im Prozess der Bildung konkret auf den Helden, die Lehrer, die Institutionen und das Leben verteilen. Man kann aber davon ausgehen, dass schon in diesem zweiten Meister-­Roman, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, ganz verschiedene religiöse, ästhetische, naturwissenschaftliche und politische Lesarten und Traditionen des Begriffs ‚Bildung‘ zusammenfließen.12 Das berühmteste Statement zum Thema wird Wilhelm in einem langen Brief gegenüber einem Freund äußern – bevor er bei einer umherziehenden Schauspieltruppe als Hamlet unterschreibt. Ausgerechnet für einen befreundeten Kaufmann, den er später als „Gegner“ bezeichnen wird, formuliert der angehende Vertragsschauspieler das ganz aufs Allgemeine, auf die Persönlichkeit zielende Bildungsideal, das man auf ewig mit diesem Roman und seinem Helden – und mit dem Programm der Bildung – in Verbindung bringen wird: Mich selbst, wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich eben diese Gesinnungen, nur dass mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind. […] Wäre ich ein Edelmann, so wäre unser Streit bald abgetan; da ich aber nur ein Bürger bin, so muss ich einen eigenen Weg nehmen […] An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst Schuld; ob sich daran einmal was ändern wird und was sich ändern wird, bekümmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken, und wie ich mich selbst und das was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und erreiche. Ich habe nun einmal gerade zu jener harmo-

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wilhelm meisters erbe

nischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. […] Ich weiß nicht wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er will.13

13 J. W. v.  Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), in: ders., Sämtliche Werke Bd. 5, hg. v. Hans-­Jürgen Schings, Münchner ­Ausgabe, München – Wien (1988), S. 288 f.

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teil 1 – die geschichte

bildung a ls idee

14 Dazu Arnold Gehlen, Bürgerliche Literatur und Kunst (1971), in: ders., Zeit-­Bilder und weitere kunstsoziologische Schriften [= Gesamtausgabe Bd. 9], Frankfurt/M. (2016), S.  451 – 465. 15 Zur allgemeinen (Vor-) Geschichte dieses Umwegs in ganz Europa vgl. Martin Disselkamp, Parameter der Antiqui-­ Moderni-­Thematik in der frühen Neuzeit, in: Herbert Jaumann (Hg.), Diskurse der Gelehrten-­ Kultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin – New York (2011), S.  157 – 177. 16 Zum Unterschied zwischen dem mittelalterlichen Code der ‚Sippe‘ und dem modernen der ‚Familie‘ siehe Friedrich A. Kittler, Einleitung, in: ders., Dichter. Mutter. Kind, München (1991), S.  9 – 17.

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich dieses Universal-­Konzept der Bildung leicht gegen konkrete politisch-­soziale Verhältnisse wenden ließ. Um diesen Verhältnissen etwas entgegensetzen zu können, wählten die Verfechter der Bildungsidee nicht den anlassgebundenen, politischen Kampf (z. B. um eine neue oder überhaupt eine Verfassung), sondern einen bemerkenswerten Umweg: Sie begannen irgendwann und ganz ohne Hamlet, aber bis Heidegger oder bis in bestimmte Zweige der heutigen Reformpädagogik, an jede Art von Verbesserung ihrer eigenen Verhältnisse den Maßstab eines idealisierten klassischen Griechentums anzulegen. Dessen harmonische Konturen lasen sie – mit starkem Akzent auf den ästhetischen – aus einem neu bestimmten Kanon literarischer und künstlerischer Werke und nach einer bestimmten Methode heraus. [➤ Einbilden, S. 103] Die genaue Kenntnis und Verinnerlichung dieses ästhetisch fundierten politischen Ideals – und ihre Abprüfbarkeit in entsprechenden Anstalten – sollten langfristig zum Entreebillet in eine als bildungsbürgerlich ­gedachte bessere Gesellschaft werden.14 Der Erfolg dieses speziellen Umwegs über ‚die Alten‘ ist nicht zu unterschätzen.15 Mit ihm wurde unter den damals im deutschsprachigen Raum gegebenen, besonderen Bedingungen völliger politischer und territorialer Zerklüftung der Anlauf gewaltig verkürzt, den man nehmen musste, um in der zukünftigen Oberschicht ‚gebildeter‘ Bürger landen zu können. Nicht mehr das immer noch vorherrschende lokale Sippen-­Gedächtnis adeliger Familien, das in Jahrhunderten, Geschlechtern, Stammbäumen und Territorien rechnete, entschied über die weiteren Aussichten, sondern – nun auch zusätzlich – das verhältnismäßig kürzere und beweglichere der Familien, Schichten und Milieus, zwischen denen nun vor allem die Förderbänder der Bildungsinstitutionen hin und her zu laufen begannen.16 Auf diese 32

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Bänder musste man den Sprung schaffen – egal von wo aus abzuspringen man gezwungen war. Johann Joachim Winckelmann, immerhin Gründungsvater der deutsch-­griechischen Klassik, war der Sohn eines armen Stendaler Flickschusters. [➤ Durchstarten, S. 93] Um aber die Umstände des Absprungs schneller vergessen zu machen, landete man auf dem Förderband praktisch in einer für alle eingerichteten neutralen Zone, die nun ihrerseits, herkunftsunabhängig, prägend wirken sollte für eine zukünftige Elite. Das Band wurde nach jenem gleichzeitig als verwandt und fremd gedachten Kulturideal Altgriechenlands sorgfältig präpariert: d. h. nach dem Ideal einer toten Sprache, nach dem Ideal eines aus wenigen Texten und Fundstücken imaginierten Klassik.

* Spätestens seit den 1807 begonnenen Preußischen Reformen, frühestens seit dem Erscheinen von Winckelmanns Erstling, der sogenannten Nachahmungsschrift von 1757, und dann bis in die frühen 1970er Jahre, begann im deutschsprachigen Raum eine wirkungsmächtige neuhumanistische Projektion des (Alt-) Griechischen. Sie schlug sich weit entfernt von den Ursprungsgebieten ihrer Gegenstände folgenreich nieder und beherrschte dort zwei Jahrhunderte die Debatten über Bildung.17 Die Sorge um die anhaltende Sichtbarkeit der Idee führte unter anderem zu immer mehr dorischen Säulen vor öffentlichen Gebäuden und, seit 1864 und bis 1966, zu 22 Auflagen von Georg Büchmanns Bestseller Geflügelte Worte. Außerdem mündete sie in den ebenso festen wie berechtigten Glauben der ehemaligen Bewohner dieser Fassaden, dass die Epoche der Bildung ihrem moderneren dynamischen Gewinn- und Aufstiegsstreben in ganz anderen Sphären Halt und Ansehen verleihen würde. Zur Ironie dieser Geschichte gehört auch, dass den Griechen die ihnen als ‚Philhellenismus‘ zwangsweise übergestülpte Liebe der Deutschen, unter der Anleitung von bayerischen Hofbeamten (Wittelsbacher Export-­Könige) des 19. Jahrhunderts, ein Bildungssystem einbrachte, das bis in die 1970er Jahre erkennbar deutsch geprägt 33

17 Vgl. dazu grundlegend vor allem Constanze Guthenke, Placing Modern Greece: The Dynamics of Romantic Hellenism, 1770 – 1840, Oxford (2008) u. Esther S. Sünder­ hauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840 – 1945, Berlin (2005).

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18 Siehe Claudia Schmölders, Faust & Helena. Eine deutsch-­griechische Faszinationsgeschichte, Berlin (2018), S. 115. 19 Bernhard vom Brocke, Institutionelle Wege aus der Krise: Universitätsseminar, Akademiekommission oder Forschungsinstitut. Formen der Institutionalisierung in den Geistesund Naturwissenschaften 1810 – 1900 – 1995, in: Christoph König/ Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt/M. (1999), S. 191 – 215, hier: S. 193. 20 Vgl. Fritz Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890 – 1933 (1969), ­München (1987). 21 Vgl. Hajo Holborn, Deutsche Geschichte in der Neuzeit Bd. II: Reform und Restauration, Liberalismus und Nationalismus (1790 – 1871), Frankfurt/M. (1964/ 1981), S.  168 – 171.

war.18 Auch der Hinweis, dass es ausgerechnet nordamerikanische Studenten waren, die am besten aufgepasst hatten, als sie – als Gaststudenten – das deutsche Bildungssystem von innen kennen lernten, ist bemerkenswert: Unter der wachsenden Zahl ausländischer Studenten stellten die US-Amerikaner bis Mitte der 1890er Jahre auch die größte Gruppe dar, „die dann ihre Universitäten nach deutschem Vorbild reformierten“.19 Obwohl diese ‚Yankees‘ doch für die deutschen ‚Mandarine‘ das ganze Gegenteil von Kultur und Tiefe verkörperten, übertrafen sie mit ihren Vorzeige-­Institutionen die Vorbilder schnell um ein Vielfaches und setzten einen bis heute gültigen neuen Weltstandard.20

* Doch das Ansehen des (Neu-) Humanismus hatte als bürgerliches Bildungs-­Programm in Deutschland schon früher gelitten, als ein leicht verklärter Rückblick in Sachen Bildung zunächst vielleicht vermuten lässt. Schon bevor das neuhumanistische Programm in den 1970er Jahren offiziell durch konkurrierende Schultypen ohne altsprachliches Angebot, durch Oberstufenreform und wahlorientiertes Kurssystem, ansatzweise verabschiedet wurde, waren Zweifel an ihm aufgekommen. Das Programm hatte in den Augen vieler eigentlich schon die Dynamik der Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kaum abfangen können.21 [➤  Fabrizieren, S. 130] Bemerkenswert ist, welch eine kritische und differenzierte Prognose Eugen Rosenstock-­Huessy, der gleichzeitig einer der wichtigsten Vordenker der internationalen Erwachsenenbildungsbewegung war, dem Konzept schon 1929 stellte: Die gesamte Kultur der Neuzeit ist humanistisch. Der humane Mensch, der humanistische Mensch hat sich gespiegelt in den Marmorbildern des antiken Hellas und in den Gesetzen des antiken Rom. Die Völker Europas alle haben ihre festen Kulturbauten, ihre Verwurzelung in ein staatliches, örtliches und ländliches ‚Dasein‘ verklärt durch den Blick auf das klassische Altertum. Wohin wendet sich nun der moderne Nomade, um sein ‚delokalisiertes‘, entortetes Völ-

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kerwanderungsdasein zu verklären? […] Eins ist sicher: Hellas und

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Rom verblassen für ihn. Das humanistische Gymnasium ist ja nicht

Eugen Rosenstock, Vom Staat zum Stamm, in: Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen, Heft 6 (1929), S. 377 – 382, hier: S. 379.

zufällig aus dem Inbegriff aller Bildungsanstalt heut ein bescheidenes Fünftel oder Sechstel geworden, ein Typ unter vielen. Damit ist das klassische Ideal preisgegeben. Weder die griechische Kunst noch das römische Recht sind heute noch die Maßstäbe der eigenen Sozialordnung für diese neuen Gesellschaftsschichten. Wie sie die alten humanistisch vorgebildeten Akademikerschichten nicht als ihren ‚Typ‘ anerkennen, so sind auch die Ideale, die in diesen Typen gestaltet sind, nicht mehr die Ideale dieser neuen Massen. Hellas und Rom werden noch lange als Vorbehaltsgut der alten gesättigten Gesellschaftsschichten lebendige Ideale bleiben. Aber sie sind an ihre sozialen Grenzen gekommen, über die hinaus sich ihre Geltung nicht mehr verschieben läßt.22

Er sollte in vielem Recht behalten. Der Neuhumanismus hat zwei von Deutschen angezettelte Weltkriege nicht gut überstanden. [➤ Politisieren, S. 210] Und die verstörende Tatsache, dass bei Arno Breker, dem Hofbildhauer der Nationalsozialisten, die neuen Germanen am Schluss genauso aussehen sollten wie die alten Griechen, dass „die Architektur des Faschismus und des NS weitgehend klassizistisch“ 23 ist, hatte das Konzept auch nicht gerade vertrauenswürdiger gemacht. Aber solche Verirrungen haben unsere Sinne endgültig dafür geschärft, dass diese Griechen von Anfang an eben eine Projektion waren, dass solche Projektionen als mächtige kulturleitende Projektionen produktiv und gefährlich zugleich sind. [➤ Eindeutschen, S. 108] Aber Projektionen als Umrisszeichnungen der Zukunft aus der verschoben wahrgenommenen Vergangenheit sind unumgänglich, wenn etwas gestaltet werden soll.

* Universalität als Maximalforderung – das sieht man gut am Wilhelm Meister – taugt vor allem als Kampfbegriff in Zeiten ausgeprägter Partikularität und Privilegien. Langfristig muss Universalität sich aber an eine Art Muster-­Epoche andocken, um der Polemik auch 35

23 Dazu insgesamt Klaus Heinrich, Karl Friedrich Schinkel. Albert Speer. Eine architektonische Auseinandersetzung mit dem NS [= Dahlemer Vorlesungen. Zum Verhältnis von ästhetischem und transzendentalem Subjekt], Frankfurt/M. – Basel (2015), hier: S. 15.

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24 Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008 – 2011, Berlin (2012), S. 589.

eine tragende, kulturhistorische Füllung mitzugeben. Dadurch mutierten dann – etwas fern der historischen Wahrheit – polychromorientalisch angehauchte Griechen zu marmorweißen Muster-Hellenen. Diese tauchten vor allem als Gipsfiguren unter den Deutschen auf, wie einmal spöttisch bemerkt wurde: „Natur und Bildung hatten sich auf den Gips als universales Darstellungsmittel geeinigt.“ 24 Das tat aber der Wirkung keinen Abbruch. Es müssen eben ein Kontrastprogramm, eine scheinbar eherne Norm und eine kostengünstige Material-­Brücke zur Gegenwart gleichzeitig her, damit Bildungsprogramme erfolgreich durchlaufen können. Und nicht zufällig ist eine der ersten Brücken im deutschsprachigen Raum ein antik ausgestatteter Bildungsroman: Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon von 1766/67. Der wie der Wilhelm Meister in drei Varianten veröffentlichte Roman sorgte dafür, dass diejenige neue Literatur im Rahmen von Bildung nicht überflüssig wurde, deren aktuelle Stärke es ja gerade war, den schmerzhaften Abgleich von Ideal und Wirklichkeit im Inneren der Helden genauestens zu dokumentieren. [➤ Empfinden, S. 114] Da sich außerdem im Kontext von Erziehung – als ‚Bildung‘ z. B. – jede Idee immer noch schrittweise in ein biografisches Verlaufsschema übersetzen lassen musste, sind Bildung und Roman seitdem geradezu prädestiniert dafür, ihrerseits eine innige Beziehung einzugehen. Wir dürfen gespannt sein, was dieses DreamTeam in Zukunft ersetzen wird.

*

25 Zu Rousseaus ‚Emile‘ als „verdeckte Vorlage“ von Goethes Meister-­Romanen vgl. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1982), Frankfurt/M. (1997), S.  647 – 653.

Geprägt wurde das Wort vom ‚Bildungsroman‘ gleich zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einem ziemlich unbekannten Dorpater Ästhetik-­ Professor namens Karl Morgenstern. Diese Art literarische Lebens-­ Ästhetik fand ihre Fortsetzung z. B. als ‚Familienroman‘ in der Psychoanalyse Freuds oder als ‚Drama des begabten Kindes‘ in der Gegenwartspädagogik. Ganz ohne ästhetische Kategorien scheinen wir bei den ganz großen Fragen immer noch nicht auszukommen. Seit Wielands Agathon oder seit dem Wilhelm Meister-­Komplex, inspiriert von dem sofort alles überragenden Rousseauschen Emile, war das Feld dieser Fusion von Roman und Bildung abgesteckt.25 Es war 36

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deutlich geworden, dass Erzählbarkeit einen Maßstab und eine Probe für Bildungsprozesse liefern konnte.26 Nicht zufällig hielten Psychologie und Soziologie faktisch zuerst mit einer bestimmten neuen und unterhaltsamen Prosaform Einzug. [➤ Formatieren, S. 154] Das ‚Erzähle oder lese dich ganz selbst wie eine/einen andere(n)!‘ der Roman-­Literatur schuf auch ungeahnte Reflexions- und Entwicklungsspielräume für reale Subjekte. Die neue Fassung des aufgeklärten Individuums, das sich nun gleichzeitig selbsttätig bilden und in Institutionen bilden lassen sollte, hatte und hat denn auch etwas Entscheidendes gemeinsam mit dem modernen Roman: In beiden Fällen herrschte zunächst eine Form der Formlosigkeit (P. Sloterdijk) oder Offenheit, die Spielräume, aber auch Angst bereithielt. Dem Individuum schrieb nun keine ständische Hierarchie mehr vor, was am Ende aus ihm geworden sein konnte. Dem neuen Roman schrieb um 1800 keine alte Gattungspoetik mehr vor, wie er seinen Inhalt zu ordnen und vor allem angemessen auszudrücken hatte. Bürgerlicher Roman und bürgerliche Bildung sind deshalb auch kaum mehr auseinander zu halten, wenn es um die Bewältigung der Angst vor den nun möglichen Zufällen (bzw. der Kontingenz) des Lebens geht: So vereinigte man sich auch darüber, dass man dem Zufall im Roman gar wohl sein Spiel erlauben könne; dass er aber immer durch die Gesinnungen der Personen gelenkt und geleitet werden müsse.27

Der angstmachenden, kontingenten Welt wurde mit der Forderung nach der Bildung der Person begegnet, der kontingenten Romanwelt entsprach die Erwartung einer – im Guten wie im Schlechten – nachvollziehbaren (weil Schema-­gerechten) inneren Entwicklung des Hauptpersonals.28 Bildung formulierte, so wird es viel später die Soziologie sagen, eine Antwort auf den ‚Synchronisationsbedarf moderner Gesellschaften‘. In diesen Gesellschaften passiert(e) leider zunehmend immer mehr Disparates gleichzeitig bzw. immer mehr gleichzeitiges Geschehen konnte umgehend und nebeneinander berichtet werden: 37

26 Vgl. Wilhelm Voßkamp, ‚Un Livre Paradoxal‘. J.-J. Rousseaus ‚Emile‘ in der deutschen Diskussion um 1800, in: Herbert Jaumann (Hg.), Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin – New York (1995), S.  101 – 113.

27 J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), in: ders., Sämtliche Werke Bd. 5, hg. v. Hans-­Jürgen Schings, Münchner Ausgabe, München – Wien (1988), S. 306. 28 Dazu Werner Frick, Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen (1988) u. Erich Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München (1973).

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Man kann so weit gehen, den Synchronisationsbedarf moderner Ge-

Armin Nassehi, ‚Wir werden es gewusst haben!‘ Das Internet als Massenmedium, in: Kursbuch 195 ‚#realitycheck_medien‘ (September 2018), S. 53 – 67, hier: S. 54 f.

sellschaften als deren operatives Grundproblem anzusehen […] Die Dynamik moderner Lebensformen besteht gerade darin, dass Disparates zusammengebracht werden muss. Die großen normativen Ideen, die uns unser Leben selber führen lassen, die uns gut protestantisch nicht nur eine kontinuierliche Lebensführung, sondern auch eine konsistente Geschichte dazu abverlangen, sind das Ergebnis einer diskontinuierlichen Welt. Erst wo die Anforderungen des Lebens nicht mehr zusammenpassen, muss das Leben aktiv geführt und synchronisiert werden.29

* Bildung reagierte so gesehen mit einem besonderen Geschichten-­Typ auf die rasante Zunahme von Wahrnehmungs- und Wertungsproblemen. Sie reagierte auf eine Zunahme von Simultanität, die die Orientierung und Einheit des Subjekts zu bedrohen schien. Die Tatsache, dass ausgerechnet Bildung und Buch lange Zeit eine so enge und erfolgreiche Korrelation eingegangen sind, könnte deshalb auch mit einer in genau diesem Zusammenhang interessanten Qualität des Buch-­Mediums (und einer bestimmten Art seines Gebrauchs) zusammenhängen: Gerade das Buch kann Disparates vorbildlich erzählerisch synchronisieren – selbst dann noch, wenn Geschichten wie die von Ulysses, Ulrich (als einem Mann ohne Eigenschaften) oder Franz Biberkopf eigentlich schon die wachsende Unmöglichkeit dieser Ordnungsleistung auf der Seite des Subjekts zum Thema haben. Das Buch bändigt die Simultanität der großstädtischen, der konsumweltlichen ‚Reizüberflutung‘, bändigt die Simultanität der anschwellenden Gedanken- oder Verkehrsströme, bändigt den übermächtigen Andrang der Bild-, Empfindungs- oder Gesprächsimpulse. Eine buchförmige Geschichte kann einfach nicht anders, als Ereignisse und Personen, Stimmungen und Gespräche, nacheinander zu erzählen, in ein Kontinuum zu bringen und zu hierarchisieren bzw. zu schematisieren. Sie kann auch nicht anders, als genau das durch eine umfassende, lineare, wenn auch zunehmend komplexe Integration von Teilen in ein größeres Ganzes zu bewerkstelligen. Es geht um 38

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„eine Abfolge von Ereignissen und Aktionen, die zusammen einen Sinn ergeben“, wie es Walter Burkert schon im Zusammenhang mit den ‚Kulten des Altertums‘ einmal formuliert hat.30 Dieses schwierige Ganze wird auch dann noch von Buchdeckeln klar begrenzt, wenn schließlich Fortsetzungen oder Fußnoten über es hinausführen.

* Heute gilt ‚Bildung‘ vielen – trotz des eigenwilligen Antike-­Bezugs und trotz ihrer Entstehung unter den Bedingungen ausgebliebener Staatlichkeit – als zu deutsch und damit als zu isoliert, als ‚pädagogische Provinz‘. Anderen wiederum ist Bildung als Konzept zu philosophisch und damit zu allgemein, zu ‚universal‘. Bildung ist in jedem Fall scheinbar nicht mehr zeitgemäß, nicht ausreichend wirklichkeitsbezogen und pragmatisch. Aber Bildung ist immer noch da – oder besser: wieder da. Ministerien nennen sie hartnäckig so [➤  Appellieren, S. 65], die meisten Bürgerinnen und Bürger nennen sie immer noch so, viele Wissenschaften kehren unter diesem Namen zu ihr zurück. Woran könnte das liegen? Woran fühlen sich die Sprecherinnen und Sprecher – möglicherweise nur noch unbewusst – erinnert, wenn sie einen solchen, angeblich überkommenen Sprachgebrauch weiterpflegen? Woher rührt diese unterschwellige Erwartung an Bildung, die anscheinend gerade durch ihre mangelnde Präzision – z. B. gegenüber definierten Wissensgebieten und ‚Kompetenzrastern‘ – wertvoll bleibt? Warum hat man Bildung als zwar ganz eigenwilliges, aber gerade dadurch auch Herkünfte neutralisierendes Förderband nicht vergessen? Die Antwort auf diese Frage hat viel mit Wilhelm Meister zu tun. Im Zentrum der Debatten und Ausführungen über Bildung lag und liegt immer noch, zunehmend unausgesprochen, eine ästhetische Kategorie – der Bildungsroman.31 Denn Bildung ist ein Diskurs darüber, wie ein realer Mensch ungefähr mit dem zur Deckung gebracht ­werden kann, was in der literarischen oder philosophischen Fiktion (aber eben auch in der alltäglichen Fantasie der Subjekte) seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert schon hundertfach groß und allgemein 39

30 Im ausdrücklichen Rückgriff auf Wilhelm Schapps Klassiker ‚In Geschichten verstrickt‘ von 1953 hier: Walter Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München (1998), S. 74 ff.

31 Vgl. insgesamt Wilhelm Voßkamp, Der Roman eines Lebens: Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin (2009).

teil 1 – die geschichte

entworfen worden ist: Es geht um das, was jeder und jede Einzelne in Auseinandersetzung mit den wechselnden Umständen seines oder ihres Lebens werden kann und dann tatsächlich wird. Das sind die zwei Komponenten, die erst den richtigen Kleber für eine Biografie ergeben.

32 Michael Rutschky, Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren, Göttingen (1998).

Der Alltagssoziologe Michael Rutschky hat die Reichweite der Lebensromane 1998 in Zehn Kapiteln über das Phantasieren noch einmal ausgedehnt.32 Misslingt diese übergeordnete Aufgabenstellung von Bildung langfristig – z. B. bei anhaltender, psychisch ungesunder Inkongruenz von tatsächlichem Leben und eingebildetem Lebensentwurf –, dann kommt auch hier der Roman ins Spiel. Das wiederholte Abfassen eines ebenfalls ‚Lebensroman‘ genannten Texts wird zum ersten, selbst-­anamnetischen Instrument von Heilungsversuchen im therapeutischen Rahmen. Von dieser Logik romanhafter Lebensgestaltung und ihrer Bewusstwerdung handeln – detaillierter als jedes andere Medienformat – immer schon die Bildungsromane.

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bildung als historische kulturtechnik

bildung a ls hist or ische k ult urt echnik Was einem angehört wird man nicht los und wenn man es wegwürfe. G o e t h e , W a n d e r j a h r e (1829)

Im Kerngebiet der Bildungsidee lag keine ausgearbeitete Theorie, sondern etwas, das sich – mittels Beispielen – als Einübung einer Kulturtechnik beschreiben lässt: die Vorstellung ‚bildenden Lesens‘ in und von Büchern.33 Das überrascht nicht, klingt plausibel – und doch muss man fragen, was die griffige Formel eigentlich über eine bloße Verdoppelung hinaus zu bieten hatte. Was war damit gemeint? In welchem Verhältnis standen Idee und Praxis dabei? Gemeint war ein Umgehen mit Geschichten, eine Form ihrer lesenden Aneignung, die das ordnend-­integrative Moment des gängigen Buchformats zum langfristigen Vorteil der Heranwachsenden nutzen half, zu ihrer Stabilisierung beitrug. Gemeint war also vor allem eine spezielle Form des Lesens. Diese war im 18. Jahrhundert aus älteren, religiösen Praktiken des Lesens in dem ‚einen Buch‘, das tatsächlich immer schon viele war, weiterentwickelt worden war: Das religiöse Buch hat niemals als solches in unveränderlicher Art und Weise existiert. Es ist vielmehr der Gebrauch, den die glaubenden Menschen von ihm machten, der ihm seine spezifische religiöse Eigentümlichkeit verlieh.34

‚Bildendes Lesen‘ war nun – wie im Falle der Bibel oder des Gesangbuchs – ein intensiver, auf den Modus der Wiederholung bauender Gebrauch des Buches, der sich überraschenderweise auf mehrere weltliche Bücher übertragen ließ. [➤ Lesen, S. 194] Die Modifikation, die 41

33 Eine Kulturtheorie der ‚Übung‘ bei Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung, Berlin (2010).

34 Hans Erich Bödeker et al., Der Umgang mit dem religiösen Buch in der frühen Neuzeit. Anmerkungen zum Forschungsthema, in: ders. (Hg.), Der Umgang mit dem religiösen Buch. Studien zur Geschichte des religiösen Buches in Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit, Göttingen (1991), S. 13 – 24, hier: S. 15.

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35 Vgl. Herbert Schöffler, Der junge Goethe und das englische Bibelwerk (1938), in: ders., Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte, 2. Aufl., Göttingen (1967), S.  97 – 113. 36 Winfried Kretschmann, Biografie in Büchern (Protokoll Marc Reichwein), in: Die Literarische Welt, 09. 02. 2019, S. 32.

dazu notwendig war, ist auch der Schlüssel zur ‚Bildung‘.35 Die Bibel wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts langsam, aber unaufhaltsam – ähnlich wie die Religion insgesamt – von einer Masse neuartiger Bücher aus dem Zentrum des Lebens, des Lesens und der Unterweisung Heranwachsender herausgedrängt und wanderte, bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Geschichtenkosmos ganz an den Anfang der Lesebiografie: „Das erste Buch, das ich sehr bewusst selber gelesen habe, war eine Bilderbibel“ 36, gab der neunte Ministerpräsident von Baden-­Württemberg, Winfried Kretschmann, Jg. 1948, zu Protokoll. Dass bei dieser Ablösung die Unterhaltung eine Art Vorreiterrolle einnahm, unterscheidet die Zeit um 1800 nicht von unserer Gegenwart, in der ‚federführend‘ die computergestützte Spielkultur den Büchern in den Kinder- und Jugendzimmern den Rang abläuft. Michel Foucault meint genau das, wenn er in seinem Essay ‚Das unendliche Sprechen‘ von 1963 darauf hinweist, dass von dem anonymen Unterhaltungs-­Roman

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Das geheimnisvolle Kind, der 1798 veröffentlicht wurde, bis zur

Michel Foucault, Das unendliche Sprechen (1963), in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. (1988), S. 90 – 103, hier: S. 99.

Restauration 1 200 000 Exemplare verkauft waren. Das heißt, dass

38 Dazu Detlev Kopp / Nikolaus Wegmann, Das Lesetempo als Bildungsfaktor? Ein Kapitel aus der Geschichte des Topos ‚Lesen bildet‘, in: Der Deutschunterricht 4 (1988), S.  45 – 58.

jeder, der lesen konnte, und jeder, der überhaupt je in seinem Leben ein Buch aufgemacht hat, dieses Buch gelesen hatte.37

* Zwischen Medientechniken und -praktiken der Unterhaltung und den Formen und Gegenständen der ernsten Unterweisung müssen einfach, seitdem es moderne Unterhaltung gibt, immer wieder Kompromisse gefunden oder Brücken geschlagen werden. Die Hauptwurzeln eines ‚bildenden‘ Gebrauchs der Bücher lagen deshalb von Anfang an in zwei sehr unterschiedlichen Böden, wuchsen aus sehr verschiedenen Richtungen zusammen. Die profane Roman-Unterhaltung ist diese zweite, der Religion scheinbar entgegengesetzte Richtung.38 Wie muss man sich das vorstellen? Ungefähr so: Als die andächtige – laute oder leise – wiederholte Lektüre des einen ‚heiligen‘ Buchs auf mehrere ‚weltliche‘ überging, änderte sich auch das Tempo der Lektüre. Die Schlagzahl der Wiederholungen wurde ma42

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ximal – unter den Umständen der unterhaltenden ‚Spannung‘ sogar bis auf eins – heruntergesetzt. Der Radius der reduzierten Durchgänge dagegen wurde entsprechend vergrößert. Es wurde mehr gelesen.

* Grund und Hintergrund dieser weitreichenden Änderungen weisen auf bestimmte Personenkreise und ihre sich wandelnden Aufgaben hin. Fachleute für höhere Bildung waren seit der europaweiten Karolingischen Renaissance zunächst die Gelehrten unter den Mönchen gewesen. Ihr Umgang mit dem Buch der Bücher war oft nur schwer von einer kultischen, repetitiven Versenkung zu unterscheiden: contemplatio.39 Die Theologen der Frühen Neuzeit wurden dann – wie die Renaissance-­Gelehrten – Fachleute für die Sprachen der Alten. Deren – heidnische – Texte waren ein notwendiger und hoch verehrter Korridor auf dem Weg ins Paradies der Heiligen Schrift. Ihr dienten sie dann vor allem durch Übersetzung und Kommentar.40 Nach den gelehrten Theologen waren im 18. Jahrhundert, oft noch in Personalunion, die neuen Klassischen Philologen weiterhin auch die Fachleute für die Sprachen der Bibel: Sie ehrten und lehrten Hebräisch und Altgriechisch als die Original-­Sprachen der Bibel, Latein als die Sprache ihrer frühen Übersetzungen. Über contemplatio, Übersetzung und Stellen-­Kommentar hinausgehend landeten diese Philologen aber schon bei der historisch-­vergleichenden Kritik der Texte und bei der einfühlenden essayistischen Paraphrase ihrer kulturhistorischen Entstehungsbedingungen. [➤ Empfinden,  S. 114] Man schrieb nun – zuerst in England – über Homer und die Bibel. Frankreich konturierte sich erwartungsgemäß dagegen: Durch den Anschluss an ein ebenso eingebildetes und idealisiertes Römertum mit ganz anderen Stilidealen. [➤ Eindeutschen, S. 108] Der Sprung vom Stellenkommentar in das summarische Kultur-­Essay ist entscheidend und hat einen Hintergrund: Den etwas behäbigen altphilologischen Lehrern und Lesern, d. h. ihren Methoden und Gegenständen, machte seit etwa 1740 jene schnellere, nicht unbedingt extensive Romanlektüre in ihrer Umgebung gewaltig Dampf. 43

39 Dazu Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos ‚Didascalicon‘, Frankfurt/M. (1991). 40 Dazu Herbert Jaumann, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden – New York – Köln (1995).

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41 Dazu Matthias ­Bickenbach, Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, Tübingen (1999), S.  142 – 147.

[➤  Umgeben,  S. 307] Damit rücken diese scheinbar verstaubten Akteure uns augenblicklich näher, sehr nahe. Die Gelehrten begannen, die schnellere – eilende oder cursorische – Romanlektüre in die philologische Unterrichtsmethodik zu integrieren, d. h. mit der etablierten Wiederholung im engen Umkreis zu kombinieren.41 Dem geduldigen Verharren wurde ein neugieriges Vorauseilen beigemengt, der kleinschrittigen Gedächtnisgymnastik ein freierer Lauf der Vorstellungskraft. ‚Stelle‘ und ‚Strecke‘ gingen im Zeichen von Verstehen und Vorstellen eine Allianz ein.

* 42 Dazu (immer noch) Herbert Schöffler, Die Reformation. Einführung in eine Geistesgeschichte der deutschen Neuzeit (1936), in: ders., Wirkungen der Reformation. Religionssoziologische Folgerungen für Deutschland und England, Frankfurt/M. (1960), S.  105 – 188. 43 Angaben und Zitate nach Etienne Francois, Das religiöse Buch als Nothelfer, Familienreliquie und Identitätssymbol im protestantischen Deutschland der Frühneuzeit (17. – 19. Jahrhundert), in: Ursula Brunold-­Bigler/ Hermann Bausinger (Hg.), Hören. Sagen. Lesen. Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. FS f. R. Schenda z. 65. Geb., Bern – Berlin – Frankfurt/M. (1995), S.  219 – 230.

Aus dieser Konstellation von heiligen, klassischen und profanen Techniken bzw. Stoffen der Lektüre entstanden speziell im deutschsprachig-protestantischen Kulturraum Begriff und Idee der ‚Bildung‘. Konzentriertes Sich-­Versenken in das Eine und selbstvergessenes Durchqueren des Vielen haben seitdem und bis heute mehr miteinander zu tun als man gemeinhin annimmt. Im neuen Gehege der Bildung trafen sehr unterschiedliche Geländeprofile aufeinander.42 Das religiöse Buch hatte in „der relativ kargen Kulturwelt des Protestantismus“ einen besonderen Status, insofern es „alle Kräfte und Qualitäten auf sich konzentrierte“, die „in der katholischen Kultwelt einer großen Zahl unterschiedlicher Objekte zugeschrieben wurden“. Bücher fanden sich in protestantischen Landen – folgt man entsprechenden Listen von „Inventuren und Teilungen zwischen 1748 und 1820“ vom Norden bis zum Süden – in manchen Städten bei 98 Prozent dieser Haushalte. (In Frankreich waren es um die 30 bis 40 Prozent). Nur knapp 2 Prozent waren dabei weltliche Bücher.43 So konnten sich die quasi-­dingliche, aber intime, über Hausandachten gepflegte Verehrung des Buchs und eine sich stetig erhöhende Lesekompetenz zu etwas Besonderem verbinden. Verehrung und Konsum ergänzten sich in einer neuen, diesseitigen Dimension. Technik – als Techniken des Mediengebrauchs – war deshalb aber auch nie das Gegenteil von Bildung. Den sehr deutschen Schlüsselbegriff Bildung begleitete von Anfang an auch der Ausbau spezieller 44

bildung als historische kulturtechnik

medientechnischer Verhältnisse, ihn begleiteten von Anfang an Tempo- und Mengenfragen. Eine zentrale Voraussetzung für Bildung war – neben jener besonderen Variante des auf Verstehen (statt auf Imitieren und Kontemplieren) angelegten neuen Lesens – eine Umwelt aus Büchern und der stete Ausbau einer Infrastruktur aus und für Bücher(n). Die Rede ist von Endlospapier aus Holzbrei, von Seminar-­ Bibliotheken oder von Verlagsvierteln in den Großstädten, wie das Leipziger Graphische Viertel mit den Verlagshäusern von Meyer, Brockhaus oder Reclam 44 samt Druckereien. [➤ Fabrizieren, S. 130] Die Rede ist von altsprachlichen Gymnasien oder auch nur von massigen Schreibtischen und großflächigen Bücherregalen bzw. Lesesesseln, Leselampen und Ablagen.

* Diese Zeiten sind passé, obwohl die Bücher natürlich noch da sind. Allerdings nicht mehr da, wo sie früher waren. Die Bücher haben das Segment Bildung verlassen und sind anderswo erfolgreich. In den Schulen zirkulieren lose Lehrmaterialien durch die Mappen der Schüler und Schülerinnen oder mit Smartphones abfotografierte Arbeitsblätter in den WhatsApp-­Gruppen der Klasse – bis möglicherweise die Schul-­Cloud und Learning Analytics oder Personalisiertes Lernen kommen. In den Universitäten wird der Stoff schon lange als PDF ‚hochgeladen‘. Die Campus-­Buchhandlungen müssen dagegen mangels Umsatz reihenweise schließen. Wer Bildung bisher vor allem mit dem Buch assoziierte, gerät also in Schwierigkeiten. Solche Veränderungen weiterhin an verschiedenen Formen des ‚normalen Buchgebrauchs‘ zu messen, der seinerseits nie den ganzen Globus erreicht hatte, wäre absurd. Tatsächlich gibt es eine rein analoge Buchproduktion seit längerem so gut wie nicht mehr. Doch eine einfache Ersetzungslogik greift gleichfalls nicht, denn den Buchgebrauch als mögliche Vergleichs- und Bezugsgröße in Bildungsfragen ganz zu streichen, wäre ebenso abwegig. Schließlich entstanden viele Probleme, die eine Bildungspolitik lösen und die Angebote, die sie machen soll: Die Ideale, denen sie dabei folgt, die 45

44 Sabine Knopf, ‚Keine Stadt war besser geeignet, dieses Werk auf sich zu nehmen‘. Die Buchstadt Leipzig um 1914 und die BUGRA, in: Ernst Fischer/ Stephanie Jacobs (Hg.), Die Welt in Leipzig. BUGRA 1914, Hamburg (2014), S.  125 – 151.

teil 1 – die geschichte

Vorstellung von Kultur, die dabei vorherrscht, allesamt noch unter Bedingungen des Buchgebrauchs. Die Rhythmen, Zeittakte, Mengenverhältnisse, Ideen und Formen des Buchs und des Buchgebrauchs haben die Bildungsidee entscheidend mitgeprägt. [➤ Verlangsamen, S. 314] Man kann deshalb den Buchgebrauch um 1800, in seiner als ‚bildend‘ gedachten Variante, durchaus als Form der Kontingenzbewältigung und als Einübung in einen routinierteren Umgang mit inneren und äußeren Simultanitätszumutungen bezeichnen. Hier liegt sicherlich auch eine Messlatte für neue Medien und Medienformate hinsichtlich ihrer bildenden Kapazitäten.

45 Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission ‚Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft‘ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-­Westfalen, Neuwied – Berlin (1995).

Ein leider wegweisender Kommissionsbericht aus Nordrhein-­ Westfalen begründete 1995 Richtlinien einer neuen Bildungspolitik mit der etwas unbeholfen in Aussicht gestellten (und auch wenig überraschenden) Möglichkeit, „sich durch Bildung Kultur anzueignen“ 45. Der Bericht schwieg sich über das Entscheidende leider aus: nicht dass ‚man sich durch Bildung Kultur aneignet‘, sondern wie man sich durch bildende Techniken welche Elemente einer Kultur am besten aneignet, ist die eigentliche, konkrete Aufgabenstellung. Wie diese Aneignung spezifischer Inhalte und Fertigkeiten technisch zu bewerkstelligen ist (und wie nicht), muss man wissen. Hier kommen ‚Rhythmen, Zeittakte, Mengenverhältnisse, Ideen und Formen‘ zum Tragen. Wie diese interagieren, ablaufen sich ergänzen oder ausschließen und sich (mit welchen Konsequenzen füreinander?) historisch wandeln – darum müsste es gehen. Wie lässt sich solch ein technisches Wissen für ein zu vermittelndes Konzept von Kultur und Kultiviertheit, für Bildung also, optimal nutzen? Ohne diese Frage beantworten zu können, kann auch niemand die relative Stabilität einer nationalen oder europäischen Kultur, in die ja dann laufend integriert werden soll und muss, begründen.

46

Die Gegenwart Bildung nach dem Ende von Kanon und Interpretation

nach dem k anon

nach dem k a non Gender, Race, Class etc. Wilhelm Meisters Geschichte war von Anfang an Literatur, aber sie war auch von Anfang an unsere Geschichte. Jetzt könnte diese Geschichte auserzählt sein. Andere Typen und Techniken treten unmissverständlich in den Vordergrund der Selbstdarstellung und Ausbildung von Individuen. In den Schulen werden keine ‚Bildungsromane‘ mehr gelesen, sondern Öko-­Thriller und Fantasy-­All-­Age-­Bücher. Als Genre-­Mix werden sie noch etwas vom Bildungsroman – wenn auch in homöopathischen Dosen – transportieren, aber voraussichtlich weit unterhalb der Merklichkeitsschwelle. Wilhelm Meister, Heinrich Lee, Hans Castorp oder Siggi Jepsen sind nicht etwa für Comic, Fantasy oder Film bloß einen Schritt zur Seite getreten. Das wäre eine Diagnose im Rahmen der seit den ausgehenden 1960er Jahren laufenden ‚Entkanonisierung‘ der Kultur, also einer durchlässiger gewordenen Grenze zwischen jeder Art von Klassik und vermeintlicher Trivialität. Nein, gerade Wilhelm Meister und Konsorten sind nun, im Bannkreis jener, in der Umgebung der ‚alten Bildungsinstitutionen‘ allgegenwärtigen ‚neuen Medien‘, vom Lektüreplan weitgehend abgetreten. Unter den verbliebenen Stichworten ‚Selbstentwürfe‘, ‚Ich-Repräsentationen‘ oder ‚Vorbilder‘ werden heute verständlicherweise eher Instagram-­Accounts, Facebook-­Profile und YouTube-­Kanäle besprochen, das Berufsziel Influencer analysiert oder Bewerbungsvideos auf Probe gedreht, als Blicke in den Wilhelm Meister, auf den Zauberberg oder in die Deutschstunde geworfen.46 Und wenn schließlich nach der Bildungs-­App gesucht wird, sollte auch jedem klar sein, dass das Gerät, auf dem diese läuft, nicht mehr ‚Buch‘ heißt. [➤ Applizieren, S. 68] Aber selbst wenn die genannten literarischen Protagonisten, in ihren technisch seltsamen Buchformaten, allesamt unzeitgemäß geworden sein mögen, weil das gesamte Format ‚Buch‘ im Zusammenhang mit ‚Bildung‘ unzeitgemäß geworden ist, stellt sich immer51

46 In einem Vortrag vom 15. 11. 2018 an der Universität Luxembourg erläuterte der Gymnasiallehrer und Bildungsforscher Charles Meder einen Unterrichtsblock zum Thema ‚Influencer‘.

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hin die Frage, ob man die Auseinandersetzung mit ihren komplexen, aber immer noch ordnend-­synchronisierenden Geschichten durch zeitgemäße Formate und Techniken wirklich ersetzen kann. Denn nur eins ist genauso sicher wie der technische Umgebungswandel – und das ist das Beharren der Bildungspläne auf den Wert der Persönlichkeitsbildung.

47 Kathrin Friedrich, (Art.) Scannen, in: Verf./ M. Bickenbach/ N. Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs Bd. 2, Wien – Weimar – Köln (2018), S.  397 – 424.

48 John McCarthy, ‚Plan im Lesen‘: On the Beginnings of a Literary Canon in the 18th Century (1730 – 1805), in: Komparatistische Hefte 13 (1986), S.  29 – 45.

Biografische Rechenschaftsberichte und literarische Subjektentwürfe mit langfristigem Orientierungswert werden als Thema, Verfahren und Problem voraussichtlich nicht einfach aus unserer Welt verschwinden. Unzählige Romane wurden und werden auch genau so gelesen. Solche Lektüren bezeichnet man heute als deep reading – und hebt es damit begrifflich ab von einem scanning. Scanning könnte zwar auch am Buch praktiziert werden, meint aber vornehmlich die neuen, bildschirmgestützten Medien.47 Wie sich aber gerade die technisch forcierte Simultanität der Stoffpräsentation dieser neuen Bildschirm-­Medien zu den unter Bedingungen des Buchs entwickelten Werten und Anforderungen an die Bildung der Person oder – noch schnöder – Lebensläufe verhält, ist, vorsichtig gesagt, noch kaum erforscht. [➤ Vernetzen, S. 323]

* Die Erosion der auf die Person durchgreifenden Formenwelt des Buchs aber steht selbst bei Vermeidung jeglicher kulturpessimistischer Untertöne außer Frage. Der Kanon der Great Books, den es als eine einheitliche, ausbuchstabierte Liste natürlich nie gab, war dabei ein zentrales, kulturhistorisches Formelement von Bildung, war eine Institution in der Institution. Der Kanon als Instrument sorgte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts technisch und inhaltlich für ein einigermaßen stabiles Programm in den Bildungsinstitutionen, sorgte für eine Programmierung.48 Die Menge der Texte, aus der für den jeweiligen operativen Kanon gewählt werden konnte, war begrenzt, aber sie war ohne Zweifel mächtiger als der oder die Einzelne, aber auch mächtiger als die jeweilige Gegenwart. Die Technik, mit der die ausgesuchten Texte angeeignet werden sollten, war – wie wir 52

nach dem k anon

schon gehört haben – von der neuen Idee der ‚Bildung‘ vorgegeben: Die Texte mussten gründlich, d. h. wenigstens zweimal gelesen werden.49 So konnte man den höheren Wert des Textes stabilisieren und ihn gleichzeitig neu diskutieren. Indem man über die Texte schrieb, mit ihnen argumentierte, sie erneut auslegte oder einfach aufsagte, stabilisierte sich idealerweise langsam auch die Ichstruktur der in den Kanon Eingeführten. Auch in dieser Hinsicht war der Kanon strukturiert oder gestuft. [➤ Wiederholen, S. 361] Der Kanon und die verlangsamenden Praktiken seiner Aneignung verliehen der Institution und den sie durchquerenden Individuen eine ‚Eigenzeit‘ (H. Nowotny) auf Zeit – in der Hoffnung, dadurch bei ihnen eine ‚Eigenheit‘ auf Dauer zu begründen.

49 Vgl. Georg Stanitzek, ‚0/1‘, ‚einmal/zweimal‘ – der Kanon in der Kommunikation, in: B. J. Dotzler (Hg.): Technopathologien, München (1992), S.  7 – 24.

* Das Schrumpfen der Lektürepläne, das Verschwinden des Kanons, hat aber – bevor die Problematik der neuen technischen Umgebung der Bildungsinstitutionen endgültig in genau dieser Hinsicht virulent wurde – auch politische Gründe: Bevor der Kanon technisch in die Krise gerät, wird er zunächst als Inhalt und schließlich als Form suspekt. Ähnlich wie in dem frühromantischen Diktum ‚Der Staat soll aufhören!‘ (weil er nicht ästhetisch genug war), das man abwechselnd Hölderlin, Hegel und Schelling zuschreibt, heißt es jetzt ‚Der Kanon soll aufhören!‘ (weil er nicht politisch genug ist). Schon geht es nicht mehr darum, ihn umzugruppieren, ihn zu modernisieren, um die üblichen Kanon-­Kämpfe, sondern darum, ihn ganz, als Idee und Form, zu diskreditieren. Der Blick auf die Literatur hat sich gesellschaftsweit gewandelt. Natürlich wird nach wie vor zur Unterhaltung von allen so ziemlich alles gelesen. Aber so wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, fügen sich saisonale Bestseller nicht automatisch zu einem Kanon, der diese Saison überlebt. In den Institutionen ist eine politische Debatte angekommen, die etwas zu der Unmöglichkeit beiträgt, an diesem Kardinal-­Prinzip der Bildung festzuhalten.50 Voraussetzung für die politische Zuspitzung ist ein vergleichsweise primitiver Begriff von der Literatur – jedenfalls 53

50 Z. B. bei Henry L. Gates, Loose Canons: Notes on the Culture Wars, New York (1992).

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im Vergleich zum 18. Jahrhundert oder zur Klassischen Moderne. Dieser Begriff fasst literarische Texte nicht mehr primär als komplexe, ästhetisch-­historische Gebilde, die einer vorsichtigen und mehrfachen Auslegung harren, die Gegenstand einer Übung sind, sondern als – anfechtbare – Repräsentationen von Klasse, Geschlecht und Ethnie der Autorinnen und Autoren. Interpretation und Entlarvung kommen sich auf diesem Wege bedenklich nahe. Von Herkunft und/oder Anlage des Autors bzw. der Autorin determiniert, vernimmt man durch den Text angeblich nur noch die Stimme dieser verschiedenen sozio-­biologischen Determinationen. [➤ Umgeben, S. 307]

51 Vgl. dazu Verf. Bei den Bandar-­log. Wunderbare Wiederaneignungen. (Zu Kiplings ‚The Jungle Book‘), in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 72. Jg. (2018), H.826, S.  79 – 87.

52 Hannah Klaubert, ‚Beyond the West, Beyond the Canon – Feminist Ecocriticism Today‘, in: KULT_online. Review Journal for the Study of Culture. Issue 56, October 2018 [= Rez. zu: Douglas A. Vakoch/ Sam Mickey (Hg.), Literature and Ecofeminism. Intersectional and International Voices, London – New York (2018)].

Solche Gedanken sind nicht ganz neu und hatten in der Vergangenheit das Bewusstsein für mögliche politische Lesarten (eben nur scheinbar) harmloser Texte geschärft. Nun aber kommen diese alten Lesarten regelmäßiger in neuen Kleidern auf die Tagesordnung und bestreiten kurzerhand jegliche Relevanz von Lesarten anderer Couleur. Die Debatte gipfelt vorerst im Vorwurf gegen bestimmte Kunstwerke, dass ihre Bedeutung ganz in der politisch illegitimen Interpretation, vulgo: Aneignung (Appropriation) unterdrückter Kultur aufginge, derer sie sich schuldig gemacht hätten.51 Es ist besonders schmerzlich, die ältere – durchaus auch ‚strategische‘ und damit angreifbare – Vorstellung vom ‚zeitlosen unerschöpflichen Kanon für alle‘ nun gewissermaßen offiziell in ihr Gegenteil transformiert zu sehen: in die scheinbar eindeutigen politischen Verhältnisse von Besitz und Aneignung. Der nächste, konsequente Schritt ist dann, zu einer aktivistischen Literaturkritik aufzurufen – wie es unter der vielsagenden Überschrift ‚Beyond the West, Beyond the Canon‘ in der einschlägigen Literatur (und ihren diversen Spielarten) auch schon praktiziert wird: Ecofeminism first emerged from activism. It therefore only makes sense […] that the contributions at hand subscribe to an ethics of relationality and care and embody a political-­activist approach in literary studies.52

* 54

nach dem k anon

Erst jetzt sind diese alten neuen Lesarten – als hochkulturelle Variante der Volkserziehung – in postindustriellen liberalen Gesellschaften mehrheitsfähig. Damit sind sie auch in der Lage, den neuen, zählebigen, aber intellektuell letztlich wenig befriedigenden Mainstream zu repräsentieren. Kurz: Eine weitere Rochade von (selbsternannter) Dissidenz und des Deutschen Spießers Wunderhorn (G. Meyrink) scheint fällig. Von dem Moment an jedenfalls, als die träge politische Drift der Institutionen in diese Richtung einmal angestoßen war, wurde es zunehmend schwieriger, gegen die neue Gruppe ‚schrecklicher Vereinfacher‘ anzukommen. Drängendere intellektuelle Aufgabenstellungen dagegen, z. B. die Aufgabe, eine substanzielle politische Qualität solcher Lektüren jenseits ihrer lautstarken Dissidenz- und Emanzipationsprämissen zu reflektieren – z. B. ihre Qualität, einfach nur eine neue Gruppe von Funktionären zu ermächtigen und installieren zu helfen –, blieben in den entsprechenden Debatten erwartungsgemäß bislang unbearbeitet.

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nach der ­i n t er pr etat ion Digital Humanities

53 Dazu auch Roberto Simanowski, Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft, Berlin (2018), S.  160 – 168.

Die im vorangegangenen Kapitel geschilderte forcierte Politisierung der Interpretationspraxis in den Kulturwissenschaften wird am Ende, so fürchte ich, nicht unerheblich dazu beigetragen haben, den Umgang mit Sprache und Literatur in den Bildungsinstitutionen für die zunehmend von automatisierter und algorithmisierter Datensammlung und Datenbankabfrage gekennzeichneten Verhältnisse der Gegenwart aufzuschließen. Möglicherweise halfen diese Fächer mit ihrer kritischen politischen Blockade der Tradition nur unwissentlich dabei, den Durchmarschweg für die ‚sachlich-­technische Revolution‘ freizusperren. [➤ Revolutionieren, S. 266] So könnte der mühsamen, langsamen, strittigen Lektüre schwieriger, d. h. auch kognitiv immer schwerer zugänglicher Texte ausgerechnet nach einer großen ‚Vereinfachung‘ in den Schulen und Universitäten die letzte Frist blühen.53 Breite Zugänglichkeit und maximale Schnelligkeit sind nicht zufällig die unschlagbaren Zauberformeln der neuen Umgebungen. So treten ‚selbstevidente‘ und ‚sachliche‘ Darstellungsverfahren wie Statistiken, Verbreitungsdiagramme, schnell und massenhaft heruntergeladene Bilder, anonyme netzenzyklopädische Zusammenfassungen und automatisch korrigierbare, schematisierte Inhaltsangaben ihren voraussehbaren Siegeszug an. Die neue Praxis gibt es schon längst: Man fragt, wie bei einem Quiz, ob Wilhelm Meister raucht und in welchem Kapitel er eine Kutsche besteigt. Das sind Fragen, die ohne Zweifel Aufschluss darüber versprechen, ob überhaupt gelesen wurde. Von der eigentlichen historisch-ästhetischen Qualität des Romans schneiden sie uns eher ab. Da die entsprechenden Apps der US-amerikanischen Marktführer Accelerated Reader und Scholastic Reading (!) zur Zeit jeweils ungefähr 100 000 ‚Bücher‘ und 190 000 programmierte ‚Tests‘ oder ‚Quizzes‘ für Schülerschaft und Lehrkörper bereit halten, gibt es keine Prob56

nach der interpretation

leme mit Ausgaben oder Auswahl: Die Schüler und Schülerinnen können vorschlagen, was sie (überhaupt noch) lesen wollen. Das Konzept Kanon erledigt sich mit der Überführung von Literatur in Big Data von selbst.54 Die Lehrkräfte – gerade in den angelsächsischen Ländern – sind so auch sicherer vor den Klagen der Anwälte sich ethnisch, religiös oder geschlechterpolitisch diffamiert wähnender SchülerInnen, Eltern, Studierender oder KollegInnen. Das historische Bewusstsein, das einmal durch Textkritik entstanden ist, hat hier, jenseits juristischer Beweisführungen, voraussichtlich erst einmal ausgedient. [➤ Kritisch sein, S. 185]

54 Nach Nikolaus Wegmann, Quality Storage. On Technologies Designed to Keep the Past Alive, Vortrag an der Vanderbilt University/ Nashville (unveröffentl. Vortrags-­ Typoskript, Oktober 2018).

* Weil auf Algorithmen gestützte Praktiken unterdessen tagtäglich auf jedermanns Smartphone zur Anwendung kommen, wird ihre Akzeptanz auch und gerade im Bildungssystem unaufhaltsam wachsen. Wenn mittels einer speziellen Datenbank in Sekundenschnelle alle Erstaufführungsorte von Kleists Prinz Friedrich von Homburg im Unterricht visualisiert werden, ist das nicht sehr weit entfernt von einer alltäglichen Google-­Anfrage, die – mittels ‚Mapping‘ – z. B. über spezielle Dienstleister in der Umgebung eines beliebigen Standorts informiert. Dieses Vorgehen beruht auf einem längst preislich, territorial und designerisch demokratisierten volksnahen Technikgebrauch und meidet fortan die zeitaufwendigere und entscheidungsskeptische Interpretation. [➤ Applizieren, S. 68] Warum unter Einzelnen über Einzelheiten ausführlich streiten, wenn man gemeinsam so schnell so viel finden kann? Statt zu diskutieren überlegt man sich lieber noch eine Abfrage-­Frage oder lässt sich die nächste einfach vorführen. In der Politiktheorie nannte man das einmal, durchaus wohlwollend, ‚akklamative Demokratie‘: Die natürliche Form der unmittelbaren Willensäußerung eines Vol-

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kes ist der zustimmende oder ablehnende Zuruf der versammelten

Carl Schmitt, Verfassungslehre. Sechste, unveränderte Auflage, Berlin (1928/1983), S. 83 f.

Menge, die Akklamation. In modernen Großstaaten hat die Akklamation […] ihre Gestalt verändert. […].55

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*

56 Für diese Euphorie steht etwa Chris Andersons Essay aus der Zeitschrift Wired, Das Ende der Theorie. Die Datenschwemme macht wissenschaftliche Methoden obsolet (2008), in: Edition Unseld (Hg.), Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit, Berlin (2013), S.  124 – 130. 57 Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neu­ tra­lisie­rungen und Entpolitisierungen (1929), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923 – 1939, Berlin (1940/1988), S.  120 – 132, hier: S. 128.

Was sich in der Schule auf die Sprach- und Sprechfähigkeit, auf die Chance einer kulturellen Identitätsbildung auswirken wird, ich spreche vom ‚Aus‘ der literarischen Bildung, nimmt in der Universität vor allem auf zwei Wegen Gestalt an: Entweder wechselt man ganz einfach die Seiten unter der beruhigenden Überschrift ‚Digitale Geisteswissenschaften‘, oder man kann nur noch durch die immer schärfere Fassung des Gerechtigkeitsbegriffs, durch die immer konsequentere Politisierung der ästhetischen Angelegenheiten, reüssieren. [➤ Politisieren, S. 210] Nach den zermürbenden Streitereien retten sich diejenigen, die – gegen ‚activism‘ – an der Wissenschaft festhalten, auf das ‚neutrale Gebiet‘ einer neuen Technik, die die alten Streitfragen hinter sich zu lassen erlaubt, indem sie eine ganz neue Klasse von unbelasteten, frischen Fragen und Antworten (und wiederum ‚Karrieren‘) generiert.56 Jener, schon zitierte Politologe – ein ‚faschistischer Piccolo‘ (I. Fetscher) – war eigentlich ‚Staatsrechtslehrer‘ und eine Art Fachmann für die historische Wanderung solcher Neutralitätserwartungen in immer neue Sachgebiete. Er erläuterte das Prinzip und die Reihenfolge am 12. Oktober 1929 in einem Vortrag auf der ‚Tagung des Europäischen Kulturbundes‘ in Barcelona: Gegenüber theologischen, metaphysischen, moralischen und selbst ökonomischen Fragen, über die man ewig streiten kann, haben die rein technischen Probleme etwas erquickend Sachliches; sie kennen einleuchtende Lösungen, und man kann es verstehen, dass man sich aus der unentwirrbaren Problematik aller anderen Sphären in die Technizität zu retten suchte.57

Ist also diese datenbankgestützte und applikationsfreudige Technisierung der Geisteswissenschaften [➤ Vortragen,  S. 335] und des Erziehungswesens die Lösung für eine gegenwärtig allseits beklagte Tribalisierung und Trivialisierung der politischen, publizistischen und intellektuellen Debattenkultur? Der Experte sagte vor neunzig Jahren ‚Nein‘! Allerdings war er – und das ist hier wichtig – damals 58

nach der interpretation

schon kein Technik-­Feind. Er warnte sogar eindringlich vor einer pauschalen Technik-­Angst und drängte vor seinen Zuhörern nur darauf, dass man die Hoffnungen genau prüfen müsse, die sich mit der Technik verbinden. Denn aus der Immanenz des Technischen heraus ergibt sich keine einzige

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menschliche und geistige Entscheidung, am wenigstens die zur Neu-

Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neu­ tra­lisie­rungen und Entpolitisierungen (1929), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – V ­ ersailles 1923 – 1939, Berlin (1940/1988), S.  120 – 132, hier: S. 129.

tralität. […] die Technik selbst bleibt, wenn ich so sagen darf, kulturell blind.58

* Debatten um Bildung sind laufende Debatten. Das heißt, wir übersehen das Gelände nie endgültig, sind aber gezwungen eine Stellung zu beziehen, die vielleicht schon bald wieder aufgegeben werden muss. Zu entscheiden, was den Einsatz wert ist, bleibt auch hier eine Entscheidung. Aber Kulturtechniken sind unter Umständen auch tragfähiger und gründender als die rasend schnellen Geländegewinne einer jeweils neuesten Technik oder Politphraseologie. Bildungsprogramme können zwar keine unverrückbaren Wissensbestände und -gebiete umreißen und ein für alle Mal abgrenzen, aber sie können Techniken des vergleichenden (Wieder-)Erkennens zwischen unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Horizontausschnitten vermitteln. Der romanhaft ausgestaltete Charakter einer Figur ist so ein Horizont. Damit kann dem Eigenen ein – wenn auch relativer – Stellenwert zugemessen und zumindest die Vorstellung eines vorläufigen Maximums mitgegeben werden. So haben es die zukünftigen Deutschen einmal erfolgreich mit den vergangenen Griechen gehalten. Als ­Claude Lévi-­Strauss im hohen Alter sehr grundsätzlich über die Prinzipien seiner weltberühmten Strukturalen Anthropologie nachdachte, berief er sich ausdrücklich auf die Bemühungen der Renaissance um die klassischen Sprachen:

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Man erkannte, dass eine Zivilisation sich nicht selbst denken kann, wenn sie nicht über eine oder mehrere andere verfügt, die ihr als Vergleichsterme dienen.59

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Claude Lévi-­Strauss, Anthropologie in der modernen Welt, Berlin (2012), S. 41.

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Diese Erkenntnis ist auch für jüngere Medienkulturen noch von großem Wert, insofern es der Gegenwart voraussichtlich einmal ähnlich ergangen sein wird wie einer der verschiedenen Vergangenheiten, die allerorten in ihr weiterglimmen. Die Fähigkeit, richtige, aufschlussreiche Vergleiche anstellen zu können, aber war immer schon nicht nur ein Kennzeichen hervorstechender individueller intellektueller Potenz, sondern vor allem auch eine sinnvolle Zielsetzung von Bildungsprogrammen. Denn „das Vermögen, zu vergleichen, ist die Quelle des vitalen Elans, wenn Elan die Fähigkeit meint, Älteres auf Neues zu beziehen“ 60.

Peter Sloterdijk, Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013, Berlin (2018), S. 46 f.

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teil

2

Die Bildungsdebatte Eine Inventur

appellieren

a ppellier en Die Bildungspolitik

Der Bildungsziele sind viele. Gleichzeitig sind sie oft fast unbegrenzt konsensfähige, ethisch-­philosophische Trostformeln: ‚Aus der Vergangenheit zu lernen‘, ‚ein kulturhistorisches Erbe der Menschheit oder der jeweils eigenen nationalen Kultur zu bewahren‘, ‚ein Ideal vom kultivierten Menschen zu entwickeln und weiterzugeben‘, ‚die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass jeder und jede dieses Bild kennenlernen und ihm nacheifern kann‘ – all das kann mit dem Wort ‚Bildungsziele‘ gemeint sein. Die relative Allgemeinheit dieser Inhalte deutet auch an, dass es neben der Auflösung oder Verkleinerung der Bildungsfrage aufs Technisch-­Pragmatische die Möglichkeit einer Vergrößerung oder sogar deutlichen Übersteigerung der Bildungs-­Frage ins Ethisch-­Gesellschaftliche gibt. Damit manövriert man sich unter Umständen an konkreten Problemlösungen und Antworten vorbei. Bildung ist im deutschsprachigen Raum offiziell, in Parteiprogrammen oder Jahresberichten überparteilicher Ethik-­Kommissionen, immer noch das Codewort für ein Leben ‚mit allen Möglichkeiten‘: Möglichkeiten, sich auszudrücken, sich selbst zu verwirklichen oder einfach aufzusteigen. Die finale Verzerrung dieses Programms ins gänzlich Untechnische, Nicht-­Institutionelle, Gesellschaftlich-­Ethische klingt dann offiziell so: Bildung soll als Lern- und Entwicklungsprozeß verstanden werden,

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in dessen Verlauf die Befähigung erworben wird, diesen Anspruch

Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission ‚Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft‘ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-­Westfalen, Neuwied – Berlin (1995), S. 12.

auch für alle Mitmenschen anzuerkennen, Mitverantwortung für das Gestalten der ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse zu übernehmen und die eigenen Ansprüche, die Ansprüche der Mitmenschen und die Anforderungen der Gesellschaft in eine vertretbare Relation zu bringen.61

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teil 2 – die bildungsdebat te

62 Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission ‚Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft‘ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-­Westfalen, Neuwied – Berlin (1995), S. 30. 63 Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission ‚Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft‘ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-­Westfalen, Neuwied – Berlin (1995), S. XVI. 64 Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission ‚Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft‘ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-­Westfalen, Neuwied – Berlin (1995), S. 138.

Die Überfrachtung hat Methode. Die Einsätze werden in dieser für fast alle anderen Bundesländer und für alle folgenden Denkschriften bis heute absolut stilbildenden, 354 Seiten umfassenden bildungspolitischen Programmschrift von 1995 stetig erhöht: Es geht (nur) ums Ganze (der Aufklärung, der Verantwortung, der Orientierung, der Selbstbestimmung, der Umwelt, der Zukunft usw. usw.). Hier dürfen auch ‚die Medien‘ oder der ‚Medieneinfluss‘ als – natürlich – entscheidende neue gesellschaftliche Realität nicht fehlen.

* Doch anders als im Falle der Verantwortung, der Politik oder des Gesellschaftlichen ist im Falle der Bildung die Appellebene irgendwie unbefriedigend, denn sie bewirkt nichts. Die Sachebene kann offenbar nicht ganz ausgespart bleiben. Spätestens wenn es heißt, dass „durch Bildung Kultur angeeignet wird“ 62, müsste die Ebene der „Kulturtechniken“ 63 auch wirklich betreten werden, um vorstellbar zu machen, was gemeint sein könnte, d. h. was und wie konkret gelernt werden müsste. Stattdessen werden, über hundert Seiten später, eine „Einbeziehung der Medien als integrierte Medienpädagogik“ 64 und „Bausteine“ für eine entsprechende „universitäre und schulpraktische Ausbildung“ 65 gefordert. Woher die ‚Medienkompetenz‘ vor dieser Integration kommen soll (und wie sie aussieht), bleibt offen, bis noch einmal 200 Seiten später ein einziges und letztes Mal zu diesem ‚entscheidenden‘ Thema schmallippig von einem diesbezüglichen ominösen „Fortbildungszertifikat“ oder „Fortbildungspass“ 66 die Rede ist – wieder ohne Inhalte. Fast 25 Jahre später ist genau das immer noch der ‚Stand der Dinge‘, denn auch Behörden und Kommissionen kennen unterdessen die Copy&Paste-­Funktion auf der Tastatur. Was wäre stattdessen zu tun? Richtig ist, dass nur hier, in Deutschland, das Gemeinte auch tatsächlich ‚Bildung‘ heißt – mit besonderen Implikationen, die sich aus der ebenfalls besonderen Geschichte dieser Idee ergeben. Genauso wahr ist auch: Die Zeiten ändern sich und wir stecken mitten in globalen kommunikationstechnischen Veränderungen, die solche kulturellen Besonderheiten ein Stück weit neu66

appellieren

tralisieren. Doch Bildungspolitik, die eben in einer nationalen Tradition steht – ob sie das will oder nicht –, kann Konzeptlosigkeit und fehlende Programmatik nicht durch umso lautere ethische Appelle kompensieren. Die Gegenwart – in diesem Fall das Bundesbildungsministerium – versendet angesichts der radikalen technischen Veränderungen eben Appelle, doch bitteschön einen kritischen Umgang mit Informationen aus dem Netz zu pflegen. [➤ Kritisch sein, S. 185] Medienkompetenz ist gefragt. Diese Appelle werden wohl unerhört verpuffen. Appelle werden den Steigerungs- und Verdichtungseffekt, den Institutionen bei der Arbeit mit den Rohstoffen des Wissens in jedem Einzelnen erzielen müssen, nicht nachhaltig in Gang setzen. Appelle werden Bildungsprobleme nicht lösen. Und schnellere Rechner oder besserer Empfang allein oder im Zusammenspiel auch nicht. Appelle aber haben andere Qualitäten. Sie schaffen es als Form zügiger als andere in die Medien. Womit wir immer noch beim Thema wären. Und wer das schon mal (über Appelle!) gelernt hat, hört nach einem Appell nicht gleich auf zu denken, sondern fragt lieber ‚Warum ist das so?‘ Hier genau beginnt erst Bildung in Sachen Medien. – Genau das fällt aber offiziell nicht unter ‚Medienkompetenz‘.

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65 Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission ‚Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft‘ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-­Westfalen, Neuwied – Berlin (1995), S. 139. 66 Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission ‚Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft‘ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-­Westfalen, Neuwied – Berlin (1995), S. 317.

teil 2 – die bildungsdebat te

a pplizier en Die BildungsApp Programmiereliten Wohl oder übel – wer kann oder möchte das schon beurteilen – muss man sich unter den herrschenden technologischen Bedingungen etwas Neues unter der Überschrift ‚Bildungspolitik‘ überlegen. ‚In der Gefahr wächst das Rettende auch‘ wusste noch der klassische Deutschlehrer. Aber es wuchs bisher nichts. Das einzige, was ganz unaufgefordert und relativ unkoordiniert wuchs und wächst, ist die ‚Digitalisierung‘. Leider erwächst aus diesem Fortschritt oder dieser fortschreitenden Technisierung unserer Lebenswelt, parallel, kein genaueres Wissen über ihr Verhältnis zu Prozessen der Bildung. Der deutsch-­tschechisch-­brasilianische Medienphilosoph Vilém Flusser hat bis zu seinem Tod 1991 unermüdlich erläutert, dass die ‚Programmierer‘ dieses digitalen Wachstums auch die neue Elite stellen werden, die ganz anders ‚gebildet‘ sein wird als die alte: 67

Aus diesem Blickwinkel lässt sich die gegenwärtige Lage etwa folgen-

Vilém Flusser, Alphanumerische Gesellschaft (1989), in: ders., Medienkultur, hg. v. Stefan Bollmann, Frankfurt/M. (1997), S. 41 – 60, hier: S. 53.

dermaßen schildern: Eine Elite, deren hermetische Tendenz sich fortlaufend verstärkt, entwirft Erkenntnis-, Erlebnis- und Verhaltensmodelle mit Hilfe sogenannter ‚Künstlicher Intelligenzen‘, welche von dieser Elite programmiert werden, und die Gesellschaft richtet sich nach diesen für sie unlesbaren aber befolgbaren Modellen. Da die Modelle für die Gesellschaft undurchsichtig sind (‚schwarze Kisten‘), ist sie sich nicht einmal völlig bewusst, derart manipuliert zu werden.67

68 Dazu Vilém Flusser, Unsere Schule (1982), in: ders., Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen, Düsseldorf (1990), S. 152 – 157.

Seine Prognose ist längst Realität.68 Vom klassischen Deutschlehrer unterscheidet den Programmierer, dass ihn zwar ‚content‘, nicht aber Inhalte interessieren. Von den Vertretern der alten politischen Funktionseliten, den Funktionären in Ost und West, unterscheidet ihn, dass er im Herzen nichts mit dem Staat zu tun hat. Es liegt nun relativ nahe, dass Funktionäre ehemaliger Staatsparteien aus lauter 68

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Ratlosigkeit eine ominöse ‚Digitalisierung‘, die Flusser seit den frühen 1970er Jahren analysiert hat, wie den plötzlichen Anbruch einer weiteren ‚strahlenden Zukunft‘ beschwören. Faktisch werfen sie mit diesem am Paradiesmythos orientierten Hoffnungsbild, das möglicherweise über konkrete Unwissenheit hinwegtäuschen soll, den privatwirtschaftlich orientierten Programmiereliten, die es tatsächlich gibt, die Bildungspolitik vor die Füße. Da in einer Art digitaler ‚Graswurzelrevolution‘ der Programmierer nun häufig einfach der – in Sachen Computer autodidaktisch sich heranbildende – Schüler ist, der seine eigene Institution auf diesem Wege umkrempeln will, ist der Weg auch gar nicht mehr so weit. [➤ Revolutionieren,  S. 266] Dies kann man am besten am wolkigen Kult um die sogenannte BildungsApp studieren. Noch geht es dabei um die Programmierung einer Lernplattform, die Schülern helfen soll, sich besser auf die Klausuren vorzubereiten.

69

Die Lehrer legen klausurrelevante Lernbereiche mithilfe der App fest,

Der Schüler-Programmierer Rubin Lind im Gespräch mit einer Bildungsredakteurin. [in: Marie Steffens, Kakao statt Kaffee, in: Die Welt (‚Bildung‘), 07.04. 2018, S. 15].

die die Schüler dann online üben können.69

Aber die Hoffnungen gehen längst weiter: Man wartet auf den unbekannten Programmierer aus dem Volk (der Schüler), der die ganze Bildungsproblematik technisch löst. Wilhelm von Humboldt wurde 1809, mit einundvierzig Jahren, Direktor der Sektion des Kultus und öffentlichen Unterrichts des preußischen Staates.70 Hier, bei der erlösenden ZukunftsApp, erfährt der alte, von Humboldt bemühte Name des Kultus einen ganz neuen Sinn.

Was ist eine ‚App‘? Als Hans-­Georg Gadamer um 1960, nach einer steilen bundesrepublikanischen und einer nicht ganz so steilen reichsdeutschen Laufbahn als Philosoph, noch einmal gründlich über das Verhältnis von Wahrheit und Methode nachdachte, erkannte er im Kern der Problematik den Transfer von Fremdem, erst noch zu Verstehendem, in den eigenen, schon ausgebildeten Verstehenshorizont. Diesen Transfer, diese Einsicht, „dass im Verstehen immer so etwas wie eine An69

70 Vgl. Lothar Gall, Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin (2011), S.  138 – 225.

teil 2 – die bildungsdebat te

71 Hans-­Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), in: ders., Gesammelte Werke Bd. 1: Hermeneutik I, Tübingen (1990), S. 313.

wendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet“ 71, nannte er merkwürdigerweise – und im Rückgriff auf die pietistische Bibelhermeneutik – ‚Applikation‘. [➤ Empfinden,  S. 114] Er konnte nicht ahnen, dass er dem Begriff damit zu einer weiteren Karriere verhalf. In alten textilkundlichen Handbüchern war der Begriff nämlich schon ausführlich behandelt worden: Man denkt ja auch unwillkürlich an geschmacklose, sehr günstige Kleidungsstücke, an Strass oder Tüll. Tatsächlich war Tüll einmal ein wertvoller Grundstoff und waren Applikationen ursprünglich weder überflüssig, noch billig, noch sinnlos. Sie sind eine ehemals eigenständige handwerkliche Kunstform der Textilbearbeitung mit speziellen Werkzeugen bzw. Maschinen. Sie reichen zurück bis zur sündhaft teuren Brüsseler Spitze verblichener Patriziergeschlechter und zu den Fasten- und Hungertüchern des Mittelalters und fristen nur heute ein kärglicheres Dasein in den Ausbildungsplänen der Textil-­Branche. Einen letzten Höhepunkt erlebten sie mit dem Collage-­affinen internationalen Modedesign der 1920er Jahre – bevor sie 10 Jahre später in nationalen Handbüchern verschwanden:

72

Unter Aufnäharbeit (Applikation) versteht man die Musterung von

Hugo Glafey (Hg.), Textil-­ Lexikon. Handwörterbuch der gesamten Textilkunde, Stuttgart – Berlin (1937), S. 34.

Kleidungsstücken, Tischdecken, Vorhängen usw. durch Aufnähen ausgeschnittener oder gestanzter Stoffteile in abstechender Farbe. Die Auflagen werden mit Schnürchen oder Zierstichen auf dem Grundstoff befestigt. Die Arbeit kann in Seide, Samt, Brokat, Plüsch, Leinen oder Leder ausgeführt werden.72

* Geht man heute in eines der verbliebenen Fachgeschäfte, stößt man dort auch auf Myriaden von Knöpfen. Auch Knopfapplikationen sind, egal wie sie aussehen, nur vordergründig austauschbar und garantieren in den allermeisten Fällen nichts weniger als die Funktionalität des gesamten Kleidungsstücks. Die Knöpfe fanden denn auch schnell den Weg aus der Textilbranche in die Medien, genaugenommen ans 70

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Radio, und bildeten damit frühzeitig dort eine begreifbare Benutzeroberfläche aus.73 Sie gehörten einem „wesentlichen Schritt im Domestizierungsprozess des ,elektrischen Apparates‘ Radio“ an und „symbolisieren den Übergang vom Amateur zum Massenmedium“ 74. Hier ist nun ein zweiter Eintrag im textilkundlichen Handbuch von 1937 hilfreich, der Eintrag ‚Applikationsspitze‘, weil er schon wesentlich näher an der Gegenwart ist: Die Applikationstechnik folgt einem ökonomischen Prinzip: sie verbilligt wertvolle Spitzenerzeugnisse ohne erhebliche Qualitätsminderung durch Verkürzung der Arbeitszeit und Vereinfachung des Arbeitsweges. In ihrer Blütezeit (nach Erfindung des Maschinentülles durch Heathcoat 1808) war die Applikationsspitze die am meisten verwendete Spitze. Ihre Billigkeit bei sehr reizvoller Musterung und duftiger Spitzenleichtigkeit gewann alle Sympathien der Konsumseite. Technisch ist sie dadurch gekennzeichnet, daß auf einen einheitlichen Grund (Tüll) mit Hilfe nähender, klöppelnder, tamburierender, hand- und maschinenstickender Technik Spitzengebilde aufgeheftet werden, unter denen das Grundnetz meist weggespachtelt wird.75

73 Vgl. Heike Weber, Stecken, Drehen, Drücken. Interfaces von Alltagstechniken und ihre Bediengesten, in: Technikgeschichte Bd. 76, H.3 (2009), S.  233 – 254 u. Matthias Bickenbach, Knopfdruck und Auswahl: Zur taktilen Bildung der Medien, in: LiLi. Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft, Nr.171 (2002), S.  9 – 32. 74 Andreas Fickers, Design als ‚mediating interface‘. Zur Zeugen- und Zeichenhaftigkeit des Radioapparates, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S.  199 – 213, hier: S. 199. 75

Und hier kann man eben schon aus der Textilkunde anno 1937 heraushören, womit die BildungsApp einmal winken wird: Vereinfachung, Verkürzung, Verbilligung – sie buhlt so um „alle Sympathien der Konsumseite“. Was das denn mit Bildung zu tun habe, mag sich mancher spontan fragen. Nichts, will man darauf antworten. Aber dem ist nicht so. Ähnlich wie im Falle der ursprünglich nur für hocharistokratische Oberschichten und kaufmännische Patriziergeschlechter erschwinglichen Spitzen-­Ware ist auch Bildung nicht mehr das exklusive Distinktionsmerkmal großbürgerlicher Eliten, sondern vielmehr einer permanenten Befragung und Innovation ausgeliefert, wie man sie billiger und angenehmer an immer mehr Menschen bringen kann. In gewisser Weise ist auch Bildung einer maschinell bewerkstelligten Industrialisierung ausgesetzt. [➤ Fabrizieren, S. 130] Allerdings darf – anders als in der industriellen Produktion – im Falle der Bildung nicht nur auf Zuwachsraten geschielt werden, da dann 71

Hugo Glafey (Hg.), Textil-­ Lexikon. Handwörterbuch der gesamten Textilkunde, Stuttgart – Berlin (1937), S. 25.

teil 2 – die bildungsdebat te

76 Vgl. Christian Graf von Krockow, Die Sowjetunion und ihr Bildungswesen. Bericht einer Studienreise (1965), in: Gewerkschaftliche Monatshefte 21 (1970), H.2, S. 70 – 77 u. Aleksei I. Markuševič, Das Volksbildungswesen der Sowjetunion, in: International Review of Education 16 (1970), H.3, S.  381 – 384.

77 Thiemo Heeg, Das Milliardengeschäft mit den Apps, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.01. 2018, Nr.25, S. 21.

das zentrale Bildungsziel der Individualisierung unterlaufen wird. Dieses Ziel kann man gut als die Fähigkeit charakterisieren, den Prozess selbst – auch als sein Produkt – noch reflektieren und kritisieren zu können und zu dürfen. Das Beispiel des (infrastrukturell und programmatisch) effektiv und kompakt aufgestellten ehemaligen sowjetischen Bildungssystems zeigt, wie wichtig es ist, beide Faktoren – Verbreiterung bzw. Zugänglichkeit und kleinteilige Prozess- oder Selbstreflexion – im Auge zu behalten.76 Ein Ungleichgewicht wirkt sich langfristig verheerend für eine Gesellschaft aus.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Die dritte Karriere dieses Begriffs nach Gadamer, von der hier vor allem die Rede sein soll, hätte ihn, der 2002 starb, wohl an die Grenzen seines persönlichen Verstehenshorizonts geführt. Laut aktuellem Wirtschaftsteil einer führenden überregionalen Tageszeitung waren 2017 allein bei den beiden bekanntesten Computer-­Betriebssystemen 1,8 Milliarden App-­Downloads zu verzeichnen. Weltweit waren es 175 Milliarden im Wert von 86 Milliarden Dollar. Dazu gehörten Smartphone-­gerechte Sprachlernprogramme und Architekturführer, die – nach dem Prinzip der ‚erweiterten Realität‘ (‚augmented reality‘) – Geschichten zu den Gebäuden erzählen, vor denen man gerade steht bzw. auf die man sein Smartphone gerichtet hat.77 Man könnte sie eben BildungsApps nennen. Doch ‚Pokémon go‘ ist auch nicht mehr weit. Daneben sind ‚Schritte zählen‘, ‚Vermögen verwalten‘ oder ‚Essen bestellen‘ sehr beliebt. Aber man muss auch konzessionsbereit sein: Architekturgeschichte oder Fremdsprachen als App haben eine ganze Menge mit Bildung zu tun und es ist schließlich völlig egal, wie ich an so etwas komme. Und hier wird es in der Tat auch interessant – und schwierig. Schließlich können Apps nicht prinzipiell nichts mit Bildung zu tun haben (dürfen). – Das wäre einfach nur technikfeindlich und ignorant. Andererseits ahnt man, dass programmierte Apps das ‚Programm Bildung‘ voraussichtlich selbst noch auf seinem wünschenswerten Weg von der Exklusivität zur Inklusivität durch die schiere Fülle des gleichzeitig Angebotenen ertränken werden. [➤ Vernetzen, S. 323] 72

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Erste Hypothese: Bildung hat etwas mit einer Vorauswahl zu tun, deren Kriterien man wissen und reflektieren kann und nicht mit maschinengestützter Selektion, die ich gar nicht mitkriege. Bildung hat auch etwas mit Hintergrund-­Vordergrund-­Entscheidungen, mit absichtsvollen Konturierungen, zu tun – ‚Horizontstaffelung‘ würde Gadamer vielleicht sagen. Denn auch vor einem riesigen, nicht thematisch geordneten Bücherregal wird einem schnell schwindelig. Nur wenn man es schafft, ein Buch herauszugreifen und gründlicher zu lesen, um es dann durch weitere systematisch zu ergänzen, entsteht eine ‚Bildungschance‘. Wenn wir uns also fragen, welche Chance eine App, neben einigen Hundert heruntergeladenen, wohl hätte, uns Gebäudegeschichte, oder auch nur spärliche Informationen über die Funktion eines Gebäudes, nachhaltig als kulturgeschichtlichen Zusammenhang einzusenken, wären wir trotz aller Technikbegeisterung eher pessimistisch gestimmt. Die Probe aufs Exempel ist die Frage, ob wir das Gelernte, eingebunden in etwas anderes als die fortlaufende Information über fast alles, als eigenständigen thematischen Zusammenhang einigermaßen selbständig wiedergeben könnten.

* Die Aussichten sind zur Zeit etwas eingetrübt. Das legt auch der Arbeitsbericht Nr. 171 aus dem ‚Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag‘78 ungewollt nahe. Laut einer dort wiederum nur zitierten Studie von 2015 berichteten die Schüler in den Fokusgruppen, dass die iPads ihnen die Möglichkeit boten, neue Dinge für sich selbst zu lernen (informell) und Fähigkeiten im Umgang mit Technologie zu erlangen, die sie als bedeutend für sich ansehen.

Das kann man in zweierlei Hinsicht bedeutsam finden: Man sieht zunächst, dass die Expertise, auf die sich die Regierung in diesem Fall stützt, vor allem ein irgendwie filziges Verweissystem von (Auftrags-) ‚Studien‘ ist. Dann steht da schwarz auf weiß und ungeniert, dass die 73

78 Steffen Albrecht/ Christoph Revermann, Digitale Medien in der Bildung (Juni 2016).

teil 2 – die bildungsdebat te

Lehrer und Lehrerinnen den Schülerinnen und Schülern auch nicht mehr weiterhelfen konnten. Dass jetzt jeder eher so für sich ins iPad guckt und mehr ‚informell‘ lernt, birgt schon ein paar Risiken, wenn es um Bildung geht. Es liegen hier nämlich zwei technische Faktoren vor, die dem Bau von eigenen Geschichten, vulgo: Identitäten, nicht förderlich sind. [➤ Formatieren, S. 154] Erstens eine prinzipiell wahllose thematische Nachbarschaft – Stichwort ‚Essen bestellen‘ – von allem mit wiederum fast allem. Dieses Prinzip ‚totaler Nachbarschaft‘ könnte sich auf Bildung als primäre Konturierungsinstanz der Persönlichkeit ungünstig auswirken. Hier haben Bildungsinstitutionen ja gerade als verlangsamender Filter gewirkt. Zweitens implementieren wir ins Herz der Institution eine Technologie, die das Verweilen bei geschichtenförmigen Schilderungen gerade bekämpft.

Die kleine Software Was ist denn nun eine App? Eine App ist eine ‚kleine Software‘, die uns – angesichts totaler Nachbarschaft – schneller und leichter an Sachen heranführen soll; die uns alltägliche Verrichtungen abnimmt oder komplizierte zu alltäglichen machen hilft (z. B. ‚Strecken messen‘ und ‚Pulsschläge zählen‘); die uns von hochbezahlten Experten mit teuren Sprechstunden oder von öden Schaltern mit ungünstigen Öffnungszeiten (orts-)unabhängiger zu machen scheint. Dazu aber wollen wir einfach etwas antippen können, wenig schreiben und auch nicht allzu viel anhören müssen bzw. noch lieber: selbst kurze Ansagen machen über den eingebauten ‚Sprachassistenten‘. Die heutigen Apps aber spielen genau mit jenem falschen und trügerischen Air der Tändelei, des Spielerisch-­Überflüssigen, des Austauschbaren. Dass sich nämlich unter ihnen Programme verbergen, die – wie im Falle von Facebook – den Sprung zur globalen Infrastruktur durchaus schaffen können, gerät mit dem verniedlichenden Begriff App aus dem Sinn. Programme heißen jetzt Apps – da fühlt man sich gleich weniger fremdgesteuert, weniger maschinell. Dass Knöpfe von Verbraucher und Verbraucherin gedrückt werden sollen – und nicht studiert –, ist allerdings auch richtig. Diese Ver74

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einfachungsdimension am Knopfgebrauch, zwischen Drücken und Drehen, ist im übertragenen Sinne an der neuen App immer noch wirksam: Die meisten Apps helfen dabei, etwas zu messen, z. B. etwas auf der Basis vorangegangener Algorithmisierung leichter entscheidbar zu machen. Aber eben nicht dabei, einen Ausdrucksstil persönlichkeitsformend oder für aufwendige (angemessene) Kommunikationen einzuüben bzw. ein Thema zu ‚vertiefen‘. Das besorgen dann immer noch die Alltagskommunikation und das Milieu, in dem die eigene Spielart der Neugier auf die Welt herangezogen worden ist; wenn man es denn schafft, diese einstigen soziologischen Größen noch vom „Ökosystem rund um Apps“ 79 zu unterscheiden. [➤ Umgeben,  S. 307] Das Problem wiederholt sich aber im Prinzip auch dann, wenn man sich schon auf der sicheren Seite des Hoch-­Kulturellen wähnt: Die Dauerempfehlungen und penetrant gelisteten Ratschläge nach dem Muster ‚Wer dies gehört hat, dem könnte auch das gefallen‘ treiben einen auch bei Amazon, Spotify oder YouTube wieder zurück in einen entropischen Mahlstrom der totalen Nachbarschaft, selbst wenn man sich kategorisch für ‚Klassik‘, ‚fremdsprachige Bücher‘ oder ‚Jazz‘ entschieden hat. Dies führt mich zu einer zweiten Hypothese: Bildung hat etwas mit der möglichst selbständigen Festlegung von Themenschwerpunkten, Abständen und Folgeangeboten zu tun.

Apps als Teil einer neuen medialen Infrastruktur Aber liefere ich hier überhaupt – als Antwort auf die Bildungsproblematik – etwas anderes als die gute alte Medienkritik ab? Irgendwie kennt man diese Kritik am unzusammenhängenden Häppchenwissen auf Zeit schon. Hatten wir das so oder ähnlich nicht schon mal über die Quizsendungen im Fernsehen gelesen? Ja, das könnte sein. Jetzt stellen wir sogar fest, dass uns diese Formate fast schon wie ‚Bildungsfernsehen‘ vorkommen im Vergleich zu den smarten Konkurrenten. [➤ Fernsehen, S. 147] Alles scheint relativ, alles eine Frage der Konkurrenz und Geschwindigkeitsstandards. Aber genau hier kommt Jacob Burckhardts Formel aus den posthumen Weltgeschichtlichen Betrachtungen zum Tragen: 75

79 Original-­Ausdruck aus Thiemo Heeg, Das Milliardengeschäft mit den Apps, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.01. 2018, Nr.25, S. 21.

teil 2 – die bildungsdebat te

80

Nur aus der Betrachtung der Vergangenheit gewinnen wir einen Maß-

Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), hg. v. Jakob Oeri, 4. Aufl., Stuttgart (1921), S. 15.

stab der Geschwindigkeit und Kraft der Bewegung, in welcher wir

81 Bronisław Malinowski, The Problem of Meaning in Primitive Languages, in: C. K. Ogden/ I. A. Richards (Hg.), The Meaning of Meaning, New York (1923), S.  296 – 336. 82 Vgl. Adrian Lobe, Sekte oder Weltverschwörung? Nach der Fusion der Messenger von Instagram, Facebook und Whatsapp nutzen 2,7 Milliarden Menschen dasselbe Chat-­Programm, in: Süddeutsche Zeitung, 25. 02. 2019, Nr.47, S. 10. 83 Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago (2006).

selber leben.80

So sollte man vorgehen. Wo liegt also der Unterschied? Was gibt der Vergleich her? Das sind die entscheidenden Fragen. Signifikant ist nicht die Wiederverwendbarkeit der kulturkritischen Phrase, sondern das, was sie verdeckt. ‚Programme, die die Welt verändern‘ (oder die Art und Weise, wie wir etwas von ihr wissen können), erreichen uns nicht mehr als Publikum, was uns noch irgendwie in einer wohligen Fiktion der einen Öffentlichkeit aufhob, sondern in der relativen Einsamkeit des technisch halb-­informierten Konsumentendaseins. Selbst wenn für den Moment alle zufällig eine App zu haben scheinen, wie WhatsApp oder Facebook, die uns – ganz kuschelig – eigentlich doch wieder in Gruppen zusammenfassen, selbst dann gehört unsere Aufmerksamkeit, streng nach Malinowskis Studien in der Südsee 81, meistens dem Kanal (bzw. dem Konzern), aber nicht denen am anderen Ende.82 Das ‚erleuchtete Fenster‘ (H. v. Doderer), das maximale Teilnahme am Vorbeifließenden garantieren soll, ist auch maximal restringiert von anonymen Programmierern und Programmen, die entscheiden, was mir gefallen könnte und was unbemerkt vorbeiströmt. Das merkwürdige Paradigma dieser Kommunikation – das Teilen – ist ein emphatisch-­empfindsames Konzept der ausgehenden 1960er Jahre. [➤ Empfinden,  S. 114] Es bezeichnet präzise den historischen Ausgangspunkt der zivilen Karriere des Programmierens in der kalifornischen Hippie-­Szene.83 Aber es bezeichnet ungewollt auch den immensen Substanzverlust dieser für Ethnologen schon lange interessanten Operation: Teilen unter digitalen Bedingungen ist nun ein kapitalintensives Spiegeln von Kauf-Interessensbekundungen geworden.84

84 Vgl. jetzt Winfried Gerling/ Susanne Holschbach/ Petra Löffler, Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld (2018).

Ein Trust, ein Trost für jedermann Vergessen wir bei all dem also die wirklich kapitalistische Seite der Geschichte nicht. Man könnte so sagen: Jetzt sind die Programme unter uns. – Vorher lagen sie bei staatlichen und privatwirtschaft76

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lichen Monopolisten. Apps zu programmieren, also Programme zu machen, ist kein staatliches Monopol und kein Privileg finanzstarker Marktmonopolisten oder Trusts mehr. Bildungsprogramm kann nur der Staat, Apps kann (fast) jeder. Apps sind der Name für die vergemeinschaftete Chance, als nerdiges Individuum zum Unternehmer mit unermesslichen Gewinnmargen zu werden – ohne vorher ein Familienimperium zu erben oder einen finanzkräftigen Investor zu finden. Eine App kann den Jackpot bringen. So sieht die Demokratisierung des einstigen Monopol-­Kapitalismus aus. Die Jackpot-­App kann etwas mit Bildung zu tun haben, aber Voraussetzung für ihre Entwicklung ist Bildung nicht. Da hat sich der Kapitalismus wiederum kaum verändert. Verändert hat er sich an anderer Stelle: So fragt man sich z. B., wie Bildung und Schulcloud zusammengehen können. [➤ Wiederholen, S. 361] Was ist, wenn der Staat die Programmierer-­Elite beauftragt, ohne genau zu wissen, was diese treibt? Denn für eine besondere Unterart, die Cloudcomputing-­Spezialisten, die auch im deutschsprachigen Raum, wo das Wort ‚Bildung‘ immerhin gepflegt wird, den Bildungsmarkt entdeckt haben, liegen – anders als einst für Ernst Kletts und oder Ferdinand Schöninghs Schulbuchverlage – ‚Essen bestellen‘ und ‚historische Gebäude erläutern‘ auf einer Ebene. Wenn sich nun private Software-­Monopolisten, die sich neuerdings auch in Deutschland gerne unter das schützende Dach eines ‚Forschungsinstituts‘ oder einer Universitätsfakultät stellen, ans Werk machen, das Bildungsprogrammierungs-­Monopol der Länder und der wenigen traditionsreichen Schulbuchverlage so praktisch wie paradox im Auftrag des Staates zu knacken, dann soll eine letzte Hypothese formuliert werden: Bildungsprogramme sollten weiterhin etwas mit dem Staat zu tun haben. Die nagelneue Bildungs- und Schul-­Cloud wird am Ende nur als App beim Nachwuchs-­Bildungs-­ Konsumenten in Erscheinung treten. Scheinbar nur ein Aufnäher mehr. Den Software-­Trust dahinter, der uns eine schöne neue Umgebung schenkte, für deren Pflege er selbstverständlich (nicht) zuständig ist, sieht man hingegen nicht.

* 77

teil 2 – die bildungsdebat te

Die unscheinbare App aber ist schon von sich aus prinzipiell ‚offen für alles‘, was dem Unternehmer in Zukunft wichtig, genauer: lukrativ erscheint. Die Naivität, mit der etwa jener Arbeitsbericht Nr. 171: Digitale Medien in der Bildung über Bildungs-­Apps gerade mal zwei Seiten verliert, ist erstaunlich – oder sie hat Methode. Man liest dort, dass das umfassende, divergente Angebot an Mobilanwendungen in Studien nur exemplarisch abgebildet werden kann, da die Möglichkeiten zu vielschichtig sind. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Entwickler von Apps bedarfsorientiert immer neue Möglichkeiten entdecken, den Nutzungsumfang von Mobilgeräten auf sinnvolle Art zu ergänzen.

Da fragt man sich schon, an wessen Bedarf die (voraussichtlich privatwirtschaftlichen) ‚Entwickler‘ sich da eigentlich orientieren und was ihnen dementsprechend ‚sinnvoll‘ erscheint. Kurze Kostproben aus der Sicht der Entwickler darüber, welchen inhaltlichen – ‚bildenden‘ – Nutzen sie in ihren Produkten sehen, fallen eher bescheiden aus: 85 Soweit der Direktor des Hasso-­Plattner-­Instituts Potsdam, dessen Schul-­ Cloud zum Zeitpunkt des Interviews an 26 Schulen getestet wird. [Christoph Meinel, Hoch vom Himmel, da kommen die Inhalte her, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.126, 01.06. 2017, S. 7].

In der Schul-­Cloud können Lerninhalte jeder Art vorgehalten und von Lehrern und Schülern über alle möglichen Endgeräte und von überall aus abgerufen werden. Wird im Deutschunterricht gerade über Goethes ‚Faust‘ gesprochen, können Lehrer und Schüler aus einem reichen Reservoir an Bildungsangeboten genau zu diesem Thema die jeweils passenden aussuchen, an ihre Bedürfnisse anpassen und in den Unterricht integrieren. Ein Bild Goethes oder ein Kurzvideo über sein Leben sind schnell abrufbar und bereichern den Unterricht.85

Um ein Porträt Goethes in einer deutschen Schule aufzutreiben, braucht man wohl nicht notwendigerweise das Internet, und bei ‚Kurzvideos‘ wäre schon interessant, wer sie wie, warum, mit welchem Verständnis von Kultur gemacht hat – und ob man nicht doch erst den Werbeblock weg­skippen müsste. ‚Goethe lesen‘ lernt man voraussichtlich so auch nicht. Aber die ‚Von-­überall-­her-­sofort-­ Abrufbarkeit-­aus-­einem-­reichen-­Reservoir‘ ist die eigentliche technische Zauberformel. Das klingt leicht, fortschrittlich und funktio78

applizieren

niert praktischerweise auf demselben ‚Endgerät‘, das man sowieso gerade in der Hand hatte, als man aus der Pause kam oder aus dem Bus. Dafür erhalten die Entwickler auch eine Menge Daten von den Schülern, wenn sie nur erst möglichst flächendeckend mit Bund und Ländern, als ‚Digital-­Pakt‘, ins Geschäft kommen. [➤ Revolutionieren, S. 266] Diese Entwickler, die oft zusätzlich als Kulturwissenschaftler auftreten, haben die klare Vorstellung, dass sich bestehende Schulen und Universitäten grundlegend ändern müs-

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sen, um von Big Data zu profitieren. Zwar sitzen sie an der Quelle

Viktor Mayer-Schönberger/ Kenneth Cukier, Lernen mit Big Data. Die Zukunft der Bildung, München (2014), S. 48.

vieler Daten über das Lernen, aber sie haben bisher wenig Geschick darin gezeigt, den Wert dieser Daten zu verstehen – von wirkungsvollen Analysen ganz zu schweigen. Das mag zum Teil an Datenschutzbestimmungen liegen, die einschränken, welche Daten zu welchen Zwecken gesammelt werden dürfen.86

Daran könnte es in der Tat liegen. Apps sind wie Angelhaken und wir können von tief unten gar nicht genau sehen, wie groß die Angel ist und ob sie vielleicht doch einer Trawler-­Flotte und einer mobilen Fischstäbchenfabrik gehört. Der Staat aber dankt in Sachen Bildung ab, wenn er kein eigenes ‚Programm‘ hat.

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teil 2 – die bildungsdebat te

ausstat t en Die Bildungsinfrastruktur Mit der Zeit gehen

87 Vgl. Léon Bloy, Auslegung der Gemeinplätze (1902/ 1913). Aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von H.-H. Henschen, Frankfurt/M. (1995).

Der französische Publizist und Romancier Léon Bloy widmete zwischen 1897 und 1913, nach dem Vorbild Flauberts, den Gemeinplätzen des Bürgertums gleich mehrere Bände seines umfangreichen Lebenswerks: Exégese de lieu communs nannte er Ergebnis wie Methode – Auslegung der Gemeinplätze.87 Einerseits nahm er darin die zu Allerwelts-­Redensarten abgestiegenen Philosopheme à la ‚Geld stinkt nicht‘ oder ‚Wie es sich gehört‘ aufs Korn und überführte sie eines weitgehend gedankenlosen, rein mechanischen Gebrauchs. Andererseits wies er akribisch nach, wie ihre gedankenlosen Sprecher damit tatsächlich erschreckend Wahres und Tiefes von sich gaben – ohne es selbst je zu begreifen. Ein einziges, einsames Beispiel aus dem schier unerschöpflichen Vorrat Bloys muss hier leider genügen, um seine Methode vorzustellen:

88

PRAKTISCH SEIN . Wenn man lediglich die Wörterbücher zu Rate

Léon Bloy, Auslegung der Gemeinplätze (1902/ 1913). Aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von H.-H. Henschen, Frankfurt/M. (1995), S. 59 f.

zieht, könnte man glauben, daß es sich ganz einfach um eine Sache im Gegensatz zu einer anderen handelt, die man dann theoretisch nennen müßte und die übrigens nicht weniger schätzenswert wäre. Von diesem Standpunkt aus wäre ein praktischer Mensch das Instrument zur Verwirklichung einer Idee oder zur Durchführung eines Gesetzes. Der praktische Mensch par excellence wäre also der Henker. Aber darum handelt es sich nicht. In der Sprache des BÜRGERS, einer ganz speziellen Sprache, vor deren verfrühter Bewunderung man sich in acht nehmen muß, bedeutet Praktisch-­Sein einen Komplex von moralischen Eigenschaften. Im Grunde ist der praktische Mensch der wirkliche bürgerliche Halbgott, der moderne Stellvertreter des Heiligen der Legenden.88

* 80

ausstat t en

Man kann nur erahnen, mit welchem Feuereifer sich Bloy auf die Maxime gestürzt hätte, die den modernen Bildungsreformern so schnell und bereitwillig über die Lippen kommt: ‚Man muss mit der Zeit gehen‘. Mit immer neuen, etwas martialisch klingenden Aufforderungen zu ‚Digitalisierungsoffensiven‘ wird im Bildungssektor scheinbar zeitgemäß auf die Herausforderungen neuer globaler Technologien geantwortet. Ein Wahlplakat der Liberalen im Bundestagswahlkampf 2017 lautete schlicht: „Digital first. Bedenken second.“ Damit sollte wohl angedeutet werden, dass die Lösung einer zeitgemäßen Bildungspolitik vor allem in der technischen Aufrüstung der entsprechenden Institutionen läge. Die Häme war groß, die Kritik an diesem Spruch, der zu Abwandlung und Kalauer geradezu einlud, durchlief die Medien im Eiltempo: ‚Digital first. Denken second!‘89 Zu der kleinen Geschichte gehört allerdings auch, dass dieselben Stimmen kaum hörbar waren, als sich diese, tatsächlich ziemlich plumpe ‚Idee‘ schon früher und nur etwas anders artikuliert hatte: ‚Ein Laptop für jeden Schüler!‘, ‚Schule ans Netz!‘ oder ‚Digital Humanities‘ heißen ältere Versionen derselben Vorstellung von der Welt. Weil er eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem zu bieten scheint, ist der zitierte Gemeinplatz ‚Man muss mit der Zeit gehen‘ keinesfalls harmlos. Denn der Gemeinplatz verspricht gewissermaßen ‚im Voran- oder Vorübergehen‘ eine Ambivalenz im Sachgebiet der Bildung aufzulösen, die tatsächlich fortbesteht und in eine differenzierte Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Bildung Eingang finden müsste. Diese Frage und Ambivalenz lautet noch immer: Mit welcher Art Wissen wappne ich mich und kommende Generationen heute für die Zukunft, die ich nicht kenne, und halte dabei Anschluss an die Vergangenheit, die ich immerhin kennen sollte? [➤ Verlangsamen, S. 314]

Infrastruktur und Infrastruktur Bildung kann zunächst ohne Probleme als Herstellen von Anschlüssen dargestellt werden, denn man braucht eine Infrastruktur, man braucht Texte, Licht, Strom, Schreibzeug oder Endgeräte, aber auch 81

89 Vgl. nur Alexander Grau, Keine Bedenken und leider auch kein Denken, in: Cicero, 26. August 2017.

teil 2 – die bildungsdebat te

Wege und Räume für den mechanisierten Transport der Eleven. Man braucht auch die so ausgestatteten und angeschlossenen anderen, um sich bilden zu können. Denn man will schließlich nicht lauter kleine ‚Robinsons‘ züchten. Niemand wird das alles ernsthaft bestreiten. Aber wird diese Darstellung dem Thema gerecht, berührt sie den Kern von Bildung? Ja und Nein. „Infrastruktur“, schrieb Dirk van Laak zum ersten Mal vor fast zwanzig Jahren, 90 Zusammengefasst in Dirk v. Laak, Alles im Fluss: Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt/M. (2018). Vgl. außerdem Steffen Richter, Infrastruktur. Ein Schlüsselkonzept der Moderne, Berlin (2018).

91 Dazu Erhart Schüttpelz, Medienrevolutionen und andere Revolutionen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2017), S.  147 – 161.

gehört zu jenen ‚Plastikwörtern‘ der wissenschaftlich-­technischen Zivilisation, mit denen wir heute soziale Sicherheit, staatliche Verantwortung und wirtschaftliche Prosperität konnotieren. Die damit bezeichnete Sache hat sich wie eine Art von objektivem Unbewussten in unser Leben eingeschrieben.90

Van Laaks Bemerkung muss als Aufforderung gelesen werden, genau hinzuschauen, was hinter dem ‚Plastikwort‘ (U. Pörksen) steckt. Falsch wird die Darstellung, wenn die betreffende Bildungs-Infrastruktur nicht als besondere, sach- und prozessbezogene Struktur mit eigenzeitlichen (Ge-)Bräuchen gedacht wird. Falsch wird die Darstellung, wenn Bildung als unspezifischer Teil einer allgemeinen Versorgung, eines noch zu erreichenden, aber auch scheinbar selbstverständlichen allgemeinen Standards verstanden wird. Bildung müsste dann nämlich einfach auf den aktuellen allgemeinen Stand der Technik gebracht werden – ganz abgesehen von der schwierigen Frage, wie dieser sich ergibt oder wer ihn (auf einem Globus mit ‚ökologischen Musterstaaten‘, ‚Schwellenländern‘ oder ‚Dritten Welten‘) definiert.91 Bildung wäre dann Bestandteil einer umfassenderen Fortschritts- oder Modernisierungserzählung.

Technik und Techniken des Gebrauchs Die Analyse von Bildungsprozessen als Infrastruktur-­gestützte Prozesse führt uns vor Augen, dass neben dem Bildungsziel einer geordneten Individualisierung beständig und unterschwellig Techniken und Ressourcen an der Individualisierung mitwirken, die für viele, wenn auch nie für alle, zunächst gleich sind. Diese Techniken aber 82

ausstat t en

sind noch einmal anders wirksam und tätig als die äußere, angeblich immer und unaufhaltsam ‚fortschreitende‘ Technisierung unserer Umgebung, mit der wir Schritt halten sollen. [➤ Umgeben,  S. 307] Und das ist auch der entscheidende Punkt: Die Anwendung der Techniken (wie z. B. das Lesen) wird zwar versuchsweise einheitlich eingeübt, aber ihre Effekte differieren mit der Möglichkeit, nach der Einübung zu anderen Anwendungsformen zu kommen. Eine Übererfüllung der schulischen Ausübungsnorm ist genauso denkbar wie eine anarchische Übertragung der Grundfertigkeit auf außerschulische Gegenstände. Der unterschiedliche Gebrauch beginnt nicht bei dem – eher praktischen – unerwünschten Einknicken von Eselsohren zur besseren Orientierung im Textbuch und endet noch nicht bei dem unentwegten Wiederlesen einer einzigen Lieblingsgeschichte ohne erkennbaren Wissenszuwachs.92 In jedem Fall (oder an jedem Punkt auf der Skala) der Möglichkeiten geschieht dann ‚Individualisierung‘. Man begreift also die ‚äußere Technik‘ nicht, wenn man – scheinbar schon unter ihrem Sachdiktat stehend – einfach ‚mit der Zeit‘ und ihrem ‚allgemeinen‘ Tempo geht. Aber man versteht eben auch die Ebene eines (im Subjektbewusstsein) nur unterschwellig verzeichneten, aber beständig eingeübten Mediengebrauchs zu Bildungszwecken nicht, wenn man diese sture kollektive Einübung nicht auch als weitere methodische Bedingung und Voraussetzung von Individual-­ Bildung, d. h. für Individualität akzeptiert. [➤ Pauken,  S. 206] Man versteht das Zusammenwirken dieser beiden Ebenen am besten, indem man sie auseinanderzuhalten lernt. Man sollte seine Option auf eine Eigengeschichte weder zu früh an eine große gesellschaftliche Technikerzählung ‚abschenken‘, die man glaubt, noch sollte man vergessen, dass die verhasste Einübung konkreter Lerntechnik letztlich Grundlage der konkreten Individualisierung ist. So liegt ein erster Lerneffekt ganz nahe: Die Leit-­Erzählungen – als sanfte Steuerung – sind eben auch schon eine ‚Technik‘. Indem Bildung das zu Bewusstsein bringt und vorführt, zeigt sie sich als ein historisch und kritisch angelegtes Konzept, das sehr basale Verhält83

92 Vgl. Sabine Häußermann, Von Eselsohren und Zeigehändchen – Überlegungen zu Gebrauchsspuren in Büchern, in: Annette Hoffmann et al. (Hg.), BücherGänge. Miszellen zu Buchkunst, Leselust und Bibliotheksgeschichte, Heidelberg (2006), S.  19 – 28.

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93 Dazu grundlegend: Erhart Schüttpelz, Infrastrukturelle Medien und öffentliche Medien, in: Media in Action, issue 0 (2016). Pre-­Publication. https://www.uni-­siegen. de/phil/medienwissenschaft/forschung/mdk/ literatur/schuettpelz_ infrastrukturelle_medien. pdf.

nisse unserer Gegenwartsgesellschaft offenzulegen vermag und ganz beiläufig noch zeigt, wie man sie ‚einrichtet‘.93 [➤  Kritisch sein, S. 185] Nur wenn neben die Erkenntnis der herrschenden Verhältnisse und ihrer Machttechniken auch noch das Wissen von der Mehrdimensionalität der technischen Welt (zwischen allgemeiner Infrastruktur und dem scheinbar individuellen Gebrauch der Bücher oder anderer Endgeräte) tritt, nur dann können die öden Pendelbewegungen zwischen Ideologisierung und Affirmation (bzw. Hysterie, dumpfem Protest oder Desinteresse) angehalten werden. Kein Gemeinplatz ist deshalb das Folgende: Kleine Fortschritte sind schwieriger zu erreichen und komplexer strukturiert als die halb bewusste Bewegung auf einen für ‚allgemein‘ oder ‚alternativlos‘ erklärten Standard hin. Erst aus dieser kontrollierten Reserve gegenüber einer schon allzu fertig gedachten Zukunft für alle resultiert die Kraft zur Reflexion und Veränderung der Verhältnisse.

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aus w en dig ler n en

ausw endig ler nen Die Bildungsvergangenheit Als Schlüsselkompetenz von Bildung hat die Fertigkeit des Auswendig-­ lernen-­Könnens schon eine Weile ausgedient. Ja, genaugenommen war Auswendiglernen schon out, bevor es überhaupt offiziell (für irgendein Können) erstrebenswert war, als ‚Kompetenz‘ zu gelten. Das alte Ideal der immer erneuten, auf Auswendigkeit zielenden Lektüre weniger alter Schriften und vor allem Stellen wurde zu einem halb folkloristischen, halb grotesken Können degradiert.94 Als Kulturtechnik wurde der Komplex der Auswendigkeitslektüre irgendwann nicht mehr reflektiert, fand höchstens noch als Parodie Eingang in das hochkulturelle Archiv, fristete ein kärgliches Dasein im Kommunion-­ Unterricht, beim Vokabel-­Pauken oder beim morgendlichen Lied-­ Appell in der Vorschule. Bis heute rappelt man schließlich Reime oder auch berühmte Zitate auswendig so herunter, dass am mitschwingenden Spott über das Bemühen einer überwundenen Kulturtechnik kein Zweifel möglich ist. Der rührende hochkonzentrierte Ernst sehr kleiner Kinder beim Hersagen ist hier die Ausnahme – und auch nur so lange, bis sie gelernt haben ‚verstehend‘ zu lesen und zu betonen. Damit ist auch schon das nachfolgende Bildungsidealziel benannt. Hat Auswendigkeit in einer signifikanten Form in der Hochkultur irgendwo noch überlebt, verhilft die Fähigkeit oder der Habitus dem Hüter dieser Kunst zum Status des Legendären: Der Philosoph Klaus Heinrich z. B. legte in seinen berühmten ‚Dahlemer Vorlesungen‘ an der Freien Universität Berlin Wert darauf, alle zitierten Passagen auswendig herzusagen. Allein das sicherte ihm einen Platz in der Geschichte der neueren deutschen Philosophie. Noch in der Unterhaltungsliteratur der Frühen Neuzeit, die auf den schnelleren Konsum der Texte setzen musste, wurde das Ideal der Auswendigkeit, des präzisen Memorierens von Örtern, immer wieder Thema. Gerade wenn Unterhaltung mehr als Unterhaltung sein woll85

94 Vgl. Jürgen Fohrmann (Hg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar (2005).

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te, wurde der alte Grenzwert gelehrten Lesens noch einmal in der Unterhaltungsliteratur selbst zum selbstkritischen Ideal. Der Leser sollte eben nicht nur gespannt und schnell konsumieren, sondern ‚alles eigentlicher fassen‘, durch Wiederholung: 95

Damit vermittelst ordentlicher Folg und besonderer Ausführung einer

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Des Abenteuerlichen Simplicissimus Ewig-­ währender Calender, Faks.-Druck der Erstausgabe Nürnberg 1671, hg. v. K. Haberkamm, Konstanz (1967), S. 3.

jeden Materie dein Fürwitz nicht auf einmal obenhin befriedigt/ son-

96 Nach Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (1983), Berlin (1996). 97 Herbert Schöffler, Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur des 18. Jahrhunderts (1922), 2. unveränd. Aufl., Göttingen (1958), S. 151.

dern vielmehr genöthigt werde/ das Lesen zu wiederholen/ auf daß du alles desto eigentlicher fassen/ und in dein Gedächtnis bringen möchtest.95

Man sieht daran, dass Bildungsideale immer auch Techniken sind – und einfach verschwinden können. Erklärt wurde dieses Verschwinden der europäischen Gelehrtenrepublik mit dem Siegeszug nationaler Literaturen und Buchmärkte und dem Ende von Latein und Altgriechisch als gelehrten Verkehrssprachen.96 Im Kern dieser sozialhistorischen Prozesse aber hatte sich eine kulturtechnische Revolution ereignet, die sehr viel mit der gegenwärtigen zu tun hat: Seit 1720, seit Daniel Defoes Romanen, seit dem „für entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen schwierigsten Punkt der englischen Literaturgeschichte“ 97, war aus der Unterhaltungsumgebung die schnellere, weniger aufwendige Spannungslektüre in das Gebiet der Gelehrsamkeit eingedrungen. [➤ Bildung als historische Kulturtechnik, S. 41] Es ist auch kein Zufall, dass nicht nur die ‚Geschichten‘ zur Unterhaltung zunahmen, sondern dass genau mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts auch die Historie selbst immer mehr spezial- und universalhistorische ‚Geschichten‘ produzierte. Winckelmanns Kunstgeschichte war nur eine davon, eine späte obendrein. [➤ Einbilden, S. 103]

* Bei gleichzeitig explodierender gelehrter und unterhaltender Geschichtenproduktion wurde das Immer-­wieder-­Lesen der wenigen ‚Alten‘ unattraktiv. Es verlor an Wertschätzung, als die Umgebung von Bildung frische Prosa in großer Menge bereitstellte und ‚flüs86

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siges‘ Einmal-­Lesen im Zeichen von Spannung dort zum Standard wurde. Wie beim Magneten unter der Glasplatte richtete sich das Lesen in den Bildungsinstitutionen neu aus: Es wurde nun auch dort anderes und flüssiger gelesen.98 Das machte den Stoff zugänglicher und mehr Teilnehmer möglich, das änderte die Ziele und Methoden des Systems, das ließ neue Wissenschaften entstehen. Unter der neuen Vorgabe des Verstehens wurden ‚ganze‘ Bücher und Geschichten schneller gelesen. Der Klassiker-­Kanon wurde aufgebrochen und dynamisiert. Die Probe auf Lernerfolge und Stoffbewältigung wurde ebenfalls geändert. Erfolgreiches Verstehen musste man nun auch durch Eigenproduktion von Texten ohne wörtliche Zitate belegen können. Mit einem ‚freien‘ mündlichen Beitrag bewies man ebenfalls, den Sinn des Verhandelten erfasst zu haben. Genau an diesem Wechsel der Bildungsziele kann man eine für die Gegenwart lehrreiche Beobachtung machen: Das Lesen wurde entsprechend den in der Umgebung herrschenden Geschwindigkeiten beschleunigt, Werte und Fertigkeiten wie Auswendigkeit wurden aus dem Zentrum an den Rand gedrängt. So entsteht eine Art bildungsgeschichtliche Kette, deren derzeitiges Ende wir alle in der Hand haben: Was kommt, wenn vor allem angeklickt, geladen und gewischt wird? Wenn die neuen Lese-­Ideale ‚skipping‘ und ‚scanning‘ heißen – und so schon die Begriffswahl die neuen technischen Umgebungen des Lesens reproduziert? [➤ Vernetzen,  S. 323] Größere Geschwindigkeiten und gesteigerter Mengenumschlag herrschen in der Umgebung von Bildung immer dann, wenn Prozesse und Techniken ökonomisch an Intensität gewinnen.99 Für Bildung im eigentlichen Sinne war deshalb – historisch – das Folgende spezifisch und konstitutiv: Bei Übernahme der neuen Geschwindigkeit und Intensität aus der gewandelten Unterhaltungsumgebung wurde durch einen strikten Leseplan weltlicher Bücher das Tempo gleichzeitig wieder gedrosselt. Es durfte, wie im Fall derjenigen Unterhaltung, aus der jener Impuls kam, nicht einfach um Stoffvertilgung, Abwechslung, erhöhten Umschlag oder möglichst intensive Identifikation gehen. Spätestens die Aufforderung zu schriftlichen Paraphrasen des Ge87

98 Matthias Bickenbach/ Harun Maye, Zwischen fest und flüssig. Das Medium Internet und die Entdeckung seiner Metaphern, in: L. Gräf/ M. Krajewski (Hg.), Soziologie des Internet, Frankfurt/M. – New York (1997), S. 80 – 98 u. Aleida Assmann, Fest und flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur, in: dies./ Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/M. (1991), S.  181 – 199.

99 Dazu, ganz einverstanden, Peter Glotz, die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus, München (1999).

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lesenen unterwarf Tempo, Menge und Form des Konsums wieder einer Kontrolle, man verlangsamte. [➤ Verlangsamen, S. 314]

Das Verstehen archivieren Dieser Vorgang nun dürfte sich als Problematik zwar nicht exakt, aber prinzipiell seit einiger Zeit wiederholen. Der Druck aus der Umgebung unseres Bildungsideals und -systems ist erneut unvorstellbar groß geworden. Dieser Druck ist technisch gut beschreibbar: Bei Texten und Bildern handelt es sich nur noch um vorübergehende Datenkomprimierungen jenseits realer Buchdeckel. Dadurch wird ihre extrem beschleunigte Bereitstellung, Modellierung und Durchsuchbarkeit möglich. Um nun zu verhindern, dass die speziellen ‚verstehenden‘ Techniken – ähnlich wie viel früher die Auswendigkeit – in unseren Bildungsinstitutionen zur grotesken und unreflektierten Nebenbeschäftigung werden, müssen wir handeln. Wir müssen die neue Konstellation von Beschleunigung und Verlangsamung im Bildungssektor, die die veränderte Umgebung erzwingt, begreifen und gestalten. Wir müssen erneut beschleunigen und drosseln in einem. Das klingt – einmal skizziert – einfach. Aber zu bedenken ist, dass ein Aufnehmen der Umgebungsdynamik und ihre gleichzeitige Verlangsamung im Bildungssektor heute ein größeres Problem darstellen als um 1800. Ein Format- und Technikwechsel innerhalb desselben Mediums Buchdruck wie um 1750 ist einfacher als ein Format- und Technikwechsel, der durch einen kompletten infrastrukturellen Medienwechsel erzwungen wird, wie wir ihn heute erleben. Deshalb kann die Antwort sich nicht auf eine tempo- und mengenspezifische Anpassung des Lesens selbst beschränken. Die neuen digitalen mobilen Oberflächen machen langsames oder wiederholtes Lesen, aber auch ein vom ‚Lesen‘ klar absetzbares Schreiben, machen die Techniken des Verstehens, so unwahrscheinlich, dass der Weg nicht analog zum ausgehenden 18. Jahrhundert eingeschlagen werden kann. Wie wäre es also, ‚verstehendes Lesen‘, als eine am Buch bzw. am gedruckten Wort hängende Kulturtechnik, zum Gegenstand von 88

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Unterricht, eventuell (neben Coding oder Programmieren) zum eigenständigen Fach zu machen? Als Unterrichtsfach wäre das ‚verstehende Lesen (aus-)gedruckter Texte‘ im Zentrum unserer Kultur archiviert. Damit würde man es weder der Parodie noch dem Vergessen ausliefern. Wir müssen die für kulturelle Prozesse notwendige Einsicht und Kontrolle über die Geschwindigkeiten unseres Lesens und Schreibens, unseres Umgangs mit Gelesenem und Geschriebenem, behalten. Das gelingt nur, wenn wir einen bestimmten Punkt der Skala, das gedruckte Buch und seine verstehende Lektüre, als historischen Gegenstand im Bewusstsein der neuen User und Userinnen neuer Medien präsent halten. Denn in jeder anderen Realität des Bedienens gibt es keinerlei Plausibilitäten mehr für einen Mediengebrauch als wiederholendes Lesen begrenzter Textmengen – außer in der kulturellen, mit der die Bildung weiterhin auch befasst sein sollte.

Verstehen als schöne Technik betrachtet Nur das immer neue Herstellen und Erhalten von Vergleichbarkeit schafft und garantiert kulturelles Wissen. Ähnlich wie die ‚Auswendigkeit‘ wird das ‚Verstehen‘ aus dem Zentrum der Bildungsinstitutionen, -prozesse und -operationen verschwinden. Man wird es irgendwo noch praktizieren, aber es wird als Technik keinerlei Rolle mehr in den zentralen Prozessen, in den zentralen Operationen unserer zunehmend automatisierten Zivilisationen spielen. Diese Prozesse werden allesamt rechner- und nicht buchgestützt sein, diese Prozesse werden allesamt mit rechnergestützter Datenmodellierung und Datenauswertung zusammengehen, nicht mit gründlichem, von Menschen überprüfbarem Lesen. Der Kanon der Leitwissenschaften hat sich längst dementsprechend umgruppiert. KI-Forschung, Data-­ Engineering, Informatik, Interface-­Design, Digital Humanities usw. bestimmen die gesellschaftlichen Diskurse. [➤  Revolutionieren, S. 266] Könnte es sein, dass die heute erst noch zu findende erneute Fusion oder Austarierung der Geschwindigkeiten und Techniken des Mediengebrauchs zwischen Bildungssystem und technischer Umgebung schon von den Automaten selbst vorbereitet und durchgeführt wird? – Bevor wir Menschen eine Idee haben? Das Lernen 89

teil 2 – die bildungsdebat te

100 Henry Kissinger, Warten auf die Philosophen, in: The Atlantic (June 2018), hier zitiert nach: Die Welt, 16.06. 2018, S. 2.

der Automaten ist ja eine merkwürdige Symbiose von exakter Imitation oder Auswendigkeit und Durchrechnen. „Einzigartig ist die KI “, schreibt der 95 jährige Henry Kissinger in einem brillanten Essay für The Atlantic, „wegen ihrer beispiellosen Fähigkeit zum Auswendiglernen und Rechnen.“ 100 Was man ihnen vormacht, können sie erstaunlich schnell nachmachen. Die Möglichkeit des Verstehens wollen nur wir, die Menschen, den Automaten – als irgendwie gespenstische Übertragungs- und Abtretungsgeste – unbedingt noch applizieren oder aber gerade philosophisch streitig machen. Die Automaten selbst hingegen haben sich dafür nie wirklich interessiert, haben diese Möglichkeit und Forderung als eine temporäre Obsession eines bestimmten westlich-­aufgeklärten Menschentums einfach ausgelassen. Ihre eigene Power setzt sich ganz allein aus Imitation, Rekursion und Rechenleistung, aus dem Überspringen der Aufklärung sozusagen, zusammen. Irgendwas müssen sie wohl doch verstanden haben, was die optimale Ausfüllung ihrer Rolle angeht. Wir sollten wenigstens dafür sorgen, dass kommende Generationen noch die Chance haben, die Kernkompetenz der Automaten mit der von ihnen übersprungenen des Verstehens zu vergleichen. Diese – als schöne Technik betrachtet – hing an einer bestimmten Art des Lesens.

* Unterschwellig, in den schwerer zugänglichen Ideen-­Magazinen der Kultur, wurde und wird sogar die ‚Auswendigkeit‘ immer wieder Thema. Paul Valerys Hefte, an denen er seit 1894 (und dann sein ganzes Leben lang) äußerst diszipliniert, täglich in den frühen Morgenstunden, Gedanken zu verschiedensten Themen notierte, setzen im Falle von Erziehung und Unterricht 1903 mit folgender Bemerkung ein: An die Erzieher: Man muss im jungen Alter jenen Unterricht vorsehen, der im Auswendiglernen besteht – später wird es an Zeit dafür fehlen und an Zwang – Aber man kann zeitlebens Geschichtsbücher lesen – allerdings wird man nicht zeitlebens Deklinationen und Regeln ler-

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nen können, sofern man dazu Lust bekommt oder das Bedürfnis da-

101

nach sich regt. Das Kind versteht sofort – oder fünfzehn Jahre

Paul Valery, Cahiers/ Hefte Bd. 5, hg. v. Hartmut Köhler u. Jürgen Schmidt-­ Radefeldt, Frankfurt/M. (1992), S. 605.

später.101

Mit der Auswendigkeit wiederholt sich in der frühen Bildungsbiografie eine ältere kulturgeschichtliche Epoche. In ihr wurde beispielsweise im 19. Jahrhundert noch immer aufs Neue „das Gesangbuch durchbuchstabiert“ 102 – wie es im 17. und 18. Jahrhundert üblich war. Man konnte hunderte von Gesängen auswendig. Noch in den 1860er Jahren mußte ein Dorfschulkind in der preußischen Provinz Sachsen einen Kanon von achtzig Chorälen mit sämtlichen Strophen auswendig lernen und jeden Sonntag chorsingend mit seinem Lehrer den Gottesdienst besuchen.103

Auch die Psalmen gehörten dazu. Der ängstliche wilhelminische Dorf-­Schüler Clamor aus Ernst Jüngers Gymnasial-­Bildungs-­Roman Die Zwille von 1973 nutzt diesen Schatz, um seiner Angst auf neuem städtischem Terrain Herr zu werden:

102 Hier verkörpert durch Wilhelm Raabes ‚Base Schlotterbeck‘ aus seinem Hungerpastor von 1864. [Vgl. Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke, hg. v. Karl Hoppe. Sechster Bd., 2. durchgesehene Aufl., bearb. v. Hermann Pongs, Göttingen (1960), S. 20]. 103 Wilhelm Flitner, Die vier Quellen des Volksschulgedankens, Hamburg-­ Wandsbek (1949), S. 7.

Ohne Stoßgebete wäre der Weg bis zur Brücke nicht zu zwingen ge-

104

wesen; sie hielten das Ärgste von ihm ab. Das war wie beim Schwim-

Ernst Jünger, Die Zwille (1973), Stuttgart (1987), S. 46 f.

men: man mußte immer wieder Luft schöpfen, damit man über Wasser blieb. […] Zuweilen rief er auch nur ‚Hier bin ich‘, wie Samuel. Sie hatten beim Superus [d. i. der Superintendent, H. C.] viel auswendig lernen müssen an Liedern und Psalmen; das kam ihm zugut als ein Schatz, aus dem er den Wegzoll entrichtete. Die Angst verdichtete sich immer wieder und ließ den Atem stocken; dann befreite er sich durch einen der bewährten Sprüche wie durch ein Ausatmen. Sie hatten unmittelbare Kraft; sie öffneten den Weg.104

Ein Effekt des Zwanges, der der Auswendigkeit vorausgeht, ist offenbar Schutz – der Schutz, den die Wiederholbarkeit des als bedeutsam empfundenen Gleichen in den wechselnden Kontexten der Verunsicherung bieten kann. Bildung als Mantra und Bannspruch. Der 91

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Zwang schützt damit den sich bildenden Heranwachsenden übergangsweise vor der realen schnelleren und unbekannten Zeitordnung außerhalb der Institution. Der Zwang der Wiederholung wird also strenggenommen erst in Gänze Qual, wird erst wertlos, wenn die Zeit des schulisch-­spielerischen Zwangs als Lebensperiode endgültig vorbei ist. Seine Effekte aber halten länger vor: „Das Kind versteht sofort – oder fünfzehn Jahre später.“

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durchstarten

durchsta rt en Winckelmanns Bildungsferne Bildung hieß speziell im deutschsprachigen Raum und speziell im 18. Jahrhundert Druck von unten, Dampfkraft, Aufstiegs- oder Startenergie. – Schauen wir uns Kessel, Rohre und Ventile genauer an: Statt moderner Zentralstaatlichkeit wie in Frankreich oder entstehenden Infrastrukturen der Industriellen Revolution wie in England gab es hier nur die zerklüfteten Reste des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Das endete offiziell erst 1806 – unter dem Druck Napoleons – und sorgte die ganze Zeit für eine Dezentralisierung der Bildungswege und Bildungsinfrastrukturen. Die Antriebsenergie derjenigen, die in einer zumindest etwas löchriger werdenden ständischen Ordnung und nach 1650, nach dem langsamen Verebben des verheerenden Dreißigjährigen Krieges, aus dem Bauern-, Bürgerund Handwerkerstand in höhere Positionen drängten, trat im deutschsprachigen Raum unkoordiniert auf. Die zentrale kaiserliche Macht, das traditionsreiche Stadtbürgertum und der Reichs-­Adel waren durch die Territorialisierung des Reiches geschwächt. Es gab Bedarf an qualifiziertem Personal, da „konfessionelles Landes­ kirchen­tum und Landesregierungen Kompetenzen des Reiches an sich zogen“, „Finanz- und Ordnungsansprüche“ 105 nun auf dieser mittleren Ebene gesteigert wurden. Es gab aber – trotz Leibniz’ Bemühungen – keine hauptstädtische und königliche, keine europaweit satisfaktionsfähige Akademie oder Society wie in den italienischen Stadtrepubliken, Frankreich oder England, in die man berufen werden konnte, auf die die Karrieren ausgerichtet waren. Es gab keinen herausragenden Hof wie in England oder Spanien, in dessen Dunstkreis man gelangen musste. Es gab keine Schulpflicht, die für alle Landstriche durchgesetzt worden war. Was es hingegen gab, waren regional und konfessionell sehr unterschiedliche Bildungstraditionen und einen hohen Stellenwert juristischer und theologischer Bildung. Durch die Multiplikation kleinstaatlicher 93

105 Rudolf Vierhaus, Staaten und Stände. Vom Westfälischen Frieden bis zum Hubertusburger Frieden 1648 bis 1763, Frankfurt/M. – Berlin (1984/ 1990), S. 27.

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Verwaltungen und Höfe standen diesbezüglich Ämter in großer Zahl zur Verfügung. Das hatte durchaus kuriose Auswirkungen, wie der jüngste Privatdozent der neueren deutschen Universitätsgeschichte dieser Geschichte 1938 aus dem unfreiwilligen Exil nachrief: 106

The universal spread of this title ‚Rat‘ was finally reduced to absurd-

Eugen Rosenstock-­Huessy, Out of Revolution. Autobiography of Western Man, New York (1938), S. 400 f.

ity in Germany. Dentists insisted on becoming Sanitätsräte, lawyers

107 Dazu Hajo Holborn, Der Deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, in: Historische Zeitschrift 174. Bd. (1952), S.  359 – 384.

108 Vgl. Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie (1966), Frankfurt/M. (1987), S.  21 – 61. 109 Heinrich Bosse, Bildungsrevolution 1770 – 1830, Heidelberg (2012), S. 50.

Justizräte, postmaster Posträte, and tax-­collectors financial counsellors.106

Die ganze Sprengkraft von ‚Bildung‘ als neuem Pattern gesellschaftlicher Aufstiege wird im deutschen Kulturraum aber erst deutlich, als sich genau aus diesen Reservoirs in der Mitte des Jahrhunderts eine Art Edelprekariat rekrutierte. Das massenhafte Auftreten deutscher Studienräte von den 1970ern bis in die 1990er Jahre sollte nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich nach 1740 die angebahnten Kanäle frühbürgerlicher Eliten schon wieder zu verengen begannen: Pfarreien wurden knapp, Ratsstellen ebenfalls. Über die angepeilten theologischen und juristischen Karrieren legte sich schon wieder ein melancholischer Schleier.107

* Aber ein solcher Impuls in einem kulturellen Feld verebbt nicht einfach – er sucht sich neue Bahnen und Areale. In England bricht 1712 mit dem Einsatz von Thomas Newcomens Dampfmaschine im Steinkohlebergbau zaghaft das Zeitalter der Industrialisierung an. Gleichzeitig werden immer mehr Felder und Böden aus dem Gemeinbesitz (Allmende) von Privatleuten übernommen und der Aufstieg der Städte beginnt eben auch als erzwungene Landflucht.108 Nicht ganz unerwartet begaben sich also auch im deutschsprachigen Raum Mitte des 18. Jahrhunderts viele Einzelne, die voneinander nichts wussten, auf diejenige unbekannte Umlaufbahn, die sie zwar letztlich am erträumten Provinzpfarramt oder Duodezhöflein vorbeiführen sollte, aber eben nicht ganz wieder zurück in die intellektuelle Enge ihrer provinziellen Herkunft. „Das Selberlernen, die Autodidaxe, ist der Rohstoff, 94

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aus dem die radikale Modernisierung erarbeitet wurde“ 109, schreibt der Bildungshistoriker Heinrich Bosse. Aber was und wie lernten die Aufsteiger, wo doch die ständische Ordnung ihnen gerade im deutschsprachigen Raum immer noch vorgab, was zu lernen war? Sie lernten doch etwas Neues, sie lernten ‚ästhetische Dinge‘.110 An einer Universität, wo im protestantischen Teil dieses Reiches weiterhin Juristen und Theologen ausgebildet wurden [➤ Vortragen, S. 335], wurde genau in der Mitte des 18. Jahrhunderts erstmalig etwas gelehrt, das nicht mehr einfach Logik oder Rhetorik war, das natürlich aber auch nicht mehr in die Ordnung der Theologen und Juristen passte und quer zu ihr stand: Georg Friedrich Meiers (erste deutschsprachige) Ästhetik, welche die Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften beschrieb, erschien zwischen 1748 und 1750 in Halle. Und Meier war in den Augen vieler nur der weniger geschätzte Popularisierer der lateinischen Ästhetik-­Vorlesungen Alexander Gottlieb Baumgartens, welche dieser ab 1737 in Halle und ab 1740 in Frankfurt/Oder hielt.111 Die Ästhetik übernahm ab etwa 1750 offiziell dann eine positive Auslegung der unteren, sinnlich-­physischen Vermögen des Menschen und ihre Aufwertung gegenüber dem (dagegen meta-­physischen) höheren logischen Denken.112 Pierre Dubos hatte vermutlich 1718 in Frankreich dafür den Anstoß geliefert mit einer Ästhetik, die nicht Regeln, sondern Wirkungen in den Mittelpunkt stellte.113 So wird die Ästhetik auch zum ersten disziplinären Entstehungsrahmen der späteren Menschenpsychologie, welche dann die Ständeaffektologie ablöste, die einen ‚allgemeinen Menschen‘ gar nicht kannte.

* Wem auch immer das Lob gebührt, die Ästhetik erfunden zu haben. Die neue Disziplin emanzipierte nicht zuletzt eine ganze Intellektuellenschicht – auch wenn sie vor allem angetreten war, diese Emanzipation (nur) für die damals sogenannten ‚unteren Sinnesvermögen‘ zu leisten. Aber weil sich über Geschmack gefahrloser streiten ließ als über Gesetz und Glauben, neutralisierten die Fragen der Ästhetik ein wenig die Belange von Religion und Politik, Konfession und Herkunft, setzten sie gewissermaßen aus, schufen eine Lücke für nach95

110 Als Antwort auf Schillers Frage von 1797 (‚Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf‘.) bis in die Gegenwart verlängert von Ernst Vollrath, ‚Deutschland? Aber wo liegt es?‘, in: liberal 35/2 (1993), S.  8 – 14. 111 Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik (1750 – 58). Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach, Bd. 1. Lateinisch – Deutsch, Hamburg (2007). 112 Dazu ausführlich Claudio La Rocca, Das Schöne und der Schatten. Dunkle Vorstellungen und ästhetische Erfahrung zwischen Baumgarten und Kant, in: Heiner F. Klemme et al. (Hg.), Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, Bielefeld (2006), S.  19 – 64. 113 Vgl. dazu Martin Fontius, Winckelmann und die französische Aufklärung, Berlin/Ost (1968), S. 6 f.

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114 Heinrich Bosse, Bildungsrevolution 1770 – 1830, Heidelberg (2012), S. 50.

115 Dazu Carl Hinrichs, Die universalen Zielsetzungen des Halleschen Pietismus, in: ders., Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-­Preußen als religiös-­soziale Reformbewegung, Göttingen (1971), S.  1 – 125.

drängende Kräfte. Erst dem Aufstieg dieser im Namen der neuen ästhetischen Bildung vom erhofften Weg (in die Provinzpfarrei oder Kirchenverwaltung) abgekommenen Aufsteiger – und vor allem ihrer Literatur – verdanken spätere Generationen die Möglichkeit, als sogenanntes Bildungsbürgertum zu gelten. [➤ Politisieren,  S. 210] Bildung war im deutschsprachig-­protestantischen Raum ein nicht zuletzt aus der Diskutierbarkeit ästhetischer Fragen resultierendes Aufstiegsversprechen. Das wurde aber nicht – wie in England oder Frankreich – kühl und umgehend wieder in Klassen oder Stände und Nähe zum (einen) Hof umgerechnet, sondern muss vor allem als sozialer „Transfer von ständischen Ausbildungsunterschieden in bürgerliche Bildungsunterschiede“ 114 verstanden werden. Kunst bot sich hier als wenig vorbelastetes Feld und Medium von Bildungsgeschichten geradezu an. Deren gesellschaftliche Geltungsansprüche sollten sich erst noch formieren. Dieser Weg war von harten sozialen Realitäten umgeben. Er verlangte genauso viel innere historisch-­kulturelle Vorstellungskraft wie äußere gesellschaftliche Geschmeidigkeit. Beschritten wurde dieser Weg zuerst von jenem Autor, dem wir Die Geschichte der Kunst des Alter­ thums von 1764 verdanken. Im deutschsprachigen Raum leitete der Sohn eines armen Flickschusters aus dem altmärkischen Stendal und mehrjähriger Trivialschullehrer im ebenfalls altmärkischen Seehausen Mitte des 18. Jahrhunderts ganz alleine eine Umkehrung der kontinentaleuropäischen Tradition ein. Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768) gelangte durch Förderer und vor allem kirchliche Stipendien aus der Provinz bis auf das älteste Gymnasium der Residenzstadt Berlin und nach Salzwedel, bevor er in Halle, an der neuen pietistischen Vorzeigeuniversität, ein Studium der Theologie begann.115 Dort aber beschäftigte er sich vor allem mit Staatsrecht und (Reichs-)Geschichte, Logik, Metaphysik und der neuen Baumgartenschen Ästhetik. In Jena setzte er solche ‚Studien‘ mit Medizin, Anatomie, Physik und Mathematik fort. Abgeschlossen hat er sie nicht mit einem Doktorgrad, sondern mit der obligatorischen ‚akademischen Reise‘ nach Paris als dem Ort der größten griechischen Handschriftensammlung diesseits der Alpen. 96

durchstarten

* Aber welcher Gruppe gehörte Winckelmann an, welchen Akteuren bahnte er den Weg? Die Neuen waren in den deutschsprachigen Territorien häufig arbeitslose Theologen aus kleinen Verhältnissen, die sich, wie Wieland 1767 im Vorbericht zu seinem Agathon schreibt, vergeblich ihrem „Consistorio zu einer guten Pfründe empfahlen“ 116. Sie bekamen keine eigene Pfarre. Die Neuen waren auch angehende Berufsschriftsteller oder Berufsgelehrte, die ihr Leben lang – und oft erfolglos – versuchten, ohne einen adeligen Mäzen durchzukommen. Sie wurden dennoch zur führenden intellektuellen Schicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Autoren der ersten deutschsprachigen Generation, die von Winckelmann angeführt wurde, waren allesamt nicht-­adelige Aufsteiger aus der Provinz. Ein Bürgertum oder gar eine Nation gab es ja noch gar nicht. Sie waren als angehende, aber wenig aussichtsreiche Theologen nur noch Hauslehrer im Wartestand. Auch als Juristen beschritten diese aufstrebenden Söhne aus kleinen und mittleren Verhältnissen zunächst oft diesen Weg. Winckelmann, Wieland, Herder, Hölderlin, Goethe, Lenz oder Schiller einte diese Herkunft. Der Jahrzehnte in Yale lehrende deutsch-­ amerikanische Historiker Hajo Holborn, der 1926 in Heidelberg mit einer Arbeit über Ulrich von Hutten und die deutsche Reformation habilitiert wurde (und 1934 wegen seiner jüdischen Ehefrau vertrieben), fasste das in seiner Deutschen Geschichte so zusammen:

116 Christoph Martin ­Wieland, Geschichte des Agathon (1766/67), hg. v. Klaus Manger, Berlin (2010), S. 15.

Die Überfüllung im Kirchen- und Schuldienst drängte die fertigen

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Theologen oft in armselige Stellen als Hauslehrer in Junker- und

Hajo Holborn, Deutsche Geschichte in der Neuzeit Bd. II: Reform und Restauration, Liberalismus und Nationalismus (1790 – 1871), Frankfurt/M. (1964/ 1981), S. 6 f.

Bürgerfamilien, wo sie häufig nicht besser als die Dienerschaft behandelt wurden.117

Wie hart der Weg derjenigen war, die es dennoch schafften, zeigt wiederum Winckelmanns Biografie: Er, der Sohn eines Flickschusters, verdiente sich notgedrungen schon sein Schulgeld als Kurrende-­ Sänger. Das vergessene Institut der Kurrende gehört, wie die ganze protestantische Musikkultur, zur Vorgeschichte von Bildung. [➤ Umgeben, S. 307] Die protestantisch-­kirchliche Musikkultur gab im 97

teil 2 – die bildungsdebat te

118 Vgl. Peter Schleuning, Der Bürger erhebt sich: Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert, Stuttgart (2000).

deutschsprachigen Raum, mit den riesigen Kantaten zu den Evangelisten, nicht nur die Größenverhältnisse von vorbildlichen Lebensbeschreibungen vor, sondern definierte auch den Rahmen, in dem Kultur stattfand und mit Gesellschaft zusammenfloss bzw. an ihre Stelle trat.118 Musik war ein Erlebnis in überschaubaren Gruppen: Winckelmann hatte – wie auch Johann Matthias Gesner (1691 – 1761), der 1737 das erste altphilologische Seminar in Göttingen gründete – an etwa 80 Sonn- und Feiertagen im Jahr, sein Schulgeld als ein solcher Chor- und Kurrende-­Sänger verdient. Die näheren Umstände erläutert sein Biograf Justi:

119

Den Kindern der Armen war seit Jahrhunderten ein Mittel zur Be-

Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen Bd. I (1866), Vierte Auflage mit einer Einführung von Ludwig Curtius, Leipzig (1943), S. 30.

streitung der Schulkosten gewährt in den alten Instituten des Chors und der Kurrende – Erzeugnissen einer Zeit, wo das Singen mindestens ein ebenso wichtiges Geschäft der Schule war als das Lernen. Der Chor bestand aus den älteren Schülern unter Leitung des Kantors; er sang beim öffentlichen Gottesdienst in der Marienkirche, an den Wochentagen vor den sogenannten Chorhäusern, auf Neujahr, Martini und Gregorii aber vor allen Häusern, und zwar stets lateinische Lieder, um von anderen Bettlern unterschieden zu werden. Bei keinem Begräbnis, auch beim ärgsten Wind und Wetter nicht, durfte der Zug der Schule fehlen: deshalb mußte durchschnittlich achtzigmal im Jahr die Nachmittagsschule ausgesetzt werden. Die Einnahmen wurden vom Rektor und Kantor vierteljährlich unter die Schüler verteilt. […] In der letzten Zeit (1734 f.) war Winckelmann aber bis zum Präfekten des Chors aufgestiegen; als solcher erhielt er ein Viertel des Einkommens, damals 250 Taler, also 60 Taler. Der Präfekt nahm an den Lektionen keinen Teil, aber er half im Elementar- und Gesangsunterricht.119

120 Vgl. Stefan Willer, ‚Ich singe mit, wenn alles singt!‘ Gemeinschaft, Gemeinde, Gesang, in: Liturgie und Kultur (2018) H.2, S.  5 – 15.

Das Singen in der Gemeinde, das Musizieren in kleinen Gruppen, wird zum zentralen Selbstaffirmationsritual der Gemeinschaft, die sich selbst damit nicht primär als eine politische, sondern als eine kulturell-­religiöse wahrnimmt.120 „Talented and congenial composers may rise in any country”, schreibt Eugen Rosenstock-­Huessy, „but only the Germans established music in the way in which Luther 98

durchstarten

speaks of it, as a corollary [logische oder notwendige Zugabe, H. C.] to political administration.“121 Diese gottesdienstlichen Zusammenkünfte waren lange Zeit fast die einzigen, regelmäßigen, die mehr Personen zusammenbrachten als ein durchschnittlicher Haushalt zählte.122 Die jungen, halbwüchsigen, mittellosen Kurrende-­Sänger waren aufgrund ihrer prekären Verhältnisse gleichzeitig innerhalb und außerhalb dieser Kultur, gleichzeitig beliebt und ein wenig (als eine Art umherziehender Jugend-­Bande) gefürchtet. Dass sie grundsätzlich an Kultur festhielten, liegt bei ihrem Bildungsgrad nahe, dass sie aber ihre Verhältnisse und Ziele mit einer Bildungsrevolution umzukrempeln gedachten, verwundert ebenfalls nicht. Bis in welche Tiefen des Charakters und der Persönlichkeit sie von solcher protestantisch-­musikalischen Praxis geprägt waren, kann man besonders gut an Winckelmann selbst ablesen. Zwei Jahre vor seinem gewaltsamen Tod und lange nach seiner taktischen Konversion zum Katholizismus in Dresden, die ihm den Weg nach Rom öffnen sollte, beschreibt er von dort, wie ihm die unvergessenen protestantischen Partituren, wenn er „des Morgends eine halbe Stunde seinem Glücke nachdenke“, regelmäßig zu unvergleichlichen Momenten der Seligkeit verhelfen: „Bey diesen Betrachtungen singe ich Lieder aus dem lutherischen Gesangbuche, wie mir dieselben einfallen und ich bin in diesen Augenblicken vergnügter als der große Mogul.“ 123

* Mit diesem Programm einer stillen und unkoordinierten Revolution formulierte sich eine enthusiasmierte Generation verhinderter Theologen in den merkwürdigen Dauerspagat eines schon in sich selbst universalen Individuums, das sich damit in Korrespondenz mit der Menschheit weiß, hinein. Der Weg nach oben war beschwerlich. Eingeschlagen wurde er zuerst von jenem bettelarmen Trivialschullehrer im altmärkischen Seehausen: Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768). In einer einfühlsam-­pathetischen szenischen Collage, inspiriert von Briefen und zeitgenössischen Zeugnissen, führt die anglo-­irische Literaturwissenschaftlerin Eliza Marian Butler 1935 99

121 Vgl. insgesamt das zentrale Kapitel ‚Music and Government‘ in: Eugen Rosenstock-­Huessy, Out of Revolution. Autobiography of Western Man, New York (1938), S.  417 – 423, hier: S. 418. 122 Nach Peter Laslett, Verlorene Lebenswelten: Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft (1965), Frankfurt/M. (1991), S.  71 – 102 u.  271 – 289.

123 Winckelmann, Brief an Leonhard Usteri v. 27. September 1766. [J. J. Winckelmann, Briefe, 4. Bde., hg. v. Walther Rehm, Berlin (1952 – 1957), Bd. 3, S. 210; Hinweis bei Kurbjuhn, Winckelmann, 2017, S. 57].

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vor, wie es Winckelmann in jenem altmärkischen Seehausen ergangen sein könnte: 124

Im März 1743 trifft Boysen, ein ehemaliger Studienfreund, mit Win-

Eliza Marian Butler, Deutsche im Banne Griechenlands (1935), dt., verkürzte Ausg. bearb. u. m. e. Einf. versehen v. Erich Rätsch, Berlin (1948), S. 69. [Vgl. z. B. den von ihr zitierten Brief Winckelmanns an Füssli v. 22. September 1764].

ckelmann zusammen, der ihn um eine Empfehlung für die Dorfschulmeisterstelle in Seehausen anfleht, die Boysen gerade aufgegeben hat. […] Es beginnt für ihn nun eine Periode von fünf langen, ermüdenden Jahren der Trübsal und Sklaverei, an die er sich später nur noch mit Schaudern erinnert und die wirklich den Tiefpunkt in seiner Laufbahn bedeutete. Aber wenn auch die Tage erbärmlich genug waren, die er damit verbrachte, ‚kleinen Bengels mit grindigen Köpfen das ABC beizubringen‘, so waren die Nächte von einer unbeschreiblichen Romantik. In den Winternächten kauerte er sich, in einen alten Pelzmantel gehüllt, in einen Sessel am Feuer und las seine geliebten Griechen, bis die Uhr 12 schlug. Bis 4 Uhr morgens schlief

125 Winckelmann, Brief an Berendis v. 6. Juli 1754 (aus Nöthnitz). Zit. n. Winckelmann, Schriften, 1960, S. 281 f. 126 Zit. n. Winckelmann, Schriften, 1960, S. 281. 127 Wilhelm von Humboldt in einem nicht erhaltenen, von Friedrich Schiller am 04.01. 1796 zitierten Brief. [F. Schiller Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. F. Jonas, Stuttgart 1892/96, Bd. 4, S. 377; Hinweis bei Wilhelm Voßkamp, Der Roman eines Lebens. Die Aktua­ lität unserer Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin (2009), S. 45].

er dann auf dem Stuhl. Es folgten dann zwei weitere Stunden Griechisch, und um 6 Uhr begann der Schulunterricht.124

So unrealistisch scheint dieses Szenario nicht, denn ein Jahrzehnt später noch schreibt Winckelmann dem Freund Berendis, dass er „den Homer allein diesen Winter dreimal mit aller Applikation, die ein so göttliches Werk erfordert, gelesen“ 125 habe. [➤ Wiederholen, S. 361] Diese neue einsame Lektüre eines Übernächtigten hat das Zeug zu Visionen, die ihn über die Realität hinausführen. Über das altmärkische Seehausen aber schrieb Winckelmann, in einem Brief v. 29. März 1753 an seinen Freund Ude, folgende unvergessliche Zeilen: Ich habe vieles gekostet: aber über die Knechtschaft in Seehausen ist nichts gegangen.126

* Bildung war also in ihrem Mutterland oder ihrer Heimatregion nicht einfach von gestern oder Symptom einer ewig zu spät gekommenen Nation. Bildung war trotz manischer Antike-­Fixierung in Deutsch100

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land sehr wohl ein modernes Reservoir, aus dem sich unzählige Motoren des sozialen Aufstiegs speisten. Statt ausschließlich auf eine standeskonforme Partie zu spekulieren, die vielleicht doch die Standesschranken einen Spalt nach oben öffneten, statt die lebenslange Gunst eines Mäzens zu erhoffen, statt einer Kirchengemeinde vorzustehen oder gar statt ein hohes Amt als Rat anzustreben (oder sich auch ganz einfach zu fügen und zu bescheiden in das, was ist), rief man – vielleicht zunächst aus reiner Chancenlosigkeit – mit antikisierendem Pathos die Menschheit nach dem Vorbild der Alten an, die jetzt die Griechen waren. Gleichzeitig verkörperte man diese neue Menschheit schon einmal vorauseilend und vollmundig: Jede Individualität ist in dem Grade idealisch […] als sie selbständig ist, das heißt, als sie innerhalb ihres Kreises ein unendliches Vermögen einschließt und dem Gehalt nach alles zu leisten vermag, was der Gattung möglich ist.127

‚Dem Gehalt nach alles zu leisten, was der Gattung möglich ist‘, war ihnen ja gerade verwehrt. Dass philologischer Neuhumanismus und philosophischer Idealismus genau an diesen Beschränkungen rüttelten, signalisiert schon der ihnen gemeinsame allgemeine Begriff vom Menschen.128 Martin Fontius hat noch auf dem Boden der DDR, zu der auch Stendal, Halle oder Weimar einmal gehörten, die produktive Misere proto-­bürgerlicher Intellektueller im deutschsprachigen Raum zusammengefasst: Aus der Besinnung über den Abgrund, der dies lose Bündel absolutistischer Monarchien en miniature von der Höhe der Zeit trennte, musste die Erkenntnis wachsen, dass die Höfe das Haupthindernis einer einigen Nation darstellten. […] Eine solche Situation konnte nur eine Geschichtsphilosophie freisetzen, von der die großen Kulturepochen der Menschheit aus einer antimonarchischen Grundstruktur erklärt wurden. […] Winckelmann, ‚durchdrungen und gesättigt von den Begriffen der Aufklärung über den Zusammenhang der Kultur‘ [W. ­Dilthey], unterzog sich dieser Aufgabe mit seiner Orientierung auf die griechische Polis.129

101

128 Dass es dazu auch im deutschsprachigen Raum durchaus eine Alternative gab – und warum sie scheiterte – beschreibt Niklas Luhmann, Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: Von der Philanthropie zum Neuhumanismus, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, Frankfurt/M. (1981), S.  105 – 194.

129 Vgl. Martin Fontius, Winckelmann und die französische Aufklärung, Berlin/Ost (1968), S. 14. Als neuere Darstellung Renate Stauf, ‚Die Seele äußerte sich nur wie unter einer stillen Fläche des Wassers …‘ Winckelmanns Griechenparadigma aus nationalkultureller Sicht, in: Rainer Wiegels/ Winfried Woeser (Hg.), Antike neu entdeckt. Aspekte der Antike Rezeption im 18. Jahrhundert, Möhnesee (2002), S.  255 – 271.

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So geraten die Welt der philosophischen Ideen im späteren Deutschland und die der materiellen Verhältnisse im revolutionären Frankreich nahezu gleichzeitig in erhebliche Bewegung – doch auf sehr unterschiedliche Weise. Und immer wieder wird der Auftakt des Industriezeitalters auch als ein solches massives materielles und immaterielles In-­Bewegung-­Setzen der Gesellschaft beschrieben. [➤ Fabrizieren, S. 130] Die verschiedenen Bewegungen aber werden frühzeitig zusammen gedacht und es ist nicht zufällig ein deutscher Autor, der die Bewegungsenergie von Wissenschaft, Bildung und Politik in einem unterdessen berühmten Bonmot zuerst auf eine Stufe stellte: Friedrich Schlegel nannte in seinem 216. Athenäums-­Fragment die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre „die größten Tendenzen der Zeit“.

102

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einbilden Der Griechenkult Winckelmann, der homo novus im Wartestand und von seinem Gymnasialrektor zunächst als homo vagus inconstans Wahrgenommene 130, saugte den neuen griechischen Kontext so an, dass er sich selbst dabei auch neu entwerfen konnte. Sein Bildungserlebnis würde, was er nicht ahnte, eine Epochenerfahrung der Deutschen werden. [➤ ­Erleiden, S. 121] Eliza Marian Butler schildert uns die entscheidende Szene, es ist die Gründungsszene der deutschen Bildungsidee:

130 Vgl. Ernst Osterkamp, Winckelmann: Der Europäer, in: Elisabeth Décultot et al. (Hg.), Winckelmann. Moderne Antike, München (2017), S. 23 – 38, hier: S. 27.

Über ein Jahrhundert lang war die griechische Literatur aus Europa

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verbannt, und es war fast unmöglich, die alten Texte zu erlangen.

Eliza Marian Butler, Deutsche im Banne Griechenlands (1935), Berlin (1948), S. 69. Zur bemerkenswerten Geschichte dieses Buchs und seiner Autorin jetzt Claudia Schmölders, Faust & Helena. Eine deutsch-­griechische Faszinationsgeschichte, Berlin (2018), S.  134 – 187.

Nun suchte sie wieder Zugang und klopfte an die Tür eines jämmerlich zerlumpten und totunglücklichen jungen Schulmeisters in der Altmark, der nächtens Homer, Aischylos, Sophokles, Xenophon, Plato und Herodot im Original las und Mitternachtsvisionen von Griechenland hatte.131

Die alten Griechen entwickelten sich zum Kern des neuen deutschen Bildungsgedankens. Obwohl später in den Gymnasien im 19. Jahrhundert Alt-­Griechisch gleichrangig mit Latein, Mathematik und Deutsch behandelt werden sollte, hatte das Altgriechische lange Zeit einen deutlich höheren kulturellen und politischen Identifikationswert. Doch dies war keine deutsche Entdeckung. Was Winckelmann vorlebte, hatte seinen Ausgang nicht von ihm selbst genommen. Die Begeisterung für alles Altgriechische war zu Beginn des 18. Jahrhunderts schon heftig unter protestantischen englischen Theologen ausgebrochen. Es war dies eine religionspolitisch motivierte Rückkehr zur authentischen Sprache der Evangelien und Teil eines Kulturkampfes in Europa gegen das Papsttum. Der englisch-­ anglikanischen Kirche gelang es, sich durch die Bevorzugung des Altgriechischen bewusst vom stark hierarchischen Katholizismus der lateinischen Kirche abzugrenzen. Herbert Schöffler hat diesem 103

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Vorgang schon 1922 eine bahnbrechende Studie gewidmet, die die Ausgangsposition schildert: 132

Die Kenntnis des griechischen, naiveren Teiles der Antike ist wichtig

Herbert Schöffler, Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur des 18. Jahrhunderts (1922), 2., unveränderte Auflage, Göttingen (1958), hier: S. 135.

als ausschlaggebendes Mittel im Kampfe gegen eine nur den lateinischen Teil sehende Anschauungsweise. Die in weitesten Kreisen der Gebildeten vorhandene Kenntnis des Griechischen in England um 1700 im Gegensatz zu Frankreich ist konfessionell begründet. Die Geistlichkeit als Wahrerin des protestantischen Schriftprinzips und als stark literarisch gerichteter Stand steht um 1700 den Schätzen des griechischen Altertums am nächsten.132

133 Vgl. etwa Maike Oergel, Die ‚Verurtümlichung‘ Homers – ein Beispiel transnationaler Antiketransformation, in: Annika Hildebrandt et al. (Hg.), Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, Bern (2016), S.  181 – 200. 134 Conrad Wiedemann, Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Zum Paradigmenwechsel zwischen Gottsched und Winckelmann, in: F. N. Mennemeier/ ders. (Hg.), Kulturnation statt politischer Nation?, Tübingen (1986), S. 173 – 178, hier: S. 173. 135 Eliza Marian Butler, Deutsche im Banne Griechenlands (1935), Berlin (1948), S. 63.

So sehen wir klarer: Das Ende der blutigen konfessionellen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts war auch aller Deutsch-­Griechheit (W. ­Seitter) Anfang. Der sich etablierende Protestantismus und daraus entstehende Pietismus boten gute Startvoraussetzungen für den Griechen-­Kult in den englischen und deutschsprachigen Territorien.133 Aber erst „kurz nach 1750 teilte sich die Überlieferungseinheit einer griechisch-­römischen Antike in zwei ihrem Wesen nach widersprüchliche Überlieferungen“ 134, erst mit Winckelmanns entscheidender Vorarbeit kommt es dann zu einer regelrechten Tyranny of Greece over Germany (Eliza M. Butler): Die Deutschen haben die Griechen sklavischer nachgeahmt, sie waren besessen von ihnen und haben die griechische Kunst ihrer eigenen Art weniger angepaßt als irgendein anderes Volk. Der griechische Einfluß auf Europa läßt sich in seinem Umfang nicht abschätzen; aber in Deutschland ist er am intensivsten.135

* Winckelmanns Start und Ausbildung wurden dagegen noch ganz beherrscht vom späthumanistischen Ideal klassischer Latinität. Er korrespondierte und disputierte schon als Schüler auf Latein. Selbst der für den Protestantismus so zentrale katechetische Konfirmandenunterricht wird zur Einübung des Lateinischen genutzt. 104

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Winckelmanns unübertroffen genauer und gelehrter Biograf Carl Justi (1832 – 1912) erklärt indirekt, warum das lange Zeit in den Bildungsstätten omnipräsente Latein unbeliebter wurde und das mit ihm einhergehende Bildungsideal irgendwann seinen Bezug zur Umgebung verlor: Das Latein war das Eins und Alles des Unterrichts, der etwa zwanzig

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wöchentliche Stunden in Anspruch nahm. […] Eine Besonderheit der

Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen Bd. I (1866), Vierte Auflage mit einer Einführung von Ludwig Curtius, Leipzig (1943), S. 32 u. 42.

Reorganisation der Stendaler Schule von 1541 war es, daß damals das Griechische mit hereingezogen wurde. In Melanchthons sächsischer Schulordnung hatte es noch keine Stelle gefunden: erst in die Kurfürst Augusts von 1580 wurde es aufgenommen. […] Wahrscheinlich aber las man zu Winckelmanns Zeiten nichts als das Neue Testament. Wie er am 27. Nov. 1743 schreibt, lagen damals die griechischen Studien in der Altmark in träger Finsternis versunken (ignava caligine mersae) […] Der einzige noch vorhandene Schulplan aus jener Zeit (1742) zeigt uns den im einzelnen abgestuften Schematismus einer lateinischen Schule: von den Vokabeln, Wortbiegungen und der Satzbildung an bis zu Heineccius‘ Fundamenten des feinen Stils und zur märkischen Rhetorik. Besondere Stunden sind angesetzt für Interpunktion und Orthographie, Periodologie und Syntaxis ornata, für Prosodie und Metrik, Skandierübungen und lateinische Sentenzen in Versen, für Kolloquien, Rezitationen und Disputationen, auch für römische Altertümer und alte Erdkunde. In den oberen Klassen sollte nur Latein gesprochen werden.136

Der Latein-­Unterricht verlor sich anscheinend in Details, Drill und abgestorbener Nachahmung en miniature. Plausibel wird jedweder Wechsel aber nur, wenn man sich die veränderte Unterhaltungsumgebung dieses Erziehungsprogramms anschaut. Wonach es nämlich institutionell noch überhaupt nicht aussieht, nimmt mit Winckelmann plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes Gestalt an: Das fast gänzlich vernachlässigte Altgriechisch – es hatte eben nur noch als ‚inspirierte‘ Sprache der biblischen Texte Bedeutung – trat an die Stelle dieser akribischen Auffassung von Latinität und etablierte innerhalb des antiken de facto in kürzester Zeit ein neues Bildungs105

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137 Elisabeth Décultot, Sparta vs. Athen. Topographien der Antike im französischen und deutschen Geschichtsdiskurs des 18. Jahrhunderts, in: A. Hildebrandt/ Ch. Kurbjuhn/ St. Martus (Hg.), Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, Bern (2016), S.  41 – 56.

138 Dazu grundlegend Elisabeth Décultot, Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert, Ruhpolding (2005).

139 Dazu Charlotte Kurbjuhn, Winckelmann exzerpiert um sein Leben, singt lutherische Lieder und wird glücklicher als der Grossmogul. Sprach- und Stilideale im Werdegang eines ‚klassischen‘ Autors, in: Elisabeth Décultot et al. (Hg.), Winckelmann. Moderne Antike, München (2017), S.  53 – 65.

ideal. Das hierbei wiederum entscheidend war, ob man für ‚Sparta‘ oder für ‚Athen‘ votierte, ist noch eine andere Geschichte.137 Was war der Hintergrund dafür, was war passiert, was machte Winckelmanns Leben zu einem solchen ‚deutsch-­griechischen‘ Ausnahme-­Leben, das doch nur nach Rom führte?

Griechenland ist was für arme Schlucker Anlass war auch ein Medienwandel, der – wie heute – Stoff, Form und Gebrauch betraf. Es war der Aufstieg und die Ausbreitung der modernen Romanprosa von England aus, ihre verbreiterte Leserschaft und die flüssigere stille Lektüre dieser Unterhaltungstexte, die als neue Umgebung auch die Parameter der Bildungslektüre beeinflusste. [➤ Bildung als historische Kulturtechnik, S. 41] Das Zerstückelte und Exzerpthafte lateinisch-­humanistischer Bildung der Renaissance wich langsam dem Zusammenhängenden, die Auswendigkeit von Vorgegebenem wich dem Schreiben von Eigenem. Wobei man nie vergessen darf, dass Winckelmann dieser Technik des exzessiven Exzerpierens seine ganze Karriere verdankte.138 Aber zumindest auf der Ebene der Darstellung löste das Interesse für den konkreten Autor, die Nachempfindung seiner Welt, jene ältere Lust am Sammeln ausgewählter, isolierter Sentenzen ab. [➤ Empfinden,  S. 114] Neue religiöse Bekenntnisse und Praktiken, pietistische Einfühlung und Introspektion, patriotisches Pamphlet, Autobiographie, Roman und Essay verdrängten die Formate und Praktiken, vor allem aber auch frühzeitig die Stilideale der alten europäischen Gelehrtenrepublik privilegierter Stände und wurden zum bevorzugten Medium nicht-­ adeliger Aufsteiger.139 Was passierte, hatte durchaus etwas Märchenhaftes: Man sah in den Resten der Antike auf einmal nicht mehr primär Einzelstücke für eine Sammlung am Hofe irgendeines Mäzens. Man sah in neuen fragmentarischen Textzeugnissen auch nicht mehr primär zufällige Erweiterungen eines unter immer gleichen Überschriften und Themenstellungen ausgebeuteten Zitatensteinbruchs. Selbst wenn man, wie Winckelmann vor seiner Zeit in Rom, „mithin fast ausschließlich 106

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Texte schrieb, die geeignet waren, die 42000 Bände der Bünauschen Bibliothek in Miniaturen abzubilden: Exzerpte, Exzerpte von Exzerpten, Bibliothekskataloge sowie Passagen der Kayser- und Reichshistorie“ 140. Man nutzte nun vielmehr konsequent die Einbildungskraft, das ominöse Innere, um die hoffnungslos verstreuten Reste des Griechentums als zusammenhängende Zeugnisse einer im Ganzen nachahmungswürdigen neuen alten Kultur wahrzunehmen. Aus der verschwindend kleinen Zahl überlieferter Textausrisse erstanden plötzlich halluzinatorische Ansichten wunderbarer Landschaften und Taten bedeutender Biografien, erstanden Empathie oder Abscheu zugängliche lebendige Charaktere. Kurz: Das Denken in Epochen, das freiere Interpretieren längerer Textpasssagen und das schreibende In-­Beziehung-­Setzen-­Können des (schneller) Gelesenen zum eigenen Ich standen nun auf der Tagesordnung als ‚Bildung‘. Wie diese Methode sich etablierte, zeigt ein Erfahrungsbericht Herders (mit Winckelmanns Texten) aus seinen Kritischen Wäldern. In Winckelmanns Person und Werk werden Methode (Lesen wird Sehen) und Gegenstand der Aneignung bei Herder kongenial zusammengezogen:

140 Peter Geimer, Post-­ Scriptum. Zur Reduktion von Daten in Winckelmanns ‚Geschichte der Kunst des Alterthums‘, in: Michael Franz/ Inge Baxmann (Hg.), Das Laokoon-­Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin (2000), S. 64 – 88, hier: S. 81.

Da ich Jahre her täglich zu den Alten, als zu der Erstgeburt des

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Menschlichen Geistes, wallfahrte, und Winckelmann als einen wür-

Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften (1769) [Sämmtliche Werke. Band III, hg. v. B. Suphan, Berlin (1878)], S. 186 [Zit. n. Geimer, Post-­Scriptum, 2000, S. 87].

digen Griechen betrachte, der aus der Asche seines Volkes aufgelebt ist, um unser Jahrhundert zu erleuchten, so kann ich Winckelmann nicht anders lesen, als ich einen Homer, Plato und Bako lese, und er seinen Apollo siehet.141

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eindeu tschen Der Römerhass

142 Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen Bd. I (1866), Vierte Auflage mit einer Einführung von Ludwig Curtius, Leipzig (1943), S. 41.

Forciert und zu einem dominanten Paradigma namens Bildung wurde die altgriechische Kultur, nach Anregungen aus England, erst im deutschsprachigen Raum und erst in maximaler Differenz zu Frankreich. Die Intensität dieser Identifikation ist ohne Gegensatz, ohne Konkurrenz oder ohne Widerstände (woanders) gar nicht denkbar. So passt es ins Bild, dass Frankreich genau daran, am altgriechischen Epochenvorbild der Deutschen, nicht interessiert war: „Perrault und Genossen“ in Frankreich hätten „Homer mit den Bänkelsängern des Pontneuf verglichen“, wird der Rektor von Winckelmanns Köllnischem Gymnasium an der Spree, angesichts dieses Desinteresses für die Griechen verständnislos bis angewidert, zitiert.142 Das Wort ‚Bildung‘ war tatsächlich (genauso wie der Ausdruck sich oder jemanden ‚bilden‘) im deutschsprachigen Raum ein Neologismus, der vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert gar nicht bekannt war: Weder die Wort- noch die Geistesgeschichte können erklären, warum

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‚bilden‘ und ‚Bildung‘ jahrhundertelang gleichsam untätig geschlum-

Heinrich Bosse, Bildungsrevolution 1770 – 1830, Heidelberg (2012), S. 50. Genauso Ernst Lichtenstein, Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckhart bis Hegel, Heidelberg (1966), S. 9.

mert haben, bevor sie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu einer explosiven Potenz wurden.143

Diese deutsche Idee der Bildung war dem französischen oder englischen Modell von education gegenüber in einem langen Prozess zu einem zwar mehrschichtigen, aber spezifisch (nur in einem Begriff) verdichteten Ideal gesteigert worden. [➤ Prägen,  S. 222] Auch die Begriffe civilisation oder culture, formation oder instruction, die über das Normannische in den englischen Sprachbestand gelangten, hielten ins Deutsche nicht Einzug, wie Reinhart Koselleck in einem maßgeblichen Aufsatz darlegte: Während es sich im Westen um gleitende Umprägungen vorgegebener Sprachbestände handelte, die der Latinität verpflichtet blieben, han-

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eindeutschen

delte es sich im Deutschen darum, Fremdworte einzuverwandeln oder

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genuin deutsche Worte begrifflich hochzustilisieren, um sie theorie-

Reinhart Koselleck, Einleitung. – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: ders. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Tl. 2: Bildungsgüter und Bildungswissen [= Industrielle Welt. Bd. 41], Stuttgart (1990), S.  11, 13 – 23.

und reflexionsfähig zu machen. ‚Bildung‘ ist einer dieser spezifischen Begriffe.144

Wichtiger aber als gleitende Skalen sind für die scharfe Konturierung jeglicher Begrifflichkeit klar konturierte Gegenbegriffe, eine plausible Gegnerschaft. Das gilt exakt auch für den Erfolg von Winckelmanns Griechen-­Bild. Es attackierte, europäisch betrachtet, jenes etwas gusseisern-­zeremonielle Römer-­Bild des französischen Klassizismus des 17. Jahrhunderts bei Pierre Corneille (1606 – 1684) und Jean Racine (1639 – 1699). So wird Bildung – als neuhumanistisches Programm – vor allem mit einem bestimmten Land und einem bestimmten Zeitalter in Verbindung gebracht. Dieses Land nahm sich allerdings, genau wie der mächtigere Nachbar Frankreich, ein anderes, weitgehend fiktives zum Vorbild und betrat, so gerüstet, die europäische Arena. Anders als die konfessionell-­politische Aufladung einer in sich gespaltenen Antike-­Rezeption in England, verstärkte die altgriechische Variante in den deutschen Ländern schon protonational-­politische Gegensätzlichkeiten auf dem Kontinent. Dieser Art von verstärkender Gegensätzlichkeit sollte politisch die Zukunft gehören – Bildung war modern.

* Schon im Todesjahr von Winckelmann sind die Fronten weitestgehend geklärt: „Jedes Volk ist gewohnt, durch ein eigenes Medium zu sehen“, schrieb Helfrich Peter Sturz (1736 – 1779) in seinem Eilften Brief vom 27. November 1768, aus Paris, an Herrn Garrick – den berühmten englischen Schauspieler. Das deutsche Medium wird auch von Sturz ausschließlich und gezielt im Gegensatz zum französischen bestimmt.145 Indirekt entstand, das kann man hier nachvollziehen, aus der Kritik der am idealisierten Römertum orientierten klassischen französischen Theaterkunst die Vorliebe der Deutschen für die nur angenommenen Eigenschaften eines altgriechischen (epischen) Gegenkonstrukts: 109

145 Vgl. Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde: Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792 – 1918, Stuttgart (1992).

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146 H. P. Sturz, Briefe, im Jahre 1768 auf einer Reise im Gefolge des Königs von Dänemark geschrieben, in: ders., Schriften. Erste Samlung, Leipzig (1779), S. 1 – 119, hier: S. 92 f.

Alle Fremde spotten gern über den französischen Theateranstand. Man findet darin eine taktrichtige, widernatürliche Zierlichkeit, eine hochtrabende Menuettenmanier, die auf den Tanzboden gehört. Allerdings übertreiben sie, für den nördlichen Geschmack, Stellung, Gang und Deklamation; aber man überlegt nicht, daß sie nicht für uns, sondern für ihre Landsleute spielen. Jedes Volk ist gewohnt, durch ein eigenes Medium zu sehen; man täuscht und rührt uns nur, wenn man die Vorstellung in unsern Sehwinkel stellt, und unsern Sitten näher bringt. Vollkommene Wahrheit alter oder ausländischer Sitten wird, weder von dem Dichter, noch dem Schauspieler erreicht; sie ist auch zu fremd für unsere Empfindung.146

* Die Deutschen, die keine Nation waren, hatten in dem seltsam überhöhten Griechentum und seiner Auslegung, seiner neuerlichen proto-­ nationalen Verkörperung namens Bildung, vergleichsweise spät ihr Medium gefunden. Von hier aus strebten sie dann doch vollkommene Wahrheit über ausländische Sitten an. Das blieb nicht folgenlos für die übrige Welt. Gerade weil die Franzosen es mit den Römern hatten, setzten die Deutschen auf die angeblich einfältig-­tiefen (J. J. Winckelmann) und marmorblassen Griechen. Wie falsch sie schon dabei lagen, wurde erst nach und nach in den letzten Jahrzehnten aufgrund neuester Technik deutlich: Die Vorstellung edler marmorner Blässe der antiken griechischen Skulpturen weicht immer mehr der Tatsache einer nicht nur ‚orientalisch‘ anmutenden, sondern tatsächlich nahöstlich inspirierten Polychromie. Ein aufsteigender Intellektueller wie Winckelmann, der immerhin im Namen einer idealen Humanität nach dem Vorbild der Griechen sprach, war keine Ausnahme in dieser Logik des Politischen. Diese nimmt sich ganz neue oder vormals politisch neutrale (bzw. fest eingebundene) Sachgebiete wie die Ästhetik vor und macht sie zum neuen Gebiet heftiger Auseinandersetzungen. Politisch ist – nach Carl Schmitts luzidem Diktum – vor allem, was mittels neuer und schnellerer medialer Techniken von einer vormals zweitrangigen, ungehörten Instanz zur Arena neuer, elementarer intellektueller Kämpfe gemacht werden kann. [➤ Nach 110

eindeutschen

dem Kanon, S. 51] Man sieht, wie konkret und politisch motiviert die Formulierung eines neuen Allgemeinen und Menschlichen immer auch ist. Winckelmanns Ärger über die Franzosen machte sich am 29. Januar 1757, in einem Brief aus Rom an seinen Herzensfreund Berendis, sogar einmal direkt und unverblümt Luft: Alle Franzosen sind hier lächerlich, als eine elende Nation, und ich

147

kann mich rühmen, daß ich mit keinem von der verachtungswürdigs-

J. J. Winckelmann, Brief an Berendis v. 29. Januar 1757 (aus Rom), in: ders., Schriften, 1960, S. 298 f.

ten Art zweifüßiger Kreaturen eine Gemeinschaft habe. Ihre Akademie ist eine Gesellschaft der Narren, und ein junger Römer machte ein Wappen für dieselbe, nämlich zwei Esel, welche sich kratzen, weil den Esels alles gefällt. Solltest Du nach Paris gehen, so schreibe ich keine Zeile an Dich.147

Hinter der Römer-­Bewunderung der monarchisch-­zentralstaatlich organisierten Franzosen verbarg sich tatsächlich auch ein vollkommen konträres Lehr- und Lernprogramm – ja, eine ganz andere Wissenstechnologie: die klassische Rhetorik. Ihre Kompatibilität mit dem politischen Raum (der öffentlichen Rede und des machtzentrierten Zeremoniells) muss nicht eigens erläutert werden. Führende Revolutionäre wie St. Just waren Jesuiten-­Zöglinge, kamen indirekt aus dem Herzen Roms. Ihre politische Waffe war die Rede im Konvent.

* Im Falle der mit der französischen Römer-­Verehrung konkurrierenden deutschen Griechensehnsucht liegt die Sache – nun nicht mehr so überraschend – völlig anders. Weil sie sich ersatzweise an Kunstwerken (bzw. schlechten, in Rom aufgefundenen Kopien von Kunstwerken) und nicht an Politik, zentralisierter Öffentlichkeit, Repräsentativität und Staatlichkeits-­Rhetorik entzündete und festmachte, weil sie sich gezwungenermaßen nach dem abstrakten Sinn für ästhetische Proportionen und nicht nach der Struktur und Geschlossenheit eines konkreten politischen Territoriums sehnte, brauchte die deutsche Griechensucht auch eine abweichende Unterlegung durch einen ab111

teil 2 – die bildungsdebat te

weichenden Wissensdiskurs. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wichtige Impulse für deutschsprachige Intellektuelle aus der französischen Aufklärung stammten. Winckelmann z. B. exzerpierte in Dresden erst gar keine deutschsprachigen Schriften und wandelte bei der Wortwahl in Sachen eigener Bildungs-­Biografie zunächst ganz auf französischen Pfaden: 148

Es ist mein Unglück, daß ich nicht an einem großen Ort gebohren bin,

J. J. Winckelmann, Brief an Berendis, v. Winter 1752/53, in: J. J. Winckelmann, Briefe, 4 Bde., hg. v. Walther Rehm, Berlin (1952 – 1957), Bd. 1, S. 119. [Hinweis bei Osterkamp, Winckelmann, 2018, S. 28].

wo ich Erziehung und Gelegenheit haben können, meiner Neigung zu

149 Martin Fontius, Winckelmann und die französische Aufklärung [Sitzungsberichte der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst 1], Berlin/Ost (1968), S. 14.

folgen, und mich zu formiren.148

Bezeichnenderweise übernahmen ‚die Deutschen‘ den Fortschrittsoptimismus der Franzosen in seltsam abgewandelter Form: Was die Franzosen auf dem eigenen Territorium ansiedelten, wurde von deutschen Intellektuellen, die sich von einem ‚Hof‘, den es bei ihnen hundertfach gab, nichts Gutes versprachen, ins Weltformat übersetzt: „Der Gedanke des an die segnende Hand des Monarchen gebundenen Kulturzeitalters als Symbol des geschichtlichen Fortschritts“, schreibt Martin Fontius schon 1968 in Ost-­Berlin, „stand in unversöhnlichem Gegensatz zur deutschen Wirklichkeit.“ 149 Diese deutsch-­ griechische Wissensformation war eine wahlweise auf hypertrophen Systembau oder einsame empfindsame Re-­Lektüren hin ausgerichtete Angelegenheit. Aber sie war eben keine, die auf situative, politisch-­öffentliche Wirksamkeit zielte. Auf Winckelmann folgten und beriefen sich Kant, Hegel, Hölderlin oder Schiller. Gefühlskult, Imagination, Franzosenhass und Romankultur wurden so weit sublimiert, dass Unterhaltung und Wissenschaft scheinbar wieder sauber geschieden waren. – Ein Erbe der Sehnsucht nach dem Griechenland aber blieb lange, lange erhalten: Konkrete alltägliche Politik schien im deutschsprachigen Raum weit weg und allzu kleinteilig – lieber wurde der ‚hohe Ton‘ angeschlagen. [➤ Prospekt, S. 13/​ ➤ Appellieren, S. 65] Unterhaltung wurde nach der Etablierung der neuen Hochkultur – und bei erfolgreicher Vertuschung der Anteile, welche diese an jener hatte – fortan umso heftiger geschmäht. Wer will schon ganz genau wissen, wo er herkommt? Als Hölderlin doch einmal zum Roman zurückkehrte – mit Hyperion oder Der Eremit in 112

eindeutschen

Griechenland (1797/1799) –, gelang diese Verleugnung nur halbherzig: Er schrieb einen mäßig unterhaltsamen Liebes-, Verschwörungsund Insurgenten-Roman.150

* Bildung als Idee reagierte um 1750 – und erneut um 1800 – polemisch auf Ideen aus Frankreich aus der spezifisch deutschen Perspektive. Das Römertum der französischen Klassik und die nationalrevolutionären Truppen der französischen Republik waren für die großen und kleinen Territorien im deutschsprachigen Raum zugleich Schreckgespenst und Objekt einer verschobenen Nachahmung. Carl von Clausewitz und seine preußische Heeresreform sind das beste Beispiel dafür.151 Clausewitz modernisierte (gemeinsam mit Scharnhorst und Gneisenau) die preußische Armee nach französischem Vorbild – ohne die Idee der Revolution zu übernehmen. Und damit ist nur eine Ebene dieses besonderen Verhältnisses bezeichnet. Bis heute führt die erste Dienstreise eines neuen französischen Präsidenten bekanntlich in die deutsche Hauptstadt, eine weitere, gemeinsame, dann nach Verdun. Dass der aktuelle Präsident, Emmanuel Macron, „seinen persönlichen Bildungsroman vom verträumten Provinzler aus Amiens zum zielstrebigen Aufsteiger in Paris“ 152 lebt und als ehemaliger Assistent des Philosophen Paul Ricoeur mit seinem persönlichen Literaturkanon nicht hinterm Berg hält, rückt(e) die beiden Länder möglicherweise wieder näher zusammen.

113

150 Vgl. Heiko Christians, Kriegsbilder. Hölderlins Hyperion und das Gattungssystem um 1800, in: Torsten Hahn (Hg.), Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment um 1800, Würzburg (2004), S.  167 – 176.

151 Für Clausewitz hat das ein für alle Mal beschrieben: René Girard, Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken: Gespräche mit Benoît Chantre, Berlin (2014).

152 Dirk Schümer, Entpoetisiert euch! Emmanuel Macron kennt die großen Philosophen, in: Die Welt. Beilage Die Literarische Welt, 20.05. 2017, S. 27.

teil 2 – die bildungsdebat te

empfinden Die Herzensbildung Was nun genau Bildung auch immer war oder ist, so setzt(e) ihr Ergebnis, anders als Gelehrsamkeit, im ausgehenden 18. Jahrhundert einen Sinn für das Schöne voraus, ein besonderes Empfindungsvermögen, das die Person insgesamt zu einer kenntnisreichen, aber eben auch bewegten Stellungnahme zum Gegenstand animierte und befähigte. In genau dieser Hinsicht unterschied sich die Aneignung der Griechen im deutschsprachigen Raum auch noch einmal von den früheren Formen solcher Aneignung in England. Eine anti-­antiquarische, d. h. eine anti-­gelehrte Wendung kombiniert mit einer empfindsamen (Anti-)Rhetorik ist ihr Erbe und ihr Alleinstellungsmerkmal im ausgehenden 18. Jahrhundert für den deutschsprachigen Raum. Hier liegt die Möglichkeit einer Tempoverschärfung auf gleich mehreren Ebenen. So formuliert es zuerst Winckelmann selbst, genau das ist sein Programm: 153

Die Alterthümer haben nur Anlaß gegeben, Belesenheit auszuschüt-

Johann Winkelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764). Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben, dem Fürsten Wenzel von Kaunitz-­ Rietberg gewidmet von der königlichen Akademie der bildenden Künste, Wien (1776), S. 247.

ten, der Vernunft aber wenige oder gar keine. Auf der andern Seite hingegen, da die Weltweisheit größtentheils geübet und gelehret worden von denen, die durch Lesung ihrer düstern Vorgänger in derselben, der Empfindung wenig Raum lassen könen, und dieselbe gleichsam mit einer harten Haut überziehen lassen, hat man uns durch ein Labyrinth metaphysischer Spitzfindigkeiten und Umschweife geführet, die am Ende vornehmlich gedienet haben, ungeheure Bücher auszuhecken, und den Verstand durch Eckel zu ermüden.153

Um Spitzfindigkeiten, Umschweife, Labyrinthe und ungeheure Bücher zu meiden, hält der neue Diskurs mit schnellen Urteilen und schmaleren, smarten Schriften nicht hinterm Berg. Winckelmanns Karriere wird von Broschüren eingeleitet. Als er sein kunstgeschichtliches Hauptwerk veröffentlicht, ist er schon ein berühmter Mann.

114

empfinden

Längst hatte der englische Protestantismus nicht nur, mit Thomas Blackwells Untersuchung über Homers Leben und Schriften von 1735, die Griechen entdeckt, sondern die englische Profanliteratur begann schon mit Defoe die Klassiker gleich ganz zu verabschieden: Die Handlung der Ilias fasste Defoe in seinem Pamphlet Felonious Treaty von 1711 höhnisch und denkbar knapp als „Befreiung einer Hure“154 zusammen. Das war derb gesprochen. Jene etwas empfindsamere, neue, aber ursprünglich religiöse Sprache des Gefühls übten – eine Generation nach Defoe dann – die Romane von Richardson und Fielding ein. Richardsons Pamela machte 1740 Furore. Die Wirkung war europaweit und durchschlagend. [➤ Bildung als historische Kulturtechnik, S. 41] Denis Diderot hebt in seiner Lobrede auf Richardson von 1762 gerade den Aspekt der neuen gefühlsbetonten Lektüre hervor:

154 Zit. n. Ian Watt, Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung. Defoe – Richardson – ­Fielding (1957), Frankfurt/M. (1974), S. 280 ff.

Die Leidenschaften, die er schildert, erlebe ich in mir selbst; sie wer-

155

den von denselben Gegenständen erregt wie bei mir und haben genau

Denis Diderot, Ästhetische Schriften, Berlin – Weimar (1967), Bd. 1, S. 403 – 418, hier: S. 404.

die Kraft, die ich an ihnen kenne; die Widerwärtigkeiten und Kümmernisse, die seinen Gestalten begegnen, sind von derselben Natur wie diejenigen, die mir unaufhörlich drohen.155

Das Empfindungsvermögen las man sich an – und man erschrieb es sich gleichzeitig, indem man die Fähigkeit und Bereitschaft für einen empfindsamen Umgang mit schönen Dingen in entsprechenden Texten wie Romanen, Essays, Briefen, Tagebüchern auch praktisch demonstrierte. Richardson betätigte sich folgerichtig auf beiden Seiten und verdiente seinen Lebensunterhalt mit sogenannten Briefstellern – d. h. mit Anleitungen zum Schreiben empfindsamer Briefe. Auch das die Standes-­Normen scheinbar (qua Spontanität und Offenherzigkeit) ignorierende Gefühl kannte offensichtlich eine Norm.156 Wer hier an die regelmäßig wechselnden Codes der Netzkommunikation mit niedrigschwelligen Einstiegsregeln denkt, ist natürlich ein Schelm. Der ‚Internetvordenker‘ Jaron Lanier nennt genau das heute „Gefühlszyklen“ 157. Auf jeden Fall wurden und werden hierfür die Übergänge zwischen Lesen und Schreiben noch einmal geglättet und verwischt. 115

156 Vgl. insgesamt Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit – Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart (1988). 157 Gespräch Axel Weidemann/ Jaron Lanier, ‚Könnte man das Internet in die Luft jagen?‘, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 12. 2018, Nr.289, S. 15.

teil 2 – die bildungsdebat te

* Die deutschsprachige Literatur erledigte das alles, was der englische Protestantismus nach 1700 in mehreren Jahrzehnten entwickelte, im Zeitraffer, aber um ca. 30 – 40 Jahre verspätet (H. Plessner). Außerdem wurde dabei eine merkwürdige Komprimierung von Antike, Pietismus und Roman vorgenommen: Der empfindsame Roman-­ Held übte die neue ‚Herzens-­Bildung‘ im antiken Umfeld ein. Der erste deutsche Bildungsroman folgte nicht zufällig unmittelbar auf Winckelmanns Pionierwerk einer Geschichte der Kunst des Altertums von 1764. Denn schon 1766/67 erscheint Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon. Bevor die Handlung des Bildungsromans in deutsche Landschaften transferiert wurde, war sie nicht nur einmal im neu eingebildeten Griechenland der Antike durchgespielt worden. Heinz Schlaffer hat darauf aufmerksam gemacht, dass die gesamte neuere deutsche Literatur sich den Text-­Formaten und Stillagen des pietistisch-­protestantischen Pfarrhauses verdankte, egal wo man ihre Handlung ansiedelte: 158

Die Leser des Werther verhielten sich wie Erweckte, indem sie an der

Vgl. Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München – Wien (2002), S. 61.

neuen, extremen Sprache dieser Briefe den – wie sie es nennen – ‚Durch-

159 Vgl. J. J. Winckelmann, Briefe, hg. v. H. Diepolder u. W. Rehm, Bd. 3, Berlin (1956), S.  55 – 57.

bruch‘ des wahren ‚Seelengrundes‘ erlebt zu haben glaubten.158

Winckelmann übertrug pietistische und antiquarische Techniken auf die Gegenstände des griechischen Altertums. Winckelmann selber ist das offensichtlich völlig klar, wenn er rückblickend, am 22. September 1764, an Johann Heinrich Fuessli schreibt, dass er ‚Gleichnisse aus dem Homerus betet‘159. Als Winckelmann und seine Nachfolger seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die altgriechische Kunst und Gesellschaft zum Maßstab für ihre eigene Gegenwart machten, waren sie also von ererbten personalen Netzwerken denkbar weit entfernt. [➤ Trainieren,  S. 298] Erst ihre Idee von ‚Bildung‘ gab ihnen eine allgemeine Vorstellung vom Leben an die Hand, einen Vorwurf oder Vorentwurf des Lebens, der weiter als ‚bis zur nächsten Herberge‘ und weiter als bis zum nächsten subalternen Pöstchen reichte: 116

empfinden

Alles, was wir getheilt betrachten müssen, oder durch die Menge der

160

zusammengesetzten Theile nicht mit einmal übersehen könen, ver-

Johann Winkelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben, dem Fürsten Wenzel von Kaunitz-­ Rietberg gewidmet von der königlichen Akademie der bildenden Künste, Wien (1776), S. 261.

lieret von seiner Größe, so wie uns ein langer Weg kurz wird durch mancherley Vorwürfe, die sich uns auf demselben darbieten, oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten könen. Diejenige Harmonie, die unsern Geist entzücket, bestehet nicht in unendlich gebrochenen, gekettelten und geschleiften Tönen, sondern in einfachen lang anhaltenden Zügen.160

* Die Faktoren, die im Falle eines nur eingebildeten, aber desto vorbildlicheren Griechenlandes dafür verantwortlich gemacht werden, dass das ‚Ganze und Schöne‘ in ein Leben eintreten kann, könnten nicht weiter von der Wirklichkeit in den deutschsprachigen Territorien entfernt sein. Griechisches Klima, fast nackte Körper, unkorrumpierte Sinne, eine edle rhythmisch-­musikalische Sprache und eine Hochzeit der Künste schufen in ihrer Vorstellung dort in harmonischem Zusammenspiel eine ideale Welt, die die deutschen Territorien gerade nicht zu bieten hatten: Wenn die Natur bei dem ganzen Baue des Körpers, wie bei den Werk-

161

zeugen der Sprache verfährt, so waren die Griechen aus einem feinen

Zusammengestellt aus: J. J. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1756) u. Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke und Beantwortung des Sendschreibens (1756), in: ders., Kleine Schriften und Briefe, Weimar (1960), S. 83 u. S. 31.

Stoffe gebildet […] Das attische Gebiet genoß einen reinen und heiteren Himmel, welcher feine Sinne wirkte, folglich diesen proportionierten Körper bildete; und in Athen war der vornehmste Sitz der Künste. […] Man stelle ihn neben einen jungen Sybariten unserer Zeit.161

Bevor wir ohnehin alles ‚getheilt betrachten müssen‘, sollen wir einen Sinn dafür ausprägen, es als ein Ganzes ‚übersehen zu können‘, sollen wir „diejenige Harmonie, die unseren Geist entzückt“ (J. J. Winckelmann), kennenlernen. Für das deutschsprachige 18. Jahrhundert hatte das – wie wir schon gesehen haben – den Sinn, dass sozialer Stand, reale politische Verhältnisse und Religionszugehörigkeit in Bildungsfragen nicht mehr entscheidend waren. [➤ Durchstarten, 117

teil 2 – die bildungsdebat te

162 Zu dieser Debatte und der neuen Massenunterhaltungsliteratur die sehr aufschlussreiche und breit kontextualisierte Fallgeschichte bei Roberto Simanowski, Die Verwaltung des Abenteuers. Massenkultur um 1800 am Beispiel Christian August Vulpius, Göttingen (1998) u. Markus Krajewski/ Harun Maye, Was sind böse Bücher?, in: dies. (Hg.), Böse Bücher. Inkohärente Texte von der Renaissance bis zur Gegenwart, Berlin (2019), S.  7 – 27.

163 Zit. n. Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen Bd. I (1866), Vierte Auflage mit einer Einführung von Ludwig Curtius, Leipzig (1943), S. 34.

S. 93] Mit dem Anstimmen der richtigen Tonlage, mit dem sound, gehörte man zu den neuen Empfindsamen, die sich allerdings immer schon gedruckt artikulierten. Für diese ästhetische Lektüre sind neue Fähigkeiten notwendig, müssen neue kulturelle Techniken und Ressourcen genutzt werden, die ihre Pioniere haben. Im Klartext: Um etwas als Ganzes übersehen zu können, das tatsächlich nur in Teilansichten, in kontextlosen Fragmenten oder gar nur in (schlechten) Kopien greifbar ist, braucht es Fantasie oder Einbildungskraft. Einbilden sollte man sich Mitte des 18. Jahrhunderts aber ursprünglich eigentlich nichts. Vor allem die Onanie-­Debatte hatte noch einmal gezeigt, dass man sehr klare Vorstellungen von der Schädlichkeit des Vorstellungsvermögens hatte.162 Einsame nächtliche Lektüren, die Rousseau als ‚einhändiges Lesen‘ bezeichnete, Romane zu bloß lüsternem oder abwechslungsreich-­spannendem Zeitvertreib und ohne Aufsicht gelesen, fachten ein Vermögen an, von dem aus der Sicht der älteren Generationen wenig Gutes zu erwarten war.

* Diese Bewertung wurde nun geradezu umgekehrt. Das langsame Lesen der Bibel und ausgewählter klassisch-­lateinischer Literatur war vor Winckelmann nicht auf ungefähre Vorstellungen, sondern auf Auswendigkeit bzw. exakte Imitationen hin angelegt. Man hatte stückweise gelesen, um die Texte – nach genauer Kenntnis der Grammatik – stilistisch imitieren zu können. Der erste Schulactus, eine Schulfeier mit prosaischen und poetischen Vorträgen zu Jubiläen (der Schule, der Stadt oder des amtierenden Herrscherhauses) an der Stendaler Lateinschule, an dem Winckelmann teilnahm, hatte die Imitation Ciceros zum Thema. Der junge Winckelmann debütierte an seiner Schule deshalb noch voller Begeisterung als ein solcher: Cicero war sein Element, und dessen Reden waren die Muster, wonach er sich bildete. Um die Ausbesserung seiner Muttersprache war er wenig bekümmert; aber was nach der alten römischen Beredsamkeit schmeckte, das nahm ihn ganz ein.163

118

empfinden

So kommt man zu folgendem überraschenden Zwischenergebnis, das schon einen Vorschein auf die Problematik der Gegenwart wirft, in der wir uns mit dem immensen Druck aus den Unterhaltungsindustrien auf das Bildungssystem auseinanderzusetzen haben: Das auf Weiterlesen, Überraschungswert und Stoffvertilgung angelegte Lesen der Romane repräsentierte scheinbar das Gegenteil von Bildung und lieferte doch die entscheidenden Tools zu ihrer erfolgreichen Ersetzung oder Weiterentwicklung. Erst als mit der Abwendung von der imitationswürdigen goldenen lateinischen Klassik stattdessen das Griechentum empfunden und als Kulturraum und Szenerie vorgestellt werden sollte, kamen Unterhaltungswelt, pietistische Empfindsamkeit des deutschen Provinzpfarrhauses und Literatur und Kunst der Griechen zusammen. Und die Literatur erzählt, wenn man genau hinschaut, ab jetzt auch immer nur das: Auf die Frage seines neuen Herrn Hippias, ob er den Homer vorlesen könne, antwortet Wielands vorübergehend in den Sklavenstand versetzter Held Agathon einfach: Ich kann lesen; und ich meine, daß ich den Homer empfinden könne.164

* Von den Engländern hatte man die Annahme einer ‚Gleichursprünglichkeit‘ (Heinz Schlaffer) von Homer und dem Alten Testament übernommen. Damit ließ sich arbeiten: „Werther liest die Homer, als wäre es die Bibel.“ 165 Die für die Deutschen das ganze lange 19. Jahrhundert maßstäbliche Kultur der Griechen entsteht aus der am Roman geschulten Einbildungskraft. Wenn man schnell genug über genügend viele Zeilen flog, stellte sich das ein, was man viel später einen ‚Film‘ nennen sollte.166 Dieses Vorstellungsvermögen musste nur noch zur ‚dichterischen‘ Schlüsselqualifikation der Hochkultur erklärt werden, um als Imagination (wörtlich: ‚Einbildung‘) das alte Paradigma der möglichst exakten Imitation abzulösen. Der Ort dieses Transfers aber heißt Winckelmann:

119

164 Christoph Martin ­Wieland, Geschichte des Agathon (1766/67), hg. v. Klaus Manger, Berlin (2010), S. 44. 165 Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München – Wien (2002), S. 56. 166 Nach Friedrich A. Kittler, Die Laterna magica der Literatur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 4. Jg. (1994), S.  219 – 237.

teil 2 – die bildungsdebat te

167

Diese eingebildete Versetzung […] will gleichwohl nicht als ein bloßes

Johann Winkelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben, dem Fürsten Wenzel von Kaunitz-­ Rietberg gewidmet von der königlichen Akademie der bildenden Künste, Wien (1776), S. 246.

dichterisches Bild angesehen seyn; es wird hingegen diese Erscheinung gleichsam zur Wirklichkeit gebracht, wenn ich mir alte Nachrichten von Statuen und Bilder, und zugleich alles, was von diesen übrig seyn kann, nebst der unendlichen Menge erhaltener Werke der Kunst auf einmal gegenwärtig vorstelle. Ohne diese Sammlung und Vereinigung derselben wie unter einem Blicke ist kein richtiges Urtheil zu fällen; Wenn aber Verstand und Auge alle Werke sammlet und in einem Raume zusammen setzet […] befindet sich der Geist wie mitten in denselben.167

Die Einsetzung dieser neuen Techniken hatte also einen Zeitpunkt, einen Ort und sogar einen Namen: Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768). Er setzte an die Stelle eines stark imitativen Umgangs mit dem sehr schmalen, von der Renaissance definierten Kanon lateinischer Werke den freieren Umgang mit Werken der griechischen Antike. Er schuf eine neue Generation von möglichen Umgangsweisen mit dem erneuerten Kanon. Sein stärker aus der Imagination und nicht länger nur aus der Imitation gearbeitetes Griechen-­Erlebnis ist der Stoff, aus dem Jahrzehnte nach seinem Tod einsetzende Reformen des Bildungssystems gemacht sind. An die Seite von Auswendigkeit und dem akribischen Nachvollzug und Nachbau von lateinischen Satzperioden treten langsam umfangreichere stille Lektüren, die kulturgeschichtliche Situierung der Gegenstände und Themen, die Interpretation, und eine Aufwertung der Praxis eigenen Schreibens. [➤ Auswendig lernen, S. 85] Was Winckelmann zunächst nahezu im Alleingang besorgte, wurde schließlich zum Kennzeichen einer Generation und dann zum neuen Standard.

120

erleiden

er leiden Das Bildungserlebnis Unterschlagen wird, dass Software Wissen nicht so inspirierend und authentisch verbinden kann wie Lehrer als Erzähler, sondern immer nur mechanisch Lerneinheiten zusammenstellt, gemäß der Logik der Datenbank. R o b e r t o S i m a n ow s k i , S t u m m e ­M e d i e n (2018)

Den Charakter des ‚Bildungserlebnisses‘ fasst man am sichersten, wenn man es von seinem soziologischen Gegenteil her bestimmt – der ‚Erlebnisgesellschaft‘. Ist die genaue soziologische Bestimmung der ‚Erlebnisgesellschaft‘ auch bis heute umstritten, so hat der Terminus doch ein Phänomen moderner Wohlstandsgesellschaften auf den Punkt gebracht: Die Abfolge immer neuer, relativ leicht konsumierbarer und damit schnell ersetzbarer Erlebnisse.168 Im Kontext von Bildungsbiografien kommt dem Erlebnis nun – unter Umständen in genau dieser Umgebung – ein ganz anderer Stellenwert zu. Das Bildungserlebnis ist nicht auf Ersetzung oder Ablösung angelegt, sondern auf – wenn auch vorläufige – ‚Gründung‘. Der große preußische Erforscher der (amerikanischen) Umwelt, Alexander von Humboldt, hatte sein Bildungserlebnis mit einem ganz besonderen Buch und einem ganz besonderen Lehrer: Nicht die wirkliche Welt, in der der junge Humboldt aufwuchs, sondern Bildungserlebnisse haben ihm seines Daseins Richtung gewiesen. Als er später in der Vorrede der Beschreibung seiner Amerikareise auf die Ursprünge seines Reiseplans einging, schrieb er: ‚Von früher Jugend auf lebte in mir der sehnliche Wunsch, ferne, von Europäern wenig besuchte Länder bereisen zu dürfen.‘ Solcher ‚Trieb zur See und zu weiten Fahrten‘ ist durch Jugendlektüre geweckt und genährt worden. Zu Alexanders Hauslehrern hatte der Pädagoge und Schriftsteller Joachim Heinrich Campe gehört. Wir wissen, dass der Junge

121

168 Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. (1992).

teil 2 – die bildungsdebat te

169

Campes Robinson der Jüngere (1780) und Die Entdeckung Ame-

Richard Konetzke, Alexander von Humboldt als Geschichtsschreiber Amerikas, in: Historische Zeitschrift, 188. Bd., H.3 (1959), S. 526 – 565, hier: S. 530.

rikas (1781) gelesen hat.169

170 Nach Hajo Holborn, Deutsche Geschichte in der Neuzeit Bd. II: Reform und Restauration, Liberalismus und Nationalismus (1790 – 1871), Frankfurt/M. (1964/ 1981), S. 7.

Im Zweifelsfall entscheidet offenbar – in den Kategorien des Internetzeitalters gesprochen – weder die verfügbare Datenmenge noch die Bereitstellungsgeschwindigkeit, sondern, wenn man so will, die Qualität des Betreuungsverhältnisses und das Format des Betreuers. Der Lehrer (bzw. die Lehrerin) verbindet geschickt Bildung und Unterhaltung. Die Bereitstellung, auf die jetzt so viel Wert gelegt wird, hatte der protoindustrielle Markt für Unterhaltung, als Umgebungsring von Bildung, auch damals natürlich längst geleistet. Defoes Robinson war seit 1719 ganze fünfzig Mal ins Deutsche übersetzt oder nachgeahmt worden.170 Dass einer der Übersetzer Humboldts Hauslehrer war, ist hier nicht als Plädoyer für eine flächendeckende Einführung von Hauslehrern (miss-)zuverstehen (oder als Gleichsetzung von Unterhaltung und Bildung), sondern als Hinweis auf die Wichtigkeit der Vermittlung. Die ‚bildende‘ Lektüre muss im Falle von Bildung nicht einfach als das ‚ganz andere‘ im Vergleich zur Unterhaltung vorgesetzt werden, bis sie dann von der nächsten ‚schweren Kost‘ abgelöst wird. Sie wirkt sich vielmehr gerade dann langfristig persönlichkeitsbildend aus, wenn sie sich durch die angeleitete und gezähmte Vorstellungskraft hindurch auswirken kann, wenn der Kanal bestimmte Qualitäten aufweist, der Bildung und Unterhaltung nicht trennt, sondern verbindet. [➤ Bildung als historische Kulturtechnik, S. 41]

* Warum ist das Ergebnis von Bildung eine Bildungsbiographie? Eine Erzählform also, eine Form der Erzählung, die dem tabellarischen Lebenslauf voraushat, dass sie einen Bildungsprozess überhaupt erst darzustellen vermag, dass sie den Daten Gestalt und Spannungskurven verleiht. Wer keine Gelegenheit bekommt – schriftlich oder mündlich – ‚über sich etwas auszuholen‘, wird seinem Gegenüber das Entscheidende nicht vermitteln, z. B. indem er ihm eine Statistik an die Hand gibt, in der er auch vorkommt. Hans Lipps hat (neben Wilhelm Schapp) diesen Umstand frühzeitig betont: 122

erleiden

Vorzüglich lernt man einen Menschen durch die Geschichten kennen,

171

die man von ihm weiß. Man begegnet ihm darin. Begegnisse kann ich

Hans Lipps, Die menschliche Natur, Frankfurt/M. (1941), S. 145 f.

nur als ‚Geschichte‘ erzählen. […] Der Bericht eines Geschehnisses rechnet lediglich mit sachlichen Verständnismöglichkeiten. Was der andere aber aus einer Geschichte erfährt, ist ihm überhaupt nicht auf direkte Weise mitzuteilen.171

Bildung ist immer auch ein auf Dauer gestelltes, erzähltes und bewertetes Bildungserlebnis. Es ist nicht die gelehrte antiquarische Masse der Belege und Themen, gleichzeitig und flächig versammelt, es ist erst die Verdichtung der Ereignisse zu Geschichten, die auf besondere Weise mit dem eigenen Bedürfnis nach Prägung und dramatisierten Verläufen korrespondieren. [➤ Formatieren,  S. 154] Ein ‚Lernen in Lust‘ nannte das Elias Canetti: Das Lernen muss ein Abenteuer bleiben, sonst ist es totgeboren. Was

172

du im Augenblick lernst, soll von zufälligen Begegnungen abhängig

Elias Canetti, Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942 – 1972 (1973), Frankfurt/M. (1981), S. 85.

sein und es soll sich so, von Begegnung zu Begegnung, wieder fortsetzen, ein Lernen in Verwandlungen, ein Lernen in Lust.172

Aber selbst wenn die Zufälligkeiten des Lebens mehr Einfluss auf den individuellen Bildungsgang eines Lebens gehabt zu haben scheinen als jegliche Institution und planmäßige Erziehung, dann heißt es immer noch, das Leben ‚sei seine oder ihre einzige Schule gewesen‘. Erst die offen abfällige Rede von jemandem, der ohne jede Bildung sei, anscheinend ‚keinerlei Bildung genossen habe‘, deckt auf, dass ein Mangel mit dieser Redewendung angezeigt wird, dass Bildung normalerweise ein gesellschaftliches Phänomen ist, insofern sie von Institutionen wie eine Ressource bereitgehalten und in unterschiedlicher Güte und Intensität ausgegeben wird. Selbst ein Autodidakt hat meistens einen Hauslehrer gehabt oder ist zumindest Schulabbrecher bzw. Schulverweigerer. Letzterer bildet sich nun (nur) systematisch gegen die Institution.

* 123

teil 2 – die bildungsdebat te

Was education – im Gegensatz zu Bildung – als Programm gerade nicht bietet, zeigt uns am besten der Wortgebrauch, wenn er in seinem Ursprungsland scheinbar auf das Gegenteil hinauswill. [➤ Politisieren, S. 210] Die nüchtern-­konforme Begriffstradition klassen- und laufbahnbewusster education im angelsächsischen Raum kann nämlich geradezu in Bildung umschlagen – um notgedrungen, in fremder Umgebung sozusagen, in Autodidaxe zu enden. Das passiert, wenn dieser elitär-­pragmatische Bedeutungszirkel eines nur gesellschaftlich relevanten Aufstiegs oder Sicherns von Privilegien von einem seiner Mitglieder einmal bewusst verlassen wird. Einer der besten englischen Reiseschriftsteller, Ethnologen und Historiker, Gerald Brenan (1894 – 1987), absolvierte zunächst als blutjunger Offizier die grausame Schule des Ersten Weltkrieges, um danach mit noch mehr Abscheu auf die public school zurück zu blicken. Sein Fazit handelt deshalb von Bildung als Institutionenverweigerung bzw. von Autodidaxe, aber eben nicht von education – wie es der Original-­Wortlaut vermuten ließe: 173

Das England, das ich kannte, war verknöchert in Standesdünkel und

Gerald Brenan, Südlich von Granada. Deutsch von Wilfried Jenior, Kassel (2001), S. 10. [Gerald Brenan, South from Grenada. Seven Years in an Andalusian Village, London (1957), S. X].

strengen Konventionen, oder auch, wie in meinem Fall, vergiftet von der Erinnerung an die ‚public school‘. Sobald der Krieg zu Ende war und ich die Uniform ablegen konnte, machte ich mich auf die Suche nach einer Umgebung, in der es sich freier atmen ließ. Ich nahm eine größere Anzahl Bücher mit, dazu wenig Geld und die Hoffnung, lange genug durchzuhalten, um zu erlangen, was ich dringend brauchte – Bildung [an education]. Danach würde ich weitersehen.173

174 Nach Heinrich Bosse, Bildungsrevolution 1770 – 1830, Heidelberg (2012), S. 127.

Der Umschlag der Bedeutungshorizonte wird für Brenan handlungsleitend: Brenan wird, wie z. B. auch Patrick Leigh Fermor (1915 – 2011) oder Thomas Edward Lawrence (1888 – 1935), Autodidakt statt erfolgreicher Repräsentant seines Milieus, seiner Klasse. Er geht in ein abgelegenes spanisches Bergdorf, schreibt Bücher darüber, und wird erst Jahrzehnte später zurückkehren. Was er sich erhoffte, war als education einfach nicht zu haben. Autodidaxe aber ist das am schlechtesten erforschte zentrale Moment von Bildung.174

* 124

erleiden

Nur auf dem Umweg eines Bildes von der Institution kann man sich also der Bildung nähern: Tony Judt (1948 – 2010) – Autor einer vielgerühmten Europäischen Geschichte 175 – hat in seinen Erinnerungen ein großartiges Beispiel dafür abgeliefert. Wie eine nicht gleich zu Markte getragene, nicht tagespolitisch-­korrekt abgestützte, implizite Sensibilität für die Menschen, gepaart mit einer im Außen der Institution schon vorgegebenen Strenge, ein Vermögen und ein Menschenbild hervorzubringen vermochte, das – so will ich es formulieren – der Bildung der Persönlichkeit günstiger ist als alles bisher Angeführte. Sein Bildungserlebnis inmitten von education und society war ausgerechnet ein verschrobener Deutschlehrer namens Paul ‚Joe‘ Craddock, den man problemlos in jede angelsächsische Satire deutschen Gelehrtentums a la Sartor Resartus 176 (1833/34) von Thomas Carlyle versetzen könnte (oder aber in den ernsteren Doktor Faustus Thomas Manns). Aber dieser Joe Craddock lebte offenbar Bildung so vor, dass man Respekt vor ihr und vor der Sache bekam und sich ihr anvertraute. Das Bildungserlebnis war also eigentlich ein von einer Sache inspirierter Mensch: Ein hagerer Misanthrop, der ein namenloses Kriegserlebnis überstanden hatte – so zumindest erklärten wir uns seine unberechenbaren Launen und seine Humorlosigkeit. Tatsächlich hatte Joe einen ausgeprägten Sinn für das Absurde, und er war – wie ich später erkannte – ein großer Menschenfreund. […] In nur zwei Jahren habe ich viel gelernt. Joe hatte keine pädagogischen Geheimnisse. Täglich paukten wir Grammatik, Vokabeln und Ausdruck, in der Schule und daheim. Täglich wurden wir abgefragt, wurden Gedächtnis und Verständnis geprüft. Fehler wurden gnadenlos bestraft. Wer bei einer Vokabelprüfung weniger als achtzehn von zwanzig Punkten erhielt, galt als ‚bescheuert‘. […] Wir hatten große Angst vor Joe – und doch verehrten wir ihn. Sobald er das Klassenzimmer betrat, diese hagere, schlaksige Gestalt mit den stechenden Augen, verfielen wir in erwartungsvolles Schweigen. Es gab kein Lob, keine Freundlichkeiten, keine sanfte Vorbereitung auf die kritischen Schläge. Joe marschierte zu seinem Tisch, knallte die Bücher hin, schritt zur Tafel […] und erteilte dann seinen Deutsch-­Unterricht – fünfzig Minuten, intensiv,

125

175 Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München (2006).

176 Vgl. Thomas Carlyle, Sartor Resartus. The Life and Opinions of Herr Teufelsdrockh, London (1833/34).

teil 2 – die bildungsdebat te

gnadenlos, unverwässert. […] Im Juni 1964 hatte ich meine letzte Deutschstunde. Fünfundvierzig Jahre später kann ich Deutsch noch immer passabel sprechen.

Bei Judt haben wir nicht nur das satirische oder introvertierte, sondern tatsächlich das besondere Element von Bildung: Ein verschrobener Institutionenvertreter und seine kompromisslose Art der Stoffvermittlung, des ansteckenden Einstehens für seine Sache, werden zum Initialerlebnis für Bildung. Dieses trägt den Eleven über den festen Rahmen hinaus, hilft ihm zu vergessen, dass er ein wenig gewaltsam geformt wird. Der Vergleich mit der Gegenwart bringt es für Judt, der alles andere als reaktionär war, sofort an den Tag: 177

Heutzutage wäre Joe undenkbar. Er konnte froh sein, dass er sein

Aus: Tony Judt, Das Chalet der Erinnerungen, München (2012), S. 92 – 96. Judts letztes Kapitel in diesem Buch heißt ‚Zauberberge‘.

Geld nicht an einer modernen Gesamtschule verdienen musste, denn er war, selbst für damalige Begriffe, politisch ganz und gar unkorrekt. […] An amerikanischen Highschools, aber auch in den englischen Gesamtschulen wird den Schülern nicht allzu viel abverlangt. Lehrer haben ihre Schutzbefohlenen gleich zu behandeln. Gute zu loben und die weniger Guten zu tadeln, wie Joe es tat, gilt als inakzeptabel. […] Niemand soll mehr Angst haben – aber was ist mit der Befriedigung, die sich nach intensivem Lernen einstellt? […] Ich finde es bemerkenswert, dass meine einzige entschieden gute Erinnerung an die Schule (neben all den unangenehmen) die zwei Jahre sind, in denen mir die deutsche Sprache erbarmungslos eingetrichtert wurde. Ich glaube nicht, dass ich ein Masochist bin. Wenn ich mit so viel Dankbarkeit an ‚Joe‘ Craddock zurückdenke, dann nicht nur, weil er mich dazu brachte, noch nachts um eins Vokabeln zu büffeln, um nicht am nächsten Morgen als ‚Versager!‘ dazustehen. Sondern weil er der beste Lehrer war, den ich je hatte. Und was soll man von der Schulzeit in Erinnerung behalten, wenn nicht gute Lehrer.177

* Man fragt sich instinktiv, was das denn wohl für eine Empfehlung für die Gegenwart sein kann, wo beispielsweise an deutschen Uni126

erleiden

versitäten die Anwesenheitspflicht in Seminaren gefallen ist oder die Selbstzensur entlang der sogenannten political correctness an nordamerikanischen Universitäten (vornehmlich in den Humanities) diese dem Abgrund der Bedeutungslosigkeit näherbringt. [➤ Nach dem Kanon, S. 51] Vielleicht Folgende: Statt kompromisslos auf Selbstverantwortung und Mündigkeit zu setzen und experimentelle Wege des Unterrichtens um jeden Preis zu fordern (bloß keinen Frontalunterricht mehr, aber ganz viel neue Technik am Lernort), sieht man, wie hier die Freiheit aus dem maßvollen Zwang erwächst, aus Kontrolle, aus einer gewissen sachlichen Unerbittlichkeit – hinter der gleichwohl genügend Menschenliebe steckt. Was meine ich also konkret? Ich meine, dass man natürlich von der Erziehung der Kinder – egal in welcher Einrichtung und in welcher Alterskohorte sie sich vom Kindergarten bis zur Universität gerade befinden – nicht nur erwartet, dass sie anschließend ‚trocken‘ sind, mit Messer und Gabel essen können, höflich ‚Guten Tag‘ sagen, über historisches Gerüstwissen verfügen oder die binomischen Formeln beherrschen. Aber dass man eben auch nicht erwartet, dass sie einen Problemzusammenhang ohne Problem analysieren können, Konfliktlösungsstrategien aufsagen, bevor sie sich ein einziges Mal an der frischen Luft mit Gleichaltrigen gebalgt haben, dass sie Puppen zunächst danach taxieren, ob sie gendergerecht angezogen sind, bevor sie ihren Fantasien im naiven Rollenspiel freien Lauf lassen usw. usw. Statt das Gegenteil von dem, was hier angesprochen werden soll, nun vollends ins Karikaturenhafte zu verzeichnen, nun also lieber einige Richtpunkte, die bei aller Ausdifferenzierung und Sensibilisierung des Erziehungssektors weiterhin im Erwartungshorizont der Bildung liegen sollten. Reinhart Koselleck nannte es ein „Modell gebildeter Lebensführung, das unterschwellig auch noch unsere modernen Verhaltensweisen prägt“: Man erwartet immer noch, dass die Heranwachsenden, geführt von institutionellen Leitplanken (und im Austausch mit dem Elternhaus), zu Persönlichkeiten heranwachsen, dass sie Vorlieben haben, Abneigungen irgendwann ebenso differenziert wie entschieden begründen können, dass sie dennoch eine intensive, 127

teil 2 – die bildungsdebat te

gedankliche Auseinandersetzung schätzen, dass sie ‚für etwas brennen‘, das sie etwas genau kennen oder ‚beherrschen‘. Und das alles, um sich und etwas zu beherrschen zu lernen, um etwas zu haben, das ihren weiteren Lebensweg bestimmen könnte.

*

178 Vgl. Reinhart Koselleck, Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung (1990), in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M. (2006), S. 105 – 154, hier: S. 113. 179 Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-­ genealogische Experiment der Moderne, Frankfurt/M. (2014), S. 28.

Dieses momentum der langanhaltenden Begeisterung, die Chance, sein Lebensthema zu finden, zeigt deutlich die religiös-­pietistische Herkunft des Bildungsbegriffs. [➤ Empfinden, S. 114] „Verwandlung und Wiedergeburt sind bleibende Bedeutungsgehalte“ 178 des Begriffs, schreibt Reinhart Koselleck in dem wohl wichtigsten Text zur Genese des Bildungs-­Begriffs. Aber die Frage ist, ob in gänzlich säkularen Kontexten dieses momentum funktionslos geworden ist. Peter Sloterdijk etwa konstatiert ganz ohne expliziten Rekurs auf die Tradition von ‚Bildung‘, dass „ein Lernender versteht, dass wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung hat“ 179. Dass sie auch noch lernen, sich einer Sache zunächst hingebungsvoll zu widmen, bevor sie sie reflexhaft mit ‚kritischem Bewusstsein‘ hinterfragen. Man erwartet überdies, dass es Zeit für diesen Prozess gibt, dass Sorgfalt in der Beobachtung der Anlagen und Fortschritte obwaltet, kurz: dass sie nicht einfach nur betreut, erzogen oder ausgebildet werden, sondern ‚gebildet‘ in und gegenüber einer Welt werden, von deren Komplexität sie zunächst nur recht vage Vorstellungen haben können. Vielleicht benutzt man das Wort Bildung schon nicht mehr für diese Erwartung. Aber wenn am Ende die Enttäuschungen über das Tatsächliche formuliert werden, schwingt der Anspruch wieder deutlicher mit, der eigentlich die ganze Zeit bestand. Man ist enttäuscht, dass die Kinder nur in Ansätzen ‚gebildet‘ wurden, ‚nichts richtig können‘ oder vor lauter Erfolgsorientierung ‚nicht rechts und links geguckt haben‘. So wollen wir – ob zeitgemäß oder nicht – tapfer über das Ganze reden, nicht nur über einen rhetorisch abgespeckten, internationalisierten pragmatischen Anspruch namens education. [➤ Punkten,  S. 236/​ ➤ Kompetent sein, S. 168]

128

erleiden

Vorbilder gibt es ja: Die Institution des Gymnasiums provozierte einst – wenn es gut lief – ein Bildungserlebnis im ‚stählernen Gehäuse der (Bildungs-)Bürokratie‘ (Max Weber), vor allem durch die permanente Integration universitätsnaher überqualifizierter Lehrkräfte in den eigenen Lehrkörper. Die promovierten, seltener sogar habilitierten Studienräte – an der Universität unter Umständen gescheitert, an den Gymnasien eingesetzt in den alten Sprachen, der Geschichte oder den Naturwissenschaften – mochten didaktisch (das Wort gab es damals allerdings noch gar nicht) häufig skurrile Nieten a la Joe Craddock gewesen sein, aber im Vorleben einer Begeisterung für besondere Gegenstände hatten sie doch häufig eine unersetzliche Sogwirkung anderer Art auf so manchen Schüler. Das aber passt mit der gemeinplätzigen, dem Menschen etwas zutrauenden Einschätzung gut zusammen, dass im Zweifelsfall die Unterforderung noch viel schädlicher ist als die Überforderung.

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fa br izier en Die Bildungsindustrie I begin to think that abominable art of printing is the root of all the mischief – it makes people used to have everything the same shape. John Ruskin, Brief P au l i n e T r e v e ly a n

180 Vgl. vor allem Catherine Dedie, ‚Ideenumlauf‘: Zur Zirkulation von literarischen Texten um 1800. Mit einem Beispiel von Denis Diderot und Friedrich Schiller, in: Textes et contextes 11/2016 [http:// preo.u-­bourgogne.fr/ textesetcontextes/index. php?id=699]. 181 Joseph Görres, Die teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat (1807), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803 – 1808), hg. v. G. Müller, Köln (1926), S. 169 – 293, hier: S. 176.

an

Mit dem Aufstieg von Bildung um 1800 zeichnete sich für das 19. Jahrhundert auch eine merkwürdige Meta-­Physiologie der Gesellschaft ab. Analog zur staatlich geförderten Zirkulation der Güter und Gelder wird von Intellektuellen der Umlauf der Ideen gefordert, beschrieben und betrieben.180 Tatsächlich ist es auch der Umlauf derjenigen Bücher, welche sie erst lesen, um dann selbst neue zu produzieren. Dass es oft uralte Volks- oder Märchenbücher sind, die ihnen dabei als Ideal vorschweben, zeigt ihre Hoffnung, Bücher und Geschichten möchten schon lange und überall in der Gesellschaft verankert sein. Joseph Görres beispielsweise beschreibt 1807 die angeblich ‚alten Volksbücher‘, die Karl Musäus, Achim von Arnim, Gottfried Bürger oder die Brüder Grimm gerade erst schrieben, so: Kein Stand ist von ihrer Einwirkung ausgeschlossen, während sie bei den Untern die einzige Geistesnahrung auf Lebenszeit ausmachen, greifen sie in die Höheren, wenigstens durch die Jugend ein […] Aber keineswegs auf diesen großen nationellen Kreis haben sie ihre Wirksamkeit beschränkt; wie bei den Teutschen, so finden wir sie auf gleiche Weise bei den Franzosen in allgemeinem Umlauf.181

Die neue Nationalökonomie eines Thomas Robert Malthus stellt derweil Überlegungen zu den Defiziten und Überschüssen eines verbrauchsintensiven Volkskörpers an. In seinem Essay on the Principle of Population von 1798 vergleicht er die Nation mit einem festlichen Gastmahl in einer Halle, in der leider nicht für alle gedeckt 130

fa br iz ier en

ist.182 Der Ausdruck ‚modernes Bildungssystem‘ spricht vor allem für den Willen des Staates, Bildung als Nutzung bisher brachliegender Ressourcen zu (re-)organisieren. Die freigesetzte Aufstiegsenergie, die Energie der ungebetenen Nachrücker an der Tafel sozusagen, soll kontrollierbarer und kanalisierbarer werden, dem Staat zur nützlichen Verfügung stehen. [➤ Durchstarten, S. 93] Der Niederländer Jacob ­Moleschott ‚erfindet‘ 1852 den Stoffwechsel. Damit findet sich der merkantile Umlauf der Stoffe und Waren als allgemeinste Bedingung des Lebens in jedem Individuum wieder. ­Moleschotts Auseinandersetzung mit dem Chemiker Justus Liebig über den Kreislauf des Lebens – so der Titel seines Bestsellers – erscheint sofort als Volksausgabe.183 Aus Bildung war schnell ein spezielles Reservoir kultureller Selbst-­Repräsentationen des Staates geworden, aus dem gezielt Geschichten, Begriffe, Bilder und Entwürfe in Umlauf gebracht wurden, um das Wunschbild des Staates in die Köpfe der Bürger einzupflanzen.

* In diesem Punkt unterschied sich Bildung dann auch technisch kaum mehr von der ebenfalls einsetzenden flächendeckenden Versorgung moderner Territorien mit Lesestoff. Was Wilhelm Hauff schon 1827 als (Übersetzungs-)Fabrik beschreiben sollte, rechnete der Spätromantiker Karl Immermann 1839 als flächendeckende Versorgung mit gehobener Unterhaltung für einen abgehalfterten Kleinadel durch: Er wollte Abwechslung, Zerstreuung, mancherlei, wie vorlängst in seinen grünen und lustigen Tagen. Alles dieses fand er auf einmal, da ihm der gute Einfall wurde, in einen Journalzirkel einzutreten, der alle Wißbegierigen auf dem Flächenraume der umliegenden vier Quadratmeilen mit Geistesnahrung versorgte, und dessen Reichhaltigkeit ihm schon lange gepriesen worden war. Der Unternehmer hatte, um Nebenbuhler in der erwähnten weiten Ausdehnung unrettbar daniederzuschlagen, nicht weniger als sämtliche Zeitschriften des deutschen Vaterlandes in seinen Mappen versammelt […] im ganzen vierundachtzig Hefte, so daß jeder Teilnehmer am Zirkel die Woche

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182 Nach Ernst Nolte, ­Marxistische Revolution und industrielle Revolution, Stuttgart (1983), S. 165 f.

183 Vgl. Laura Meneghello, Jacob Moleschott – A Transnational Biography: Science, Politics, and Popularization in Nineteenth-­ Century E ­ urope, Bielefeld (2018).

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184

hindurch in jeder der zwölf Tagesstunden ein Journal zu lesen

Karl Leberecht Immermann, Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken (1839), Leipzig/ München o. J., S. 93 f.

bekam.184

185 Insgesamt dazu Steffen Richter, Infrastruktur. Ein Schlüsselkonzept der Moderne und die deutsche Literatur 1848 – 1914, Berlin (2018), hier: S. 182.

186 Der Roman erschien zuerst, vom 04.01. 1973 bis zum 20.03. 1973, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Der Adel, als dessen Karikatur uns Immermann hier schon 1839 den Enkel des berühmten Baron Münchhausen vorführt, war vom neuen Bürger durch Bildung in die Enge getrieben worden. Aber dieses Bürgertum und sein siegreicher Aufstiegsmotor ‚Bildung‘ drohte nun für viele schon in schierer Unterhaltung und bloßer ‚Information‘ abzusaufen. Das ist offenbar ein wiederkehrendes Szenario und gar kein Spezifikum des ‚Informationszeitalters‘. [➤ Informiert sein, S. 164] Das wirft die grundsätzliche Frage auf, wie sich Bildung zu der sie umgebenden Alltagswelt der Industrie verhält? Ist Bildung der Industrie gegenüber eine Sonderzone, gar ein Alibi, oder eher eine höhere Region mit eigenen Gesetzen? Oder pflegt sie Beziehungen – und welche dann – zum Rest der Welt? Geht die „Industrialisierung der Literatur der außerliterarischen zuweilen sogar voraus“ 185? [➤ Konsumieren, S. 180]

* Man könnte dem Buch an sich Bildungsqualitäten zusprechen und andere Medien – in abfallender Linie – von ihm absetzen. Aber so einfach ist die Sache nicht. Zunächst scheint es zwar so, als ob das Buch und seine Materialität dieser offensichtlichen Flüchtigkeit digitaler Medien problemlos entgegengesetzt werden kann, selbst wenn das Buch seinerseits industriell und massenhaft hergestellt wurde. Dann ist das gute Buch eben für jedermann zugänglich. Was ist daran schlecht? Aber das Phänomen braucht eine andere Rahmung, um verständlich zu werden mit Blick auf die Gegenwart des Digitalen. Tatsächlich partizipiert der Bildungsroman ganz wörtlich am Konsum und an der (technisch) schnelleren Unterhaltung, weil er selbst in aller Regel – von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) über Carlyles Sartor Resartus (1833/34) bis zu Ernst Jüngers Die Zwille (1973)186 – zunächst im schnelleren Distributionszyklus der zeitschriften- und sogar zeitungsförmigen Unterhaltung erschienen ist. Erst danach konnte er als Buch und Klassiker in die langsa132

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mere Kommunikation der (Bildungs-)Institutionen übergehen.187 [➤ Verlangsamen,  S. 314] Der Bildungsroman hat also – trotz aller bildungsreligiösen Überhöhung 188 – eine andere, höchst weltliche Seite: Er soll sich schließlich möglichst gut verkaufen. Damit das auch klappt, muss er nach industriellen, nicht nach individuellen Normen produziert und vertrieben werden. Er ist also schon deshalb nicht hoch-­individualisiert oder als Vorlage für eine solche Einzigartigwerdung geeignet, weil er ja tatsächlich massenhaft zirkuliert und genau dafür auch geschrieben wurde. Er ist immer Normware und Geniestreich, Ökonomie und Ethik, ganz in der Welt und gleichzeitig programmatisch nicht ganz von dieser Welt.

* So ist in Deutschland nicht einfach ein Begriff von Bildung besonders wirksam und zu einer Sonderrealität geworden, sondern vielmehr Bildung als ein Genre. Das gehörte einerseits einfach der Unterhaltungsindustrie an – und schien gleichzeitig diese Unterhaltungsindustrie vehement zu negieren, weil es in den Ohren der gebildeten Leser zu seiner ständigen Transzendierung aufrief. Indem dieser etwas speziellen Unterhaltungsware ein philosophisches Konzept der Menschwerdung und Bildung attestiert und entnommen wurde, das dort allerhöchstens bruchstückhaft und ironisch hineingesampelt war, entfernte sich die Wahrnehmung von Literatur im Falle des Bildungsromans unter den Gebildeten in Deutschland immer weiter von ihrer ökonomischen und industriellen Realität. Wilhelm Raabe wirkte dem unter anderem dadurch wunderbar entgegen, dass er seinen Kandidaten der Theologie und Hauslehrer Hans Unwirrsch bei einem Industriellen in Kohlenau unterbrachte. Dessen Anweisung aber, wie der Hauslehrer den reichlich untalentierten Sohn des Hauses zu traktieren habe, ist eindeutig und doch einzigartig in der deutschsprachigen Literatur: ,Der Mensch muß sich jetzt in mehr Dingen zurechtfinden lernen als in unserer Väter Tagen – also trichtern Sie nur, Herr Präzeptor, trichtern Sie! Ich will schon Halt rufen, wenn ich denke, es ist genug und

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187 Dazu Matt Erlin, Books, Literature, and the Culture of Consumption in Germany, 1770 – 1815, Ithaca/N. Y. (2014). 188 Vgl. Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen (2009).

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189 Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor (1864), Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe. Sechster Band, hg. v. Karl Hoppe, Göttingen (1953/1966), S. 173.

die edlern Organe werden unter Wasser gesetzt. Die Praxis ist doch die Hauptsache -‘ ‚Und davon verstehe ich leider wenig, sehr wenig‘, sagte Hans […] Der Fabrikant lachte und klopfte ihm auf die Schulter. ‚Dafür hab ich Sie auch nicht engagiert. Setzen Sie nur Ihren Trichter an, lieber Herr, und füllen Sie auf; – Bildung ist eine schöne Gegend, und etwas Latein kann gar nicht schaden.‘189

* 190 Zur ‚Serie‘ allgemein immer noch unübertroffen Hans Freyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart (1965), S.  248 – 253. 191 Dazu Johanna Richter, Literatur in Serie: Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse 1836 – 1881, Bielefeld (2017) und Claudia Stockinger, An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt ‚Die Gartenlaube‘, Göttingen (2018).

Schon das Buch als industrielles Produkt erschien in Fortsetzungen, als Serie also.190 Fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch war das eigentliche Buch meistens auch erst der zweite Produktionsschritt – und stellte schon eine Auswahl aus dem seriellen (Über-)Angebot dar.191 Dieser Medienwechsel vom zeitungs- und zeitschriftengestützten Fortsetzungsroman zum fester gebundenen Buch, dem eine Selektion vorausging, diente aber dem Aufbau genau jener Horizontlinie, die wir für Bildung als notwendig eracht(et)en: Sie entsteht eben durch die Operationen der Auswahl, der Verlangsamung, der (Nach-) Erzählung in einer zunächst rein industriell verfassten und nur als Industrie verständlichen Welt von schneller, nicht abreißender Unterhaltung. Erst diese Linie zeichnet vor, was man auf spezifische Weise und mit spezifischem Nutzen mit Blick auf Bildungsziele schaffen sollte. Diese Linie trennt auch die einmalige Verbrauchs- oder Spannungslektüre von der mehrmaligen Bildungslektüre. [➤ Wiederholen, S. 361] Dazwischen tut sich dann das Problem der (noch) kontrollierbaren Identifikation auf. Die Bedingung der Möglichkeit von Bildung entsteht also formal erst, indem sich ein langsameres mediales Setting in einer schnelleren medialen Umgebung herauspräpariert, die wir normalerweise Schund, Konsum, Unterhaltung, Stoff, Trash oder Lowbrow nennen. Gekennzeichnet ist all das erst einmal durch Tempo, Masse und leichten Verbrauch. Das, was wir dagegen bis hierher unter Bildung verstehen, kann der oder die Einzelne möglicherweise jederzeit, aber eben nur ausnahmsweise (als Autodidaxe) herbeiführen. Vor allem kann das aber die Institution durch ein entsprechendes Programm 134

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auch bei vielen wahrscheinlich machen. Erst dann kann man von einem Bildungssystem, Bildungspolitik usw. reden. Assoziieren wir nämlich mit der einen, schnelleren, industriellen Umgebung nur Verbrauch, Unterhaltung, Produktion, Nachschub, so assoziieren wir mit der anderen – langsameren – vor allem Einkehr, Selbstreflexion, Nachhaltigkeit oder Abstand. Erst durch diese, gegenüber der Serie sekundäre Form des Buchs und durch diese Art bzw. Technik des Umgangs mit ihm sperren wir den Raum für Bildung frei, dafür, uns selbst in Fremdem (oder nur scheinbar Vertrautem) systematisch zu reflektieren, d. h. uns kontrolliert oder spielerisch zu identifizieren. [➤ Verlangsamen,  S. 314] Die technischen Brücken oder Beziehungen zwischen beiden Bereichen oder Umgebungen sind dialektisch und dementsprechend schnell klar zu machen: Wenn ich nicht schon schnell lesen kann, kann ich nicht verlangsamen. Wenn ich nicht viel lese, kann ich mich nicht für weniger entscheiden oder anderen weniges empfehlen. Wenn ich nicht lerne, schnell auszusteigen oder umzuschalten, kann ich nicht bewusst drin- und dranbleiben, wo es sich mehr lohnt usw. Das eine ist Voraussetzung für das andere und wird erst vergessen und belächelt (oder geschmäht), wenn die Techniken des Höheren ihrerseits habitualisiert werden konnten. Der Gegensatz von hoch und niedrig 192, von Unterhaltung und Hochkultur erscheint nun als eigentliche Bedingung – und nicht als Gefährdung – von Bildung. Die Vorstellung eines Zusammenspiels, einer regelrechten technischen Koevolution der verschiedenen und verschieden angesehenen Gebrauchsroutinen von Unterhaltung und Bildung, ist gewöhnungsbedürftig. Doch diese Koevolution des in der bisherigen Bildungstradition meistens streng Geschiedenen näher zu untersuchen und in historischen Schnitten zu vergleichen, soll der Weg sein, um für die Gegenwart Klarheit darüber zu gewinnen, was Bildung ist und sein kann. [➤ Bildung als Idee, S. 32] Es zeigt sich hier – nicht nur im Sprachgebrauch – eine Konstellation, die auf andere Medien durchaus übertragbar ist bzw. dort auffindbar ist, sobald Mediengebrauch für größere Bevölkerungsteile relativ einheitlich eingeübt werden soll oder leicht zugänglich ist.

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192 Zu dieser Unterscheidung schon Harald Weinrich, Hoch und niedrig in der Literatur, in: Jahrbuch d. deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1972), S.  77 – 89.

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Das neue Fernsehen

193 Früh und sehr gut beschrieben bei Raymond Williams, Television. Technology and Cultural Form (1974), London – New York (2003), S.  77 – 120.

Das Fernsehen ist so ein Medium, das ebenfalls nur in dieser Konstellation verständlicher wird: Der endlose Fluss, der Flow (der Fernsehtheorie), der liturgische Fluss der Sendungen, nur noch halbwegs unterbrochen von Mini-­Erzählungen, die unverhohlen zum Konsum von diesem und jenem auffordern, fesselt uns, unterhält uns nebenbei. Der Flow ist das eigentliche Antlitz der Fernsehindustrie.193 Aber diese Verhältnisse lehren uns eben auch überhaupt erst umzuschalten, zu wählen, das Angebot zur Kenntnis zu nehmen, viel zu schauen usw., einfach indem sie es ermöglichen. Was da im Falle des Fernsehens zunächst nur halb wahrgenommen an uns vorbeitreibt, mit wenig Respekt für Anfang und Ende, was scheinbar als endlose Serie gleich in fünf oder zehn Varianten existiert (vom Thema Krankenhaus/Hospital bis zum reichen Familienclan), ist heutzutage immer häufiger auch in einer Mediathek (oder in einer der unzähligen ‚Die besten Filme-­der-­Welt‘-Editionen) hinterlegt, als Stream auf einer Bezahlplattform schnell zugänglich oder als Box im DVD -Format erhältlich. Daran sieht man, dass jenes Unterhaltungszeugs, was so natürlich und überall nachzuwachsen scheint wie ein beliebiges Füllkraut, gleichzeitig in einigen Exemplaren und in einigen Regionen zu beachtlicher Komplexität und Schönheit (wie etwa die Sopranos, Mad Men oder The Wire bzw. Gilmore Girls, Atlanta oder Black Mirror) kondensiert. Mit anderen Worten und technisch reformuliert: Das Medium schafft einen Kanon, der z. B. als Staffel 1 – 3-Platin-­Box denjenigen Lektüreformen wieder zugänglich geworden ist, die auch die Flüchtigkeit im Falle des papiergestützten Geschichtenkonsums zu bannen schienen. So erfüllt das Fernsehen – rein von der Erscheinungsweise her – ebenfalls die Voraussetzung für den Aufbau einer der unmittelbaren und vielgestaltigen Flüchtigkeit entzogenen Horizontlinie von Bildung in Geschichten. [➤ Fernsehen,  S. 147] Auf diesen Punkt zielen unbewusst alle Vergleiche von The Wire mit Balzacs Comedie Humaine oder von Breaking Bad mit Dostojewskis Romanen.

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* Man sollte aber nicht übersehen, dass sich mit dieser speziellen dynamisch-­dialektischen Zwei-­Welten-­Lehre nicht automatisch eine verlässliche qualitative Charakteristik für jedes Produkt ergibt. Schließlich sind diese Welten auseinander hervorgegangen, berühren sich, können wieder zusammenfinden. Das Serielle im Sinne des Industriellen bleibt auch den kanon-­fähigen Werken weiterhin eingeschrieben, nur ihr Gebrauch macht es gegebenenfalls unsichtbar oder zweitrangig. Nur der Umgang mit dem Werk hebt es aus seiner industriellen Entstehungswelt entscheidend heraus. Wenn man die US -Serie Lost einmal zu denjenigen komplexen Erzählwerken der Fernsehindustrie zählt, die sich schon vom Gros des Produzierten abheben, dann kehrt erst mit einer Schilderung der Produktionsumstände das Bewusstsein für ihren rein industriellen Charakter wieder zurück: Morgens 7:57 Uhr. Es regnet in Waikiki. Letzter Drehtag von Folge

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3.16. Michael Emerson und Elizabeth Mitchell proben eine Szene.

Gabriele Schabacher, (Art.) Serialisieren, in: Verf./ M. Bickenbach/ N. Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln – Weimar – Wien (2015), S. 498 – 520, hier: S. 498 f.

Zeitgleich trifft in Los Angeles das production office letzte Vorbereitungen für den ersten Drehtag von Folge 3.17 am nächsten Tag, im writers’ office werden Ideen für den Cliffhanger am Staffelende und die Ausgestaltung von Folge 3.19 gesammelt, im Sounddesign erhält Folge 3.11 Fußgeräusche, für Folge 3.14 muss Text neu eingesprochen werden, der zurückliegende Drehtag von Folge 3.16 ist in Synchronisation sowie Schnitt und abends wird Folge 3.09 über die Bildschirme gehen. Auf Hawaii wird neben den Dreharbeiten zu Folge 3.16 an den Aufbauten für weitere Episoden gearbeitet – ein schottisches Haus, ein 12m langes U-Boot-­Modell. Kostüme werden endgültig festgelegt und abends das aus L. A. eintreffende finale Script für Folge 3.17 an die Akteure verteilt. In der Nacht wird die tagsüber abgedrehte Filmrolle nach Los Angeles geflogen, wo sie morgens für die Postproduktion vorliegen muss.194

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Unwahrscheinliche Umgangsweisen Wenn es stimmt, dass das Buch zunächst als serielles Format erscheint und dann erst (als Buch) im Bildungssystem eine zweite Wirklichkeit bekommt, an der dann die Operationen der Bildung, die eigentlich bildenden Operationen müsste man sagen, durchgeführt werden, dann stellt sich die Frage, wo wir in dieser Hinsicht heute stehen, umso heftiger. [➤ Wiederholen,  S. 361] Sie stellt sich auch umso heftiger, wenn man erkennt, dass sich die von Gabriele Schabacher an der Serie Lost durchgeführte Sichtbarmachung des unterhaltungs-(post-)industriellen Komplexes am Roman um 1800 wunderbar wiederholen lässt.

195 James Fenimore Cooper, Leatherstocking Tales (1823 – 1841).

196 Zur zeitgenössischen Kritik gerade an der ‚Scottomanie‘ s. Ute Schneider, Anomie der Moderne. Soziale Norm und kulturelle Praxis des Lesens, in: Sandra Rühr/ Axel Kuhn (Hg.), Sinn und Unsinn des Lesens. Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart, Göttingen (2013), S. 143 – 157, hier: S. 151 f.

Das erste Beispiel dafür ist zugegebenermaßen noch um vieles verstörender: Wilhelm Hauff schreibt zunächst, 1827, im Morgenblatt für gebildete Stände, vom 9. – 14. April und in Fortsetzungen, dann, ein Jahr später, als eigenständiges Buch(!) seine Phantasien und Skizzen. Unter ihnen sticht die Skizze Die Bücher und die Lesewelt hervor, weil sie en Detail eine Übersetzungs- und eine Romanfabrik entwirft. Vorbild und Anlass dafür ist Walter Scotts historischer Roman Waverly, der 1814 zunächst anonym erschien, da sich das Romane schreiben für einen schottischen Landedelmann, nach Scotts Empfinden, zu diesem Zeitpunkt nicht ziemte. Die unzähligen Übersetzungen der anspruchsvollen Abenteuerromane von Walter Scott und James Fenimore Cooper 195 erschienen den kontinentaleuropäischen Intellektuellen damals wie uns heute die nicht abreißende Kette nordamerikanischer Blockbuster-­Filme in unseren Kinos.196 Hauff macht das zum Gegenstand eines fiktiven Gesprächs zwischen einem Leihbibliothekar und einem Nachwuchsschriftsteller: ‚So ist es denn wahr‘, sprach ich, ‚daß die Werke dieses Briten beinahe so verbreitet sind als die Bibel, daß alt und jung und selbst die niedrigsten Stände von ihm bezaubert sind?‘ ‚Gewiß, man kann rechnen, daß allein in Deutschland sechzigtausend Exemplare verbreitet sind und er wird täglich noch berühmter. In Scheerau hat man jetzt eine eigene Übersetzungsfabrik angelegt, wo täglich fünfzehn Bögen über-

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setzt und sogleich gedruckt werden.‘ ‚Wie ist das möglich?‘ ‚Es scheint

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beinahe so unmöglich, als daß Walter Scott diese Reihe von Bänden

Wilhelm Hauff, Die Bücher und die Lesewelt (1827), in: ders., Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 3, München (1970), S. 55 – 71, hier: S. 62.

in so kurzer Zeit sollte geschrieben haben, aber es ist so, denn erst vor kurzer Zeit hat er sich öffentlich als Autor bekannt; die Fabrik habe ich aber selbst gesehen. […] Hinten im Hof ist die Papiermühle, welche unendliches Papier macht, das schon getrocknet wie ein Lavastrom in das Erdgeschoß des Hauptgebäudes herüberrollt; dort wird es durch einen Mechanismus in Bogen zerschnitten, und in die Druckerei bis unter die Pressen geschoben. Fünfzehn Pressen sind in Gang, wovon jede täglich zwanzigtausend Abdrücke macht. Nebenan ist der Trockenplatz und die Buchbinderwerkstätte. Man hat berechnet, daß der Papierbrei, welcher morgens fünf Uhr noch flüssig ist, den andern Morgen um eilf Uhr, also innerhalb dreißig Stunden, ein elegantes Büchlein wird. Im ersten Stock ist die Übersetzungsanstalt. Man kömmt zuerst in zwei Säle; in jedem derselben arbeiten fünfzehn Menschen. Jedem wird morgens acht Uhr ein halber Bogen von W. Scott vorgelegt, welchen er bis Mittag drei Uhr übersetzt haben muß. Das nennt man dort ‚aus dem Groben arbeiten‘. Fünfzehn Bogen werden auf diese Art jeden Morgen übersetzt.‘197

Solch eine radikale Schilderung industrieller Produktion von buchförmiger Unterhaltung findet man erst wieder bei Balzac und Melville, wie Lothar Müller in seinem Buch Weisse Magie. Die Epoche des Papiers von 2012 gezeigt hat.198

* Es gibt allerdings – neben Hauffs Schilderung – noch eine merkwürdige, recht unbekannte Ausnahme: 1833 veröffentlicht der Schotte Thomas Carlyle Auszüge aus einer Parodie auf den deutschen Bildungsroman in Frasers Magazin. 1834 folgt das Buch mit dem ebenfalls merkwürdigen Titel Sartor Resartus (etwa: Der geschneiderte Schneider). Der Übersetzer von Goethes Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre ging noch einen Schritt weiter als Hauff. Carlyles Buch ist eine kunstvoll planlose Sammlung autobiographischer Fragmente und einzelner Passagen aus dem Leben und Hauptwerk (Philosophie 139

198 Zu Hauff auch Harun Maye, Übersetzungsfabriken. Kolportageliteratur und Soap Opera, in: Arno Meteling et al. (Hg.): ‚Previously on …‘ – Zur Ästhetik der Zeitlichkeit neuerer TVSerien, München (2010), S.  101 – 118.

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der Kleidung) eines fiktiven deutschen Universalgelehrten namens Diogenes Teufelsdröckh. Der Auszug aus Teufelsdröckhs Philosophie erklärt das, was viel später eine Zeit lang im Frankfurt Adornos Kulturindustrie heißen sollte, frühzeitig zum Motor und Emblem der gesamten Gesellschaft: 199

In einer Welt, die durch Industrie existiert, widerstrebt es uns, Feuer

Thomas Carlyle, Sartor Resartus. Leben und Meinungen des Herrn Teufelsdröckh (1833/34), übers. v. Peter Staengle, Zürich (1991), S. 63 f.

als ein Element der Vernichtung und nicht der Schöpfung einzusetzen. Der Himmel jedoch ist allmächtig und wird uns ein Abführmittel schaffen. Ist es aber einstweilen nicht ergötzlich mitanzusehen, wie alljährlich fünf Millionen Zentner Lumpen vom Kehrichthaufen gezerrt werden und alljährlich, nachdem sie mazeriert, gepreßt, bedruckt und verkauft worden sind und nebenbei so viele hungrige Mäuler gestopft haben, wieder dahin zurückkehren? So ist der Kehrichthaufen, insbesondere dank seiner Lumpen oder des Kleiderabfalls, die zentrale elektrische Batterie und Bewegungsquelle, von der und zu der die gesellschaftlichen Aktivitäten (wie positive Glas- und negative Harzelektrizitäten) in größeren oder kleineren Kreisläufen durch das gewaltige, wogende, sturmdurchtoste Chaos des Lebens zirkulieren und es damit am Leben erhalten. […] In Zukunft dürfen Historiker, wollen sie keine Narren sein, nicht mehr über die Dynastien der Bourbonen und Tudors und der Habsburger schreiben, sondern über Papierbogen-­Dynastien und völlig neue Namensreihen.199

Hauff und Carlyle verdeutlichen, wie eng hohe und niedrige Literatur, Industrie und Kultur, Konsum und getragene Lektüre immer schon beieinanderlagen. Man kann sehen, wie der Komplex Bildung es in einer außerordentlich dynamischen Produktions- und Konsumtionsumgebung schafft, unwahrscheinliche, bildende Umgangsweisen mit und in Medien zu stabilisieren. [➤ Konsumieren,  S. 180/​➤ Verlangsamen, S. 314] Die Institution negiert die übliche Produktions- und Konsumtionsgeschwindigkeit, den Durch- und Umlauf, sie etabliert unwahrscheinliche Umgangsweisen mit Texten, um bestimmtere Wirkungen auf die Person zu ermöglichen. Diese Wirkungen als Bildungsziele entstammen wissenschaftlichen Theorien und Paradigmen. Während der Konsum Mengen – als Absätze oder Ressour140

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cen – und Tempi kalkuliert, überprüft die Institution periodisch Wirkungen und Spuren kleiner ausgewählter, aber regelmäßiger Dosierungen desselben Stoffs. Beide Umgebungen bleiben füreinander durchlässig, indem Mengen, Dosen, Umläufe etc. eben sehr unterschiedlich angesetzt werden können. Die Kulturkritik, die sich immer in Bildung einmischt, legt nun fest, dass das eine (als Literatur-­Freizeit-­Konsum) dem Leser über die Zeit hinweghilft, sie für ihn vertreibt, und das andere (als Klassiker-­ Exegese) die Zeit bewusstmacht und erklärt (‚entzeitlicht‘), den Leser prägt. Doch natürlich kann die Technik aus dem einen Bereich (die Zeit vertiefen) in das Feld des anderen (die Zeit vergessen machen) hineingetragen werden – und umgekehrt. So kann einen gerade ein Buch, das parallel oder jenseits der Institution gelesen wird, entscheidend prägen. Denken wir nur an Humboldt und Defoe bzw. Campe. [➤ Erleiden,  S. 121] Auch Lost wäre ohne Defoes Robinson Crusoe, ohne die Robinsonade, die eigentlich keinen einheitlichen Autor hatte – neben Defoe fallen uns vielleicht Schnabel, Wezel oder Campe ein – nicht denkbar. Robert Zemeckis Castaway mit einem grandiosen Tom Hanks als modernem Robinson bringt sich ebenfalls schnell in Erinnerung. Wenn Lost aber für uns die Mutter aller Serien wird, schauen wir sie mehrfach, kennen jede Staffel, wir beginnen über sie (in Blogs) zu schreiben: Für uns ist sie im Kanon, für die Filmwissenschaft bald ebenfalls.200

* Was wir hier gezeigt haben, hätten wir auch schon an den Schreibwerkstätten für populärphilosophische Abhandlungen unter der Leitung Thomas Abbts oder an den Romanen Alexandre Dumas und Emil Zolas (aus dem Rougon-­Marquart-­Zyklus) zeigen können, die allesamt in einer Art Schreibwerkstatt entstanden, wie sie Wilhelm Hauff frühzeitig als Übersetzungsfabrik beschrieben hat. Auch Rowohlts Rotations-­Romane zeigen das Industrielle schon im Titel an, selbst wenn ihre Autoren dann Hemingway, Thomas Mann oder Sartre hießen.201 Noch früher als die Populärphilosophie aus den 141

200 Vgl. Dietmar Dath, Lost, Zürich (2012) u. Gabriele Schabacher, ‚When am I?‘ Zeitlichkeit in der USSerie Lost, Teil 1 und 2, in: Arno Meteling et al. (Hg.): ‚Previously on …‘ – Zur Ästhetik der Zeitlichkeit neuerer TV-Serien, München (2010), S.  207 – 229. 201 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-­Produktion (1958), in: ders., Einzelheiten I & II. Bewußtseins-­ Industrie und Poesie und Politik [= Spiegel Edition Bd. 24], Hamburg (2007), S.  132 – 164.

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202 Vgl. Lewis Mumford, Technics and Civilisation, New York (1934), S. 135. 203 Vgl. Rainer Maria Kiesow, Das Alphabet des Rechts, Frankfurt/M. (2004), S. 49.

Schreibbüros Thomas Abbts‘ oder Hauffs Übersetzungsfabrik erscheint das Hackwriting aus der Londoner Grubbstreet, aus der unter anderem die englische Vorläuferversion des gar nicht so deutschen Münchhausen (Bürgers) aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert stammte. Man kann allgemein sagen: Wo seit 1700 Literatur war, da war auch die Industrie nicht mehr weit. Deren Vorbild aber – und das hat Lewis Mumford schon 30 Jahre vor Marshall McLuhan formuliert – war die massenhafte Produktion immer-­gleicher Metall-­ Lettern für den Buchdruck.202 [➤ Prägen, S. 222] Ab 1600 produzierte dieser Buchdruck dann auch Auflagen aus identischen Exemplaren – ohne individuelle Einfügungen und Streichungen.203 Ja, man kann sogar sagen: Der um 1700 endgültig europaweit etablierte regelmäßige Umlauf von gedruckten Zeitungen und Zeitschriften hatte wiederum Vorbildcharakter für den Umlauf und die Besteuerung seriell produzierter Waren.204 Darauf reagieren Bildungsinstitutionen immer auf ihre Art.

204 Dazu Wolfgang Mager, Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne. 1630 bis 1830, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz (1980) u. Friedrich Sieburg, Das Geld des Königs. Eine Studie über Colbert, Stuttgart (1974).

Die Techniken des Schundes Wenn man sich nun fragt, was aus dem historischen Bildungsdiskurs mitgenommen werden kann und wie man damit Prozesse der unmittelbaren Gegenwart bewusster macht, lautet die Antwort: Das können nicht bestimmte Inhalte sein, es muss um Formen gehen, die technologisch bedingt sind, also Techniken oder Gebrauchsweisen. Es sind Formen der Aneignung dieser Inhalte. Einige dieser Techniken stammen aus einem Feld, dessen Leugnung oder Verurteilung Bildung sehr viel verdankt: Sie entstammen dem Schund, dem Seichten, der Unterhaltung, dem Trash. Dieser breite Schmuddel-­Gürtel um das Gebildete könnte überall nachgewiesen werden, aber ähnlich wie man in Geröllschichten nur nach Gold-, Silber oder Quarzadern sucht, und das Geröll als Bedingung ihres Erscheinens und Verlaufens ignoriert oder sich mit diesem Abfallprodukt nur den Weg zur Mine bequemer gestaltet und glättet, übersieht man auch leicht die Allgegenwart der Unterhaltung, wenn man über Bildung spricht.

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Die Techniken des Schundes oder der leichteren Unterhaltung liegen nun nicht wie das Gold in besonderen und verborgenen Formationen dar, bedürfen auch nicht besonderer Reinigungs- oder Läuterungsprozeduren. Beim Schund herrscht ein höheres Tempo, ein brutaleres Vorgehen, ein gedankenloserer Umgang. Man ‚frisst‘ Seiten, man ‚verschlingt‘ Bücher, man ‚starrt gebannt‘ (aber nicht konzentriert) auf den Screen.205 Reinheit oder Gründlichkeit sind fehl am Platz. Aber auch dieser zeitliche und qualitative Horizont gehört zur Bildung. Genau hier wird Mediengebrauch so eingeübt, dass er woanders auf wertvollere Weise stattfinden kann, genau hier ist die Schwelle niedrig: Ob Groschenheft oder Trash-­Serie, ob Facebook-­Posts oder E-Sport-­Session – was hier täglich und ohne Weihestunde trainiert wird, ist auch für Bildung relevant. Aber nur, solange eine Gesellschaft genau diesen Unterschied machen will. Was hier radikaler – man ist eben erst einmal ‚dabei‘ – ausprobiert wird, kann woanders und in gemäßigter Form um langfristige Anerkennung werben. So muss man Bildung immer mit dem zusammen denken, auf dessen Kosten sie sich profiliert. Gerade der schnelle, wilde, normale, alltägliche Mediengebrauch ist die Folie, auf der dann andere Ansprüche an Medientechniken formuliert werden können. Bildung konturiert sich um 1800, um 1900, um 2000 in einem polemologischen Feld verschieden angesehener Medientechniken und -praktiken, verschiedener Zeithorizonte, verschiedener Verfestigkeitserwartungen an Inhalte. [➤ Verlangsamen,  S. 314] Ob Chap-­ Books, Kolportage-­Romane, Soap-­Operas, oder YouTube-­Schmink-­ Tipp-­Tutorials – ihre Erscheinungs- und Gebrauchsweisen gehen ein in Bildung.206 Nur auf der ganzen Skala kann es dann einen privilegierten kürzeren Abschnitt, eine Spanne geben, die ein Gründlichkeitsund Temporalitätsmodell repräsentiert, das wir mit ‚höherer Bildung‘ assoziieren. Erst daraus können wir jenes, eine Zeit lang haltbare spezifische Menschenbild schöpfen oder formen, das wir offenbar brauchen, um aufgeklärte Gesellschaften zu bauen.

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205 Vgl. Christine Ott, Feinschmecker und Bücherfresser. Esskultur und literarische Einverleibung als Mythen der Moderne, München (2011) u. Paul Goetsch, Von Bücherwürmern und Leseratten. Der Motivkomplex Lesen und Essen, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-­Gesellschaft 37 (1996), S.  381 – 406.

206 Die Forschung dazu gibt es häufig schon erstaunlich lange. Vgl. nur Rainer Schowerling, Chapbooks: Zur Literaturgeschichte des einfachen Lesers. Englische Konsumliteratur 1680 – 1840, Frankfurt/M. – Bern – New York (1980); Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770 – 1910, Frankfurt/M. (1970).

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Binge Watching

207 USA/ CBS (2005 – 2014).

208 UK/ Channel 4 (2011 –).

209 USA/ HBO (2014 –).

210 AUS/ USA/ UK/ Sundance

Channel, BBC, Arte (2013 –). 211 D/ ARD, Arte (1984 – 2013). 212 UK/ BBC One (2017 –).

213 (Art.) binge, in: William James, English-­German/ German-­English Dictionary, 2 Vols., vollst. neu u. bedeutend erw. v. Karl Wildhagen, Bd. 1 Englisch – Deutsch, Leipzig (1938), S. 50.

Zum Beweis all dessen möchte ich ein weiteres Mal das Neue im Alten nachweisen. Es ist eben die Konstellation aus Menge und Tempo, die entweder Bildung oder Unterhaltung macht: Das sogenannte Binge Watching, eine Art paketweises Konsumieren von (Fernseh-) Serien oder Mehrteilern (‚Mini-­Serien‘), von ganzen Staffeln am Stück, häufig in mit Beamer ausgestatteten Kleingruppen, ist inzwischen eine gängige hoch-­unterhaltsame und freizeitintensive Medienpraxis. Man taxiert sich geradezu gegenseitig nach der Serie, in die man gerade folgen- oder eben paketweise vertieft ist (und bevor man sich für die nächste begeistern kann): Ist man eher der How I Met Your Mother-­Typ  207 oder irgendwie mehr auf Black Mirror 208? Folgt man dem True Detective 209 durch die Sümpfe des (amerikanischen) Südens oder orientiert man sich eher Richtung Neuseeland und Australien, Richtung Top of the Lake 210 bzw. bleibt lieber gleich in der Heimat 211 oder kehrt, gar mit einem Taboo 212 belegt und nach Jahren in Afrika, in diese zurück? Die Auskunft darüber erspart einem unter Umständen viele (Selbst-)Erklärungen, denn Stil- und Formatvorlieben beim Medienkonsum offenbarten immer schon Sozialcharaktere und Psychoprofile. Dieses Binge Watching ist ganz und gar nicht neu, jedenfalls nicht, wenn man einen Blick auf die weitere Medienlandschaft wirft. Denn ein „vergnügter Abend“ oder eine „Bierreise“ 213 (im Zusammenhang mit Mediengebrauch) waren auch um 1800 im deutschsprachigen Raum nicht unbekannt. Der junge Student Wilhelm Tieck konsumierte Romanstoff in ganz ähnlicher Weise: vergnügt, mit ordentlich Nachschub oder Stationen und in der Gruppe. Unterhaltung – das sieht man schon hier – ist von Anfang an die rezeptfreie und eigenverantwortliche Verabreichung von intensitätssteigernden Mitteln. [➤ Empfinden,  S. 114] Die Geschichte der Unterhaltung ist die aufschlussreiche, ständig präsente Rückseite der Bildungsgeschichte. Beide Bereiche grenzen in einer Biografie häufig unmittelbar aneinander. In einem Brief an Wackenroder vom 17. Juni 1792 beschreibt

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der angehende Schriftsteller Ludwig Tieck ein Experiment, das aus unseren Tagen stammen könnte: Gegenstand dieser Lektüre ist ein frisch erschienenes Buch, Carl

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­Große: Der Genius. Aus den Papieren des Marquis C. v. G. (Halle

Den Fund präsentierten vor kurzem zwei Philologen: Ulrich Breuer/ Nikolaus Wegmann, Editorial: Fundsachen, in: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich-­Schlegel-­ Gesellschaft 25 (2015), S. 9 – 15, hier: S. 12 f.

1791 – 94), ein Fortsetzungs-­Spukroman. Tieck hat sich mit zwei Kommilitonen zu einem gemeinsamen Lektüreabend verabredet: Er will ihnen beide Bände des Romans an einem Stück vorlesen. Tieck protokolliert: ‚Wir fingen um vier an.‘ Er rechnet das angesetzte Pensum um und überschlägt, ‚daß wir schwerlich vor zwei Uhr in der Nacht zu Ende kommen würden‘. Das ist demnach eine Lektüre von vollen 10 Stunden, non-­stop. Ein Marathon. Um Mitternacht geben seine Mit-­Leser auf und schlafen ein. Tieck hält bis zum geplanten Ende durch. Über das mangelnde Durchhaltevermögen der Freunde ärgert er sich auch nicht: ‚sondern ich las stets weiter mit eben dem Enthusiasmus, mit eben dem ununterbrochenen Eifer, nach 2 Uhr war das Buch geendigt.‘214

Doch Beispiel und Analogie sind hier noch nicht auserzählt. Die genaue Entsprechung dazu ist eigentlich erst das sogenannte Binge Racing, das in einem verblüffend gleichen Duktus von einer der Hauptanbieterplattformen der neuen Serien-­Kultur beschrieben und angepriesen wird. Dabei wird auch die Analogie zum Buchgebrauch explizit aufgegriffen: Wer nun annimmt, Binge Racer seien solche Mitglieder, die sich in ihrem Zimmer einschließen und nicht mehr vom Sofa hochkommen, liegt falsch. Denn oft findet eine solches Binge Race nur einmal im Jahr statt: Zum Start einer neuen Staffel einer Lieblingsserie. Für die Binge Racer gilt: TV ist ihre Leidenschaft und Binge Racing die Kür für ihre Lieblingsserie. ‚Es ist ein besonderes Erlebnis, eine Geschichte als Erster zu beenden. Sei es auf der letzten Seite eines Buches oder in den letzten Minuten einer Lieblingsshow‘, sagt Brian Wright, Vice President, Original Series. ‚Netflix ermöglicht es dir, deine Serie so zu schauen, wie du es möchtest und es gibt für uns nichts schöneres

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als zu sehen, wie eine Serie unsere Mitglieder bindet und ihre Leiden-

Vgl. Netflix: Auf die Plätze, fertig, Binge! Mehr als acht Millionen Mitglieder schauen ihre liebsten Netflix-­Shows zum Start komplett durch – und das innerhalb von 24 Stunden, in: Netflix Mediencenter, unter: https://media.netflix.com/ de/press-­releases/ready-­ set-­binge-­more-­than-8million-­viewers-­binge-­ race-­their-­favorite-­series.

schaft fürs Schauen entzündet.‘ Sei es die Liebe zu einer bestimmten Show (fünf Mitglieder in den USA haben alle fünf Staffeln von ‚House of Cards‘ am Erscheinungstag durchgeschaut) oder die Liebe zu vielen Shows (ein Mitglied in Deutschland hat bereits 13 verschiedene Shows ‚gebingeraced‘): Zuschauer weltweit bekennen sich zu dieser neuen Art des Fan-­Daseins.“ 215

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fer nsehen Der Bildungsauftrag Neben den Büchern ist der Film eine weitere wichtige Bildungsinstanz. Es gibt ‚Filmbildung‘. Allerdings findet sie in Deutschland – anders als in Frankreich – nicht statt. Sie hat bis heute in unseren Bildungs-­Institutionen keinen Platz. Diese Verhältnisse erklären auch, warum sich Fernsehen und Video niemals als ernstzunehmende Objekte, Quellen oder Instrumente von Bildung durchgesetzt haben. Warum es z. B. im westdeutschen Bildungssystem – etwa im Geschichtsunterricht oder in ‚Gesellschaftskunde‘ – beim rituellen Abspielen einer Wochenschau aus der Nazi-­Zeit, von Bernhard Wickis ‚Anti-­Kriegsfilm‘ Die Brücke (1959) und später (in Gesamtdeutschland) von Gregor Schnitzlers ‚Öko-­Schocker‘ Die Wolke (2006) nach Gudrun Pausewang bzw. von Dennis Gansels ‚Nazi-­Schocker‘ Die Welle (2008) blieb. Ganz einfach, weil Lektüre und Einübung dieser medialen Exponate vollkommen am Buchgebrauch ausgerichtet waren: Anhalten, Stelle diskutieren, Film zu Ende gucken, den (moralischen) Sinn des Ganzen aufsagen oder aufschreiben. Wenn Wilhelm von Humboldts Bildungsformel vom ‚Lernen des Lernens‘, die er für das Erlernen der ‚toten Sprachen‘ prägte, sinnvoll ist – und ich glaube, dass sie das ist –, dann gab es hier, in diesem Moment der Schulkarriere, nichts zu lernen, was man nicht schon gelernt hatte. Genauer: Es gab von der Seite der Form, der Praktiken und Umgangsweisen, an diesen Exponaten schlicht nichts zu lernen, was es nicht schon am Buch zu lernen gegeben hatte. Und die richtige Gesinnung stand entweder schon, oder man war für sie schon nicht mehr erreichbar. [➤ Prospekt, S. 13] Also gab es nichts zu lernen, es sei denn, man spräche über die Ästhetik bewegter Bilder und den filmischen Kanon und seine Voraussetzungen, über (nationale) Filmbildungsprogramme. Aber dafür waren Deutsch- und Geschichtslehrer nicht ausgebildet worden, dafür gab es – anders als in Frankreich – nie einen Auftrag zuständiger Ministerien. So wie es in Deutschland auch keine Abspielquote 147

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für inländische Kinoproduktionen gibt. Stattdessen gab es Film als Warnung, Film als Appell [➤ Appellieren, S. 65] oder als besinnliche oder schockierende Diskussionsvorlage ‚gesellschaftlicher Probleme‘. [➤ Kritisch sein, S. 185]

*

216 Michael Kühn, Der Programmauftrag der Landesrundfunkanstalten der ARD, in: Heinz Glässgen (Hg.), Im öffentlichen Interesse. Auftrag und Legitimation des öffentlich-­rechtlichen Rundfunks (Historische Kommission der ARD), Leipzig (2015), S.  21 – 34, hier: S. 23. 217 Zit. n. Michael Kühn, Der Programmauftrag der Landesrundfunkanstalten der ARD, in: Heinz Glässgen (Hg.), Im öffentlichen Interesse. Auftrag und Legitimation des öffentlich-­rechtlichen Rundfunks (Historische Kommission der ARD), Leipzig (2015), S.  21 – 34, S. 21. 218 Fernsehfilm, nach dem Roman von Walter Kempowski, 2 Teile, 1975, Buch und Regie E. Fechner.

Hier ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Stattdessen hat nämlich das öffentlich-­rechtliche Fernsehen jahrzehntelang auf unglaublich hohem Niveau seinen gesetzlich vorgeschriebenen Bildungsauftrag für die angeschlossenen Haushalte wahrgenommen. Die Geschichte dieses Bildungsauftrags ist schnell erzählt: Nachdem das Reichspostministerium mit der Verfügung Nr. 815 vom 24. Oktober 1923 zur ‚Einführung eines Unterhaltungsrundfunk‘ tätig geworden war, „nahm die ‚Deutsche Stunde, Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbH‘ am 29. Oktober 1923 in Berlin den ersten regelmäßigen Hörfunkprogrammdienst auf.“ 216 Aus ‚Belehrung‘ wurde dann schnell ‚Volksbildung‘ – bevor die Nationalsozialisten das neue Medium der Propaganda unterstellten. [➤ Politisieren, S. 210] Nach dem 2. Weltkrieg sorgten die alliierten Besatzer dafür, dass ein Ensemble unabhängiger Landesrundfunkanstalten einen dezentralen Sendebetrieb wieder aufnahm. Der ­Bildungsauftrag, der nun häufig wortgleich in den verschiedenen Landesrundfunkgesetzen formuliert wurde, soll hier aus dem über­ grei­fenden Rundfunkstaatsvertrag (§ 11, Abs. 1) zitiert werden und ist Teil des sogenannten ‚Programmauftrags‘: Auftrag der öffentlich-­rechtlichen Rundfunkanstalten ist es, durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. […] Ihre Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten. Auch Unterhaltung soll einem öffentlich-­rechtlichen Angebotsprofil entsprechen.217

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Bei möglichen Einschaltquoten nahe 50 Prozent um 1970 – Verhältnisse wie heute bezüglich des Abiturs – konnten Unterhaltungs- und Bildungsöffentlichkeit sich sogar fallweise überlappen. Wolfgang Menges und Tom Toelles Millionenspiel von 1970, Eberhard Fechners Kempowski-­Verfilmung Tadellöser & Wolff  218 von 1975 oder Fritz Umgelters Des Christoffel von Grimmelshausen abenteuerlicher Simplizissimus aus demselben Jahr sind großartige Beispiele dafür. Fechner wird, ähnlich wie Egon Monk (1927 – 2007), schließlich jahrzehntelang auf höchstem Niveau für das Fernsehen gearbeitet haben 219. Hier nur eine Auswahl: Nachrede auf Klara Heydebreck 220, Die Comedian Harmonists – Sechs Lebensläufe 221, Der Prozeß 222, La Paloma 223. Aber schon Fritz Umgelters fünfteiliger Fernsehfilm Am grünen Strand der Spree (nach dem Roman von Hans Scholz) von 1960 oder sein Münchhausen von 1966 (nach dem Theaterstück von Walter Hasenclever) sind erstaunliche Leistungen. Walter Ulbrichs Jack-­London-­ Verfilmungen von 1971 (Der Seewolf) und 1975 (Lockruf des Goldes) verlängern diese Reihe problemlos.224 Die Filmmusiken des Dirigenten, Komponisten und Pianisten Hans Posegga (1917 – 2002) sind geradezu in das Unterbewusstsein der damaligen Fernsehnation eingegangen. Posegga war Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests des Jungen Deutschen Films und schuf die Filmmusiken zu den Filmen Peter und Ulrich Schamonis oder Ferdinand Khittls. Ulbrich holte ihn dann zum Fernsehen. Auf Augenhöhe mit Umgelter und Ulbrich agierten Claus Peter Witt und Leopold Ahlsen. Ihre vierteilige Adaption von Dostojewskis Dämonen von 1977 – mit Hanna Schygulla, Helmut Qualtinger, Christoph Bantzer, Witta Pohl, Günter Strack und Volker Lechtenbrink – gehört zum Besten, was in ca. 30 Jahren über den Bildschirm lief. 1984 hatten Franz Peter Wirth und Herbert Asmodi Fontanes Vor dem Sturm sogar in sechs aufwendigen Teilfolgen für den NDR in Szene gesetzt. Der Exil-­Iraner Sohrab Shahid Saless drehte 1983 mit Unterstützung des ZDF den Film Utopia (198 Min.) in West-­Berlin: Ein Kammerspiel um 5 Prostituierte und ihren Zuhälter (Manfred Zapatka). Drei Jahre zuvor hatte er mit Grabbes letzter Sommer nach dem 149

219 Zu Fechner s. insgesamt Egon Netenjakob, Eberhard Fechner. Lebensläufe dieses Jahrhunderts im Film. Biographie, Berlin (1998). 220 TV-Dokumentation,

1969, Buch und Regie E. Fechner. 221 TV-Dokumentarfilm über

die Comedian Harmonists, 2 Teile, 1976, Buch und Regie E. Fechner. 222 TV-Dokumentarfilm über

den Majdanek-­Prozess, 1984, Buch und Regie E. Fechner. 223 TV-Dokumentation über

das Leben ehemaliger Seeleute, 1988, Buch, Regie und Produktion E. Fechner. 224 Angeführt und erläutert werden alle diese ‚Abenteuervierteiler‘ des ZDF bei Oliver Kellner/ Ulf Marek, Seewolf & Co. Robinson Crusoe, Lederstrumpf, David Balfour, Cagliostro, Tom Sawyer – Die großen Abenteuer-­ Vierteiler im ZDF, Berlin (1999).

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225 Das riesige Angebot, die beeindruckende Leistung, dokumentiert Thomas Bräutigam, Klassiker des Fernsehfilms, Marburg (2013).

226 Zu dieser Frage Michael Niehaus, Was ist ein Format? [= Kleine Formate 1], Hannover (2018), S. 56 ff.

227 Vgl. Ulrich Heinze, Medienkaskaden. Zur Medientheorie moderner Gesellschaft, Bielefeld (2016). 228 Zit. n. Michael Hanfeld, ‚Wir schaffen einen digitalen Kulturaum‘. Gespräch mit dem ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 02. 2019, Nr.37, S. 13. Vgl. auch (grundsätzlicher) Reinhard Müller, ‚Wir haben die Kontrolle verloren‘. Gespräch mit dem ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm über den öffentlichen Raum, die Internetgiganten und den Rundfunk, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 02. 2019, Nr.38, S. 8.

Drehbuch von Thomas Valentin brilliert – produziert von Radio Bremen.225

* All das gehörte einmal zur Umgebung von Heranwachsenden vor dem Start und (vor allem) der Durchsetzung des ‚dualen Systems‘ seit dem Jahr 1984. [➤ Umgeben,  S. 307] In der längst überkommenen Filmbildungsumgebung des öffentlich-­rechtlichen Fernsehens kann man Hans-­Dieter Grabes Dokumentarfilm Er nannte sich Hohenstein. Aus dem Tagebuch eines deutschen Amtskommissar im besetzten Polen 1940 – 1942 von 1994 schon als eine Art ‚letzte Vorstellung‘ dieser Epoche ansehen. Danach setzte sich die endgültige Pluralisierung des privatwirtschaftlich organisierten Fernsehmarktes durch. Nicht wenige Fernsehwissenschaftler sehen genau hier einen Wechsel von ästhetischen Formen zu industriellen Produktionsformaten, die man handeln konnte.226 Ob hier der Begriffswechsel symptomatisch zu nennen ist, sei dahingestellt. Danach trat auf jeden Fall – jenseits sicherlich relevanter Niveaufragen – schon jenes Problem auf, das heute, im digitalen Zeitalter, erst gar nicht mehr von der Tagesordnung verschwindet: Wie ist eine (Bildungs-) Öffentlichkeit medientechnisch überhaupt noch herstellbar, die nicht immer schon in eine Unzahl von obendrein qualitativ und thematisch völlig unvermittelten sogenannten Teilöffentlichkeiten zerfällt? Was heute für einen sehr kurzen Zeitraum dagegen möglich erscheint, ist eine Art Medienkaskade (U. Heinze)227: Ein auf eine Formel gebrachtes Ereignis durchquert – oft gestartet in einer ausgesprochen obskuren Teilöffentlichkeit – blitzschnell alle anderen Medien und Teilöffentlichkeiten. ARD und ZDF reagieren nun genau darauf mit einer „nationalen Kulturplattform“ im Netz, mit einem „digitalen Kulturraum“.228 Man kann vor diesem Hintergrund festhalten, dass die klassischen Institutionen Schule und Universität, die immer noch alle (oder immer mehr) für einen längeren Zeitraum durchqueren (sollen), unter diesem Gesichtspunkt nicht gerade unwichtiger geworden sind. [➤ Vortragen, S. 335]

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Der Bildungsimpetus dieses vergangenen Fernsehens kam aus dem Theater. Schon die Charakterisierungen (‚Kammerspiel – Fernsehspiel‘) und die Themen (‚Grabbe‘) legen das vielfach nahe. Schillers Idee von der ästhetisch-­politischen Erziehung der (fiktiven) Nation via Nationalbühne gelangte u. a. via Brecht ins Fernsehen. Egon Monk z. B. kam (wie Hans-­Jürgen Syberberg) von Brecht. Nach dem 17. Juni 1953 verließ Monk die DDR: Ich habe dann erst in Berlin für den Rundfunk gearbeitet, ich habe

229

zum Teil geschrieben, zum Teil inszeniert, und zwar bis zum Jahr

Manfred Delling, ‚Private Leidenschaften interessieren mich nicht‘ [= Junge deutsche Regisseure: Egon Monk], in: Film 2 (1963), S. 56 – 58, hier: S. 55.

1957. Im Herbst dieses Jahres bin ich nach Hamburg gekommen. Hier war ich allerdings auch zuerst beim Hörfunk, als Hörspieldramaturg in der Hörspielabteilung des NDR, bis zum Winter 59/60. Diese Fernsehspielabteilung hier leite ich seit Jahresanfang 1960.229

Die Abstände zwischen den Medien und Kunstformen sind also von Anfang an nicht so groß: Monks Fallada-­Fernsehspiel Bauern, Bonzen und Bomben von 1973 wirkt wie ein filmisch dokumentiertes Kammerspiel mit Hörspiel- und Freiluftanteil – drinnen wie draußen nach Bildern von George Grosz. Kurt Tucholsky hatte das 1931 allerdings schon dem Roman attestiert: „George Grosz, der du das Titelbild hättest zeichnen sollen, das lies du! Es ist dein Buch.“ 230 Monk, das können wir voraussetzen, nahm Tucholsky sehr ernst. Sein großartiger Mehrteiler über Bauern, Bonzen und Bomben lag zwischen seiner (aufgezeichneten) Räuber-­Inszenierung von 1969 und der zweiten (für die Aufzeichnung vorgesehenen) Inszenierung von Brechts Die Gewehre der Frau Carrar von 1975. Später folgte Die Geschwister Oppermann 231 nach Lion Feuchtwanger.

230 Ignaz Wrobel [Kurt Tucholsky], ‚Bauern, Bonzen und Bomben‘, in: Die Weltbühne, Nr. 14 (7. März 1931), S. 497.

231 TV-Zweiteiler, BRD 1983,

Die Ensembles wiesen, quer durch die Sujets, Kunstformen und Medientechniken viele Überschneidungen auf: Ernst Jacobi spielte fast immer die Hauptrollen, Gert Haucke oder Edgar Bessen mischten – wenn sie nicht die Hauptrolle hatten – fast immer entscheidend bei den Nebenrollen mit. Das Jahr 1970 schiebt sich noch dazwischen mit dem bis heute verstörenden Fernsehspiel (man müsste eigentlich ein neues Genre erfinden, um ihm gerecht zu werden) Industrieland151

240 Min.

teil 2 – die bildungsdebat te

232 Vgl. Eberhard Fechner, Giorgio Strehler inszeniert, Velber b. Hann. (1963).

233 Furcht und Elend des Dritten Reiches (NDR 1964) Regie: Rolf Busch, Peter Michel Ladiges, Marcus Scholz und Claus-­Peter Witt – Busch inszeniert die Szene ‚Rechtsfindung‘.

schaft mit Einzelhändlern (frei nach den an bürgerlichen Wohnzimmerwänden hängenden Standard-­Ölgemälden). Auch hier der wuchtige Gert Haucke. In der übersehenen Hauptrolle (seines Lebens) sahen wir den – wie so viele von Günther Grass bis Hans-­Robert Jauss – spät von seiner SS-Vergangenheit eingeholten Horst Tappert (besser bekannt als Fernsehserienkommissar Derrick). Bemerkenswert auch, wer sonst noch alles im Umfeld von Monks Produktionen beteiligt war: Hannelore Hoger, Heinz Schubert, Arno Assmann, Siegfried Wischnewski, Wolfgang Kieling, Eberhard Fechner, Edgar Bessen, Jürgen Pooch, Benno Hoffmann, Heini Kaufeld, Rosel Zech, Charles Brauer, Vera Tschechowa, Uwe Friedrichsen, Witta Pohl usw. usw. Monk versammelte gleichzeitig die zukünftigen Eliten der berühmtesten niederdeutschen Volksbühne, Teile der gehobenen Hörfunk-, später: Fernsehunterhaltung der Bundesrepublik, der regionalen Vorabendserien und des späteren Jungen Deutschen Films (Fassbinders oder Bernhard Sinkels) um sich. Mit Eberhard Fechner und seinem Assistenten Klaus Wildenhahn (bei Ein Tag, 1965) beschäftigte er auch gleich seine bedeutendsten Regieprätendenten. Eberhard Fechner porträtierte 1963 ausführlich Giorgio Strehlers Theater-­ Arbeit.232

* Es könnte sein, dass der ein oder andere in diesem Umfeld weniger auffällt: Das ist bei dem am 15. Juni 1933 in Hamburg geborenen Rolf Busch der Fall. Er assistierte an den Hamburger Kammerspielen, er assistierte bei Monks Anfrage von 1962, bei der Joachim Fest – Hitler-­Biograf und Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – am Buch mitarbeitete, und bei Monks Mauern von 1963. Dann führte er eigenständig Regie. 1969 – ein Jahr vor Monks Einzelhändler – holte er Horst Tappert für die Hauptrolle in seinem TV -Film Die Transplantation (neben O. W. Fischer). Ami Go Home – nach der Vorlage von Ernst von Salomons Weltbestseller Der Fragebogen von 1951 – war 1985 schon einer von Buschs späten Filmen. Ein filmisches Brecht-­ Remake – Furcht und Elend des Dritten Reiches – war 1964 sein erst zweiter eigenständiger.233 Auch hier also Brecht-‚Verfilmung‘. Zwi152

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schenzeitlich gab es etwas zu Lenin in Zürich, Trotzki in Mexiko und Hasenclever in Deutschland. Nach Ami go home noch etwas zu Lessing in Braunschweig, zur Oktoberrevolution aus Suchanows Perspektive oder zu Ludwig Börne, Johann Heinrich Voss und den Grafen Stolberg (als fiktive Talkshow-­Teilnehmer). Seit 1992 arbeitete Busch vornehmlich im Ausland.234 In solchen öffentlich-­rechtlichen Meisterwerken wurde auf unübertroffene Weise gezeigt, dass das Bildungsbürgertum weiterhin seine diesbezüglichen Rituale – wie Hausmusik, christliches Weihnachtsfest und Goetherezitation – ausüben konnte, während es sich direkt oder indirekt am Massenmord beteiligte, dass es sich, bei gleichzeitiger Staatsvergottung, für die Zerstörung des Staates begeistern ließ und radikalisierte. [➤ Politisieren,  S. 210/➤ Radikalisieren,  S. 245] Außerdem aber waren alle diese komplexen und herausfordernden Werke eine Schule des Sehens, denn „Bildung ist“, schreibt Alain Bergala, der Leiter des 2000 in Frankreich unter dem Minister Jack Lang ins Leben gerufenen nationalen Schulfilmprogramms Le cinéma à l’école‚

234 Bei der Australian Film and Television School in Sydney.

Bildung ist nichts anderes als die Fähigkeit, das Gemälde oder den

235

Film, die man gerade sieht, oder das Buch, das man gerade liest, zu

Alain Bergala, Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo (2002), Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 553, Bonn (2006), S. 54.

anderen Gemälden, Filmen und Büchern in Beziehung zu setzen.235

153

teil 2 – die bildungsdebat te

for m at ier en Der Bildungsroman Das Leitmedium von Bildung war lange Zeit das Buch. Nicht so sehr das ‚gute Buch‘, das nur der Lehrer kennt und empfiehlt – das ist eine recht oberflächliche These –, sondern das Buch als Form. Sieht man nämlich einmal von den Inhalten der Literatur ab, ergibt sich ganz formal eine Korrespondenz zwischen Buch und Bildung. Das Buch verdankt sich schon lange vor dem Buchdruck, als Codex also, der Bündelung, der Schichtung scheinbar stabiler Seiten. ‚Geschicht‘ und ‚Schicht‘ wurden einmal synonym benutzt. Wir werden darauf zurückkommen. [➤ Prägen,  S. 222] Dadurch ist ihm ein Maß vorgegeben. Denn Höhe, Tiefe und Breite müssen annäherungsweise immer eine besondere Proportionalität eingehen, sonst ist es kein Buch. Wenn dann die Kosten gesenkt werden, die Handlichkeit gesteigert, die Produktion massiert, wird doch immer noch diese Proportion beibehalten. – Und diese kann dann als erschwingliche und zugängliche Proportionsdemonstration, als Format, in Serie gehen. Das wird selten betont, wenn es ums Buch geht: 236 Matthias Bickenbach, Buch oder Bildschirm. Versuch über die Zukunft des Lesens, Berlin (2019). Die einzigartige Physik des Buches hat Walter Seitter schon lange vor der Debatte um ‚the physicality of reading‘ beschrieben [W. S. , Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen, Wien (1997), S. 66 – 69]. Vgl. auch neben Baron, Words, 2015, schon Bonnie Mak, How Page Matters, Toronto (2011).

Die Form dieser idealen Einheit ist nicht einfach aufzugeben. Jeder weiß, dass ein Buch niemals das letzte Wort über einen Gegenstand hat, aber seine fiktive Abgeschlossenheit, die Illusion der Einheit einer Erzählung, verleiht dem Buch besondere Gültigkeit. Sein Wert als Autorität ist bis heute unbestritten, auch wenn mit Blogs und Websites, nicht zuletzt mit Videos und sozialen Netzwerken, ganz andere Kommunikations- und Erfolgswege möglich geworden sind.236

Außerdem hat sich mit dem Buchdruck langsam das Prinzip durchgesetzt, dass das Buch einen Autor hat, der auch genannt wird, dass es in der Regel als Behälter für ein Werk desselben Autors oder für mehrere kleine Werke desselben Autors fungiert. Hierbei war allerdings entscheidend, dass die vom Pietismus angestoßene Kommunikation über Gefühle auch dem Autor eine Gefühlswelt und ein Erleben 154

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unterstellte, aus der sich das Werk als vermeintlich direkter Ausfluss dieser individuell-­authentischen Gefühlswelt besser erklären ließ. Warum ist diese ‚fiktive Abgeschlossenheit‘ und ‚Orientierung am Autor‘ so zentral? Das auktorielle Erzählen (seiner selbst und der anderen) ist eine Form der Kontrolle über „die Beliebigkeit der vorgefundenen Umgebungsdaten“ (A. Gehlen)237. Allerdings eine besondere Art der Kontrolle. Die zu kontrollierenden Elemente werden nicht gezählt oder gemessen, nicht als vermeintlich exakte irreversible Pfade rekonstruiert und gespeichert oder sonst irgendwie weiter zu statistischen Zwecken singularisiert, sondern sie werden in einen individuellen, in einen bloß ungefähren Zusammenhang gebracht.238 Erzählen kann ja durchaus als ein äußerst produktives (nur) ungefähres Wiederholen von etwas charakterisiert werden. Der Roman ist also ein Maß und Format für Ungefähres. Die Wiedererkennbarkeit der Geschichte oder die Möglichkeit, das Ergebnis ein- und zuzuordnen, wird nicht durch Messungen oder Zählungen garantiert, sondern durch Vermutungen – man interpretiert den Inhalt und gibt ihn selektiv und ungenau wieder. „Solange ein Autor lebendig wirkt“, schreibt Josef Pieper, „wird er ungenau zitiert.“ 239 Immer bleibt für den Laien wie für den Wissenschaftler genug Spielraum für eine alternative Erzählung, immer bleibt für den Nachahmer genug Spielraum für eine produktive Abweichung. Ja, es bleibt ihm nichts anderes, als in der Abweichung sein Glück zu suchen, da auch erzählende Wiederholung nicht auf messbare Exaktheit angelegt ist. [➤ Wiederholen, S. 361] A Map of Misreading nannte das einmal Harold Bloom.240 Die Harry-­Potter-­Erfinderin J. K. Rowling beschrieb genau so den Beginn ihrer populäreren Schreiblaufbahn: „Am Anfang will man vor allem seine Lieblingsautoren imitieren. Das ist nicht verwerflich. Mit der Zeit findet man seine eigene Stimme.“ 241

237 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1958), 7. Auflage, Frankfurt/M. (2016), S. 82. 238 Dazu Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin (2017).

239 Josef Pieper, ‚Billigkeit‘ in der Interpretation (1955), in: ders., Tradition als Herausforderung. Aufsätze und Reden, München (1963), S. 241 – 255, hier: S. 250. 240 Harold Bloom, A Map of Misreading, Oxford (1975). 241

* Mit einem solchen Prinzip von Bildung wird eine Gesellschaft nicht vermessen und kontrolliert, sondern letztlich geöffnet und zu notwendig abweichenden Wiederholungen von Vorbildern animiert. 155

Zit. n. Die Welt, 22. ­Januar 2019.

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Das Format des Romans und die Genres, in die sich dieses Format aufteilte, waren aber inhaltlich und formal immer noch so fest gekoppelt, so wenig abweichend, dass sie Lebensläufen als Muster des Aufstiegs, des Gefühlshaushalts oder des Scheiterns dienen konnten. Ein großer Romancier (wie Stendhal) wusste das ganz genau. Er wusste auch, wie diese Macht der Romane gerade durch die trivialeren Formen des Unterhaltungskosmos‘ in die Gesellschaft hineinwirkte: 242 Stendhal, Rot und Schwarz (1830), ­München (1953), S. 63.

In Paris ist die Liebe eine Frucht der Romanlektüre. Der junge Hauslehrer und seine schüchterne Herrin hätten in drei, vier Romanen und sogar in den Couplets der Operetten die nötige Aufklärung über ihr Verhältnis gefunden. Die Romane hätten ihnen ihre Rollen zugewiesen, sie hätten ihnen ein Vorbild gezeigt, dem sie nachleben konnten.242

Die profunde Kennerin der deutschsprachigen Romantik aus Frankreich, Madame de Stael, verrät uns sogar – in der Übersetzung Goethes –, wie das genau geht. Sie beschreibt, wie sich eine nur erlesene (i. e. angelesene) Empfindung in das Verhaltensprogramm des Lesers und der Leserin langfristig und stabil eingliedert: 243

Ja! Die rührenden Dichtungen sind es, welche die Seele in großmüti-

Mde. de Stael, Versuch über die Dichtungen (1795), übs. v. J. W. v. Goethe, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791 – 1797 [= Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter], hg. v. K. H. Kiefer, München (1986), S. 23 – 47, hier: S. 42.

gen Leidenschaften üben und ihr darin eine Gewohnheit geben. Ohne es zu wissen, geht sie ein Bündnis mit sich selbst ein, und sie wird sich schämen, zurückzutreten, wenn ihr eine solche Lage persönlich werden könnte.243

Die Form des Buches gibt der Praxis des Erzählens und Schilderns eine beständige feste Form und spezifische Wertigkeit. Erst diese Form erlaubte es dann den Bildungsinstitutionen, mit solchen Erzählungen auf ihre Subjekte nachhaltig einzuwirken. Man gibt ihnen mit den Büchern nicht nur den Stoff, sondern auch schon die Form vor. Auch die auf diese Weise verstandene und vom Buch perfekt verkörperte Autorschaft ist eine historische Form. Die (Roman-) Form ist also einerseits ein Format, eine ungefähre, aber erwartbare Textmenge, ein zu erwartender Handlungsaufbau, ein kalkulierbarer 156

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Vertriebsweg usw. Aber zusätzlich ist sie auch – je nach Kontext und Umgebung – eine vorgeschriebene Praxis, ein spezifischer Konsum, eine versuchsweise kontrollierte Umgangsweise: Man soll zu Bildungszwecken zu Ende lesen, gründlich lesen, mehrfach lesen oder eben zur Unterhaltung schnell, plot-­zentriert usw. konsumieren. [➤  Konsumieren, S. 180/➤  Fabrizieren, S. 130] In allen Romanen stecken auch alle Gebrauchsweisen der Literatur. Denn ‚der Gebrauch macht erst den Gegenstand‘, wie Adolf Loos dekretierte: „Ich behaupte, daß der gebrauch die kulturform, die form der gegenstände schafft.“ 244 In den Lehrjahren wie in den Wanderjahren stecken Anteile des trivialeren Abenteuerromans der Zeit, wie eine Münchner Tagung herausgefunden hat.245 Damit aber ist nur angezeigt, dass die einmalige Spannungslektüre auch in diversen Partien intensiv gelesener Klassiker steckt (und umgekehrt).

Der Roman als Format und Existenz Das Wissen, das ich deshalb für die hochtechnische Zukunft als Kern einer historisch-­ästhetischen Bildung vorschlage, ist ein Wissen um mediale Formate, ihre Effekte und ihre Geschichte. Dieses Wissen muss seinen Ausgangspunkt natürlich von den permanent in Gebrauch befindlichen ‚neuen (smarten) Medien‘ nehmen. Denn sie bestimmen unseren Alltag. Aber, um weiterhin bildend auf Menschen in Institutionen einwirken zu können, muss die smarte Gegenwart ihre Geschichte als Geschichten von Verfahren, Verhaltensweisen und Formen zurückerhalten, die einen historischen Ort haben. Leider ist der Reflex, stattdessen in eine medientechnische Gegenwart einzutauchen, die keine Vergangenheit zu kennen scheint, nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ausgerechnet der Roman wurde lange Zeit ebenfalls nicht als neues hybrides Format empfindsamer Subjekte und ihrer entsprechend voraussehbaren Rhetorik wahrgenommen: Das tagebuchförmige pietistische Erweckungsprotokoll, „Erweckungsschreiben und Seelsorgebriefe“ 246, überhaupt Briefe, in summa: ganz verschiedene, ursprünglich religiöse Subjektivitätsformulare fügten sich zu einem neuen profanen fiktionalisierten Gebilde: dem Roman. [➤ Empfinden,  S. 114] Goethes Wilhelm Meis157

244 Adolf Loos, Josef Veillich (1929), in: ders., Ins Leere gesprochen 1897 – 1900/ Trotzdem 1900 – 1930 [= Sämtliche Schriften in zwei Bänden. Erster Band], hg. v. Franz Glück, Wien – München (1962), S. 436 – 442, hier: S. 439. 245 Vgl. die Vorträge von Oliver Grill (‚Lehrjahre‘) und Cornelia Zumbusch (‚Wanderjahre‘) auf einer Tagung der DFG-Forschergruppe ‚Philologie des Abenteuers‘ im Februar 2019 [Nach Marie Wokalek, Wir lesen lieber Abenteuergeschichten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.02. 2019, Nr.37, S. N3].

246 Dazu Albrecht Schöne, Der Briefschreiber Goethe, München (2014), S.  9 – 40, hier: S. 15.

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247 Hajo Holborn, Deutsche Geschichte in der Neuzeit Bd. II: Reform und Restauration, Liberalismus und Nationalismus (1790 – 1871), Frankfurt/M. (1964/ 1981), S. 4.

ters Lehrjahre enthält im 6. Buch die Bekenntnisse einer schönen Seele, das sind die Bekenntnisse einer pietistischen herrnhutischen Schwester. Hajo Holborn nennt gerade diesen Roman „das tiefsinnigste Erziehungsprogramm des deutschen Idealismus“ 247. Das Kapitel zeigt, wie aus dem religiös motivierten – schriftlichen/gedruckten – Bekenntnis in einem langen historischen Moment der Bildungsroman, der nun profane Roman eines Selbst wird: „Jeder Lebenslauf war immer zugleich real und literarisch“ 248.

*

248 Vgl. Reinhart Koselleck, Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung (1990), in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M. (2006), S. 105 – 154, hier: S. 121. 249 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Leipzig – Liegnitz (1774).

Der Roman ist als Form aus den religiösen und dann aus den unterhaltenden Umgebungen des Lernens und Sich-­selbst-­Kennenlernens hervorgegangen. Daniel Defoes Robinson Crusoe erscheint 1719, Johann Gottfried Schnabels Die Insel Felsenburg 1731. Ein Einzelner und ein Kollektiv kämpfen ums Überleben. – Der Roman wird – vorgestellt, erzählt oder aufgeschrieben – zur erzählerischen Probe auf das Existieren-­Können des Subjekts. Er erzählt dessen „innere Geschichte“ 249 in extremen Zuständen, wie eine zeitgenössische Theorie das formuliert, und lotet sie gleichzeitig für seine Leser aus, stülpt sie möglichst vollständig nach außen in die Lettern aus Blei. Nicht zufällig wählt Arnold Gehlen ein Kapitel aus der Geschichte des Romans und eine spezielle literarische Technik, um genau diesen Prozess in der Geschichte des Subjekts zu illustrieren:

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André Gide sagt in den ‚Falschmünzern‘, daß die Psychologie für ihn

Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1958), 7. Auflage, Frankfurt/M. (2016), S. 80 f.

an Interesse verloren habe, als er bemerkte, daß der Mensch empfinde, was zu empfinden er sich einbildet. Gerade hier aber beginnt ein höheres Interesse. Als die Kunst auf ihrer Höhe gewisse ‚Topoi‘ mitführte, stereotype Elemente in Form und Inhalt, im Gegenständlichen, Technischen, aber auch im Ästhetischen selbst, war sie in deren Rahmen schöpferisch. So gibt es auch im Seelischen Topoi des Gefühls, der Empfindung des Ideellen und Gedanklichen, diese Inhalte werden dann in gewisser Weise selbst wieder formal, sie werden gerade durch eine Schematisierung stabil.250

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Bei den neuen Lesern der neuen Romane entstand erwartungsgemäß im Zeichen von Unterhaltung kein gesteigertes Wissen um die rhetorische Form(at)ierung der Subjekte zu Individuen oder Psychen durch den Roman selbst. Bei den Autoren, wie etwa Friedrich von Hardenberg, aber natürlich schon: „Wir leben in einem colossalen (im Großen und Kleinen) Roman.“ 251 Doch die Romantiker waren zu dieser Zeit eine kleine Gruppe von Nerds. Die Übrigen empfahlen und zitierten also Goethe, Wieland oder eben Novalis als Programm von Bildungsgängen – ohne häufig genug auf die Komplexität der Texte, d. h. ihre Vielstimmigkeit oder formatgeschichtliche Heterogenität, Rücksicht zu nehmen. Der kalkulierte Effekt der neuen Gattung, Subjekte immer aufs Neue als scheiternde oder überragende Individuen, zur Abschreckung oder Nachahmung, entwicklungsgeschichtlich zu dokumentieren, war durchschlagend. Beichte, (Selbst-) Anklage, Idylle, Totengespräch, philosophischer Traktat oder Bühnendialog kamen im Roman zwar hochmodern und super-­hybrid zusammen, durften aber (als eine solche Bündelung) einfach nur nicht adressiert oder durchleuchtet werden, damit Romane weiterhin als identifikationsfähiges homogenes psychisches Porträt gelesen werden konnten.

* Bleibt die Frage, ob unserer gegenwärtigen Erfahrung das Romanformat eigentlich erhalten bleibt, wo sich doch alles andere um uns herum ändert. [➤ Vernetzen,  S. 323/➤ Umgeben,  S. 307] Die Form selbst gibt uns schon einen Hinweis auf die Gründe für eine solche Langlebigkeit: Das menschliche Leben scheint auch heute noch auf etwas hin angelegt sein zu müssen. Es muss zu einer halb gewussten, halb vorgeahnten Form gelangen. Es muss Plots, Pointen, Höhepunkte und Enttäuschungen kennen. Es muss von Intriganten und Helden bevölkert sein. Es muss Intensitätspunkte und Pausen aufweisen. Es braucht Muster für starke Gefühle, denn sonst – so einfach ist das – verstehen wir unser (Er-)Leben nicht, halten es nicht anschlussfähig für andere, nicht mal für unsere eigenen Empfindun-

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251 Novalis, Das Allgemeine Brouillon (1798/99), in: ders., Schriften. Dritter Band: Das philosophische Werk II, hg. v. Richard Samuel, Stuttgart (1983), S. 434.

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gen. Die kulturwissenschaftliche Zeittheorie stützt diese Annahme noch aus anderer Perspektive: 252 Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München (2013), S. 36.

Durch das Verfahren der Schließung, das künstlerischem und rituellem Gestalten vorbehalten ist, rundet sich die miterlebte künstlerisch geformte Zeitstrecke im Rückblick zu einer Gesamtschau, wie sie in der stets offen und diffus verlaufenden Lebenszeit niemals möglich ist.252

Kurz: Etwas verstehen heißt, etwas in die Form einer bekannten Erzählung bringen zu können – und sei es in eine bekannte Erzählung vom Unbekannten. Verstehen können wir uns ja nur im Abgleich mit einem bewährten Formenschatz von theatralen und romanhaften Selbst- und Fremdentwürfen, die wir schon gelesen haben, weil andere das auch schon längst getan haben (und deshalb wissen, wovon wir reden). Die hierbei möglichen, auftretenden Formen sollten wir dann auch kennen. – Selbst wenn sie in äußerster Verknappung und Dynamik als Teil eines Werbespots vor uns auftauchen. Gerade dabei gilt: Wissen schützt, Wissen stellt Abstände zu den eigenen Kauf-, Hass- oder Empathie-­Reflexen her. Historisches Wissen ist ja kein isolierter Datenpool, oder gar ein Nachahmungswettbewerb für angehende Literatur-­ProfessorInnen, sondern eine überlieferte, aber zur Gegenwart hin aktualisierbare Formenlehre für alle, die lesen können.

* Wie zentral dieses Verhältnis war und ist, zeigt paradoxerweise wiederum ein Blick in den Roman. Dem deutschsprachigen Roman waren die Bildungsverhältnisse (anders als die gesellschaftlichen Verhältnisse) als Utopie und Verheißung, aber auch als Karikatur und Horrorszenario auf unvergleichlich intensivere Weise eingeschrieben als etwa dem französischen, italienischen, englischen oder spanischen Roman. Im deutschen Sprachraum wird aus der Welt des modernen Romans der Bildungsroman als Sonderwelt explizit herauspräpariert. [➤ Eindeutschen,  S. 108] Er bleibt als Phänomen 160

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bis heute unübersetzbar: The German Bildungsroman from Wieland to Hesse heißt deshalb kurioserweise eine zumindest in Germanistenkreisen durchaus einschlägige englische Studie aus dem Jahre 1978.253 Dieser Romantyp wird in Deutschland zu einer mächtigen und exklusiven Umgebung und Instanz von Bildung. Gerade in den deutschsprachigen protestantischen Gebieten wurde ‚Bildung‘ zu einer eigenen Art der profanen Ritualität ausgebaut, zu einer nationalen Antwort auf den weltumspannenden katholischen Ritus. Aber auch zur Ausbalancierung einer ‚Vergottung der Geschäfte und des Kapitals‘ im Dunstkreis der ‚protestantischen Erwerbsethik‘ (Max Weber) schien das Konzept geeignet. Diese Erwerbsethik breitete sich ja ebenso erfolgreich – und auf derselben Route – (von England) aus wie der moderne Roman. Wenn sich gar ein Geschäft mit dem Roman in deutschen Landen machen ließ, sah das die Zunft gar nicht gern und rekonstruierte schnell missgünstig Weg und Ursprung solcher Erfolge. Novalis schrieb in der Rezension von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre kurzerhand, dass Goethe „in seinen Werken ist, was der Engländer in seinen Waren: höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft“.254 – Viel mehr Beleidigung (und beleidigt sein) geht wohl nicht.

Lebensromane – ganz ohne Literatur? Der Roman ist als Warnung oder als ideales Verlaufsmodell immer schon gleichzeitig ein intelligenter Kommentar und eine Unterminierung dessen, was man im richtigen Leben so zuwege gebracht haben könnte. Man kann in ihm lesen und ihn leben. Denn Bildung bedeutet auch, den Roman des eigenen Lebens zu schreiben, sich entwerfen und an den Entwürfen messen lassen. Diesen Zusammenhang hat die Soziologie – in Fortführung der Geschichtenphilosophie ­Wilhelm Schapps  255 – immer wieder herausgearbeitet: Auch wenn die Lebensgeschichte als zusammenhängende Erzählung nicht thematisiert wird, so bleibt sie als latentes Projekt eines sinnvollen Lebens letzt-­maßstäblicher Hintergrund von scheinbar einan-

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253 Martin Swales, The German Bildungsroman from Wieland to Hesse, Princeton (1978).

254 Novalis, Ueber Goethe (1797), in: ders., Schriften. Zweiter Band: Das philosophische Werk I, hg. v. Richard Samuel, Stuttgart u. ö. (1981), S. 640 – 642, hier: S. 640.

255 Vgl. Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten, Leer (1959).

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der abgelösten Geschichten. […] Nicht nur bei sogenannten Höhe-

Achim Hahn, Lebensgeschichte als sozialwissenschaftliche Methode. Zur Bedeutung von ‚Geschichten‘ für die Soziologie, in: Hugo Gödde/ Dieter Voegelin (Hg.), Für eine bäuerliche Landwirtschaft, Kassel (1988), S. 57 – 59, hier: S. 58 f. Vgl. auch (ausführlicher) Jürgen Straub, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung, in: ders. (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, Frankfurt/M. (1998), S.  81 – 169, Konrad Ehlich, Der Alltag des Erzählens, in: ders. (Hg.), Erzählen im Alltag, Frankfurt/M. (1980), S. 11 – 27 u. Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem (1998), Frankfurt/M. (2007).

punkten, Wendepunkten oder Grenzsituationen des Lebens besteht für den Menschen das Bedürfnis nach sinngebender Vergewisserung des eigenen Lebenslaufs, das Bedürfnis auch, sich in einer wandelnden sozialen Welt zu verorten. […] Der Erzähler rekonstruiert im Gespräch diesen Lebenssinn, der ihm rückschauend seine Handlungen plausibel erscheinen läßt und zugleich anzeigt, daß jenen Handlungen auch Zukunftserwartungen angetragen wurden. Einer lebensgeschichtlichen Erzählung stellt sich also auch das Problem der Enträtselung des eigenen Lebens.256

Man wird sich selbst historisch – aber eben auch verständlich –, indem man Ereignisse und Konjunkturen des eigenen Lebens wie in einer kleinen Weltgeschichte bilanziert und zur dramatisierten Darstellung bringt. Man schafft paradoxerweise vertiefend Distanz zu sich selbst. Selbst ein tagebuchförmiger Katalog der Gefühle erfüllt manchmal noch diese Funktion. Erst jetzt kann ge- und beurteilt, vor- und zurückgeschaut werden, sinnvoll verknüpft werden.

* Michael Rutschky hat aus dieser Erkenntnis ein ganzes Bündel von Romangenres entwickelt, die es allesamt schon einmal im Feld der populären Unterhaltung gab, und die immer noch – oder schon wieder – die Erfahrungen variieren, die wir erst noch machen werden. Der Räuberroman, der Verschwörungsroman oder der Liebesroman beispielsweise sind allgemeine Formen individueller Erfahrung von (simplifizierter) Politik, (gewalttätigem) Alltag oder (scheiternder) Intimität, die wir alle schon kennen, die wir in verschiedenen Variationen und Niveaus schon gelesen haben – bevor sie sich dann geradezu zwanghaft in unseren Lebensentwürfen und (Un-)Taten wiederholen: Im Jahre 1909 hat Professor Freud einen kurzen Aufsatz veröffentlicht, der den ‚Familienroman der Neurotiker‘, wie er es nennt, darlegt und analysiert. Dieser ‚Familienroman‘ ist eigentlich der Inbegriff dessen, was wir einen Lebensroman nennen wollen. Er verlangt

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nicht nach der Niederschrift, er verbietet sie sogar; denn er will in

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den Phantasien, Empfindungen und Handlungen seines Helden und

Michael Rutschky, Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren, Göttingen (1998), S. 7 u. 12.

Autors festhängen.257

Diese Geschichten von Bildung und ihrer genrehaften Logik enden nicht, weil man andernorts das Wort Bildung funktional ausrangieren möchte oder das „Kernwort semantisch entgrenzt“ 258 – bis hin zu Bildungsgutscheinen.

* Bildung als Weg, einen eigenen Bildungsroman zu erwerben und zu formieren, ja, zu leben, wird um 1800 wichtiger. Was waren die Vorteile dieser Form? In ihrem Rahmen lassen sich Kontrollierbarkeit und Unterscheidbarkeit gleichermaßen organisieren. Erst im romanesken Vor- und Rückblick auf unser Leben kann uns eine chaotische Menge an Erfahrungen, Erlebnissen, Lektüren oder Begegnungen als sinnvolle und im Zusammenhang deutbare Konstellation erscheinen. Die durchschnittlichen Spielregeln und Gesetze der Gesellschaften, in denen wir gewöhnlich leben 259, selbst wenn wir viel- und weitgereist sind, legen uns bestimmte Dinge näher als andere: Dass wir ein sinnvolles – und kein anarchisches, vergeudetes, deliquentes oder verantwortungsloses – Leben führen. Und wenn uns das doch zwischenzeitlich unterläuft oder attraktiv erscheint, können wir uns retten. Indem wir diesen Existenzweisen den Status eines irgendwie doch notwendigen Zwischenspiels zuweisen, den Status eines Kapitels im Lebensroman, auf das dann ein besseres folgt. Auch wenn Bildung die Gesellschaft entweder vom Individuum oder vom Staat her denkt, so ist sie in erster Linie eine Erzählung, in der wir alle seit über 200 Jahren vorkommen. Eine andere, bessere, so vielfach geprüfte Leiterzählung, die zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen vermittelt, haben wir im deutschsprachigen Raum nicht.

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258 Peter Strohschneider, Bildung und Überschuss, in: ders./ Andreas Schlüter (Hg.), Bildung? 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert, Berlin (2009), S. 44 – 55, hier: S. 46.

259 Dazu die sehr frühe, pädagogische Abhandlung Josef Pieper, Grundformen sozialer Spielregeln. Eine soziologisch-­ethische Grundlegung der Sozialpädagogik (Veröffentlichungen des Instituts für Volksbildungsarbeit Dortmund), Freiburg/Br. (1933).

teil 2 – die bildungsdebat te

infor miert sein Der Bildungsersatz

260 Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München (1947), S. 838.

Die Aufgabenstellung, größtmögliche Mengen von Informationen möglichst vielen Nutzern möglichst schnell und möglichst überall zugänglich zu machen, ist keine, die in den Umkreis von Bildung gehört. Auch hier zeigt sich, dass wir zwischen verschiedenen Infrastruktur-Typen und -Ebenen unterscheiden müssen. Bildungsanstrengungen beziehen sich auf die Einrichtung und Pflege kultureller Gedächtnisse, auf die Einübung von Ausdrucksstilen und auf die Selbstverortung der Subjekte in diesen Ausdrucks- und Erinnerungskulturen. Das ist das Rüstzeug, das Bildung dem Subjekt für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart und als Vorbereitung auf die Zukunft sukzessive liefert. Man könnte Bildung, als Sachgebiet und Aufgabe, deshalb am besten als regelrechte Umkehrung des Bemühens charakterisieren, Informationen so schnell und so gehäuft wie möglich an den Mann oder die Frau zu bringen. [➤ Verlangsamen, S. 314] Bildung zielt darauf ab, nur bestimmte, über Generationen vorsortierte und spezifisch geformte und zusammengestellte Informationen zu übermitteln. Bildung zielt auf ein Durchformen von Informationen, nicht auf ein Durchsuchen und Nutzen. „Es verschwindet die Überlieferung“, notierte Karl Jaspers 1947, „während vielleicht alle Dokumente noch da sind“.260 Bildung zielt weiterhin darauf ab, Sonderzeiten und Verlangsamungszonen auf Zeit für die Ver- und Bearbeitung dieser besonderen Informationen einzurichten. Denn was für die Geschwindigkeit der Kommunikation ein riesiger Fortschritt ist, stellt für die Bewertung und Klassifizierung ihrer Inhalte in der Regel ein Problem dar, solange man diese Operationen nicht grundsätzlich an Maschinen delegiert. Solange das aber nicht geschehen ist, bleibt auch ein annähernder Gleichtakt von andrängenden Informationen und Verarbeitung der Informationen im Menschen ausgeschlossen. Gerade das Bildungsziel des Verstehens setzt der technischen Mobilisierbarkeit und der 164

informiert sein

Effizienz von informationsorientierten Kommunikationsprozessen noch Grenzen. Das ist das unumgänglich Unmoderne an Bildung. Der legendäre Gründer und langjährige Direktor des ‚Instituts für Nachrichtenverarbeitung der Universität Karlsruhe‘ (des späteren KIT), Karl Steinbuch, hat genau darüber schon 1978 ein ganzes Buch aus der Sicht der kommenden Informatik geschrieben, das frühzeitig und aus intimer Kenntnis der Materie zu demselben Ergebnis kam: ‚Maßlos informiert‘.261

* Ein neuer globaler Zeittakt von Konzentration und Ablenkung – mit neuen sachlichen und formalen Schwerpunkten – wird seitdem von den vernetzten Medien für immer mehr Menschen organisiert. Einer der vorherrschenden Takte heißt ‚Selbstunterbrechung‘ aller Vorgänge des Gebrauchs durch den (parallelen) Gebrauch. [➤ Vernetzen, S. 323] ‚Global‘ bedeutet hier ganz präzise, dass diejenigen Gebiete, in denen dieser neue Takt (noch) nicht herrscht, aus den Wahrnehmungsschemata der Mehrheit herausfallen, strenggenommen nicht mehr auf dem Globus in Erscheinung treten. Seit 2007 wurden allein in Deutschland, im ‚Land der Bildung‘ also, 180 Millionen Smartphones für rund 67 Milliarden Euro verkauft. Ende 2018 sind zum ersten Mal mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung online – dank Smartphones.262 Für einen „Blick aufs Display oder seine noch so flüchtige Berührung wird alle 18 Minuten ein (anderer) Vorgang unterbrochen“ 263. Themen und Gegenstände begegnen uns auch deshalb immer häufiger in Formaten und Technologien, die auf den ersten Blick keinerlei inhaltliche Unterschiede und Hierarchien mehr zuzulassen scheinen, solange sie diesem Takt gehorchen. Und bei diesem (irgendwo anders immer schon aufgezeichneten und ausgewerteten) Takt unseres Mediengebrauchs wird es voraussichtlich nicht bleiben.

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261 Vgl. Karl Steinbuch, Maßlos informiert. Die Enteignung unseres Denkens, München (1978).

262 Thomas Heuzeroth, Jeder zweite ist on, in: Die Welt, 8. Dezember 2018, S. 12. 263 Nach Frank Beuth, Smartifizierung, in: Lettre 117 (2017), S.  118 – 120, hier: S. 118. Beuth zitiert Alexander Markowetz’ Studie ‚Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-­Nutzung gefährlich ist‘ von 2015.

teil 2 – die bildungsdebat te

Bildungsprozesse, die diesen Namen verdienen, müssen immer noch kurzzeitige Aufmerksamkeit und Wahrnehmung in längerfristiges Verstehen transformieren – und das Verstandene zu schon Verstandenem ins Verhältnis setzen. Was wir Verstehen nennen, ist eine Art kontrollierende Verlangsamung derjenigen Kulturtechniken, die wir zur Informationsverarbeitung bzw. -aufnahme jenseits intransparenter menschlicher Gehirne und diesseits computergestützter Rechner entwickelt haben. Wiederholtes Lesen individuell markierter Stellen in Texten ist so eine Technik, die zwischenzeitliche, erzählende Wiedergabe solcher Stellen ist eine andere. Verstehen bedeutet auch eine hierarchische Ordnung der Informationen und eine besondere Art ihrer Durchkämmung und Verknüpfung im Zeichen der Wiederholung. Etwas platt könnte man das genau dagegen konturierte neue Ideal (mit einem alten Begriff) ‚ewige Gegenwart‘ nennen oder auch die Utopie einer Bereitstellung sämtlicher Informationen ohne Einschränkung durch Inhalte. Das alte Ideal aber wäre das Ideal verschiedener, zeitlich und inhaltlich gestaffelter Erinnerungsräume.

264 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke: Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München – Wien (1983).

Dabei ist wichtig, dass es im Falle von Verstehen nicht etwa um den Gegensatz zwischen Bewusstsein und der anonymen Technik geht. Technik ist nicht das Gegenteil von Verstehen. Weder ist der Gebrauch der Bücher, das verstehende oder auch das unterhaltsame Lesen untechnisch, noch ist es seine Umgebung. Ohne eine neue Eskalationsstufe in der Geschichte der ‚künstlichen Helligkeit‘ im ausgehenden 19. Jahrhundert beispielsweise wären massenhaftes und zeitlich kaum mehr eingegrenztes Lesen gar nicht möglich gewesen 264, – um von der sich wandelnden Produktion der Bücher auf Endlospapier oder ihrer Verteilung in Lesezirkeln hier zu schweigen. [➤ Fabrizieren, S. 130] Bildungsprozesse sind immer schon in technisch-mediale Verhältnisse eingebettet. [➤  Ausstatten, S. 80] Bildung kann sich deshalb auch nicht einfach durch rigorosen Technikverzicht auszeichnen, sondern nur durch eigene Formen des Gebrauchs der Technik. Ein neuer Begriff von Medialität eliminiert nicht die alten Praktiken, sondern ordnet sie sich unter und funktionalisiert sie um. Das verschiebt Lesen und Schreiben gleichzeitig 166

informiert sein

in einen neuen Rahmen – mit weitreichenden Konsequenzen für das Schreiben und Lesen selbst. Verstehen ist in seiner Genese technisch an das Buch gebunden: Der sich beim konzentrierten, interpretierenden Lesen wiederholende Wechsel von den Einzelstellen zum vorläufig vorgestellten Ganzen seines Inhalts macht das Verstehen am Lesen aus, ist seine technische Voraussetzung. Diese Stabilität des Buchformats, Stellen und Gesamtmenge als Wechselspiel unverändert für die Freiheiten des Lesens bereitzuhalten, geht verloren, wenn von neuen Medien vor allem neue Leistungen hinsichtlich der Erschließungsgeschwindigkeit oder der bereitgehaltenen Textmenge erbracht werden. Das heißt, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zu festen Punkten, die Möglichkeit einer kontrolliert variierenden Wiederholung im Zeichen von Selbstunterbrechung, abnimmt. Eine Datenbank benutzt man anders als man ein Buch liest. Erfahren kann man nur noch indirekt ihre Ausweitbarkeit (i. S. der ‚Deep Search‘265), nicht aber ihre irgendwie noch absehbaren Grenzen oder Proportionen. Verstehen kann man an einer Datenbank und ihren Oberflächen nur ihr generelles Funktionieren, nicht ihren Inhalt. Damit wäre auch ein möglicher Verstehenshorizont von Informationstechnik benannt.

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265 Vgl. Konrad Becker/ Felix Stalder (Hg.), Deep Search. Politik des Suchens jenseits von ­Google, Innsbruck (2010).

teil 2 – die bildungsdebat te

kompet en t sein Die Bildungsregulierung

266 Dazu Nikolaus Wegmann, (Art.) Bilden, in: Verf./ M. Bickenbach/ N. Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln – Weimar – Wien (2015), S.  125 – 134.

267 Helmar Frank/ Gerhard Hollenbach (Hg.), Begriffswörterbuch der kybernetischen Pädagogik, Paderborn (1973).

Mögliche Antworten auf grundsätzliche Fragen der Bildung erwachsen voraussichtlich nicht aus einem Fortschritts-, Optimierungs- oder Technisierungsmodell. Eine kurze Übung in historischer Kritik solcher Technisierungs-­Versuche soll das klar machen. [➤ Kritisch sein, S. 185] Die erste Lernmaschine, die „Erziehungs- und Bildungsprozesse unter Kosten-­Nutzen Kalkülen entscheidend verbessern sollte“ 266, angeregt von Henry Fords Standardisierungsideen in der Produktion von Kraftfahrzeugen, wurde schon 1924 in den USA vorgestellt. Es waren aus Schreibmaschinenteilen zusammengeschraubte Multiple-­Choice-­Kisten. Die Versuche einer maschinellen Automatisierung des Lernens rissen von da an nicht ab. Die Kybernetik wird und bleibt die Leitwissenschaft dieser Bemühungen. [➤ Revolutionieren, S. 266] 1969 formuliert Helmar Frank zwei Minimalforderungen der ‚Lehrobjektivierung‘ in der programmierten Instruktion: Erstens eine ‚Gliederung in Segmente‘, zweitens die Forderungen einer ‚kürzlichen Rückmeldung an den Lerner‘. Lernen wird als komplexe Form von Rückkoppelungsprozessen verstanden. In den 1970er Jahren erschien tatsächlich in Westdeutschland ein Begriffswörterbuch der kybernetischen Pädagogik.267 In der DDR wurde 1963 verfügt, dass der Primat der Ökonomie auch in der Pädagogik seinen Niederschlag finden sollte. Er sollte zu einer ‚Steigerung der Ergebnisse im Unterrichtsprozess‘ führen. Das Ganze vertrug sich langfristig nur bedingt mit der ‚Theorie der sozialistischen Bildung und Erziehung‘, die zum gleichen Zeitpunkt in ein neues Gesetz gegossen wurde. Die Emphase für ‚programmierten Unterricht‘, wie es jetzt offiziell hieß, war aber so groß, dass man darüber hinwegsah. Das Lernziel war eine Entlastung der Lehrer, eine Verhinderung von ‚Ausschuss‘, vulgo: von Sitzenbleibern, und vor allem die effektivere Vermittlung von „anwendungsbereiten Grundkenntnissen in der Mathematik, den Naturwissenschaften, der Tech168

kompetent sein

nik und der Ökonomie, sowie grundlegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten der modernen sozialistischen Produktionsarbeit“ 268. Es ging um Prüfungs-, Stoffvermittlungs-, Übungs- und Kommunikationsanlagen mit Lehrfilmabspielvorrichtung und Korrekturfunktion. Sie hießen im Osten Prolema und im Westen Autotutor Mark II. Allerdings lösten sich die Versprechen des ‚Lehrmaschinenbaus‘ nicht so richtig ein. Im Gegenteil: Er schuf neue Probleme. Das DPZI (Deutsche Pädagogische Zentralinstitut) versuchte verzweifelt „den spontanen Selbstbau von Lehrmaschinen“ unter Kontrolle zu bringen. Der Tüftler, eine Frühform des Nerd, war am Werke. Um 1970 kippte das Programm um in einen Streit über die Rolle des Lehrers und den Stellenwert der psychologischen Erziehung als Komponente des sozialistischen Erziehungskonzeptes.

268 Aus: Arbeitskonzeption der Abteilung Programmierter Unterricht für die Jahre 1964 – 66 (1964). Vgl. insgesamt dazu die Beiträge im Jahrbuch für Historische Bildungsforschung Bd. 20: Schwerpunkt Maschinen, Redaktion: Marcelo Caruso u. Christian Kassung, Bad Heilbrunn (2015).

* Wechseln wir wieder – aus Gründen der weltanschaulichen Symmetrie – in den Westen: In den 1980er Jahren kam der Glaube an die sogenannten Sprachlabore auf. Die waren unglaublich teuer, wurden in die Gymnasien und Universitäten integriert und man prophezeite: Einfach reinsetzen und bald kann man eine neue Sprache oder auch gleich drei! Ergebnis? Es gibt vermutlich wenige, die irgendeine Sprache wegen eines Sprachlabors der 1980er Jahre besser gelernt haben.269 Aber Labor und Sprache (in einem Wort untergebracht) – das klang nach Lösung aller Bildungsprobleme. Und jetzt sind wir auch schon in der Gegenwart: Die Verheißungen sind die gleichen, die Technologien wechseln. Denken wir an die als kostengünstiger Vorlesungsersatz konzipierten, weltweit distribuierbaren (englischsprachigen) MOOC s der Gegenwart [➤ Vortragen, S. 335], denken wir an die derzeitige Aufrüstung der Schulen und die Statements mit folgendem immer gleichen Tenor: Die Lehrer sind jetzt wahlweise Lern-­Partner, Wissens-­Manager, Freund und Helfer der Schüler in einem grundsätzlich technisch angelegten Recherchezusammenhang und in neuen Umgebungen. Die Rolle des Lehrers/der Lehrerin müsse deshalb nun ganz neu definiert werden usw. 169

269 Beispiel und Material bei Nikolaus Wegmann, (Art.) Bilden, in: Verf./ M. Bickenbach/ N. Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln – Weimar – Wien (2015), S.  125 – 134.

teil 2 – die bildungsdebat te

270 Dazu Wilhelm Voßkamp, Emblematik der Zukunft. Poetik und Geschichte literarischer Utopien von Thomas Morus bis Robert Musil, Berlin – Boston (2016). 271 Zu seiner Geschichte seit der ‚kommunikativen Kompetenz‘ (J. Habermas) s. Matthias Vonken, Handlung und Kompetenz. Theoretische Perspektiven für die Erwachsenen- und Berufspädagogik, Wiesbaden (2005), S.  15 – 32.

Was ist der Fehler bei all dem? Alle diese kybernetisch angehauchten Visionen stehen tatsächlich in ein und derselben Tradition: Sie stehen in einer Reihe bildungsutopischer Versprechen, die endlich kostengünstige ‚Bildung für alle‘ möglich machen sollen. Das zugehörige Mantra lautet: Wenn erst einmal technisch Chancengleichheit hergestellt wird, spielt – langfristig – Begabungsungleichheit, Herkunftsungleichheit oder individuell verschiedene Anstrengungsbereitschaft keine Rolle mehr. [➤  Ausstatten, S. 80] So wird auf tatsächlich technisch induzierte Veränderungen in der Umgebung des Lernens mit einer vorauseilenden Vereinheitlichung dieser Lernumgebungen reagiert. Die Utopie ist ja genau deshalb am Ende immer eine recht langweilige und ultra-­konservative Angelegenheit: Man regelt gleich alles für alle.270

Pädagogik im Zeichen von Kompetenz Der Kompetenz-­Begriff ist die scheinbar softe, pädagogisch-empirisch-psychologische Variante dieser technizistischen Tradition.271 Erinnern wir uns an die Lehrmaschine aus den 1960er Jahren: 1. Grundsatz: kleine Segmente bilden, 2. Grundsatz: kurzfristige Feedbackschleifen organisieren. Erst der (je) aktuelle Glaube an neuere technische Umgebungen oder Techniktheorie in Kombination mit einer spezifischen Auffassung von der ahistorischen Modulierbarkeit des Lernens weckt solche Hoffnungen. Modulierbarkeit meint technisch unterstützte, segmentierte Auswertungsschleifen lehr- und lernbezogener Daten unter dem derzeitigen Stichwort learning analytics. Es sind dies allesamt Stufen einer Maschinen- und Apparategläubigkeit, die immer gleich argumentiert: Stehen erst einmal überall dieselben und neuesten Geräte, generieren sie auch bei möglichst engmaschigen Kontrollen die selbstständigsten, kritischsten, gebildetsten, kreativsten, entscheidungsfreudigsten oder wenigstens produktivsten Subjekte. Pädagogik als Bildungswissenschaft schließt hier an, allerdings ohne das Aufstellen merkwürdiger Apparate: Der Lernende, der Gegenstand erzieherischer Konzepte ist, ist kein historisch-­kulturelles, also kontext-­ 170

kompetent sein

bedingtes Wesen, sondern ein sozialer Lern-­Typus. Die Vergleichsebene verbleibt ganz in der Gegenwart. Erziehung richtet sich an Begriffen und Zielsetzungen wie Integrationsfähigkeit, Sozialkompetenz oder Konfliktfähigkeit aus, die schon auf das psychosoziale Funktionieren einer idealtypisch gedachten Altersgruppe, nicht aber als in der Zeit stehend und deshalb kulturell geprägte Gruppe ausgerichtet sind. [➤ Trainieren, S. 298] Weil genau das aber nur mit einer sehr statischen Wirklichkeit kompatibel ist, in der wir politisch, kulturell und technisch betrachtet nicht leben, wird diese Ebene ergänzt: Es gibt jetzt noch zusätzlich Migrationspädagogik und Demokratiepädagogik. So reagiert die Pädagogik auf die Weltgeschichte. Das Spektrum solcher Kompetenzen fügt sich einem kleinteilig ausdifferenzierbaren – trotz Demokratieund Migrationsaspekt – völlig ahistorischen Entwicklungsschema, um dann beispielsweise in medienpädagogische Kompetenz-­Triaden überzugehen, die an Belanglosigkeit kaum zu überbieten sind: „Kooperieren, teilen, vernetzen“ heißt so etwas dann allen Ernstes in einer hochoffiziellen Broschüre der Kulturministerkonferenz, die im Dezember 2016 veröffentlicht wurde.272

Flow-­Management Neben der Kybernetik erscheint nach dem II . Weltkrieg die sogenannte Management-­Philosophie als ein weiterer Referenzrahmen neuer pädagogischer Konzepte: Managementqualitäten, heißt es nämlich spätestens seit Peter F. Druckers Concept of the Corporation von 1946, seien weitgehend unabhängig von der besonderen Art des zu entwickelnden Betriebes oder Unternehmens zu betrachten. Wenn man Betrieb durch Universitätsfach ersetzt, erkennt man die Möglichkeiten der Engführung. Kombiniert wird diese Art Universal-­ Pädagogik mit Modellen aus der Logistik-­Lehre: Genauer mit Life-­ Cycle-­Management und Flow-­Management.273 Das erste Logistik-Handbuch schrieb ein Schweizer Armee-­General, Antoine-Henri Jomini, schon 1838. Er hätte sich die 4000 Kompetenzen, die man zukünftig eidgenössischen Schülern abverlangen bzw. vermitteln würde, si171

272 Strategien der Kulturministerkonferenz. ‚Bildung in der digitalen Welt‘. Beschluss der Kulturministerkonferenz vom 8. 12. 2016.

273 Vgl. den Artikel Logistik von Gabriele Schabacher und Christoph Neubert, in: Christina Bartz et al. (Hg.): Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, München (2012), S.  164 – 169.

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274 Nach Jürgen Kaube, Non Vitae in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19. Januar 2017. 275 George Thorpe, Pure Logistics. The Science of War Preparation, Kansas City (1917).

276 W. I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution (1917), Bücherei des Marxismus-­Leninismus Bd. 17, Berlin (1948/ 1951), S. 108.

cherlich nicht träumen lassen (die Deutschen bringen es angeblich schon für eine einzige Jahrgangsstufe, nach Lehrplanstichproben, auf dreihundert).274 Die auch zivilistisch relevante Idee der unbegrenzten Mobilisierung von Reserven wurde dann schon mit George Thorpes Klassiker Pure Logistics während des Ersten Weltkriegs auf den Punkt gebracht.275 Auf den neuesten Wegen dieser Logistik-­Theorien kommt nun die Technik-­Utopie (wieder) in die Bildungswissenschaft hinein, obwohl nicht ausdrücklich von neuen Apparaten oder Programmiersprachen die Rede ist, an die man irgendwie noch utopistisch bewegt glaubt. [➤ Revolutionieren,  S. 266] Das Optimierungspotential liegt längst bei der Schnittstellengestaltung und bei der Optimierung von Wechselwirkungen zwischen verbundenen Prozessen, wie es in der Logistik heute heißt. Das neue Fach – die (empirische) Bildungswissenschaft – macht gerade eine recht vorhersehbare Karriere an deutschen Universitäten: Es handelt sich nämlich um ein Fach, dass kein disziplinäres oder allgemeines Sachwissen mehr erarbeitet, welches noch Gegenstand von Unterricht oder Lehre sein könnte. Das neue Fach, das eine Mischung aus Pädagogik, Managementtheorie und empirischer Psychologie darstellt, erarbeitet lediglich Möglichkeiten der Formalisierung und Normierung von allgemeinen Bildungszielen. Gleichzeitig werden – kybernetisch korrekt – Kontrollmöglichkeiten für die Erreichung dieser Bildungsziele entwickelt. Hierzu werden Versuchsreihen durchgeführt, werden Daten über Aufmerksamkeitsfenster, Leseverhalten oder gruppendynamische Prozesse erhoben und statistisch ausgewertet, deren (interpretierte) Ergebnisse dann – durch die Umformulierung von Bildungszielen – eine Anpassung von Wissensbeständen ganz verschiedener Fächer an solche formalisierten allgemeinen Bildungsziele erlauben. Auch das ist, streng nach dem entsprechenden – leninistischen – Staatsverständnis „einer vom ganzen Volk durchgeführten Rechnungsführung und Kontrolle, die zur Gewohnheit werden wird“ 276, eine Utopie, eine Buchhalterutopie. [➤ Punkten,  S. 236] In der Bildungspraxis heißt das: Die Beurteilung einer angestrebten Kompetenzstei172

kompetent sein

gerung verbleibt anschließend – auch für einzelphilologische oder historische Fächer – ganz unter der gutachterlichen Oberhoheit der Erziehungs- und Bildungswissenschaften, also der neuen Managementkultur, weil erst von hier aus endgültig beurteilt werden kann, ob ein Modulziel (als Kompetenz gelesen) auch der Richtlinienkompetenz empirisch-psychologischen Bildungs-Kompetenzwissenschaft entspricht. Eine Zensur findet natürlich nicht statt, aber mitgelesen wird schon – an anderer Stelle.

* Am Ende dieser Entwicklung steht eine Zerlegung von Lernprozessen in bausteinartige normative Lernziele – unabhängig von den behandelten Sachen. Diese Art eines logistischen Konstruktivismus 277 lässt die relative Unschärfe im Verhältnis zwischen technisch-institutioneller Umgebung und Subjekt – als eine Art unnötigen Kontrollverlust – nicht mehr zu. Spätestens hier bekommt eine Formel aus Adam Müllers längst vergessenen Versuchen einer neuen Theorie des Geldes von 1816 eine gespenstische Gegenwärtigkeit. Es geht um seinen Gedanken, daß es wirklich, zumahl, wenn man die darauf errichteten ökonomischen Theorien betrachtet, das Ansehen hat, als wäre das Verlangen der Sachen nach den Menschen viel größer, als das der Menschen nach den Sachen, und als verspeisten eigentlich die Sachen den Menschen, und nicht dieser jene.278

Da aber spätestens die Anforderung einer allgemeinen Studierfähigkeit wieder eine gewissermaßen anti-­konstruktivistische Schwelle in die Laufbahn oder den Produktionsprozess der Person einbaut, wird ein ebenso systematisches Nachbesserungsprogramm zur Pflicht. Man sieht hier ganz klar, welche Defizite die angeblich gerade modular optimierte Institutionenkette vor sich herschiebt. Das Studienkolleg wird deshalb langfristig von einer wunderbaren Ausnahmeerscheinung in der Bildungslandschaft zu einer spärlichen Notmaßnahme für alle werden.279 Wie die Idee vor ihrer bürokrati173

277 Vgl. dazu Hans Peter Klein, Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen: Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel, Springe (2016).

278 Adam Müller, Versuche einer neuen Theorie des Geldes mit besonderer Rücksicht auf Großbritannien (1816), hg. v. Helene Lieser, Jena (1922), S. 151. 279 Vgl. Harro Müller-­ Michels, College sucht Campus, in: Forschung & Lehre v. 05. 02. 2019, unter: https://www. forschung-­und-­lehre.de/ management/college-­ sucht-­campus-1481/ [Letzter Zugriff: 28. 02. 2019].

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schen Trivialisierung im Zeichen von Bildungsgerechtigkeit einmal aussah, kann man noch auf einer alten Tübinger Website nachvollziehen: 280

Das FORUM SCIENTIARUM der Eberhard Karls Universität führt ein

Eberhard Karls Universität Tübingen, Studienkolleg, unter: http://www. uni-­tuebingen.de/ einrichtungen/zentrale-­ einrichtungen/forum-­ scientiarum/studium/ studienkolleg.html [Letzter Zugriff: 08. 09. 2016]. Das Thema 2019 wird auf der Homepage mit ‚Wahrnehmung‘ angegeben.

zweisemestriges Studienkolleg durch. Das Thema des Studienkollegs in 2016/17 lautet: Raum und Zeit. Fünfundzwanzig ausgewählte Studenten aller Fächer durchlaufen ein Seminar- und Vortragsprogramm und arbeiten in kleinen Teams an eigenen Forschungsprojekten. Die Aufnahme ins Studienkolleg erfolgt nur zum Wintersemester. Das Studienkolleg wird von der Udo Keller Stiftung Forum Humanum durch zusätzliche Programmmittel unterstützt.280

Arbeitsplätze Bemerkenswert ist außerdem, dass die scheinbare Allgemeinheit der Kompetenzen in Deutschland – statt mit einer Vereinfachung der Prüfungs- oder Beurteilungsverfahren – mit einer geradezu babylonisch anmutenden Multiplizierung und Ausdifferenzierung von wissenschaftlichen Fachrichtungen einhergeht, die diese Kompetenzen formulieren, verwalten, auf ihre Erreichung hinarbeiten helfen und in diesem doch sehr speziellen Feld immer mehr Jobs schaffen. Man kann das fast beliebig dokumentieren: Der Ausschreibungsdienst des Deutschen Hochschulverbandes hält beispielsweise in der ihm eigenen Notationsweise im November 2016 in einer einzigen Mitteilung folgende Ausschreibungen zum Themenfeld ‚Bildung‘ bereit – und ich habe die Reihenfolge einfach beibehalten: Universität Graz – Professur Lern- und Bildungsprozesse unter besonderer Berücksichtigung der Genderforschung/ PH Ludwigsburg – W3 Erziehungswissenschaft/Pädagogik der Primarstufe/ PH Ludwigsburg – W1 Erziehungswissenschaft – Schwerpunkt Primarstufe/ PH Heidelberg – W3 Mediendidaktik/ FU Berlin – W2 Grundschulpädagogik/Didaktik Deutsch und Deutsch als Zweitsprache/ FU Berlin – W1 Grundschulpädagogik/Fachdidaktik Mathematik/ Universität Hannover – W3 Quantitative Lebensverlaufssoziologie/ LMU Mün-

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kompetent sein

chen – W2 Lehr-­Lernforschung/ Fernuniversität Hagen – W2 Wissen-

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schaftliche Weiterbildung und Hochschuldidaktik.

Deutscher Hochschulverband, DHV-Ausschreibungsdienst, unter: https://www.hochschulverband.de/dhv-­ ausschreibungsdienst. html#_ [Letzter Zugriff: 28. 11. 2016].

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Man könnte meinen, der ganze bildungswissenschaftlich-pädagogische Komplex mutiert zu einer Art Religions- und Politikersatz. Zu einer strophenreichen, litaneihaften Beschwörung der Gesellschaft, die den Eindruck erwecken soll, dass man gesellschaftliche Probleme nicht so sehr durch das Aussprechen und Angehen genau dieser Verhältnisse löst, also z. B. durch (Innen-) Politik, sondern am besten auf dem Wege einer Einteilung in immer neue Erziehungseinheiten und Erziehungsschauplätze. Der gewünschte Effekt kann eigentlich nur der sein, dass solche Probleme schon vor ihrem eigentlichen politischen Auftreten pädagogisch gelöst werden. In der Erforschung läuft das tatsächlich viel besser als in der Praxis. In der Praxis sieht es nämlich immer noch so aus: Ganztagsschulen verfügen zwar unterdessen über ‚Medienräume‘ – diese sind aber mangels medienkompetenten Lehr-­Personals in der Regel geschlossen. Erzieherinnen gehören dem nahezu schlechtbezahltesten Berufsstand der Republik an. Schon in den Grundschulen sind Stundenausfall und überfüllte Klassen die Regel. Fehlendes Geld wird mit prämienbegünstigten Selbstdeklarationen als Inklusionseinrichtung dazuverdient – ohne dass Für und Wider dieses Modells auch nur ansatzweise öffentlich diskutiert oder gar erforscht wurden. [➤ ­Appellieren, S. 65] Die ach so wichtige gesunde, regionale und nachhaltige Ernährung der integrierten Ganztagsschüler und Kindergarteninsassen wird regelmäßig (bei gleichzeitiger ritueller Abhaltung von pädagogisch wertvollen Gesundheitstagen) an einen bundesweit operierenden Billigfraß-­Hersteller meistbietend verscherbelt. Aber bevor das gute konzentrationsfördernde Essen unter der Alu-­Folie hervorkommt, kann man ja in den Einrichtungen schon mal „Lernverhalten, Stressresistenz und Aufmerksamkeitsspannen der Kinder per Kamera und Mikrofon, Tastatur- und Mausaufzeichnung“ 282 vermessen. – Die IT-Riesen stellen sicher gerne eine Grundausstattung probeweise zur Verfügung.

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282 Ralf Lankau, Bildungshäppchen, frei Haus geliefert. Mit seiner Digitaloffensive unterläuft das Bildungsministerium den Bildungsföderalismus und hebelt nebenbei die Grundrechte aus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12. 2016, Nr.292, S. N4.

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Gespenster All das funktioniert nach dem Muster: ‚Niemand, der bei Verstand ist, will so etwas, aber jetzt ist es eben leider schon mal da!‘ Die mehrheitlich als Misere wahrgenommene Realität zählt einfach nicht mehr. Sonst wäre auch kaum zu verstehen, warum parallel dazu – als eine Art hochkulturelle Garnierung und natürlich absolut folgenlos – in immer neuen universitären, steuergeldfinanzierten Graduiertenschulen (mit im Schnitt 20 DoktorandInnen) über frühkindlichen Spracherwerb, familiäre soziale Milieus, konzentrationsfördernde Sitzordnung und Ernährung oder integrationsfördernde Lernumgebungen geforscht wird. Nur ein einziger Aspekt sorgt noch für Irritation: Bildung ist als seltsam retardierendes Moment in diesen Umstrukturierungsprozessen und Diskussionen trotzdem immer noch präsent. Bildung geistert noch herum, Bildung ist sozusagen das schlechte Gewissen der Dauer-­Reform. Man sieht das ganz einfach daran, dass das Wort nicht verabschiedet wird, obwohl dies der Sache nach längst geschehen ist. Das hat zwei Gründe. Erstens: Begabungsreserven in den einzelnen Fächern bleiben knapp, lassen sich einfach nicht logistisch strecken. Zweitens: Diese Bildungspolitik, die eigentlich education-­ Management ist, prallt als sozialtechnologisch organisierbare und kontrollierbare Verteilungsgerechtigkeitspolitik an genau denjenigen Fächern hoffnungslos ab, die schwierig und voraussetzungsreicher sind – sowohl im Hinblick auf Begabung wie auf Disziplin. Es gibt Fächer, die weder den klischeehaften studentischen Lebensstil außerhalb der Universität, noch das breite Absenken der Prüfungsanforderungen, noch die großzügigen interpretativen Spielräume bei den (häufig improvisierten) Wortmeldungen und Stellungnahmen erlauben [➤ Pauken, S. 206]: Mathematik, Chemie, Informatik, Pharmazie, Ingenieurwesen, Rechtswissenschaft, Medizin, aber auch Sinologie, Kirchengeschichte oder Byzantinistik. Diese Fächer sind durch wesentliche Merkmale gekennzeichnet: Es mangelt – bis auf Jura und Medizin (wenn es nicht gerade um ‚Landärzte‘ geht) – an Einschreibungen und die politisch-­moralische Gerechtigkeitsdebatte, von der

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kompetent sein

die Gender-­Debatte nur eine (gleichwohl auslösende) Teildebatte ist, wird in ihnen und über sie einfach nicht geführt. Sie sind in gewisser Weise und wie von Geisterhand von der allgemeinen Bildungsdebatte ausgeschlossen. Aber es kann nicht sein, dass Gleichberechtigung mit Blick auf ingenieurwissenschaftliche Fakultäten plötzlich zur Zumutung mutiert. Wenn man Frauen aber nicht nur als Parteikader an der politischen Macht beteiligt sehen will, sondern z. B. auch paritätisch an der Wirtschaftsmacht (der Vorstände), dann sollte man nicht nur in Kader-­Manier Quoten festlegen, sondern bei bestimmten Fächern noch einmal gründlich über den Geschlechterproporz bei der Einschreibung und Ausbildung nachdenken.

* Es gibt genau zwei Wege, die aus diesen abschüssigen Verhältnissen und Tendenzen herausführen. Der erste Weg: Man schraubt die Finanzierung nach dem Prinzip Gießkanne – bei gleichbleibender relativer Ineffizienz des Systems – immer weiter in die Höhe und erreicht so das politische Kernziel der Beteiligung von immer mehr Subjekten an den Verteilungsmechanismen der rhetorischen Bildungsgerechtigkeit. [➤ Prospekt, S. 13] Die Kosten werden allerdings noch einmal dadurch erhöht, dass man in den besagten, unterfrequentierten Fächern das fehlende Knowhow, d. h. die Leute, dann vermutlich einkaufen muss. Der zweite Weg: Man ändert das System und seine Leitprinzipien, die tatsächlich einer naiven technizistischen Steuerungsutopie entsprechen, deren regelmäßiges Ende man von Thomas Morus bis George Orwell nachlesen kann. Solange aber z. B. die ‚Exzellenz‘ der Universitäten in der Bundesrepublik an der Befreiung ihrer professoralen Vertreter von der Lehre (vom Ausschluss ausgerechnet der Studierenden von dieser Exzellenz also) festgemacht wird, solange ein sechssemestriges Studium, das im Schnitt mindestens neun dauert, doktrinär als ausreichend für Bildung angesehen wird – und doch mit einem häufig notorisch konturlosen Masterprogramm für alle verschämt ergänzt wird –, solange Doktoranden in thematisch zwangskollektivierten Forschungs177

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verbünden außerhalb des Universitätsbetriebs und ohne Lehranteile (d. h. ohne eine ganz entscheidende Kompetenz für ihren angeblichen späteren Beruf) angesiedelt werden, solange man Bildung – gedacht als Intensivierung, als individuelle Prägungsphase – gleichzeitig immer auch als Frage der kollektiven Gerechtigkeit und Verteilung bzw. Ankopplung von möglichst vielen diskutieren muss, so lange wird der zweite Weg nicht beschritten werden können.

*

283 Zuletzt Aljoscha Neubauer, ‚Mach, was Du kannst‘ – Warum wir unseren Begabungen folgen sollten – und nicht unseren Interessen, München (2018). 284 Vgl. etwa Matthias Heine, Die Vier ist die neue Sechs, in: Die Welt, 08.01. 2019, online unter: https:// www.welt.de/kultur/article186726448/Schulnoten-­ Die-­Vier-­ist-­die-­neue-­ Sechs.html [Letzter Zugriff: 11. 03. 2019].

Der Staat – auch der föderale – wirkt unsicher in seinem Verhältnis zur Bildung, weiß offenbar nicht mehr, mit welcher überzeugenden Leit-­Erzählung er den Bereich als seine ureigene Interessenssphäre definieren soll. Die immer noch häufig bemühte ‚Fortschritt-­durch-­ Technik‘-Erzählung wirkt in den Zeiten der allgegenwärtigen Öko-­ Vorsilbe seltsam unangemessen und gestrig. Die neuere Formel von der ‚Chancengleichheit-­auf-­dem-­Bildungsmarkt‘ laboriert an der sichtbaren Segmentierung der Gesellschaft, die zum Teil gerade auf die unreflektierte Aufforderung zur ‚Wahrnehmung‘ dieser angeblichen ‚Chance‘ zurückzugehen scheint. Denn wenn die ‚Chance‘ in der Vorstellung der Bildungsplaner nur in der einzigen Option des ‚Studierens‘ liegt – Stichwort ‚akademisches Prekariat‘ –, wird sie nicht unbedingt und automatisch größer für den Einzelnen oder die Einzelne. Der Mann oder die Frau auf der Straße ist auch voraussichtlich gar nicht so unwillig oder unfähig, tatsächliche, oft quer zu ­sozialen Milieus entstandene Unterschiede zwischen Berufs- und Begabungsgruppen auszuhalten. Er oder sie ist auch nicht zu beschränkt, das von der Bildungspolitik ausgegebene Ziel einer 60-prozentigen Abiturquote in der Bevölkerung schon volkswirtschaftlich für zweifelhaft zu halten.283 Die Konsequenz einer inflationären Vergabe ‚guter‘ bis ‚sehr guter‘ – und damit eigentlich wenig aussagekräftiger oder gar wertloser – Noten ist statistisch belegt.284 Solche (berechtigten) Zweifel äußern sich im Übrigen periodisch und mit exakt denselben Befürchtungen, wie ein Blick zurück in die späten 1950er Jahre zeigt:

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kompetent sein

Wenn sich über dem Volksganzen eine Akademikerschicht von z. T. fragwürdiger Verwendbarkeit auftürmt, so hat man umgekehrt den Eindruck, dass in den mittleren Rängen Hohlräume entstehen. Es gibt bekanntlich nicht genug Techniker, es gibt zu wenig Volksschullehrer.285

285 Arnold Gehlen, Gedanken über Lernkultur (1960), in: ders., Gesamtausgabe Bd. 6: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, hg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt/M. (2004), S. 420 – 433, hier: S. 428.

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teil 2 – die bildungsdebat te

konsumier en Die Wunschbildung Bildungsdebatten wurden noch nie in aller Ruhe geführt. Auch um 1800 wurden Idee und Praxis von Bildung im deutschen Sprachraum durchaus unter vergleichbarem Modernisierungsdruck formuliert und geübt, wie er in den Augen vieler erst ausschließlich heute zu herrschen scheint. Wirklich verschieden sind nur die Antwortversuche und ihre Catchwords. Das unterdessen allgegenwärtige Wort und Szenario vom ‚Bildungsmarkt‘ ist gerade in diesem Zusammenhang ein Alleinstellungsmerkmal der Gegenwart. Es widerspricht – das ist wohl keine Überraschung – dem Ideenkomplex, wie man ihn vor 1800 mit ‚Bildung‘ gefunden und seitdem systematisch ausgebaut hatte. Im Unterschied zu heute wurden um 1800 neue Ideen unter der neuen Überschrift ‚Bildung‘ gerade entwickelt, um dem Druck und der handfesten politischen Krise der napoleo­nischen Besatzung mit etwas anderem begegnen zu können als der ungebremsten Weiterleitung von Druck und Krise in die Räume und Zeiten der Bildung. In der philosophisch geprägten Sprache der Zeit sollte Bildung Sub­ jekte in der größeren Entität des Staates zu autonomer Entfaltung bringen, um die Interessen desselben Staates so zunächst indirekt zu befördern. Bildung, Haus, Schule, Staat und öffentlicher Markt – paidea, oikos, schola, politeia und agora – blieben dafür organisatorisch, inhaltlich und atmosphärisch voneinander einigermaßen unterscheidbar. Diese Sachgebiete und Kommunikationsräume wurden also nicht von Anfang an synchronisiert. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass die (National-) Staaten, in deren Interesse man so dachte und handelte, noch gar nicht oder – wie im Falle Preußens – noch nicht wieder existierten. Das Vertrauen in Bildung muss einmal sehr groß gewesen sein.

* 180

konsumieren

Heute scheint der Markt mit seiner mächtigen Erzählinstanz Werbung und seinem Kriterienkatalog für effizientes Marketing die staatliche Verwaltung, die ökonomischen Prozesse und die institutionelle Bildung frühzeitig zu durchdringen und zu verschalten.286 Wenn die Bildungspolitik die Lage nicht analysiert, sondern noch verschärft, muss die Expertise, was Bildung leisten sollte, aus anderen Quellen gewonnen werden: Zum wiederholten Mal ist deshalb – seit Marshall McLuhans Klassiker The Mechanical Bride von 1951 – die Durchdringungskraft der Werbung der Schlüssel, um die Prinzipien und Formen der gesamten Kommunikationsstruktur zu verstehen, in der auch Bildung sich seit einiger Zeit reflektierend bewegen muss.287 Die beim Thema Bildung heute zu berücksichtigenden Veränderungen entsprechen in vielen Punkten dem Grad, in dem staatliche Infrastrukturen von privatwirtschaftlich organisierten sozialen Netzwerken aus der Bildung und der dort anfallenden Kommunikation herausgedrängt werden. Fast jedes Hochschulseminar ist heute mit einer Facebook-­Gruppe, jede Schulklassenkommunikation mit einer bei WhatsApp unterlegt – um nur zwei zumindest vordergründig harmlosere Beispiele zu nennen. [➤ Vernetzen,  S. 323] Diese Netzwerke verbreiten immer auch – das ist ihre Geschäftsgrundlage – parallel zu allem anderen, was sie sonst noch verbreiten (können), globalisierte und gleichzeitig personalisierte Werbung und eine jeweils angesagte Konsumgestik.288 Das ist, entgegen den einfachsten Reflexen des sogenannten Sprachempfindens, kein Widerspruch mehr. Und das hat Konsequenzen: Wir wohnen seit längerem einem Schauspiel bei, in dem an immer mehr Orten die Unterschiede angesichts des industrialistischen Vorhabens der

286 Zu dieser Geschichte insgesamt Sandra Richter, Mensch und Markt. Warum wir den Wettbewerb fürchten und ihn trotzdem brauchen, Hamburg (2012). 287 Marshall McLuhan, The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man, New York (1951).

288 Vgl. Simon Bieling, Konsum zeigen. Die neue Öffentlichkeit von Konsumprodukten auf Flickr, Instagram und Tumblr, Bielefeld (2018).

Angleichung und Standardisierung der Kulturen ums Überleben

289

kämpfen.289

Pierre Legendre, Die Liebe des Zensors. Versuch über die dogmatische Ordnung (1975/ 2005), Schriften Bd. 8, Wien – Berlin (2016), S. 268.

Bildungskonzepte jenseits der MINT -Fächer aber propagieren in diesem Prozess offiziell immer noch die Wertschätzung und Kenntnis der Unterschiede, der Einzelgeschichten, propagieren Aufmerksamkeit für Nuancen und Details, aber auch für verschiedenste Va181

teil 2 – die bildungsdebat te

290 Vgl. etwa Herfried Münkler et al., Staatserzählungen: Die Deutschen und ihre politische Ordnung, Berlin (2018).

291 Vgl. Gabriele de Tarde, Die Gesetze der Nachahmung (1890), Frankfurt/M. (2003); René Girard, Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität (1961), Münster – Hamburg – London (1999).

riationen eines Ausgangsmotivs, für historische Besonderheiten, für die Genese der Phänomene usw. Diese Art der Aufmerksamkeit soll auch nicht nur für die Objekte, sondern auch für das Subjekt von Bildungsprozessen aufgebracht werden können. Bildung heißt deshalb ebenso: Bevor man in die große Leit-­Erzählung der Gesellschaft vom Staat 290, vom Fortschritt, von der Modernisierung, von der Grenzenlosigkeit oder von der Prosperität und Effektivität eintritt, sollte man selbst eine Geschichte, ein benennbares, begrenzbares und ‚be-namtes‘ Selbst, eine Auto-­nomie, erlangen können. [➤ Formatieren, S. 154] Aber wie ist genau dieses Konzept mit Vorder- und Rückseite unter den genannten Bedingungen noch umzusetzen? Möglicherweise ist diese Autonomie ja auch nicht vielmehr als eine einigermaßen autonome Wunschstruktur: ‚nachahmendes Begehren‘ nennt das die Theorie seit Freud. Man begehrt strenggenommen, in einer Art ‚mimetischem Dreieck‘ (R. Girard), nur immer das, was andere auch begehren, weil andere es begehren.291 Woher sollte auch ein gänzlich eigener Wunsch kommen? Aber umso wichtiger ist es für stark wunschgesteuerte und zunehmend marktaffine Heranwachsende, verstehen zu können, welche Instanzen und Sachgebiete, welche Technologien, dieses Wunschreservoir verwalten und auf welche Weise sie es technisch an den Einzelnen und die Vielen vermitteln.

Markt und Medien 292 Max Weber, Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung (1913/14), in: ders., Schriften 1894 – 1922, hg. v. Dirk Käsler, Stuttgart (2002), S. 314 – 357, hier: S. 315. Als neuere Untersuchung Colin Arnaud, Topographien des Alltags. Bologna und Straßburg um 1400, Berlin – Boston (2018), S.  30 – 104.

Das Bild vom Markt, vom „Bestehen eines nicht nur gelegentlichen, sondern regelmäßigen Güteraustausches am Ort der Siedelung“ 292, ist dabei ganz offensichtlich eine traditionelle und idyllisierende Raum-­Metapher, die einem unterdessen anonymen und vieldimensionalen Geschehen um Geld- und Warenflüsse, aber auch um jene ‚Chancen‘, einen symbolischen Ort (zurück-)gibt. Die Metapher vom ‚Markt‘ fängt uns auf, so lange wir nicht ‚die Mechanismen des Marktes‘ unangenehm zu spüren bekommen und damit für einen Moment seine beruhigende symbolische Lokalisierbarkeit für uns verloren geht. Wenn für uns erst einmal andere Metaphern – wie die von den 182

konsumieren

Mühlsteinen, der Druckerpresse oder den Rädern, zwischen und unter die man geraten ist –, gelten, dann zeigen uns schon diese veralteten mechanischen Tools, dass der reale, erneuerte Markt längst reine Bewegung ohne Ort geworden ist. Im Falle ‚der Medien‘ liegt die Sache von Anfang ähnlich: Was gemeinhin von uns ‚die Medien‘ genannt wird, ist der heute offene ‚ortlose Ort‘, wo die Wünsche und Vor-­Bilder in die füreinander immer durchlässigeren medialen Infrastrukturen eingespeist werden. [➤ Ausstatten,  S. 80] Dadurch zirkulieren sie immer schneller, erreichen immer häufiger immer mehr Menschen mit immer mehr (Wunsch-)Druck. Es entsteht so ein „dauernder Atmosphärendruck von Information und Bewusstseinsanregung“ (A. Gehlen). ‚Die Medien‘ entscheiden immer schon darüber, welche Erzählungen – z. B. vom scheiternden, hippen oder erfolgreichen Subjekt – gerade en vogue sind. Hierüber haben wir alle ein Halbwissen, d. h. wir hegen permanent auch einen kritischen Vorbehalt gegenüber ‚den Medien‘ – während wir sie nutzen. Unter dem Schlagwort ‚Bildung‘ sollte also eigentlich die Frage verhandelt werden, wie man eine Zeitlang, eine entscheidende Zeit lang, zur nachhaltigen und bewussten Ausprägung von stabiler Eigenheit einen weniger durchlässigen Schutzraum vor diesem kommerziellen ‚Atmosphärendruck‘ (A. Gehlen) konstruieren kann. Da man allerdings – einmal im Ansatz mit Eigenheit ausgestattet – wieder in dieser allgemeinen Atmosphäre atmen und arbeiten muss, ist folgender Aspekt zentral: Der Schutzraum der Bildung darf im Verhältnis zum Außen weder als gänzlich abgeschnitten und anachronistisch noch als gänzlich synchronisiert und abgeglichen mit dem äußerlichen Atmosphärendruck gedacht und angelegt werden. Bildungspolitik sollte deshalb einen begrenzten Zeit-­Raum konstruieren helfen, wo man lernt, solche technischen Strukturen der wunschgesteuerten Identitätsbildung zu verstehen und diese kontrolliert – und nicht etwa unbewusst – nachzuahmen. [➤ Verlangsamen,  S. 314] Andererseits sollte jenseits von vergleichendem Strukturwissen exemplarisch die Begeisterung für einzelne Sachgebiete eingeübt werden, die – nach ihrer noch zweckfreien Einübung – später als Muster der

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teil 2 – die bildungsdebat te

Begeisterungsfähigkeit in ganz neuen professionellen Kontexten weiterwirken kann.

Bildung als ‚counter-­environment‘ auf Zeit

293 Zur Geschichte dieses Begriffs im 18. Jahrhundert, im Kontext der entstehenden Bildungsidee s. Charlotte Kurbjuhn, Kontur. Geschichte einer ästhetischen Denkfigur, Berlin – New York (2014).

294 Ähnlich dann noch einmal bei Neil Postman, Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung, Berlin (1995), S. 210.

Hier liegt die riesige Chance von Bildung, als besondere Infrastruktur in der allgemeinen verstanden zu werden. Man stattet sich, unter erfahrener Anleitung, mit Wissen in Gestalt von Geschichten (und Formeln) aus, bis man in dieser Hinsicht selbst eigenständig wird: Bis man sich erzählen kann [➤ Formatieren,  S. 154], bis man sich als Geschichte in den größeren Geschichten ansiedeln kann, ohne gleich die Kontur zu verlieren.293 Dann erst tritt man auf den Marktplatz bzw. ‚stellt sich dem Markt‘. Bevor man ungeschützt in den großen ‚Verkehr‘ eintritt, übt man ihn auf einem geschützten Verkehrsübungsplatz. Dort herrschen dann natürlich nicht einfach ‚paradiesische Zustände‘ der Zwanglosigkeit und des Überflusses. Auch hier reicht die Palette von der staatstragenden Kadettenanstalt bis zur ‚freien Schule‘, also von Westpoint bis Montessori. Deren Absolventen und Absolventinnen können, z. B. in Richtung Abitur, oft nur mit Sonderregelungen in das staatliche System reintegriert werden. Doch die Möglichkeiten des Ausprobierens sind anders gelagert, die ‚Technik des Marktverkehrs‘ (M. Weber) ist noch eine andere, Spiel und Ernst sind in ihrem Verhältnis anders abgestimmt. [➤ Spielerisch lernen, S. 277] Die Bildungsinstitution fungiert als „counter-environment“ (M. McLuhan).294 Aber diese Gegenwelt negiert nicht einfach die andere, richtige Welt, sondern sie macht uns etwas bewusst, das uns ansonsten halbbewusst ereilen würde.

184

kritisch sein

k r i t isch sein Das Bildungsideal Wissen – und niemand bestreitet das ernsthaft – geht nicht in der Verfügbarkeit von Wissen auf. Auch die Fähigkeit, lohnenswerte Problemstellungen zu identifizieren und gut zu formulieren, hat mit dieser schnellen Verfügbarkeit noch nichts zu tun. Wenn man einfach den Gebrauch neuer Medien in den Unterricht ‚integriert‘, wie es so schön heißt, ist damit nichts gewonnen. Etwas bei Google statt in der Schulbücherei suchen lassen, bringt niemandem etwas über ‚die Sache‘ bei. Es stärkt nur einen zufälligen Monopolisten, der in manchen Bundesstaaten der USA die Schulen schon ‚kostenlos‘ mit seinen Produkten beliefert. Erst wenn man das Suchen im digitalen Fenster mit dem Suchen über einen Buchindex kulturhistorisch vergleicht, lernt man auch etwas – in diesem Fall über die Sache des Suchens selbst.295 Erst wenn die Unterschiede der Wissensformen und Wissenskulturen historisch (be-)greifbar werden, kommt Bildung dabei heraus. In einer Welt, in der das Nächste so schnell erreichbar ist, müssen deshalb Techniken und Anreize des strukturellen Vergleichens, des Nacherzählens, des konzentrierten Innehaltens und verlangsamten Hinschauens überhaupt erst wieder plausibel gemacht werden. Eugen Rosenstock-­Huessy erläutert, wie wir auch eine neue digitale Medienwelt zunächst in Topoi, in Örter, in Ansichten auflösen können:

295 Vgl. Nikolaus Wegmann, Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter, Köln – Weimar – Wien (2000) und Manfred Sommer, Suchen und Finden: Lebensweltliche Formen, Frankfurt/M. (2002).

Erörtern heißt geradezu eine Sache aus ihrer Zeit herausnehmen und

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wie eine Sache im Raum hin und her wenden können. Ein Locus, ein

Eugen Rosenstock-­Huessy, Soziologie. Erster Band: Die Übermacht der Räume, Stuttgart (1956), S. 105.

Topos, ein Thema, ein Gegenstand sind fix und fertig abgespielt, wenn wir uns über sie unterhalten. Das ist es, was wir studieren nennen, das Kritisieren und Vergleichen, während es gerade nichts zu sehen und zu beklatschen gibt. Die Welt der Studenten ist das Leben in der Pause.296

* 185

teil 2 – die bildungsdebat te

Das Bildungsproblem kommt, wie der sprichwörtliche unliebsame Gast, den man durch die Vordertür endlich losgeworden ist, umgehend durch das Fenster (Windows) wieder herein. Wenn nämlich die Grundversorgung mit Informationen erst einmal steht, stellt man fest, dass die leichte Zugänglichkeit von Informationen noch gar nichts mit Wissen (und schon gar nicht mit Bildung) zu tun hat. [➤ Informiert sein,  S. 164] Oder wie Frank Zappa in seinem Song ­Packard Goose einst schlussfolgern ließ: 297

Information is not knowledge. Knowledge is not wisdom. Wisdom is

Frank Zappa, Packard Goose, Album: Joe’s ­Garage Act III, CBS (1979).

not truth. Truth is not beauty. Beauty is not love. Love is not music.

298 Vgl. Matthias Bickenbach/ Harun Maye, Metapher Internet. Literarische Bildung und Surfen, Berlin (2009).

Music is the best.297

Das eigentliche Bildungsproblem beginnt erst dort, wo man die Qualität des Wissens und seines Zusammenwirkens jenseits von ausgesprochenen und unbezweifelbaren Fachkontexten noch einmal näher zu bestimmen hat. Wenn man z. B. Bildungsziele formulieren muss. Weil die schiere Ankoppelung an einen Informationsfluss oder eine Art Grundausbildung nicht reicht, wenn man die Vergemeinschaftung höherer Bildung erreichen will, wird schnell der ganze Komplex der Technisierung problematisch. Die rein technische Ankoppelung bringt noch keine eleganten und selbstbewussten Surfer auf den Oberflächen der Informationsflüsse hervor. Was heißt dieses schöne Bild überhaupt, das uns eher an Urlaub denken lässt – und von Jack London auf einer Südseereise (wieder-)entdeckt wurde?298 Es heißt: Ein immer effektiver bereitgestelltes und erreichbares Wissen sollte auch heute noch in einem konstruktiven Verhältnis zur angepeilten Persönlichkeitsentwicklung des Angeschlossenen und Informierten stehen. Das Wissen soll – selbst schon sinnvoll strukturiert, d. h. curricular durchdacht – wiederum modulierend auf den weichen Kern des Lernenden einwirken und ihn als Person dadurch langfristig festigen.

186

kritisch sein

Was ist ‚Kritik‘? ‚Immer schön kritisch zu sein‘ als abendländischer Schlüsselsatz für das ausgehende 20. Jahrhundert wird für das 21. Jahrhundert voraussichtlich nicht reichen. Voraussichtlich auch deshalb nicht, weil uns – also immerhin den Erben nicht nur Wilhelm Meisters sondern auch Immanuel Kants – jeder irgendwie anspruchsvollere Begriff von Kritik beim Pochen auf die Versorgung mit Informationen abhandengekommen ist. Kritik ist ja historische Kritik, Kritik ist Kritik der Form, nachdem man die Form kulturhistorisch und ideenpolitisch zu situieren gelernt hat. Kritik ist nicht schon die sachgerechte technische Beurteilung einer neuen Gerätegeneration, Kritik ist nicht aufgesagte Fortschritts-­Gesinnung, Kritik ist nicht schon einfach prinzipielles Dagegensein oder die Ironisierung des Evidenten. Kritik ist auch nicht Ignoranz in der Form eines ebenso voraussetzungs- wie ahnungslosen ‚Ich denk jetzt mal laut ins Unreine‘. Kritik – und das ist gerade für Studierende schwer zu verstehen – hat wenig mit Meinung zu tun.299 Einen anspruchsvolleren Kritik-­Begriff kann man problemlos auf das Wissen selbst ausdehnen. Jedes Konzept von Wissen, jede Methode der Wissensgenerierung, ist unter spezifischen historischen und politischen Bedingungen entstanden. Erst in historischer Perspektive wird deutlich, dass es immer eine ‚Rhetorik des Wissens‘ gibt, in der heute beispielsweise gerade der Verweis auf Empirie und Statistik ein sehr erfolgreiches Kapitel darstellt. Das ‚Erhellende‘, das scheinbar problemlos ‚Heraussehbare‘ (Evidente) dieser Vorgehensweise, verdankt sich in diesem Fall vor allem dem argumentativen Verweis auf nackte Zahlen in der Umgebung eines Textes. So wird scheinbar eine größere Belastbarkeit von Begründungen, Beweisführungen und Argumentationen erzeugt.300 Irgendwann werden aber auch diese Techniken in der Geschichte des Wissens wieder der Vergangenheit angehören. Sie werden in neuen technischen Umgebungen an Evidenz verloren haben. Sie werden nur noch eine besondere rhetorische Figur, einen weiteren Gemeinplatz des Wissens, darstellen. Kritik als historisch fundierte Kritik modellhaft zu erler-

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299 Zur Geschichte des Kritik-­Begriffs vgl. Kurt Röttgers, (Art.) Kritik, in: Europäische Enzyklopädie zur Philosophie und Wissenschaft Bd. 2, hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Hamburg (1990), S.  889 – 898.

300 Dazu Erich Meuthen, Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, Freiburg/ Br. (1994), S.  85 – 89.

teil 2 – die bildungsdebat te

nen, braucht schlicht Zeit – Zeit der Ausbildung und Zeit der Explikation. Zeit, die man in der Regel nicht hat. [➤ Verlangsamen, S. 314] Die Stärke des Begriffs Bildung ist also zugleich wieder einmal seine größte Schwäche. Seine Unentschiedenheit gerade mit Blick auf eine Anwendungsebene und Berufsorientierung wirkt geradezu als Verzagtheit in einem radikalen technischen Wandlungsprozess, den auch unsere privaten und näheren institutionellen Umgebungen seit einiger Zeit konsequent durchlaufen.

Noch einmal: Umgebung und Gegenumgebung zugleich So hat sich denn auch die Problemstellung unter der Hand schon verändert: Heute kümmern wir uns – auch in Schule und Universität – vor allem um einen freien und bequemen Zugang zum Wissen. Wir reden über Bildung hauptsächlich als Bildungschance im Sinne einer Versorgungsleistung und Zugangsberechtigung. Wenn nun aber Schulen und Universitäten über campusweites W-LAN verfügen, die Bestände der Bibliothek ‚digitalisiert‘ sind und die Seminarverwaltung oder der Vertretungsplan elektronisch abgewickelt werden kann, ein Tutorial zuhause mit einem Klick auf dem Bildschirm erscheint, haben sich die Institutionen dem technischen Standard weitgehend angepasst, der sie umgibt. [➤ Ausstatten, S. 80] Doch Bildungsinstitutionen sind eben nicht nur Organe einer solchen ‚Vorbereitung‘ oder ‚Anpassung‘, sondern auch des Vorbehalts und der Verlangsamung, eine Art ‚Gegenumgebung‘ (counter-­environment). In ihnen soll das, was sie an technischen Standards teilweise reproduzieren, gleichzeitig in dem bezeichneten Sinne ‚kritisch‘ betrachtet werden können. In den Bildungsinstitutionen wird im Idealfall Zeit zur Betrachtung und Raum für Abstandnahmen zur Verfügung gestellt, die später – in Anwendungskontexten – möglicherweise fehlen wird. So ergibt sich fast zwangsläufig die Frage: Soll denn überhaupt noch eine kritische Position gegenüber dieser fortschreitenden Technisierung von Kommunikation eingeübt werden? Und wenn es so sein soll, wie ist das dann möglich? Oder sind wir unmerklich in so hohem Maß Teil und Moment, sogar Profiteure dieser Veränderung, dass eine solche Positionierung tatsächlich naiv und unmöglich wäre? 188

kritisch sein

Aber lassen wir uns nicht täuschen: Bildungsfragen sollten nicht in Fragen und entsprechende Anreizprogramme der Technikfreundlichkeit für eine jeweils nächste Geräte-­Generation verwandelt werden. Eine Affinität dazu kann man zwar bei jungen Menschen einigermaßen voraussetzen. Aber technisch betrachtet besteht der Bildungsprozess zunächst darin, solche natürlichen Affinitäten der Jugend zum Neuen gerade produktiv zu irritieren, aber eben nicht zu negieren. Die Bildungsproblematik lässt sich in der Frage zusammenfassen, ob diese jeweils neue Generation die neue Technik nutzt und nutzen kann, um mit dem kulturellen Gedächtnis produktiven Kontakt zu halten. Erst wenn die Kommunikationstechnologie einen nicht ausschließlich in der Gegenwart des aktuellen Kommunizierens hält, also in der „überwiegenden Nachahmung des Neuen“ [P. Sloterdijk]301, setzt überhaupt so etwas wie ein Bildungsprozess ein. Und es sei noch einmal daran erinnert: Die Form der Texte ändert die Form des Lesens, die Form des Lesens ändert uns. [➤ Lesen, S. 194] Bildung heißt nicht, diesen Prozess geschehen lassen, zu fördern oder zu begrüßen, sondern Bildung heißt, den Zusammenhang überhaupt erst einmal zu erkennen! Denn die Veränderungen im Zusammenspiel von Umgebungen und Subjekten fallen nicht gleich auf, sie lassen sich nicht einfach an weit sichtbaren neuen Gebäuden oder an einem problemlos und signifikant erhöhten Bedienungskomfort für alle ablesen: Mediale „Infrastrukturen schleichen sich gleichsam in die Gewohnheiten der Menschen ein“ 302 (D. van Laak).

‚Es sind die Formate, Dummkopf!‘ Was können wir also – historisch – kritisieren? Wir können ‚Formate‘ kritisieren – ästhetisch, mediengeschichtlich und als Bestandteil politischer und technologischer Programme. Wir können Formate einordnen und in ihrer historischen oder aktuellen Wirkung und Reichweite beschreiben. Spätestens seitdem das MP-3-Format in den Alltag eingedrungen ist, wird unsere Umgebung uns als ‚formatierte‘ mediale Umgebung bewusster. Die Medienwissenschaft hält hier aber nur mit dem progressiven Alltag Schritt:

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301 Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-­ genealogische Experiment der Moderne, Frankfurt/M. (2014), S. 225.

302 Dirk van Laak, Infrastrukturen und Macht, in: Francois Duceppe-­ Lamarre (Hg.), Umwelt und Herrschaft in der Geschichte, München (2008) S. 106 – 114, hier: S. 109.

teil 2 – die bildungsdebat te

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The MP3 is the most common form in which recorded sound is avail-

Jonathan Sterne, MP3. The Meaning of a Format, Durham – London (2012), S. 1.

able today. More recordings exist and circulate in MP3 format than

304 Susanne Müller, (Art.) Formatieren, in: Verf./ Matthias Bickenbach/ Nikolaus Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln – Weimar – Wien (2015), S. 253 – 267, hier: S. 254 u. Michael Niehaus, Was ist ein Format? Hannover (2018), S. 46 f. 305 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-­Lexikon. 2. vollst. Nachdr. [d. Ausg.], Halle u. Leipzig (1732 – 1754), Graz (1994), S. 1494. 306 Insgesamt dazu Michael Niehaus, Was ist ein Format? Hannover (2018), S. 46 f.

in all other audio formats combined.303

Nicht nur als Laie oder Verbraucher, auch als Historiker, Literaturwissenschaftler und Literatur- oder Kunstliebhaber sollte man zum Begriff des Formats ein besonders inniges Verhältnis pflegen: Er stammt in seiner technischen Lesart nämlich aus dem Buchdruck. Also aus dem Zielgebiet kultureller Praktiken, von denen sich viele Gegenwartspraktiken problemlos herleiten lassen. Seit 1634 ist der Begriff bei den Buchdruckern nachweisbar. Doch von Anfang an bestimmten die Formate wie Folio, Oktav oder Duodez die ‚Verhältnisse‘ in der Welt der Bücher: „Bestenfalls lassen sich aus dem Format eines Druckbogens alle weiteren Formate durch ein- oder mehrmaliges Falten ableiten.“ 304 Auch vor diesen Verhältnissen wurde gewissermaßen schon formatiert, indem Drucker und Buchbinder „die Größe derer Columnen“ 305 auszählten. Die Anschlussfähigkeit für das digitale, mit den Fingern zählende Zeitalter war also von Anfang an gewährleistet. Die Formate ordnen die kulturellen Verhältnisse der Kommunikation zu Formengruppen und halten sie gleichzeitig auf einer roheren Ebene insgesamt berechenbar.306 Der Appell, ‚kritisch mit Informationen umzugehen!‘, bleibt dagegen immer eine Art alarmistische Mengenlehre. Die Informationen können in ausreichend, zu wenig oder zu viel (‚Informationsflut‘) unterteilt werden, aber sie verbleiben damit in einer merkwürdig ahistorischen (oder apokalyptischen) Gegenwart. Erst die Identifizierung und Einordnung ihrer historischen Gestalt – wie kurz oder lang diese Historie auch immer sein mag – macht aus den Informationsmengen Objekte der Erkenntnis und der kulturellen Bildungsprozesse.

* Um Informationen zu kulturellem Wissen und schließlich zu Prozessen der Bildung zu verdichten, müssen wir diese Erkenntnis nur 190

kritisch sein

zu einer weiteren, ebenso leicht zu gewinnenden Erkenntnis ins Verhältnis setzen – zu der Erkenntnis, dass auch unsere Selbstbeobachtung immer schon in solchen geordneten Bahnen verläuft und verlief. Wenn man schreibt, nein, schon wenn man spricht, tritt man in (irgend-)eine historisch gewachsene Form ein: Wir beichten, wir klagen an, wir fordern, wir berichten usw. usw. Bei jedem Menschen schwingt folgerichtig mindestens eine Ahnung mit, dass, wenn er spricht, nicht nur er spricht, sondern auch ein historisches Format des Sprechens aus ihm spricht, das ihn in dem Moment ausmacht, steuert und legitimiert. Der Ordnung der Diskurse entsprechen historisch-­apparative settings, die unsere Reden, Stillagen und technischen Äußerungsformen formatieren. Beichtstuhl, Taschenbuch oder Mikrofon, Hörsaal, Podcast oder Studio heißen diese apparativen settings. Diese stehen vielen anderen ebenfalls offen für ihre individuellen Äußerungen. Viele, ja die meisten Erlebnisse und Begebnisse unseres Lebens kommen uns deshalb nicht zufällig wie im Film (schon irgendwo mal gesehen) bzw. wie aus einem Roman (schon irgendwo mal gelesen) vor. Wir bemerken, dass wir Bestandteile einer Welt sich wiederholender und sich oft nur langsam verändernder Formen sind, in einem Wort: dass wir immer schon Teil von Medienkulturen sind, die unserem Sprechen und Agieren vorgängig sind. Hier sollte die Kritik ansetzen.

* Als Pierre Bayle 1695 mit seinem zweibändigen Historischen und kritischen Wörterbuch – und dort ausgerechnet in den Fußnoten – die religiösen und profanen Fundamente des (französischen) Absolutismus frontal angriff, riskierte er noch im niederländischen Exil Kopf und Kragen. Sein Bruder starb in einem Gefängnis in Bordeaux. Person und Ereignis mögen zu Recht oder zu Unrecht vergessen sein, die gewählte Form der Fußnote aber erscheint uns unterdessen als die lächerlichste Form von Gelehrtheit, die sich denken lässt. – Und doch war sie die Geburt der Kritik, die nur als historische überhaupt einen Sinn ergibt.307 Und sie war ein Stück Buchkultur. Die Fähigkeit, Formen zu identifizieren, zu kommentieren und zu kritisieren, ruft man nicht durch Ermunterung zu noch mehr Kritik bzw. mehr Ethik-­ 191

307 Vgl. Anthony Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin (1995).

teil 2 – die bildungsdebat te

Unterricht hervor, sondern nur durch eine breite Einführung in das kulturell-­technisch-­ästhetische Fundament der bestehenden und sich wandelnden Welt.

*

308 Vgl. Gerrit Fröhlich, Medienbasierte Selbsttechnologien 1800, 1900, 2000. Vom narrativen Tagebuch zur digitalen Selbstvermessung, ­Bielefeld (2018). 309 Zur recht kurzen Begriffsgeschichte von Neuerung/ Innovation seit Leibniz vgl. René Girard, ‚Nachricht von Neuerung‘, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11. 2004, Nr.266, S. 41. 310 Gerd van der Heuvel, Leibniz im Netz. Die frühneuzeitliche Post als Kommunikationsmedium der Gelehrtenrepublik um 1700, Hameln (2009), S.  3 – 31. 311 Vgl. Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen, München (1990), S.  7 – 148.

Am häufigsten wird Kritik geübt an der Alltagskommunikation der sogenannten ‚Digital Natives‘. Es ist in der Regel die Kritik derer, die medial noch anders sozialisiert wurden, andere ‚Kommunikationsideale‘ (K.-H. Göttert) pflegen. Die Ideale von Schreiben und Lesen haben sich langsam, inhaltlich und äußerlich, von den Mustern einer isolierten und konzentrierten Selbstbesinnung im Brief, im Tagebuch oder im psychologischen Roman, wegbewegt. Wir stecken immer häufiger in ganz neuen Zusammenhängen der reich bebilderten (Selbst-) Vervielfältigung und des Lesens und Gelesenwerdens. Wir schreiben, posten und lesen etwas in sozialen Netzwerken, werden gelikt, sharen – und liken unsererseits fremde Posts und Tweets.308 [➤ Vernetzen, S. 323] Die Veränderung scheint klar: Statt unsere Kommunikationen aus der Dynamik der Umgebung herauszunehmen und festzuschreiben, statt uns periodisch – handschriftlich oder maschinenschriftlich – in Textarbeit zu sammeln, erhöhen wir die Umlaufgeschwindigkeit und Verbreitungsdynamik der Mitteilungen, die uns erreichen und von uns ausgehen. Aber neue Technologien, Infrastrukturen und Operationen (in und an Medien) sind oft nur insofern neu, als sie z. b. alte exklusive Formen zur neuen Normalitätsgrundlage (H. Schelsky) machen.309 Was in früheren Epochen nur wenige Ausnahmemenschen geschafft haben – Leibniz soll ca. 15000 Briefe an etwa 1000 Korrespondenten verschickt haben –, wird gewissermaßen zum elektronischen Standard.310 Die im 17. Jahrhundert Menschen wie Leibniz vorbehaltene maximale Streuung ihrer selbst ist längst Alltag für fast jeden geworden. Was damals wenigen dank der neuen Thurn und Taxischen Poststationen 311 möglich war, ist heute mit E-Mail, Twitter oder ­WhatsApp jedem Einzelnen verordnet. Schnelles Internet und W-LAN werden nun Menschenrecht. Leibniz hatte im Übrigen selbst die 192

kritisch sein

theoretische Voraussetzung für diese Entwicklung geschaffen, als er in seiner Schrift Zur Analysis der Lage von 1679 die von ihm so genannte „binale Charakteristik“ entwickelte, die vollkommener als die dezimale oder jede beliebige andere ist, weil

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in der binalen alles aus den Charakteren bewiesen werden kann, was

Zit. n. Hugo Fischer, Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Kurt Fassmann (Hg.), Die Großen. Leben und Leistung der sechshundert bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Welt. 12 Bde. (1976), 2. Aufl., Zürich (1989), Bd. VI.1, S. 218 – 235, hier: S. 221.

über die Zahlen gesagt wird.312

Was aus dieser Überhöhung des Binären folgen sollte [➤ Prägen, S. 222], konnte er nicht ahnen.

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teil 2 – die bildungsdebat te

lesen Das Bildungshandwerk

313 Vgl. Ansätze bei Günther Stocker, ‚Aufgewacht aus tiefem Lesen‘. Überlegungen zur Medialität des Bücherlesens im digitalen Zeitalter, in: Hans-­Christian von Herrmann/ Jeannie Moser (Hg.), Lesen. Ein Handapparat, Frankfurt/M. (2015), S. 33 – 47 oder Mario Scalla, Lesen 2.0 – Lektüreverhalten im digitalen Zeitalter, in: Peter Kemper et al. (Hg.), ‚Wir nennen es Wirklichkeit‘. Denkanstöße zur Netzkultur, Stuttgart (2014), S. 92 – 101. Außerdem die Sammelbände: Jörg F. Maas/ Simone C. Ehmig (Hg.), Zukunft des Lesens, Stiftung Lesen, Mainz (2013); Sebastian Böck et al. (Hg.), Lesen X. O. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart, Göttingen (2017).

Die Leitmetaphorik der sogenannten Wissensgesellschaft hat sich konsequent gewandelt. Die Imagekampagnen von Universitäten zeigen schon lange nicht mehr Menschen vor Bücherstapeln, sondern Studierende mit Headphones vor Bildschirmen. Das Callcenter gehört zur Emblematik der Postmoderne. Einen diesen neuen Gegebenheiten angemessenen Lektüre-­Begriff sucht man derweil jedoch vergebens. Über ‚Lesen am Bildschirm vers. Lesen im Buch‘ wird leider gerade kulturwissenschaftlich (also jenseits von empirisch-­psychologischen und statistischen Auswertungen) – wenn überhaupt – eher tastend und kurzatmig geforscht.313 Was genau beim Lesen von Büchern passiert, ist auch nach Jahrhunderten der Buchkultur noch schwer zu beschreiben. Ausführlichere Antworten auf die Frage, wie sich der Wandel der Materialität bzw. der ‚Material Milieus‘ (N. Pethes) des Lesens auswirkt, stehen aus.314 Selbst die Frage, ob das flüssige Lesen das wirklich modernere ist, oder eher doch das diskontinuierliche, scheint noch ungeklärt.315 Auf jeden Fall gehören beide zur Geschichte des Lesens. Machen wir doch auf die Schnelle einen Versuch: Jemand empfahl ein Buch. Man schaffte es an, weil man derjenigen oder demjenigen Urteilskraft zutraute. Man fing an zu lesen. Wenn man ‚reinkam‘ in das Buch – wie es so schön hieß –, las man weiter und strich sich vielleicht Stellen an, die für besonders wichtig, für prägnant befunden wurden oder Stellen, die einen begeisterten, wenn sie z. B. eine eigene Lebenssituation wunderbar auf den Punkt brachten. Prägnant und pregnant sind verwandte Wörter – man ging mit dem Buch im Wortsinn eine Weile schwanger.316 Jahre später nahm man das Buch vielleicht wieder hervor, um es anhand der eigenen Unterstreichungen – und in schöner Erinnerung an die Zeit der ‚Schwangerschaft‘ – noch einmal durchzugehen. Man wollte die durch die Unterstreichungen

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lesen

von einem selbst verfertigte Kurzform des Buchs benutzen. Man kannte es ja schon. Merkwürdigerweise aber stellte man dann fest, dass nur unwichtige Stellen angestrichen worden waren. Oder auch Stellen, die aus der Distanz der Jahre nun furchtbar kitschig wirkten – gerade mit Blick auf vermeintliche Gefühlslagen von damals. Das Buch wurde also erneut durchgegangen. In diesem Moment setzte ein Lernprozess über die Bandbreite und Tiefe des Themas und der Erzählung ein. Es fanden sich andere wichtige Stellen, und gleichzeitig lernte man etwas über sich als Leser oder Leserin – und über das Lesen als solches. Es begann sich für einen selbst wie auch für das Thema eine Art historischer Sinn auszuprägen. Man sah, dass man durch ein bestimmtes Lesen ein anderer wurde, bzw. dass man als ein anderer, älterer, auch anders las. [➤ Formatieren, S. 154]

* Für ein im weitesten Sinne auf Bildung zielendes Lesen und Lernen brauchte es lange Zeit angeblich einfach nur die richtigen Bücher, die man dann mindestens zweimal zu lesen hatte.317 Machen wir die Probe: Gehoben unterhaltsam ist der ironisch-­überlegene Tonfall in Thomas Manns Zauberberg von 1924 zweifelsohne, aber wie soll man denselben Roman als Bildungsprogramm lesen? Beispielsweise so: Man versetzt, ja versenkt sich lesend derart intensiv in das Milieu und die metaphysischen Debatten der Romanfiguren um Hans Castorp, dass der Ernst ihrer Themen, die Plastizität ihrer Gedanken, selbst im Fluss der angenehm geistreichen Unterhaltung für einen Moment auf den Leser übergreift. Diese Stockung des unterhaltsamen Leseflusses rechtfertigt dann eine Unterstreichung im Text, eine Denk-­ Pause, und kann langfristig ein etwas schwerer wiegendes Sinn-­ Sediment im Leser auf die Reise schicken. Dieses kann sich mit gleichgearteten verbinden. Eine solche Kette von Anstreichungen oder Sedimenten ermöglichte dann eine verkürzte, aber intensivierte Zweitlektüre. [➤  Wiederholen, S. 361] Die Debatten bekommen

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314 Vgl. die Beiträge in Pál Kelemen/ Nicolas Pethes (Hg), Philology in the ­Making. Analog/Digital Cultures of Scholarly Writing and Reading, Bielefeld (2019) und Harun Maye, Blättern/ Zapping. Studien zur Kulturtechnik der Stellenlektüre seit dem 18. Jahrhundert, Zürich (2019). 315 Nach Carlos Spoerhase, Lese lieber ungewöhnlich. Die Klage über den Schwund der versunkenen Lektüre geht ins Leere, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10. 2015, S. N4. 316 Vgl. Albert Paris Gütersloh, Über Prägnanz, in: Die Rettung. Blätter zur Erkenntnis der Zeit I, 12/14 (21. 03. 1919), S. 120. 317 Vgl. Georg Stanitzek, ‚0/1‘, ‚einmal/zweimal‘ − der Kanon in der Kommunikation, in: Bernhard J. Dotzler (Hg.), Technopathologien, München (1992), S. 111 − 134.

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schärfere Konturen, werden als Positionen erkennbar. Man beginnt gewissermaßen leise mitzudebattieren: 318 Klaus Weimar, Lesen: zu sich selbst sprechen in fremdem Namen, in: Heinrich Bosse/ Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg/Br. (1999), S.  49 – 62, hier: S. 55.

Der Akt des Lesens ist ein in sich geteilter oder doppelter: ein Versprachlichen der Schrift einerseits und ein Vernehmen der Sprache andererseits, und zwar nicht abwechslungsweise, sondern stets untrennbar zugleich. Beim Lesen sind wir Sender und Empfänger zugleich.318

Man trägt die Positionen vielleicht sogar laut nach draußen, um selbst Gespräche zu führen, die den ‚nur‘ angelesenen Debatten ähneln sollen. Das Buch bildet, indem man es selektiv nachbildet und variiert. Jahre später nimmt man das Buch erneut zur Hand und staunt über die eigenen Anstreichungen. Sofort möchte man neue, andere machen. Der Bildungsprozess springt anders wieder an, das Buch lag als Anlasser die ganze Zeit bereit.

* Natürlich waren von Anfang an auch Institutionen im Spiel. – Wer liest den Zauberberg, der in beiden deutschen Staaten einmal zum Schulkanon gehörte, schon freiwillig (vor der Rente)? Aus der Sicht der Institutionen stellt sich der Bildungsprozess als Lektüreprozess ungefähr wie folgt dar: Wichtig ist erst einmal, dass man überhaupt ein Buch zur Hand nimmt. Genau das kann die Schule veranlassen, es kann aber auch ein – gerade im Kontext offiziöser Lesezwänge besonders attraktiver – konkurrierender Zufallsfund sein oder die Empfehlung einer (aus Sicht der Institution) zweifelhaften Autorität. Unter Umständen wird einem eine Deutung schon nahegelegt, denn man liest oder hört, begleitend zur gerade laufenden Lektüre, etwas. Dann kommen Zweifel auf. Man legt sich eine eigene Deutung zurecht. Man liest vielleicht erneut. Die Konturierung der eigenen Interpretation ist gleichzeitig eine Festigung der Überzeugung, überhaupt zu eigenen Ansichten über die Dinge kommen zu können. Diese eigenen Ansichten können tatsächlich aber nur eigens hervorgehobene Textpassagen sein. Paradoxerweise honoriert die Institution 196

lesen

nun genau diesen Effekt der Abweichung. Bildung geht hier gerade nicht in Enzyklopädik oder Wikipädik auf, auch nicht in lückenlos kontrollierbare didaktische Lernschritte oder neueste technische Zugänglichkeitsstandards. Bildung zeigt sich hier – durchaus an Lebensalter gebunden – eher in einem handgreiflich-­verdichtenden Reflexions- und Stellenmanagement der Lektüre. Sie zeigt sich in einem folgenreichen metaphysischen Erlebnishalt des Lesers, in einer Mindestintensität der Auseinandersetzung mit dem Text. Auch Zufall statt Planung scheint im Spiel zu sein. Dem kommt die Buch- und Romanförmigkeit des Stoffs sogar entgegen. Das Aufschlagen eines Buchs verhilft definitiv zu einer anderen Art von Zufallsfunden als die Vollbremsung beim Hochgeschwindigkeits-­Scrollen durch einen elektronischen Text oder aber die ‚Volltextsuche‘! „Wer ein Lernender ist“, notierte Peter Sloterdijk bei seiner Analyse der Schrecklichen Kinder der Neuzeit, „häuft nicht bloß Informationen an. Er versteht, dass wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung an sich hat“ 319. Gut jedenfalls, dass man das Buch als Anleitung und Auslöser für den eigenen fortschreitenden Individualisierungs- und Festigungsprozess überall hin mitnehmen konnte, um es hingebungsvoll mit Bleistift, Kugelschreiber oder Textmarker zu malträtieren. Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach hat dem bekritzelten, verknickten, beklebten, eselsohrigen Buch 2015 eine große Ausstellung gewidmet: Der handfeste Gebrauch der Bücher als explizit museales Thema.320 Wer hätte das gedacht? Immerhin passt Hingabe gut zu Bekehrung. Diese hält (wie jene) eine Weile, um dann von der nächsten abgelöst zu werden. Anders als die religiöse Bekehrung führte das nachhaltige Bildungserlebnis meistens ‚nur‘ zurück in die profanere Welt der vielen Bücher. Man liest eine Zeit lang noch mehr in dieselbe Richtung.

* Das Phänomen kollektiv ausgedehnter Erweckung durch Bücher nannte der Politologe Benedict Anderson schon 1983 in einer glücklichen Wendung eine Imagined Community.321 Andersons nur auf den 197

319 Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-­genealogische Experiment der Moderne, Frankfurt/M. (2014).

320 Heike Gfrereis (Hg.), Das bewegte Buch. Mit einem Essay von Claus Pias, Literaturmuseum der Moderne, Marbach (2015).

321 Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (1983), Berlin (1998).

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ersten Blick willkürlich erscheinender Beispielfall war die Romanliteratur der um 1900 nach Unabhängigkeit strebenden indonesischen Nationalbewegung. Es ging um einige wenige Bildungsromane einer jungen Generation zukünftiger Indonesier, deren Heldenfiguren sich, auf ihren Reisen quer durch Niederländisch-­Ostindien, schon überall dort stellvertretend für den Leser das neue Indonesien vorstellten (imaginierten), wo die Mehrzahl noch die alte, herzlos-­ engmaschige Bürokratie einer europäischen Kolonialmacht am Werk sah. Wichtig an diesem Beispielfall ist aber letztlich auch nicht der dafür gefundene schöne Begriff, sondern die Tatsache, dass das Gemeinte als medialer Zusammenhang analysiert wurde. Es handelt sich nämlich um unzählige individuelle, simultan ergehende Romanlektüren, die die poetische Vorstellungskraft der vielen folgenreich mit einem politischen Projekt der wenigen kurzschlossen.

322 Das Rote Buch. Worte des Vorsitzenden Mao Tse-­Tung, Frankfurt/M. – Hamburg (1967).

Wie geht das im Vergleich zu der intensiven, aber vor allem unterhaltsam-bildenden Individuallektüre des Zauberberg? Vielleicht so: Man liest – noch allein – in die Fiktion Ausblicke auf eine politische Zukunft hinein, die für einen selbst eine größere Rolle vorsieht als die perspektivlose Gegenwart. Ein einzelnes Buch kann dann bei einem einzelnen Leser die Aussicht auf einen Macht- und Bedeutungszuwachs unter vielen so anlegen, dass für ihn daraus nicht mehr die Wahl für ein weiteres Buch resultiert, also eine weitere vertiefende Lektüre, sondern die Option für politisches Handeln. Er sucht Mitstreiter, die das Buch genauso erlebt haben – und wie er selbst erst durch diese Lektüre zum Handeln disponiert wurden. Dann werden Mitstreiter in der richtigen Lektüre unterrichtet, die zum richtigen Handeln anleitet. Mit dem sogenannten Roten Buch Mao-­Tse-Tungs in der Hand wurde die Kulturrevolution in der Volksrepublik China und anderswo nicht mehr nur skandiert – das Buch kursierte weltweit in etwa 1 Milliarde Exemplaren –, sondern mit der gleichen rhythmischen Gestik auch schon kollektiv marschierend in die Tat umgesetzt.322 Das ist eine äußerst handgreifliche Rückkehr zum Buch, eher noch ein Kontakthalten, während man es schon in die Tat umsetzt. Sie endet erst, wenn sich die aus ihm herausgelesene Perspektive in härtester Gangart einlösen ließ. 198

lesen

* Sich dagegen – als Leser oder Leserin – einfach aus der Politik heraushalten, einfach beim Roman bleiben, fällt tatsächlich schwer: Der Leser soll nicht hindurcheilen, sondern mit einer tieferen Idee vom Ganzen jede Station, jedes Erlebnis, jedes Kapitel als ein auslegungsbedürftiges pars pro toto zu sich nehmen. Flüssig, aber mit reflektierten Verweilpausen: Lese- und Lebensanleitung kommen fast überein. Wenn Wilhelm Raabe umständlich den Lebensweg seines Flickschustersohnes Johannes Unwirrsch – wir denken noch einmal an Winckelmanns ärmliche Stendaler Herkunft [➤ Durchstarten, S. 93] – schildert, fällt es schwer zu entscheiden, ob der Passus vom Leben oder vom Lesen handelt: Es sah um diese Zeit wunderlich aus in der Seele des Kandidaten der

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Gottesgelahrtheit Johannes Unwirrsch aus der Kröppelstraße. In-

Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor (1864), Sämtliche Werke. ­Braunschweiger Ausgabe. Sechster Band, hg. v. Karl Hoppe, Göttingen (1953/ 1966), S. 248 f.

mitten des Getriebes, nach welchem er sich so gesehnt hatte, stand er; niedergestiegen war er, und das große Brausen hatte sich aufgelöst in einzelne Stimmen und Töne, und mehr grelle und böse Stimmen als liebliche vernahm er um sich her. Er fühlte sich unbefriedigter als je, und sagen musste er sich, dass er ein Verständnis für diese Welt noch nicht gewonnen habe. Er gehörte nun einmal zu jenen glücklich-­ unglücklichen Naturen, die jeden Widerspruch, der ihnen entgegentritt, auflösen müssen, die nichts mit einem Apage! beiseite schieben können. Er hatte eben jenen Hunger nach dem Maß und Gleichmaß aller Dinge, den so wenige Menschen begreifen und welcher so schwer zu befriedigen ist und vollständig nur durch den Tod befriedigt wird. […] Die Einzelheiten, welche sich aus der Allgemeinheit abhoben, drängten letztere nicht so zurück, dass er sie aus den Augen verloren hätte, und das Allgemeine macht den denkenden Menschen unter keinen Umständen grillenhaft, sondern erweitert seine Seele selbst durch den Kummer.323

Man kann wie Johannes Unwirrsch in einer abgelegenen Pfarrei am Meer verschwinden, „seine vita nuova am Strande der Ostsee“ (W. Raabe) führen und nicht Schriftsteller werden. Man kann in das 199

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324 Michael Christian Rutschky, Ein Jugendbuch. Ernst Jüngers ‚Die Zwille‘, in: Frankfurter Hefte, 28. Jg., H.9 (1973), S.  669 – 672, hier: S. 671.

Wahrnehmungsschneegestöber eines Weltkrieges entgleiten wie Hans Castorp oder mit ein wenig Zeichentalent und überbordender Fantasie wie Jüngers Clamor von der Schule fliegen. – „Auflösung einer Konstellation“ 324 nannte Michael Rutschky das. Auch das hat in Bildungsromanen Platz, auch das ist eine Lösung: „Aber wenn sich auch sein Leben im ‚engsten Ringe‘ zusammengezogen hatte, so war es doch kein enges Leben.“ 325

*

325 Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor (1864), Sämtliche Werke. ­Braunschweiger Ausgabe. Sechster Band, hg. v. Karl Hoppe, Göttingen (1953/ 1966), S. 442.

Um Bildungsromane – inklusive des eigenen – mit all ihren Ideen, all ihren Nuancen und ihrer Ironie lesen zu können, brauchte man besondere Leser. Vor allem die neuen höheren Schulen brauchten eine Lektüretechnik und einen Kanon, ein Programm für diejenigen, die über die elementare Lesekompetenz hinaus weiter gefördert und ausgebildet werden sollten, denn lesen konnten sie ja irgendwie schon. Ziel des neuen bildenden Lesens war eine höhere Lese-­Kompetenz, die dann ‚verstehen‘ genannt wurde. [➤ Bildung als historische Kulturtechnik, S. 41] Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wird bei der höheren Bildung in den deutschsprachigen Territorien bevorzugt ein Wissen abgefordert, das in seinem Umfang kontrollierbar bleiben soll durch einen steten Abgleich des Dazugewussten mit der Norm individueller Selbst-­Vervollkommnung unter der Aufsicht einer Institution. Das geeignete Buch über ein fremdes Leben korrespondiert erst, wenn es mehrfach gelesen wurde, unter Umständen genauer mit den Problemlagen des eigenen und provoziert noch weitere Lektüren desselben Buchs. [➤ Empfinden, S. 114/➤ Formatieren, S. 154] Ernst Jünger machte früh selbst vor, was er seinen Helden später empfahl: Zum wievielten Male beschäftigt mich jetzt der ‚Raskolnikow‘? Ich habe das Buch schon mit sechzehn Jahren gelesen – als Kriminalroman. Nun bewege ich mich darin wie in einem Hause, in dessen Kammern ich lange gelebt und geträumt habe. Zugleich wird die Lektüre peinlicher. Schon über Marmeladows Beichte kommt man schwer hinweg. Ein Meisterstück der Selbstvernichtung, ausgenommen die zwei, drei Stellen, an denen der Titularrat, was ihm nicht zukommt,

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lesen

von Vergebung spricht. Ich kann das nur bewältigen, indem ich vor-

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und nachher eine Seite Nietzsche lese – ich habe mir die vorzügliche

Ernst Jünger, Brief an Henri Plard, 25.01. 1983, zit. n. E. J., Siebzig verweht III, Stuttgart (1993), S. 229 – 231, hier S. 230 f.

Ausgabe von Colli und Montinari gekauft.326

Bildung als Konzept wies also nicht den kürzesten Weg zu rein funktionalen Fertigkeiten, sondern zielte auf die übergeordnete Instanz des Geistes oder der Individualität, lieferte eine aufwendige Anleitung zu einer nur ungefähren Identifikation. Bildung formulierte so ein Ziel, dem alle zu erlernenden Einzelfähigkeiten und Tätigkeiten auf komplizierte Weise zuzuarbeiten schienen. Die Schwierigkeit dabei war, dass das prozesshafte Ziel in seinem irgendwie undurchsichtigen Erreichen abprüfbar bleiben musste – bis eine Art Reifezeugnis des Geistes oder Individuums erstellt wurde. Das machte seit 1781 – zuerst in Preußen – unter anderem der Schulaufsatz.327 Das bildende Lesen interagierte deshalb mit einem anderen Mediengebrauch: dem Schreiben. Was wir durch die intensivierte, aber nicht mechanisierte Lektüre lernen, wird durch ein eigenes, nicht exakt nachahmendes Schreiben erst nachvollziehbar und sichtbar. Wir paraphrasieren den Text oder die als zentral identifizierten Passagen, indem wir über sie schreiben, indem wir das Gelernte und Gelesene durch eigene Worte als individuell Verstandenes ausweisen. Allerdings gibt es auch seit eh und je das Gegenteil [➤ Pauken, S. 206]: 10. September 1919. Es nähern sich die Prüfungen in den Fächern, die mir noch fehlen, um das Studium der Anwaltslaufbahn zu beenden. Ich muss die Handbücher lesen und den Inhalt möglichst auswendig lernen, um zu verhindern, dass die Examina ein vollständiges Desaster werden. Ich tue es ungern und ohne Interesse: eigentlich verstehe ich nichts von dem, was ich lese. Ich verstehe nichts davon. Das einzige, was ich tun kann, ist zu versuchen, dass das Gedächtnis das, was ich lese, eine gewisse Zeit (eine eher kurze Zeit, nehme ich an) behält.328

*

201

327 Nach Leif Ludwig Albertsen, Stichworte zu einer neuen Strukturierung der angeblichen Dichotomie von hoher und niederer Literatur zur Zeit der deutschen Klassik, in: Christa Bürger/ Peter Bürger/ Jochen Schulte-­Sasse (Hg.), Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, Frankfurt/M. (1982), S. 232 – 240, hier: S. 235. 328 Josep Pla, Das graue Heft, Frankfurt/M. (2007), S. 210.

teil 2 – die bildungsdebat te

329 Vgl. dazu erhellend die Beiträge in Heidrun Allert/ Michael Asmussen/ Christoph Richter (Hg.) Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungs­ ielefeld (2017). prozesse, B

Wie steht es im Falle des Lesens um die Übertragbarkeit der einen buchgestützten Lektüretechnik in eine andere, neue digitale, bildschirmgestützte Technikkultur? Dass man das am Buch eingeübte, wiederholte Lesen prinzipiell auch über Digitalisate auf den Bildschirm übertragen kann, steht außer Frage. Dass es täglich unwahrscheinlicher wird, so vorzugehen, allerdings auch. Die diesem wiederholten Lesen im Buch korrespondierenden (Schreib-)Techniken des Notierens, Zusammenfassens, Abschreibens, An- und Unterstreichens, Paraphrasierens oder auch Auswendiglernens geraten außer Kurs, sie werden zu Techniken der Peripherie, werden zur Umgebung technisch gänzlich neuer Zentraloperationen. Wir sind in eine mächtige, verhaltensändernde digitale Lern- und Kommunikationsinfrastruktur verstrickt. Und doch reden einige hier bei uns in einem seltsamen pädagogisch-­didaktischen Wahn immer noch ganz naiv von ihrer souveränen und für ‚vorgegebene Lernziele optimalen instrumentellen Nutzung‘.329 So als ob man sich nur entscheiden müsse, diese Technik jetzt richtig zu nutzen, um die alten Zwecke zeitgemäß zu verfolgen. Das ist – mit Verlaub – ein Unsinn. [➤ Kompetent sein, S. 168] Ein Beleg für diesen überhaupt nicht simplen Zusammenhang ist die Tatsache, dass wir nun zwar alle zwischen einer Unzahl von Bildschirmen hin- und herpendeln, auf denen unter anderem so viel Text wie nie zuvor zugänglich ist, dass aber die Lektüretechnik, die wir einigermaßen beherrschen lernen, um dort zu lesen, an das pergamentene Handschriftenzeitalter erinnert. Hier herrscht pure Ungleichzeitigkeit, von Fortschritten kann kaum die Rede sein. Lesen am und auf dem Bildschirm als kulturelle Form ist praktisch noch ein Niemandsland der Forschung und des Unterrichts. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, die alten ‚Bildungsziele‘, die man jetzt (scheinbar nur etwas kleinteiliger) Kompetenzen nennt, einfach mit hinüber nehmen zu können. Das zeigt schon das folgende, allgegenwärtige Kuriosum: Niemand hat sich trotz kognitionspsychologisch-­ pädagogischer Cluster-­Forschung an den Universitäten bisher für die Frage zuständig erklärt, warum sogar die sogenannten Digital Natives für eine intensivierte abprüfbare Lektüre die betreffenden 202

lesen

Texte lieber ausdrucken und mit einem Jahrtausende alten Blei-­Stift malträtieren. Aber: Die angesichts weitgehend flimmerfreier Bildschirme und exponen-

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tiell gewachsener Infrastruktur für die digitale Speicherung eigent-

Christian Benne, (Art.) Ausdrucken, in: Verf./ M. Bickenbach/ N. Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2, Köln – Weimar – Wien (2018), S. 53 – 68, hier: S. 68.

lich obsolet geglaubte Praxis des individuellen Ausdruckens scheint sogar lebendiger denn je.330

* Um diese Deutungslücke zu füllen – und es ist eine Lücke –, wird es nicht reichen, an den Universitäten einen modernisierungs- und militarisierungsaffinen Forschungsdiskurs Anno 1910 wieder auszupacken: Es wird nicht reichen, die neuen User in der Tradition der industriellen Psychotechnik vor den neuen Geräten aufzusuchen und zu vermessen.331 Auch Befragungen, wie lange welche Altersgruppe durchschnittlich vor Bildschirmen oder Displays hockt und dort liest (oder spielt, hört, scrollt, surft?), ändern an dieser Erkenntnislücke nichts. Messungen, wie oft dabei die Wimpern der Probanden klimpern oder welche kalkulierbaren Wanderungen der Sehepunkt (J. M. Chladenius) auf dem Bildschirm vornimmt, helfen lediglich der Werbeindustrie beim Platzieren von Click-­Bannern. [➤ Konsumieren, S. 180] Ihre Statistiken über die Wanderungen und Verweilorte der User im Netz sind ohnehin von einer Kulturwissenschaft, die noch zu wenig auf einen eigenen Standpunkt pocht, niemals einzuholen. Hier sind tatsächlich nur noch Geheimdienste konkurrenzfähig.

* Bleiben die Erkenntnisse der neuesten, auch neurophysiologisch und kognitionswissenschaftlich informierten Leseforschung und Medienanalyse. Sie hat sich gezwungenermaßen langsam auch mit der allgegenwärtigen neuen Form des bildschirmförmigen skim reading, des – wörtlich (Rahm) abschöpfenden – ‚überfliegenden‘ Lesens auseinander zu setzen. Die besondere ‚Physikalität‘ des Buchs, „the 203

331 Vgl. Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig (1914) und Eugen Rosenstock, Psychotechnik, in: Hochland, 17. Jg. (1920), Bd. 1, S.  510 – 526.

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332 Maryanne Wolf, Skim reading is the new normal, in: The Guardian, 25. August 2018. [Jetzt ausführlich: M. Wolf, Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen, München (2019)]. Schon einschlägig: Naomi S. Baron, Words onscreen. The Fate of Reading in a Digital World, Oxford (2016).

sense of touch in print reading“, heißt es hier, füge im Vergleich zum skimmen (am Bildschirm) der Informationsaufnahme „an important redundancy, a kind of ‚geometry‘ to words, and a spatial ‚thereness‘ for text“ 332 hinzu. Man könnte sagen, dass die spezielle Räumlichkeit und Präsenz buchförmiger Texte für wichtige Rückversicherungen beim Lesen sorgt. Diese neueste Forschung nennt genau das ‚technology of recurrence‘ (K. Littau/ A. Piper).333 Sie befestigt damit ihre Leitunterscheidung von skim versus deep reading bzw. rereading. Und nur dem deep reading und rereading im Buch attestiert diese Forschung – kulturkritisch zugespitzt – genügend Potential zur Wahrnehmung von Schönheit und Komplexität, zur Ausprägung von Empathie, kurz: „How rereadings aid in reflection, help us understand who we have become, and perhaps make us who we are.“ 334

*

333 Eine erste, wenn auch schlagwortartige Annäherung aus deutscher Sicht: Elisabeth von Thadden, Die berührungslose Gesellschaft, München (2018), S.  114 – 138. 334 Naomi S. Baron, Words onscreen. The Fate of Reading in a Digital World, Oxford (2016), S. 111. Dieselbe Frage bearbeitet, fast vierzig Jahre früher, schon eindrucksvoll Bruno Bettelheim, Kinder brauchen Bücher. Lesen lernen durch Faszination, Stuttgart (1982).

Noch einmal: Man kann nicht sicher sein, ob dieses scheinbare Kuriosum des Bleistiftgebrauchs auf papiernem Untergrund in digitalen Umgebungen (in Sachen ‚verstehendes‘ Lesen) einmal angemessene Untersuchungen und Untersuchungsmethoden (oder sogar geänderte Bildungspläne) nach sich ziehen wird. Wahrscheinlicher ist dagegen, dass die Modalitäten von Prüfungen solange Richtung Multiple Choice, Accelerated Reader und Anklicken – bzw. engmaschiger Tastenbewegungskontrolle – geändert werden, bis sie sich der neuen technischen Umgebung des Lesens und Lernens optimal angepasst haben. [➤ Nach der Interpretation, S. 56/➤ Ausstatten, S. 80] Wenn nun diese Art ‚Forschung‘ explizit vom Lesen als Kulturtechnik redet, kann man sich mindestens zweier Eindrücke kaum erwehren: Erstens geht es vor allem darum, die eigenen Produkte in den Markt zu bringen und zweitens fühlt man sich eher in eine Übung zur Vorbereitung einer Gehirnwäsche (als in eine noch irgendwie kulturwissenschaftlich inspirierte Ausführung über das Lesen) versetzt. Der Autor der folgenden Einlassungen ist immerhin Professor in Oxford und verantwortlich für eine brillante kulturhistorische Studie zur ‚Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten‘:

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Das Lesen ist ein gutes Beispiel. Ob jemand eine bestimmte Textstelle

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mehrmals las, weil er sie so schön fand oder weil sie schwer verständ-

Viktor Mayer-­ Schönberger/ Kenneth Cukier, Lernen mit Big Data. Die Zukunft der Bildung, München (2014), S. 24 f.

lich war, ließ sich bisher nicht unterscheiden. Haben Schüler Randnotizen zu bestimmten Absätzen gemacht, und wenn ja, wieso? Haben einige Leser die Lektüre abgebrochen, und wenn ja, an welcher Stelle? An all diese aufschlussreichen Informationen war bis zur Erfindung des E-Books schwer heranzukommen. Wird hingegen das Lehrbuch auf einem Tablet oder Computer gelesen, kann man derartige Signale sammeln, verarbeiten und einsetzen, um Schülern oder Studenten, Lehrern und Verlagen Feedback zu geben. Kein Wunder also, dass die großen Schul- und Lehrbuchverlage in den E-Lehr­ bücher-­Markt drängen. Unternehmen wie Pearson, Kaplan und McGrawHill benötigen Daten über den Einsatz ihrer Lehrmittel, um sie zu verbessern – und um weiteres Material anzubieten, das genau auf die Bedürfnisse der Lernenden zugeschnitten ist. Das kann nicht nur deren Leistungen verbessern, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der Anbieter steigern, da ihre Produkte relevanter und wirkungsvoller werden. Zum Beispiel hoffen die Verlage zu ermitteln, wie schnell (oder langsam) Schüler und Studenten das bereits Gelesene und vielleicht auch Gelernte wieder vergessen. Auf diese Weise wüssten sie, wann genau sie Wiederholungen anbieten müssten, damit sich die Information besser im Gedächtnis verankern kann. Eine Studentin würde dann etwa informiert, dass die Wahrscheinlichkeit, den Inhalt einer Auffrischungslektion in der nächsten Prüfung parat zu haben, um 85 Prozent steigt, wenn sie sich das Video am vorletzten und nicht am letzten Abend vor der Prüfung anschaut – auf keinen Fall aber am Prüfungstag selbst.335

Als Preis für den Erhalt einer der wahrscheinlich simpelsten didaktischen Fingerzeige seit Adams Zeiten wird hier allen Ernstes die umfassendste ‚zivile‘ Erhebung und Kontrolle persönlicher Daten lesender und lernender Menschen eingefordert, die die Welt bisher gesehen hat. Gerade hier erkennt man, dass die richtige Literatur immer schon viel weiter ist – in diesem Fall wiederum die von O ­ rwell.336

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336 Zu dieser Nähe: Andreas Bernard, Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur, Frankfurt/M. (2017).

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pauk en Der Bildungsuntergrund Was jetzt kommt, handelt von dem vermeintlich größtmöglichen Gegensatz zum Spielen, aber auch zum Sich-­Bilden oder zum Kritisieren, es handelt vom Pauken. Es ist zunächst nur eine Geschichte. Wie wird der Gegensatz hergestellt? Auffällig ist, wie es in dieser Geschichte – ganz wörtlich – eigentlich um eingeengte Spielräume geht. Ich habe sie Gregor von Rezzoris Autobiographie Mir auf der Spur von 1997 entnommen. Er hat diese Autobiographie – es war seine dritte – mit 84 Jahren geschrieben, ein Jahr vor seinem Tod. Gregor von Rezzori beschreibt das Pauken, also das studentische Schlagen mit schweren Spezial-­Degen, sogenannten Schlägern, wie er es Ende der 1920er Jahre selbst ausübte: Das Pauken war nicht Freizeit und es war nicht Schule, aber ein Spiel war es eben auch nicht. Was es war, ist für uns heute sehr schwer zu beschreiben und zu begreifen. Dass aber ausgerechnet das Pauken zur Nachtseite der Bildung geworden ist, versteht man spätestens, wenn man mit dem Zitat fertig ist: Als schlagende Verbindung verpflichtete das Corps seine Aktiven zu einer Reihe blutiger Mensuren. Die Vorbereitung dazu wurde täglich in einer Stunde auf dem Fechtboden vorgenommen, wobei eine Serie von einfachen Hieben einen seltsamen Begriff von Fechtkunst vermittelte. Beherrschte der Fuchs Quart, Terz, Hacke, Durchzieher, so wurde er zur Mensur herausgestellt. Der Körper verschwand hinter einem Lederpanzer. Mit vielen Binden und einem Lederschutz wurde der Kopf am Hals davon abgezwängt. Freigelassen blieben Schädel, Wangen, Ohren, Stirn. Vor die Augen kamen vergitterte röhrenförmige Brillen. Der linke Arm wurde nach hinten geschnallt und hielt den Hosenbund fest. Der rechte kam in einen ungeheuerlichen wattierten Armschutz, die Hand in einen ungeschlachten Handschuh. In diesen wurde der scharfe Schläger gesteckt. Weil der Arm in seiner Schutzwurst zu schwer war, um ihn waagrecht zu halten, stützte ihn ein Helfer. Ein Sekundant kniete mit gesenktem Schläger schräg vor dem

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pau k en

Paukanten hin und richtete sein Augenmerk auf den Gegner. Erblickte

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er eine Unregelmäßigkeit des Paukverhaltens oder einen sogenannten

Gregor von Rezzori, Mir auf der Spur, Bielefeld (1997), S. 91 f.

‚Blutigen‘, wenn der Gegenpaukant getroffen war, so fuhr er dramatisch auf und mit dem Schläger zwischen die Klingen der Paukanten. Auf das Kommando ‚Legt euch aus!‘ ‚Sie liegen aus!‘ wurden den Paukanten die schwerbepackten Arme mit den Schlägern übern Kopf geworfen. Auf ‚Los!‘ ging’s los. Gefochten wurde die ‚offene‘ Schule im Gegensatz zur ‚versetzten‘ – das heißt, die Hiebe waren einfach wie’s Einmaleins. Weil überdies Ripostzwang war, also jeder Hieb des Gegners sofort erwidert werden mußte, so kam dabei ein hastiges Gehacke der aufeinanderklirrenden Schläger heraus, bei dem die hinter ihren vergitterten Brillen blinden Fechter nur wünschen konnten, daß der Gegner mehr von den Hieben aufs Dach bekam als er selbst.337

Was allerdings ein wenig irritierend wirkt an dieser eindrücklichen Schilderung der Mensur auf dem Paukboden ist die Tatsache, dass sich auch die schlagenden Burschenschaftler hinter ihren Spezialbrillen, den sogenannten Paukbrillen, etwas sehr Ritterlich-Abenteuerliches vorgestellt haben müssen. Irritierend wirkt auch, dass sie eine merkwürdige technische Form wählen, um ein ursprünglich aufwendiges Kampfgeschehen der Frühen Neuzeit – das „altdeutsche Hiebfechten“ – wiederzubeleben und so zu simulieren, dass der eigene Bewegungsanteil und Bewegungsspielraum extrem reduziert wurde. [➤ Trainieren, S. 298] „Von einer Bewegungskunst“, schreibt Henning Eichberg, „wurde das Fechten zu einer Nervenprobe bei einseitiger Beanspruchung des schlagenden rechten Arms“ 338, in seiner bis heute maßgeblichen Kulturgeschichte des Sports. „Führung und Sitten dieser Studenten“ schreibt der deutsch-amerikanische Sozialhistoriker Hajo Holborn 1959 in A History of Modern Germany,

338 Siehe das Kapitel ‚Fechten‘ in: Henning Eichberg, Leistung. Spannung. Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./ 19. Jahrhunderts, Stuttgart (1978), S.  61 – 76, hier: S. 74 f.

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waren eine vulgäre Nachahmung derer des deutschen Adels. Mensuren und Kneipen waren die billigen Vergnügungen für Leute, die sich von dem kämpferischen Geist der Offiziere und deren Verachtung der zivilen Klassen beeindrucken ließen.339

207

Hajo Holborn, Deutsche Geschichte in der Neuzeit Bd. 1 (bis 1790), München – Wien (1970), S. 382.

teil 2 – die bildungsdebat te

340 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Piercings, Narben, Schmisse – von innen und außen, in: ders., Digital_Pausen. Konturen einer flüchtigen Gegenwart, Springe (2015), S. 171 – 176, hier: S. 175 f.

341 Sarah Obertreis, Sie will kämpfen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.86, 11.04. 2019, S. 8.

Hans Ulrich Gumbrecht hat auf die besondere ästhetische Dimension der Schmisse genannten Pauknarben hingewiesen, die sie auf verquere Weise mit den Piercings der Gegenwart verbinden lässt. Die mutwillige Infektion der Fecht-­Mensur-­Narben durch das ­Einlegen von Rosshaaren gehörte demnach zum Repertoire der schlagenden Verbindungen. Man trug sie als Körper-­Zeichen der Zugehörigkeit zu einer todesverachtenden Elite.340 Der deutschen Adelselite hatte ja auch Wilhelm Meister nachgeeifert. Ein wenig erinnern der angewinkelte und stark wattierte Armhandschuh, die vergitterte Spezialbrille, der Halsschutz, der zweite, auf dem Rücken fixierte Arm und all das auch an den Gamer der Zukunft, der – selbst fast unbeweglich oder auf dem Boden eines kleinen Zimmers hüpfend – die Monster und Fantasy-­Ritter in Gedanken und mit Serien merkwürdig reduzierter Hieb- und Stichattacken verfolgt. Außerdem – und das zeigt die Frauen-­Burschenschafts-­Simulation ‚Hysteria‘ in Wien als lupenreine Groteske – ist Gamen vor dem Bildschirm wie das Pauken auf dem Paukboden mal wieder fast reiner Jungens­kram. Die gerade anlaufende Forschung zu den Damenverbindungen, die allesamt nicht-­schlagend waren und sind, fördert derzeit Erstaunliches zutage: „Es gab eine Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts, als Frauen gerade erst an den deutschen Universitäten zugelassen worden waren, in der fast jede fünfte Studentin korporiert gewesen sein soll.“ 341

* So sollten wir nicht versäumen, gerade Spielen, Pauken und Lernen in ihren Abständen und Konstellationen, in ihrem Verhältnis zu den Geschlechtern, in ihrem Verhältnis zur Wiederholung und zu den Serien merkwürdig verkürzter Operationen, immer wieder zu durchdenken und zu bestimmen – bevor wir sie verurteilen oder auch propagieren. [➤ Spielerisch lernen,  S. 277] Das Pauken verkörpert schon wortgeschichtlich die Nähe von körperlicher Aktivität und Bildung. Ursprünglich bezeichnete es im weitesten Sinne ein als Schlagen zu verstehendes Pauken von Trommeln oder Gegnern bzw. Opfern. Ein Wörterbucheintrag zeigt, wie das Wortfeld sich gegen 208

pau k en

Ende der Frühen Neuzeit auf den häufig mit schlagenden Argumenten operierenden Lehrer ausdehnt: In der Schülersprache ist pauken ‚Unterricht geben‘, „weil es dabey

342

zum öftern ohne Schläge nicht abgeht“ [C. W. Kindleben, Studenten –

(Art.) Pauken, in: Trübners Deutsches Wörterbuch. Begründet von Alfred Götze. In Zusammenarbeit mit Eduard Brodführer und Alfred Schirmer, herausgegeben von Walther Mitzka. Fünfter Band: O – R, Berlin (1954), S. 65.

Lexikon, Halle (1781), S. 141] Hierzu Pauker ‚Lehrer‘, gekürzt aus Hosenpauker, das schon 1667 [ J. G. Mitternacht, Politica dramatica], und Arschpauker(us), das um 1700 zuerst auftritt [J. G. Zeidler, Sieben böse Geister, welche heutiges Tages guten Theils die Küster oder so genandte Dorff-­Schulmeister regieren]. Diese Gruppe ist noch bei gutem Leben und zeitigt junge Zusammensetzungen wie Paukerhöhle, -kontor, -stall ‚Lehrerzimmer‘ und Paukerkonvent ‚Lehrerkonferenz‘.342

Nachdem auch jenes duellförmige ritualisierte Schlagen der Studenten mit einem speziellen Mensur-­Degen auf dem sogenannten Paukboden in das Wortfeld geriet, wurde es Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Spezialbegriff für das wiederholende Einprägen von Lernstoff in den Schulen. Hier liegt eine selten thematisierte Nachseite von Bildung. In der Gegenwart wurde das Konzept ganz – und bis zur Unbrauchbarkeit – auf die Semantik von Kreativität, Möglichkeit, Freiheit und Selbstständigkeit eingelesen. Doch zum methodischen Kanon von Bildung gehört auch das Wiederholen von Stoff unter den Bedingungen selbst- oder fremdgesetzten Zwanges. [➤ Auswendig lernen, S. 85/➤ Wiederholen,  S. 361] Das disziplinierende Moment der Bildung ist nicht gerade sein Hauptmarketingfaktor geworden. Heute sehen wir, dass Bildungsprogramme – etwa Sprachunterricht zur kulturellen Integration, aber auch Modelle des akademischen Studiums ohne Anwesenheitspflicht – weitgehend und kostspielig ins Leere laufen können. Ob man das sofort dem Gesamtkonzept ‚Bildung‘ selbst anlasten muss, ist mehr als fraglich. Das Pauken gehörte schließlich einmal dazu.

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teil 2 – die bildungsdebat te

poli t isier en Der Bildungsbürger Der Intellektuelle sucht die Modelle der Herrschaft, an der er teilnehmen will, auf der Ebene, die seinen Wunschbildern zugänglich ist. A. Gehlen, Moral und H y p e r m o r a l (1969)

343 Grundlegend dazu: Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München (1985); Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M. (1994) u. Fritz K. Ringer, Felder des Wissens. Bildung, Wissenschaft und sozialer Aufstieg in Frankreich und Deutschland um 1900 (1992), Weinheim – Basel – Berlin (2003).

Es ist nun an der Zeit, etwas über die politischen Implikationen des ästhetischen Bildungsbegriffs und der hier zu seiner Illustration und Begründung herangezogenen Autoritäten zu sagen. Sowohl die Wahl des Begriffs ‚Bildung‘ selbst als auch die Auswahl derjenigen theoretischen Werke, die helfen sollen, die Aktualität des Konzepts zu plausibilisieren, ist von einiger politischer Brisanz: Auf Wilhelm Schapp (1884 – 1965), Hans Freyer (1887 – 1969), Leo Spitzer (1887 – 1960), Eugen Rosenstock-­Huessy (1888 – 1973), Herbert Schöffler (1888 – 1946), Hans Lipps (1889 – 1941), Ernst Jünger (1895 – 1998), Hans Weil (1898 – 1972), Hajo Holborn (1902 – 1969), Arnold Gehlen (1904 – 1976), Vilém Flusser (1920 – 1991) und Ivan Illich (1926 – 2002) wird hier immer wieder Bezug genommen. Diese Autoren sind ohne Zweifel auf ganz unterschiedliche Weise besonders eindrucksvolle Verkörperungen des deutschen Bildungskosmos und haben seine Prämissen immer wieder ausformuliert, aber auch herausgefordert und attackiert.343 Andere, hier häufig zitierte Autoren – wie z. B. José Ortega y Gasset (1883 – 1955) und Lewis Mumford (1895 – 1990) – hielten Tuchfühlung mit dieser Bildungs-­Welt: Ortega studierte an deutschen Universitäten, Mumford war ab 1932 längere Zeit zu Recherchen für Technics and Civilisation (1934) vor Ort. Beider Werke erschienen kontinuierlich und umgehend fast immer auch auf Deutsch.

* 210

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Ernst Jünger hatte sogar den eingangs erwähnten, in Hinsicht auf die (Staatsbürgerheran-)Bildung signifikanten dysfunktionalen Überschuss literarischer Bildung zu einem seiner Lebensthemen gemacht [➤ Prospekt, S. 13]: Die Lektüre des Ariost ist gefährlich; das wusste Cervantes schon.

344

Überhaupt setzt die literarische Bildung Maßstäbe, die in der Reali-

Ernst Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch (1970), [= Sämtliche Werke 13. Essays V, überarb. TB-Ausg.], Stuttgart (2015), S. 13.

tät nicht ausgefüllt werden können; das Spielfeld wird zu weit gesteckt.344

Das Wort Bildungskosmos sagt außerdem schon, dass wir es auch mit einer Topographie des Denkens und Schreibens zu tun haben, einer Bildungslandschaft, wenn wir über Bildung reden: In diesem deutschsprachigen Kosmos hatten neben Leipzig (Jünger, Rosenstock, Gehlen, Schöffler und Freyer), Köln (Spitzer, Schöffler) oder Heidelberg (Rosenstock), Freiburg i. Brg. (Schapp), Frankfurt/M. (Lipps, Weil), Berlin (Holborn) und Göttingen (Weil, Lipps und Schapp) auch Prag (Flusser), Breslau (Rosenstock) und Wien (Illich, Spitzer) einmal ihren je besonderen Platz. Die brutalen Umkehrschlüsse, die mit allerletzter Konsequenz aus dieser Topographie einer deutschen Idee gezogen wurden, sind genauso bekannt bzw. sollten es sein: Rosenstock, Spitzer, Weil, Holborn, Illich und Flusser wurden ausgerechnet von denjenigen außer Landes getrieben und mit dem Tode bedroht, deren Aufgabe es gewesen wäre, die ihnen gemeinsame Idee der Bildung gegen solche barbarischen Umtriebe aus den eigenen Reihen zu verteidigen. Dass das nicht geschah, weißt auf Implikationen, Umstände und Untiefen der Idee hin, die es weiter zu erforschen gilt. In welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen hier – zwischen Bildungsidealismus und Nationalsozialismus – eher Konvergenzen oder aber Unvereinbarkeiten zur Wirkung kamen, ist immer nur exemplarisch zu erfassen. Für viele weniger prominente Vertreter des Bildungsbürgertums wurde die NS-Zeit jedenfalls zu einer „barbarischen Probe auf die Tragfähigkeit ihrer bildungsbürgerlichen Ideale“ 345.

* 211

345 Notker Hammerstein, Vorwort, in: ders. (Hg.), Deutsche Bildung? Briefwechsel zweier Schulmänner Otto Schuhmann – Martin Havenstein 1930 – 1944, Frankfurt/M. (1988), S. 7 – 12, hier: S. 9.

teil 2 – die bildungsdebat te

346 Dazu Hans-­Christof Kraus, Drei Schutzgeister wachten über die Georgia Augusta (Schöffler, Plessner, Smend), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 05. 2002, Nr.119, S. 49. 347 Heinz Schlaffer erinnerte mit seiner Kurze(n) Geschichte der deutschen Literatur (München, 2002, S. 55 ff.) an die bis heute unwiderlegten Thesen Herbert Schöfflers.

Das kann hier selbstverständlich auch nur exemplarisch und nur in völlig unzulässiger Verkürzung geschehen. Herbert Schöfflers Biographie verkörpert auf noch einmal herausragende Weise Größe und Elend der deutschen Bildungsidee. Schöffler gehörte als Schüler des progressiven Karl Lamprecht, der ihn 1918 am Historischen Seminar der Universität Leipzig habilitiert hatte, zur konservativen Leipziger Schule der Kultursoziologie, der auch Hans Freyer sich zurechnete. Vor 1933 waren solche Anordnungen möglich. Ab 1923 bekleidete Schöffler ein anglistisches Ordinariat in Bern, 1926 wechselte er an die 1919 neugegründete moderne Universität zu Köln. Die Deutsche Biographie gibt weitere Auskunft über ihn: „Von seinem Amt als Dekan in Köln (seit 1932) wurde er 1933 entbunden, da er sich 1932 geweigert hatte, einen Aufruf zur Wahl Hitlers zirkulieren zu lassen. Gegenüber jüdischen Kollegen zeigte er sich solidarisch.“ 1941 wurde er von der Gauleitung und nationalsozialistischen Studenten wegen politischer Unbotmäßigkeit bedroht und vom Dienst an der Universität zu Köln suspendiert. Schöffler lehrte dann bis Kriegsende in Göttingen.346 1946 beging er in Leipzig Selbstmord. In Göttingen hatte man den unterdessen schwer depressiven Schöffler unmittelbar nach Kriegsende gezwungen, öffentlich seine Verstrickung in den Nationalsozialismus und seinen Antisemitismus einzugestehen. Vermutlich sahen die wirklich strammen Parteigenossen amüsiert zu.347

* Doch auf welchem gemeinsamen Fundament standen diese ‚Bildungsbürger‘ eigentlich? Obwohl in Deutschland die Naturwissenschaften und technischen Berufe (für Männer) schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert beeindruckende Karrieren ermöglichten – Technische Hochschulen im modernen Sinne gab es im deutschen Sprachraum seit ca. 1870 –, sahen sich diese Berufe weiterhin einem übergeordneten Programm von Bildung verpflichtet. Dieses Programm war eindeutig den sogenannten ‚Geisteswissenschaften‘ entsprungen. Zu nennen sind hier vor allem die Philosophie, die Klassische Philologie (Alt-­Griechisch und Latein), die Geschichts212

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wissenschaft und die – analog zur Klassischen Philologie gebildete – Deutsche Philologie (Neugermanistik). Aber auch Archäologie, Kirchengeschichte und Volkskunde (später: ‚Europäische Ethnologie‘) spielten um 1900 schon eine bedeutende Rolle. Heute nennt man diese Fächer immer häufiger ‚Kulturwissenschaften‘ und hat ihre Liste noch einmal kräftig ausgeweitet, um damit ihren sehr exklusiven Anspruch auf ‚Geist‘ etwas zurückzunehmen und denjenigen auf ‚Materialität‘ gleichzeitig auszubauen.348 [➤ Nach der Interpretation, S. 56] Die Stärke des alten Bildungskonzeptes war es, dass bei aller Geist-­ Versessenheit auch ein gut ausgebildeter Experte für ganz andere Dinge, ein Mediziner, ein Richter, ein Offizier oder ein Bergbau-­ Ingenieur beispielsweise, sich schnell und gesellschaftsweit über die Fundamente humanistischer Bildung verständigen konnte, da er sie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auch durchlaufen hatte. Das wiederum stabilisierte den common sense unter den Gebildeten.349 Dass aber die Naturwissenschaften um 1900 schon eine zentrale Stellung an den Universitäten einnahmen, konnte Rudolf Virchow am 3. August 1893 in einer Feierstunde zu der am 16. August 1809 gegründeten Berliner Universität befriedigt festhalten. Er zeichnete dabei akribisch die Stationen, Methoden und Sachthemen dieses bis heute anhaltenden Aufstiegs nach: Als Alexander von Humboldt endlich 1827 zu dauerndem Aufenthalt in die Heimat zurückkehrte […] war das für unsere Universität der definitive Uebergang in die naturwissenschaftliche Zeit. Man begriff mehr und mehr, dass die Naturwissenschaft nur in der Beschäftigung mit der Natur selbst erfasst werden könne und dass zu einer dauerhaften Verbindung der Wissenschaft mit den realen Dingen grosse Anstalten erforderlich sind: Museen, Sammlungen, Laboratorien, Institute. Ganz besonders trat dies hervor, als erkannt wurde, dass der Versuch das wichtigste Mittel ist, die Natur zu einer Antwort über das Wesen, die Ursachen und das Geschehen eines Vorganges zu zwingen. […] die Sorge König Friedrich Wilhelm IV. war mehr den Kunstinstituten, als den wissenschaftlichen Anstalten zugewendet.

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348 Vgl. Friedrich A. Kittler (Hg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn (1980).

349 Es gibt verschiedene exemplarische und äußerst materialreiche Studien zu einzelnen bildungsbürgerlichen Familien, die diese Verhältnisse am besten analysieren und illustrieren. Zuerst: Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland. (Die Bassermanns), Berlin (1998), jetzt wieder: Carola Groppe, ‚Im deutschen Kaiserreich‘. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871 – 1981 (Die Colsmans), Köln – Wien – Weimar (2018).

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Nur durch eine Verkettung günstiger Umstände geschah es, dass in

Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. [Rede am 3. August 1893 in der Aula der Königlichen Friedrich-­ Wilhelms-­Universität zu Berlin, gehalten von dem zeitigen Rector Rudolf Virchow, Berlin (1893). (Zeitschrift) Freibeuter, H.27: ‚Fröhliche Wissenschaft‘ (1986), S. 97 – 106, hier: S. 102 f.

seiner letzten Regierungszeit, im Jahre 1856, das neue pathologische Institut errichtet wurde, das erste dieser Art, das überhaupt als selbständige Anstalt in der Welt geschaffen worden ist. Es dauerte glücklicherweise nicht lange, bis auch anderen Disciplinen ähnliche Anstalten, die meisten in ungleich prachtvollerer Gestalt, geboten wurden. Unter Kaiser Wilhelm entstanden die Paläste für das physiologische und das physikalische Institut; das chemische Institut wurde ganz umgestaltet, daneben ein zweites chemisches und ein pharmakologisches Institut erbaut, es folgten zwei anatomische Institute, das grosse Museum für Naturkunde mit dem zoologischen Institut, das hygienische Institut, – kurz, im Laufe weniger Jahrzehnte eine so grosse Zahl von Neubauten, dass gegenwärtig keine der experimentirenden Disciplinen bei uns ohne ein eigenes Haus und ohne die

351 Martin Nissen, Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848 – 1900), Köln – Weimar – Wien (2009), S. 85. 352 Vgl. Hans-­Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3: Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914, München (1995), S. 732. 353 Arnold Gehlen, Bürgerliche Literatur und Kunst (1971), in: ders., Zeit-­Bilder und weitere kunstsoziologische Schriften [= Gesamtausgabe Bd. 9], Frankfurt/M. (2016), S. 451 – 465, hier: S. 452.

nöthigen Instrumente ist.350

* Der republikanisch gesinnte Forscher und Politiker Virchow hatte mit Theodor Mommsen die liberale Deutsche Fortschrittspartei gegründet, für die er Abgeordneter im Reichstag war. Im Jahr seiner Rede verfünffachte sich die Zahl der Abgeordneten der radikal antisemitischen Fraktion um den Hofprediger Stöcker. Aber hierbei muss man eine massive Einschränkung gelten lassen: Das vielzitierte deutsche Bildungsbürgertum des langen 19. Jahrhunderts – jene „Anwälte, Richter, Verwaltungsbeamte, evangelische Pfarrer, Journalisten, Lehrer, Ärzte, Apotheker, später auch Architekten, Ingenieure und Chemiker“ 351 –, dieses Bildungsbürgertum, in dessen Zeichen angeblich das ganze Jahrhundert stand, machte in Preußen-­Deutschland zwischen 1850 und 1914 nie mehr als einen Anteil von ca. 250 000 bis ca. 650 000 Bürgern aus.352 Dennoch „imprägnierte es mit seinen wirtschaftlichen Grundsätzen die Staatsverwaltung“ 353, wie Arnold Gehlen schrieb. Es war eine Minorität, über deren Vorbildcharakter man weidlich streiten kann. Über die Substanz oder Festigkeit ihrer demokratischen, sozialen, fortschrittlichen oder wenigstens liberalen Gesinnungen braucht man den Streit erst gar nicht zu führen. Auch 214

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der Unterschied zu den heutigen Verhältnissen, in denen mindestens 50 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur geführt werden sollen, könnte größer nicht sein. Obwohl wir es in Deutschland im Falle des sogenannten Bildungsbürgertums offensichtlich mit einer Minorität zu tun hatten und haben, obwohl das Prestige der Naturwissenschaften seit 1850 beständig zugenommen hat, ist davon auszugehen, dass die Bildungsidee als Sockelidee für diese Tendenzen nicht tot ist. Dass entsprechende Ministerien immer noch so heißen, war ein schon erwähnter Anhaltspunkt. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass diese Idee in dem Kulturraum, in dem sie entstanden ist, selbst dann weiterwirkt, dass sie den Aufbau von Institutionen selbst dann weiterhin steuert, dass sie die Grundlinien individueller Lebensentwürfe selbst dann weiterhin vorzeichnet und dass sie das Verhältnis zu Gesellschaft, Staat und Technik selbst dann weiterhin noch mitbestimmt, wenn sie auf anderer Ebene längst verabschiedet scheint. Hier kommt zum Tragen, dass das Umbenennen von Gegenständen und Phänomenen zwar Änderungen und Verschiebungen zur Folge hat – aber häufig nicht die erwünschten.

Bildung als Endspiel auf dem Zauberberg Die Hauptrolle in einer besonders traurigen Variante solcher Verabschiedungsversuche von ‚Bildung‘ war leider ausgerechnet dem noch etwas verspätet jugendbewegten Kultursoziologen Hans Freyer vorbehalten. Sie ähnelte eher einem gewaltsamen Bestattungsversuch – und ereignete sich im Vorfeld des annus horribilis der deutschen Geschichte: Freyer startete wohl den umständehalber folgenreichsten Versuch, die Bildungs-­Idee zu Grabe zu tragen. Genau dort, in derselben Umgebung – in der Thomas Mann die mit Blick auf die Bildungsthematik so unvergleichlichen Gespräche des Zauberbergs angesiedelt hatte –, bei den ‚Davoser Hochschulkursen‘, sezierte Freyer 1931, ebenso irreparabel wie genüsslich, diese Tradition mit drei Vorträgen.354 Ähnlich wie im Falle Ernst Jüngers und seines Essays Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, der ein Jahr später erschien, 215

354 Vgl. Hans Freyer, Bildungskrise der Gegenwart, in: Die Erziehung, hg. v. Wilhelm Flitner, Theodor Litt, Herman Nohl, Eduard Spranger 6. Jg., Heft 10/11 (Juli/ August 1931), S.  597 – 626.

teil 2 – die bildungsdebat te

waren auch Freyers Person und seine Vorträge eine Art Maximalleistung der deutschen Bildungslandschaft und zugleich, in diesem historischen Augenblick, die gnadenlose Apostrophierung und Verkörperung ihres Endes. Diese beiden rhetorischen Interventionen waren – angesichts der ungeduldig erwarteten nationalrevolutionären Veränderungen – mit ihrem unbestechlichen Blick auf die Geschichte der Bildungsidee wohl die schärfsten (und dennoch empfindsamsten) Nekrologe auf die Idee der Bildung, die in Deutschland je gehalten worden sind. Mit der Installation eines politisch durchgearbeiteten Gestalt-­Begriffs, der ursprünglich ästhetisch war (und damit an der Wiege der Bildungsidee stand), wendeten sich beide in einer paradoxalen Bewegung gegen den idealistisch-­individuellen Bildungsbegriff und gleichzeitig gegen die völlige Quantifizierbarkeit und Technisierung als ultima ratio der Gegenwart.

355 Hans Weil, Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn (1930). 356 Ich berichte diesen unendlich aufschlussreichen, von keinem Kommentar wirklich einholbaren Vorfall, nach dem großartigen Kapitel ‚Vor dem Gestern (II): Hans Freyer und Hans Weil in Davos 1931‘ in Dieter Thomä, Gibt es noch eine Universität? Konstanz (2012), S.  112 – 124.

Einer der beiden Angreifer hatte sich allerdings derart auffällig bei dem vermeintlichen Gegner bedient, dass er ihn doch besser gleich hätte verteidigen sollen. Hans Freyer hatte nämlich ausgerechnet Hans Weils gerade erschienene Schrift Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips 355 so genau gelesen, dass er in der in Davos unmittelbar auf seine Vorträge folgenden Diskussion dem anwesenden (!) Autor Hans Weil „umfängliche“ Anleihen zugeben musste.356 Das hiermit vor aller Augen liegende Faktum, dass sie beide demselben Bildungskosmos entstammten und verpflichtet waren, nützte dem einen wenig, ja, sollte wenig später zur tödlichen Gefahr für ihn werden: Der 1927 in Göttingen mit Glanz promovierte Hans Weil musste nach Florenz fliehen und starb 1972, in seinem zweiten Exil, verarmt in New York.

* Welche Umgebung hatte Bildung 1931? Die totale politische Mobilisierung, die ab 1931 scheinbar unaufhaltsam erfolgte, war eine ideologisch-­manichäische Zuspitzung, in denen Kriegs- und Nachkriegsheere tatsächlich demobilisierter, latent gewaltbereiter Männer aufeinanderstießen. Beschrieben wurde die Situation mehrfach als 216

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Squadrismus (Sven Reichardt), als Generation des Unbedingten (Michael Wildt), als Europäischer Bürgerkrieg 1918 – 1945 (Ernst Nolte). Bildung wurde in eine aufgeladene ideologisch-­politische Stimmung hineingezogen, die vor allem Entscheidungen bzw. gesteigertes Bewusstsein für die Gegenwart als Ort der Entscheidungen – vulgo: nationale Parteinahme – forderte, um mit diesen zumindest rhetorisch am Prozess der politischen Willensbildung teilnehmen zu können. Die Richtung der Entscheidung – für die eigene Nation und den ‚Deutschen Geist‘ – war dann nicht mehr Gegenstand von Diskussionen. [➤ Eindeutschen,  S. 108] Institutionell und technisch hatten sich die Bedingungen von Bildung in den vorausliegenden Jahrzehnten nicht wirklich verändert, aber die Politik hatte sich in wenige, nicht präzise aber ausführlich ausformulierte Ideologien transformiert. Bildung selbst wurde dann zum Medium einer solchen (Rhetorik der) Zuspitzung, die zunehmend mit dem politischen Prozess verwechselt wurde bzw. das Feld des Politischen zu dominieren begann. In dieser Umgebung war es kein Wunder, dass gerade der Innerlichkeitsfaktor der neuhumanistischen Bildung zwar mit dem Deutschen Geist – als besondere Tiefsinnigkeit – identifiziert wurde, aber gleichzeitig im politischen Prozess als unzeitgemäßes, nicht aktivistisch genug angelegtes Bildungsziel angesehen wurde. Die technische Mobilisierung der Alltagswelt – wie Ernst Jünger das vollkommen richtig 1932 im Arbeiter beschrieben hatte – ging tatsächlich längst vor sich. In den Bildungsinstitutionen höherer Bildung war sie noch nicht angekommen. Politisch aber wurde diese Mobilmachung nun, nach 1933, zu einer Totalansicht der Gesellschaft geformt, der kein überliefertes Bildungsprogramm mehr entsprechen sollte.

* Weniger diskursiv als symbolisch war diese Bildungs-­Idee allerdings schon kurze Zeit vorher, am selben Ort und beim selben Anlass, vollständig erledigt worden. 1929 waren vor allem Wilhelm von Humboldts Ideen in Davos einem so denkwürdigen Akt der scheinbar spielerischen Verunglimpfung ausgesetzt, dass es einen noch heute 217

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357 Vgl. Michael Friedman, Carnap. Cassirer. Heidegger. Geteilte Wege (2000), Frankfurt/M. (2004). 358 Erneut nach Dieter Thomä, Gibt es noch eine Universität? Konstanz (2012), S. 118.

schaudert, wenn man die Details erfährt. Der junge litauisch-französische Student Emmanuel Lévinas, der viel später ein Mega-­Star der postmodernen Philosophie-­Szene werden sollte, war dazu von einem Studenten-­Kabarett in Davos auserkoren worden. Das abendliche Kabarett gehörte zum inoffiziellen Teil jenes berühmtesten der ‚Davoser Hochschulkurse‘, bei dem sich Ernst Cassirer und Martin Heidegger ein Streitgespräch lieferten.357 Als das Streitgespräch vorüber war, berichtet Jacob Taubes, trat an jenem Abend der weiß gepuderte Lévinas als Ernst Cassirer-­Darsteller auf den Plan bzw. auf die Bühne und wiederholte unentwegt, unter dem anschwellenden Gejohle des Publikums, einfach nur die Worte ‚Humboldt-­Kultur‘.358 Der Name des großen preußischen Reformers war innerhalb eines Jahrhunderts (selbst für die an einem solchen exquisiten Ort versammelten exquisitesten Profiteure seines Reform-­Werks) zur höhnischen Chiffre gelehrter Weltabgewandtheit und politischen Dilettantismus‘ verkommen.

Bildung und popkulturelle Mobilmachung Bestimmen wir jetzt die weiteren Umgebungen des deutschen Bildungsbegriffs in Deutschland um 1933. Wir stoßen auf eine, gerade für ‚Bildung‘ (im hier bisher ausgebreiteten Sinne) tödliche Ideologie, einer Übersteigerung des Staates gegenüber dem Subjekt, dem als Form der rassistisch-­staatsvergottende Traktat und die Rhetorik der Dauermobilisierung von Reserven entsprach. 1968 herrschte wiederum eine Umgebung hektographierter politischer Mobilisierungsschriften, die auf einen abstrakten Bewusstseinswandel drängten, dabei dem Einzelnen aber kaum mehr Aussichten anboten. Der Staat war das Ziel der Attacken, die Bewegung das Instrument dieser Attacken. Das Politische nahm hier – zusätzlich zur bekannten Form des Propagandistischen – schnell eine pop-­kulturelle Marktförmigkeit an. Die Art der Bild- und Phrasenzirkulation entstammte der mit der industriellen Werbung eng verschwägerten Popkultur. Die Bewegung artikulierte sich effektiv ausgerechnet in den Formen, die sie als Verkörperungen der Kulturindustrie bekämpfen wollte.

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Als Hartmut von Hentig im deutschen annus mirabilis unter dem programmatischen Titel Systemzwang und Selbstbestimmung das deutsche Bildungssystem angriff, war er also nicht der einzige, der das tat. Auch er wollte „dem Neuhumanismus, der langlebigsten Bildungstheorie in Deutschland, der es um ‚Verinnerlichung‘ ging“ 359, das zähe Lebenslicht endgültig ausblasen. Dabei unterschätzte er (schon bei sich selbst) die Macht der geschichteten Vertikalität (R. Koselleck) von Ideen: Der Mensch habe jederzeit ‚seine physische, psychische und soziale Existenz‘ ins Gleichgewicht zu bringen, schreibt Hentig nämlich ganz im Sinne der sozialen Anthropologie des Neuhumanismus und zieht damit auch die entsprechende vertikale Achse und ihren Orientierungswert wieder in sein Menschenbild ein. Nur halbherzig verwarf von Hentig das protestantisch-­neuhumanistische Ideal, um es fast im gleichen Atemzug wieder aufzurufen. Diesmal im Zeichen zeitgemäß-­opportuner Vokabeln und Phrasen wie ‚Veränderung‘ und ‚Veränderlichkeit‘, ‚Gesellschaftskritik‘ und ‚Bewusstseinswandel‘, ‚Erziehungswissenschaft als Leitdisziplin‘ (schon für Kinder):

359 Hartmut von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung. Über die Bedingungen der Gesamtschule in der Industriegesellschaft, Stuttgart (1968), S. 108.

‚Gebildet‘ aber ist man heute nicht für sich und gemessen an einem

360

Kanon, sondern in einem Zusammenhang von Personen und Aufga-

Hartmut von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung. Über die Bedingungen der Gesamtschule in der Industriegesellschaft, Stuttgart (1968), S. 73 u. 104.

ben und gemessen an der Möglichkeit zu lernen und zu kommunizieren. […] In den meisten Gesellschaften gibt es einen Anspruch auf Selbstdeutung und Steigerung oder Erneuerung des Bewusstseins, der nur von Personen und nicht von Institutionen erfüllt werden kann.360

Aus Innerlichkeit wurde einfach Bewusstsein. Man sieht auch hier, wie schwierig es tatsächlich ist, nach lautstarken Verabschiedungen, Umbenennungen und revolutionärer Kritik der Institutionen und ihrer Programme, etwas in der Substanz wirklich Neues anzubieten, das nicht in der beständig eindringlicher werdenden Beschwörung der Aktualität, Zeitgemäßheit und Überfälligkeit dieses Neuen aufgeht und etwas anderes als Persönlichkeiten adressiert. [➤ Revolutionieren, S. 266]

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361 Vgl. Michael Wolffsohn/ Thomas Brechenmacher, Denkmalsturz? Brandts Kniefall, München (2005).

362 Grundlegend dazu Detlef Siegfried, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (2006). Neuauflage m. e. Nachw. d. Autors, Göttingen (2017).

Von Hentig jedenfalls vollbrachte das Kunststück, die fortschreitende Industrialisierung vollkommen zutreffend in all ihren Facetten und Einflussnahmen zu beschreiben – ohne sie dabei irgendwie als relevante prägende Umgebung von Bildung zu analysieren. Die Veränderungen, die er im Bildungssystem forderte, verblieben rein auf der Ebene der Themen von Bildung und der Bewusstmachung und (vor allem der) Kritik der laufenden Prozesse in der Welt der Dinge. [➤ Kritisch sein, S. 185] Tatsächlich hatte sich aber die Umgebung von Politik mit weitreichenden Folgen (für diese) ebenfalls verändert: Das Jahr 1968 nahm – als Mobilisierungsphänomen – ganz anders und doch vergleichbar Gestalt an: Nach dem internen Bewegungsmuster der etablierten Wohlstandsgesellschaften des Westens wurde Politik in einen Kosmos aus blitzschnell zirkulierenden verkürzten Icons, Phrasen, Logos, Parolen und ereignisförmigen Versammlungsformen wie Happenings, Sit-­ins, Go-­ins usw. verwandelt. [➤ Umgeben, S. 307] Der Flash-­Mob ließ schon grüßen. Auch Brandts Kniefall am 7. Dezember 1970 bei einer Kranzniederlegung am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos gehört – als zirkulierendes Foto zumindest – schon in diese Reihe.361 Das Che-­Guevara-­Antlitz machte als Poster oder Sticker genauso schnell und effektiv die Runde wie das Bluna-­Logo. Die Ho-­Ho-­Ho-­Chi-­Minh-­Phrase erschallte genauso stakkatohaft und spontan wie ein Werbeslogan, der der Gesellschaft mit entsprechender musikalischer Untermalung eingehämmert wurde. Popkultur und Politik gingen eine Allianz ein, die die Bildung und ihre Institutionen (und Programme) erneut in eine gänzlich andere Umgebung versetzte.362 Hiermit ist ein mediengeschichtlich zentraler Gesichtspunkt der Politizität der 1968er Bewegung genannt. Ein erstmals offen zwischen ernsthafter Debatte und entspannter Unterhaltung changierender neuer Politikdiskurs bekam eine weitere Dimension: Bei der Zirkulation der Slogans und bildlichen Abkürzungen politischer ­Statements übernahm die Unterhaltung die Führung, wurde impulsgebend. Der ikonographisch und sloganförmig artikulierte Pau220

politisieren

schalprotest gegen eine als vielfach korrumpiert wahrgenommene Erwachsenenwelt lud sich entscheidend in der globalen Unterhaltungskunst auf: Man denke nur an Easy Rider oder die Unfähigkeit zu trauern, an Warhol oder Beuys.363 Derselbe, inhaltlich so schwer zu benennende Protest ließ sich nun erstmals massenhaft und effektiv als Sticker, T-Shirt, Plakat, Cover oder brisanter Snapshot mit den mindestens gleichermaßen expansiven Oberflächen und Distributionsmechanismen der neuen Konsumgesellschaft verschalten.364 [➤ Konsumieren,  S. 180] Gerade die existenzialistisch angehauchte Kunst und Literatur musste Unterhaltung und Agitation nicht mehr gegeneinander ausspielen. Sie agierte vielmehr – Jeder Mensch ist ein Künstler! –, indem sie fortwährend kleine, adaptierbare Bauteile und -pläne eines solchen Pauschalprotestes, der so erst alltagspolitisch wirksam werden konnte, in die Umgebung ­lieferte.365

363 Den globalen Charakter der 68er Bewegung in Deutschland betont vor allem Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München (2008). 364 Hierzu der Bildband von Gerd Koenen/ Andreas Veiel, 1968. Bildspur eines Jahres, Köln (2008). 365

Dass man sich beim Thema Bildung in solchen Umgebungen noch auf etwas anderes hätte besinnen können als auf das Schleifen ihrer Institutionen oder aber auf die Kaputt-­Didaktisierung auch noch ihrer kleinsten Schritte, liegt heute – anders als damals – fast schon auf der Hand.

221

Genau dazu und weiterführend: Dorothee Liehr, Ereignisinszenierung im Medienformat. Proteststrategien und Öffentlichkeit – eine Typologie, in: Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kulturund Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart (2007), S.  23 – 36.

teil 2 – die bildungsdebat te

pr ägen Die Bildungsmetaphern Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer ­gezogener Geist. Winckelmann, Geschichte d e s A l t e r t h u m s (1764)

366 Vgl. Ilka Becker, Die Berge des Selbst. Mineralreich und Bergwelt im Werk von Joseph Beuys, in: Wallraf-­Richartz-­ Jahrbuch. Jahrbuch für Kunstgeschichte Bd. LVIII (1997), S. 125 – 140, hier: S. 129.

der

Kunst

Es spricht vieles dafür, diesen Abschnitt im Märchenton beginnen zu lassen: ‚Als der Mensch begann, Erze zu schürfen und Metalle zu gewinnen‘, leitete er diejenige Epoche der Weltgeschichte ein, in der wir uns noch heute befinden. Diese Epoche ist geprägt von besonderen Waffen, Werkzeugen und Zahlungsmitteln. Einsprüche, dass wir längst im Zeitalter des Atoms, des Weltraumtourismus‘ oder des Digitalen angelangt seien, wiegen da nicht besonders schwer: Die Brennstäbe der Atomreaktoren werden immer noch von Stahlbetonkuppeln beschirmt, und selbst die grenzenlose digitale Liquidität der schon angebrochenen Zukunft rauscht immer noch durch kupferummantelte Glasfasern und endet in metallenen Mini-­Rechner-­ Gehäusen. Der Anblick von Lava aus halbwegs sicherer Entfernung könnte einen Menschen das erste Mal darauf gebracht haben, dass selbst die so felsenfest geschichtete Erde um ihn herum einer Feuer-­ Werkstätte entspringt. Von den Meistern dieser Werkstätte mag dieser Mensch andere Vorstellungen gehabt haben als wir Heutigen, aber der Anblick dieser glühenden Umstülpung seiner Umgebung könnte ihn ermutigt haben, diesen Prozess kontrolliert und im Kleinen selbst zu versuchen. Joseph Beuys fasste diese Aktivität im Erdinneren immer als „skulpturalen Prozeß“ 366 auf. Und wenn man nachliest, wieviel Arbeitsgänge, Zutaten und Umschichtungen des schon Geschichteten z. B. eine gute Schwertklinge ausmachten, dann ist die Analogie zwischen Gestein und Metall, zwischen in Jahrmillionen geschichtetem Fels und vorsätzlich geschmiedetem Stahl, alles andere als weit hergeholt. 222

pr ägen

Schmiede waren von Anbeginn an denn auch ein besonderes Personal: Der Schmied greift in unterirdische Prozesse ein und vermählt oder scheidet Elemente nach einem geheimen Wissen um ihre Verträglichkeit und Feindschaft. Er schmiedet Fest-, Gemeinschafts- und Ritualgefäße, er schmiedet eben Waffen. Diese Waffen scheiden Leben und Tod, aber symbolisieren ebenso das Verhältnis von Himmel und Erde – wie die archaische Doppelaxt. Der Schmied zieht umher, folgt den Vorkommen der verschiedenen Erze und verbreitet so dieses besondere Wissen. Dafür wird er verehrt und gefürchtet. Das Verarbeiten der Metalle ist nach Mircea Eliade ein ‚geburtshelferischer‘ Eingriff in das Verborgene der Erde.367 Die Schmiede nehmen Mutter Erde – Gaia – etwas aus dem Schoß. Sie greifen in das Wertvolle, das nur unterschwellig fließt und verläuft. Fertiger Mensch und gewonnenes Metall aber, so beschreibt es schon die Alchemie der Renaissance, kehren zur Wiedergeburt in die Erde zurück:

367 Vgl. Mircea Eliade, Schmiede und Alchemisten (1956/ 1976), Stuttgart (1980), S. 10.

Gleichweis wie der Mensch wiederum in seiner Mutter Leib gehen mag,

368

das ist: in die Erde, aus der der erste Mensch gekommen ist, und so, das

Theophrastus Paracelsus, De Natura Rerum. Neun Bücher (1538), in: ders., Werke Bd. V: Pansophische, magische und gabalische Schriften, hg. v. Will-­Erich Peuckert, Darmstadt (1968), S. 53 – 133, hier: S. 64.

ist aus ihr, an dem Jüngsten Tag zum andern Mal geboren wird, so können alle Metalle wiederum in den mercurium vivum gehen und mitsamt ihm solviert und ein mercurius werden, und durch das Feuer zum andern Mal geboren und clarificiert werden, wenn sie bis in die vierzig Wochen in steter Wärme, wie das Kind im Mutterleib, darin verharren.368

* Ebenfalls nicht mehr so weit hergeholt erscheint nun der Doppelsinn von Bildung: Das Verborgene und Unreine im Berg ist wie das verborgene Gute im Menschen: „Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Innres voller Schlacken ist?“ 369, schreibt Wilhelm Meister an Werner. Ernst Bloch beschreibt den alchemistischen Prozess in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Renaissance, gegen ihren schlechten Ruf als „Sudelmacherei und Goldmacherschwindel“, als „Reifmachen der Metalle“. Das Gute wird von Spezialisten zutage gefördert, es wird aufbereitet, weiterverarbeitet. Es könnte sonst verborgen und ungenutzt bleiben. „Die Dinge be223

369 J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), in: ders., Sämtliche Werke Bd. 5, hg. v. Hans-­Jürgen Schings, Münchner Ausgabe, München – Wien (1988), S. 288.

teil 2 – die bildungsdebat te

370 Ernst Bloch, Vorlesungen über die Philosophie der Renaissance, Frankfurt/M. (1972), S. 66.

371 Giambattista Della Porta, Magiae Naturalis sive de miraculis rerum naturalium /Libri XX, Neapel (1558), zit. n. Wolfgang Schivelbusch, Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion, München (2015), S. 87.

372 James Hutton, Theory of Earth, Edinburgh (1795). 373 Vgl. insgesamt Peter Schnyder, übereinander/ nacheinander. Zur Metapherologie der Schicht, in: Archiv für Begriffsgeschichte 59 (2017), S.  83 – 99.

finden sich in einem Bleigefängnis“, schreibt Bloch, doch „die Quintessenz, die in den Elementen als Gold, im Leib als strahlende Gesundheit, in der Welt als der gesamte Lebenszusammenhang durch Urlicht ausgedrückt wird, will herausgeführt werden“.370 Aber diese Analogie bekommt einen weiteren Eigensinn: Der Mensch, der sich bildet, schichtet eigenmächtig sein Herkommen um. Die scheinbar ewige Schichtung der Stände oder Anlagen in ihm wird umgestülpt. Der tonnenschwere Deckel der höheren Stände, der auf den niederen unverrückbar zu lasten schien, wird seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verrückt. [➤ Durchstarten, S. 93] Bildung wird zu einer neuen Scheide- und Destillationskunst, die am universalen Rohstoff Mensch vorgenommen wird, um ihn zu erhöhen. Diese Kunst lehrt wie die Kräfte und Tugenden der Dinge, die sonst durch die Last der Materie ganz verschüttet und unterdrückt waren, jedwedes gleichsam in einem sonderbaren Fach und Behältnis aufgefangen und viel reiner und dünner und ohne einige Vermischung der vorigen Unreinigkeiten aus Kräutern, Metallen, edlen und unedlen Steinen ausgezogen und in einen edleren und höheren Stand ja gleichsam bis in den Himmel erhoben werden können.371

* Nach der Alchemie veränderte eine zweite Revolution das Wissen von den Steinen, von der Erde, von den Erzen – und damit von der ‚Bildung‘. Eine neue Theory of Earth des schottischen Geologen James Hutton führte dem Rest der Welt 1795 unmissverständlich vor, dass die Erde eine chronologisch angelegte und lesbare Schichtentorte ist.372 Deren Wachstum und Bildung in der Dimension der sogenannten Tiefenzeit [➤ Verlangsamen, S. 314] gab den Menschen zwar eine weitere Metapher seiner Existenzbedingung an die Hand, aber es verwies diese Existenz auch an einen relativ kleinen Abschnitt auf der Skala solchen Wachsens und Schichtens.373 Nicht unwichtig dabei ist die Tatsache, dass die Schichten zunehmend von Menschen in maschinellen Ensembles freigelegt und abgebaut wurden. Über die 224

pr ägen

Konstruktion dieser Maschinen wird die Wissenschaft um 1830 zum „Anfang der natürlichen Zeit“ und synchronisiert diese gleichzeitig mit der neuen industriellen Zeitordnung.374 Die erzkundige Geologie lässt sich deshalb auch in ganz verschiedenen Formen der Rede über Bildung nachweisen. Der Bergassessor in der Salinenverwaltung Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, entnahm der Geologie fast alle seine Motive. Goethe hatte in seinen Schriften über die Metamorphose des Granits diese Art Bildungs-Geologie weit entwickelt. Er war 33 Jahre lang Direktor der Ilmenauer Bergwercks-­Commission in Thüringen. Auch Adalbert Stifter und Alexander von Humboldt pflegten diese Bildlichkeit und das zugehörige Wissen. Als aber der alte Geheimrat Goethe den jungen Oberbergrat Alexander von Humboldt um Hilfe bittet, mit ihm die drohende Ilmenauer Pleite abzuwenden, bekommt er einen Korb.375 Damit ist die Geschichte natürlich nicht zu Ende. Karl Marx fabrizierte 1878 unglaubliche 680 (spätere) Druckseiten Exzerpte geologischer Schriften wie etwa aus John Yeats’ The Natural History of the Raw Materials of Commerce. Zwischen 1850 und 1853 häufte er schon einmal einen solchen Notizen-­Berg auf. Vielleicht hatte ihn eine nachgeholte Lektüre von Georges Cuviers Diskurs über die Veränderungen der Erdoberfläche von 1825 dazu inspiriert oder die Folgen eines weltweit beachteten Streits von 1830 an der Pariser Académie des Sciences, in den Cuvier verwickelt war, auf dessen Werk aufmerksam gemacht. Heraus kam bei Marx schließlich eine gewalt(tät)ige Lehre tektonischer Verschiebungen gesellschaftlicher Verhältnisse, die das Individuum nicht mehr berücksichtigte.376 Dagegen gab es Widerstand, der sich aus denselben Quellen speiste: Rudolf Steiner hatte Goethes naturwissenschaftliche Schriften erneut herausgegeben und diese spezielle Geologie in seine Anthroposophie übernommen. Siegmund Freud näherte sich geologisch dem ‚Unbewusstes‘ genannten psychischen Komplex, indem er dort vorsichtig Schicht um Schicht gesprächstherapeutisch abzutragen versprach und sein Kollege C. G. Jung veröffentlichte 1944 ein monumentales Werk zu ‚Psychologie und Alchemie‘.377 225

374 Nach Helga Nowotny, die auf Geoffrey C. Bowkers unveröffentlichte Dissertation ‚If time ever was. The social and scientific perception of time in England and France in 1830’s‘ (University of Melbourne) verweist [H. Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt/M. (1989), S. 84 f.]. 375 Nach dem wunderbaren Artikel ‚Abgrund‘, in: Thea Dorn/ Richard Wagner, Die deutsche Seele, München (2011), S.  14 – 31, hier: S. 22.

376 Vgl. Karl Marx, Exzerpte und Notizen zur Geologie, Mineralogie und Agrikulturchemie März bis September 1878 [= Bd. IV/ 26 der Marx-­Engels-­ Gesamtausgabe], Berlin (2011). 377 C. G. Jung, Psychologie und Alchemie (1944), Gesammelte Werke. Zwölfter Band, 4. Aufl., Ostfildern (2017).

teil 2 – die bildungsdebat te

Schichtung und Wiederholung 378 Pierre Legendre, Die Narbe. An die Jugend, die begierig sucht… Rede vor Studenten über Wissenschaft und Unwissen (2007), in: ders., Vom Imperativ der Interpretation, Wien – Berlin (2010), S. 11 – 64, hier: S. 23.

Erstaunlicherweise wird die Bildlichkeit der Schichtung auch unter den Bedingungen des Informationszeitalters nicht aufgegeben. Pierre Legendre erläuterte 2007 vor Studenten zustimmend Spenglers ‚Geologie der Geschichte‘: Man kann auch anders denken, indem man die Eigenheiten der Zeit mit der Metapher geologischer Strukturen verbindet. Dann wird die Geschichte zur geologischen Zeit, zu einer Schichtung von Sedimenten. Vielleicht ist es diese Vorstellung, die zum Erfolg des berühmten

379 Der Klassiker ist Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart (1932). 380 Vgl. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin (1932). Ausführlich dann in: ders., Der Aufbau der realen Welt. Grundriß einer allgemeinen Kategorienlehre (1940), Meisenheim a. Glan (1949), S. 188 – 218. 381 Vgl. die Werke der überzeugten Nationalsozialisten Erich Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, Leipzig (1938) oder Philipp Lersch, Der Aufbau des Charakters, Leipzig (1938).

Buches Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (Wien 1918) beigetragen hat.378

Zehn Jahre nach Spenglers Jahrhundertbuch wanderte die geologische Metapher erstmals ausgearbeitet – über Karl Mannheim – in die Soziologie als ‚Lehre von der gesellschaftlichen Schichtung‘379 und weiter in die Philosophie, Psychologie 380 und Psychiatrie, wo sie als ‚Charakterologie‘381, als „Theorie der vertikalen Schichtung der Persönlichkeit“ 382, in den 1950er Jahren ihren Zenit erreichte.383 Seitdem treiben ‚seelische Schicht‘, ‚Gefühlsschicht‘ ‚geistige Schicht‘ und ‚animalische Schicht‘ auf eher trüben Gewässern psychologischer Wartung und Analyse.384 Es bleibt aber Reinhart Koselleck vorbehalten, in diesem um 1800 entstandenen geologischen Bild ganz genau die Verbindung zwischen historischen Zeitschichten, gesellschaftlichen Institutionen und individuellem Mediengebrauch (mit seiner Tendenz zu kollektiver Verankerung) zu skizzieren. Koselleck begreift, dass das Pendant zur longue durée geologischer Schichtung im Sozialen die Effekte der Wiederholung sind. Diese Wiederholungen aber werden von medialen Infrastrukturen verschieden organisiert – Koselleck sagt unübertroffen: ‚in den Leib diktiert‘. Daraus entstehen verschiedene funktionale Schichten, die dem Bewusstsein ad hoc selten zugänglich sind, sondern eher Bewusstsein tragen. [➤ Wiederholen, S. 361]

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Übrig bleibt dann oft nur ein viel zu pauschales, resignatives Empfinden allgemeiner Beschleunigung: Jede Verfassung, Institution und Organisation im politischen, sozialen oder ökonomischen Bereich zehrt von einem Minimum an Wiederholung, ohne die sie weder anpassungs- noch erneuerungsfähig wären. […] So enthalten alle menschlichen Lebens- und Hand­lungs­ bereiche unterschiedliche Wiederholungsstrukturen, die sich mit verschiedenen Veränderungsgeschwindigkeiten abschichtig gestaffelt wandeln. Dabei ist keineswegs davon auszugehen, dass sich alles gleichzeitig oder parallel verändert, sosehr sich alles im Sinne der Chronologie zugleich ereignet und auf schwer durchschaubare Weise zusammenhängt. […] Da sich die Wiederholungsstrukturen nie in gleichförmiger Weise reproduzieren, stellt sich theoretisch zwingend die Frage nach den unterschiedlichen Veränderungsgeschwindigkeiten, also nach Verzögerung oder Beschleunigung. Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn die subjektiven Erwartungshaltungen und ihre enttäuschten oder erfüllten Zielsetzungen strikt unterschie-

382 Hans Schiefele, (Art.) Schichtenlehre, Schichtentheorie, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R – Sc, Basel (1992), Sp.1267 – 1271 u. U. Gerhardt, (Art.) Schicht, soziale, in: ebd., Sp.1263 – 1267. 383 Eine grundlegende, nicht mehr ausgeräumte Kritik am Konzept in diesem Zusammenhang seit Albert Wellek, Das Schichtenproblem in der Charakterologie, in: Studium Generale 9 (1956), S.  237 – 248.

den werden von jenen Faktoren, die innerhalb der technischen Indus-

384

triegesellschaft wissenschaftlich messbare Akzelerationen den Men-

Ein Überblick bei Michael Kastor, Psychologie der Individualität. Mit Persönlichkeitstest, Würzburg (2003).

schen in den Leib diktieren.385

Dieser Gedanke Kosellecks wurde weder von ihm noch von anderen im Rahmen dieser geologischen Metaphorik weiter entfaltet, aber immerhin bezeichnet man das letzte konzeptuelle Update der Medienwissenschaft nicht zufällig schlicht als Geology of Media: The guiding conceptual ground of this book refers to geology: the science about the ground beneath our feet, is history and constitution, the systematic study of various levers, layers, strata, and interconnections that define the earth. It implies […] Geology becomes a way to investigate materiality of the technological media world.386

*

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385 Reinhart Koselleck, Einleitung (2000), in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. (2003), S. 9 – 16, hier: S. 14 f. 386 Jussi Parikka, A Geology of Media, Minneapolis – London (2015). S. 4.

teil 2 – die bildungsdebat te

Viel gegenwärtiger aber ist das sogenannte ‚Data-­Mining‘. Wörtlich ins Deutsche übersetzt heißt es ‚Daten zutage fördern‘. Auch dieser Ausdruck lehnt sich an den Bergbau an. Das ist insofern merkwürdig, als doch die neue Daten- oder Informationsgesellschaft als saubere und smarte Welt gilt, aber nicht als schweißtreibende, kohlenstaubige und dunkle Arbeitsunterwelt, die von Abraum, Gruben und Schächten geprägt ist. Doch Kritiker dieser sauberen neuen Welt verweisen seit langem darauf, dass die Rohstoffe für diese Bildschirmund Smartphone-­Welt vor allem in kongolesischen oder chinesischen Gruben gewonnen werden, deren Arbeitsbedingungen mittelalterliche Kinderarbeit noch als Idylle erscheinen lassen. – Gemeint sind die mit dem fantastischen Obergriff ‚seltene Erden‘ versehenen Elemente wie Europium oder Erze wie Coltan. Ein erster Bezug ist also hergestellt: Die schöne neue Datenwelt hat einen materiellen Sockel, der in ‚einem Land weit jenseits der Apple-­Stores‘ unaufhörlich von den ‚neuen Sklaven‘ aufgeschüttet werden muss. Sie sind von der Zirkulation der Zeichen und Waren der höheren Konsumwelt ausgeschlossen – und ackern bestenfalls, um den Anschluss an diese Welt irgendwann wenigstens noch für ihre Kinder zu schaffen.

387 Jacques Le Goff, Geld im Mittelalter, Stuttgart (2011), S. 232.

Diese Beschaffungsverhältnisse der globalisierten Konsum- und Kommunikationswelt erinnern ein wenig an die Verhältnisse Europas, als es die ‚Neue Welt‘ für sich entdeckt hatte. Der seit dem 15. Jahrhundert von Spanien aus erzwungene Verkehr zwischen Mittel-­Amerika und Süd-­Europa brachte nicht nur unermessliche Güter und Kostbarkeiten wie das sprichwörtliche Gold der Inka in die Heimat, sondern initiierte auch einen gesteigerten Bedarf an Edelmetallen in Europa selbst. Zwischen 1450 und 1540 stieg die Silberproduktion in Europa um das Fünffache. Allein der deutschsprachige Raum, einschließlich Tirol, liefert gewaltige 80 Prozent davon. Die „ausreichende Versorgung mit Edelmetallen für die Münzherstellung als konstitutives Element des Kapitalismus“ 387 war so gewährleistet. Der Bergbau wird zur frühneuzeitlichen Leitindustrie. Im genannten Zeitraum werden in Europa bis zu einer ersten Erschöpfung der ­erreichbaren Lagerstätten Ende des 16. Jahrhunderts immer neue Metall- und Edelmetall-­Vorkommen erschlossen und die Rationali228

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sierung ihres Abbaus vorangetrieben. – Der erste verkappte Indus­ triali­sierungs­schub erfasste den Kontinent. Der amerikanische Kulturtheoretiker Lewis Mumford beschreibt den frühneuzeitlichen Bergbau als entscheidenden Entstehungskontext moderner Lebensformen. Zwischen 1967 und 1970 veröffentlichte er sein umfangreiches Spätwerk Der Mythos der Maschine. Dort kann man Folgendes dazu lesen: Das Unternehmen des Bergbaus hat das Modell für spätere Formen

388

der Mechanisierung dargestellt, – in seiner brutalen Missachtung

Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Frankfurt/M. (1977), S. 502.

menschlicher Faktoren, in seiner Indifferenz gegenüber der Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt, in seiner Konzentration auf physikalisch-­chemische Prozesse zur Erlangung des gewünschten Materials oder Brennstoffs und vor allem in seiner topographischen und psychischen Isolierung von der organischen Welt des Bauern und des Handwerkers und von der geistigen Welt der Kirche, der Universität und der Stadt.388

Schon 1934 hatte Mumford dieses Jahrhundertbuch mit den Kapiteln De Re Metallica und Mining and Modern Capitalism in seiner früheren Studie Technics and Civilisation 389 angelegt. Eine Folge des von Mumford beschriebenen Prozesses war, dass die Arbeit mehr, spezialisierter und anonymer wurde. Für das noch gar nicht eigenständige Sachgebiet ‚Bildung‘ aber hatten die beständig optimierten und spezialisierten Förder- und Fertigungstechniken bei Metallen und Edelmetallen weitreichende Konsequenzen. Der Buchdruck war eine der Technologien, die ohne diese Fortschritte der Metallverarbeitung nicht denkbar waren. Wohl nicht zufällig führt das ebenso umfängliche wie einschlägige Deutsche Bergwörterbuch von 1871 unter dem Hauptlemma ‚Schicht‘390 einen wunderbaren Beleg mit entsprechender Analogie: Schichten sind parallel wie die Blätter eines Buches, über einander liegende Lagen von Gestein, welche dadurch deren successive Bildung aus dem Gewässer andeuten.391

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389 Lewis Mumford, Technics and Civilisation, New York (1934), S.  65 – 77.

390 Deutsches Bergwörterbuch. Mit Belegen von Heinrich Veith, Breslau (1871), S.  406 – 411. 391 J. Nöggerath, Geognosie und Geologie, in: Hermann Masius (Hg.), Die gesammten Naturwissenschaften Bd. 3, Essen (1859), S. 204.

teil 2 – die bildungsdebat te

392 Arnold Gehlen, Bücher und Menschen (1968), in: ders., Zeit-­Bilder und weitere kunstsoziologische Schriften [= Gesamtausgabe Bd. 9], hg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt/M. (2016), S. 445 – 450, hier: S. 446.

393 Bergwerck-­Buch  […] Durch Georgium Agricolam in Latein beschrieben. Nachmahls aber durch Philippum Bechium verteutscht [=Übersetzung von Agricolas ‚De re metallica libri XII‘ von 1556], Basel (1621), hier: S. 74.

394 Ivan Illich, In the Mirror of the Past. Lectures and Addresses 1978 – 1990, New York – London (1992), S. 113 – 118, hier: S. 114.

Wie das gedruckte Buch in diesen Prozess der Heranbildung einer neuen Wissenschaftskultur passt und ihn gleichzeitig vorantreibt, kann man sehr genau beschreiben: Das mechanisch bebilderbare und (billig) in größeren Mengen herstellbare Buch löste den lokal verankerten, mündlichen Ausbildungsprozess langfristig aus diesen (mündlichen) Verhältnissen kleiner traditioneller sozialer Gruppen oder Eliten. Wissen begann unkontrolliert und anonym zu wandern. Bücher wurden nun „von Technikern geschäftsmäßig hergestellt und waren vorbehaltlos weltoffen“ 392.

* Ein Ursprungsbuch der späteren Industriegesellschaft ist deshalb jenes Vom Berg- und Hüttenwesen [De Re Metallica] des Georg Agricola von 1556. Das Buch lehrt den Abbau oder Konsum der Rohstoffe und (Edel-)Metalle erstmals mittels präziser in Holz geschnittener Illustrationen. In der ersten deutschen Übersetzung wird noch die veraltete Form ‚Geschicht‘ für Schicht nachgewiesen.393 Als technologisches Hand- und Fachbuch der Frühen Neuzeit zeigt es beispielhaft, wie das mündlich tradierte Wissen verschworener Gemeinschaften, der Zünfte, aufgesprengt und über Frühformen eines Medienmarkts breiter konsumierbar und anwendbar gemacht wurde. So konnte sich nun theoretisch jeder an die Arbeit machen, der über die Fähigkeit zu lesen, über ein geeignetes Grundkapital und die rechtliche Stellung verfügte, Land und Schürfrechte zu erwerben – um sein ganz eigenes Eldorado zu finden. Für Ivan Illich fand diese Tendenz einer Herauslösung der Subjekte aus angestammten lokalen Wissenszusammenhängen spätestens im 17. Jahrhundert ihren Niederschlag; deshalb auch in einem pädagogischen Lehrbuch. Mit der Wendung ‚omnibus, omnia omnino docendi‘ des Comenius, „with this intent to teach everybody everything, thoroughly“, trug Illich 1984 seine Idee an der Sorbonne in Paris vor, „the idea of homo educandus is defined.“ 394 Schon hier wird deutlich, dass Bildung als Programm die schwierige Aufgabe hat(te), möglichst allgemein auf fortschreitende Spezialisierung zu reagieren. Um das leisten zu können, brauchte es einen Anlehnungskontext, der genau das leistete. 230

pr ägen

Die Alchemie – als Wissen von kontrollierter Verflüssigung, Formung und Aushärtung zu höheren Zwecken – ist ähnlich wie der Bildungsdiskurs ein Versprechen, Arbeitsteilung und Anonymisierung in einem höheren Effekt aufzufangen und aufzuwerten. Die Idee des Goldmachens erlebt noch einmal einen beispiellosen Aufschwung, als die Fertigkeiten rund um den Berg sich klarer ausdifferenzierten. Beim künstlichen Goldherstellen ging es um einen komplexen abgestuften Prozess der Veredelung, Scheidung, Synthese, Verdichtung etc. von Substanzen. Paracelsus etwa (eigentlich: Theophrastus Bombastus von Hohenheim), der wichtigste Alchemist, Mediziner und Pansophist des deutschsprachigen Renaissance-­Raums, wuchs ab 1502 in Villach, in einem „Bergwerkszentrum der Fugger“ 395 in Kärnten auf. „Darum so lern alchimiam die sonst spagyria heißt, die lernet das falsch scheiden von dem gerechten“, schrieb er in seinem Opus Paramirum.396

* Das Goldmachen als Paradigma der Bildung, Goldgewinnung aus dem Material des Subjekts und seinem Austausch mit verschiedenen Umgebungen, ist im Bildungsdiskurs allgegenwärtig. Das Problem, beim Individuum den Keim des Goldes hervorzubringen (und nicht nur uninspiriert Materialien zu verrühren oder anzuhäufen) [➤ Informiert sein, S. 164], wird zu einem Leitgedanken erzieherischer Diskurse. Die Deutschen hatten erst nach der Epoche der klassisch gelehrten Alchemie den Anschluss an das Romanisch-­Lateinische verloren.397 Was im Englischen (dank normannischer Vermittlung) – deutlich ausgenüchtert – education blieb und im Französischen (neben éducation) ebenso nüchtern formation wurde, bewahrte sich im Deutschen, als nur noch alt klingende Neuschöpfung Bildung am Ende des 18. Jahrhunderts. Dabei behielt es paradoxerweise gerade seinen alchemistisch gestuften Kern mit Läuterungstendenz. Genau das thematisiert der Bildungsroman schon mit seinem ersten Exemplar geradezu zwanghaft:

231

395 Zu Paracelsus s. Eugen Rosenstock-­Huessy, Heilkraft und Wahrheit. Konkordanz der politischen und der kosmischen Zeit, Stuttgart (1952), S. 114 – 155, hier: S. 121. 396 Zit. n. Urs Leo Gantenbein, Separatio puri ab impuro: Die Alchemie des Paracelsus, in: Nova acta Paracelsica: Beiträge zur Paracelsus-­Forschung. Neue Folge 11, Bern (1997), S.  3 – 59, hier: S. 42. 397 Vgl. Bodo Sartorius Freiherr von Waltershausen, Paracelsus am Eingang der deutschen Bildungsgeschichte (1935), 2., unveränd. Aufl., Leipzig (1942).

teil 2 – die bildungsdebat te

398 Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon (1766/67), hg. v. Klaus Manger, Berlin (2010), S. 15.

399 Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-­ kritische Ausgabe, hg. v. Katharina Mommsen, Stuttgart (1983), S. 47.

Der Charakter unsers Helden sollte auf verschiedene Proben gestellt werden, durch welche seine Denkensart und seine Tugend erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und nach abgesondert würde.398

Das deutsche Bildungsthema kann deshalb spielend auch als jenes Problem reformuliert werden, wie man ein Steigerungs- und Verdichtungsverhältnis zu den Rohformen und Materialien des Wissens wie z. B. den Data (Herder 399) oder Datis (Novalis 400) durch Läuterung oder Reinigung herstellt oder eingeht. Thomas Mann legte Hans Castorp, dem deutschen Ingenieur und Bildungsbürger, den vor allen Dingen aber technische Wunderwerke wie Grammophone, Röntgenapparate und Überseedampfer faszinierten, das Wort von der ‚mystisch-magischen Pädagogik‘ in den Mund:

400 Novalis, Das Allgemeine Brouillon (1798/99), in: ders., Schriften. Dritter Band: Das philosophische Werk II, hg. v. Richard Samuel, Stuttgart (1983), S. 459.

‚Alchemie, das ist also Goldmacherei, Stein der Weisen, Aurum po-

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Geringeres als das Prinzip der Steigerung, der Hinauftreibung durch

Thomas Mann, Der Zauberberg (1924), Bibliothek des 20. Jahrhunderts, hg. v. Walter Jens/ Marcel Reich-­Ranicki, Stuttgart – Hamburg – München (o. J.), S. 643.

402 Thomas Mann, Der Zauberberg (1924). Roman. In der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, hg. v. M. Neumann, Frankfurt/M. (2013), S. 39.

tabile …‘ ‚Ja, populär gesprochen. Etwas gelehrter gesprochen ist sie Läuterung, Stoffverwandlung und Stoffveredlung, Transsubstantiation, und zwar zum Höheren, Steigerung also, – der lapis philosophorum, das mann-­weibliche Produkt aus Sulfur und Merkur, die res bina, die zweigeschlechtige prima materia war nichts weiter, nichts äußere Einwirkungen, – magische Pädagogik, wenn Sie wollen.‘ Hans Castorp schwieg. Er blickte augenblinzelnd schräg empor.401

Damit wollte der Held wohl der fremden, nach seinem Geschmack ein ganz klein wenig zu slawischen Schönheit Clawdia Chauchat (auf Französisch!) endgültig beikommen. Thomas Mann entwickelt den Gedanken von der pädagogischen Alchemie oder magischen Pädagogik in den Bergen und ganz offensichtlich direkt, wenn auch ‚augenblinzelnd‘ aus der alchemistisch informierten pietistischen Lehre des Görlitzer Schuhmachers Jakob Böhme (1575 – 1624). Nicht umsonst „schimmert es von dem einfallenden Oberlicht“ 402 in der ­vergoldeten Taufschale der Familie Tienappel aus Lübeck, die laut einer entsprechenden Gravur seit 1650 im Familienbesitz war. Das ist aber das Jahr, in dem die Welt, durch Abraham von Franckenberg 232

pr ägen

(1593 – 1652), zum ersten Mal von Jakob Böhmes ‚Erleuchtung‘ aus einem das Sonnenlicht reflektierenden Zinngefäß erfuhr.403

* Bildung als Idee ist eine merkwürdige Mischung aus aktiven und passiven Elementen. Bildung prägt einen, doch gleichzeitig soll sie einen in die Lage versetzen, der Welt auch den eigenen Stempel aufzudrücken. Und als ob es damit der Schwierigkeiten noch nicht genug wären, ahnt man, dass diese Dialektik nicht ausreichen wird, um Gesellschaften in ihrem Funktionieren zu erklären, die aus solchen Doppelwesen – Prägenden/Geprägten – bestehen. Denn das prägende Element der Bildung, ihre aktive Seite, die den einzelnen Subjekten einen vergleichbaren Stempel aufprägt, ist bei näherer Betrachtung indirekter Natur. Der Umweg ist das Schreiben bzw. das Lesen. Die Mittel des Menschen, die Mittel – wie Wilhelm von Humboldt schreibt – „des Vorstellens und des Bearbeitens so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“ 404, nennen wir heute ganz konsequent Medien. Denn es sind strenggenommen sich verändernde mediale Techniken, die genau das immer mehr Menschen zu ermöglichen versuchen. Bildungsstätten sind so gesehen Prägestätten, zu deren wichtigsten Reformern Wilhelm von Humboldt bis heute gehört. Die gewählte Metapher der Prägung, der ganze proto-­industrielle Metaphernapparat macht deutlich, dass auch das Werk der Individuation in gewisser Weise seriell von statten geht. [➤  Fabrizieren, S. 130] Auf diesen Punkt kommt Hans Freyer zu sprechen, als er unter seinen Kategorien der Industriekultur eben die Serie auswählt und erläutert: Zunächst ist daran zu erinnern, daß ‚Serie‘, als die Negation und Überwindung des Individuellen, ebenfalls eine Abstraktion ist. […] Das individuelle Gesetz kann im einzelnen Fall blaß oder leuchtkräftig, verschwommen oder unerbittlich klar ausgeprägt sein. […] Der Gedanke, daß es zu dem Prädikat individuell einen Komparativ und

233

403 Vgl. Abraham von Frankenberg, Lebensbeschreibung Jakob Böhmes (1651), in: Hans Kayser, Schriften Jakob Böhmes [= Der Dom. Bücher deutscher Mystik], Leipzig (1920), S. 19 – 52, hier: S. 25 f.

404 Wilhelm v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen (Auszüge), in: Heiner Hastedt (Hg.), Was ist Bildung? Eine Textanthologie, Stuttgart (2012), S. 93 – 99, hier: S. 94.

teil 2 – die bildungsdebat te

405

einen Superlativ gibt, ist weder paradox noch frivol. Der Mensch ist,

Hans Freyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart (1965), S. 249.

unter anderem, auch eine Dutzendware. Das soziale Milieu gibt ihm bestimmte Verhaltensmuster und Rollenerwartungen vor, es zwingt ihn mit sanfter Gewalt oder mit handfesten Sanktionen auf gebahnte Wege, es schematisiert ihn bis in sein Inneres hinein. Das Individuelle schleift sich dann ab wie eine Münze, die rasch umläuft, es sei denn, daß das Metall sehr hart ist oder daß die Prägung in beständiger Anstrengung immer neu profiliert wird.405

*

406 Martin F. Meyer, Kleine Charakterologie. Zwölf Seelen, neu abgestempelt nach Art des Theophrast, in: Jörg Martin, Psychomanie. Des Deutschen Seelenlage, Leipzig (1996), S. 15 – 44, hier: S. 17.

407 Nach Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt/M. (1993), S. 21.

Die Charaktere, als Elemente und mögliche weiche Zielwerte der Persönlichkeits-­Prägung, entstammen auch nicht ganz zufällig dem technischen Vokabular des Münz- und Buchdrucks. Eine Verschiebung „im Verlauf der griechischen Sprachgeschichte“ 406 vom Ionischen zum Attischen, von charasso für einritzen oder einkratzen zu charatto für einprägen oder stempeln, ist hierfür verantwortlich. Theophrast ist der erste, der den Begriff aus der Numismatik in die Ethik überträgt: ‚charakteres ethikoi‘ heißt sein bis heute berühmtes Buch. Augustinus übernahm – latinisiert – das Bild als ‚nummus Dei‘, der Mensch als ‚Münze Gottes‘.407 Diese ‚Münze Gottes‘ war als einziges Lebewesen mit Sprache begabt – aus ihr wurde es gebildet. Auch ‚Münzen‘ und ‚Worte‘ gingen deshalb schnell eine enge metaphorische Verbindung ein. Quintilian formte im ersten nachchristlichen Jahrhundert daraus eine wirkungsmächtige sprachethische Empfehlung, die bis zu Bacon und Leibniz immer wieder variiert wurde: „Man muss mit der Sprache umgehen wie mit dem Geld, das auf staatlicher Prägung beruht.“ 408

408 Dazu erschöpfend Harald Weinrich, Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld (1958), in: ders., Sprache in Texten, Stuttgart (1976), S.  276 – 290.

In der Frühen Neuzeit nahm die Münzprägung solche Ausmaße an, dass ihr Bild und Begriff kaum mehr assoziative Spielräume jenseits der mit dem permanenten Wucher-­Verdacht belegten Geldgeschäfte der dazu qua Ausschluss von Handwerkszünften verurteilten Juden zuließ. Die Bildungsinstitutionen genannten Apparaturen sollen idealerweise ein individuelles Bildungserlebnis provozieren [➤ Erleiden, S. 121], während sie gleichwohl, nach bestimmten Normen, 234

pr ägen

davon inspirierte wertvolle Absolventen stanzen oder prägen, die in den ‚Gesellschaft‘ genannten organisierten Umlauf gelangen. Diese beiden Ansichten derselben Sache – Stanzen und Gestanzt werden – werden selten füreinander sichtbar. Sie treten vielmehr in ein paradoxes Verhältnis, das den neuen Bildungsbegriff ganz gut umreißt: ‚Münze‘ ist sowohl das Geldstück, das von Hand zu Hand geht, als

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auch die Anstalt, in der es zu Tausenden geprägt wird: der Ort seiner

Ernst Jünger, Typus – Name – Gestalt (1963), in: ders., Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays VII. Bd. 13: Fassungen II, Stuttgart (1981), S. 83 – 173, hier: S. 86.

Individuation. Das betrifft unser Thema: Wir sehen die Prägung, aber nicht den Prägestock; wir sehen die Münzen, aber wir sehen die Münze nicht.409

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punk t en Die Bildungsbuchhalter

410 Vgl. Friedrich Eberhard von Rochow, Vom Nationalcharakter durch Volksschulen, Leipzig (1779).

411 Barker Fairley, Wilhelm Raabe. An Introduction to his Novels, Oxford (1961), S. 172. [Meine Übersetzung, H. C.] 412 Dazu Jan Süselbeck, Die Totalität der Mitte. Gustav Freytags Figur Anton Wohlfart und Wilhelm Raabes Protagonist Hans Unwirrsch als ‚Helden‘ des antisemitischen ‚Bildungsromans‘ im 19. Jahrhundert, in: Nikolas Immer/ Mareen van Marwyck (Hg.), Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, Bielefeld (2013), S.  293 – 321.

Als die Menschen bei Bethsaida am See Genezareth von Jesus aufgefordert wurden, sich „in Gruppen zu je fünfzig zu setzen“ [Lukas 9,14], spielte dabei die durchschnittliche Klassenstärke im deutschen Schulsystem wahrscheinlich noch keine Rolle. Die Zahl wäre ohnehin leicht übertrieben gewesen und galt vor allem für die sogenannte Armenschule und für die noch späteren Volksschulen.410 Die Volksschule gab es als verbindlich und einheitlich geregelte Schulform erst seit dem Reichsgrundschulgesetz von 1920. Sie wurde 1964, als achtjährige Schulform, offiziell aufgelöst. Wilhelm Raabe hat dieser Armenschule mit seinem daraus aufsteigenden Protagonisten Hans Unwirrsch 1864, unter jenem vielsagenden Titel Der Hungerpastor, ein Denkmal gesetzt. Nach dem Urteil des kanadischen Germanisten Barker Fairley (1887 – 1986) war das Buch, das 1910 in der 32. Auflage erschien, „unter dem halben Dutzend der meistgelesenen Bücher in Deutschland“. Fairley schreibt weiter, dass in dieser Zeit „die Behandlung des Buchs im Schulalltag so verbreitet war, das über eine erwachsene Auffassung von ihm kaum mehr etwas in Erfahrung zu bringen war“.411 Dieses Denkmal prägt – neben seinem notorischen Antisemitismus 412 – dem Leser vor allem ein Bild von der vergangenen Fallhöhe zwischen höherer und elementarer Bildung unvergesslich ein: Hans setzte den Fuß auf die unterste Stufe der Leiter, die an dem fruchtreichen Baum der Erkenntnis lehnt: die Armenschule tat sich vor ihm auf. In einem dunklen Sackgäßchen, in einem einstöckigen Gebäude, das einst als Spritzenhaus diente, hatte die Kommune die Schule für ihre Armen eingerichtet, nachdem sie sich so lange als möglich geweigert hatte, überhaupt ein Lokal zu so überflüssigem Zweck herzugeben. Es war ein feuchtes Loch; fast zu jeder Jahreszeit lief das Wasser von den Wänden; Schwämme und Pilze wuchsen in den Ecken und unter dem Pult des Lehrers. Klebrignaß waren die

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punkten

Tische und Bänke, die während der Ferien stets mit einem leichten Schimmelanflug überzogen wurden. Von den Fenstern wollen wir

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lieber nicht reden; es war kein Wunder, wenn sich auch in ihrer Nähe

Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor (1864), Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe. Sechster Band, hg. v. Karl Hoppe, Göttingen (1953/ 1966), S. 30 f.

die interessantesten Schwammformationen bildeten. Ein Wunder war es auch nicht, wenn sich in den Händen und Füßen des Lehrers die allerschönsten Gichtknoten und in seiner Lunge die prachtvollsten Tuberkeln bildeten. Es war kein Wunder, wenn zeitweise die halbe Schule am Fieber krank lag. Hätte die Kommune auf jedes Kindergrab, welches durch ihre Schuld auf dem Kirchhof geschaufelt wurde, ein Marmordenkmal setzen müssen, so würde sie sehr bald für ein anderes Schullokal gesorgt haben.413

Die soziale Wirklichkeit hatte sich eben auch in Deutschland im Zeichen von Bildung im Jahrhundert des Bildungsbürgertums nicht einfach verflüchtigt. – Im Gegenteil: Bildung war immer und überall eine knapp gehaltene Ressource, über deren Verteilung streng gewacht wurde. Alphabetisierung und humanistischer Feinschliff waren schließlich nicht schon dasselbe – und sollten es auch nie sein. [➤ Politisieren,  S. 210] Daran wurde zu Recht seit Ende der 1960er Jahre gerüttelt. Doch die konsequente Vergemeinschaftung höherer Bildung brachte Probleme ganz anderer Art mit sich.

* Die zitierten Evangelien handeln von der Armut und dem Hunger, die noch Hans Unwirrsch treffen sollten, bevor er von Berufs wegen und endlich auskömmlich als Pastor über sie predigte. Aber sie handeln auch von einer wundersamen Vermehrung und Teilbarkeit. Als aus fünf Broten und zwei Fischen Speise für fünftausend Abnehmer geschaffen wurde, zeichnete sich schon der pädagogische Kompetenz-­ Begriff unserer Tage am Horizont des christlichen Abendlandes ab. Sind Begriff und Phänomen auch noch gar nicht lange in der bildungspolitischen Diskussion 414, so erhält doch jetzt jede Klasse, jeder Jahrgang, jeder Studiengang – (Bundes-)landauf und (Bundes-)landab – ungefragt und schon in unvorstellbarer Überfülle und Reichlichkeit davon. Viertausend verschiedene Kompetenzen soll man 237

414 Dazu Matthias Vonken, Handlung und Kompetenz. Theoretische Perspektiven für die Erwachsenen- und Berufspädagogik, Wiesbaden (2005), S.  15 – 32.

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415 Vgl. (Jürgen) Kau(be), Non Vitae, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.01. 2017. 416 J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre/ Maximen und Reflexionen (1821/ 1829), Werke in zwölf Bänden, Bd. 7, hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, 4. Aufl., Berlin (1981), S. 496.

417 Hans Maier, Bildung und Beruf – ein Gegensatz? (1975), in: ders., Kulturpolitik. Reden und Schriften, München (1976), S. 17 – 33, hier: S. 22.

kürzlich, das wurde schon erwähnt, allein für die Schweizer Schulen im Bildungsplan 2020/21 gezählt haben. [➤ Kompetent sein,  S. 168] Und das entspräche ja auch exakt den abweichenden Zahlenangaben zum Brotwunder bei Markus [8,9]. Die Deutschen bringen es nach Lehrplan-­Stichproben angeblich schon für eine einzige Jahrgangsstufe auf 300.415 Ganz sicher werden sie sich am Ende des Tages nicht haben lumpen lassen. „Der Deutsche“, schreibt Goethe schon 1829 in dem Aus Makariens Archiv genannten Anhang zu den Wanderjahren, „läuft keine größere Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern.“ 416

* Für Europa ist in Sachen Bildung ein neuer Satz Codewörter ausgegeben worden: Bologna z. B. oder Digitalisierungsoffensive. Der europäische Bologna-­Prozess – und um das zu erkennen, muss man kein besonderer Schlaukopf sein –, ist in erster Linie ein Versuch der verwaltungstechnischen Synchronisierung von Qualifizierungsverfahren der sogenannten höheren Bildung. Aber zu wessen Vorteil? Spätestens bei dieser sehr einfachen Frage verziehen alle Beteiligten und Betroffenen schmerzhaft das Gesicht. Die Studenten (bzw. die Qualität ihres Studiums) kommen ja wohl kaum in Frage für eine Antwort. Aber wer oder was dann? Die Wahrheit ist bitter: Sollte der Bologna-­ Prozess Deutschland auch endgültig aus der pädagogischen Provinz heraushelfen – daher wohl der übermäßige Eifer hierzulande –, so führte er es tatsächlich überhaupt erst tief in diese hinein. Der Prozess mündete in eine nochmalige „Selbstvergrößerung der pädagogischen Provinz“ 417, wie sie Hans Maier schon 1975 verzeichnete. Niemand konnte ja ahnen, dass sich die Provinz in diesem aktuelleren Fall sozusagen von draußen nach drinnen ausdehnte und sich gleichzeitig noch einen globalen Anstrich gab. „Jetzt, da sich die Weltliteratur einleitet“, schrieb Goethe sicherlich etwas zu geringschätzig für einen so weltgewandten Autor (und erneut in den Wanderjahren), „hat genau besehen, der Deutsche am meisten zu verlieren“.

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Da es sich wenigstens aus Sicht der Verwaltung um ein verhältnismäßig großes (europäisches) Territorium und Netzwerk aus Institutionen handelt, findet die anfallende Kommunikation in den schnellen digitalen Netzwerken statt. Gerade die vergleichsweise effektive deutsche Bürokratie – denken wir nur an fehlende Kataster in Griechenland, an den toten Großvater, für den man noch jahrelang Rente bezog – gerade die deutsche Bürokratie schafft es, praktisch permanent einen europäischen Wirkungshorizont der Reform zu simulieren, um diese Standards dann auch vorauseilend zu erfüllen. Was aber wird konkret gemacht? Was hat das mit medientechnischen Fragen zu tun? Wo ist die Praxis? Zu nennen ist z. B. das fortwährende Verschicken von Prüfungsordnungsentwürfen, Evaluationszwischenberichten, Selbstberichten im Rahmen einer Akkreditierung, Modulbeschreibungen usw. Der Bologna-­Komplex ist ohne das, was man bis heute pauschal einfach ‚Digitalisierung‘ nennt, nicht denkbar. Erst die elektronisch kurz getaktete Verschickung dieser neuen Textsorten hat das Zwangsgemeinschaftswerk einer Bildungsreform in Permanenz möglich gemacht und zu einer Hauptbeschäftigung der Verantwortlichen in den sogenannten Bildungsinstitutionen werden lassen. Das Reformieren ist ähnlich wie das Bloggen oder Posten zu einer alltäglichen medialen Praxis geworden. [➤ Vernetzen,  S. 323] Eine bis vor kurzem undenkbare engmaschige Kontrollierbarkeit und Koordinierbarkeit jedes einzelnen Wissenschaftlers in den – nach Humboldts berühmtem Wort – auf ‚Freiheit und Einsamkeit‘ aufgebauten Wissenschaften ist nun Wirklichkeit geworden. Vor allem über die hochgradig ausdifferenzierte Zeremonial- und Akklamationsordnung des elektronischen Briefkopfes (mit seinen wenigen Hauptempfängern und seinen unzähligen CC -würdigen und BCC-würdigen Beigeordneten) ist die Kontrolle permanent gewährleistet. Mag diese Art der Kommunikation auch von den meisten, nur BCC -würdigen Mitadressaten als chaotisch-­willkürliches Geflecht empfunden werden, in das man irgendwie hineingezogen wird, so bietet sie in Wirklichkeit, als gespeicherte Kommunikation, den Absendern die Möglichkeit, die Kommunikation jederzeit zu 239

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rekonstruieren und zu kontrollieren. Allein der Hinweis, man habe etwas ‚am so-­und-­so-­vielten‘ mit Anhang verschickt – und alle anderen hätten den Eingang auch bestätigt –, setzt diejenigen Empfänger unter Druck, die nicht reagiert haben. Wer hier längere Zeit durch Nicht-­Kommunikation auffällt, wer nicht regelmäßig ‚an alle‘ repliziert (und sich damit bemerkbar macht und seinen Respekt vor der Form der Kommunikation, seine Unterwerfung, zum Ausdruck bringt), zählt schnell im wahrsten Sinne des Wortes in der Institution nicht mehr und kann z. B. samt zugehörigem Fach oder Lehrstuhl oder Studiengang, der ‚nicht läuft‘, beim nächsten Großreinemachen zugunsten der Absender-­Mailkopf-­Elite aufgelöst werden. Die Bildungsreform in Permanenz ist mit diesem einfachen Instrument zum ebenso mobilisierenden wie anonymen Zählwerk für eine Zwangsgemeinschaft von Absendern und Adressaten geworden. Alle stehen mitten in einer digitalen Verwaltungsdokumentenflut von oben, wo alle Fluten letztendlich ihren Anfang nahmen und nehmen. Nur dass jedes ‚oben‘ wie eh und je auf ein ‚noch weiter oben‘ verweist. Die vorläufige Eindämmung kann aber eben nur gemeinsam und bei ständiger Aktivität gelingen. Wer aber nicht mitschreibt am anfangs- und endlosen anonymen Text der permanenten Reform [➤  Refor­mieren,  S. 258], wer nicht mithilft einzudämmen, was da ständig von oben kommt, der zählt nicht –, zählt nicht als Kopfadresse, zählt nicht als potentieller Empfänger weiterer hochwichtiger Dokumente, zählt nicht als Kollege oder Kollegin, wird bald nicht einmal mehr im CC- oder BCC-Fenster geführt. Das aber ist das Ende seiner institutionellen Existenz. – Wer kann heute schon abschätzen, ob nicht genau diese Medienpraxis einer von oben ausgeweiteten permanenten Selbstverwaltungspraxis langfristig das Ende der Institution bedeutet? Denn nach der berühmten Theorie des Soziologen Arnold Gehlen sollten Institutionen ja vor allem Individuen ‚entlasten‘, aber nicht in erster Linie aufstöbern und selbstzweckhaft auf schimärische Reformziele hin mobilisieren.

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Auch die europaweit gedachte Präsenz und Transparenz der Studiengänge füreinander – mit dem (bisher gescheiterten) Ziel einer gesteigerten Mobilität der Studierenden – kann nur eine Netzpräsenz sein. Netzverdichtung führte aber schon im Spätmittelalter – bei „dramatischen Steigerungen der Gesamtzahlen von Studenten“ – zur „Einschränkung ihrer Wanderungsmobilität“ 418. Man kann ja auch heute nicht ständig anrufen, eine Broschüre schicken oder gar hinfahren, bevor man feststellt, dass dort, wo man hinwill, die Module mit den An- und Abrechnungsmodalitäten des eigenen Studienorts in der Regel völlig inkompatibel sind:

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kommen über die Anerkennung von Qualifikationen im Hochschul-

Jürgen Miethke, Die Studenten unterwegs (1985), in: ders., Studieren an mittelalterlichen Universitäten. Chancen und Risiken. Gesammelte Aufsätze, Leiden – Boston (2004), S. 133 – 155, hier: S. 145.

bereich in der europäischen Region‘ – wurde am 11. April 1997 von

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Die Lissaboner Anerkennungskonvention – amtlich das ‚Überein-

mehreren europäischen Staaten verabschiedet. Die Konvention, die vom Europarat und der UNESCO initiiert wurde, gilt als erstes allgemeines völkerrechtliches Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Studienleistungen und -abschlüssen. In Deutschland ist die Konvention am 1. Oktober 2007 in Kraft getreten. Sie sieht die erleichterte Anerkennung von ausländischen Studienleistungen und

o. A.: Lissabon-­ Konvention, unter: https:// www.anerkennung-­in-­ deutschland.de/html/ de/lissabon_konvention. php [Letzter Zugriff: 04. 03. 2019].

-abschlüssen vor.419

Eine Erfahrung übrigens, die man schon machen durfte, wenn man daheim Veranstaltungen anderer Studiengänge besuchte, die für den eigenen ‚geöffnet wurden‘. Dann passen nämlich „die Regelungen eines (anderen) Studienganges“ schon „häufig nicht mehr zu der Praxis“ des eigenen, wie ein Organisationssoziologe die Sache fachmännisch beschrieb.420 Der bloß in Deutschland imaginierte neue europäische Ausbildungsstandard heißt also Bologna und bedeutet vor allem, dass wir zuhause für einen zentralen gesellschaftlichen Vorstellungskomplex kein eigenes konsensfähiges, intuitiv verständliches Codewort wie eben ‚Bildung‘ mehr haben, heißt also, dass wir keinen common sense mehr über ein allgemeines Bildungsprogramm herstellen können, das in der Tradition des eigenen Landes verankert ist.421

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420 Stefan Kühl, Der bürokratische Teufelskreis, in: Forschung & Lehre (Nr.3, 2017), S. 200. 421 Dazu Hermann Lübbe, Common sense und Expertenwissen, in: ders., Zeit-­Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz – Wien – Köln (1983), S.  87 – 97.

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422 Dazu grundlegend und frühzeitig Georg Mein, ‚Humanressourcen‘. Anmerkungen zur Semantik des Wissenschaftsraums, in: ders./ Markus Rieger-­Ladich (Hg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld (2004), S.  291 – 311.

423 Vgl. zuletzt Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München (2018) oder Luuk van Middelaar, Vom Kontinent zur Union: Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa, Berlin (2016).

Mit der Aufgabe des Programms Bildung, mit der begrifflichen Umgruppierung, Anglisierung und langsamen Neuverteilung der Anforderungen und Aufgaben, änderte sich natürlich auch das Gefüge und das Ansehen der Bildungsinstitutionen.422 Aber die Zeit steht bekanntlich nicht still. Melancholische Reminiszenzen an ein Traumland bürgerlicher Bildung der guten alten Zeit à la ‚Feuerzangenbowle‘ helfen in der Gegenwart sicher nicht weiter. Schließlich war die Feuerzangenbowle ein Nazi-­Film und auch selbst schon eine Pauker-­Satire und keine ernst gemeinte Zustandsbeschreibung.

* Häufig gestellte Fragen müssen – nur weil sie häufig gestellt werden – dennoch nicht unbedingt auch Sinn ergeben. Bei näherer Betrachtung der Umstände kann man vielmehr zu dem Schluss kommen, dass sie der Mühe nicht lohnen. Eine dieser Fragen dringt immer wieder auf Art und Zukunft verpflichtender Gründungserzählungen für Europa. Was soll man auf diese Frage antworten, wenn die Nachrichten- und Unterhaltungskultur ein Tempo, eine Menge und eine Raffiniertheit von Erzählschnipseln, eine Vielfalt von Distributionswegen aufweist, die jede feste und eigene europäische Struktur unterlaufen. Die einzige, durchgängig erkennbare Erzählung Europas ist die seiner krisenhaften Verfasstheit.423 Gründungserzählungen sollten immerhin eine gewisse Stabilität und einen gemeinschaftlichen Geist garantieren. [➤ Formatieren,  S. 154] Sie müssen also wenigstens eine Zeit lang massiv und identisch präsent sein. Schon durch die Struktur ihrer Verteilung müssen sie eine irgendwie noch territorial begrenzte imagined community (Benedict Anderson) einrichten und aufrecht erhalten helfen. Doch was hat Europa in diesem Sinne mit Facebook, Twitter oder mit YouTube zu tun? Europa ist dort sicherlich Thema, aber nicht länger Form der Kommunikation. Den eigens für Europa geschaffenen Fernsehkanal Arte schalten dagegen nur ca. 1 Prozent der europäischen Bevölkerung regelmäßig ein. Falls Bologna Teil der Antwort sein sollte, werden wir sehen, ob das Creditpoint-­System mit Modul-­Architektur und Workload-­Berechnung 242

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ähnlich erfolgreich sein wird (bei der Fertigung von europatreuen Absolventen) wie das Gymnasium im späteren Wilhelminischen Kaiserreich bei der Festigung einer politisch-­militaristischen Entität namens Preußen mittels ‚Beamter‘.424 [➤ Politisieren, S. 210] Bevor wir gute Europäer werden können, brauchen wir gut ausgebildete Europäer. Die Europa-­Euphorie ist bekanntlich unter den (gut Aus-)Gebildeten signifikant höher. Wie groß der Steuerungszugewinn einer Europa-­Beamten-­Bürokratie über die nationalen Bildungsinfrastrukturen dagegen am Ende wirklich sein wird, muss sich ebenfalls noch zeigen. Die sogenannten Akkreditierungsagenturen, die erstaunlicherweise ohne Ansehung der Inhalte die ominöse Studierfähigkeit der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge zu überprüfen haben, sind gewollt oder ungewollt der verlängerte Arm der Europabürokratie – und überstehen zur Zeit jedenfalls problemlos (vor allem in Deutschland) jede juristische Anfechtung ihres Tuns auf nationaler Ebene. Dass sich gleichzeitig – nach Bologna, Pisa oder Lissabon – weder die internationale Mobilität der Studierenden verbessert hat, die wahrscheinlich sogar im Mittelalter höher war als heute, noch die sogenannte Regelstudienzeit durchschnittlich besser eingehalten wird, ist als deprimierende Zwischenbilanz der Reform schon Legion. Obwohl die Reform mit genau diesen Verheißungen eingeleitet worden ist, zeigt sich jetzt, dass es gar nicht um diese studienorganisatorischen Reformen ging, sondern um (macht-)politische.

* Eine gewisse Zahnlosigkeit des Bologna-­Europa wiederum könnte daraus resultieren, dass die neu geschaffene Infrastruktur nur halbwegs europäisch ist und dass sie mit Modul, Workload und Creditpoints nur unvollständig benannt ist. Tatsächlich ist einer ihrer wesentlichen Bestandteile jene ihr von den Studierenden, von der Basis sozusagen, mittlerweile reflexhaft untergeschobene Architektur sozialer Netzwerke. Fast jedes Seminar und jede Vorlesung haben beispielsweise eine Facebook- oder Whatsapp-­Gruppe. [➤ Vernetzen, S. 323] Diese Strukturen aber stammen aus einem anderen kontinentalen Kontext: Die Big Player der Software-­Entwickler und -Anbieter organisieren von 243

424 Eine scharfe Kritik der Bologna-­Reform als Verwandlung der Universität in eine ‚Fertigungshalle‘, in der streng nach ‚Industrienormen‘ gearbeitet wird, bei Konrad Paul Liessmann, Was weiß die Wissensgesellschaft? in: ders., Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (2008), 9. Aufl., Wien (2014), S.  26 – 49.

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Nordamerika aus eine viel umfangreichere Homogenisierung – mit eigenen rechtlichen und ethischen Standards –, einen viel größeren infrastrukturellen – globalen – Machtanspruch (gegenüber China), als das in Europa via Bildungsreform noch der Fall sein könnte. Hier konkurrieren gewaltige Infrastrukturentwürfe um die Oberhoheit eines europäischen Kommunikationsraumes und Europa tut sich schwer, amerikanisch-­asiatischen Gerätehoheiten und einer kalifornischen Softwarehoheit irgendetwas entgegenzusetzen. Natürlich gibt es auch hier Kritik und Gegenbewegung(en): Gerade weil inzwischen tatsächlich so gut wie jede Lehrveranstaltung einen – wilden oder von oben angelegten – digitalen Gegenpart im WWW haben dürfte, wird man auf die Datenschutzprobleme aufmerksam und schafft mit Moodle, Income oder anderen geschützten Plattformen Imitate der Infrastruktur der großen sozialen Netzwerke auf einer anderen Ebene. Die ‚Bildung-­oder-­education?‘-Formel könnte auch eine Debatte anstoßen, die unter anderem fragt, wie stark solche Software- und Gerätehoheiten anderer tatsächlich in nationale Lern- und Lehrmodelle eingebracht, vulgo: zementiert werden sollen, denn danach nützt dann alle Europa-­Rhetorik endgültig nichts mehr.

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r adik alisieren

r a dik a lisier en Die Feindbildung (in der Bibliothek und im Internet) ‚Hör, dein Wort ist ’nen Rubel wert … doch im übrigen lügst du trotzdem, das sage ich dir, lügst wie gedruckt!‘ ‚Er ist eine Lakaienseele, ein echter Ham.‘ ‚Das ist’s ja, solch ein Bileams Esel denkt und denkt, und – der Teufel mag wissen, was sich der Kerl schließlich zusammendenkt‘. ‚Speichert Gedanken auf‘, meinte Iwan lächelnd. D o s t oj e w s k i , D i e B r ü d e r ­K a r a m a s ow (1880)

Es soll hier zuerst eine der erstaunlichsten Geschichten erzählt werden, die ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert bereithält. Sie handelt von Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt ‚Lenin‘, und geht in zwei Sätzen so: Ausgerechnet derjenige Politiker, der den weiteren Gang des Jahrhunderts wohl nachhaltiger beeinflusst hat als jeder andere vor und nach ihm, hatte sagenhafte zwanzig Jahre in deutschen, britischen und Schweizer Bibliotheken gehockt, bevor er mit beispielloser Konsequenz und Entschlossenheit an sein eigentliches Lebenswerk ging: Er nannte das Werk einfach „die Weltrevolution“ und startete es schließlich 1917 im zaristisch geprägten, aus westeuropäischer Sicht äußerst rückständigen Russland, in dem es kaum zugängliche größere Bibliotheken gab. Es folgen nun noch bekanntere Teile der Geschichte: Nach Russland war Lenin von der Schweiz aus mit einem (angeblich) verplombten Zug unter dem Schutz der Reichswehr gelangt.425 Sein jahrzehntelanges Selbststudium hatte für den (entscheidenden) Augenblick nicht viel mehr als die kargen Sätze der sogenannten April-­Thesen gebracht, die man in einem Reprint der Nr. 26 der Zeitung Prawda (Wahrheit) nachlesen kann. Die Thesen genügten, um ihn an die 245

425 Dass das nicht so (‚verplombt‘) war, kann man nachlesen bei Catherine Merridale, Lenins Zug: Die Reise in die Revolution, Frankfurt/M. (2017).

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Macht zu bringen. Ein Schneewittchensarg vor dem Kreml erinnert uns noch heute an diese Geschichte. Doch vor allem der erste, unbekanntere Teil der Geschichte ist von erstaunlicher Aktualität.

* Wenn man die aktuellen Debatten über eine fallweise in angeblich nur vierzehn Tagen vollzogene Radikalisierung von Selbstmordattentätern im Namen einer geplanten islamistischen Unterwerfung der Welt in Europa und anderswo betrachtet, tut sich eine Erklärungslücke auf. Die Lücke entpuppt sich schnell als gänzlich leerer Raum ohne Anfang und Ende. Man weiß nichts. Denn was heißt „Radikalisierung“ in einer Bibliothek und über einen Zeitraum von zwanzig Jahren zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu einer „Radikalisierung“ in vierzehn Tagen im Netz und in der Gegenwart? Gibt es einen gemeinsamen Nenner? Heißt Radikalisierung: Bei gezielter gewalttätiger Überschreitung eines gesetzlichen Rahmens politisch tätig werden? Oder heißt Radikalisierung: Im Zeichen einer zweifelhaften „politischen“ Idee Gegner ermorden? Heißt Radikalisierung vielleicht nur: „Radikale Reden schwingen“ und zu Obigem anstiften? Heißt Radikalisierung gar einfach langsam oder schnell „durchdrehen“?

426 Dazu Ernst Vollrath, Lenin und der Staat. Zum Begriff des Politischen bei Lenin, Wuppertal (1970).

Von Lenin lernen, bedeutet in diesem Fall etwas über „Radikalisierung“ lernen.426 Denn man fragt sich auch im Rückblick und nach fast genau einhundert Jahren immer noch verdattert, wie sich überhaupt jemand ausgerechnet in einer Bibliothek so nachhaltig radikalisieren konnte, dass er tatsächlich anschließend große Teile der Welt nach den bis dato bekannten Maßstäben des Politischen bis zur Unkenntlichkeit veränderte. Und man fragt sich genauso, wie dasselbe, also eine gefährliche politische Radikalisierung, heute – gewissermaßen im Hauruckverfahren – vor dem Bildschirm gehen soll. Man ahnt es schon: „Die Medien“ spielen wohl wieder mal eine entscheidende Rolle. Allerdings nicht schon allein dadurch, dass es sie gibt. Dann würden ja Myriaden von Bibliothekshockern als Revolutionäre in die Welt hinausgegangen sein; was nicht der Fall ist. Vielmehr muss man fragen, was diese sich radikalisierenden Biblio246

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theks- oder Netznutzer dort eigentlich gemacht haben, als was sie hineingegangen sind, wie sie sich dort betätigt haben, bevor sie als Radikale und Revolutionäre wieder herausgekommen sind? Dieselbe Frage stellen sich gerade unzählige Feuilletonredakteure, Kultur- und Sozialwissenschaftler, Psychologen, Kriminologen und Kriminalisten im Fall der scheinbar gehäuften Amokläufe, erweiterten Suizide und Attentate unserer Tage. Man möchte es so gerne irgendwie (und nicht zu differenziert, bitte!) der ominösen Beschleunigung und Globalisierung ankreiden. Heute geht eben alles viel schneller. Das gilt dann selbstverständlich auch für die Radikalisierung. Der tägliche Gang in die Zentralbibliothek, die Platzsuche im Lesesaal, das Einhalten der Kleiderordnung, das Vertrautwerden mit der Aufstellung der Bücher etc. fallen damit fort. Dieser Standard wurde durch unzählige schnelle Besuche im dezentralen World Wide Web von Zuhause ersetzt, deren Zielorte überdies mit Suchbegriffen erreicht werden können, die keinerlei Kenntnisse einer übergeordneten Ideen- oder Sachgeschichte, ja nicht einmal mehr der Rechtschreibung voraussetzen. Der Fenster-­Algorithmus hilft einem: ‚Meintest Du vielleicht …?‘ – ‚Ja, genau, das meinte ich (eigentlich)‘. Der Zugang zu den Wissenstempeln wurde seinerseits demokratisiert. [➤ Konsumieren,  S. 180] Scheinbar ist man immer gleich auf dem kürzesten Weg am Ziel. Aber kommt das desorientierte Subjekt überhaupt hinterher, um sich flugs zu „radikalisieren“?

* Doch zurück zu unserer Ausgangsfrage: Wie radikalisierte sich Lenin bei der Benutzung riesiger Bibliotheksbestände in gutbürgerlichem Ambiente, in Städten wie Berlin und München, Genf und Zürich, die er – anders als London – expressis verbis für den Gipfel der Saturiertheit und Langeweile hielt? Genau so: Er las in den Bibliotheken dieser Städte, unter der Prämisse, wie man ihre bürgerlichen Bevölkerungen am besten „wegfegen“ könnte. Er beklagte einen Luxus, an dem er nicht teilnehmen konnte, da ihm „die Partei“, wenn es sie zeitweise denn überhaupt gab, zu wenig Geld schickte. Auch Stalin gehörte zu 247

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427 Viele Details dazu finden sich in dem filmischen Porträt Lenin – Drama eines Diktators (BRD, 2014) von Ulrich H. Kasten.

428 Zit. n. Valeriu Marcu, Weltrevolution des Nihilismus? (1939), in: ders., ‚Ein Kopf ist mehr als vierhundert Kehlköpfe‘. Gesammelte Essays, Konstanz (2002), S.  177 – 191.

den Geldeintreibern.427 Normalerweise würde man ja vermuten, dass wer viel liest, erst mal anderen keinen Schaden zufügt, weil das leise und gesittet vonstattengeht. Bei Lenin liegt es offensichtlich anders: Er lädt sich in endlosen Lektüren in den Tempeln bürgerlicher Gelehrsamkeit mit einer Differenz zwischen sich beziehungsweise seiner kleinen radikalen Splitterpartei und „den anderen“ auf, bis er so voller Ideensprengstoff ist, dass es entweder eine Entladung in der realen Welt, das heißt außerhalb der Bibliotheken gibt, oder seine ganze Biografie nachträglich als vollkommen entwertet daliegt, weil es zu keiner Entladung gekommen ist. Genau diese Befürchtung formuliert er in seinen Briefen aus dieser langen Periode. Politisch wirksam, wirksam in der Welt da draußen, ist diese Differenz dann vor allem dadurch, dass sie auch noch den Unterschied zwischen Bürgerkrieg und Nationalkrieg einebnet. In seinem humorlosen Militärprogramm der proletarischen Revolution von 1916 legte Lenin das kurz vor seiner Abreise aus der Schweiz fest: „Es wäre grundfalsch, an der Unvermeidlichkeit der Vereinigung beider Arten von revolutionären Kriegen zu zweifeln.“ 428 Sprach’s und tat’s. Zwei Jahrzehnte später erläuterte Ernst Jünger in einem Brief an Valeriu Marcu denselben Sachverhalt:

429 Brief Ernst Jüngers an Valeriu Marcu vom 19. Januar 1937. In: Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft, Bd. 5, Berlin (1991), S. 124 f. 430 Nach Pierre Legendre, Die bevölkerte leere Bühne. Notizen zum kinematographischen Emblem. In: Rüdiger Campe/ Michael Niehaus (Hg.), Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg (2004), S.  43 – 56.

Erst unter diesen Aspekten gewinnt das Wort vom totalen Kriege sein volles Gewicht – als gleichzeitige Kombination von Krieg und Bürgerkrieg, beides in Permanenz.429

Aber bitte doch etwas genauer! Was ist da vorher los in der Bibliothek? „Ich schreibe, lese, kaue durch“, heißt es in den April-­Thesen. So beschreibt Lenin es also selbst. „Durchkauen“ und „Wiederkäuen“ (lat. „ruminare“) sind mittelalterliche religiöse Praktiken der Lektüre, die Schopenhauer und Nietzsche schließlich ihren profaneren Zeitgenossen empfahlen. [➤ Lesen,  S. 194] Die scholastisch-­juristische Schuldisputation kannte die mit „hervorstehenden Zähnen“ (lat. „brocchus“) bewährten Pro- und Contra-­Argumente, „argumenta brocardica“, um damit aus der Masse überlieferter römischer Rechtstexte aufschlussreiche Widersprüche hervorzutreiben.430 Die unerbittliche Differenz zwischen sich und dem Rest, herausgelesen aus 248

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einfach allem, entsteht und bleibt beim Dauerleser Lenin stabil (wird „scharf gehalten“, könnte man sagen), indem seine quasireligiösen, marxistisch inspirierten Lektüren fortwährend Widersprüche gemäß der „streng wissenschaftlich-­logischen Methodik“ derselben Ideologie in den Beständen der Bibliothek auffinden oder eben die Prämissen dieser Lektüren bestätigen.

* Ernst Jüngers Brieffreund Valeriu Marcu (1899 – 1942) war als junger Kommunist Lenins (und Béla Kuns) Gefolgsmann, Gesprächspartner und Emissär. Später gehörte er dem Kreis der Neuen Nationalisten um Jünger an. Noch als Kommunist, in Zürich, fragte er einmal Lenin, „why he worked so hastily and nervously and spent so much time in the library“. Lenin antwortet schon in radikaler Manier: „A work that is not completely checked to the last word, cannot be regarded as even begun.“ 431 Lenin war offenbar in seiner Londoner Zeit in den wenigen Pausen, die er sich gönnte, immer wieder an die Marxsche Grabstätte gepilgert, um den Exklusivauftrag, Marx’ Erbe mit etwas mehr Schwung anzutreten, dem Toten abzuhorchen und von ihm zu übernehmen. So ein Auftrag höherer Mächte gehört zur „Gestalt der Radikalität“ 432 – und zum Prozess der Radikalisierung, kann man ergänzen. Dieser Auftrag gibt dann auch Orientierung im Meer der Bücher, legt einen Pfad durch die Bibliothek. Dieser Auftrag macht Notizen (im Sommer 1915 etwa zu Clausewitz’ Vom Kriege)433 überhaupt erst möglich, wenn man nicht einfach „gelehrt“ oder „sonderbar“ werden will, sondern „radikal“. Gleichzeitig fungiert das fortwährende Lesen als maximale Promotion der intendierten radikalen Handlungen, da jede Lektüre noch deutlicher macht, dass bisher nicht gehandelt wurde und der behaupteten Radikalität jede Beglaubigung fehlt. „Ihre Taten waren Zeitschriften“, notierte Carl Schmitt verächtlich über die Romantische Bewegung von Friedrich Schlegel und Adam Müller. Besser kann 249

431 Überliefert ist das in Valeriu Marcus letztem, im April 1943 (in ‚Foreign Affairs‘) erschienenem Text ‚Lenin in Zurich – a Memoir‘, in: V. Marcu, Gesammelte Essays, Konstanz (2002), S. 213 – 224. 432 Eine glückliche Formulierung aus Christian Bermes Beitrag Radikalität – Etikett oder Gestalt? im Themenheft ‚Radikalität‘ der Zeitschrift für Kulturphilosophie (Nr.2, 2012). 433 Vgl. W. I. Lenin, Clausewitz’ Werk Vom Kriege. Auszüge und Randglossen. Vorwort u. Anmerkungen v. Otto Braun, Ost-­Berlin (1957).

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man Lenins zeitweises Problem, aber auch seine Motivation, nicht auf den Punkt bringen. Der Prozess der Radikalisierung ist nämlich zunächst ein Lektüreschema, das so lange mediale Kontexte, die die Welt unterschiedlich repräsentieren, passend macht oder aussondert, bis es die äußere Welt auf die wenigen Elemente einer dergestalt im Inneren der Lektüre gewonnenen Formel zusammenschmelzen lässt.

434 Vgl. Hannes Stein, Böse Kinder, die Bomben legen. Ein Attentat, ganz viel Nihilismus, und am Ende profitiert immer Russland. In: Die Welt vom 6. August 2016. 435 Alles auch nachzulesen in Valeriu Marcus großartigen, mehrfach überarbeiteten Lenin-­ Biografien (Leipzig 1927 und zuletzt München 1970).

436 Vgl. insgesamt Luciano Canfora, Die verschwundene Bibliothek. Das Wissen der Welt und der Brand von Alexandria, Hamburg (1988/ 2002).

Diese Formel, dieses in tausend Lektüren erhärtete Konzentrat, macht – nach dem endgültigen Verlassen der Bibliotheken – ein zielgerichtetes erbarmungsloses Handeln ohne Rücksicht auf Verluste (und dessen effektive Organisation) da draußen erst möglich. Lenin hatte das vermutlich alles auch bei Joseph Conrad, der kurioserweise eine ähnliche, tartarisch angehauchte Physiognomie wie er selbst hatte, in seinem im Londoner Anarchistenmilieu spielenden Roman Der Geheimagent von 1908 nachgelesen.434 Die Literatur nährte dann kunstvoll-­ironisch ein Ressentiment, das mit der Verurteilung und Hinrichtung von Lenins Bruder Alexander (wegen umstürzlerischer Umtriebe und Vorbereitungen eines Attentats) im Jahr 1887 im Realen seinen schmerzhaften Ausgang genommen haben dürfte.435

* Doch was hat meine kurze, an ein arg verkürztes Lenin-­Porträt geknüpfte Bibliotheksfantasie mit den Attentätern von heute zu tun? Insofern sie einen „islamistischen“ Hintergrund für sich reklamiert, sollte man unbedingt eine andere Bibliotheksanekdote zurate ziehen, bevor man dann schleunigst wieder über das World Wide Web redet. Die Anekdote berichtet, dass die arabische Eroberung von Alexandria im Jahr 642 für die weltberühmte Bibliothek der Stadt fatale Folgen hatte.436 Die Bibliothek sei zerstört worden mit dem einfachen Argument des Kalifen Umar ibn al-­Chattab, dass mit dem Koran übereinstimmende Bücher an sich überflüssig wären und von ihm abweichende andererseits absolut unerwünscht. Diese Anekdote wurde unterdessen von der Wissenschaft in das Reich der Legenden (des 13. Jahrhunderts) verwiesen, zeigt aber ganz schön, wie Nutzer, die nicht an Gelehrsamkeit als solcher interessiert sind, mit und in Bi250

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bliotheken fertig werden: Sie lesen alles mit ihrem Schema ein, treiben einen recht groben Keil in den Klotz und stülpen dieses Schema dann gegebenenfalls der Welt über, spalten sie, um jegliches Abweichendes beziehungsweise die „falsche Hälfte“ anschließend ganz real „wegzufegen“. Man stelle sich nun einfach mal vor, wie jemand heutzutage im World Wide Web zunächst über die schiere Menge der Funde verzweifelt, wenn er auf vergleichbare Wahrheits- und Rollensuche, nicht aber auf Wissenssuche geht. Man stelle sich vor, wie dieser (sich) suchende, schon irgendwie ‚geladene‘ anonyme Nutzer surfend, klickend, spielend, chattend, postend (oder welche Gebrauchsformen digitaler Kommunikationstechnik er auch immer wählt), wie dieser Suchende unter solchen Bedingungen eine tragfähige Selbsterzählung zustande bringen soll. Eine Erzählung, die sich mit jedem Klick oder Post bestätigt, statt sich in bloßes (für ihn wertloses) Mehrwissen oder gar in dieselben Belanglosigkeiten aufzulösen, die die anderen dort vermeintlich auch immer schon treiben. [➤ Informiert sein,  S. 164] Es wird ihm ein wenig wie Lenin ergehen: So wie Lenin ahnte, dass er die Bibliothek, in der er sich so gut auskannte, eines Tages würde verlassen müssen; und so wie Lenin ahnte, dass es nicht reichen würde, der Bibliothek einfach ein weiteres wahres Buch, „completely checked to the last word“, hinzuzufügen, um ihre in dieser Hinsicht bedrückend egalisierende Kraft ein für alle Mal auszuhebeln, so ahnt auch unser anonymer Nutzer etwas: Er ahnt, dass seine noch ein wenig diffuse, aber schon drängende Anspannung, die tatsächlich eine Sehnsucht nach dem Einen aus dem Vielen ist, nicht einfach mit Posts, Tweets oder Blogs abzubauen ist, ja eben genau nicht im selben Medium zu befriedigen ist, in dem sie sich über einen langen Zeitraum aufgebaut hat.

* Nach ein wenig Mitgefühl macht uns dieses Profil vor allem schaudern, denn wir denken an Lenin, wie ihm die Stimme aus dem Grab schließlich einen Auftrag erteilt, den die anderen wohl als viktoria251

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437 Aus dem Editorial des Themenhefts ‚Radikalität‘ der Zeitschrift für Kulturphilosophie. 438 Vgl. auch Alexander G. Düttmann, Feinde im Diesseits und Jenseits. Radikalisierungen, in: Christian Geulen et al. (Hg.), Vom Sinn der Feindschaft, Berlin (2002), S.  219 – 232.

nischen Spuk abgetan oder überhört hatten. Der Spuk aber kehrt periodisch wieder: So wie Lenin in einer Bibliothek, die auch ihren Kritikern offenstand, unablässig das Ende einer solchen Umgebung herbeigesehnt hatte, so wird unser anonymer Nutzer schließlich ein Video im Netz hinterlassen, das seine ganze Verachtung für dasjenige Medium zum Ausdruck bringt, das ihm überhaupt erst erlaubte, sich derartig aufzuladen und zu artikulieren. Radikalisierung reagiert auf das vorprogrammierte Scheitern endgültiger Verwurzelungsversuche in tragenden Erzählungen, denn Radikalität ist eine „Selbstüberbietungsphantasie“,437 Radikalisierung kann nicht einfach Halt machen.438 Radikalisierung korrespondiert deshalb im je aktuellen und effektivsten Trägermedium – Lenin schrieb fast alles zuerst für die schnelleren Zeitschriften oder „broschürenförmig“ – mit dem hasserfüllten Ansinnen einer gewaltsamen Entwurzelung aller anderen. „Anerkennungskämpfe“ (Bermes) in der Clique: Wer ist der Tempomacher? Bildersturm, Büchersturm, Maschinensturm usw. Maos Kulturrevolution fegte mit dem „Rotes Buch“ genannten Katechismus einfach das Wissen (und seine Subjekte), das über diesen Katechismus hinausging, gnadenlos weg, obwohl es doch derselben ­Ideologie entsprungen war. Auch das ein Spuk, dessen Stimme ausnahmsweise nicht aus einem Grab, sondern aus einem Fluss ertönte. Mao hatte ihn medienwirksam „durchschwommen“, um seine Jugend unter Beweis zu stellen. Um es nicht zu einer Verwechslung mit psychologischen Erklärungen kommen zu lassen, muss betont werden, dass man sich nicht die Subjekte, sondern die Spielräume anschauen muss, die die technisch-­medialen Umgebungen ihnen einräumen. [➤ Konsumieren, S. 180] Sie werden das nächste neue Feindbild der Radikalen werden, die ihnen gleichwohl entstammen. Erst dann wird klarer, welche Attraktivität das Zusammenschmelzen der gesamten, irritierenden Weltbibliothek auf ein Buch für sie hat, welche noch einmal gesteigerte Attraktivität die erneute Verkürzung des einen Buches auf wenige, mit grausamstem Bildmaterial von „Taten nach dem richtigen Schema“ unterlegten Hassformeln hat. Erst dann wird nachvollziehbarer, welche Attraktivität es hat, nach endlosen 252

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Odysseen im World Wide Web, nach abertausenden Klicks und Mini­ ent­schei­dungen, die sich zu nichts Übergeordnetem, zu keiner „Gestalt“ fügen, in den Schoß einer einzelnen, anwesenden und verbindlich auslegenden Stimme zurückzukehren, die aus einem Grab, einem Lautsprecher, einem Fluss oder woraus auch immer herauftönt und einen ganz persönlich beauftragt.439 Denn wir reden heute fast ausschließlich von Tätern, die ganz bestimmt mehr als vierzehn Tage vor einem Computer mit Netzzugang verbracht haben, auch wenn sich ihre Radikalisierung auf diesen Zeitraum beschränkt haben soll. Was ist das für eine absurde Vorstellung. Dort, im Netz, vor dem Schirm hatten sie vielleicht schon jahrelang nichts Bestimmtes zu suchen. Das ist die Logik von unfreiwilliger Freizeit, vom Irrewerden an Unterhaltung, aber das ist auch schon die Logik von Jahrzehnten in Bibliotheken ohne Gelehrsamkeitsanspruch, von Jahren der exzessiven Zeitungslektüre auf Parkplätzen, während andere, die Familie, die Nachbarn, einen bei der Arbeit wähnten.440 Zu was soll sich dieses Wissen formen? Erst wenn die Zahl der in der medialen Umgebung bereitliegenden Möglichkeiten in krassem Gegensatz zu der Chance (und zu der Kompetenz) einer tatsächlichen, erfolgreichen Implementierung von Optionen in die eigene Biografie steht, werden primitive gewalttätige Übersichtsangebote wie dasjenige einer radikalen irreversiblen Attacke auf die (meisten) anderen so attraktiv, dass sie die technische Umgebung der tausend Möglichkeiten verlassen helfen. Der Radikale macht nun aus einer irgendwie ungreifbaren, beängstigend komplexen Umwelt, für die er keine oder bestenfalls eine primitiv-­ bemeisternde Idee hat, einen Raum finaler Attacken. Erst hier liegt auch (s)ein psychopathologischer Angelpunkt: Eine Idee muss ab jetzt für alles reichen. Das nennt man „fixe Idee“. René Girard war begeistert von diesem Konzept und empfahl es unter dem vielversprechenden Titel Der grundlegende Mord im Denken Nietzsches den Kulturwissenschaften: Trotz ihrer vielseitigen Erweiterungen sind meine Vorstellungen über die ‚fundamentale Anthropologie‘ im Grunde so einfach, dass sie sich

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439 Sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht Detlef Siegfried, Das radikale Milieu: Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917 – 1922, Wiesbaden (2004).

440 Vgl. Emmanuel Carrère, Amok, Frankfurt/M. (2001).

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vielleicht auf nur eine einzige reduzieren lassen. Es dürfte sich also

René Girard, Der grundlegende Mord im Denken Nietzsches. In: Dietmar Kamper/ Christoph Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne. Frankfurt/M. (1987), S. 255 – S. 274, hier: S. 255.

um eine ‚fixe Idee‘ handeln.441

Die Verschärfung der Suche und Sehnsucht nach solchen „fixen Ideen“ in den sich (im strikten Sinne des Wortes) gerade entideologisierenden Räumen unserer modernen Welt hängt womöglich mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit von vernetzter digitaler Medientechnik zusammen. Sie vermag Optionen und Erzählungen – egal aus welchem Kontext – effektiv und in großer Zahl auf immer kleineren Flächen fast gleichzeitig zu versammeln und in deprimierender Folgenlosigkeit (für einen nachhaltigeren Bildungsprozess) zur Wahl zu stellen. Damit kann man umgehen (lernen) – oder nicht. [➤ Formatieren, S. 154]

* Wahr ist: Marx sprach nicht aus dem Grab, sondern seine Ideen standen gedruckt in derselben Bibliothek, in der Lenin ihn als Brille für alle anderen Bücher genutzt hatte. Auch die islamistischen Anwerbe- und Propagandavideos huschen über denselben Schirm, den die Mainstreammusikindustrie, der kommerzialisierte Weltsportzirkus oder das lokale Studi-­Netzwerk bevölkern. Mit einem Buch zunächst die anderen Bücher und dann die Welt umzupflügen, ist ganz offensichtlich ein Langzeitprojekt, solange diesen Weg noch kein anderer zurückgelegt hat. Aber auch die Bereitschaft, aufgrund eines Rekrutierungsvideos denjenigen Kosmos zu negieren, der dieses eine Video ebenso erst ermöglichte wie alle Übrigen, die es doch auslöschen helfen soll, entsteht nicht in vierzehn Tagen.

442 Ramón Reichert, Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0, Bielefeld (2008).

Wahr ist aber auch: Unterschiede gibt es sehr wohl. In der Bibliothek treffen wir auf geübte Leser, auf in Institutionen trainierte Leser. [➤ Lesen,  S. 194] Vor dem Schirm sitzen – gerade in der wodurch auch immer erzwungenen Freizeit – häufiger „Amateure im Netz“,442 die den Suggestionen des Mediums noch ausgelieferter sind als geübte und sich übende Leser den Ideen der Bücherwelt es je waren, selbst wenn sie angeblich nur „Schund“ und „Schmonzetten“ lasen. Im Netz macht sich kein Lehrer, kein Professor und auch kein Biblio254

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thekar an der Ausgabetheke mehr einen Reim auf die Folge der Lektüren oder notiert sie wenigstens auf Karteikärtchen, um sie eventuellen späteren Biografen an die Hand zu geben. Den unablässigen Übungsparcour der neuen Nutzer in den sozialen Netzwerken kontrolliert nur noch die Werbeindustrie auf der Jagd – fishing & tracking – nach Adressen und Kaufbedürfnissen und vielleicht ein Geheimdienst oder zwei. Bildungsinstitutionen und ihre Vertreter haben keinen Zutritt oder Zugriff. Die Zugangsschwelle ist im Web viel niedriger als im Falle der Bibliothek: Demokratisierung pur. Die Verstehens- oder Analyseschwelle jedoch – und das ist der entscheidende Punkt – für all die inszenatorischen Kniffe und Traditionen visuell-­ akustischer Verlockungen ist es mitnichten. Das Netz ist zwar auf Abtauchen, aber nicht mehr auf Versenkung und Konzentration angelegt. Ein Tauchkurs dauert bekanntlich nicht so lange wie selbst eine verkorkste Schulkarriere. Das Netz zwingt vor allem den von der niedrigen Zugangsschwelle angelockten Wahrheitssucher in den Klickstrudel der Verschwörungstheorien, die streng nach der technischen Hyperlink-­Logik maximaler Konnektivität alles mit allem verbinden, bis den weniger technisch denkenden User der panische Gedanke beschleicht, dass erst alles abgeschaltet werden muss, damit Ordnung, Erzählbarkeit und Übersicht wieder herrschen können. Maschinensturm again. Leute gleich mit weg. Klar, man hätte vorher noch schnell Informatik studieren können, dann wäre das alles vielleicht nicht passiert, aber Wahrheitssucher neigen in der Regel anderen Fächern zu. Und in der Chefetage der Radikalisierer sah es vergleichsweise immer schon ganz anders aus: „Diese Bewegung ist in ihren eigentlich treibenden und leitenden Kreisen völlig voraussetzungslos, programmlos, aktionsbereit, in ihren besten Kerntruppen instinktiv, in ihrer leitenden Elite höchst überlegt, kalt, raffiniert.“ 443 Doch die Chefs sind weit, und wir bekommen sie meistens erst auf Fotos zu Gesicht, nachdem sie tot aus einem zerbombten Loch gezogen wurden. Doch zurück zu den Problemen der Basis: Die stete und doch elektrisierende Ahnung des geübten Romanlesers, dass er nur einen ­Verschwörungsroman zur Unterhaltung liest, entfällt im Netz regel255

443 Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus, Zürich (1938).

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444 Vgl. Torsten Hahn, Das schwarze Unternehmen. Zur Funktion der Verschwörung bei Friedrich Schiller und Heinrich von Kleist, Heidelberg (2008).

mäßig. Zwar macht das Netz die klassischen Romanstoffe der verschwörerischen ‚schwarzen Unternehmen‘ zunächst nur leichter zugänglich.444 Aber gleichzeitig scheint gerade der Charakter des Sich-­Bewegens im Netz, das permanente schnelle Zusammenbinden und Zusammenholen von in jeder Hinsicht weit auseinander liegenden Elementen, das Bewusstsein für die Konstruiertheit verschwörerischer Plots, die eben nicht schon das Politische sind, auszulöschen statt zu steigern. [➤ Vernetzen, S. 323]

*

445 Vgl. Verf., Amok. Geschichte einer Ausbreitung, Bielefeld (2008).

Was heißt das alles für den Blick auf „die Medien“? Das heißt zuerst: Die Zeiten der alten Leser und Bibliotheksbenutzer sind wohl vorbei. Auch dass man „das eine Buch“ einfach auswendig kann, sei es nun ein profanes Kultbuch à la Steppenwolf, ein marxistisch-­leninistischer Katechismus oder eine andere heilige Schrift, das ist jenseits von Koran-­Schulen oder evangelikalen Pflanzstätten voraussichtlich bald Geschichte in einer Welt voller (elektronischer) Unterhaltung. Der Videorecorder, der noch kein Menü kannte, legte den Usern ein letztes Mal eine solche Unterart der intensiven Wiederholungslektüre mitten im Meer der (Film-)Geschichten nahe. Einige Amoktaten beispielsweise wurden damals auf wiederholte Lektüren eines Horrorfilms zurückgeführt.445 So wie ganz analog der sogenannte Una-­Bomber Theodor Kaczynski „ein dutzend Lektüren“ von Conrads Geheimagent in den Vernehmungen des FBI zu Protokoll gab. Er hatte sich im Realen dann auch recht genau an den Ablauf des fiktiven Buchs gehalten. Das wirkt heute wie eine späte Reminiszenz an pietistische Bibellektüren oder gelehrte Klassikerlektüren, die ebenfalls alles aus einem Text heraus verstehen wollten. [➤ Empfinden, S. 114] Heute gilt: Surfen ist noch nicht studieren, und selbst KulturwissenschaftlerInnen beklagen, dass sie ‚gar nicht mehr richtig lesen‘. Aber Radikalisierung gibt es immer noch, und auch eine Medienpraxis ist sie weiterhin. Man versteht sie deshalb nur historisch und im ganzen Spektrum überlieferter Gebrauchsweisen verschiedener Medien und nicht als Einzelfall oder Problem der Gegenwart. Man 256

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versteht Radikalisierung nur technisch, als Wechselspiel mit Institutionen und Apparaten, nicht einfach als individuelle Herkunftsund Kränkungsgeschichte oder auch philosophisch. Vieles spricht deshalb dafür, aus der Kombination von niedriger Zugangsschwelle des Netzes und gleichwohl hoher Verstehens- und Analyseschwelle hinsichtlich seiner Produkte und Strategien (und seiner das Einzelsubjekt übersteigenden Möglichkeitsdichte) ein Plädoyer für mehr historisch vergleichende Unterrichtung in Sachen Medien abzuleiten, ein Plädoyer auch für mehr begleitetes Ausschwärmen im Netz. Mit dem Lesen fängt man ja auch im ersten Schuljahr an.

* Jeder weitere Satz wird nun zwangsläufig appellförmig und – noch schlimmer – moralisch. Zwei Beispiele für solche Sätze: Wollen wir es weiter dem Zufall überlassen, wann und bei wem frei flottierende „fixe Ideen“ attraktiver werden als „Ideen ohne Ende“? Oder wollen wir lieber neue Lehrer und Strukturen in bewährten Institutionen ausbilden, die eine Alphabetisierung unserer „Netz-­Däumlinge“ (Serres)446 auch wirklich leisten können? Auch wenn sonnenklar ist, dass sogenannte Zufälle und komplexe Netzarchitekturen sich mögen, dass totale Kontrolle auch hier weder wünschenswert noch wahrscheinlich ist, so kann man sich solche Sätze ja wenigstens einmal anhören. Das allgemeine Medienkompetenzgeschwafel in den ministeriellen Handreichungen der Bundesländer stülpt das Problem den vorhandenen und neuen Lehrern der alten Fächer als (Zusatz-)‚Aufgabe‘ einfach über. [➤ Kompetent sein,  S. 168] Das wird jedenfalls nichts zu einer Medienbildung beitragen, die den Namen auch nur ansatzweise verdient hätte. Schon einmal wurde in einer Debatte über Radikalisierung, 1968, gleichzeitig über die „neue Schule“ nachgedacht, die dann letztlich neue Fächer aufbot.447 Lenin jedenfalls ging auf seine Art – sozusagen bibliotheksgestützt und mit einer „Bildungsoffensive“ – mit dem Problem um: Drei Jahre nach der, je nach Standpunkt, erfolgreichen oder verheerenden Oktoberrevolution veröffentlichte er ein Büchlein mit dem Titel Der ‚Linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit des Kommunismus. 257

446 Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin (2013).

447 Vgl. Hermann Glaser, Radikalität und Scheinradikalität. Zur Sozialpsychologie des jugendlichen Protests, München (1970).

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r efor mier en Der Bildungsfortschritt

448 Lothar Gall, Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin (2011), S. 143.

449 Nach Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/ 1900, 2. erw. u. korr. Aufl., München (1987), S. 65. Vgl. auch ders., Das Subjekt als Beamter, in: Manfred Frank et al. (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. (1988), S.  401 – 420.

Die unter dem Namen Wilhelm von Humboldts bekannt gewordene „radikale Reform des öffentlichen Unterrichtswesens“ 448 war Teil einer gewaltigen Reform, die seit 1807 auf die zeitgemäße Verwaltung ganz verschiedener (Sach-)Gebiete in Preußen zielte. Aber schon 1787 hatte der Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf den Auftrag erhalten, ein philologisches Seminar für die Lehrerausbildung aufzubauen und seit 1794 waren die Professoren und Gymnasiallehrer preußische Beamte, was zur Stabilisierung dieser neuen Umgebung von Bildung nicht unwesentlich beigetragen haben dürfte.449 Die Bildungsreformer hießen Humboldt, Nicolovius, Uhden, Natorp und Süvern, ihre Lehrer und Ideengeber Wolf, Kant, Pestalozzi, Schleiermacher oder Hamann. Sie stammten aus der Philosophie, der Theologie und der Altertumswissenschaft. [➤ Einbilden, S. 103] Ideen und Verwaltungen können durchaus einigermaßen gedeihlich zusammenwirken. Es ist aber von entscheidender Bedeutung, aus welcher intellektuellen, disziplinären und institutionellen Umgebung die Impulse der Reformen gegeben werden und welche neue legislative und technisch-­mediale Umgebung dann mit ihnen produktiv korrespondiert – und dass es überhaupt so etwas wie eine ‚Idee‘ gibt. Die Bildungsreformer sind also seit langem unter uns – und sie sind immer noch rastlos tätig. Ihr Treiben erinnert allerdings unterdessen mehr an eine beliebte Art von Videos, in denen reichlich untalentierte Autofahrer beim (erfolglosen) Einparken in eine an sich ganz kommode Parklücke gezeigt werden, als an planvolles, ideengeleitetes Handeln. Meistens durch Zufall aufgenommen, sorgen diese Aufnahmen weltweit für Unterhaltung, auch wenn man sich ein wenig für die Fahrer schämt. Doch anders als im Falle solcher Videos ist den Zuschauern der Bildungsreformen das Lachen schon lange vergangen. Und leider kann man die Bildungsreformer auch 258

reformieren

nicht – nach wenigen Minuten quälender Heiterkeit – einfach wegklicken oder überblättern.

* Auch die so dilettantische Dauerreform hat natürlich ihre Geschichte. Was einmal mit guten Vorsätzen, ideologischen Kämpfen, einzelnen Fehleinschätzungen, falschen Planungsgrundlagen und zweifelhaften Erfolgsmeldungen eröffnet wurde, hat sich längst zu einem fatalen Reformregelkreis geschlossen, zu einer endlosen Abfolge unkoordinierter und falscher Manöver entwickelt. Statt über eine Idee von Bildung unter Einschluss neuer technischer Umgebungen, d. h. über langfristige Konzepte nachzudenken, arbeiten die Bildungsreformer sich an einer Art absatzorientierten schubweisen Industrialisierung der Klassenzimmer ab. [➤  Ausstatten, S. 80] Die Lobbyisten der Digitalbildungswirtschaft – souffliert von ausgewählten Medienpädagogen – geben sich als ‚Berater‘ oder Vertreter von ‚Stiftungen‘ in den entsprechenden Ministerien die Klinke in die Hand. Einen besonders schädlichen Effekt der Dauerreform in einem so zentralen gesellschaftlichen Bereich wie dem der Bildung hat schon 1958 – also noch vor jeder (Dauer-)Reform – die soziologische Institutionentheorie formuliert: Wenn Institutionen im Geschiebe der Zeiten in Verfall geraten, ab-

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bröckeln oder bewusst zerstört werden, fällt die Verhaltenssicherheit

Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1958), 7. Aufl., Frankfurt/M. (2016), S. 48.

dahin, man wird mit Entscheidungszumutungen gerade da überlastet, wo alles selbstverständlich sein sollte.450

Diese Prognose hat uns längst eingeholt. Aber was kann man tun? – Bürokratien immunisieren sich nämlich schon aus Selbsterhaltungsgründen regelmäßig gegen wirklich neue Ideen – selbst wenn das Neue nur darin besteht, das Alte anders ins Spiel zu bringen. Ihre Aufgabe ist schließlich auch nur das Erfechten und Verteidigen von Budgets (durch fristgerechtes Ausgeben vor Haushaltsschluss). Will man ihnen da wirklich ‚Ideenlosigkeit‘ zum Vorwurf machen? Die Politik lässt ihrerseits die Bürokratien so lange gewähren, bis ihre 259

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Kameralistik, ihre auf den glatten Jahresabschluss hin angelegte, geschlossene Buchführung, beim Wähler in den Vorwurf der Fortschrittsfeindlichkeit umschlägt. – Dann wird die Politik spendierfreudig und geht anschaffen, genaugenommen: Geräte anschaffen. Es muss angeschafft werden, was in den Augen der Wähler angeblich den Fortschritt hinreichend verkörpert – und was in den Augen der Kameralisten keine Kosten verursacht, die ihre Budgets längerfristig belasten (Personal).

Porträt des Reformers als Mann mittleren Alters Ein wahrer Revolutionär ist sich seiner Sache sicher, er ‚kann nicht anders‘. Wer dagegen nur reformiert, ist zwar guten Willens, hat aber vor allem Angst. Angst, nicht genug getan zu haben, Angst, die Zeichen der Zeit falsch gedeutet zu haben, Angst, dass es bis zur nächsten Reform sowieso nicht mehr weit ist. Den Reformer plagen deshalb Alpträume: Vielleicht war schon der Auftakt, die erste Reform falsch, im Grunde überflüssig. Vielleicht schieben sich alle seine Reformen nur ineinander, verkeilen sich, lassen keine Luft mehr zum Atmen. Worte erscheinen in riesigen blutroten Lettern an seiner Schlafzimmerwand: ‚Reformbedarf‘ und ‚Reformstau‘ steht dann da. Der Reformer erwachte – schweißgebadet. Natürlich wünschte sich auch der Reformer eine letzte, endgültige Reform. Gleichzeitig aber hatte er genau davor eine geradezu zwanghafte Angst. Wenige Jahre bevor der Reformer zur Welt gekommen war, 1961, erschien ein Buch von einem gewissen Fritz Riemann. Es hieß Grundformen der Angst. Das hätte dem Reformer jetzt vielleicht helfen können. An dieser letzten Reform, die wirklich etwas veränderte, einen ‚neuen Geist‘ erkennen ließe, würde er schließlich gemessen werden. Und was wäre, wenn er für zu leicht befunden? Was wäre, wenn das Wählervolk ihm zwar huldigte für seinen Mut, ihn aber das Pochen auf wirkliche Veränderungen erpressbar machte in der schwierigen Koalition, in der er nun einmal zu agieren gezwungen war? Was, wenn die anderen Veränderungen wollten, die er nicht wollte? Was, wenn die Reform noch an Dynamik gewönne? Was würden die Leiter der 260

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zuständigen Behörden sagen? Es war schon richtig gewesen, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen! Sein politischer Instinkt hatte ihn wieder einmal gerettet. Der Reformer ließ sich zurücksinken, vorsichtig, ganz langsam, strich ein wenig das Plumeau glatt, beruhigte sich – und hoffte auf besseren Schlaf. Es würde sich schon alles zum Guten wenden. Beim erneuten Wegdämmern sah sich der Reformer noch vor ein Mikrofon treten und hörte sich folgenden Satz sagen: ‚Ich verstehe die Kritik, aber es dauert einfach, bis die Reformen greifen und zu wirken beginnen.‘ Der Satz beruhigte den Reformer, aber es war ein schrecklicher Satz. Besonders schrecklich klang er in den Ohren der Reformierten. Hier und da gab es natürlich auch Gewissheiten in Sachen Reform. Manche Kollegen hatten es da einfach leichter: Bei einer Reform der inneren Sicherheit z. B. wusste man zumindest, dass es hinterher ein paar mehr Polizisten geben würde. Bei einer Reform der Gesundheitssysteme wusste man, dass die Beiträge erhöht würden, hinterher alle eine Chipkarte haben (sollten) und ansonsten genauso lange beim Arzt warten mussten wie vor der Reform. Nur beim Bildungssystem wusste man nichts, war nichts sicher. Doch! – Eines war sicher: Mehr Erzieher, Lehrer oder Professoren würde es auf keinen Fall geben. Alles andere aber stand seit fast 50 Jahren praktisch permanent zur Disposition. Das wusste auch unser Reformer. Er konnte ein Lied davon singen, die Materie war ihm schließlich nicht ganz fremd.

* Unser Reformer hatte vieles schon auf dem Tisch gehabt: Mal sollte in Klassenverbänden gelernt werden, mal klassen- und altersübergreifend, mal im Kurssystem und mal in gleichaltrigen Kleingruppen, dafür fächerübergreifend unter einheitlicher Themenstellung. Für das Abitur sollte man dreizehn Jahre brauchen, dann aber doch lieber nur zwölf. Gerne ließ man darüber auch von Jahr zu Jahr die Eltern abstimmen. In der Grundschule blieb man vier Jahre, vielleicht aber auch sechs – je nachdem wohin es die hochmobilen Väter und Mütter gerade verschlagen hatte. Auch dem Reformer schwirrte manchmal 261

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der Kopf. Bildung sei nun mal Ländersache, erklärte ihm der Experte augenzwinkernd. Das wusste der Reformer natürlich auch. Der um seinen Schlaf gebrachte Reformer zöge es ohnehin vor, wenn sich der Experte erst einmal mit dem Referenten zusammensetzen und ‚ein neues Papier erarbeiten‘ würde. Der Experte zitierte noch schnell seinen Berufsstand: Expertenkommissionen hätten empfohlen, dass die Kinder ‚wie in Skandinavien‘ gleich zehn Jahre am Stück, die ersten zehn Jahre, zusammenblieben. In Skandinavien sei Bildung nämlich nicht Ländersache. Dort sprächen dafür alle sehr gut und sehr früh englisch. Noch so ein Thema, dachte der Reformer. (Sein Englisch war schlecht.) Hier wusste der Referent besser Bescheid. Er hatte seine Kinder schon ‚auf mehreren Schulen, in mehreren Ländern‘. Englisch gebe es in unseren Ländern ab dem ersten Schuljahr oder schon im Kindergarten, aber auch erst mit Eintritt in eine höhere Schule. Ob dort dann Latein oder Französisch wichtiger sei (als Englisch), hänge vom Schultyp ab, aber auch vom Direktor oder davon, ob ‚diesmal ein Leistungskurs zustande komme‘. Der Experte schaltete sich noch einmal mit der Bemerkung ein, dass ‚nach neuesten Studien‘ nicht mehr klar sei, ob es überhaupt Zeugnisse brauche.

* Das war schon wieder ein langer Tag für den Reformer. Er schaltete die Abendnachrichten ein. Der Bundespräsident sprach anlässlich eines wichtigen Jubiläums. Der weltweit geachtete Mann hielt die ganze Gesellschaft dazu an, ‚sich ihrer historischen Verantwortung jederzeit bewusst zu sein‘. Der Reformer nickte wohlwollend in Richtung Fernseher. Der Feierabend hatte ihn milde gestimmt. Am besten, fand er, sollte man damit schon in der Schule beginnen. Doch dann musste er wieder an seine Reformen denken. Gerade wurde in seinem Land (von ihm also) der Geschichtsunterricht abgeschafft bzw. mit ‚politischer Bildung‘ oder wahlweise mit ‚Gesellschaftskunde‘ fusioniert. Mehr Geschichtsbewusstsein kam dabei voraussichtlich nicht heraus, das wusste der Reformer. 262

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Am nächsten Tag war der Reformer deshalb schon zu Dienstbeginn verschnupft. Der Referent goss noch Öl ins Feuer, zitierte den Experten, der sich ‚draußen ein bisschen umgehört hatte‘: Das Studienfach Geschichte ‚hinge an den Universitäten jetzt irgendwie in der Luft‘ und den Lehramtskandidaten würden seit kurzem die möglichen Fächerkombinationen einfach vorgeschrieben. Das waren unschöne Details. War der Reformer zu weit gegangen? Warum hatte er dem zugestimmt? War etwa sein Stellvertreter ohne Rücksprache vorgeprescht? (Der kümmerte sich doch normalerweise um ‚die Lehrer‘.) Ihm fielen die Worte des Bundespräsidenten ein. – Aber halt! Sollte er etwa Angst haben vor einer Handvoll Historiker? Nein, sicher nicht! (Andererseits kamen gerade sie besonders häufig in den Zeitungen zu Wort, die ihm seine Sekretärin morgens früh als erstes auf den Schreibtisch drapierte.) Die Stimmung drohte – wie bei den Historikern – zu kippen. Der Referent fühlte sich regelrecht in die Enge getrieben. Er wurde nun zynisch, seiner Karriere, das ahnte er – er war Jurist –, drohte ein erster Knick: Das Lehramtsstudium sei nur von einem Bildungs- und Studienideal offiziell abgekoppelt worden, an das ohnehin keiner mehr glaube da draußen. Am wenigsten die Universitätsangehörigen. Stattdessen, wusste dann der Experte zu berichten, würde den Studierenden dringend empfohlen, schon im Studium ‚Selbstmanagementqualitäten‘ (mittels Kreditpunkten) zu entwickeln und als ‚Berufsorientierung‘ die ‚Wirtschaft und die Industrie nicht aus den Augen zu verlieren‘. Das fand der Reformer wieder überzeugend. Er atmete auf. Warum sollte man nicht mit der Zeit gehen. Er war auch nie ein Bücherwurm gewesen.

* Wenn der Reformer fort war, auf Dienstreise z. B., die Tage nicht ganz so lang, trafen sich der Experte und der Referent noch auf ein Bier. Manchmal mussten sie schon am Nachmittag in der Cafeteria etwas Dampf ablassen – und teilten sich ein Hefeweizen. Ganz zufrieden waren sie, das wurde dann deutlich, nicht mit der Reform. Sie sei ‚irgendwie halbherzig‘, merkte der Referent an. Der Experte verstand sofort, worauf der Referent anspielte, auch ihn störte irgendetwas 263

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an der Reform: Nachdem man 15 Jahre lang ‚Mehrfachbachelor‘ gefordert und gefördert hätte, habe man sich jetzt dafür entschieden, ‚Einfachbachelor‘ besser zu finden. Das fand er ‚lächerlich‘. Und das war nur der Anfang ihres Gesprächs. Sie würden – so ganz unter sich – noch einiges zutage fördern.

* Doch überlassen wir die beiden ihrem wohlverdienten nachmittäglichen Feierabendbier. Ihre Wortschöpfungen aber verdienen noch ein wenig unsere Aufmerksamkeit. ‚Einfachbachelor‘ ist insofern ein unfreiwillig aufschlussreiches Codewort der Gegenwart von Bildung, da das Bachelorstudium – anders als in den angelsächsischen Vorbildländern für diese Reform – im Land der Reform selber nur sechs und nicht acht Semester dauern sollte. Dort, in dem Vorbildland, entschied man sich erst nach vier Semestern für eine besondere Abteilung, für ein Fach. Die restlichen vier Semester verbrachte man gut betreut – denn man buhlte in den Vorbildländern um die Studenten, sie waren das eigentliche Kapital – in einer dieser Abteilungen und schloss mit dem ganzen Jahrgang ab. Das stiftete Verbindungen für die Zukunft (im Kapitalismus). Also, fragt man sich, wo hatte unser Reformer sein Vorbild her? Der Reformer verrät es uns wahrscheinlich nicht und wir wollen ihm nicht noch mehr Schwierigkeiten machen. Schließlich war er nicht untätig. Nach der Reform gab es noch eine Reform – und jetzt machten (fast) alle ein Zweitstudium, einen Master, der vier Semester dauerte. In den Vorbildländern gab es das nicht. Weil der Reformer den Studenten nicht gesagt hatte, warum er den Master eingeführt hatte, dauert auch dieser (wie der Bachelor) etwas länger als geplant. In der Zeit machten sich die angehenden Master vielleicht einen Reim auf die Reform. Doch die Schwierigkeiten rissen nicht ab. Die angehenden Bachelorstudenten mussten seit Neuestem jetzt erst einmal in ein Kollegstudium. Ihre Schulbildung reichte angeblich nicht mehr für das Bachelorstudium. [➤ Kompetent sein, S. 168/➤ Informiert sein, S. 164] Drei Studienformen mit entsprechendem ‚Reformbedarf‘. – Das würde der Reformer kaum mehr alleine schaffen. Er würde noch einen Referenten einstellen, beschloss er im Stillen. 264

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* Alle Reformer argumentierten übrigens gerne mit ‚der Wirklichkeit‘. Sie meinten dabei nicht die Wirklichkeit der Reformer, sondern eine ‚stärkere Berufsorientierung‘ nach den Reformen. Es konnte ja nicht jeder Referent werden. Zu der realitätsgehärteten Aufforderung, ‚die Wirtschaft nicht aus den Augen zu verlieren!‘, ist anzumerken, dass das fakultätsübergreifende Studieren in einigen Ländern von den Reformern abgeschafft wurde. Geschichte (oder Philosophie) und Soziologie, oder Geschichte und Wirtschaftswissenschaft waren als Fächerkombinationen dort nun ausgeschlossen. Das sagen wir dem alptraumgeplagten Reformer aber besser nicht. Auch in seinem Land ist das nämlich so. ‚Das hätte nicht passieren dürfen.‘ Man hört ihn förmlich noch aufstöhnen. Neue Alpträume kündigten sich an. Neue Wörter zeichneten sich auf seiner Schlafzimmerwand ab. Sehr deutsche Wörter. Wörter wie ‚Überschreitung der Regelstudienzeit‘ oder ‚Fächerinkompatibilität‘. Schluss für heute, denn diese Szenen ließen sich wohl endlos fortsetzen. Wir wollen es lieber mit Humor nehmen: Max Weber, der einmal die Wissenschaft genauso wie die Politik als Beruf abhandelte, und um den uns – ähnlich wie um den Bundespräsidenten – die ganze Welt beneidete, hätte es aus heutiger Sicht nie geben dürfen. Er wäre aus der Sicht der heutigen Reformer nur die prominente Panne einer verfehlten kurzsichtigen Bildungspolitik, ein Ergebnis von ‚Reformunwilligkeit‘, ‚Nicht-­Reformierbarkeit‘, ‚Unfähigkeit zur Reform‘. – Merkwürdig. Ausgerechnet dem ängstlichen Reformer machten diese vorwurfsvollen Formulierungen, wenn sie ihm in den Sinn kamen, irgendwie Mut, Mut, seine Linie zu halten, Mut, ‚die Reformen weiter zu treiben‘. Mit großen Namen, sagte er sich dann, endlich kräftig ausatmend, könne man ihn nicht beeindrucken. Er sei eben ein ‚Werkzeug der Vorsehung‘, hatte der Referent einmal süffisant in ähnlichem Zusammenhang angemerkt. Das schmeichelte dem Reformer – ob er wollte oder nicht.

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r evolu t ionier en Die Bildungsverheißung

451 Eugen Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, Breslau (1931), S. 4.

Auch Revolutionen sind paradoxerweise auf Wiederholung oder Wiederkehr aus. Nichts anderes zeigt eine wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen von ‚re-­volutio‘, nichts anderes wird viel später der nordamerikanische ‚Re-­volver‘ verkörpern. Ursprünglich beschreibt die ‚Revolutio‘ also – wie in den sechs Büchern von Nikolaus Kopernikus’ De revolutionibus orbium caelestium von 1543 – den Planetenumlauf. „Dies ist die abendländische Bedeutung des Wortes. Das Wort Revolution dringt vor durch die Beschäftigung mit den Sternen.“ 451 Erst viel später entdeckte man die Vokabel für die Politik. Der Zwangsläufigkeit des Planetenumlaufs näher als der wechselhaften Politik sind zweifellos die sachlichen Revolutionen wie die neolithische, die industrielle oder die digitale. Sie geben auch den Takt für Bildung vor, wenn dort keine explizit eigenständigen Programme in Auseinandersetzung mit dieser neuen Umgebung formuliert werden. Ersatzweise und recht undifferenziert wird z. B. die ‚Digitalisierung‘ selbst immer wieder als ausreichendes Bildungsprogramm betrachtet. Denn im Falle solch umfassender technisch-­ sachlicher Umwälzungen, die sukzessive Nation, Erdteil oder Globus aufrollen, stößt man verhältnismäßig selten auf genug Zeit, Grundsätze und Methoden, auch die Technologien und Inhalte des Bildungssystems entsprechend umzustellen und anzupassen. Das liegt auch daran, dass die Abschätzung der Auswirkungen solcher technisch-sachlichen Revolutionen schwierig bis unmöglich ist. Bei politischen Revolutionen ist das anders: Sie entdecken in der Regel Bildung schnell als ein Hauptkampffeld der Durchsetzung ihrer Ideen. Beispiele dafür liegen in unserem kulturellen Gedächtnis – nach französischer und russischer Revolution – allerdings schon eine Weile zurück. Der Kemalismus Atatürks ist so ein unbekannteres, jüngeres, aber umso beeindruckenderes Beispiel: Mitten in der Weltwirtschaftskrise erhöht die junge türkische Republik ihre Ausgaben 266

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für eine radikal modernisierte Bildung um ein Vielfaches.452 Abschreckender wirkt jenes des Nationalsozialismus, der gnaden- und atemlos seine züchterische Vorstellung von Bildung implementierte. Viele der damit vertriebenen deutschen Wissenschaftler fanden eine neue Heimat und Aufgabe in der sich modernisierenden Türkei.453 Später war dann die Sozialdemokratisierung der neuen Gesamt(-Hoch-) schulen in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er Jahre eines der vorerst letzten und versöhnlicheren Kapitel in diesem Buch der Bildungsrevolutionen. Hier handelte es sich tatsächlich um ein als ‚Reformen-­Paket‘ getarntes revolutionäres Geschehen.454

452 Vgl. Klaus Kreiser, Atatürk. Eine Biographie, 2., durchgesehene Aufl., München (2014), S.  264 – 284. 453 Vgl. Arnold Reisman, Turkey’s Modernization: Refugees from Nazism and Atatürk’s Vision, Washington (2006). 454

* Immer wieder spielten sich entscheidende Phasen und Ereignisse der Reform- und Protestpolitik im 20. Jahrhundert auf dem Gelände von Bildungsinstitutionen, von Universitäten ab oder gingen sogar von dort aus. Gegen die Rassentrennung in den USA oder gegen den Vietnam-­Krieg, gegen die Militär-­Junten in Argentinien, Chile, der Türkei oder Griechenland wurde häufig zuerst auf einem Universitätscampus protestiert. [➤ Vortragen,  S. 335] In Griechenland darf das Militär seit seinem letzten Putsch keinen Fuß mehr auf einen Universitätscampus setzen. Peter Sloterdijk notiert den Anfang dieser Entwicklung sogar schon mit Hobbes im 17. Jahrhundert: Thomas Hobbes soll behauptet haben, auf den Bürgerkrieg zurückblickend: the core of rebellion are the universities. […] Schon damals lag also das strategische Bündnis zwischen den arbeitslosen Scholaren und den pauperisierten Massen in der Luft, man brauchte nur bis ins 18. und 19. Jahrhundert zu warten, um zu bemerken, wohin die Allianz führen würde. Im 20. Jahrhundert werden die Dinge endgültig klar. Wer die Jugendgeschichten der Makrokriminellen Stalin, Hitler und Mao Zedong betrachtet, findet das Muster des in die Politik ausweichenden Problemstudenten ohne Weiteres wieder.455

Hier stacheln unzufriedene Studienabbrecher die Gesellschaft so lange an, bis sie ihnen den Weg freimacht, genau das Bildungssystem 267

Kampfschriften, Dekrete und Gesetze aus dem Umfeld dieser Revolution u. a. bei Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe, München (1965); Hans-­Adolf Jacobsen et al. (Hg.), Die deutschen Studenten. Der Kampf um die Hochschulreform. Eine Bestandsaufnahme, München (1969) oder Ernst Nolte, Sinn und Widersinn der Demokratisierung in der Universität, Freiburg/Br. (1968) u. Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/M. (1969). 455 Peter Sloterdijk, Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013, Frankfurt/M. (2018), S. 539.

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456 Peter Sloterdijk, Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013, Frankfurt/M. (2018), S. 332. 457 Eugen Rosenstock-­ Huessy, Die akademische Muse (unveröffentl. Typoskript, Nachlass, Dartmouth/N. H., Rauner Special Collections Library, ca. 1940). 458 Vgl. Andrew Pettegree, Die Marke Luther, Berlin (2016). 459 Eugen Rosenstock-­Huessy, Out of Revolution. Autobiography of Western Man, New York (1938), S. 538. Dazu jetzt: Christopher Hill, Protestantismus, Pamphlete, Patriotismus und öffentliche Meinung im England des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. (1991), S. 100 – 120 u. David Zaret, Petitions and the Invention of Public Opinion in the English Revolution, in: American Journal of Sociology, Vol. 101, No. 6 (1996), S.  1497 – 1555.

abzuschaffen, dem die Revolutionäre unfertig und unzufrieden, aber schon geprägt entsprungen sind. Es bedarf keiner langen Überlegung, dieser Galerie noch weitere Exponate wie Saint-­Just oder Pol Pot hinzuzufügen. Aber was brachten die Revolutionäre aus dem wenn auch unbefriedigenden Aufenthalt im System mit, das sie so viel später noch in die Lage seiner Abschaffung versetzte? War der revolutionäre Elan solcher nicht-­diplomierten Anführer der Massen enger mit der klassischen Bildung verknüpft als man meint? Fühlten sich die Revolutionäre im ungeduldigen Wartestand in der Institution nur von der Wirklichkeit da draußen ferngehalten oder hatte dieses Ferngehaltenwerden positive Auswirkungen auf ihren überdurchschnittlichen Elan, diese Wirklichkeit verändern zu wollen? [➤ Radikali­ sieren, S. 245] Für Eugen Rosenstock-­Huessy, den Sloterdijk seit „20 Jahren zwischen Inspiration und Entsetzen schwankend“ 456 liest, ist gerade die temporäre Entfernung der Lernenden aus ihrer gewohnten Umgebung durch die Stoffe und Formensprache der klassischen Bildung ein Garant für den anschließend umso forcierteren Zugriff auf die politisch-­soziale Wirklichkeit: Wir gehen in die Schule, nicht um eingeführt zu werden, sondern um herausgenommen zu werden und um verstärkt wiederheimzukehren. Englische Staatsbeamte wurden darauf geprüft, ob sie griechische Verse schreiben konnten. Das völlige Missverstehen der Schule heute deutet darauf, dass die griechisch-­römische Schule stirbt. Wenn sie stirbt, ist auch das Weltalter der Weltrevolutionen zu Ende. Denn nur weil es diese Schulen gab, konnte es die Revolutionäre geben. Kein Prolet, kein Bourgeois, kein Gutsbesitzer hat Revolution gemacht, sondern die Studenten der Römer und der Griechen haben diesen trägen Lehm der Klassen begeistert, ihre verdammte Pflicht zu tun und wieder einmal die tote Welt umzuwälzen.457

* Um aber den revolutionären Input der weltweit fortschreitenden technisch-­sachlichen Revolution der Digitalisierung auf dem Gebiet der Bildung wirklich ermessen zu können, hilft es nicht mehr, die 268

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politische von der sachlichen Revolution zu trennen. Man muss sie zusammen sehen. Schon der Ausdruck ‚digitale Bildungsrevolution‘ vermengt alle hier bisher mühsam auseinandergehaltenen Ebenen. Und tatsächlich hatte ja jede politische Revolution über die Tatsache hinaus, dass sie wechselnde politische Akteure und Klassen wie die Gentry, den Dritten Stand oder das Proletariat an die Macht emanzipierte, auch eine solche technische Seite. Luthers Reformation ist ohne Buchdruck nicht denkbar.458 Genauso wenig kann im Falle der englischen Revolution und ihrer Great Remonstrance von 1641 genannten Gründungsurkunde davon abgesehen werden, dass „printed copies of the document, which the commons are sending to the King, are sold to public“ 459. Als die französischen Generalstände sich 1789 in die Nationalversammlung umdeklarierten und damit diese das neue revolutionäre Kollektiv der Nation zu repräsentieren vorgab, war dem ein bisher beispielloser publizistischer Untergrundkrieg vorausgegangen.460 Ganz zu schweigen von den initialen Eroberungen von Sendestationen und der flächendeckenden Elektrifizierung der Kommunikation, die Bolschewismus und Nationalsozialismus jenseits symbolischer Märsche auf Hauptstädte gemeinsam haben. In den Zeitraum ihrer scheinbar endgültigen ‚Machtübernahmen‘ fällt dann auch der Auftakt der sogenannten Technokratie-­Bewegung in Europa und in den USA.461 Auch der Krieg als eine Art Schnellentwicklungsbad für neue technische Mittel spielt eine Rolle. Eine Anmerkung zum Herkunftsmilieu der selbsternannten revolutionären Eliten macht das deutlich. Auffällig oft haben wir es mit techniknahen und sehr jungen Offizierseliten der zweiten und dritten Reihe zu tun. Das gilt für Napoleon als Vollender der Französischen Revolution, wie für die ihn angewidert nacheifernden preussischen Reformer Clausewitz, Scharnhorst und Gneisenau. Das gilt für die Jungtürken und späteren Kemalisten, wie für die um den Logistikfachmann und Militär Trotzki versammelten Bolschewiki oder für die Freien Offiziere um Abdel Gamal Nasser.462

* 269

460 Vgl. Robert Darnton, Literaten im Untergrund: Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, München (1985). 461 Vgl. Armin Mohler, Der Weg der ‚Technokratie‘ von Amerika nach Frankreich, in: Hans Barion et al. (Hg.), Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt. Zweiter Teilband, Berlin (1968), S.  579 – 596.

462 Dazu immer noch erhellend Valeriu Marcu, Das grosse Kommando Scharnhorsts. Die Geburt einer Militärmacht in Europa, Leipzig (1928).

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463 Dazu Martina Kaller-­ Dietrich, Ivan Illich (1926 – 2002). Sein Leben, sein Denken, Weitra (2007), S. 58 ff.

Auch der Kalte Krieg zwischen 1945 und 1989 hatte als buchstäbliches Tiefkühlstadium all dieser Revolutionen gerade in Sachen einer Bildung-­Technik-­Militär-­Relation einiges zu bieten, was uns ganz nahe an die Gegenwart heranführt. In den 1950er Jahren wollten die USA gemeinsam mit katholischen Bischöfen, Politologen, Bildungsberatern und massiver Parteienfinanzierung auf Puerto Rico ein katholisch-­demokratisches Musterbollwerk gegen den sich ausbreitenden Kommunismus in Süd- und Mittelamerika aufbauen. In diesem weltweit schon forcierten Szenario von Bildungspolitik treffen wir den deutsch-­österreichisch-­kroatischen Intellektuellen Ivan Illich (1926 – 2002) an. Der katholische Priester, Jesuitenzögling und mittlerweile doppelpromovierte Historiker und Philosoph Illich war mit von der Partie.463 [➤ Politisieren, S. 210] Aber wer erinnert sich heute noch daran, dass derselbe hochgebildete Jesuit in einem Anfang der 1970er Jahre allein in West-­Deutschland ca. 100.000 Mal verkauften Bestseller unter der Überschrift Schulen helfen nicht die ‚Abschaffung der Schule‘ bzw. das ‚Ende des Schulzeitalters‘ forderte? Nachdem er sich von der katholischen Amtskirche ebenso schroff wie von der nordamerikanischen ‚Entwicklungspolitik‘ abgewandt hatte, war sein Beispiel das befreiungstheologisch erschütterte, weitgehend noch diktatorische Mittelamerika. Sein Fernziel aber war von Anfang an der Westen. Illichs Angriff richtete sich gegen ‚die Zahlen‘:

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Puerto Rico hat eine neue Religion angenommen. Ihre Lehre besagt,

Ivan Illich, Die Schule als heilige Kuh (ED: 6.11. 1969, The New York Review of Books), in: ders., Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft. Strukturen einer Kulturrevolution, Reinbek (1972), S. 11 – 21, hier: S. 13.

dass Bildung ein Produkt der Schule sei, ein Produkt, das sich mit Zahlen definieren lässt. Da gibt es Zahlen, die angeben, wie viele Jahre ein Schüler unter der Obhut von Lehrern verbracht hat, während andere Zahlen den Anteil von richtigen Antworten in einer Prüfung wiedergeben. Mit dem Empfang eines Diploms erhält das Bildungsprodukt Marktwert. So garantiert der Schulbesuch als solcher Aufnahme in den Kreis disziplinierter Verbraucher in der Technokratie.464

Diese Kritik an der Ver-(kenn)zifferung der Bildung und an den marktgerecht ausgegebenen Diplomen scheint heute nicht mehr ganz so weit entfernt von unseren eigenen Problemen wie seinerzeit Puerto Rico von Europa bzw. die daraus gezogene, radikale Schlussfolgerung 270

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einer Abschaffung der Schule. [➤ Punkten,  S. 236] Nein, die Schule wurde nicht abgeschafft, aber der von Ivan Illich in Puerto Rico beobachtete Statistik-­Glaube in Sachen Bildung scheint uns heute, unter verbesserten technischen Bedingungen in der Umgebung der Institutionen, endgültig erreicht zu haben.

* Spätestens jetzt stellt sich die Frage: ‚Cui bono?‘ – Wie bei jeder revolutionären Agitation und Aktion wird auch heute noch die Partei der Benachteiligten von selbsternannten Befreiern so entschlossen ergriffen, dass wir Nicht-­Revolutionäre nur beschämt zur Seite treten können. Welcher neu ausgerufenen Trägerschicht der Revolution haben wir nun zu folgen und welche neue revolutionäre Elite hat sie ausgerufen? Nach den katholischen Mönchen, den protestantischen Professoren, den puritanischen Landadeligen, den bürgerlichen Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses und den Volkskommissaren und Politoffizieren der Arbeiter-­Revolution haben wir es nun mit einer Berater- und Programmierer-­Funktionselite der globalen Konsumgesellschaft zu tun, die in Gestalt einer Gruppe von nordamerikanischen Weltkonzernen (aus der Kommunikationsbranche) überhaupt erst in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten ist. [➤ Applizieren, S. 68] Die Konzerne und ihre Führungseliten prägen unser Vokabular um, mit dem wir die Welt beschreiben, ihre betriebswirtschaftlichen Modelle dehnen sich auf alle möglichen Bereiche aus. Die Universität selbst ist der beste Beweis dafür. Das Beispiel stammt wieder aus der ‚Neuen Welt‘: Kybernetisch orientierte Programmierer und Manager hatten sich

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auf Geheiß des sozialistischen chilenischen Ministerpräsidenten Sal-

Vgl. Eden Medina, Cybernetic Revolutionaries. Technology and Politics in Allende’s Chile, Cambridge/Mass. – London (2011).

vador Allende, angeleitet von britischen Computerspezialisten, zwischen 1970 und 1973 wie in einem futuristischen ‚Nachspiel auf dem Theater‘ zusammengefunden.465 In der Opsroom genannten chilenischen Kommandozentrale (für Operations Room) sollte die nationale Wirtschaft, die in einer ernsten, für die junge sozialistische Regierung sogar lebensbedrohlichen Krise steckte, in Echtzeit steuerbar

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466

werden.466 Dafür bot man einen Computer auf und requirierte vor-

Dazu Claus Pias, Der Auftrag. Revolution und Kybernetik in Chile, in: Daniel Gethmann/ Markus Stauff (Hg.), Politiken der Medien, Zürich – Berlin (2005), S.  131 – 153, hier: S. 135 f.

handene „Telex- und Funkverbindungen“.467

467 Claus Pias, Der Auftrag. Revolution und Kybernetik in Chile, in: Daniel Gethmann/ Markus Stauff (Hg.), Politiken der Medien, Zürich – Berlin (2005), S. 141. 468 Claus Pias, Der Auftrag. Revolution und Kybernetik in Chile, in: Daniel Gethmann/ Markus Stauff (Hg.), Politiken der Medien, Zürich – Berlin (2005), S. 141.

469 Helga Nowotny, Eigenzeit. Revisited, in: Bernd Scherer (Hg.), Die Zeit der Algorithmen, Berlin (2017), S. 32 – 67, hier: S. 47.

An der Lösung eines ähnlichen Problems arbeiteten wenige Jahre früher andere Vertreter neuer ziviler und militärischer Eliten. Sie hatten das Ideal einer zentralen Datensammel- und Kommandostelle, einer hierarchischen Kommunikationskontrolle aus rein militärstrategischen Gründen schon hinter sich gelassen: Die Domäne solcher Verfahren waren die gigantischen Frühwarnsysteme des Kalten Krieges wie SAGE (Semi Air Ground Environment), die kontinuierlich über Telefonleitungen einlaufende Radardaten sammelten und auswerteten. Ebenso wie sich die Datenleitungen solcher militärischen Netze seit zwei Jahrzehnten von Küste zu Küste erstreckten, einen zentrale Recheneinheiten ununterbrochen mit Berichten über die ‚Lage‘ versorgten und für militärische Entscheidungsträger auf Screens darstellten, sollten sich nun Datenleitungen in alle Industrie- und Agrarbetriebe Chiles entspinnen.468

Die Verspätung der kybernetisch-­ökonomischen Kontrollutopie in Chile wird sofort deutlich, wenn das Nachfolgeprojekt der Ideengeber genannt wird: Zwischen 1965 und 1969 leitete und finanzierte das Pentagon schon ein Projekt zur dezentralen und paketweisen Verschickung von Daten, das zufällig als Verknüpfung von Universitäten erstmalig realisiert wurde. Das langfristige Ergebnis war „die Entdeckung einer konkret erlebten globalen Gleichzeitigkeit und ihre ökonomische und technologische Implementierung“,469 die Echtzeit für jedermann.

* Das Kollektiv, das heute von den weltweit operierenden Medien-­ Konzernen emanzipiert werden soll, sind die Schülerinnen und Schüler. Sie sollen endlich als barrierefrei vernetzte Nutzer digitaler Kommunikationstechnik in ihr neues Echtzeit-­Leben starten können. Das Bild vom Kollektiv der Beschleunigt-­Vernetzten ist die agitations272

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leitende Schimäre in diesem Prozess. [➤ Verlangsamen,  S. 314] Sie löst den egalitären Nationalstaat oder das Arbeiterparadies ab. Den Verweigerern oder Bremsern, den Konterrevolutionären, wird heute nicht mehr der Schauprozess, sondern nur noch, im Namen von Demokratie und Gerechtigkeit, ein schlechtes Gewissen gemacht. Die Aufhebung aller Widersprüche kann endlich, dank Technik, sanft vonstattengehen. [➤ Ausstatten, S. 80] Hören wir in die Programmatik kurz hinein: Die digitale Welt eröffnet neue Möglichkeiten, um die großen Barrie-

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ren und scheinbaren Widersprüche zu überwinden. Durch Digitali-

Jörg Dräger/ Ralph Müller-­Eiselt, Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können, München (2015), S. 40 u. 60.

sierung ist Bildung für alle und personalisiertes Lernen für den Einzelnen erreichbar – und bezahlbar. Was für viele nach einer fernen Zukunft klingen mag, könnte in Zukunft Kindern aus bildungsfernen Familien eine Chance geben, mit sozial Bessergestellten mitzuhalten und den Aufstieg zu schaffen. […] Solange wir es nicht schaffen, digitale Lerninhalte und Lernwege individuell an Lernstil, -tempo und -ziel anzupassen, wird die Demokratisierung der Bildung unvollendet bleiben.470

Aber die hier von Konzernvorständen verheißene, individuell maßgeschneiderte Verteilungs-­Idylle von technisch garantierten Aufstiegschancen trügt. Auffällig ist, dass als revolutionäre Kernbotschaft vorrangig ein Tempo-­Unterschied zwischen Bildungsinstitution und technischer Umgebung übrig bleibt, den es zu nivellieren gilt. Diese kleine Einschränkung zeigt, dass es nach wie vor keine revolutionäre Dynamik gibt, die ohne manichäische Antriebsenergie auskäme. Peter Sloterdijk hat dieses Verhältnis von Revolutionen zur Temporalität denn auch als ihr genuines Merkmal ausgemacht: Der wirkliche Revolutionär lebt im Sofort. Für ihn ist die Zeit als

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solche der Konterrevolution verdächtig; die Langsamkeit der Ent-

Peter Sloterdijk, Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013, Frankfurt/M. (2018), S. 430.

wicklung bedeutet in seinen Augen ein feindliches Prinzip.471

* 273

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Umgekehrt heißt das, dass Bildung nicht länger als Reserve in und gegenüber ihrer Umgebung gedacht werden soll. Sie wird nun vielmehr als Teilaspekt einer Mobilmachung gesehen, deren Endziel allerdings, abgesehen von einigen rhetorischen Lichtstrahlen aus dem digitalen Bildungsparadies der Konzerne, vorerst im Dunkeln bleibt. Diese Totale Mobilmachung wurde als eigentliche logistisch-­ technisch-­militärische Revolution schon mit dem beginnenden 20. Jahrhundert in Gang gesetzt und ausführlich als solche beschrieben. Ein Text von 1932 ist hier – bei aller notwendigen Kritik an seinen Prämissen – von erstaunlicher Klarsicht gerade in Bezug auf Fragen der Bildung: 472

Der Bildungstrieb ist schematisiert. Schulen und Hochschulen ent-

Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart (1982). S. 259.

lassen einen sehr einheitlich ausgebildeten Bestand. Die Presse, die großen Vergnügungs- und Nachrichtenmittel, der Sport und die Technik setzen diese Ausbildung fort. Es gibt Mittel, durch welche Millionen von Augen, Millionen von Ohren zu ein und derselben Stunde ein und derselbe Vorgang übermittelt wird. Auch hier kann die Erziehung zur Kritik insofern gewagt werden, als sie wohl eine Verschiedenheit der Meinungen, nicht aber der Substanzen hervorzubringen vermag. Alles, was Meinung ist, ist unbedenklich; und in einer Zeit, in der jedermann sich als revolutionär zu bezeichnen liebt, ist die Freiheit zu wirklichen Veränderungen begrenzter denn je. Alle entscheidenden Mobilmachungsbefehle erfolgen nicht von oben nach unten, sondern erscheinen, weit wirksamer, als revolutionäres Ziel.472

Der Passus entstammt dem einzigen umfangreicheren Text, den Ernst Jünger nie überarbeitet hat – dem Arbeiter-­Essay von 1932. Man kann sagen: Ideologisch war er ohnehin nicht zu retten und kultursoziologisch gibt es an ihm bis heute nichts zu verbessern. Die bildungspolitische Botschaft der neuen digitalen Mobilmachung ist jedenfalls genauso eindeutig wie die der industriellen: Die herrschende geschwindigkeitstechnische Ungleichzeitigkeit von alten Institutionen und neuen technischen Umgebungen ist für alle derzeitigen Probleme mit Bildung verantwortlich. Gebrauchsroutinen, die in einer immer stärker digital technisierten Unterhaltungskultur flä274

revolutionieren

chendeckend eingeübt wurden, haben in den Bildungsinstitutionen und ihren Programmen noch keinen entsprechenden funktionalen Ort gefunden. Das muss sich ändern, um nicht ‚aus der Zeit zu fallen‘. [➤ Ausstatten, S. 80/➤ Applizieren, S. 68]

* Aber was ist, wenn Bildung seine Qualität und seine Spielräume gerade aus der Kombinatorik unterscheidbarer Geschwindigkeiten und Zeithorizonte gewinnt? Und wie ist das systematisch begründbar? Was ist, wenn erst eine Distanznahme gegenüber der vorherrschenden Umgebungszeit das Bildungssystem in die Lage versetzt, ‚Staatsbeamte‘ und ‚Revolutionäre‘ gleichzeitig zu produzieren? Wenn in einer „erweiterten (statt in einer beschränkten) Ökonomie freiwillige Zeitverluste zum Zeitgewinn führen“?473 Bildung organisiert dann einen anderen Blick auf das Gewohnte, mit dem man in dieses Gewohnte zurückkehrt. Erst die Kopräsenz verschiedener Zeithorizonte an einem Ort der Bildung setzt Bildungsprozesse in Gang. Der jetzt möglicherweise noch ein wenig zu metaphorisch wirkende Unterschied unterschiedlicher Zeithorizonte muss nun nüchterner, d. h. technischer betrachtet werden. Der Unterschied, das ist die einfache These, wird durch verschiedene Arten und Tempi des Medienkonsums im selben System möglich. [➤ Verlangsamen, S. 314] Die Skala der evozierten und thematisierten Zeitgefüge reicht dabei vom Ewigkeitswert des durch mehrfache Wiederholung kanonisierten Heiligen, des eigentlichen Traditums (J. Pieper),474 bis zum Ad-­hoc-­ Konsum massenkompatiblen Stoffs, auf den Bildung als Gefahr des Selbstverlusts mit Stabilisierungsangeboten reagieren muss. Ein Kerntheorem der Medienwissenschaften verweist ja seit langem – mal mehr mal weniger kulturkritisch – auf den Umstand, dass die leitende medientechnische Entwicklung immer auch die Verkleinerung bzw. Verbilligung der Geräte und die Beschleunigung der mit ihnen ausführbaren Operationen zum Inhalt hat. Diese Tendenz verändert auf jeden Fall sukzessive die Zeitorganisation und -wahr­ nehmung von Gesellschaften. So unterliegt, was als ‚Normalzeit‘ 275

473 Dietmar Kamper, Zeit gewinnen. Eine Erinnerung an die Zukunft. Über E. Rosenstock-­Huessy (1990), in: Wolfgang Kaempfer, Die Zeit und die Uhren, Frankfurt/M. – Leipzig (1991), S. 289 – 305, hier: S. 290.

474 Zu dieser Skala schon ausführlich Josef Pieper, Überlieferung. Begriff und Anspruch (1958), München (1970), S. 66 – 79.

teil 2 – die bildungsdebat te

475 Dazu Manfred Sommer, Lebenswelt und Zeitbewusstsein, Frankfurt/M. (1990); Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München (2013); Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag ‚Gegenwarten‘, Wiesbaden (1993/ 2008); Christopher Clark, Von Zeit und Macht, München (2018).

gilt, tatsächlich Veränderungen. Verschiedene Normalzeiten entsprechen verschiedenen ‚Zeitregimen‘.475 Genau diese Tendenz ist aber nicht problemlos mit den im Feld der Bildung gepflegten und auszulösenden Prozessualitäten vermittelbar. [➤  Konsumieren, S. 180] Ausgerechnet in seinem Buch über die Geschichte und Modalitäten des (Drogen-)Konsums von 1970 prägte Ernst Jünger, als geläuterter Mobilmachungsapologet und Autor einer umfangreichen Geschichte der Sanduhr,476 eine Formel, die bezüglich des in Rede stehenden Zusammenhangs an Prägnanz wohl nicht mehr zu übertreffen ist: „Jede Modulation des Zeitbewusstseins ist von pädagogischem Gewicht.“ 477

476 Vgl. Ernst Jünger, Das Sanduhr-­Buch, Frankfurt/M. (1957). 477 Ernst Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch [= Sämtliche Werke 13. Essays V, überarb. TB-Ausgabe 2015], Stuttgart (1970), S. 162.

276

spielerisch lernen

spieler isch ler nen Der Bildungsspaß Immer wieder aufs Neue wird im Zusammenhang mit Bildung ein Ideal diskutiert, das trotz aller Bemühungen – genauer ausformuliert – nur als Paradox zu haben ist: Es geht um die Möglichkeit einer laufenden Integration von ganz verschiedenen Erlebnissen, Gedanken, Erfahrungen und Beobachtungen in offene, sich heranbildende Psychen – bei einer gleichzeitigen (‚Stabilisierung‘ oder ‚Ganzheit‘ genannten) Festigung der Außengrenzen derselben Psychen. Prinzipielle Weltoffenheit und mikrokosmisch-­geschlossene Repräsentation der Welt müssen hier zusammengedacht werden. Es drohen hochindividualisierte Monaden. Die Paradoxien, die hier zwangsläufig noch vor jeder sozialgeschichtlichen Einbettung solcher Ideen auftreten, sind immer wieder benannt worden – zuletzt von Peter Sloterdijk: Wenn jedes Individuum dazu bestimmt ist, eine Welt zu werden oder sich eine Welt zu assimilieren, gleicht jedes einer aussterbenden Art.

478 Peter Sloterdijk, Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013, Berlin (2018), S. 338.

Jeder einzelne ist das letzte Exemplar eines unmöglich gewordenen

479

Volks.

J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre/ Maximen und Reflexionen (1821/ 1829), Werke in zwölf Bänden, Bd. 7, hg. v. d. Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, 4. Aufl., Ost-­ Berlin (1981), S. 524.

478

Hartnäckig wird auch über die Frage nachgedacht, für wen diese harmonische Einrichtung des Selbst und damit der Welt eigentlich sichtbar wird oder werden soll. Welche Möglichkeit der Kontrolle und Bestätigung es dabei gibt, aber auch wie überhaupt ein Selbst bei sich selbst mit diesem Ideal umgehen kann. „Jeder will ganz sein oder es vor sich scheinen.“ 479 – So hintergründig drückt es Goethe in den Maximen und Reflexionen aus. Hans Blumenberg hatte daran schon Maß genommen mit seiner Bemerkung, dass „alle Bildung darauf zielt, sich von außen sehen zu lernen“ 480.

* 277

480 Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, Frankfurt/M. (2002), S. 171.

teil 2 – die bildungsdebat te

Hier schwingt auf jeden Fall eine künstlerische, performativ-spielerische Note von Bildung mit. Bildung als Spiel. Man gefällt sich (und anderen) als ‚Ganzer‘. Bildung auf der Bühne. Auf viele Entfremdungstheoreme von der ewigen Geteiltheit der menschlichen Erfahrungen, Betätigungen und Wahrnehmungen wird die Antwort einer spielerischen Vereinigung gegeben. Das Spiel scheint die einzige Form von Geteiltheit zu sein, die wie ein Ganzes wirkt. Dadurch wird es für eine Pädagogik, die auf Integration zielt, interessant. Spiel als Form und Ganzes, als Norm, gibt fast eine eigene Pädagogik her: 481

Das ganze Lernen des Kindes in seinen Spielen, das ist der eigentliche

Peter Sloterdijk/ Rudolf zur Lippe/ Herbert Hrachovec, Kultur des Spiels – Spiel der Kultur (Eine Diskussion), in: Ursula Baatz/ Wolfgang Müller-­Funk (Hg.), Vom Ernst des Spiels, Berlin (1993), S. 63 – 77, hier: S. 77 [Beitrag von R. z. Lippe].

Ernst, das ist das Leben. […] Es wird ein Stück herausgenommen. Im

482 Walter Benjamin, Das Spiel (1928), in: ders., Einbahnstraße [= Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe Bd. 8, hg. v. Detlev Schöttker], Frankfurt/M. (2009), S. 112.

Spiel geht man raus, aber gerade, um ein Ganzer zu sein.481

Dieses Verhältnis von Spiel und Ganzheit als ein ‚Besonders-­sein‘ oder ein ‚Raus-­sein‘, um ins wahre Ganze zu gelangen, deutet Walter Benjamin als Zusammenspiel der Sinne: Das Spiel, wie jede andre Leidenschaft, gibt sein Gesicht darinnen zu erkennen, wie der Funke im leiblichen Bereich von einem Zentrum zum anderen überspringt, bald dies bald jenes Organ mobil macht und in ihm das ganze Dasein sammelt und begrenzt.482

Genau hier setzt die Kritik der PC-Spiele, des E-Sports an, denen vorgehalten wird, zum Nachteil ausgewogener Entwicklung und Förderung von Körper und Geist, die virtuell-­weltlose ‚Sesselhaft‘ (P. Virilio) ihrer Betreiber zum Dauerzustand zu machen.

* Bevor ich mich nun mit den Möglichkeiten, Problemen und der Geschichte des Lernens im Zusammenhang mit unterdessen allgegenwärtigen spielfähigen Computern aus historischer Perspektive beschäftige, möchte ich wenigstens einen ganz kurzen Blick auf das werfen, was die englische Psychedelic-­Rock-­Band Pink Floyd 1973 einmal The Dark Side of the Moon genannt hat. Es gibt nämlich in 278

spielerisch lernen

Sachen Games eine Geschichte von der dunklen Seite des Mondes, die sehr beeindruckend ist. Sie kam 2006 in Umlauf und beschreibt einen Sachverhalt, der seit 2002 besteht. Sie könnte die Geschichte von der Goldfarm genannt werden und führt uns zum zweiten Mal [➤ Prägen, S. 222] in die – grausame – Märchenwelt: Im Jahr 2006 wurde international ruchbar, dass von damals ca. 100 Millionen Online-­Spielern 27 Millionen allein in China lebten und dass von diesen 27 Millionen in China ca. 200 000 ungelernte Jugendliche damit ihrem gewöhnungsbedürftigen Traumberuf nachgingen. Was genau aber war dieser Traumberuf? Nun, sie spielten in Schichten, in speziellen Etablissements, unter strenger Aufsicht 12 Stunden am Stück Online-­Rollenspiele. Sie spielen vor allem World-­of-­Warcraft. Sie waren auf der Jagd nach Gratifikationen, die es erlaubten auf höheren Levels zu spielen. Diese Gratifikationen, die sie erspielen, werden von ihren Chefs, den Chefs der Goldfarmen, die es auch in Rumänien oder Indonesien gibt, bei Ebay oder bei einschlägigen Brokern verkauft. Das in China erspielte Gold erlaubt es Spielern im Westen, ohne selbst die langwierige Jagd nach diesen Trophäen leisten zu müssen, schneller auf höhere Levels zu gehen oder dort zu verbleiben. Für die Firmen gibt es spezielle Essenszulieferer, für die Schichtarbeiter – wie auf einer Ölplattform – Schlafräume. Die Firmensitze können Bürotürme, aber auch Garagen sein. Es gibt – wie immer im Leben – schon längst alles, was man sich vorstellen kann. 2011 wurden die Umsätze in China mit virtuellem Gold auf 3 Milliarden US-Dollar geschätzt. Zu den Direktoren der Goldfarmen – und hier wird es noch einmal ein bisschen dunkler – sollen in China auch Direktoren staatlicher Gefängnisse gehören.483

* Bleiben wir nun aber endgültig auf der uns bekannten Seite des Mondes. Die sogenannten Computerspiele verkaufen sich bestens. Sie sind der größte Wachstumsmarkt der Unterhaltungsindustrie. Die recht gleich gearteten Warnungen vor ihnen sind entsprechend epidemisch. Computerspiele kosten – vor allem Jugendliche – angeblich 279

483 Nach Mark Siemons, Wer verkauft mir seine Lebenszeit? in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.10. 2006, Nr.42, S. 29.

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wertvolle Zeit des Lernens und verführen dazu, virtuelle Realität und reale Realität zu verwechseln. Mit Bildung habe das eben alles überhaupt nichts zu tun, im Gegenteil, und die Schule müsse deshalb gerade ein Raum sein, der vor dieser Invasion der Unterhaltung im Namen von Reflexion, historischer Bildung und Urteilskraft schützt. Sonst wären ja die Eltern endgültig ganz im Stich gelassen mit den Spielen.

Antworttyp 1: Der Abgeklärte Die Abgeklärten weisen nun darauf hin, dass das alles schon am Beispiel von Comics und Video-­Film-­Cassetten durchgekaut worden sei, und eben deshalb alles halb so wild, denn da sei auch nichts passiert. Es habe nur ein paar Änderungen in den Leselisten oder Lehrplänen gegeben, ab und zu wurde auch ganz kreativ ein Comic selber gemacht, ein Film geschaut – fertig war die Medienidylle rund ums Buch. Aber – so ist mein Eindruck – die idyllische Laube ist leider abgebrannt. Dieses scheinbar unwiderlegbare, mit historischen Vergleichen arbeitende Argument der Abgeklärten hat genaugenommen den Nachteil, dass man das Neue im Alten nicht erkennt. Der Abgeklärte will nämlich eigentlich nur ungestört so weitermachen wie bisher. Wir werden sehen, ob er noch einmal recht behält.

*

484 Vgl. Jana Gioia Baurmann, Kopfschuss: Glatte eins! An einer norwegischen Schule stehen Ballerspiele auf dem Stundenplan. Ist das Wahnsinn oder eine bildungspolitische Vision?, in: Die Zeit, 18. Mai 2017, Nr.21, S. 65 f.

Aber es gibt auch noch andere, positivere und offensivere Stimmen. Die gehen dann so: Wenn schon die ganze Lebenswelt der Schüler vollgestellt ist mit spielefähigen Smartphones oder Konsolen, wenn sie das denn so wahnsinnig gerne, fortwährend und freiwillig tun, warum holt man es dann nicht in die Schule rein, wo es bekanntlich schwieriger wird, die jugendlichen Insassen nachhaltiger zu motivieren. Außerdem – sagen wenigstens neuerdings die Norweger – fördern Ballerspiele vor allem die Konzentrationsfähigkeit.484 Diese offensive Einstellung spiegelt sich auch in den Feuilletons der Zeitungen. Ein Imagewechsel bereitet sich vor: 2006 heißt es über das Spiel Kayne & Lynch in der an sich konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Neben der kinetischen, biologischen und psychologischen Aufrüs280

spielerisch lernen

tung der Spielewelten setzen die Entwickler aber vor allem auf gute Stories.“ 485 Im Februar 2017 heißt es kurz und knapp in der Sonntagszeitung aus demselben Verlagshaus, dass das Spiel Resident Evil 7 dem Film Resident Evil: The Final Chapter an erzählerischer Genauigkeit und Atmosphäre klar überlegen sei.486 Eine (niemals) letzte Meldung aus der Verlagslandschaft lautet, dass Bastei-­Lübbe Deutschlands erfolgreichste Computerspielfirma gekauft hat: die Firma Daedalic Entertainment in Hamburg. Die Firma hat gerade Ken Folletts Säulen der Erde in ein Spiel transformiert. Der Roman wurde in den 1990er Jahren von 4 Millionen Menschen gelesen.487 Spiele zu Romanen sind im Gegensatz zu Spielen zu Filmen neu. Leider, muss man jetzt allerdings – bei aller Sympathie für den Vorwärtsgang in der Geschichte – leider muss man sagen, reicht Offenheit noch nicht aus. Ein Konzept muss auch für neue komplexe Erzähltechniken der Spiele her, wenn man sie in Schule und Universität holen will.

Antworttyp 2: Der Ausgleichende Kommen wir noch zu einem anderen Antworttyp – einem vielversprechenderen: Es ist der ausgleichende Typ. Der Ausgleichende erkennt im Gegensatz zum Abgeklärten das Neue der Situation an, und im Gegensatz zum Emphatiker findet er das Neue nicht schon allein deswegen, weil es überall auftaucht, integrations- und förderungswürdig. Der Ausgleichende hat eine Kompromissformel parat, die auf irgendwie undurchschaubare Weise ebenfalls historisch argumentiert – er ist schließlich gebildet. Sein Argument geht so: Das Spielerische und der Ernst des Lebens, in Gestalt der Schule, schlössen sich doch gar nicht aus. Der Mensch ‚sei doch ohnehin nur da ganz Mensch, wo er spielt‘. Es ist nicht irgendein Klassiker-­Zitat, das hier aufgefahren wird, um das Neue kontrolliert zu integrieren, es ist der Topos schlechthin zu unserem Thema, und er ist von Schiller höchstpersönlich: Denn um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.488

281

485 Andreas Rosenfelder, Sei dein eigener Ninja. Die besten Spiele auf der Games Convention in Leipzig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.08. 2006, Nr.198, S. 35. 486 Vgl. Thomas Lindemann, Gefangen in einem Keller in den Südstaaten. ‚Resident Evil 7‘ ist das erste Videospiel für die neuen virtuellen Welten – und zeigt die Vereinigten Staaten von ihrer dunklen Seite, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.02. 2017, Nr.5, S. 53. 487 Vgl. Thomas Lindemann, Spiel mir das Lied vom Tod, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.11. 2006, Nr.40, S. 50.

488 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. 15. Brief (1795).

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Gut. Was wäre also die Antwort? Da der Mensch im Bildungssystem ja im Mittelpunkt stehen soll – als vollgültiger Mensch –, lässt man ihn ab jetzt, streng nach Schiller, einfach genau dort auch ganz viel spielen. Da er aber natürlich auch was lernen soll, lässt man ihn spielerisch lernen. Das Klassiker-­Zitat scheint den Weg frei zu machen für einen Kompromiss. Comics und Videos – hatte der Abgeklärte schon beschwichtigend angeführt – hätten ja auch nicht wirklich etwas verändert bei aller Angstmacherei. Und schon bei diesem Argument wirkte der Hinweis auf die Geschichte irgendwie beruhigend. Auch wenn es nur die Mediengeschichte ist. Mit Schiller aber hält die ganze Menschheitsgeschichte in die Debatte Einzug. Die Lösung ist gefunden: Wir denken an Schiller. Aber woran dachte eigentlich Schiller? Wenn man nur drei Sätze weiterliest – was man bei einem Topos natürlich niemals tun sollte –, lesen wir bei Schiller, „dass dieser Satz“, er meint jenen Satz, dass ‚der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt‘, dass dieser Satz auch nur in der Wissenschaft unerwartet ist; längst schon lebte und wirkte er (nämlich, H. C.) in der Kunst, und in dem Gefühle der Griechen, (im Gefühl, H. C.) ihrer vornehmsten Meister, nur daß sie in den Olympus versetzten, was auf der Erde sollte ausgeführt werden.

Dankenswerterweise hat Schiller aber noch festgehalten, wie der Grundsatz dann auf dem Olymp ausgeführt worden ist, damit wir ihn hier unten dann auch umsetzen können: Von der Wahrheit desselben (Satzes) geleitet ließen sie sowohl den Ernst und die Arbeit, welche die Wangen der Sterblichen furchen, als die nichtige Lust, die das leere Angesicht glättet, aus der Stirne der seligen Götter verschwinden.

Jetzt ist natürlich die Frage, ob das Computerspiel tendenziell nicht doch unter die ‚nichtige Lust, die das leere Angesicht glättet‘, zu zählen ist. Leitet Schiller so nicht selbst die Kulturkritik an den ewig 282

spielerisch lernen

leeren Gesichtern der sich bloß elektronisch vergnügenden Jugend ein? Diese Spur wollen wir nicht weiterverfolgen, denn Kulturkritik und Spiel ist nicht unser Thema, sondern Spielen und Lernen oder Spiel und Bildung. Der Topos Schillers aber – und eben nicht seine Fortsetzung – werden genau für die Empfehlung dieser erzieherischen Maxime benutzt. Sie gilt es zu untersuchen.

Was ist dran am ‚spielerischen Lernen‘? Also, was ist dran am spielerischen Lernen, das dem systematischen Lernen mindestens zur Seite springen sollte, wenn ihm nicht sogar überlegen ist? Passt das überhaupt zusammen: Spielen und Lernen? Wenn dem so wäre, gäbe es doch eigentlich das sogenannte Pauken gar nicht. Und woran denken wir überhaupt, wenn wir Spiele und Spielen sagen? Ich würde sagen: An freies Herumtollen, also an Bewegungsspiele, und immer öfter auch an Computerspiele, die – wenn man nicht gerade eine Wi hat oder nach Pokémons sucht – vom Sich-­ Bewegen zur Zeit eher noch abhalten. Nun könnte man sagen: Es gibt die Hofpause. Es gibt den Sportunterricht. Es gibt den Schachklub an der Schule, um mal vom Herumtollen wegzukommen. Und der Schachklub findet gleich nach der Schule, aber in der Schule statt. Das war bisher doch auch alles kein Problem. Aber Spielen und Lernen sollen eben noch näher zusammenrücken. Man stellt sich das – denke ich – so vor: Spielen ist das Einzige, was Heranwachsende nicht sofort erschöpft und langweilt. Ob man den Clash of Clans-­Spielern zusieht, Fortnite- oder FIFA-Abhängigen, die versunken auf die winzigen Knöpfe des Handy-­ Displays drücken, oder auch dem Fußballer, der eine Stunde lang den Ball gegen eine drei Meter entfernte Wand kickt. Warum beschweren sie sich dabei über nichts, warum kennen sie keine Uhr mehr, warum ist ihnen alles recht, warum sind sie so konzentriert, kurz: warum ist ausgerechnet hier alles anders als im Unterricht? Obwohl sie im Unterricht doch auch nur etwas üben sollen? Das ist einigermaßen rätselhaft, oder? Warum ist bewusstes systematisches Üben so schrecklich und spielerisches selbstvergessenes Lernen so 283

teil 2 – die bildungsdebat te

toll? [➤ Pauken,  S. 206] Und vor allem: Wie kriegt man dann diese Selbstvergessenheit des Spiels wieder in die Bewusstheit des Lernens rein? Ein wahrhaft Schiller-­würdiges Problem!

Levels und Lernen Nun könnte man sagen: Beim Kicken kann man sich ein bisschen wie Messi, Ronaldo oder Lewandowski fühlen, bei der Kommasetzung sind der Vorbild-­Aktivierung engere Grenzen gesetzt. Und überhaupt: Ein Grammatikspiel auf dem Rechner? Wie soll das denn aussehen? Und: hat dazu irgendjemand Lust? Aber man könnte ja Grammatik-­ Aufgaben mit Belohnungstools aus dem Computerspielsektor kombinieren. Vielleicht kann man das. Das Problem scheint mir aber unter anderem beim Unterschied von Levels und Lernen zu liegen. Wenn ich einen Schüler auf ein neues Level gebracht habe, dann ist das immer noch ein metaphorischer Ausdruck. Wenn ich ein Spiel spiele, das mich z. B. nach der Lösung von Aufgaben, nach dem Auffinden hinterlegter Schätze oder dem Erreichen von höheren Punktzahlen durch das Abknipsen oder Umfahren von Hindernissen, von einem Level auf das nächst höhere Level führt, dann liegt der Lustgewinn gerade auch darin, dass ich von den überwundenen Levels kognitiv eben nichts weiter mit mir herumschleppen muss. Sonst wäre ja auch nicht erklärlich, warum chinesische Jugendliche vor allem das – in dem eingangs geschilderten besonderen Fall – stellvertretend für die halbe Welt erledigen müssen. Eine gelöste Aufgabe geistert selten als Mahnung, genau diesen Lösungsweg nicht zu vergessen, durch den Rest des Spiels. Denn der mitzuschleppende, zu notierende, zu registrierende Bewusstseinszuwachs würde die Freude am spielerischen Sich-­Einlassen auf die nächste Wiederholung unter sehr wohl neuen oder variierten Bedingungen hemmen. Die überwundenen Levels sind in der Regel dazu da gewesen, eben überwunden zu werden auf dem Weg zu einem nächst höheren – bis ich auf einem imaginierten Gipfel, in einem imaginierten Zielgebiet, in einer ausgezeichneten Scoring-­Rate angelangt bin, um mich dort zu halten. Dort – und das ist wichtig – ist dann nicht 284

spielerisch lernen

für alle Platz. Oder, zweite Möglichkeit, ich verdränge mich selbst, ich verdränge eine ältere Höchstleistung von mir. Die wiederholten Spielabläufe auf unterschiedlichen Levels sind als solche wertlos bzw. sie sind nicht wertlos, sondern sie sind mit ihren Ergebnissen eher dem Kurzzeitgedächtnis des Spielers zuzuordnen – wenn auch das – während des Spielens – kaum erreichbare Langzeitgedächtnis des computergestützten Rechners sie irgendwo (möglicherweise ‚gerankt‘) ablegt. Sie sind natürlich nicht wertlos als Orientierung in Richtung auf die mit dem nächsten Spiel schon wieder übertrumpfbare Erreichung eines bisherigen höchsten Wertes. [➤ Nach der Interpretation, S. 56] Sie sind von relationalem Wert beim Spielen. Aber tatsächlich scheint mir der strukturelle Status der Wiederholung ein Schlüssel zur Analyse der nicht zu unterschätzenden lern-­ab-­weisenden Kapazitäten des Spiels im Sinne von Bildung.

Operieren Daraufhin kann man sich spielphilosophische oder spieltheoretische Texte ansehen, aber man wird nicht so recht fündig. Erst ein Blick in die Bochumer, bei Hermann Lübbe angefertigte Habilitationsschrift des Phänomenologen Jürgen Frese mit dem etwas spröden Titel Prozesse im Handlungsfeld, von 1985, und zwar in das noch sprödere Kapitel Operieren, hilft weiter. Dort wird der Sachverhalt behandelt. Man kann dort nachlesen, wie Frese ‚ernste‘ von ‚spielerischen‘ Operationen unterscheidet: Die entscheidende Differenz zwischen Ernst und Spiel besteht nicht etwa in der ‚Zweckfreiheit‘ des Spiels, sondern in einer eigentümlich lockeren Beziehung zwischen Spielzweck und jeweiligem Operationsresultat, die nur so weit geht, im Spiel darauf zu achten, dass überhaupt irgendein den Operationsregeln entsprechendes Resultat erzielt wird, aber nicht fordert, das Resultat festzuhalten, sondern im Gegenteil von vornherein darauf achtet, dass die Ausgangssituation des Spiels, die Null-­Situation, unproblematisch wiederhergestellt werden kann – und den Beteiligten dies als Spiel-­Bedingung klar ist.

285

teil 2 – die bildungsdebat te

489

In der Rückstellbarkeit der Null-­Situation (kurz: der ‚Nullrevision‘)

Jürgen Frese, Prozesse im Handlungsfeld, München (1973/ 1985), S. 113 f.

liegt das Eigentümliche spielerischer, nichternsthafter Operationen. […] Die Spielresultate, unabhängig davon, ob sie wirklich aufgelöst werden oder eine Weile ‚stehen bleiben‘, werden den spielenden Personen nicht wesentlich zugerechnet (wie dies in jeder sozialen Ernst-­Situation geschieht).489

Lesen und Spielen als Wiederholung Jetzt aber zur Wiederholung in einem etwas anderen Zusammenhang: Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass das Lesen eine Schlüsseloperation des Lernens ist, aber nur bedingt beim Spielen im Mittelpunkt steht. [➤ Wiederholen,  S. 361] Und auch hier spielt der Status der Wiederholung eine große Rolle. Von der frühen Auswendigkeit bis zum Verstehen wurde Lesen in Lernprozesse an entscheidender Stelle eingebaut. Spieldurchläufe sind aber nur unter Vorbehalt mit Lektüren vergleichbar. Wenn man einen Text nicht gerade auswendig lernen will, liest man ihn 2 – 3 Mal, dann ist man dem nahe, was man ‚Verstehen‘ nennt und kann ihn diskutieren. Spiele hingegen werden sehr selten als eine Art von Lektüre oder wie eine Lektüre rekapituliert. Natürlich gibt es den Cheftrainer, der eine vorangegangene Partie des Gegners oder der eigenen Mannschaft mehrfach ganz und in Ausschnitten – also quasi hermeneutisch – zeigt und bespricht und es gibt für das Schachspiel sogar eine genial einfach Notationsweise, um genau das tun zu können, was ich hier im Allgemeinen in Abrede stelle. Aber diese Beispiele sind im Meer der ergehenden Durchläufe, Partien und Spiele die Ausnahme – oder Zeichen eines deutlichen kommerziellen Professionalisierungsschubes. Was hingegen im Kerngebiet des Lernens immer stattfinden muss – die Verlangsamung von Prozessen – verträgt das Spiel nicht besonders gut. Das Glück liegt ja gerade in der fast selbstvergessenen Wiederholung einer sich recht ähnlichen Betätigung mit dem einzigen Zweck, diese nur in genau diesem Setting sinnvolle Betätigung noch besser zu beherrschen. Heinrich Popitz hat diese (Spannungs-) Architektur der Spiele 1994 286

spielerisch lernen

unter dem Titel Was tun wir, wenn wir spielen? analysiert und kommt folgerichtig auf die Wiederholung zu sprechen: Die formale Struktur des Spiels ist die modifizierte Wiederholung.

490

Erst auf der Basis der Wiederholung entwickelt sich Spannung durch

Heinrich Popitz, Was tun wir, wenn wir spielen? (1994), in: ders., Wege der Kreativität, Tübingen (1997), S. 50 – 79, hier: S. 65.

Ungewissheit.490

* Wiederholbarkeit und Spannung aber schließen sich doch eigentlich aus? Liegt eventuell in dieser Art Spannung, die gleichzeitig – durch absehbare Wiederholbarkeit nämlich – Entspannung bietet, ein kritisches Moment des Lernens durch Spielen? Ein Lehrer kann ja weder im Stoff ständig ganz an den Anfang zurückgehen [Freses Nullrevision], noch kann er auf das stetige Eröffnen von strukturell Neuem verzichten. Das Entspannungsmoment ist nicht systematisch eingebaut. Das spezifische Spannungsmoment des Spielens, das mit der Wiederholung als absehbare Variierbarkeit zusammenhängt (und mit dem Tempo, in dem das möglich ist), kann, wie wir gesehen haben, sogar zu einem Wiederholungszwang werden. Der ist dann endgültig alles andere als didaktisch wertvoll, sondern eher pathologisch. Hans Lipps, ein unbekannter Phänomenologe wie Frese, ein Husserl-­Schüler, hat ein der Sucht innewohnendes Paradox 1941 wunderbar auf den Punkt gebracht – und gleichzeitig das Problem markiert, warum Lernen und Spielen nicht problemlos zusammengehen: Der Spieler sucht eine Spannung, die als Zuständlichkeit wiederhol-

491

bar ist.

Hans Lipps, Die menschliche Natur, Frankfurt/M. (1941), S. 121.

491

Hier ist das partielle Vergessen des Spielens eingebaut. Und wie man es auch dreht und wendet: Die laufenden Zwischen-­Bilanzierungen der spielerischen Betätigung bleiben seltsam summativ. Sie gehen entweder in der unausgesprochenen Bereitschaft zur Routinierung einer Fertigkeit auf oder in einem bezifferbaren Ergebnis, das eine Hierarchie unter den Teilnehmern herstellt (bzw. unter den von einem 287

teil 2 – die bildungsdebat te

selbst unternommenen Durchgängen durch das Spiel). Der riesige Vorteil des Spiels ist offenbar der Folgende: Die Hierarchie unter mehreren Teilnehmern kann mit den nächsten Durchgängen oder Partien komplett anders ausfallen. Sie wird vom Ergebnis diktiert – nicht von einer vorgängigen sozialen Struktur oder einem Wissensstand, der nicht schon ganz in seinem Ergebnischarakter aufginge. Sportliche und spielerische Hierarchien haben etwas sehr Vorläufiges und gleichzeitig – sozial gesehen – etwas extrem Unvermitteltes, Direktes, schnell zu Erreichendes.

Das Spiel im Unterricht

492 Paul de Man, Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater (1984), in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. (1988), S.  205 – 231.

Das forcierte Menschsein aber, das Schiller durch das Spielen verspricht, artikuliert sich so immer wieder auf irgendwie unstatthafte Weise – jedenfalls im Verhältnis zu dem hochphilosophischen Anspruch. Es artikuliert sich in schnöden Ergebnissen. Es sei denn, man interpretiert die Möglichkeit immer neuer Hierarchisierungsprozesse mit jedem neuen Spielbeginn gerade als urdemokratisches Moment des Spielens. Aber der deutsche Idealismus war in dieser Hinsicht ziemlich undemokratisch und hat sich – wie Paul de Man gezeigt hat – immer wieder ausgerechnet den überregulierten höfischen Tanz als Bild des spielerisch-­ästhetischen Staates gewählt.492 Und von dem waren die Bauern und die Bürger bekanntlich ausgeschlossen. Das ist alles tausend Mal besprochen. Ich will hier deshalb einen anderen Vorschlag machen, bevor ich auf meinen zweiten Hauptpunkt komme: Wenn es denn die von mir angedeuteten Probleme – und sicher auch Lösungen – gibt, das Spiel als Struktur in den Unterricht zu integrieren, so kann man es zumindest problemlos als Gegenstand hineinnehmen. Gerade weil so viel von Fächer-übergreifendem Unterricht, von integriertem Lernen die Rede ist, sollte man die Möglichkeit beherzt ergreifen, das Spiel im Unterricht als Struktur zu durchdenken, ein Spiel im Unterricht beispielhaft zu erarbeiten und die Geschichte des Spiels gleichzeitig mit hineinnehmen. Bei der Umsetzung des Spiels oder der Spiele, deren his288

spielerisch lernen

torische und systematische Typologie ein wunderbarer Unterrichtsgegenstand wären 493, kann man je nach Lage entscheiden, ob beispielsweise eine stärker handwerklich-­analoge und eine stärker digital-­programmierte Version eines Spielkonzepts erarbeitet werden soll. Das Brettspiel, das man entwickeln möchte, könnte Maß am Schachspiel nehmen. Das wiederum könnte Gegenstand im Mathematikunterricht, im Informatikunterricht, in Geografie und im Geschichtsunterricht sein.

493 Vgl. als Einstieg schon Alfons X., Das Buch der Spiele (1283), hg. u. komm. v. U. Schädler u. R. Calvo, Münster (2009).

Es wäre auch sehr vielversprechend, mit den Schülern die Frage selbst zu erörtern, an welcher Stelle des Unterrichts und bei welcher Fragestellung spielerische Elemente sinnvoll oder effizienter wären, um sie dann gemeinsam zu erarbeiten oder auszuwählen. Man kommt jedenfalls auf diesem Weg zu einem Verständnis des Spielens, das dann tatsächlich das eigene Spielen zum Gegenstand der Reflexion – und nicht der Abwehr oder auch der unreflektierten Einfügung in den Unterricht – erhebt. Ein apostrophierter Spiele-­Tag in der Schule oder freies Spielen im Fach Computer aber mögen der Schule die Vertretungsplanarithmetik erleichtern, den Schülern bringt ‚beaufsichtigtes Spielen‘ am zur Verfügung gestellten Rechner oder am mitgebrachten Tablet rein gar nichts im Hinblick auf das institutionell immer noch vorgeschriebene Lernen.

Spiel und Umgebung ‚Der Mensch ist nur ganz Mensch, wo er spielt.‘ Zum Topos gehört immer auch, dass er anders oder sogar gegenteilig gelesen werden kann. Aristoteles‘ Paradebeispiel für einen Topos war schließlich die Formel ‚Das Leichte fällt schwer‘. Nun, ich muss wohl nicht extra beweisen, dass – im entsprechenden Kontext – auch umgekehrt eine ernst zu nehmende Aussage herauskommt. Topoi sind sehr beweglich, das ist ihre Funktion in der Rede.494 So fragen wir noch mal nach: ‚Ist der Mensch nur ganz Mensch, wo er spielt‘? Ist das Spiel tatsächlich eine ursprüngliche, natürliche, nicht-­technisierte, nicht-entfremdete Form menschlichen Verhaltens, zu der man aus entfremdeten Verhältnissen nur ausnahmsweise zurückkehren kann, um 289

494 Vgl. Edgar Mertner, Topos und Commonplace, in: Strena Anglica. Festschrift für O. Ritter, hg. v. G. Dietrich u. F. W. Schulze, Halle (1956), S.  178 – 224.

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doch noch periodisch wieder ganz Mensch sein zu können? Oder ist es genau anders herum: Wird hier ein Phänomen idealisiert, rhetorisch in eine Reinform gebracht, das in Reinform aber gar nicht zu haben ist? Wenn man Spielen anthropologisch-­philosophisch liest, dann ist ja jede Form des Spielens in jeder Umgebung irgendwie grundsätzlich gut oder auf seinen guten Kern zurückführbar – der dann mit dem eigentlichen Menschsein identisch wäre. Aber so einfach ist es wohl nicht: Das Spiel ist vielmehr etwas, das tatsächlich immer eine technische Infrastruktur braucht: Plätze, Spielplätze aber auch gesellschaftliche Knotenpunkte, Bretter, Würfel, Strom, Pferde, Verkleidungen, Kostüme, Masken, Computer, Graphikkarten etc. etc. So könnte man auch sagen: Alles ist Medialität. Spielende Menschen spielen im Austausch mit symbolisch verdichteten Ausschnitten (Spielbrett) sich langsam wandelnder technischer Umgebungen auf immer neuen Levels – um diese Metapher einmal anders zu gebrauchen. [➤ Umgeben, S. 307] Schon das zeitlich limitierte, regelgeleitete Balgen um einen Kalbskopf zu Pferd auf einem abgezirkelten Feld war ja eine hoch unwahrscheinliche und voraussetzungsreiche Kulturleistung, die rein gar nichts mit Instinkten oder Natur zu tun hat. Sie setzte die Domestikation des Pferdes voraus, einen Kalender, um festlegen zu können, wann es – in regelmäßigen Abständen – zu diesen Spielen kommen sollte, zwei gegnerische, aber eben nicht verfeindete Mannschaften usw. Jetzt könnte man sich einige Dauerbrenner – z. B. Schach und Fußball – nehmen und zeigen, dass hier der Technisierung enge Grenzen gesetzt sind. Aber das ist natürlich grundfalsch, denn Fußball braucht eine riesige Übertragungsinfrastruktur, es gibt Werbung, Wettbüros, Videobeweis, Torlinien-­HawkEye, medizinische Überwachung der Körper bis in den Urlaub und vieles mehr, was dieses Spiel wie kaum ein anderes mit den neuesten technischen Infrastrukturen verstrickt. Hier könnte man vermuten, dass die Erhaltung des relativen Willkürcharakters der Schiedsrichterentscheidung als sogenannte Tatsachenentscheidung genau von diesen Verhältnissen ablenkt. 290

spielerisch lernen

Beim Schach wird immer wieder als Gegenbeispiel, als Beleg für die Nicht-­Technisierbarkeit dieses Spiels, der Betrug mit dem Schachautomaten, dem sogenannten Schachtürken von Kempelens, angeführt. Aber an dieser Anekdote aus dem 18. Jahrhundert ist ja nicht signifikant, dass es nicht geklappt hat, sondern vor allem, dass versucht worden ist, das Schachspiel mit den drum herum herrschenden Standards der Mechanisierung zu verknüpfen. [➤ Ausstatten, S. 80] Hier kommt die Technik-­Definition von Bran Ferren zum Tragen: ‚Technik ist Zeug, das noch nicht funktioniert‘ – irgendwann funktioniert es dann eben. Goethe hat es in den Maximen und Reflexionen etwas vornehmer ausgedrückt: „Fehler der Dilettanten: Phantasie und Technik unmittelbar verbinden zu wollen.“ 495 Tatsächlich trainieren ja auch heute alle die, die auf hohem Niveau unter Anwesenden gegeneinander antreten, längst (mit Schachcomputern und -programmen) vornehmlich im Virtuellen.

Lernkulturenvergleich Von der Spieltheorie im herkömmlichen Sinne trennt die Computerspielfrage genau diese beispiellos unmittelbare und offensichtliche Anbindung an schnell evolvierende technische Standards der Umgebung. Rechnerkapazitäten und Grafikkarten bestimmen die Produkte und Entwürfe. Zunächst ist der Markt eine Leistungsschau. Was kann der Computer als Spielmedium jetzt denn schon wieder Neues, Täuschenderes, Genaueres oder Schnelleres? Wir reden immer noch darüber, ob Spielen und Lernen sinnvoll zusammenzubringen sind. Welches Mittel haben wir denn zur Verfügung, die didaktische Eignung und Relevanz der Computerspielkultur für die Lernkultur zu überprüfen? – Es kann nur durch einen Vergleich gelingen. Es kommt auf den richtigen Vergleich an, nicht auf einen Vergleich mit Comic oder Videocassette, sondern auf den Vergleich zweier Lernkulturen, wo die Infrastrukturfrage, die Umgebungsfrage, mit einbegriffen wird. Am 18. Jahrhundert, am Aufkommen des Romans, kann man lernen, dass die einflussreichste Umgebung für das Lernen seit der Moderne die Unterhaltung ist. In diesem Fall der aufkommende moderne 291

495 J. W. v. Goethe, Werke in zwölf Bänden. Siebenter Band: Wilhelm Meisters Wanderjahre/ Maximen und Reflexionen (1821/ 1829), hg. v. den Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Berlin – Weimar (1981), S. 561.

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496 Vgl. Michael McKeon, The Origins of the English Novel 1600 – 1740 (1987), Baltimore – London (2002).

Roman als Massen-­Produktion von Unterhaltungsstoff und Umgebung des gleichzeitig aufkommenden Systems allgemeiner Schulpflicht. [➤ Fabrizieren, S. 130] Die Romane waren Mitte des 18. Jahrhunderts da und wurden gelesen.496 Nach der Schule oder vor der Schule. Der Druck dieser Unterhaltungslektüre, die natürlich das Viellesen schulte, aber auch das relativ distanzlose identifikatorische Lesen, war so groß, dass die Schule reagieren musste: Sie änderte ihre Lesetechnik und Strategie – und damit auch die Gegenstände. Gelesen wurden nun längere deutschsprachige und kürzere lateinische Texte. An den lateinischen Texten hatte man entweder rhetorische Figuren isoliert, um sie selbst zu beherrschen, oder topische Argumentationen trainiert. Jetzt – nach 1800 – wurde mehr gelesen, schneller gelesen, mehr Verstehen abgeprüft, mehr paraphrasiert statt grammatikalisch korrekt nachkonstruiert. Es wurde nun auch mehr geschrieben im Sinne von Besinnung, im Sinne differenzierterer Selbstreflexion – ein Programm, das der Roman erst etablierte. Das reine Spannungslesen galt und gilt bis heute als Zeitvertreib, bei dem nichts Bleibendes gestiftet wird. Erst wenn das Buch mit Unterbrechungen für eigenhändige Notizen gelesen wird oder mindestens zweimal gelesen wird, so dass man zusammenhängend darüber sprechen kann, darf es in der Schule genannt oder ‚in den Unterricht integriert‘ werden. Man kann an Roman und allgemeiner Schulpflicht sehen, dass herrschende Unterhaltungskultur und Bildungssystem keine Gegensätze waren und sind und dass sie, obwohl sie scheinbar immer wieder entgegengesetzte Werthorizonte im oft negativen Bezug aufeinander ausgeprägt haben, als unterschiedliche Abschnitte auf einer Skala angesehen werden können. Stellt man aber, wie schon mehrfach angedeutet, ‚höhere Bildung‘ apodiktisch ‚trivialer Unterhaltung‘ gegenüber, dann lernt man weder etwas über die Anfänge von Unterhaltung noch über die Zukunft von Bildung. Beides hängt nämlich so eng zusammen, dass man nur aus der Kenntnis ihrer engen Verwobenheit eine hinreichende Urteilsfähigkeit für akute Fragestellungen erlangt. 292

spielerisch lernen

Schließlich ist aber auch eine weitreichende und entscheidende technische Änderung im Herzen der Institution zu verzeichnen: Durch den Gebrauch neuer technischer Medien, vor allem im immer stärker kapitalisierten Freizeitsektor, ist die relative Kongruenz der Medien-­Gebrauchsweisen – wir sprechen vom Lesen – zwischen Freizeit und Hochkultur, die immerhin etwa 200 Jahre geherrscht hat, nicht aufgehoben, aber in Frage gestellt. Der Comicleser hat ja noch geblättert in Printprodukten und der Videocassettenbenutzer hat den Film ganz angesehen – und wenn er ihm gefiel, dann eben mehrfach. [➤ Lesen, S. 194] Man sieht hier ganz gut: Unreflektierter Isolationismus bringt in der Bildungspolitik gar nichts. Die dominante Unterhaltungskultur ist gegebenenfalls auch die entscheidende Umgebung der Bildung. Tempo-­Standards aus der Unterhaltung werden zunächst, in der Tradition einer Kennzeichnung als bloßem ‚Zeitvertreib‘, abgelehnt, andererseits aber als eine Art neuer Bedienungsstandard stillschweigend vorausgesetzt und irgendwann offiziell eingebaut.

Gamen Was machen wir also mit dem Computerspiel? Das Computerspiel, das auf unterschiedlichen Plattformen gespielt werden kann, gehört ja definitiv zur neuen dominanten medialen Umgebung der Gegenwart. Seine Praxis ist mit ‚gamen‘ oder (neudeutsch) ‚daddeln‘ bzw. ‚zocken‘ noch unzureichend benannt.497 Was kann jemand als Lehrer in einem institutionellen Rahmen verfeinernd oder variierend lernen lassen, wenn man davon ausgehen muss, dass der Mediengebrauch, auf den diese Fertigkeit oder Freizeit-­Virtuosität aufbaut, zunächst keine hochkulturelle Ansicht kennt, die sich für ein Bildungsprogramm anbietet? Technisch ist jetzt die Frage an einem konkreten und aktuellen Beispiel auf dem Tisch: Wie man etwas integriert aus der Freizeitkultur in die institutionell gebändigte verlangsamte Bildungskultur und gleichzeitig herauslöst aus dem Tempo und der Mobilisierungsumgebung derselben Freizeitkultur? Oder ist die Stunde der Computerspiele gekommen, weil dieser Tempounterschied zwischen den Umgebungen und den Institutionen ohnehin 293

497 Vgl. Matthias Fuchs, (Art.) Gamen, in: Verf./ M. Bickenbach/ N. Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln – Weimar – Wien (2015), S.  288 – 296.

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zur Diskussion steht? Dann sind Scoring-­Ziele und Gamification nicht mehr länger obsolet, sondern opportun. Es gibt tatsächlich die Tendenz, schon allein den Anschluss ans schnelle Netz für jede Schule als Fortschritt zu feiern. [➤ Ausstatten, S. 80] Aber was machen wir dann mit der Temposchranke zwischen Unterhaltungsumgebung und Lerninstitution, die wir schon durch das ganze Buch fordern? Ich glaube: Wir brauchen diese Temposchranke weiterhin, weil nur die Verlangsamung das Lernen ermöglicht. Zum Spielen braucht es Fantasie. Das ist ein sehr platter Topos. Noch platter als der Schillersche Topos, den ich eingangs dieses Kapitels zitierte. Aber Tatsache ist, dass die Spiel-­Technologie der neuen Medien die Räume der Vorstellung, in denen sich die Fantasie dann bewegt, durch taktile Operationen, und nicht mehr so sehr durch Lesen, technisch auch einfacher eröffnet. Genau hier ist aber der Tempogewinn, wenn man konzediert, dass die Vorstellungskraft der Möglichkeit nach immer schon an technische Medien gekoppelt war. Angefangen bei der Höhlenmalerei und einer Begehung im Fackelschein.

Vorstellungsräume Und hier ist ganz genau und analog auch die Erleichterung wiederzufinden, die die Romanlektüre deutschsprachiger identifikationsfähiger Romane unter alphabetisierten Bevölkerungen ebenfalls einmal bedeutet haben muss. Es geht meines Erachtens im Unterricht auch um eine Verlangsamung und Reflexion dieser technisch so überaus effektiven Eröffnung von Vorstellungsräumen, nicht um ihre Zurückweisung oder Leugnung. Aber erst wenn wir Praktiken und Techniken, Fragen und Modelle entwickelt haben, dieses, so schnell Vorstellungsräume bildende und öffnende technische Potential der neuen Medien zum Gegenstand von Unterricht zu erheben, sind wir am Ziel. [➤ Einbilden,  S. 103] Diese Vorstellungsräume programmieren zu lernen, muss die eine Antwort sein. Die andere: Wenn die Räume regelmäßig zum Gegenstand historischer, ästhetischer und technischer Erörterungen und Aufgaben erhoben werden, müssen 294

spielerisch lernen

wir keine Angst mehr vor dieser Umgebung haben. Noch einmal: Die Imagination wird, das kann man prognostizieren, unschlagbar bequem werden. Man starrt mittels Spezialbrillen in realistische oder fantastisch bewegte dreidimensionale Räume – ohne sich noch groß etwas vorstellen zu müssen, außer eben der Vorstellung, dass man ‚drin ist‘, dass man tatsächlich aktiver Teil von dem ist, was man nur sieht und hört. Eine merkwürdige Textcollage Ernst Jüngers aus seinen späten Tagebüchern verdeutlicht den Zusammenhang: Ferner: Ein vierzehnjähriger Gymnasiast in der Zeitschrift ‚Neue

498

deutsche Schule‘: ‚Lesen muss der Mensch erst lernen, Fernsehen ist

Ernst Jünger, Tagebücher. Siebzig verweht V [= SW 22], Stuttgart (1997), S. 134.

eine angeborene Fähigkeit. Also ist Fernsehen viel natürlicher als das umständliche Lesen.‘ Der Gedanke ist gut. Er berührt nicht nur eine neue Methode der Unterrichtung, sondern auch einen fundamentalen Unterschied der Wahrnehmung. Dazu Goethe: ‚Der Dichter bringt seine Werke nur vor die Phantasie, der Maler unmittelbar vor die Sinne.‘ (Ich verdanke das Zitat einem Leserbrief von Sofie Nabholz, Ravensburg.)498

* Die jeweils scheinbar ‚angeborene‘ Form der Mediennutzung entlastet für Freizeit – Freizeit verstanden als unschlagbare bequeme Entspannungs-/Anspannungsroutine, verstanden als effizienter Vorstellungseröffner. Das alles belastet aber eher für das Erreichen eines Bildungsziels. Wohlgemerkt: Bildung verstanden als wissens-­ integrative, aber nicht immersive Levelsteigerung. Das Problem hat durchaus systematischen Charakter, denn die Frage ist ja im Falle von Bildung, wo die Anstrengung liegt, die einen lohnenswerten Ertrag bietet, der nicht nach Beendigung der Runde fallengelassen werden kann und muss? Wo liegt und wie gelingt die Motivation für die Fortsetzung einer zweck- aber nicht sinnlosen systematischen Anstrengung? Wo liegt die Möglichkeit eines Erkenntniszuwachses, einer Horizonterweiterung, die nicht mit der Leistung der jeweils stärksten Grafik295

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499 Vgl. (Art.) Level, in: The Oxford English Dictionary, Vol. VI: L–M, Oxford (1933), S. 224 – 226, hier: S. 224.

karte identisch ist? Bildung meint einen metaphorischen, keinen optischen Horizont – wie ihn der Level-­Begriff ursprünglich (mindestens seit 1340) schon fordert: „An instrument which indicates a line parallel to the plane of the horizon, used in determining the position as to horizontality of a surface to which it is applied.“ 499 Zum wesentlichen Bestandteil des Bildungsdiskurses könnte in ganz offensiver Weise der Unterschied von Bildungs- zu Spielprozessen gemacht werden. Dann wäre das Problem, mit dem wir es hier offenbar zu tun haben, im Zentrum derjenigen Institution angekommen, wo es meines Erachtens hingehört. Man könnte mit den Schülern eine Mediengeschichte der Einbildungskraft erarbeiten, die sich grob an biografischen Stationen orientiert: Wie benutzt man eigentlich ein Bilderbuch? Wie gut muss man lesen können, um sich beim Lesen etwas vorstellen zu können? [➤ Lesen,  S. 194] Warum lässt das Kino Räume für die Vorstellung, obwohl es schon an einander anschließende bewegte Bilder zeigt? Wie wichtig ist die Habitualisierung der Bedienungsinterfaces, damit das Spielen am Computer überhaupt Spaß machen kann? Wann setzt diese taktile Bildung ein?

Taktile Bildung und Selbstbewusstsein?

500 Vgl. Matthias Bickenbach, Knopfdruck und Auswahl, Zur taktilen Bildung der Medien, in: Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft, H.171: Taktilität (2000), S.  9 – 32.

Und jetzt kommt eine zentrale Frage für die Lehrer der Menschheit – um es noch einmal mit Schiller und mit viel Pathos zu sagen: Gibt es weiterhin oberhalb der taktilen Bildung, die bisher ja nur aus dem Durch-­Blättern oder Weiter-­Blättern der Buchseiten bestand, gibt es nun – wo diese taktile Bildung, verschaltet mit ‚angeborener‘ Visualität, zur Schlüsseltechnologie wird – weiterhin ein Konzept von Bildung, das noch irgendwie die im Buchzeitalter erarbeiteten und hinterlegten Ideen von Persönlichkeit und historisch-­kultureller Bildung unter den Bedingungen neuer technologischer Umgebungen ermöglicht?500 Ich würde hier eine zweite Runde mit den Schülern vorm Computer einläuten: Wie wird die gleichzeitig spannende und entspannende Fremdidentifikation mit einem fantastischen Helden wieder zurück296

spielerisch lernen

gebogen auf ein mühsames Selbstverständnis, auf ein sich idealiter steigerndes Selbstbewusstsein als Subjekt, das eben nicht nur vorgestellt ist, sondern real in der Verantwortung steht? Wie wird die Fähigkeit, eine Rolle zu erkennen, zu imaginieren und nachzuempfinden, mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer bei sich selbst erst noch zu formenden, laufend entscheidungssicherer agierenden Persönlichkeit, einer realen eigenen Lebensgeschichte, erfolgreich entwickelt? Diese Fragen für Heranwachsende beantwortbar zu machen, ist immer noch der Sinn von Bildung. Alle Äußerlichkeiten sind der Bildung schließlich nur Anlass, im Inneren der Subjekte eine Folge möglicher Geschichten des eigenen Lebenslaufes auf Probe imaginieren zu lassen und sich für eine zu bewältigende Anzahl solcher Entwürfe und ihre Abfolge oder Koexistenz zu entscheiden. Die eingebildeten Geschichten sind als eigentliche Farbpalette von Bildung anzusehen, wenn sie dem flüchtigen Konsum entzogen werden können. [➤  Forma­tieren,  S. 154] Die zentrale Frage an die neuen Medien muss lauten, ob und wie sie Geschichten verteilen und verankern, und wie sie Vorstellungsräume öffnen. Und die entscheidende Frage an die Schule muss sein, wie die Einübung in solche Räume der Freizeitkultur systematisiert und reflektiert werden kann. Denn die Aufgabe der Schule und der Bildungsinstitutionen ist immer noch, in den jungen Menschen eine Kraft zu etablieren, die es ihnen erlaubt, aus einem leicht zugänglichen Meer von Geschichten einige wenige auszuwählen und zu einer Art Strukturplan für das eigene Leben zu machen.

297

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t r a inier en Die Körperbildung

501 Vgl. etwa (für Rosenstock-­ Huessy): Martin Otto, Habilitandenjahrgang 1912 – Wege und Wirkungen einer rechtshistorischen Generation, in: Raphael Gross (Hg.), Jahrbuch des Simon-­ Dubnow-­Instituts Bd. XIV, Göttingen (2015), S.  297 – 323. 502 Vgl. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt (2006). 503 Vgl. William Clark, Academic Charisma and the Origins of Research University, Chicago – London (2006).

Einer Idee von Bildung als maximaler Individualisierung steht einiges entgegen. Der stärkste Einwand ist gleichzeitig auch der naheliegendste: Da für das gebildete Individuum ein gesellschaftliches und kein insulares Dasein vorgesehen ist, kann es sich auch nur in einer Art Wechselbeziehung mit einer Gruppe oder mindestens auf der Folie eines größeren Verbandes bilden. Eine Persönlichkeit ist schon in ihrer Formierungsphase auf das Zusammenwirken mit anderen angewiesen. Bildung ist in dieser Perspektive zwar eine systematische, intellektuelle und körperliche Qualifizierungs- und Festigungsanstrengung am Einzelnen – aber eben in der Gruppe. Sie wird gewöhnlich jahrgangsweise, in Klassenverbänden und in zugangsbeschränkten, höheren staatlichen oder privaten Anstalten durchgeführt. Bildung braucht – quer zur Arbeit am Einzelnen und des Einzelnen – immer auch Jahrgänge und Altershierarchien, eine gruppenförmig zugewiesene Identität.501 Bildung stellt deshalb auch nach dem Verlassen der Institution ein überindividuelles Netzwerk und eine Einzel-­ Identität zur Verfügung. Letztere wird durch genau die Tatsache gefestigt, dass im Netzwerk gleichzeitig andere individuelle Identitäten vorrätig sind, auf die man zurückgreifen kann. Hier hat der Bildungsprozess tatsächlich im Kern etwas mit Logistik zu tun. Die anlässlich des ‚Paukens‘ [➤ Pauken,  S. 206] thematisierte Geschichte der deutschen studentischen Verbindungen, der Burschenschaften und ihrer Rituale, zeigt, wo das Wissen um diese Verhältnisse und die Macht dieser binnenhierarchisierten Gruppenprozesse im deutschen Sprachraum angesiedelt war. Eine der wichtigsten universitätsgeschichtlichen Studien der letzten Jahrzehnte stellt seine Perspektive ganz auf diese Rituale höherer Vergemeinschaftung ein 502, eine andere – gleichfalls sehr bedeutende – widmet den größten Teil seiner Untersuchungen dem Charisma der Magister und Professoren für die übrigen Angehörigen der universitas.503 [➤ Vortragen, S. 335] 298

tr ainieren

Man kann nun durchaus davon ausgehen, dass (nach deutschem Vorbild) an amerikanischen Universitäten Verbindungshäuser entstanden, die es dort heute noch gibt und die immer noch Knotenpunkte für spätere berufliche Netzwerke sind. In den USA beginnen solche Gründungen 1832 – Yale, Dartmouth und Brown gehören dazu. Dass ein Impuls für solche Gründungen aus einem Studienjahr in Deutschland – möglicherweise inklusive Verbindungsmitgliedschaft – resultierte, ist mehr als wahrscheinlich. Diese Tradition riss in Deutschland ab, insofern sich hier, in den Verbindungshäusern, schnell gerade die auf Gruppensolidarität angelegten, zunächst liberal-­egalitären Burschenschaften zu einem erstrangigen Reservoir für den zunehmend chauvinistischen Nationalismus wurden. Dasselbe geschah recht schnell mit vaterländischen Turnvereinigungen. Loge, Studentencorps oder Turnverein sind um 1800 weder harmlos noch unpolitisch oder gestrig. Sie waren sogar – genau wie die korrespondierende Idee des Nationalstaats – einmal modern. Dann kam eine andere Moderne: die „sanitätspolizeiliche Überwachung höherer und niederer Schulen und ihre Aufgaben“ nach Friedrich Falk (Leipzig, 1869).504

* Körperliche Ertüchtigung wurde allerdings zunächst vom entstehenden Bürgertum ohne organisierten Gruppenzwang imitiert. Man strebte damit ein Idealbild an, das man sich vom adeligen Leben, vom Edelmann, machte, der seinerseits schon körperliche Übung aus ihrer „Abhängigkeit gegenüber dem Kriegsdienst“ 505 gelöst hatte. Goethes Wilhelm Meister bringt das 1796 im Brief an Werner wunderbar auf den Punkt: Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. […] An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst Schuld […] genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken, und wie ich mich

299

504 Dazu mit immensem Quellenmaterial Jürgen Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert, in: Philipp Sarasin/ Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. (1998), S. 245 – 285, hier: S. 253. 505 Dazu Rudolf zur Lippe, Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Reinbek b. Hbg. (1988), S. 27 – 46, hier: S. 29. Insgesamt: Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Sports. Vom antiken Olympia bis ins 21. Jahrhundert, München (2012).

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selbst und das was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und

J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), hg. v. H.-J. Schings [Münchner Ausgabe der sämtlichen Werke Bd. 5], München (1988), S. 290.

erreiche. Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Aus-

507 Vgl. das Kapitel ‚Französische Militärpraxis und deutsche Militärtheorie‘, in: Valeriu Marcu, Das grosse Kommando Scharnhorsts. Die Geburt einer Militärmacht in Europa, Leipzig (1928), S. 82 – 112, hier: S. 93.

bildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibesübung viel gewonnen.506

Doch die Abhängigkeit vom Kriegsdienst stellte sich schnell wieder ein. Die Auflösung der hierarchisch-­starren, einexerzierten Gefechtsordnungen stehender Berufsheere durch die mobilen Bürgerarmeen napoleonischer Prägung mit ihren kleineren, gestaffelten Gruppen – mit „Schützenkampf und Kolonne“ 507 –, die man doch schnell zu immensen Massen zusammenziehen konnte, diese Auflösung machte schon mittelfristig jedes zivile körperliche Training zu einem Akt der ‚Totalen Mobilmachung‘ (E. Jünger) der Gesellschaft. Sport wurde zur Vorschule nationaler Armeen.508

508 Vgl. insgesamt Henning Eichberg, Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./ 19. Jahrhunderts, Stuttgart (1978). 509 Zur Frühgeschichte vgl. Hugo Fischer, (Kap.) Begriff des Teams, in: ders., Die Geburt der westlichen Zivilisation aus dem Geist des romanischen Mönchtums, München (1969), S.  83 – 87.

* Die Teamfähigkeit oder Gruppenfähigkeit eines Individuums, die unterdessen zur modernen Persönlichkeitsbildung gehört, wird in der Geschichte der Bildungsinstitutionen erst relativ spät zugrunde gelegt und erfährt dort dann noch einige Wandlungen.509 Diesen Wandel der Gruppe, aber auch die zentrale Rolle eines Wechselspiels mit der Gruppe für den individuellen Bildungsprozess, hat die Industriesoziologie zumindest ansatzweise erfasst.510 Die Pädagogik tut sich damit erstaunlicherweise schwerer. Sie hat ihr Lebens-Phasenmodell (trotz, neuerdings, ‚lebenslangen Lernens‘) faktisch entzeitlicht und verabsolutiert, d. h. nicht noch einmal (z. B. industrie-) geschichtlich verortet. So kommt es, dass das pädagogisch-therapeutische Konzept der Gruppendynamik, das dasjenige der Person ja eigentlich konterkarieren und ergänzen soll, diese Dynamik der Gruppe nur als psychologisches Kraftfeld entfaltet, aber die Gruppe nicht noch einmal vertikal in der Zeit, als historisch determinierte Form, verortet.

300

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Eugen Rosenstock-­Huessy hat als Begründer der Industriesoziologie in Deutschland und als Bildungstheoretiker diesen Zusammenhang, bzw. diesen Wandel der Gruppe, dagegen fest im Blick gehabt: Die Gruppen sind vorübergehend. Es werden Gruppen für den Augenblick zur Bewältigung bestimmter Aufgaben gebildet. Diese Art von Gruppenbildung ist gegenüber den Erziehungsvorgängen eine neue Welt. […] Auch das Team wird von der ganzen Welt bestimmt und hat nur vorübergehendes Leben. Welche Eigenschaften kann der Mensch in eine solche kurzlebige Gruppe einbringen? Er kann der Gruppe nicht die ewige Treue versprechen, sondern er muss die Fähigkeit zu neuem Anschluss an andere Gruppen behalten. Er darf sich nicht ganz ausgeben. Darin liegt ein Widerspruch. […] Gerade weil der technische Fortschritt notwendigerweise Gruppen zerschlagen muss, muss man auch bewusst Gegengruppen aufbauen.511

Historisch betrachtet muss man also mindestens zwischen Gruppen und (Gegen-) Gruppen unterscheiden. Die Bildungsinstitution stellt im Idealfall eine solche Gegengruppe von Anfang an zur Verfügung, indem sich der einzelne immer auch als lebenslanger Teil einer mit Tradition behafteten Einrichtung verstehen lernt und speziell im fortwährenden Kontakt mit seinem (Abschluss-) Jahrgang eine Kontinuität erfährt. Das kann die Arbeitswelt – trotz hoher Teamanforderung – so nicht bieten. Auch diese Dialektik aus Gruppe und Einzelnem, die sich unter anderen Bedingungen fortsetzen wird, ist deshalb ein wichtiger Bestandteil von Bildung.

Sport und Bildung: Training Sport findet – gerade in Institutionen – häufig in der Gruppe statt. Das bietet einen immensen Vorteil: Man hat nicht nur einen Eindruck von der geistigen Potenz der anderen, man hat die anderen auch unter körperlicher Belastung kennengelernt, ihre Verlässlichkeit geprüft, ihren Teamgeist oder ihr Durchsetzungsvermögen schon handgreiflich erlebt. Der spielerische Ernst des Sports simuliert räumlich und zeitlich begrenzt, nach Regeln, schon den forcierten sozialen Wettbe301

510 Vgl. auch Ivan Illich, Gruppen und Klassen – Menschen und Bürokraten – Lebensstile und Massenmärkte, In: Evangelische Akademie Bad Boll (Hg.), Bildung und Politisches Handeln angesichts der Grenzen des Fortschritts. Protokolldienst 13, Bad Boll (1980), S.  13 – 26. 511 Eugen Rosenstock-­Huessy, Der technische Fortschritt erweitert den Raum, verkürzt die Zeit und zerschlägt menschliche Gruppen (1962), in: ders., Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft. Zur Ökonomie der Zeit, hg. v. Rudolf Hermeier, Frankfurt/M. (1988), S. 107 – 117, hier: S. 113 ff.

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512 Dazu Manfred Schneider, Die Erotik des Fernsehsports. Beobachtungen zur Liturgie alltäglicher heroischer Ereignisse, in: Merkur 47. Jg. (1993), H. 9/10 [‚Medien. Neu? Über Macht, Ästhetik, Fernsehen], S.  865 – 874. 513 Vgl. dazu Stefan Poser, Glücksmaschinen und Maschinenglück. Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels, Bielefeld (2016). 514 Eugen Rosenstock-­ Huessy, Beiträge zum ‚Darmstädter Gespräch – Mensch und Technik‘ (1952), in: ders., Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft. Zur Ökonomie der Zeit, hg. v. Rudolf Hermeier, Frankfurt/M. (1988), S. 97 – 106, hier: S. 102.

werb der (Industrie-)Gesellschaft. Sport stellt darüber hinaus – ganz ähnlich wie das Programm der Bildung auch – eine Besinnung auf das Auftreten älterer kultureller Formen in der Gegenwart dar. Dabei muss man nicht unbedingt an die germanischen ‚Recken‘ denken, die Turnvater Jahn vor Augen gehabt haben mag. Die Sache liegt anders. Zwar wird bei der Übertragung sportlicher Wettkämpfe keine Mühe gescheut und kein technischer Aufwand unterlassen. Die technische Emblematisierung der Körper und ihrer Bewegungen (slow-­motion) zur Steigerung ihrer visuellen Konsumierbarkeit schreitet unaufhaltsam voran.512 [➤ Konsumieren,  S. 180] Das Sportgerät aber, das Regelwerk oder die spezifische körperliche Anstrengung repräsentieren eben niemals den sie umgebenden aktuellen technischen Standard, sondern einen wesentlich älteren. Daraus erklärt sich unter anderem, warum über Regeländerungen in traditionellen Sportarten Jahrzehnte ins Land gehen können. Es erklärt aber auch, warum eine neue Sportart – z. B. das Drachenfliegen – problemlos Hightech mit dem Ikaros-­Mythos zu verbinden scheint.513 Eugen Rosenstock-­Huessy hat diese programmatische Einschachtelung älterer kultureller Formationen in moderne Zusammenhänge durch den Sport immer wieder beschrieben: Wenn Sie ein Schlachtschiff heute bauen, ein Kriegsschiff für 40 Millionen Dollar, mit seinen 2000 Mann Besatzung, so müssen Sie doch noch das Segelboot haben und das Faltboot, in dem sie wie der erste Mensch auf das Wasser gehen. Weshalb müssen Sie es? Als Sport! Damit in dieser Spielform, in diesem Spielraum und in der Spielzeit, das heißt, in der Zeit, die das Boot braucht, um auf dem Fluß zu fahren oder auf der See, Sie mit sich selbst verwandt bleiben, mit dem

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Menschen, der es zuerst getan hat, sich auf die See, die Wasserhöhe

Michael Rostovtzeff, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt (engl., 1941), Darmstadt (1984), S. 840. [Hinweis b. Assmann, Arbeit, 1993, S. 14].

zu wagen.514

Das ist in gewisser Weise ein Luxus, aber ein notwendiger. Diese Parallelisierung der Bildung mit dem Sport ist denn auch nicht so weit hergeholt, wie es zunächst scheint: Das Gymnasium als hellenistische Eliteanstalt war nicht zufällig ursprünglich eine Sportstätte: 302

tr ainieren

Die Gymnasien bildeten feste Gemeinschaften, die als korporative Einheiten zusammengeschlossen und als solche von der Regierung anerkannt waren. (…) In dieser Eigenschaft erhielten die Vereinigun-

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gen der Gymnasien von den Königen wichtige Privilegien, zum Bei-

Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München (1992), S. 107.

spiel das Recht, Eigentum zu besitzen: Geld, Gebäude, Einrichtungsgegenstände, Land.515

Das zentrale Instrument der Bildung, die periodische Festlegung eines Kanons und die Entwicklung von Methoden im Umgang mit den vorbildlichen Beständen dieses Kanons, hat ihren begrifflichen Ursprung ebenfalls in demselben Feld der ‚Leibesübung‘ – wie Wilhelm Meister das noch nannte. Es gibt in der griechischen Antike sogar eine Schrift mit dem Titel ‚Kanon‘. [➤ Wiederholen, S. 361] Es handelt sich hierbei um eine Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts entstandene Lehrschrift des Polyklet, die „die Maßstäbe für die ideale Proportionierung des menschlichen Körpers darlegte.“ 516 Genau das hat Winckelmann unter modernen Bedingungen reformulieren wollen – und den Sport dabei gebührend berücksichtigt: Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels wirkte bei der ersten Bildung der Griechen, die frühzeitigen Leibesübungen aber gaben dieser Bildung die edle Form. […] Die Körper erhielten durch diese Übungen den großen und männlichen Kontur, welchen die griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und überflüssigen Ansatz.517

* Winckelmanns Ideen scheinen unterdessen ein wenig aus der Zeit gefallen und für den einen oder die andere(n) direkt zu Hitler geführt zu haben.518 Die amerikanische Traditions-­Universität aber ist bis heute die treueste Kopie der Humboldtschen Reformuniversität, die sich ihrerseits das Griechentum Winckelmanns zum Vorbild nahm. Die amerikanische Universität hat die altgriechische Allianz von Geist und Körper viel konsequenter entwickelt als die europäische. Goethe selbst hat das am Ende seines Lebens, 1827, unter dem programma303

517 J. J. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), in: ders., Kleine Schriften und Briefe, Weimar (1960), S. 29 – 61, hier: S. 31 f. 518 Nach Eliza Marian Butler, Deutsche im Banne Griechenlands (1935) oder Klaus Heinrich, Karl Friedrich Schinkel. Albert Speer. Eine architektonische Auseinandersetzung mit dem NS [= Dahlemer Vorlesungen. Zum Verhältnis von ästhetischem und transzendentalem Subjekt], Frankfurt/M. – Basel (2015), Berlin (1948). Und neuerdings (in Auseinandersetzung mit Butler) Claudia Schmölders, Faust & Helena. Eine deutsch-­griechische Faszinationsgeschichte, Berlin (2018) und Bernd Witte, Moses und Homer. Griechen, Juden, Deutsche: Eine andere Geschichte der deutschen Kultur, München (2018).

teil 2 – die bildungsdebat te

tischen Titel ‚Den Vereinigten Staaten‘ in der Nachlese der Zahmen Xenien mit einer gewissen Entlastung vom kulturellen Gedächtnis Alt-­Europas zusammengebracht: 519

Amerika, du hast es besser/ Als unser Kontinent, das alte,/ Hast keine

J. W. v. Goethe, Letzte Jahre 1827 – 1832, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 18.1, hg. v. G. Henckmann u. D. Hölscher-­ Lohmeyer, Münchner Ausgabe, München – Wien (1988), S. 13.

verfallene Schlösser/ Und keine Basalte./ Dich stört nicht im Innern,/ Zu lebendiger Zeit,/ Unnützes Erinnern/ Und vergeblicher Streit./ Benutzt die Gegenwart mit Glück!/ Und wenn nun eure Kinder dichten,/ Bewahre sie ein gut Geschick/ Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.519

Aber so geschichtsvergessen und gegenwartszugewandt waren die traditionsreichen nordamerikanischen Universitäten nicht. Der italienisch-­deutsche Schriftsteller Curzio Malaparte (eigentlich Kurt Erich Suckert, 1898 – 1957) hat in seinem Roman Die Haut von 1949 diesen Zusammenhang zwischen antiker Klassiker-­Lektüre und körperlicher Übung unter weißen Nordamerikanern unvergesslich geschildert. Sein Held Jack verkörpert ihn: 520

Jack hatte seine Erziehung in der Woodberry Forest School und an

Curzio Malaparte, Die Haut (1949), Frankfurt/M. (1991), S. 18 f.

der Universität von Virginia genossen und sich mit gleicher Liebe den lateinischen und griechischen Studien wie dem Sport gewidmet, sich mit gleichem Vertrauen in die Hände des Horaz, des Vergil, des Simonides und Xenophon, wie in die der Masseure der Universitäts-Sporthallen begeben. Er war 1928 Sprinter des American Olympic Track Team in Amsterdam gewesen und stolzer auf seine olympischen Siege als auf seine akademischen Titel. […] es ließ Jack nicht ruhen, daß ein Muskelriß am Knie ihm nicht mehr gestattete, bei den internationalen Wettkämpfen für das Sternenbanner zu laufen. Um sich über dieses Unglück hinwegzutrösten, begab sich Jack, seinen geliebten Vergil oder seinen teuren Xenophon zu lesen, in die Garderobenräume der Sporthalle seiner Universität, zu jenem Geruch nach Gummi, nach feuchten Handtüchern, nach Seife und Linoleum, der in den angelsächsischen Ländern der eigentümliche Geruch klassischer Universitätsbildung ist.520

304

tr ainieren

Malapartes amerikanischer Offizier steht ganz offensichtlich in der Tradition des deutschen Bildungsbegriffs, auch wenn ‚das (Nord-) Amerikanische‘ häufig genug (und sogar von den deutschen Klassikern) als sein Gegenteil angesehen und propagiert wurde und wird.521 Und obwohl der spezifisch angelsächsische ‚Sportsgeist‘, die Leidenschaft für Wette und Wettkampf, Malapartes Jack beseelt haben dürfte, bleibt der Anteil von ‚Bildung‘ in diesem Charakterbild nicht zu unterschätzen.522 Der entscheidende Vermittler der deutschen Geistesgeschichte und ihres Antike-­Verständnisses in Nord-­Amerika, Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882)523, Gast und Verehrer des Goethe-­ Übersetzers Thomas Carlyle in Edinburgh [➤ Fabrizieren, S. 130], wirkt bei uns vor allem in seinem berühmtesten Schüler Henry David Thoreau (1817 – 1862) fort. Thoreau vergleicht die Bildungsanstrengungen direkt mit dem ‚Training‘ der Athleten: To read well, that is, to read true books in a true spirit, is a noble exercise, and one that will task the reader more than any exercise which the customs of the day esteem. It requires a training such as

521 Vgl. Georg Kamphausen, Die Erfindung Amerikas. In der Kulturkritik der Generation von 1890, Weilerswist (2002). 522 Vgl. Herbert Schöffler, England, das Land des Sportes, Leipzig (1935). 523 Vgl. R. W. Emerson, Goethe oder der Schriftsteller, in: ders., Repräsentanten der Menschheit (1850), Zürich (1989), S.  187 – 209.

the athletes underwent, the steady intention almost of the whole life

524

to this object.524

Henry D. Thoreau, Walden (1854), ed. by Jeffrey S. Cramer, New Haven – London (2004), S. 99.

* Der abgezirkelte Spiel-­und-­Sport-­Charakter der Bildung, die Notwendigkeit und der Luxus des Trainings, machen vor allem eines deutlich: Eine einfache Öffnung der Räume der Bildung für die sie umgebenden schnelleren Zeitregime [➤  Verlangsamen, S. 314] ist keine Lösung. Auch Training als Einpassung in eine dominante technisch-­administrative Umgebung ist nicht gemeint, wie der Deutsch-­Amerikaner Rosenstock erläutert: Ein Fußballplatz, ein Tennisplatz, eine Bühne, ein Schwimmbassin, werden mitten in die wirkliche Welt der Häuser und Felder eingesprengt. Sie sind eine zweite Welt in der wirklichen Welt, für die Leibesübungen, so wie die Schulzimmer und Hörsäle Übungsräume für

305

teil 2 – die bildungsdebat te

525

das Nachdenken sind. […] Wie die Spiele spielen sich Nachdenken

Eugen Rosenstock-­Huessy, Soziologie. Erster Bd.: Die Übermacht der Räume, Stuttgart (1956), S. 66.

und gedankliche Vorbereitung in einem besonderen Raume ab.525

Das Dilemma wird klar: Wenn man die Dynamik ‚da draußen‘ – und damit auch die Gewohnheiten der anderen – nicht versteht, weil man sie nicht kennt, ist alle Bildungsanstrengung umsonst. Wenn man diese Dynamik aber unkritisch als ‚Tempo und Geist der Zeit‘ einfach übernimmt, um bestenfalls damit zu konkurrieren oder irgendwie darin zu bestehen, ist das auch keine Vorbereitung auf ‚da draußen‘, keine Basis für Verstehen. Die von Malaparte bewundernd zitierte nordamerikanische Variante des ‚Neo-­Athletismus‘ (P. Sloterdijk) um 1900 wird ihre Anbindung an Bildung schließlich nur noch pro forma aufrechterhalten. Sie wird nach dem Urteil Peter Sloterdijks, genauso wie die ‚olympische Idee‘, den bildungskompatiblen oder -typischen ‚stufenförmig disziplinierten Eifer‘ sportlicher Ertüchtigung in Unterhaltungsindustrie, in die „Stadion- und Eventkultur“ überführen, den Eifer in

526

einen Überbau aus hierarchisierten Verwaltungsakten und routinier-

Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. (2009), S. 150 f.

ten Vereinsbeziehungen integrieren. Von den Strukturmerkmalen einer ausgebauten ‚Religion‘ bleibt nichts zurück außer der Hierarchie der Funktionäre und einem System von Exerzitien, die ihrer säkularen Natur entsprechend Trainingseinheiten heißen.526

306

umgeben

umgeben Das Bildungsmilieu Die deutsche Bildungsidee entsteht in der Umgebung protestantisch-­ pietistischer Theologie, in der Umgebung musikalisch-­religiöser Vergemeinschaftung unter Anwesenden und ausgebliebener Gesamtstaatlichkeit. Damit ist sie auch als eine Art verinnerlichter Ersatz für diese ausgebliebene Staatlichkeit anzusehen: „Alle [deutschen, H. C.] Denker sind lutherischer Herkunft, alle sind Theologen.“ 527 So fasst es der lange Zeit beste Kenner dieser Verhältnisse in Deutschland und England, der Kölner Anglist Herbert Schöffler, für den Zeitraum von 1620 bis 1740 und für die damals entscheidende Kulturzone im deutschsprachigen Raum – Schlesien – zusammen. Die Innerlichkeit hatte eine äußere Entstehungsumgebung und ein Geltungszentrum. Die sprachliche Umgebung dieser Idee charakterisierte der 1933 aus Deutschland vertriebene Leo Spitzer schon 1942, indem er festhält, dass bestimmte deutsche Wörter – wie etwa Umwelt gegenüber ambiente, ambience, milieu und environment – eine größere ‚etymologische Transparenz‘ haben. Diese ergebe sich, weil bei (deutschen) Schlüsselwörtern – anders als im Englischen und Französischen – keine zwei oder mehr Begriffe aus unterschiedlichen Sprachüberlieferungen zur Verfügung stünden. Seine Beispiele sind inner/ interior und hearty/ cordial: „And how much colder are the French intérieur, extérieur than German innerlich, äusserlich.“ 528 Aber was muss man berücksichtigen, um ein Bild der Bildung zeitgemäß zu gestalten? Wie würde es aussehen, welche Elemente würden es ausmachen, wenn wir es nach dem barocken Vorbild von Hobbes’ ­Leviathan oder Grimmelshausens Simplicissimus heute unserem Buch als Titelkupfer voranstellen würden? Ein Kompositionsversuch: An Prozessen der Bildung sind Menschen, Gebäude, Maschinen, Orte und Landschaften, Instrumente und Werkzeuge beteiligt. Für den zu bildenden Menschen und seinen Bildner bzw. Lehrer setzen sich aus diesen Elementen besondere Umgebungen zusammen. Die Va307

527 Herbert Schöffler, Deutscher Osten im deutschen Geist. Von Martin Opitz zu Christian Wolf [= Das Abendland. Forschungen zur Geschichte europäischen Geisteslebens Bd. III], Frankfurt/M. (1940), S. 153.

528 Leo Spitzer, Milieu and Ambience (1942), in: ders., Essays in Historical Semantics, New York (1948), S. 179 – 316, hier: S. 306.

teil 2 – die bildungsdebat te

riationsbreite oder Kombinatorik unter diesen Elementen ist durch Tradition und Erfahrung begrenzt. Eine solche Umgebung ist normalerweise gleichzeitig für viele andere auch Umgebung, denn Bildung findet in speziellen Institutionen statt, die jahrgangsweise durchlaufen werden.

529 Vgl. Klaus Giel, Studie über das Zeigen, in: Otto-­ Friedrich Bollnow (Hg.), Erziehung in anthropologischer Sicht, Zürich (1969), S.  51 – 75.

Technisch-­institutionelle Umgebungen sind trotz ihrer Komplexität relativ stabil. Wie man das von Institutionen seit langem erwartet – und von den Individuen, die ihnen entspringen, zumindest erhofft. Und tatsächlich sind solche institutionellen Bildungsumgebungen ihrerseits in politische Kontroversen, Reformschübe [➤ Reformieren, S. 258] und in ideenpolitische Großwetterlagen eingebettet. Bringen wir die Elemente unseres vorgestellten Titelkupfers also nun in Bewegung: In solchen Umgebungen herrschen während des langen Prozesses, den wir Bildung nennen, verschiedene Geschwindigkeiten. Die Routinen des Lehrens und Lernens, die hier eingeübt werden, folgen ganz bewusst nicht alle demselben Takt. Jede Umgebung ist schließlich auch eine komplexe verschachtelte zeitliche Ordnung. Ein Buch im Lesesaal zu lesen dauert länger als ein Buch am mitgebrachten Laptop in der Campus-­Cafeteria herunterzuladen. [➤  Verlang­samen, S. 314] Mit einem Zeigestock auf etwas hinzuweisen geht schneller als etwas erklären.529 Einer ganzen Klasse oder einem Semester etwas beizubringen, nimmt normalerweise mehr Zeit in Anspruch als denselben Versuch bei einem Einzelnen vorzunehmen. Den Text auswendig zu lernen, dauert noch einmal länger – und ist als Standard schon ein wenig aus der aktuellen, zeitlichen und ethischen Ordnung herausgefallen. Weitere Beispiele lassen sich leicht versammeln: Einen langen Korridor eines altehrwürdigen (oder auch eines modernen) Schul- oder Universitätsgebäudes entlangzugehen, um in einen Vorlesungs- oder Unterrichtsraum zu gelangen, hinterlässt einen anderen Eindruck als der Klick vor dem heimischen Rechner auf ein Video-­Tutorial. Dem Dozenten oder der Dozentin beim Suchen von Material zum Thema im Netz – natürlich in Echtzeit – zuzuschauen, ist eine andere Art von Pause oder Beschäftigung, als eine vergleichbare Zeit 308

umgeben

lang still und für sich (aber ebenfalls in einem Raum und in einer Gruppe) in einem ausgedruckten Text oder einem Buch zu lesen. Die neueste Technologie produziert in diesem Fall (gegenüber der älteren) eine relativ starre kollektive Blickordnung nach vorne auf die angebeamerte Wandfläche. Sie schafft aber auch Freiräume für wildes Lesen ‚unterm Tisch‘, das heute als Surfen einfach auf dem von vorne nicht einsehbaren Bildschirm ‚auf dem Tisch‘ stattfinden kann. [➤ Lesen, S. 194]

Zur Geschichte von ‚Umgebung‘ Korrespondenzen mit Fragen der Bildung schlummerten längst im Umgebungs-­Begriff. Das legt zumindest der Umstand nahe, dass – nach Leo Spitzers gründlicher Untersuchung – Goethe den Ausdruck Umgebung als einer der ersten benutzte und Thomas Carlyle ihn 1828 als ‚environment of circumstances‘ sofort übersetzte. Interessant ist das, was Spitzer hier gefunden hat, gleich in zweierlei Hinsicht: Erstens weist er darauf hin, dass schon Goethes Verwendung des Begriffs, in der Formel „in einem solchen Element, bei solcher Umgebung, bei Liebhabereien und Studien dieser Art“, nicht einfach Landschaft meint, sondern „a mid-­term between natural and spiritual surroundings“ (L. Spitzer), eine Geisteslandschaft also. Goethe hatte sich im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit (1811 – 1833) rückblickend mit Ossians pseudo-­gälischer Dichtung beschäftigt, als er den Begriff einführte. Zweitens scheint Carlyles Übersetzung laut Spitzer schon motiviert „by the influence on Carlyle of contemporary French biological research into the problem of the milieu ambient“. Goethes Begriff der Umgebung hingegen ist „fitted into a conception of the ‚milieu‘ to which Goethe was particularly averse“ 530.

Alle Zitate aus Leo Spitzer, Milieu and Ambience (1942), in: ders., Essays in Historical Semantics, New York (1948), S. 179 – 316, hier: S. 232 f.

Diese tastende Positionierung des Umgebungs-­Begriffs gegen und mit dem biologischen und soziologischen Milieu-­Begriff bei Goethe und seinem Übersetzer Carlyle wird sich ziemlich genau hundert Jahre später wiederholen, wie wir noch sehen werden, denn der Begriff setzte sich so früh nicht durch.531 Deshalb ist der Begriff der Umgebung später, im Vergleich zu angrenzenden Begriffen wie „Um-

Vgl. Florian Sprenger, Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher Environments, Bielefeld (2019).

309

530

531

teil 2 – die bildungsdebat te

532 Florian Sprenger, Zwischen Umwelt und milieu – Zur Begriffsgeschichte von environment in der Evolutionstheorie, in: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte. E-Journal (2014), 3. Jg., H.2, S. 7 – 18, hier: S. 9.

533 Wilhelm Solger, Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, hg. v. Ludwig Tieck u. Friedrich von Raumer, Leipzig (1826), Bd. 1 [Zit. n. Spitzer, 1942/ 1948, S. 241].

534 Emil Zola, Das Glück der Familie Rougon. Vorwort [= Die Rougon-­Macquart. Geschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich. Der erste Band], München (1871/ 1922), S. IX – XIV, hier: S. X.

welt und milieu, aber auch Medium, ambiance, Aura, Atmosphäre und Element“ 532, geradezu unverbraucht. Wenn also der Begriff der Umgebung mit Bildung in Verbindung gebracht wird, geht es weder um laborhafte Versuchs-­Umgebungen, noch um ganze Öko-­Systeme, noch um Umgebungen, die man sich mal anschaut, in denen man ein bisschen herumspaziert. Ein Brief Karl Wilhelm Ferdinand Solgers über Goethes Wahlverwandtschaften, den Spitzer ebenfalls anführt, öffnet vielmehr ganz kurz ein Fenster auf eine Begriffsentwicklung, die dann nicht stattgefunden hat, und hier – wenn man so will – nachgeholt wird: Über die Details der Umgebungen habe ich mich schon geäussert. So wie diese das ganz tägliche wirkliche Leben der Personen immer in gleicher Schwebung halten und gleichsam als Folie dienen.533

Umgebung als schwebende Folie der Person. Kurze Zeit laufen die Begriffe Umwelt und Umgebung – nicht nur bei Goethe – wohl noch nebeneinander her. Dann aber ist die Umwelt dem französischen Milieu-­Begriff der Biologie, der Physique sociale Comtes (1826) oder Balzacs (1841) und schließlich der Bio-­Soziologie aus Hippolyte Taines Geschichte der englischen Literatur (1863) bzw. Zolas romanhafter Adaption dieser Theorie im 20-bändigen Rougon-­Macquart-­ Zyklus (1871) so nahe, dass es eine Alternative dazu begrifflich schwer hat – selbst wenn dieser Milieu-­Begriff als ‚Umgebung‘ übersetzt wird: Die Vererbung hat ihre Gesetze wie die Schwerkraft. Ich werde den Faden zu finden und zu verfolgen suchen, der mathematisch sicher von einem Menschen zum anderen führt, indem ich den doppelten Einfluss der Veranlagung und der Umgebung in Rechnung stelle.534

* Erst Jakob von Uexkülls Buch Umwelt und Innenwelt der Tiere von 1909 nimmt eine systematische Zuordnung der in Frage stehenden Begriffe vor. Umgebung ist nun bei von Uexküll die allgemeine Umgebung der Lebewesen, Umwelt hingegen die sehr spezifische, die – 310

umgeben

von den jeweiligen Wahrnehmungsfähigkeiten abhängend – stark variieren kann. Aus diesen Begriffen einer allgemeinen, aber nicht deterministischen Umgebung und einer artspezifischen Umwelt baut sich der spanische Phänomenologe José Ortega y Gasset den Begriff der circum-­stantia, des Umstands. Ortega datiert seine Lektüre Uexkülls rückblickend – 1921 in dem Aufsatz Ideas para una concepción biológica del mundo – auf das Jahr 1913. In seinem zweiten Buch von 1914, den Meditationen über Don Quijote, seinem wohl besten, erläutert er dieses Axiom vom ‚Umstand‘, indem er sich von der Biologie aus direkt der Bildungstheorie zuwendet: Die jüngste Biologie betrachtet den lebendigen Organismus als eine

535

Einheit aus dem Körper und der ihm eigentümlichen Umwelt. […] Ich

José Ortega y Gasset, Meditationen über Don Quijote (1914), Stuttgart (1959), S. 53. Zum Verhältnis von Uexküll – Ortega vgl. Heiko Christians, Crux Scenica. Eine Kulturgeschichte der Szene von Aischylos bis YouTube, Bielefeld (2016), S.  199 – 221.

bin ich und mein Umstand, und wenn ich ihn nicht rette, rette ich auch mich selber nicht. […] In der Schule Platons wird uns die Rettung des Erscheinenden als Ziel jeglicher Bildung vor Augen gestellt. Das Erscheinende retten aber heißt, nach dem Sinn der Dinge suchen, die uns umgeben.535

* Warum also sind Bildung und Umgebung ein so aufschlussreiches Begriffspaar? Die politischen Implikationen des Umgebungs-­Konzepts sind deutlich indirekter als diejenigen des biologisch-deterministischen Milieu/Umwelt-­Konzepts: Verschiedene Individuen aus verschiedenen Milieus durchqueren, wenn sie denn einmal dort hingelangen, dieselben Bildungsräume als institutionell-­technische Lern- und Kontroll-­Umgebungen. Welche Effekte können unter welchen Bedingungen dort für welche Vorstellung einer Zielgesellschaft bei ihnen planmäßig hervorgerufen werden, welche nicht, und wie groß sind die Spielräume? Umgebung meint hier die durch technische und institutionelle Infrastrukturen signifikant gesteigerte Wahrscheinlichkeit, über mehrere Generationen mit überlieferten Inhalten, Praktiken und Prinzipien des immer noch Bildung genannten kulturellen Überlieferungs- und Prägungszusammenhanges regelmäßig und effektiv in Kontakt zu kommen.536 [➤ Prägen,  S. 222] So 311

536 Vgl. Auch die Einleitung in F. R. Leavis/ Denys Thompson, Culture and Environment: The Training of Critical Awareness, London (1933).

teil 2 – die bildungsdebat te

regelmäßig und so effektiv – das ist auch die anhaltende Hoffnung der Gesellschaft –, dass diese Inhalte, Praktiken und Prinzipien auch in späteren Lebensphasen routiniert oder emphatisch, auf jeden Fall aber auf freiwilliger Basis, lebensleitend bleiben und dauerhaft kultivierend wirken.

Milieu Die Umgebungen haben entscheidenden Einfluss auf die Bildung der konkreten Person, die für eine bestimmte Zeitspanne in sie eintritt. Und bevor man in diesen Räumen und Umgebungen seine eigenen Erfahrungen macht, hört man schon von denjenigen Erfahrungen, die andere dort gemacht haben, und nimmt sie irgendwie zum Maßstab. Der Ausdruck Umgebung weist auf all das schon hin, will aber vor allem eine Verwechslung von Milieu und Umgebung verhindern. Dieser Verwechslung ist die Analyse von Bildung jahrzehntelang erlegen. Es wurde und wird massiv über soziale Benachteiligung und Klassenstrukturen debattiert und geforscht, es wurden bildungsferne Schichten der Gesellschaft in alle Richtungen ausgeleuchtet. [➤ Durchstarten, S. 93] Wo man damit – nicht nur metaphorisch – angekommen war, wurde überraschenderweise erst vor kurzem metaphernkundlich aufgespießt und genauer unter die Lupe genommen: 537

Wer sich zu Hause vor allem um seine jüngeren Geschwister kümmern

Roland Reichenbach, Über Bildungsferne, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken Jg.69, H.795 (2015), S. 5 – 15, hier: S. 7.

muss oder um den elterlichen Haushalt oder aber im Laden steht statt die Schulbank zu drücken oder, weil er keine Lehrstelle findet, sein Glück als Hilfsarbeiter im Ausland sucht, ist ‚bildungsfern‘. Wer also früh im Leben und ungefragt Verantwortung für sich und andere übernehmen muss, gilt in der Taxonomie der empirischen Bildungsforschung höchstwahrscheinlich als ‚bildungsfern‘. Wer hingegen mit 25 oder 30 Jahren noch nicht so recht weiß, was er mit seinem Leben anfangen will, ist wahrscheinlich ‚bildungsnah‘. Wohl sitzt er in Seminaren oder Hörsälen, vielleicht mit den Jahren zunehmend verunsichert, verdattert und etwas schlaff, aber er tut etwas für seine Bildung. Was dieses ‚Etwas‘ ist, weiß er selber möglicherweise umso weniger, je länger er da sitzt.537

312

umgeben

Über die eigentlichen Bildungsumgebungen, die Institutionen und ihre technischen Infrastrukturen, wurde dagegen wenig herausgefunden. Man hielt ihre angenommenen Mechanismen und Effekte – je nach Standpunkt – für veraltet, bekannt oder mindestens ungerecht. „Das Problem der Soziologie liegt darin“, schreibt Gerald Wagner in einem Bericht von der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2016 in Bamberg, „dass sie soziale Ungleichheit mit einer normativen Präferenz für Gleichheit erforscht.“ Als Beispiel dient Wagner ausgerechnet, aber womöglich nicht zufällig, die Bildungsforschung, „die ja immer auch Familien-, Schul- und Migrationsforschung zugleich ist.“ In der Bildungsforschung fragt man sich zum Beispiel, wie sich elterliche Arbeitslosigkeit und Armut auf die Bildungsver-

538

läufe von Kindern auswirken. Die Antwort war – Achtung! – negativ.

Gerald Wagner, Soziale Ungleichheit ist nicht das Böse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10. 2016, Nr.232, S. N3.

‚Erklärt‘ wird dieser Befund mit dem Hinweis auf den ‚Ressourcenmangel‘ der Familien. Das ist übrigens der soziologische Terminus für Armut. Aber was erklärt das? Erwartet diese Forschung von ihrem Gegenstand eigentlich gar nichts anderes als dieses hypothesenkonforme Verhalten?538

Wenn man von Milieus ausgeht, geht damit offensichtlich eine gewisse deterministische politische Einschätzung von (Herkunfts-) Milieus im Hinblick auf Bildungschancen einher, die sich dann in der entsprechenden Forschung bestätigt findet. Das ist wirklich keine Überraschung. Die Perspektive könnte langsam an der Übermacht technischer Umgebungen und an den ‚Techniken‘ vorbeigehen.

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teil 2 – die bildungsdebat te

v er l a ngsa men Das Bildungsgeheimnis Dem Druck der Gleichzeitigkeit ausgesetzt zu sein, wie dies angesichts des Entwicklungsschubes durch die modernen Telekommunikationstechnologien geschieht, bedeutet des Rechtes auf eigene Entwicklungsgeschwindigkeit verlustig zu gehen. H e l g a N owo t n y , E i g e n z e i t (1989)

539 Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt/M. (1990, 3.Aufl.) und dies., Eigenzeit revisited, in: Bernd Scherer (Hg.), Die Zeit der Algorithmen, Berlin (2017), S.  32 – 67.

Leitende wie auch alternative Zeitregime werden ausschließlich durch Medieninfrastrukturen möglich und durch einen zur Gewohnheit gewordenen (habitualisierten) Mediengebrauch stabilisiert – oder eben ausgehebelt bzw. konterkariert. Das reicht vom dörflichen Blick zur Turmuhr und dem Glockenschlag, von einem von Gebeten skandierten Arbeitstag bis zur weltweit digital synchronisierten Bestell-­Logistik, die niemals schläft. Bildung aber muss dieses Wissen jeweils voraussetzen. Nur so kann Bildung sich durch einen spezifischen Mediengebrauch und ein vermittelbares Wissen gegenüber vorherrschenden Zeitregimen anders positionieren. Bildung schafft durch eigene Medienpraktiken eine Art Sonderzeitlichkeit des Subjekts auf Zeit. Diese Sonder- oder ‚Eigenzeitlichkeit‘ (H. ­Nowotny)539 der Bildung ist aber nicht einfach statischer als die Umgebungszeit oder auf Abschließung aus. Auch sie kann nur als laufendes Resultat spezifischer Operationen an und in Medien realisiert und begriffen werden. Deren kontinuierliche Möglichkeit muss wiederum über Generationen von Institutionen garantiert werden. Hier liegen auch die Probleme mit Konzepten von ‚lebenslangem Lernen‘. Die Reflexion und Vermittlung dieser Zusammenhänge aber war nie dringlicher als heute, wo das digitale und logistische Zeitregime in jedem Moment – und ganz buchstäblich – in die Poren der heranwachsenden Subjekte eindringt.

* 314

verlangsamen

Das deutsche Wort und Programm der ‚Bildung‘ scheint sich zunächst an ein unabhängig von diesen Faktoren gedachtes, zeitloses ‚Subjekt‘ zu wenden. Das hätte dann von Anfang an auch einen Preis gehabt: Ökologie, Politik, Technik oder Karriere im Sinne frühzeitiger Anpassung an das Kommende, ja, jede Art von Aktualisierungsspotential kämen gar nicht oder erst (zu) spät in den Umkreis der Idee von Bildung und ihrer Praxis. Außerdem – oder gerade deswegen – war die starke, universitär gefestigte, buch- und kathedergestützte Disziplin der Philosophie über weit mehr als ein Jahrhundert die höchste I­ nstanz einer Erforschung und Prägung des Objekts ‚Subjekt‘ in Deutschland. [➤ Vortragen, S. 335] Aber so wirklichkeitsfern, theoretisch oder abstrakt wie es zunächst klingen mag, ging es bei Theorie und Praxis von Bildung im deutschsprachigen Raum selten zu. Bildung war nicht nur an die Philosophie und die Universität, sondern immer auch an das Lesen und Schreiben von profanen Romanen, Gedichten, Briefen, Essays und Tagebüchern, an verschiedenste Formen des Mediengebrauchs gekoppelt. Dem entsprach z. B. eine Implementierung philosophischer Interpretation von Literatur an den 1810 neu gegründeten preußischen Gymnasien als Aufsatz. So kam das philosophische Meta-­Wissen über die Literatur an die Schule, obwohl es dort gar keinen Philosophieunterricht gab.540 Aktuell begreifen wir erneut, dass Bildung ein tendenziell holistisches und kein rein analytisches oder funktionales Problemfeld geblieben ist: Denn Bildungsprozesse sollen immer noch für die Gewinnung einer späteren Persönlichkeit sorgen.541 Technisch bedeutet das, dass Bildungsprozesse den steten Wechsel der medialen Eindrücke und das progressive Sich-­Verzweigen der Kontakte adoleszenter Kommunikation wieder in begrenzbare und langsamere Kontinuitäten einbinden müssen. Bildungsprozesse sollen gleichzeitig Zeitresistenz und Zeitkompatibilität der Person organisieren. Diese komplizierte zeitbasierte Organisationsarbeit an der Persönlichkeit übernahmen von Anfang an bestimmte Formate und Techniken. Für die Kontinuität, d. h. für die überprüfbare biographische und psychische Kompaktheit der Person, sorgte z. B. jahrhundertelang das Buchformat, in das man sich eintrug, das man konsumierte, zu dem man irgend315

540 Vgl. Friedrich Kittler, Philosophien der Literatur. Berliner Vorlesung 2002, Berlin (2013), S. 194 ff. 541 Vgl. Erhard Wiersing, Theorie der Bildung. Eine humanwissenschaftliche Grundlegung, Paderborn (2015).

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wie wurde – samt vielsagendem ‚letztem Kapitel‘. Und wen man besonders gut kannte, in dem las man schließlich irgendwann ‚wie in einem Buch‘.

* Was aber ist heute generell anders? Anders sind die geringen Erfahrungswerte mit den ‚neuen Medien‘ jenseits der Bücher. Als Bildung im deutschsprachigen Raum um 1770 auf den Begriff gebracht wurde und institutionell Konturen anzunehmen begann, war der Buchgebrauch schon über Jahrhunderte in verschiedenen Milieus und Sachgebieten durchgetestet worden. Man wusste einiges, bevor man den breiten säkularen Einsatz der Bücher zu Bildungszwecken startete. Dagegen liegt das notwendige Wissen über den vereinheitlichten und vor allem beschleunigten Gebrauch der computergestützten Medien und ihre Effekte heute bei einigen spekulativen Medienphilosophien, bei der neuen Programmierer-­Elite oder bei speziellen Techniksoziologien. Aber eben auch (und massenhaft) im unterschwelligen Empfindungs- und Reaktionsspektrum der häufig noch adoleszenten User und Userinnen. [➤ Applizieren, S. 68] Aus diesen sehr unterschiedlichen Reservoirs haben die Bildungsinstitutionen noch kein systematisches Wissen erlangen können. In den Institutionen soll also offenbar etwas getestet werden, von dem man nur weiß, dass es sich in anderen Bereichen irgendwie – gewinnbringend für neue Eliten – durchgesetzt hat. Die feinnervigen Wechselwirkungen mit Heranwachsenden, die persönlichkeitsbildenden Routinen und Möglichkeiten solcher Umgebungen und Gebrauchsweisen, sind weitgehend unbekannt. Natürlich kann man nun die neue Technologie in die Institution holen bzw. die Institution daran anschließen. Aber wie will man dann jenseits eines staunenden oder intuitiven Machens und Machenlassens nach dem Anschluss ein Wissen generieren? Zwar folgt jede Generation mit ihren alten Stoffen und Fragestellungen immer auch neuen technischen Standards der Vergegenwärtigung, aber dabei muss genau darauf geachtet werden, wieviel vom alten Tempo und Stoff aufgegeben wird. 316

verlangsamen

Bildung ist eben nicht permanente Neuanfänglichkeit, sondern ein nachhaltiger Gründungsversuch der Person. Der Vergleich der Zeithorizonte von Institutionen mit den (nur) je aktuellen Zeithorizonten vorherrschender Kommunikationstechniken macht das sehr deutlich. In einem Diskussionspapier des Helmholtz-­Zentrums für Umweltforschung lesen wir, warum: Institutionen funktionieren nicht wie Maschinen, die man abstellen

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kann, wenn sie nicht die gewünschte Leistung erbringen, die man,

Thomas Petersen/ Reiner Manstetten, Beständigkeit im Raum des Sozialen [Diskussionspapiere des Helmholtz-­Zentrum für Umweltforschung. Department Ökonomie 6/2009], 25 S. , online unter: https://www. ufz.de/export/data/ global/26175_6_2009_ Petersen_Manstetten. pdf [Letzter Zugriff: 13. 11. 2017].

wenn Reparaturen nicht zum gewünschten Ergebnis führen, durch bessere Maschinen ersetzen kann. Institutionen haben, im Gegensatz zu Maschinen, eine eigene Widerständigkeit oder Beharrlichkeit, die Veränderungen und Neustiftungen von Institutionen zwar nicht ausschließt, aber sehr viel schwerer machen kann als alle Art von Maßnahmen im Bereich der Technik.542

Institutionen sind spezifisch abendländische Gebilde, wie Bernd Roeck gezeigt hat, deren inklusive Mechanismen (nach einer anderen berühmten Theorie 543) gleichzeitig ‚entlasten‘ und ‚schützen‘:

543

Kein Erdteil hat vor der Moderne Institutionen von der Fülle und Qualität hervorgebracht, wie sie sich in Lateineuropa seit der Antike entwickelten, darunter in hohem Maß ‚inklusive‘ Einrichtungen, die Rechtssicherheit und Eigentumsschutz gewährleisteten und Bildung organisierten, zudem verhältnismäßig pluralistisch, von Horizontalen also, geprägt waren.544

Vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1958), 7. Auflage, Frankfurt/M. (2016), S. 48. 544

* Institutionen werden in ihrer Funktionalität gerade eingeschränkt werden, wenn man sie in Arbeits- und Urteilsweise einfach mit dem Tempo einer jeweiligen Gegenwart kurzschließt. Und soll Bildung nicht, ganz analog, den Personen etwas für mehrere Jahrzehnte, für ein Leben, an die Hand geben – und nicht bloß für den nächsten Trend? Gleichzeitig wird jedes Plädoyer für die Schiefertafel in Zeiten allgegenwärtiger Tablets und Smartphones berechtigterweise als 317

Bernd Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München (2017), S. 261.

teil 2 – die bildungsdebat te

Spleen abgetan werden. Wo aber liegt der Weg der Bildung zwischen der Scylla des nur noch Spleenigen oder Verbohrten und der Charybdis gedankenloser Technikanbiederung ohne Folgenabschätzung?

545 Vgl. Andrew Piper, Book was there. Reading in Electronic Times, ­Chicago – London (2012).

Natürlich, Bildung soll auch Spaß machen. Was in Zukunft Spaß macht – und in modifizierter Form dann irgendwie auch Einzug in Bildung hält –, gibt aber wahrscheinlich eine technologisch und industriell vollkommen neu aufgestellte digitale Unterhaltungsumgebung vor. Sie wird die Standards von Spannung, Spaß und Action festlegen. Diese Umgebung ist aber immer schon da, bevor die Schule beginnt. So war es auch bei den Romanen. Und hier entscheidet sich umgekehrt auch, wieviel problematische Zugänglichkeit man beim eigentlichen Lernen – z. B. beim Lesen ‚schwieriger‘ Texte – in Zukunft, gegenüber sich selbst oder gegenüber anderen, noch für zumutbar hält. Denn Institutionen definieren und halten unter anderem auch Niveaus von Schwierigkeit. Der Gebrauch der Romane und der Gebrauch der Schulbücher haben dabei noch etwas gemeinsam: Auch für das Lesen der Romane muss man eine gewisse Disziplin aufbringen und auf konkurrierende Umgebungsreize verzichten.545 Der Zusammenhang klingt platter oder selbstverständlicher als er ist. Denn wenn die technisch-­mediale Umgebung der Bildungsinstitutionen sich radikal wandelt, kann Bildung genau nicht einfach mit den Möglichkeiten der action und Unterhaltung gehen. Dann ginge Bildung in Rasanz, Bedienbarkeitskomfort und gesteigerte Plastizitätslevel auf. [➤ Spielerisch lernen,  S. 277] Der auf dem jeweils neuesten Komfort-­Stand der Gebrauchstechnik präsentierte Kanon des zu Wissenden hätte zwar eine Chance auf schnellen Erfolg, aber nicht auf Stabilität. Die Unterhaltungsumgebung würde den Kanon und seine Erschließungsformen in den genannten Punkten sofort überbieten. Bildung ist eben auch eine Alteritäts- oder Differenzerfahrung – nicht nur Anpassung. Die Alteritätserfahrung hängt mit der Eigenzeitlichkeit von Bildung zusammen.

* 318

verlangsamen

Den gegenwärtigen Standard des Wissens als Erreichbarkeit von Wissen diktiert jenes enorm gesteigerte Tempo rein technischer – algorithmischer – Zugänglichkeit und Durchsuchbarkeit von Daten im Netz. Wenn ein nächster und beliebiger Eintrag unter Millionen Einträgen oder Hits ganz nah ist, bleibt äußerst fraglich, ob man sich freiwillig noch mit Schwierigkeiten abgibt, die einer älteren technischen Epoche geschuldet sind. Wenn man Volltextsuche auf dem eigenen Rechner unter unzähligen heruntergeladenen und angelegten Dokumenten anklicken kann, überlegt man sich, ob man noch die eigene Erinnerung oder das gezielte Blättern nach Themengruppen bemüht. Die zeitaufwendige Abarbeitung von inhaltlich motivierten und hierarchisierten Reihenfolgen und Verknüpfungen wird schlicht unattraktiv. Niveaus definieren sich technisch und anonym – z. B. als Bereitstellungskomfort – wesentlich schneller und plausibler als wenn sie noch inhaltlichen Kriterien unterworfen werden. [➤ Ausstatten, S. 80] Die technische Umgebung gibt das eine Niveau vor. Das andere Niveau müssen Instanzen – im Falle von Bildung nachweislich immer noch ‚die Institutionen‘ – erst mühsam, gleichzeitig bewahrend und aktualisierend, aushandeln und begründen. Zeitgenössische Theorien von Bildung und Bildungsprogramme müssen diese Zusammenhänge zwischen Stoffen, Medientechniken und Zeitregimen berücksichtigen, um sich unter ihren neuen Bedingungen für Formen der Stabilisierung der Subjekte gegen und für kommende Umgebungen entscheiden zu können. Dieses Wissen, das hier nur neu geordnet, diskutiert und von Seiten einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaft für die Bildungsdebatte produktiv gemacht werden soll, lag schon bereit, als sich eine zunehmend didaktisierte und medientechnikferne Pädagogik anschickte, es für gegenstandslos zu erklären. Psychologisch, didaktisch oder sozio-­empirisch informierte Pädagogiken mögen Lernfortschritte auf taugliche abstrakte Schemata für verschiedenste Begabungs- und Altersstufen bringen oder medienspezifische Aufmerksamkeitsfenster präzise vermessen können und daraus ihre Schlüsse ziehen, aber über den Zusammenhang des Gebrauchs technischer Medien mit der Verschiedenheit von Zeitregimen, die für Bildungsprozesse ganz entscheidend sind, wissen sie rein gar nichts. 319

teil 2 – die bildungsdebat te

*

546 Ausführlicher Kommentar dazu bei Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. (2009), S. 218 ff.

547 Vgl. Hermann Lübbe, Netzverdichtung. Zur Philosophie industriegesellschaftlicher Entwicklungen, in: ders., Modernisierung und Folgelasten. Trends kultureller und politischer Evolution, Berlin – Heidelberg – New York (1997), S.  3 – 22 und Jose van Dijck, The Culture of Connectivity: A Critical History of Social Media, Oxford (2013).

Die Verlangsamung (oder Beschleunigung) steckt in der Wahrscheinlichkeit von Gebrauchsweisen technischer Infrastrukturen. Es liegen in der Regel in einer Infrastruktur verschiedene Gebräuche bereit. Entscheidend ist aber, welche durch die Technik wahrscheinlich und dominant wird. „Ich behaupte“, schreibt Adolf Loos, „dass der Gebrauch die Form der Kultur ist, die Form, welche die Gegenstände macht.“ 546 Obwohl Bücher über Bibliotheken, Fußnotenapparate und literaturhistorisches Hintergrundwissen schon vernetzt waren, schwächte gerade eine der prominentesten und häufigsten Gebrauchsformen des Buchs seine Vernetztheit temporär ab. Statt sie wie beim Netz gerade durch den Gebrauch fast automatisch auszustellen und hochzutreiben, dämpft z. B. die kontrolliert-identifikatorische Roman-­Lektüre die medienspezifischen Verzweigungsangebote der Buchkultur eher ab. Die Inhalte des so Gelesenen, die verhandelten Entwicklungen von Personen zeigten, wie jemand für sich und für andere an Bedeutung gewann (oder verlor), wie er vorgezeichnete Bedeutungen verweigerte, um andere (z. B. selbstbestimmtere) zu erlangen. Die buchstäblich schon angezeigte Netzförmigkeit des Internets macht die weitere exponentielle Vernetzung zur Hauptgebrauchsweise und Bewegungsform – und gleichzeitig das wiederholende Verweilen am selben Knotenpunkt unwahrscheinlich. Die Buchkultur war bei der Frage ‚Hochtreiben der Netzförmigkeit oder Singularisierung‘ zumindest unentschieden, wo der Akzent zu setzen sei. Beides war prinzipiell möglich. Auch das buchförmige Lesen war mit einem Schreiben verbunden – aber auf andere Weise als es die schreibende und teilende Steigerung von Konnektivität im Netz heute immer schon ist.547 Spezifischer Buchgebrauch, Bedeutungsgewinn und Adoleszenz waren nach Robert Musils Törleß von 1906 schon damals ein Wirkungs-­Verstärkungs-­Dreieck. [➤ Konsumieren, S. 180] Musil erfasste scharfsinnig, wie bestimmte inhaltliche, technische und formale Aspekte des Mediengebrauchs, die eben nie weit entfernt waren von der kurzatmigeren Gebrauchsdynamik der Unterhaltung derselben Medien, in einem von der 320

verlangsamen

Institution organisierten Zusammenspiel gleichwohl ‚Bildung‘ ini­ ti­ieren konnten: In seinem Alter hat man am Gymnasium Goethe, Schiller, Shakes-

548

peare, vielleicht sogar schon die Modernen gelesen. Das schreibt sich

Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), Hamburg (2005), S. 15 f.

dann halbverdaut aus den Fingerspitzen wieder heraus. Römertragödien entstehen oder sensitivste Lyrik, die im Gewande seitenlanger Interpunktionen wie in der Zartheit durchbrochener Spitzenarbeit einherschreitet: Dinge, die an und für sich lächerlich sind, für die Sicherheit der Entwicklung aber einen unschätzbaren Wert bedeuten. Denn diese von außen kommenden Assoziationen und erborgten Gefühle tragen die jungen Leute über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinweg, wo man sich selbst etwas bedeuten muss und doch noch zu unfertig ist, um wirklich etwas zu bedeuten. Ob für später bei dem einen etwas davon zurückbleibt oder bei dem andern nichts, ist gleichgültig; dann findet sich schon jeder mit sich ab, und die Gefahr besteht nur in dem Alter des Überganges.548

* Das Schema dagegen, das Kompetenzen geometrisch oder tabellarisch ordnet, und damit die poetisch-­ästhetischen Effekte und die historisch gewachsenen Voraussetzungen und Varianten des Mediengebrauchs gleichermaßen ausblendet, stellt in dieser Hinsicht keinen Zugewinn, sondern eine eklatante Verarmung dar. Kompetenzen werden „die jungen Leute nicht über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinwegtragen“. [➤ Kompetent sein, S. 168] Auch das macht Bildung so stark gegenüber der Konkurrenz. Die Fähigkeit, die neuen digitalen Verhältnisse in genau diesen Hinsichten von ‚Bildung‘ noch erläutern und einordnen zu können, ist deshalb auch die Voraussetzung für jede Skizzierung von zeitgemäßen Bildungsprozessen. Das Meta-­Wissen vom Netz, vom Gamen etc., das wir brauchen, um Bildung neu, aber eben nicht ganz neu zu denken, kann nur aus scharfsinnig angestellten Vergleichen mit dem schon Gewussten resultieren. Die Tatsache, dass es jetzt wirklich (fast) alle tun, muss erst einmal – oder nur noch – zu einem Vorteil umgemünzt 321

teil 2 – die bildungsdebat te

549 In diese neue Richtung geht Tobias Schlechtriemen, Bilder des Sozialen. Das Netzwerk in der soziologischen Theorie, Paderborn (2014) voran.

werden. Indem man es unter guten gewählten Gesichtspunkten zu dem ins Verhältnis setzt, was man schon getan hat.549 Aber eben nicht, indem blind als Praxis der Institutionen propagiert wird, was ohnehin schon ‚alle machen‘, was ohnehin schon ‚überall ist‘.

* Die hochauflösenden Digitalisate älterer, in klimatisierten Panzerschränken großer Bibliotheken aufbewahrten Texte beispielsweise, die tatsächlich in keiner Hinsicht ein Rückschritt sind, sondern eine erfreuliche Zugänglichkeit von vormals Unzugänglichem organisieren helfen, legen einen völlig neuen Gebrauch des Buchs nahe – ein fingerfertiges Durchklicken, ein Drüberwischen oder ein Durchscrollen. Diese Gebrauchsweisen sind der blätternden Versenkung ihrer Entstehungszeit offensichtlich diametral entgegengesetzt. Auf Digitalisierung gestützte Bildungsmedien müssten also genau genommen ältere Gebrauchsformen des nun (digital) Gespeicherten (und ihre besonderen Effekte der Sinnbildung und Zeitordnung) ebenfalls speichern, um überhaupt als Bildungsmedien fungieren zu können. Denn nur dann würde diese Umgebung wieder in verschiedene Zeithorizonte und Effekte auseinanderfallen, deren Kenntnis erst den Kontext eines Objekts, einer Idee oder einer Technik aus einer vergangenen und/ oder anderen Kultur zu verstehen ermöglicht. Das bildungshemmende Problem neuer digitaler Bildungsmedien ist ausgerechnet ihre Kraft und unwiderstehliche Macht, alles in ihnen und durch sie Versammelte, alles mit ihnen zugänglich Gemachte, unter ein Zeitregime, einen Takt zu zwingen. Der Takt aber liegt im Gebrauch, im programmierten Interface: Anklicken, Scrollen, (Zur-­Seite) Wischen, Durchsuchen, Groß- oder Herüberziehen sind so andersartige Gebrauchsweisen, sind in ihrer einheitlichen technischen Dynamik und Umgebung unterdessen so aufeinander abgestimmt und bezogen, dass hier kaum ein Weg zu den alten Buch-­Erzählungen der Bildung und ihrem spezifischen Konsum bzw. ihrer spezifischen Produktion von Charakteren zurückführt. Aber es müssen eben neue her.

322

vernetzen

v er net zen Die Mengenbildung Man wird vielleicht einmal in Masse schreiben, denken und handeln. Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden ein Werck unternehmen. N o v a l i s , F r a g m e n t e (1787)

Die besondere Leistung der Bildung, einen möglichst harmonisch proportionierten biographischen Zusammenhang zu stiften oder wenigstens zu problematisieren, taucht in der Leistungsbilanz der Netzgesellschaft nicht mehr auf.550 Sie geht vielmehr mit dem Netz als alltagsgebräuchlichem Leitmedium von Gesellschaft – Medienoder Netzgesellschaft nennt sie sich ja längst selbst – über in eine andere anzustrebende Höchstleistung: die sogenannte Konnektivität. Dieser Leitwert der Vernetzung spiegelt nicht nur eine Elektrifizierung des Sozialen: ‚Kontakte sammeln und zählen‘. Er spiegelt vor allem eine sozialpolitische Tatsache des letzten Jahrhunderts. Hermann Lübbe nannte das einmal ‚Netzverdichtung‘551 und führte es an der Entwicklung der Weltmetropolen vor. Hier wird also ein sozialpolitischer Parameter direkt in den Formenund Leistungskanon der Kommunikation hineingeholt. Aber nun ist die entscheidende Frage, wie sich dort für die Bildung im engeren Sinne eine Art zweite Ebene, die demgegenüber orientierend wirkt, herauskondensieren kann. Welche Praktiken und Produkte leisten so etwas wie die Kanonisierung einiger Aspekte alltäglicher Kommunikation, die dann für höhere und langsamere – nachhaltige – Bildungsprozesse (z. B. Wiederholungen) zur Verfügung stehen? [➤ Wiederholen, S. 361] Welcher Modus verlangsamt die Kommunikation und Rezeption im Netz so, dass technisch – im übertragenden Sinne – eine orientierende, eine nicht nur leistungsorientierende Horizontlinie entsteht?

323

550 Das ist auch das Hauptargument bei Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein? München (2017).

551 Hermann Lübbe, Netzverdichtung. Zur Philosophie industriegesellschaftlicher Entwicklungen, in: ders., Modernisierung und Folgelasten. Trends kultureller und politischer Evolution, Berlin – Heidelberg – New York (1997), S.  3 – 22.

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* Vor dem industrie- und mediengeschichtlichen Hintergrund, der bisher gezeichnet wurde, stellt sich die Frage nach Bildung unter digitalen Bedingungen vielleicht anders als erwartet: Heute wollen wir als besondere Niveau-­Abschüssigkeit der Netzwelt gerne zuallererst festhalten, dass nun endlich und leider alle schreiben (dürfen) – und das immer öfter und schlechter tun. Ja, wir befürchten, dass sie gar nicht mehr schreiben, sondern nur noch posen bzw. posten, Bilder von sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hochladen oder ‚vollauf damit ausgelastet sind, sich bei Instagram Katzenohren aufzumontieren‘, wie das der Kabarettist Harald Schmidt einmal ausdrückte. Zur allgemeinen Autorschaft ist zu sagen, dass sie schon 1827 Wilhelm Hauffs größte Besorgnis – bzw. die seines Leihbibliothekars – weckte: 552 Wilhelm Hauff, Die Bücher und die Lesewelt (1827), in: ders., Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 3, München (1970), S. 55 – 71, hier: S. 64 f.

553 J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), in: ders., Sämtliche Werke Bd. 5, hg. v. Hans-­Jürgen Schings, Münchner Ausgabe, München – Wien (1988), S. 289.

Meinen Sie denn, die Menschen denken dadurch vernünftiger, daß sie jetzt alle selbst rezensieren und sagen: ‚Es ist doch nicht so schön als Walter Scott und Cooper, und nicht so tief und witzig als Washington Irving?‘552

Zum scheinbar gewichtigen Einwand der Kulturkritik, dem Hinweis auf das massenhafte Auftreten selbsternannter Amazon-­Rezensenten, auf ein irgendwie proletenhaftes Dauer-­Posen im Netz (per aufwandslosem Schnappschuss natürlich), ist auch etwas anzumerken: Bildung ist von Anfang an ein nach außen wie nach innen gerichteter Prozess. Nicht nur das (schriftlich) Sich-­sich-­selbst-­Erklären, auch das sich vor anderen (bildlich) darstellende Moment des Bildungsprozesses will schließlich eingeübt und reflektiert sein. Der Edelmann ist ja Wilhelm Meisters Vorbild, gerade „weil er sehen lässt, dass er überall im Gleichgewicht steht“.553

* Und auch hier ist das vorerst Ungenaue, nur Umreißende, Vorläufige, Improvisierte besser als der Katalog: 324

vernetzen

Alle Bildung zielt darauf, sich von außen sehen zu lernen. Nicht nur

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physisch als dieses visible Individuum, sondern auch aus anderen

Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlaß, hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt/M. (2002), S. 171 f.

Kulturen und Sprachen auf die Eigenheit der eigenen, aus anderen Zeiten auf die eigene. Das geht nicht, ohne daß man diesen ‚Zweck‘ gründlich vergessen macht, indem man ihm das Air einer ganz unzweckmäßigen Auszeichnung verleiht. Deren Bedingungen werden der Prüfung auf Rationalität allemal nicht genügen können. […] Die Interdependenzen der Selbstbewertung und Vorzeigung von ‚Erscheinung‘ bestimmen mit gegenläufigen Tendenzen den Kulturbetrieb einer darin geschäftigen Welt.554

Wenn die neuen technischen Umgebungen das Individuum zunächst schneller ergreifen, als dieses sie verstehen oder begreifen kann, braucht es Spielräume und Modelle – also wiederum gegenläufige Tendenzen –, um Verstehen einzuüben. Allerdings muss zunächst überhaupt der Wert des kultur- und lebensgeschichtlichen Verstehens plausibilisiert werden, wo der Wert des aktuellen Bereithaltens und praktischen Zusammenstellens so übermächtig erscheint. Diese Spielräume und Akzente bringt aber – jenseits von unwahrscheinlicher Autodidaxe – kein individueller Entschluss in die Welt, sondern nur eine institutionelle Struktur: Der Abstand, den das ‚sich (bloß) zeigende Ich‘ immer wieder einüben können muss, um zu einem ‚sich sehen lernenden Ich‘ zu werden, dieser Abstand, diese Reflexionsspanne, heißt Bildung und fand bisher in Institutionen statt. Es gilt also, Nachdenken und Diskussion über die gängigen Medienpraktiken in den Institutionen zu etablieren, die diesen Abstand herstellen können. Denn wenn sich keine orientierende ungefähre Horizontlinie, kein Abstand einstellt, entsteht kein Raum für haltbare und haltende Biografien.

Gleichzeitig schreiben und lesen – Konnektivität Die neuen digitalen Medien erhöhen zweifelsohne die Schreib- und Leseaktivität. Der Einstieg in die Schreib- und Leseaktivität ist als Surfen oder Durchklicken, aber auch als Posten und Kommentieren, vergleichsweise leicht. Obwohl es sich um Aktivitäten handelt, die 325

teil 2 – die bildungsdebat te

zumindest rudimentäre Schreib- und Lesefähigkeit voraussetzen, bilden sie nicht unmittelbar. Sie werden vielmehr – als gleichzeitige, globale Aktivität und Rezeptivität – zu demjenigen, was in der Welt des Fernsehens der endlose liturgische Strom war oder in der Welt der Bücher die von Hauff und Carlyle beschriebene, ununterbrochene Produktion von Kolportage und Groschenliteratur, von Stoff oder Futter. [➤ Fabrizieren, S. 130] Das Neue im Netz ist die annähernde Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumtion. Man hat gleichzeitig ein Fenster offen, in dem man schreibt oder hochlädt, und eines, in dem man liest oder scrollt. Das Aufpoppen passgenauer Werbung ist ebenfalls Alltag. Im Netz wird in der Alltagskommunikation auf die Organisation von Aufmerksamkeit gesetzt, aber nirgendwo auf soziale Gediegenheit und Distinktion. Natürlich gibt es Gediegenheit und Distinktion (über Webdesign beispielsweise), aber sie verfestigt sich nicht als eigene Etage ‚oberhalb der Netzkommunikation‘ oder als verlangsamter Zyklus, in dem weniger mehr ist. Alles bleibt vielmehr der ‚Logik der Selbstunterbrechung‘ ausgesetzt. Die Unterscheidung zwischen Serienformat (Fortsetzungsroman) und eigentlichem Buch (Klassiker-­Ausgabe), das man dann durch spezielle Operationen der Herstellung und Nutzung aus dem schnellen Gebrauch/ Verbrauch gerade herausnimmt, ist nur schwer in diese neue mediale Umgebung einzuführen. Wenn ich im Netz einen Text lese, der (für mich) besonders ist, wird er nicht aus der schnellen und konnektiven Struktur des Netzes herausgenommen, sondern er wird ‚geteilt‘, d. h. die Konnektivität wird wiederum erhöht. Ich empfehle ihn, verschicke seine Adresse und schreibe einen kleinen Kommentar dazu. Viel seltener speichere ich ihn wirklich, um in einem Ordner – ‚wichtige‘? – Texte zu hinterlegen, die ich dann irgendwann mit mehr Zeit und offline durchgehe. Man muss vermuten, dass so viel ihrerseits exponentiell ansteigende Produkte und Produktzugänge zum Zweck des Wahrgenommenwerdens einfach weiter vernetzt werden, so dass die Chance auf einen 326

vernetzen

Sonderbereich geringerer oder stabilisierter Konnektivität gleich null ist. ‚The Medium is the Message.‘ Wenn Konnektivität schon die ganze Idee ist, kann sie sich nur durch noch mehr Konnektivität verbreiten und halten. Aber: „Niemand kann vorhersagen, was aus Konnektivität überhaupt, Konnektivität sans phrase folgen wird.“ 555 Mit diesem Problem muss auch eine Bildungstheorie umgehen.

* Die Sprache der Netzwerke ist das Vernetzen selbst. Es liegt deshalb nahe, dass jeder Schüler und jede Schülerin programmieren lernt, eine Vorstellung davon bekommt, wie Konnektivität technisch hergestellt wird. Dass es dann zu altersgerechten Anwendungen von Programmiersprachen kommt und gleichzeitig die Geschichte der Netzwerkmedialität, der Konnektivität, gelehrt wird, versteht sich fast schon von selbst. Da sich aber alle Inhalte im Netz in der Form kurz- oder langfristig etablierter Formate bewegen müssen – und nicht etwa als ominöse Informationen –, muss eine ‚Geschichte der Formate‘ [➤ Kritisch sein, S. 185] ebenfalls auf dem Lehrplan stehen. Man braucht zur bildenden Verlangsamung ein Wissen, das klassifizierend und historisierend Formen im Netz, Formen des Auftretens und der Bewegung von Inhalten im Netz, thematisiert, besser noch: lehrt. So erst reduziert sich die Menge des Auftauchenden, so erst kann sich eine Interpretation der Form mit Bezug auf den wechselnden Inhalt ergeben. Wenn die Praktiken des Schreibens und Lesens im Netz keine stabilen Geschichten entstehen lassen, sondern Konnektivitäts-­Intensitäten steigern bzw. nur präzise, stündlich aktualisierte Zählwerte von ‚Angesteuertwordensein‘ generieren, dann müssen wir dem Einzelnen und der Einzelnen das Netz in Form von Geschichten zurückgeben. Wir müssen den Stellenwert solcher Geschichten (und den Stellenwert ihrer längerfristigen Fixierbarkeit) auf der individuellen und der technischen Ebene noch einmal klar machen.

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555 Peter Sloterdijk, Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013 (Wien, 1. August 2011), Berlin (2018), S. 117.

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Von ‚Ruhm‘ bis ‚Celebrities‘: Geschichten-­Generationen In Gesellschaften, in denen permanent kommuniziert wird, wird die technisch gestützte Zirkulation von Erzählungen über und von Personen immer wichtiger. Immer mehr Menschen fallen unter diese inklusive Logik, die den Doppelsinn von ‚einschließen‘ wieder spürbar macht. Aber wie kann man da noch Unterschiede machen oder erkennen und stabilisieren? Wird die Geschichte, die erzählt werden soll, als Inhalt oder Form eventuell marginalisiert von der kontrollierenden Buchhaltung über ihre Aufrufe, Clicks und Follower? Ist die einzige Pointe dieser so effektiv zirkulierenden (Bilder-) Geschichten die genauere numerische Erfassung ihrer Stationen und das Herauftreiben der betreffenden Zahlenwerte?

556 Zitiert nach Ernst Jünger, Annäherungen – Drogen und Rausch (1970), Sämtliche Werke 13, Stuttgart (2015), S. 127. 557 Dazu Dirk Werle, Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750 – 1930), Frankfurt/M. (2014) u. Antoine Lilti, The Invention of Celebrity, Cambridge (2017). 558 Vgl. Jürgen Luh, Der Große: Friedrich II. von Preußen, Berlin (2011).

Historisch muss man festhalten, dass der Ruhm als Pointe zirkulierender gedruckter Erzählungen – anders als die häufig drittklassige Netz-­Celebrität der Gegenwart – nur wenigen vorbehalten war. Jedenfalls bis zu jenem Tag, an dem Wedekind bemerkte: „Ruhm? – Maggi ist auch berühmt!“ 556 Bis dato war Nicht-­Inflationierbarkeit Teil seiner Idee. Ruhm war eben auch (nur) ein Format.557 Eine Häufung (d. h. eine Intensivierung der Zirkulation) hätte es – und damit auch den Ruhm – inflationiert. Als es endlich so weit war, hieß Ruhm nur mehr ‚Erfolg‘, aber stand dafür vergleichsweise vielen offen. Friedrich der Große markiert in gewisser Weise schon das Ende des Ruhms – danach wurde diese explizite Kennzeichnung besonderer Größe nicht mehr vergeben.558 Der Weg für Erfolgsgeschichten öffnete sich langsam. Aber was konnte und kann seitdem als Erfolgsgeschichte gewertet werden? Dass über einen geredet wird, kann in Zeiten ohne Click-­Rate auch auf Gerüchte hindeuten, dass man gerne von sich erzählt, einfach auf Eitelkeit. Geschäftserfolge sind auch kein wirklich attraktiver Lese- oder Konversationsstoff, sie gehören eher in Bilanzen. Sie demütigen das Gegenüber ziemlich direkt, weil sie kaum Spielräume für Dialog, Ergänzungen, Ausflüchte oder alternative Fassungen lassen.

* 328

vernetzen

Bleiben Geschichten zwischen Yellow Press und bürgerlicher Biografik. Gesellschaftliche Aufsteigergeschichten und Geschichten einer erfolgreichen, gelungenen Selbstkonstituierung und Selbstfindung – letztere Geschichten als Geschichten mit etwas mehr Tiefgang. Sie sind merkwürdigerweise auch für die technischen Eliten immer noch äußerst attraktiv: Die neueste ist eine halb autodidaktisch (aus-)gebildete Programmierer-­Unternehmer-­Elite aus den Silicon Valleys dieser Welt, die munter ihre Autobiografien ‚Wie ich wurde, was ich bin‘ ausgerechnet als Buch in Umlauf bringen. Denkt man an die ‚autorisierten‘ Bücher des Unternehmensgründers und Investors Elon Musk, der schon als Jugendlicher ein manischer Bücherleser war 559, an den Instagram-­Gründer Kevin Systrom oder Bücher über Steve Jobs 560, dann fallen einem die epidemischen Ingenieurs-Autobiografien um 1900 à la Max von Eyths Bestseller Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Taschenbuch eines Ingenieurs (1899) wieder ein. Dieser Titel erlebte schon 1920 seine 89. Auflage, 1958 lagen 377. – 408. Tausend vor.561 Ausgerechnet in diesem Medium halten die neuen Eliten Anschluss an das alte Bildungsmilieu.

* Das Entstehungsmilieu der neuen halb-­autodidaktischen Programmiereliten Nordamerikas ist ja – als Hippiekommune – ohnehin ein äußerst literaturaffines und lesefreudiges gewesen. Das könnte ein weiterer Hinweis darauf sein, dass Bildung – aufgrund einer breiten unternehmerischen Initiative ursprünglich Gebildeter – nur am Sockel, in der Masse sozusagen wieder verschwinden soll. Auch wenn Verschwörungstheorien eindeutig in das Gebiet der gröberen industriellen Unterhaltung und Politik gehören, bleibt ein merkwürdiger Zusammenhang bestehen: Die neuen Eliten schneiden der Mehrheit mit neuer, leichter zu kontrollierender Wissenstechnologie den Weg zu einer eigenen Bildungsgeschichte ab. Sie sind wie der volkstümliche Igel gegenüber dem Hasen immer schon da, wenn man selbst etwas herausfinden will:

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559 Vgl. Ashlee Vance/ Elon Musk, Wie E. M. die Welt verändert – Die Biographie, München (2015). 560 Walter Isaacson, Steve Jobs: Die autorisierte Biografie des Apple-­Gründers, Berlin (2012). 561 Vgl. Joachim Kalka, Max Eyth und das Phantasma der Technik, in: ders., Gaslicht. Sammelbilder aus dem 19. Jahrhundert, Berlin (2013), S.  82 – 94.

teil 2 – die bildungsdebat te

Die befreienden Kräfte, die wir hier [im Silicon Valley, H. C.] entfesselt haben, um eine Art kommunenhafte, utopische Post-­Sechzigerjahre-­ Welt zu erschaffen, haben uns in Wirklichkeit eine Überwachungsökonomie beschert,

562 Mit der Süddeutschen Zeitung im März 2017. Vgl. Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago (2006).

563 W. I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution (1917), Bücherei des Marxismus-­Leninismus Bd. 17, Berlin (1948/ 1951), S. 108. 564 Vgl. Heinz Börner/ Bernd Härtner, Im Leseland. Die Geschichte des Volksbuchhandels, Berlin (2012). 565 Vgl. Erna Malygin, Literatur als Fach in der sowjetischen Schule der 1920er und 1930er Jahre: zur Bildung eines literarischen Kanons, Bamberg (2013).

sagt nicht irgendjemand, sondern der Leiter der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Stanford University Fred Turner in einem Interview.562 Ob die Kinder dieser Unternehmer unterdessen genauso erzogen werden, wie die unseren, wissen wir nicht. Wahrscheinlicher ist sogar, dass sie noch in den alten Bildungshorizont gestellt werden. [➤ Prospekt, S. 13] Montessori und Waldorf haben im Silicon Valley – wie eingangs schon erwähnt – einen riesigen Zulauf.

Das Zeitalter der Buchhaltung? Die Vorliebe für das Gegenteil hat noch ältere Wurzeln. Die „Unumgänglichkeit einer vom ganzen Volk durchgeführten Rechnungsführung und Kontrolle“, die schließlich „sehr bald bei jedem Einzelnen zur Gewohnheit werden wird“ 563, gehörte schon vor genau hundert Jahren zu den seltsamen Idealen und Prophezeiungen einer Diktatur des Proletariats (nach Lenins Geschmack). Heute scheinen wir diese gewissermaßen freiwillig und im Zeichen des nahezu uneingeschränkten globalen Konsums und Wettbewerbs untereinander zu erfüllen. Diese wirklich seltsame Entwicklung des Spätkapitalismus, den ebenso seltsamen Buchhaltertraum sozialistischer Revolutionäre doch noch zu erfüllen, bekommt allerdings eine besondere Note: Wie kaum irgend andere Gesellschaften vor ihnen legten ausgerechnet die sozialistischen Wert auf die Literatur und pflegten einen respektablen Kanon, der selbst 30 Jahre nach dem Untergang der entsprechenden Hälfte der Welt noch seine Wirkung zeigt. Die Sowjetunion oder die DDR waren Lese-­Länder.564 Fast jeder und jede kannte seinen und ihren Gogol, Platonow und Forster.565 [➤ Nach dem Kanon, S. 51 / ➤ Wiederholen, S. 361] Platonow selbst hat das – seinerseits zum 100. Geburtstag Lermontows – unübertroffen formuliert: 330

vernetzen

In Hütten und Kleinstadtwohnungen, in den Großstädten und in Waldwächterhäuschen, in Kolchosen und an der Front – früher, heute und künftig, beim Licht des Kienspans und bei elektrischer Beleuchtung – überall lesen Menschen in der Stille ihrer Betrachtungen, mit innerer Anteilnahme Lermontow. Das Lesen ist für das russische Volk immer eine besondere Betätigung gewesen, und das Buch seine beste Schule. Unser Volk ist ein Volk von Lesern wie kein zweites.566

Ja, der Kanon war so gut gewählt, dass Verlauf, Methoden und Ende der vorherrschenden Gesellschaftsform in diesen Literaturen schon hundertfach und in allen Stillagen geschrieben standen. Gogols Tote Seelen (1842) analysierten die Prinzipien der etwas zu luftig geratenen Fundamente der sozialistischen Planerfüllungsrechnungen für alle Zeiten bevor es sie überhaupt gab. Platonows Baugrube (1930) war das perfekte Sinnbild für die zwischenzeitlich außer Sichtweite geratene eigentliche Idee des Ganzen, auch wenn seine Werke ein Jahr später mit Druckverbot belegt wurden. Forsters französische Phase oder seine Reise mit Cook ‚um die Welt‘ schließlich führten den Genossen die Grenzen sozialistischer Reisefreiheit praktisch mit jeder Zeile vor, die man ihnen von ihm zu lesen gab. All das war prophetisch, all das war Literatur, all das war Bildung! Was aber wird aus einer Gesellschaft, die eine Buchhaltungsutopie übernimmt und ausbaut, aber gleichzeitig die Idee des Kanons gegen einen endlosen Katalog von austauschbaren Kompetenzen und Adressen tauscht. Was ist, wenn man in eine kafkaeske Welt eintaucht, aber seine – Kafkas – Bücher nicht mehr kennt? Oder nur noch vom Namen her kennt? Ist es denkbar, dass jemandem ein Allgemeines Hochschulreifezeugnis ausgestellt wird, der weder den Kohlhaas, noch den Werther, noch den Taugenichts, noch den Franz Biberkopf, noch den Process gründlich gelesen, kennengelernt und besprochen hat? Ja, das ist möglich, massenhaft möglich, das ist die Realität. Wenn das aber möglich ist, wenn das die Realität ist, dann verliert man den Zugriff auf dasjenige Geschichtenkorpus, das einen – zur Tat oder zum Trost – über das eigene Leben und die Welt hätte orientieren können. Erst wenn man sich als ein anderer sehen kann, die Ge331

566 Andrej Platonow, Zum 100. Todestag Lermontows (1941), in: ders., Gedanken eines Lesers. Essays, Leipzig – Weimar (1979), S. 38 – 48, hier: S. 39.

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schichte eines anderen erinnern, nachvollziehen und verstehen kann, kann man ein Selbst werden. Erst dann weiß man, was oder wer man – oder was oder wer man nicht – werden will. Nichts anderes bedeutet ‚Bildung‘. Aus keinem anderen Grund ist der Bildungsroman nicht nur ein Genre, das im Rahmen von Bildungsprogrammen gelesen werden kann oder in dem Bildung wiederum vorkommt, sondern der Bildungsroman ist die Form, die sich der sich Bildende – bewusst oder unbewusst – zu geben bemüht ist. [➤ Formatieren, S. 154]

Das Buch der Unruhe Als Fernando Pessoa zwischen 1913 und 1934 für das Buch der Unruhe unzählige Zettel beschrieb, ahnte er wohl, dass sie sich zu keinem Ganzen mehr integrieren lassen würden, dem er noch seinen Namen verleihen durfte. So schob er sie später allesamt dem ‚Hilfsbuchhalter Bernardo Soares‘ unter. Zu einer Veröffentlichung zu Lebzeiten kam es nicht. Aber der Hilfsbuchhalter war in der Welt und er sollte zu einem zentralen Bauteil eines neuen Universums avancieren. Pessoas avantgardistisches Konzept, mit verschiedenen, kunstvoll mit unterschiedlichen Namen versehenen Identitäten auch unterschiedlich zu schreiben, und dabei einen Hilfsbuchhalter als eine Art unsichtbares Epizentrum auftreten zu lassen, sollte ein Vorschein dessen sein, was die (Medien-)Welt noch erwartete. Pessoa musste noch mühsam verschiedene historische Stilebenen – und damit klassisches Bildungsgut – zwischen Pastoralidyllik und futuristischer Technik-­Emphase-­Prosa einüben, um seine drei Hauptidentitäten zu pflegen. Heute kann man am laufenden Band Rolemodels in etwas seichteren Gewässern konzipieren oder imitiert sehen, kann man sich spielend Avatars schaffen und unter schnell generierten Kürzeln wie Permahack oder SteelofStorm63 auch permanent ‚literarisch‘ tätig sein. [➤ Radikalisieren,  S. 245] Dass die Stillagen solcher Kommentatoren und Blogger häufig dem Schelmenroman, dem Blähungs- und Fäkal-­Kosmos eines Rabelais oder auch derber Volksbuchliteratur näherstehen als Thomas von Aquins Summa Theologica und Miltons Paradise Lost, sieht man schon an den vielen 332

vernetzen

Schwärzungen und Sperrungen, die das Netz gerade im expliziten Kommentarbereich ausmachen. In gewisser Weise ist der autoritative Text, den das Mittelalter auch typographisch vom marginalen Kommentar abhob, nun verschwunden und das leichter zugängliche, weil voraussetzungslosere elektronische Kommentaruniversum, breitet sich unaufhaltsam aus. Man sollte das aber nicht mit einem Kontrollverlust verwechseln. Die Wege solcher selbsternannten Kommentatoren sind nicht länger unerforschlich.

* Die Hilfsbuchhaltung, die zu Zeiten Pessoas den riesigen avantgardistisch-subversiven Abstand zum etablierten Formenkanon der anderen verkörperte, ist heute das Herz eines neuen Mediums geworden. Jeder einzelne Autor wacht vor allem über die Aufrufe seiner Zettelchen und Bilder, während andernorts darüber gewacht wird, was er selbst so aufruft. Die Posts und Tweets, Videos und Blog-­Beiträge, Kommentare und Likes müssen sich gar nicht zu einem höheren oder geschlossenen Ganzen integrieren, sie müssen nur einmal in die Hand genommen werden – das aber von möglichst vielen. Genau dieser Vorgang ist denn auch auszählbar, dokumentierbar und vorzeigbar. Das ist auch ihr ganzer strategischer Sinn bzw. Zweck. Ein Zettel, den nachweislich 3 Millionen andere in kürzester Zeit schon in die Hand genommen bzw. mit einem Mausklick berührt haben, ist per se sinnvoll, gerechtfertigt, Bestandteil der gegenwärtigen Welt. Gerade deswegen kein Aufheben um ihn zu machen – um noch im Bild zu bleiben –, wäre fatal. Es kommt hier eine scheinbare Präzision in den Gebrauch der Medien, die das immer neue, immer gleich intransparente, nur in immer neuen Paraphrasen zugängliche, viel aufwendigere Interpretieren größerer Texte als den reinsten Schwachsinn erscheinen lässt. Warum noch langsam und mühsam Unschärfe produzieren, wenn man schnell und präzise Gebrauchsraten angeben kann? [➤ Nach der Interpretation, S. 56] Aber oft ist die Einsicht, dass das verabsolutierte Tun immer einen Gegenbegriff hat und braucht, eine Abstoßkante, um überhaupt an 333

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Evidenz und Fahrt gewinnen zu können, schon der Einstieg in das Denken einer Alternative. Dann hat man auch die ‚alte‘ Kultur in der neuen wiederentdeckt. Ein vor allem bildgestütztes ‚Schau mal, das bin ich!‘, das sich unentwegt und kurzatmig mit einem ‚Schau mal, wie findest du mich?‘ abwechselt, ergibt allerdings einen ganz anderen Roman als jene indirekte Motivforschung über die Bande einer fremden Romanheldenfigur, wie sie Stendal, Flaubert oder Goethe mit ihren Lesern und Leserinnen eingeübt hatten.

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vortr agen

vort r agen Die Kathederbildung Der Historiker muss im Vortrag oft Redner werden – Er trägt ja Evangelien vor, denn die ganze Geschichte ist Evangelium. N o v a l i s , F r a g m e n t e (1799)

Viva Vox Die Ansprüche deutscher Philosophen waren von je her selten bescheiden zu nennen. Den Vogel aber schoss 1804 – vermutlich als adäquate Antwort auf die gerade erfolgte Selbstkrönung Napoleon Bonapartes zum Kaiser der Franzosen – Johann Gottlieb Fichte mit einer Zeitungs-­ Announce (!) ab. Hier kündigte er eine Vorlesung folgendermaßen an: Der Unterschriebene erbietet sich zu einem fortgesetzten mündli-

567

chen Vortrag der Wissenschaftslehre, d. h. der vollständigen Lösung

Zit. n. Thomas Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wiesbaden (1997), S. 124.

des Rätsels der Welt und des Bewusstseins mit mathematischer Evidenz.567

Es scheinen nach Fichtes Vorlesungen wider Erwarten doch noch einige Rätsel übrig geblieben zu sein und selbst wenn die Formel zur Lösung des Rätsels der Welt mit mathematischer Evidenz von ihm endlich gefunden worden wäre, würde sie uns voraussichtlich nicht dabei helfen, die Welt besser zu verstehen. Der Grund dafür ist einfach: Verstehen hat etwas mit Bildung zu tun, Bildung aber hat etwas mit der Geschichtlichkeit des Menschen zu tun. Diese Geschichtlichkeit wiederum ist nicht auf eine mathematische Formel, genauer: eine Formel von mathematischer Evidenz zu bringen, wohl aber in eine Erzählung. [➤ Formatieren,  S. 154] Einige Jahre nach Fichtes Tod hat dieses Geheimnis ein anonymer habsburgischer Kollege des Philosophen in die ebenso nüchterne Form einer Instruction – einer Anleitung – für Geschichtslehrer gebracht: 335

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568

Wenn der Lehrer selbst vorerzählt, und dieß zwar deutlich, ordentlich,

Anonym, Instruction für die Lehrer der Geographie und Geschichte, Wien (1823), S. 26.

gründlich, ohne Buch und ohne Blatt, so daß es scheine, als ob die Erzählung sich erst in seiner Seele bilde. Die viva vox ist überall besser, als das beste Buch; aber den historischen Unterricht macht sie doppelt interessant. Die Jugend hört überhaupt gern erzählen, ist dabey weniger als sonst zerstreut, und merkt sich das Erzählte leicht und gern, besonders wenn der Lehrer durch Lebhaftigkeit des Vortrages Interesse und Theilnahme an den Begebenheiten bey der Jugend zu erwecken weiß.568

Der Trick ist natürlich ein bisschen arg durchsichtig – man legt einfach nach hinreichender Lektüre die Bücher bei Seit’ und tut so ‚als ob‘. Es bleibt aber das der präzis-­evidenten Formel so signifikant überlegene ungefähre Erzählen.

*

569 Zuletzt Mark Roche, Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten, Hamburg (2014).

In einer seinerzeit ebenfalls vielbeachteten Rede zum Geheimnis der Universität, gehalten im Sommersemester 1950 in einem Hörsaal der Universität Göttingen, behandelte Eugen Rosenstock-­Huessy, auf Besuch in der alten Heimat aus seiner neuen in den USA , unter anderem die Stellung von Privatdozenten im deutschen Hochschulsystem seit der Humboldtschen Universitätsreform. In einem Vergleich mit dem amerikanischen System, der bis heute zum Standardrepertoire der Wissenschaftsgeschichte gehört 569, legte er ausführlich dar, dass gerade die vom Normalfall abweichende Vorlesungstätigkeit der Privatdozenten lange Zeit den größten Innovationsschub für die deutsche Universität bedeutete, insofern dieser gelehrte Typus dem Alltagsprogramm des institutionellen Betriebs zunächst (oder für immer) enthoben bzw. voraus war: In Amerika gibt es massenhaft Instructors; die werden nach zwei, drei Jahren schon entweder befördert oder entlassen. Dort hat also niemand die biographische Ewigkeit des deutschen Privatdozenten. In zwei kurzen Jahren müssen vielmehr diese Instructors sich die Billigung der Fakultät erwerben. Sie werden auch nicht woanders hin

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berufen. In ihrer Todesangst produzieren sie also Bücher, die den

570

Zeitgenossen sofort zusagen. Auch helfen sie den Professoren in den

Eugen Rosenstock-­Huessy, Das Geheimnis der Universität (1950), in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hg. u. eingel. v. Georg Müller, Stuttgart (1958), S. 17 – 34, hier: S. 23.

Vorlesungen und lehren selber nur im Rahmen eines von der ganzen Fakultät und der Verwaltung vorweg genehmigten Vorlesungssystems. Damit wird der junge Dozent in Amerika zum Anhängsel der bestehenden Ordnung. Wenn der deutsche Privatdozent etwas taugte, so lehrte er etwas den Ordinarien Entgegengesetztes. Vielleicht noch wichtiger, er stellte auch die bekannten Wahrheiten durch die Benennung seiner Vorlesungen, eben durch ihre Ankündigung, in einen neuen Zusammenhang. Und wenn die Universität lebte, dann wurde er daraufhin berufen.570

Solche nationalen Unterschiede sind – jedenfalls in diesem Punkt – wohl weitgehend Geschichte. Rosenstock-­Huessy selbst neigte nach eigener Darstellung dazu, ganze Vorlesungen und Rundfunkvorträge ohne Manuskript, aber punktgenau, zu halten.571 Das ist keine absolute Sensation, denn die Vorlesung in den Geisteswissenschaften hatte von jeher einen ‚szenischen Charakter‘. Dieser szenische Charakter aber hatte weitreichende Folgen und Implikationen für das Verhältnis von Technik und Idee in den Anstalten einer higher education und für das Konzept der ‚Bildung‘ ganz allgemein.

571 Vgl. Eugen Rosenstock-­ Huessy, Buch und Funk. In: Hundert Jahre Kohlhammer 1866 – 1966, Stuttgart u. a. (1966), S.  252 – 259.

* Für Studierende unterschiedlichster europäischer Zeiten, Regionen und Fakultäten war die ‚Vorlesung‘ genannte Szene des Lehrens und Lernens seit dem Mittelalter unumgänglich, sie war die Achse der universitären Bildung. Sie basierte zunächst auf Lehrbüchern, einem „Kern von Hauptbüchern“ 572, der tatsächlich (vor-)gelesen wurde, weil Bücher knapp waren.573 Später dann auf einem individuellen Vorlesungsskript, das aus dem Stegreif ergänzt wurde. Die festen Teile des Skripts wurden aus dem Stuhl (bzw. Pult) Petri – ex cathedra – verlesen. William Clark erläutert dieses merkwürdige Detail: The lecturer sits in a cathedra, a chair. The notion of a professional chair stems from this. The cathedra had been, at first, where a bishop

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572 Manfred Fuhrmann, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin (1999), S. 118. 573 Vgl. Christiane Bender, Die Vorlesung. Ein Auslaufmodell? [= Unveröffentlichte Langfassung des Beitrags aus Forschung & Lehre, Nr. 8/2016].

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sat or teach. The church where his chair resided became by synecdoche a ‚cathedral‘. Later canons, that is, high officials at cathedrals and other churches, also acquired what was called a cathedra or chair. From there it passed to professors, as the funding of professor574 William Clark, Academic Charisma and the Origins of Research University, Chicago – London (2006), S. 5.

ships originated in medieval canonries.574

Die nur auf den ersten Blick verblüffende begriffliche Doppelung von bischöflichem Katheder und professoralem hatte einen präzisen politischen Sinn, denn der eine Katheder wurde so, mit Einführung theologischer Fakultäten, dem anderen unterworfen: Der Klerus war bis dahin grundsätzlich unakademisch. Pfarrer und Mönche brauchten nur die nötigen Lateinkenntnisse und hatten mit der Fakultät nichts zu schaffen. Denn die Theologie war Sache der Kathedralen, d. h. der Bischofskirchen. Das Wort Kathedra, Katheder ist ja genommen von dem Stuhl des Bischofs, der ‚ex cathedra‘ regiert. Der Kurfürst braucht also einerseits Katheder in seinem Lande, die ihm allein unterstehen, eben die Katheder der Landesuniversität. Andererseits muß er einen Weg finden, den gesamten Klerus vor diese

575 Eugen Rosenstock-­Huessy, Die Europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Stuttgart – Köln (1951), S. 209.

576 J. W. v. Goethe, Werke in zwölf Bänden. Siebenter Band: Wilhelm Meisters Wanderjahre/ Aus Makariens Archiv (1829), hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Berlin – Weimar (1981), S. 492

Katheder zu zitieren, statt vor die des alten Kirchenbischofs.575

* Die loseren Bestandteile der Vorlesung waren – als eigentliche Verweltlichungsgeste – viel später jene eingeschobenen, frei artikulierten, oft aktualisierenden oder persönlich gefärbten Paraphrasen des Verlesenen neben dem erhöhten Pult – ex tempore. Zum Leben erwachte die Vorlesung also erst, wenn Teile dieses Skripts von seinem anwesenden Autor in einem gelungenen rhythmischen Wechselspiel zwischen Schrift und Rede vorgetragen wurden. Auf der Rezitation ruht alle Deklamation und Mimik. Da nun beim Vorlesen jene ganz allein zu beachten und zu üben ist, so bleibt offenbar, dass Vorlesungen die Schule des Wahren und Natürlichen bleiben müssen, wenn Männer, die ein solches Geschäft übernehmen, von dem Wert, von der Würde ihres Berufs durchdrungen sind.576

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Steif, wie am Pult festgeklammert, oder auch auf und ab gehend, nervös wippend oder mit würdevoller Geste, rauchend 577 oder ohne die Hilfe alltäglicher Suchtmittel und in sich selbst versunken, präsentierte der Professor oder Privatdozent als personales Medium (s)eine Wahrheit(en) im gebauten Medium des Hörsaals. Der erwünschte Effekt war auf jeden Fall in etwa folgender: Ein vorliegender, komplexer und langer Text oder eine größere Menge von Notizen und Stichwörtern wurden für das situative Verstehen der Hörerschaft authentifiziert, portioniert und verlebendigt. Die schriftliche Vorlage der Vorlesung war idealiter damit durchaus einer Partitur vergleichbar, das Hörsaalgebäude glich einem Konzert- oder Theatersaal, der Vortrag selbst einem kontrollierten Gedankenfeuerwerk.

577 So beobachtete es jedenfalls der Student Ulrich Raulff bei seinem Professor Heinz Maus in Marburg in den 1970er Jahren. [Vgl. U. Raulff, Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Frankfurt/M. (2014), S. 17].

Auf der anderen Seite des Pults wurden ebenfalls Notizen gemacht, die zuhause in Reinschrift übertragen und ausformuliert wurden, so dass man sich auch noch Jahre später den Gedankengang der Vorlesung ins Gedächtnis rufen konnte. Mag der oder die eine sich auch nur einen einzigen Gedanken mitskizziert haben, um dann den eigenen Gedankenflug in neue Gefilde zu starten, so haben andere ihre ganze Akribie auf diese Mitschriften verwendet und auch dadurch nicht selten einen Beitrag zur Erforschung des gelehrten Werkes geleistet. Manche – wie Hotho bei Hegel – haben es sogar zu einigem Ruhm gebracht. Der Vorlesende aber vergewisserte sich seinerseits laut, angesichts seiner versammelten Zuhörerschaft, noch einmal des gefundenen Materials und der daran entwickelten Gedankenkette. Max Weber bestand sogar darauf, dass er – im Falle seiner nationalökonomischen Vorlesungen – „manchmal bei sich selbst den Vorlesungsstoff zum ersten Mal hörte“ 578. Gleichzeitig und drittens legte der Vorlesende einer institutionellen Öffentlichkeit – in erster oder auch revidierter Lesung – sein (vor dem Hintergrund schon geleisteter Forschung) neu Erarbeitetes zur Prüfung vor.

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578 Vgl. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Heidelberg (1950), S. 232.

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Zirkulation der Mitschriften

579 Vgl. Ernst Schulin, ‚Hungrvaka‘. Die Erweckung des Hungers nach Vorlesungen, in: Gabriele Lingelbach (Hg.), Vorlesung, Seminar, Repetitorium. Universitäre geschichtswissenschaftliche Lehre im historischen Vergleich, München (2006), S.  325 – 340.

580 Dazu die öffentliche Vorlesung von Peter Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht: Nietzsches fünftes ‚Evangelium‘. Rede zum 100 Todestag von Friedrich Nietzsche, gehalten in Weimar am 25. August 2000, Frankfurt/M. (2000).

Die Krise dieser Form der Vorlesung wurde spätestens augenfällig, als auf den ohnehin von der halben Menschheit täglich besuchten YouTube-­Channels auch unzählige Vorlesungen auftauchten, und das insgeheime Hoffen der Professoren wie das ganz unverblümte ihrer Universitätsleitungen darauf abzielte, auch ‚bei YouTube zu sein‘ – oder auf vergleichbaren (Bildungs-) Portalen. [➤ Vernetzen, S. 323] Von diesen Vorstellungen oder Aufführungen der Gedanken gibt es von Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Michel Foucault bis Heinrich Popitz, von Adam Müller und Martin Heidegger bis Vilém Flusser seit jeher unzählige Mitschriften, Überarbeitungen, Editionen, Transkriptionen und Mitschnitte. Man bewegt sich in jedem denkbaren Fall unweigerlich in einem breiten medialen Spektrum. Es reicht von der in den Lehrplan der Institution und ihrer akademischen Öffentlichkeit eingebundenen eigentlichen Vorlesung in actu bis zu solchen Mitschriften, Nachschriften oder Aufnahmen derselben Vorlesung, die oft erst Jahrzehnte nach dem Tod des Gelehrten auftauchen. Jede Form der Überlieferung, – ob von fremden Händen mitgeschrieben bzw. transkribiert oder noch vom Autor überarbeitet zum Druck gebracht, ob im Anhang einer aufwendigen Gesamtausgabe Jahrzehnte nach dem Tod des Autors ediert, ob als Audio­ cassette oder als Videostream zügig bereitgestellt –, jede Form der Überlieferung ist nun auch einer je anderen technischen und kommunikativen Situation verpflichtet, zielt auf ein je anderes Publikum.579 Die klassische Mitschriftenkultur der um Genauigkeit des Wortlauts konkurrierenden zeitgenössischen Hörer berühmter Gelehrter mündete nicht selten editionsphilologisch, d. h. in den entsprechenden Ergänzungsbänden der posthumen Gesamtausgaben, in eine Art weltliche Evangelien-­Synopse. Der Altphilologe Friedrich Nietzsche, der in Basel regelmäßig nur vor einer Handvoll Hörern las, traute sich gegen Ende seines Lebens sogar höchstpersönlich mit dem Zarathustra ein ‚fünftes Evangelium‘ zu, das auch als Buch ganz auf Verkündigung angelegt war.580 Ein rein profanes Vorlesungs-­Evangelium kam dann tatsächlich in der

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Form einer Edition der zwischen 1906 bis 1911 von Ferdinand de Saussures an der Universität von Genf gehaltenen Vorlesungen zu Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft über die abendländische Wissenschaft. Saussures Schüler oder Jünger Charles Bally und Albert Sechehaye veröffentlichten 1916, also bereits nach seinem Tod, den Cours de linguistique générale – und leiteten so endgültig die Epoche der Linguistik, des Strukturalismus und der ihm folgenden Epochen gesteigerten Theoriebewusstseins in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein. Über einem bedeutenden Abschnitt ihrer Geschichte, im Rahmen einer Geschichte der abendländischen Universität im 20. Jahrhundert, könnte deshalb die Überschrift ‚Theorie als Religion‘ stehen.

Zirkulation der Bänder Einzelne Antrittsvorlesungen wurden und werden oft unmittelbar nach ihrem anlassgebundenen Vortrag für den Druck eingerichtet. Vorlesungsreihen prominenter WissenschafterInnen und Intellektueller wurden aufgenommen, live vom Rundfunk aus dem Hörsaal übertragen oder, nach der Erfindung der Magnetbandaufzeichnung, auch noch wesentlich später in die fernsehmediale Distribution eingespeist. Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno waren Pioniere dieser Verlängerung des Hörsaals in das bürgerliche Wohnzimmer. Vorlesungen bewegen sich damit häufig von Anfang an in mindestens doppelten Öffentlichkeiten. [➤ Politisieren, S. 210] Im Jahr 1996 erschienen in Frankreich zum ersten Mal in Buchform die Vorlesungen, die Michel Foucault unter dem merkwürdigen Titel In Verteidigung der Gesellschaft genau zwanzig Jahre zuvor wöchentlich – zwischen dem 7. Januar und dem 17. März 1976 – am Collège de France abgehalten hatte. Diese öffentlich vorgetragenen Forschungszwischenberichte sind bis heute eine der Pflichten, die den ansonsten durch keinerlei Seminarbetrieb eingeengten Professoren am Collège de France obliegen. Doch mit dieser Vorlesungsreihe Foucaults hatte sich gleichfalls eine Medienrevolution an der weltberühmten, seit 1530 existierenden Forschungsinstitution ereignet. 341

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581 Vgl. dazu Monika Dommann, Tonjagd. Magnetbänder zwischen Revolution und Recht (1949 – 1969), in: Archiv für Mediengeschichte 2012: ‚Mimesis‘, Weimar (2012), S.  137 – 152.

Die Vorlesung wurde ursprünglich Mittwoch nachmittags um halb fünf in einem kleinen Hörsaal mit Mikrofon gehalten. Seit Jahren schon wurde sie von hier aus – während sie gleichzeitig mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet wurde 581 – in einen größeren Vorlesungssaal mit größerem Publikum per Lautsprecher übertragen, wobei man den Vortragenden dort nur hören konnte. Foucault empfand diese abendliche Veranstaltungsform – vor allem ihre technische Verlängerung in den zweiten Hörerkreis der intellektuellen Abendgesellschaft – als ‚Zirkus‘ und verlagerte seine Vorlesung in einen normalen Seminarraum. Doch er nahm noch eine zweite Änderung vor, um den Andrang oder die Ausweitung in Grenzen zu halten und den Mittwochabendzirkus zu unterbinden: Er verlegte die Vorlesung auf mittwochs halb zehn morgens. Damit gewann er nicht gerade die Herzen der intellektuellen Bohème von Paris, aber genau darum ging es ihm offenbar: Das breite Publikum sollte fortan draußen bleiben. Foucaults Auftritt, der nur deshalb nicht zum Spektakel wurde, wie er einmal pedantisch anmerkte, weil die Mehrheit ihn ja gar nicht sehen könne, war nun wieder ein Auftritt innerhalb der Institution. Dass aber der Wirkung dieser Maßnahme keine lange Dauer beschieden sein würde, soufflierte ihm seine eigene Theorie, in der ein dem Zirkus eng verwandter Begriff – die Zirkukation – eine große Rolle spielt:

582

Von Rechts wegen kann ich nicht über die formalen Zugangsbedin-

Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft (1975 – 1976), Frankfurt/M. (1999), S. 9.

gungen zu diesem Raum bestimmen. Ich habe daher zu der wilden Methode gegriffen, die Vorlesung auf halb zehn morgens zu legen, in der Annahme, wie mein Kollege gestern sagte, daß die Studenten um diese Uhrzeit noch nicht aus den Federn kommen. Sie werden sagen, daß das kein korrektes Auswahlkriterium ist: Die Unterscheidung zwischen jenen, die aufzustehen in der Lage sind, und jenen, die nicht aus dem Bett kommen. Aber es sind ja immer kleine Mikros da, Aufnahmeapparate, so daß das anschließend zirkulieren kann – in bestimmten Fällen bleibt es im Stadium des Bandes, in anderen Fällen taucht es als Abschrift wieder auf, manchmal sogar in Buchhandlungen – daher habe ich mir gesagt: Es wird sowieso zirkulieren.582

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Foucault konnte das Schicksal seiner Vorlesungen so exakt voraussagen, weil er in Einklang mit seinen theoretischen Vorannahmen auch die medientechnische Situation richtig einschätzte. Seine Vorlesung, einmal in der technischen Welt – und einmal in der Zirkulation –, erreichte auf jeden Fall auf verschiedenste Weisen ihr Publikum, den Leser, den Konsumenten. Die Begrenzung der Zirkulation oder die längerfristige Etablierung eines inner circle hingegen war eine Utopie. Macht und Zirkulation waren für Foucault, wie er dann im Laufe der Vorlesung noch häufiger ausführen sollte, nahezu identisch. „Die Macht“, trägt er nur eine Woche später, am 14. Januar, vor, „muß analysiert werden als etwas, was zirkuliert.“ 583

Verlinkte Einführungsvorlesung oder Modernitätskritik? An die Stelle der klassischen Vorlesung, die Tuchfühlung mit der eigenen (und fremden) Forschung hielt, tritt derzeit vermehrt der Typus curricular verordneter Einführungs- und Überblicksvorlesungen. Diese wiederum passen sich durchschnittlichen, den handelsüblichen Studienordnungen immer schon beigegebenen (sehr knappen) idealen Studienverläufen an und überfrachten sich deshalb verständlicherweise nicht mit individuellen Forschungsständen oder Spezialfragen. Zweifellos ist der Typus der Einführungsvorlesung eine sehr nützliche Verpflichtung zur Kenntnisnahme und Kenntlichmachung der methodischen und thematischen Durchschnittswerte eines Fachs zu Beginn eines Studiums. Die Tatsache aber, dass sie zwar nicht mit jenen Forschungsständen und Spezialfragen überfrachtet ist, dafür mit ‚Konzepten‘, ‚Namen‘, ‚Materialien‘ und ‚Theorieoptionen‘, unter denen auszuwählen die verbleibende Studienzeit nicht einmal ansatzweise ausreicht, könnte einen bestimmten Effekt haben: Die Vorlesung liefert zwar Schlagworte, die aus den gewaltigen dynamischen Ressourcen des World Wide Web mit einer Corona von Funden unterschiedlichster Couleur versehen und zunächst abgespeichert werden können, aber statt überarbeiteter Mitschriften, transkribierter Aufnahmen oder auch nur Notizen bliebe bei den Hörerinnen und Hörern eine Link- oder PDF -Sammlung auf dem Desktop zurück. Bisweilen wird die schon früher einmal ‚eingestell343

583 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft (1975 – 1976), Frankfurt/M. (1999), S. 38.

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te‘, nur aktualisierte Vorlesung noch im Hörsaal hochgeladen und mitgelesen. [➤ Vernetzen, S. 323]

584 Michael Hagner, Geisteswissenschaften oder Digital Humanities?, in: Forschung & Lehre 5 (2014), S. 85. 585 Michael Hagner, Geisteswissenschaften oder Digital Humanities?, in: Forschung & Lehre 5 (2014), S. 85.

586 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück. David Strauss. Der Bekenner und der Schriftsteller (1873), in: ders., Werke, hg. v. Alfred Bäumler, Leipzig (1930). Erster Band: Die Geburt der Tragödie/ Der griechische Staat/ Unzeitgemässe Betrachtungen, S.  1 – 93, hier: S. 7 f.

Der Desktop bzw. das verlinkte Material ersetzen dann die Trias aus Saal, Pult und Vorlesendem als einer ersten, beweglich-­individuellen narrativen Schnittstelle zu sich öffnenden Forschungslandschaften. Die alternativen „epistemischen Tugenden“ 584 hießen „Argumentation und Narration versus Bereitstellung und Verlinkung“ 585. An die Stelle kontinuierlich (wöchentlich) inszenierter Verstehensleistungen träten verbale Überleitungen zu technisch vorderhand leicht zu bewältigenden, multimedial-­monströsen Konkordanzen, die jedoch Kriterien oder Fluchtpunkte des Verstehens, d. h. der Interpretation, nicht unbedingt mitführten. Diese Aussicht überschneidet sich in vielem mit Nietzsches forcierter Modernitätskritik anlässlich seiner Abrechnung mit dem Theologen David Strauß in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung von 1873: Die Formen, Farben, Produkte und Kuriositäten aller Zeiten und aller Zonen häuft der Deutsche um sich auf und bringt dadurch jene moderne Jahrmarkts-­Buntheit hervor, die seine Gelehrten nun wiederum als das ‚Moderne an sich‘ zu betrachten und zu formulieren haben; er selbst bleibt ruhig in diesem Tumult aller Stile sitzen.586

Die Parallele zeigt aber auch: Auf dem Gebiet ist in Sachen ‚Kulturkritik‘ zu jeder Zeit Vorsicht geboten. Ist das alles wirklich ein (drohender) Verlust? Ist das ein Horrorszenario? Oder ist das einfach nur die erwartbare und wünschenswerte Evolution medialer Umwelten, eine Modernisierung der Verhältnisse, die auch und gerade die Universitäten als höhere Ausbildungsstätten erreichen sollte? [➤  Umgeben,  S. 307/➤  Revolutionieren,  S. 266] Sollten sich nicht gerade Zeitgenossen, die in unterdessen veralteten technischen und wissenschaftlichen Verhältnissen sozialisiert und befördert worden sind, der stellvertretenden und damit bevormundenden Gewinn- und Verlustabschätzung für die kommenden Generationen enthalten?

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Was könnte man dem Fortschritts- oder Modernisierungsargument entgegenhalten? Immer wieder das: Auch wenn wir hüben wie drüben von Techniken des Lernens auszugehen haben, ist entscheidend, welchen Formen des Wissens diese Techniken entsprechen, welcher historischen Kultur des Wissens und der Wissenschaft sie folgen. Die Idee, Imaginationskraft und Verstehen systematisch zu provozieren und zu schulen, ist nämlich etwas anderes als technisch optimierte oder motivierte Überblicke aus möglichst schnell Gefundenem zu organisieren.

Imaginationssteuerung oder Magie? Eine scheinbar willkürliche Unterscheidung und Entgegensetzung von Imagination und Organisation bedarf natürlich sofortiger Erläuterung und Korrektur. Die Prominenz der jetzt folgenden Akteure sollte dabei nicht vom bloßen Beispielcharakter des hergestellten Zusammenhangs ablenken. Wilhelm Dilthey beschrieb einmal Leopold von Rankes Vorlesungstechnik, er beschrieb den Eindruck, den Ranke als Vorlesender bei seinen Hörern hinterließ: Ich sehe ihn noch, die Augen nicht auf die Zuschauer, sondern auf die

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historische Welt gleichsam innerlich gerichtet. Er sah, wie die Bilder

Wilhelm Dilthey, Vom Aufgang des geschichtlichen Bewusstseins (1862) [= Ges. Schriften, Bd. 11], Stuttgart (1960), S. 217.

an ihm vorüberzogen: sein großes Auge schien sie innerlich zu gewahren.587

Die Hörsaalarchitektur und die trainierte mediale Transferleistung einer einzelnen Person kommen hier erneut zusammen. Ranke wird von Dilthey als eine Art Medium der Geschichte geschildert, das seine Visionen im textgestützten, mündlichen Vortrag an die Studierenden weitergibt. Es soll hier aber keinem neuen okkulten Mediumismus das Wort geredet werden, sondern es soll nur behauptet werden, dass Rankes Umweg Methode hatte: Ein individuell erlebter Bilderfluss der Geschichte wird von Ranke in ein Format systematischen Arbeitens und Lernens für viele übersetzt. [➤ Verlangsamen, S. 314] Dieser Bilderfluss dürfte durchaus – neben unzähligen Tauchgängen in Archiven und Bibliotheken – vom illustrativen, oft kitschigen Stan345

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dard der Historienmalerei oder der Panoramen seiner Zeit angeregt worden sein. Hier zeigen sich die zwei Hauptschwierigkeiten einer Theorie der Imagination, die eben auch beschreiben muss, wie die Imagination an wissenschaftlicher Arbeit beteiligt ist: Die Imagination ist erstens nicht einfach frei, sondern ihrerseits organisiert, und sie ist zweitens keine zeitlose Potenz des Menschen, sondern in ihrem Leistungsspektrum, zu dem die Verlebendigung des Vorgestellten gehört, an zeitgenössischen Medientechniken und ihrem jeweiligen Standard vom reibungslosen (Bilder-)Fluss orientiert.

588 Vgl. August Gottlieb Meißner, Ueber die Pflichten eines Lehrers und den Unterschied von Schrift und Vortrag, Prag (1786), S. 27 ff. [Zit. n. Heinrich Bosse, Der Autor als abwesender Redner, in: Paul Goetsch, Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen (1994), S. 277 – 290, hier: S. 279].

Die durch andere Medientechniken schon ‚angeregten‘ Gegenstände und Zusammenhänge der Reflexion werden in der Vorlesung für den systematischen Nachvollzug rhetorisch aufbereitet und erzählend so geordnet, dass der Eindruck der Lebendigkeit zu Bildungszwecken entsteht. Lebendigkeit oder Lebhaftigkeit sind dabei Ideale, die mit dem Aufstieg der Imaginationskraft zur kreativen Potenz und mit dem Aufstieg der philosophischen Ästhetik zur universitären Disziplin im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einhergehen. [➤ Einbilden, S. 103] In dieser Phase wurde der partielle rhetorische Zielwert der vividitas in das ganzheitliche Körperkonzept der empfindsamen Ästhetik überführt. Durch die ‚Lebhaftigkeit des Ausdrucks‘ weckt der akademische Lehrer fortan das Interesse der Lernenden, da seine Lehre andernfalls nur „eine bloße Zusammensetzung von Fleisch und Beinen, nicht aber ein Körper ist, den eine athmende Seele bewohnet.“ 588 Man setzt sich in der Vorlesung also nicht einfach einem halbwegs plausiblen Datenarrangement aus, um zu versuchen, so viel wie möglich davon aufzufangen, sondern man partizipiert auch – gebannt – an inszeniertem Wissen. [➤  Informiert sein,  S. 164] Was Wilhelm Dilthey unter anderem an Leopold von Ranke zu beobachten glaubte, den Übergang der Vision eines Eingeweihten in jene nachvollziehbare, der Partitur des Textes folgenden inspirierenden Worte vom Katheder an die Gemeinschaft der Lernenden, gibt den rhetorisch-­technischen Kern der geisteswissenschaftlichen Vorlesung nach wie vor sehr gut wieder. Diese Indirektheit bedeutet 346

vortr agen

tatsächlich schon einen Medientransfer, ein (erneutes) ‚vor Augen stellen‘ in Worten und Bildern: Seit Quintilian ist Evidentia zunächst daß Maß, in dem ein Vortrag –

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beispielsweise durch die Selbstaffektation des Vortragenden – eine

Sybille Peters, Für die Einrichtung eines experimentellen Lecture Theatres an Universitäten!, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2014), S. 151 – 161, hier: S. 152.

Vergegenwärtigung dessen leistet, wovon er spricht.589

* Aber auch ein im Falle Diltheys natürlich naheliegender hermeneutischer Zug dieser Vorlesungs-­Pädagogik Rankes wird plausibel: Der Lernende wiederholt – derart von der sprachgewandten Emphase eines anderen inspiriert – zunächst etwas ihm bedeutsam Erscheinendes (ungenau) auf dem Papier oder mittels einer Tastatur. [➤ Wiederholen, S. 361] Dann wird ihm das eigenständige Produkt eines solchen Wiederholungsprozesses im Idealfall zum Beleg seiner eigenen Befähigung zur Imagination. Der Lernende nimmt sich im Spiegel des von den Lehrenden beschriebenen fremden Bedeutungskomplexes wahr und begreift sich gleichzeitig als ein durch solches Wissen gewandeltes (und wandelbares) Individuum. Auf diesen vorgelebten Umwegen wird er mehr und mehr zu einem eigenständigen Persönlichkeitskomplex: Der Arbeitende selbst macht sich wiederum wechselnde Bilder von dem, was er tut, und den vorgegebenen Problemen, um die sein Tun kreist. Wir haben es hier offensichtlich mit einem Prozess zu tun, der neben dem unterschwelligen Medientransfer noch einen anderen Transfer zur Voraussetzung hat: Er lebt auch von einem steten Registerwechsel zwischen Sachebene und Selbstwahrnehmung. Eine Vorlesung ist immer mehr als das begleitende Raunen einer prinzipiellen und angeblich diskursiv uneinholbaren Widerständigkeit, Größe oder gar Heiligkeit der präsentierten Gegenstände. Die inszenatorische Kraft einer erzählerisch aufbereiteten Kette von Sachargumenten darf nicht zur Weihestunde vor einem Gegenstand mutieren.

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PowerPoint-­Vorlesungen

590 Zu den Befürwortern (aber auch ihren Bedenken) vgl. Dorothee Haffner, ‚Die Kunstgeschichte ist ein technisches Fach.‘ Bilder an der Wand, auf dem Schirm und im Netz in: Philine Helas, Maren Polte et al. (Hg.), Bild/ Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin (2007), S.  119 – 129.

591 Rudolf Borchardt, Mittelalterliche Altertumswissenschaft. Arnaut Daniel und Giovanni Pisano als Schöpfer der modernen Seelenform Europas. Rede, gehalten in der Aula der Universität Zürich am 2. März 1927, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa III, hg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarb. v. Ernst Zinn, 2. unveränd. Aufl., Stuttgart (1996), S. 71 – 92, hier: S. 75.

Aber wie viel produktive Indirektheit ermöglichen die neuen Medientechniken? Ist die Weihestunde als Form nicht schon eine (hilflose) Reaktion auf eine Über-­Technisierung von Lehrumgebungen? Einige Kunsthistoriker zum Beispiel hatten mit Dia und Photographie diejenigen Feindbilder ausgemacht, mit denen sie den drohenden Verlust jeder echten Partizipationsmöglichkeit – als Begegnung – am Kunstwerk (angesichts der authentischen Materialität des Originals und seiner Aura) begründeten.590 Das Zeigen des Originals oder das Sehen-­Lassen als rein rhetorische (Meister-) Leistung sind schließlich etwas anderes als eine Wandtafelnotiz, ein projiziertes Dia oder eine PowerPoint-­ Aufbereitung. Doch die Angst der Kunst- und Kulturwissenschaftler vor diesen Möglichkeiten verflog schnell, auch wenn Walter Benjamin noch am 4. Februar 1930 in der Literarischen Welt seine „alte Idiosynkrasie, die so heftig gegen Photos von Bildwerken reagiert“, durchblicken ließ, bevor er sich einige Jahre später im Auftrag des Instituts für Sozialforschung in Paris eingehender mit dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschäftigte. Viele Zeitgenossen begriffen die Entwicklung schon als einen Ausgleichsvorgang auf dem Gebiet der Medientechnik gegenüber anderen Fächern wie den etablierten Philologien. Rudolf Borchardt sieht genau den bis heute gültigen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg einer Disziplin und der allgemeinen technischen Entwicklung: Aber hier war doch wenigstens das Material eben nur Handschrift und Buch, versendbar, kopierbar, vergleichbar, beweglich; ehe, neben der Literaturgeschichte, eine Kunstgeschichte aus den romantischen Postulaten zu begründen war, mußte einfach noch eine Generation mehr vergehen. Kein Zeitgenosse der Brüder Grimm, erst Wilhelm Grimms Sohn Herman war der erste Lehrer der Kunstgeschichte auf einem deutschen Katheder; Reisen mußten zuerst allgemein werden, eine neue Technik der Reproduktion zuerst erfunden und ausgebildet werden, die photographische, ehe der Stoff langsam übersehbar werden konnte.591

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* Angesichts der Vorteile hochauflösender Bestände internationaler Bild-­Datenbanken wirkt die Verlust-­Angst heute sogar geradezu lächerlich. Aber es gibt tatsächlich Unterschiede: Mit dem Format PowerPoint, der graphisch-­projektiven Vortragsunterstützung – zunächst, seit 1987, durch den Druck von Overheadfolien – ist ein besonders populäres Beispiel dafür benannt, „wie sehr ein Dateiformat ein wissenschaftliches Format dominieren kann“ 592. Die Kritik an dem Zwang zu unterkomplexer Darstellungs- und Denkweise im Bann dieser Software 593​ zielt auf den bedenkenswerten Punkt, dass man es im Falle der Universität weiterhin unbezweifelbar mit einer „öffentlichen Institution der Wissensbefassung“ (Wolfgang E. J. Weber)594 zu tun hat. [➤ Kritisch sein, S. 185] Deren professorale VertreterInnen können aber – in den sogenannten Geisteswissenschaften – nicht einfach (hochschulöffentlich) in den Gebrauch einer Datenbank oder Software einführen, oder von dort aus einen zugegebenermaßen häufig recht primitiven und graphisch anspruchslosen Foliengebrauch praktizieren und propagieren. Denn immer noch sollen sie einer Hörerschaft auch eigenes und eigens für diesen Anlass erzählerisch modelliertes Wissen bieten, damit einen entscheidenden Schritt über die reine Thesenpräsentation (aber auch über das benebelnde Bild- und Clipgewitter) hinausgehen. Allerdings bahnen sich hier auch, in Gestalt der ‚Digital Humanities‘ z. B., Auswege an: Hier sind durchaus Vorträge erwünscht, die gewissermaßen öffentlich in die graphische Modellierung großer Datenmengen einführen. Argumente für die Besonderheit der ‚Vorlesungsszene‘ laufen also auf den Vorbehalt hinaus, dass das ‚Vorlesen‘ etwas anderes ist als das Eindampfen größerer Datenmengen auf projizierbare Kernthesen und Schlagworte oder das bloße ‚Zeigen‘. Das sprachliche Material selbst verspricht schon – ganz ohne Zaubershow – ein Formenspektrum, das nicht mit dem vermeintlich eindeutigen Aussagewert von Informationen übereinstimmt. [➤ Informiert sein,  S. 164] Man kann dasselbe immer auf mindes349

592 Susanne Müller, (Art.) Formatieren, in: Verf./ M. Bickenbach/ N. Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln – Weimar – Wien (2015), S. 253 – 266, hier: S. 253. Vgl. auch Hubert Knoblauch, Wissen Live: Sitzordnung, Performanz und Powerpoint, in: Herbert Willems (Hg.), Theatralisierung der Gesellschaft Bd. 1. Soziologische Theorie und Zeitdiagnose, Wiesbaden (2009), S.  221 – 237. 593 Edward R. Tufte: PowerPoint is Evil, in: Wired, Sep. 2003, unter: http://www.wired.com/ wired/archive/11.09/ ppt2.html [Letzter Zugriff: 04.03.2019]. 594 Vgl. W. E. J. Weber, Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart (2002), S. 9.

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tens zwei unterschiedliche, d. h. unterschiedlich anschlussfähige Weisen formulieren (mit und ohne größeren Horizont oder Kontext beispielsweise): 595

Der medialen Widerständigkeit des gedruckten Wortes entspricht

Philipp Theisohn, Offener Zugang. Zur universitären Präsenz der Digitalität, in: Forschung & Lehre, 19. Jg. (2012), Nr.11/ 12, S. 900 – 902, hier: S. 902.

auch die Vorstellung der Unablösbarkeit des Wissens von der indivi-

596 Vgl. W. E. J. Weber, Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart (2002), S. 227 f.

duellen, kulturell wie historisch bedingten Sprachlichkeit, die das Zentrum aller Geisteswissenschaften bildet und die dem ‚Klartext‘ des quantifizierenden Denkens diametral gegenübersteht.595

Der Vorlesungssaal der bürgerlichen Gelehrtenkultur war durch die parallele Zirkulation des Verhandelten in Mitschriften und Druckfassungen ein allgemeiner öffentlicher Ort, der u. a. über die Reputation des Wissenschaftlers entschied. Besonders in Deutschland wurden die Vorlesungen, zumal der Geistes- oder Kulturwissenschaften, allerdings mindestens bis nach dem I. Weltkrieg vielfach auch als Vorträge für das weitere gebildete Publikum konzipiert, wobei ihre genuin fachwissenschaftlichen Aspekte ausgeblendet blieben. Das Recht zu lesen, die venia legendi, war in der letzten Qualifikationsstufe vor der Professur zu erwerben. Sie stellte mithin auch ein wesentliches Statusmerkmal dar, und die Zahl der Hörer war ein wichtiges Kriterium für die Messung des akademischen Erfolges. Die Vorlesungsmitschriften der Studierenden konnten diese ein Leben lang begleiten. Der ehemalige Schüler trug also gegebenenfalls direkt nach dem Text seines Lehrers vor.596

Industrielle Zirkulation und Verlangsamung Die szenische Vorlesung braucht nach wie vor Distributionstechniken und -kanäle. Diese selektive Distribution wird nach 1945 vor allem durch Rundfunk und Fernsehen garantiert. [➤ Fernsehen, S. 147] Die Vorlesung als Zirkulation individueller Forschungserträge ist von der Öffentlichkeit gar nicht abzutrennen, da Öffentlichkeit (nach Hans Freyers soziologischem Standardwerk) eine Schlüsseleigenschaft der Industriekultur ist:

350

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In der Tat reicht die Denkfigur des Kreislaufs, allein genommen, kei-

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neswegs aus. Sie ist im Grunde nur die Explikation einer bestimmten,

Hans Freyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart (1965), S. 229.

allerdings einer wesentlichen Eigenschaft des Industriesystems, nämlich seiner Öffentlichkeit.597

Mit der Generation Börnes, Weerths, Spielhagens oder eben Rankes, der ersten Intellektuellengeneration unter industriellen Bedingungen, treten ab ca. 1830 der beamtete wie der freie Intellektuelle, der Professor wie der Journalist, in einen „Zusammenhang aus Öffentlichkeit, Umlauf, Medien und Intellektuellen“ 598. Allesamt sind sie Akteure in der „beständigen Zirkulation eines Marktes zirkulierender Medien“ 599, in dem die Verbreitungsgeschwindigkeit der Informationen zu einem entscheidenden Kriterium ihrer Qualität wird. Dass das Ideal ‚unbegrenzter beschleunigter (digitaler) Verfügbarkeit‘ von Informationen für die Geistes- oder Kulturwissenschaften nur bedingt tauglich ist, wurde in der Vergangenheit andererseits immer wieder angemerkt. Für die Geisteswissenschaften werden deshalb symbolisch verlangsamte Teilöffentlichkeiten attraktiv. [➤ Verlangsamen, S. 314] Hier ist die öffentliche Vorlesung eine geeignete Form. Die ‚mediale Widerständigkeit‘ des gedruckten und gesprochenen Wortes wird in die sogenannte ‚literarische Öffentlichkeit‘ – als eben einer solchen verlangsamten Variante der Normalzirkulation und Öffentlichkeit der Informationen – übersetzt. Anders als etwa die SMS wird eine Vorlesung nicht an dem Verhältnis von Geschwindigkeit und Informationsdichte gemessen, sondern an einem komplexeren Stilideal. [➤Ausstatten, S. 80] Die Vorlesung kennzeichnet atmosphärisch ein verlangsamendes Andachtsminimum und stilistisch eine nicht zu spezifische Eleganzerwartung. Das trifft etwa auf die geisteswissenschaftlichen Vorlesungen – wie die Frankfurter Adorno-­Vorlesungen – an der Schnittstelle zwischen akademischer und literarischer Öffentlichkeit zu. Ganz ähnlich verhält es sich aber auch mit den sogenannten Poetik-­Dozenturen. Denn die Vorlesung in der akademischen Öffentlichkeit ist eine die Institution über den Rahmen des Akademischen hinaus legitimierende Inszenierung des individuellen wissenschaftlichen Wortes. Sie nutzt 351

598 Vgl. Jürgen Fohrmann, Der Intellektuelle, die Zirkulation, die Wissenschaft und die Monumentalisierung, in: ders. (Hg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar (2005), S. 325 – 479, hier: S. 342. 599 Jürgen Fohrmann, Der Intellektuelle, die Zirkulation, die Wissenschaft und die Monumentalisierung, in: ders. (Hg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar (2005), S. 342.

teil 2 – die bildungsdebat te

dabei häufig den ihr von der Institution zur Verfügung gestellten (amphitheatralen) Hörsaal als Bühne ihrer Wissensgeschichten. Sie schafft repräsentative Kultur-­Öffentlichkeit von der Sache her, so wie von der Stillage ihrer Behandlung, von der wissenschaftlichen Reputation des Vortragenden her, welche es nicht mit Prominenz zu verwechseln gilt: 600

Man mag das für albern und für so gar nicht wissenschaftlich halten.

Philipp Theisohn, Offener Zugang. Zur universitären Präsenz der Digitalität, in: Forschung & Lehre, 19. Jg. (2012), Nr.11/ 12, S. 902.

Indessen handelt es sich bei dieser nicht exakt abgrenzbaren literarischen Öffentlichkeit nicht nur um die Bühne, auf der ein Geisteswissenschaftler agieren können muss; es ist auch der Raum, in dem Geisteswissenschaft entsteht, dialogisiert und sich begrifflich weiterentwickelt, der Raum, aus dem heraus sie ihre gesellschaftliche Legitimation bezieht.600

Neue ‚interaktive‘ Szenen des Wissens? Die Angebote, die die Vorlesung in Zukunft machen wird, zeichnen sich ab: Die klassische geisteswissenschaftliche Vorlesung beschränkt sich gegebenenfalls mittels jener digitalen PowerPoint-Folien darauf, ein ordnender erster Methodenüberblick für zunehmend unüberschaubare ‚Theoriekonzepte‘ zu sein, zu deren Anwendung es in einem 6-semestrigen Bachelor-­Studium voraussichtlich nie kommen wird. Der Vorteil ist dann, dass man die Folien auch gleich ins Netz stellen kann. Ja, man kann Einführungsvorlesungen anderer Dozenten in sein eigenes Fach auch im Netz finden und den eigenen Studierenden empfehlen. Eine weitere – recht bedrohliche – Variante ist der alte Hut von der (simulierten) ‚Interaktivität‘, der jetzt auch der Vorlesung aufgesetzt wird – und schon beim Fernsehen keinerlei Früchte trug. Dieser Vorschlag, der so banale Dinge wie das Absenden von (frageförmigen) Kurznachrichten an den Vorlesenden, während er vorliest (!), vorsieht, aber auch Klickabstimmungen im Publikum (wie in einschlägigen Quizshows), ist tatsächlich dem permanenten Gebrauch von mobilen Endgeräten in der Vorlesung und neueren Unterhaltungs352

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formaten geschuldet – Abstimmung mit den Füßen bzw. mit den wischenden Fingerkuppen. Neuere Untersuchungen sprechen von 52 Prozent „vorlesungsfernem Umgang“ 601 mit mobilen Endgeräten in der Vorlesung auf Seiten der HörerInnen. Den Vorschlägen haftet deshalb – wenn nicht etwas Anbiederndes –, so mindestens etwas Resigniertes bzw. Verzweifeltes an. ‚Neueste‘ Untersuchungen ‚auf höchster Ebene‘ – OECD  – betonen schon wieder die ‚Grenzen digitaler Bildung‘.602 Andere reagieren denn auch anders darauf: Sherry Turkle vom MIT in Boston – immerhin die amerikanische New Media-­Pionierin – provozierte es zum Verbot solcher Elektronik in ihren eigenen Vorlesungen. Ich beginne meinen Unterricht damit, dass ich sage: Hier geht es nicht um noch mehr Information, sondern darum, zusammen zu denken, und dazu brauche ich eure ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich möchte, dass Sie mich unterbrechen, dass Sie mit Ideen kommen und nicht mit irgendeinem Schnipsel, den Sie gerade aus dem Netz gefischt haben. Also: keine Laptops, keine iPads, keine Smartphones. Wenn Sie etwas notieren wollen, dann auf einem Stück Papier.603

* Schließlich kann man der Vorlesung aber auch einen ganz neuen institutionellen Funktionswert zuteilen. Die Vorlesung fügt sich dann – als Teil von education, nicht länger von Bildung – ganz einfach inhaltlich dem sanften Imperativ der Bologna-­Studienordnungen [➤ Kompetent sein, S. 168] einer stärkeren ‚Berufsbezogenheit‘ ihrer Lehrinhalte und Curricula: Man lädt sich Praktiker ausgerechnet in die Vorlesung ein. Aber die Einsicht, dass Erzählungen aus der Praxis da draußen oder technisch gesteigerte Zugänglichkeitsgeschwindigkeiten bzw. Visualisierungsraten in Bezug auf Daten oder andere Güter noch nicht diejenige Form von Lebendigkeit sind, die bei der Vermittlung von Wissen als Bildung (über das Verstehen) der Weisheit letzter Schluss ist, hat sich unterdessen herumgesprochen. Lebendigkeit ist nicht einfach gleich Geschwindigkeit oder gleich 353

601 Vgl. Armin Weinberger, Vorlesung und Ablenkung, in: Forschung & Lehre 10 (2014), S. 838 f.

602 Vgl. Fridtjof Küchemann, Noch ein Pisa-­Schock. OECD-Studie sieht Grenzen digitaler Bildung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.215, 16.09. 2015, S. 9. 603 ‚Wir sind zusammen allein‘. Interview mit Sherry Turkle von Peter Haffner, in: Süddeutsche Zeitung, Magazin 30 (2012).

teil 2 – die bildungsdebat te

Praxis. Lebendigkeit als gelungene Verlebendigung von vermeintlich Totem folgt einer komplexen szenischen Ästhetik, die dem Leben der Menschen entspricht, wie es Pierre Legendre einmal formuliert hat: 604

Denn es gibt nicht einerseits die Welt der Dinge und andererseits uns,

Pierre Legendre, Eine dogmatische Bewertung des Ästhetischen, in: Ruedi Baur (Hg.), Das Gesetz und seine visuellen Folgen, Leipzig (2005), S. 342 – 364, hier: S. 346.

es gibt nur die eine umfassende Theatralisierung von Mensch und Welt, und es ist diese Theatralisierung, dank derer wir zu dem Schluss kommen, dass Gesellschaften existieren.604

Massive Open Online Courses (MOOC) Es gibt aber neuere Wege, diesem Umstand mit Blick auf die Vorlesung Rechnung zu tragen. Der szenisch-­performative Charakter der Vorlesung wird noch ausgebaut und betont. Man steigert technisch die Distribuierbarkeit des alten Vorlesungsformats auch dadurch, dass die Länge der Vorlesung von heute 90 Minuten auf ca. 15-minütige Slots gekürzt wird. Das eine heißt folgerichtig Lecture Performance, das andere genauso folgerichtig Massive Open Online Courses. Eines haben die MOOC-Pioniere nämlich richtig verstanden: Diese, die Institution auf besondere Weise repräsentierende Szene des Wissens, die wir bis heute Vorlesung nennen, muss wandern können, sie muss weitererzählt und kommentiert werden können, um zu überleben. Ihre kontrollierte Fluidizität muss medientechnisch und öffentlichkeitswirksam garantiert werden, die für sie durchschnittlich aufgewendeten Aufmerksamkeitsspannen hängen von den technischen Bedingungen ab. Wer schaut schon gerne 90 Minuten auf einen kleinen Bildschirm, der eine akademische Vorlesung zeigt. Wenn das Buch als pädagogisches Leitmedium der Gesellschaft gefallen ist, weil Unterrichtstexte längst überwiegend im PDF-Format zirkulieren, dann fällt auch eventuell die Vorlesung als Bastion der universitären Bildung, solange sie sich distributiv nicht teilweise neu erfindet. [➤ Bildung als historische Kulturtechnik, S. 41] Falsche Romantik ist hier jedenfalls fehl am Platz: Ein Stück weit ist sogar schon die massive Präsenz der Hörsäle in der Darstellung der sogenannten 68er-­Revolte eine rein ikonographische: Es sind Bil354

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der von überquellenden Hörsälen und Sit-­ins, die in der öffentlich-­ rechtlichen Medienwelt davon zirkulierten. [➤ Politisieren, S. 210]

* Die Gründerfirmen der MOOC-Weltrevolution heißen Khan Academy, Udacity, Iversity oder Coursera. Ihre Idee ist eine Modifizierung der flipped classrooms–Methode: Bestimmte Unterrichtseinheiten werden nur filmisch aufgearbeitet und bereitgestellt, so dass der Schüler sich (inter-) face to face mit seinen Lehrern schon daheim vorbereiten kann, um später vor Ort dann für voraussetzungsreichere Diskussionen und Aufgaben besser gerüstet zu sein. Was in deutschen Ohren noch ein bisschen nach fernsehzeitalterlichem Telekolleg klingt, wurde von einem ehemaligen Hedgefond-­Manager, der ebenfalls am MIT in Boston studiert hatte, ab 2006 zu einer weltweiten Online-­ Akademie ausgebaut, die 2013 schon 250 Millionen Mal abgerufene Videos verzeichnete.605 Das Ganze ist aber nicht nur etwas für Informatiker oder Studenten der Wirtschaftswissenschaften. An der Harvard University lehrt einer der angesehensten Gräzisten der Gegenwart: Gregory Nagy. Ausgerechnet der schon etwas betagte Nagy bietet seinen Studierenden The ancient Greek Hero in 24 Hours – als Buch und als Online-­Kurs. Nagy hat auch keinerlei Berührungsängste mit Multiple-­Choice-­Tests, denn das ist das vermutlich einzige Verfahren, um über die Leistungen von (Zig-) Tausenden, in den Kurs eingeschriebenen Studenten zu befinden. [➤  Nach der Interpretation, S. 56] Ob diese Verbreitung exklusiver Bildung tatsächlich demokratisierende Effekte zeitigt, bezweifelt Nathan Heller – der Nagy bei seiner neuen Arbeit liebevoll porträtierte – allerdings stark: Universitäten, die in Bedrängnis geraten, können Online-­Kurse in ihr Programm übernehmen, so wie es die San José State getan hat, und verschaffen damit ihren Studenten den Vorzug einer erstklassigen Ausbildung. Es gibt nur Gewinner. In Harvard, sagte man mir, immer wieder ‚Die steigende Flut hebt alle Schiffe an.‘ Aber stimmt das auch? Einerseits ja, wenn Universitäten wie Harvard und Stanford so etwas wie das Starbucks der höheren Ausbildung werden, indem

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605 Alle Angaben aus Christian Drösser/ Uwe Jean Heuser, Harvard für alle, in: Die Zeit, 14. März 2013, Nr.12, S. 35.

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606 Nathan Heller, Annals of Higher Education. Laptop U. Has the Future of college moved online?, in: The New Yorker, 20.05. 2013, (eigene Paginierung), S. 1 – 15, hier: S. 6 f. (Übs. v. Verf.).

607 Vgl. dazu etwa Maria Menzel, Harvard-­ Abschluss ohne Harvard, in: Die Welt, 05.07. 2014, S. 8. 608 Friedemann Bieber, ‚Manche würden bei den Vorlesungen am liebsten vorspulen‘: Wie ein Dozent das Unterrichten per Internet sieht. Ein Gespräch mit Bernard Cooperman, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05. 2014, Nr.117, S. N4. 609 Caspar Hirschi, Das Gerede von der Wissensgesellschaft. Kritik einer Akademikerideologie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08. 2012, Nr.177, S. N5.

sie als besonders gekennzeichnete Kurse auf dem Campus vor deiner Nase anbieten und viele Studenten aller Stufen erfolgreich dabei sind. Aber nur wenige von ihnen werden tatsächlich weiter entfernte Gestade des Erfolgs erreichen. Zugang zur Elitenbildung läuft nämlich eventuell stärker über den Zugang zu Eliten als über den Zugang zu Hörsälen.606

Die Kontrolle über die tatsächliche Absolvierung der Kurse wirft ebenfalls Probleme auf: Angebliche Prüfungen von (Hand-)Schriftproben als Login-­Beweis erwiesen sich als Farce. Privatwirtschaftlich betriebene Überwachungswebcams oder das Einscannen des Personalausweises scheinen zurzeit auch nicht gerade die am besten vermittelbare Lösung. Gerade deutsche Bildungsfunktionäre äußern sich auch kritisch zu vermeintlichen Internationalisierungseffekten: Mit dem ziemlich plausiblen Einwand beispielsweise, dass man etwas, das von zuhause zu erreichen ist, nicht mehr zum Anlass einer Reise ins Ausland nehmen muss. Die Anerkennung und Prüfung der Zertifikate ist noch ein weiteres großes Problem.607 Doch es gibt – politisch und geographisch bedingt – durchaus Nutznießer der Innovation. Bernard Cooperman, Historiker an der University of Maryland, spricht das unverblümt aus: Wenn man in Indien lebt und das MIT einem bescheinigt, einen Computerkurs erfolgreich abgeschlossen zu haben, dann kann ich mir vorstellen, dass das einen ökonomischen Vorteil bringt.608

* Dass der feste Glaube an „Bildungstitel und Zertifikate aller Art“ noch kein Beweis für eine ‚Wissensgesellschaft‘ ist, sondern eher für einen „gestiegenen Bedarf nach Ignoranzkompetenz in einem über weite Strecken medialisierten Informationsfluss“ 609, hat der Schweizer Ordinarius für Geschichte Caspar Hirschi dargelegt. Die Zirkulation der Vorlesung als Bildungsszene wurde seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durch Memoiren, Briefe, Mitschriften und schließlich öffentlich-­rechtliche Medientechnik ins Werk gesetzt. Wie aber 356

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kann heute diese Szene des Wissens gleichzeitig fluid und stabil, d. h. nacherzählbar und kommentierbar gemacht, aber eben auch im Rahmen der Institution gehalten werden? Diese Aufgabe müssten folgerichtig – neben Ringvorlesungen und Vortragsreihen – Uploading, Streaming, Blogging, Posting und Mailing übernehmen (können). [➤ Vernetzen,  S. 323] Die Vorlesung als szenische Form muss auch ins Netz gestellt werden, um ihr dadurch ihre zeitgemäße Zirkulation, ihre medientechnische Aktualität zu sichern. Die Universität kann MOOCs langfristig wohl nicht mit dem Argument abwehren, dass sie nur „das Andere der Universität markieren“, und sie nur „anerkennen, indem sie sie bekämpft und zeigt, dass sie besser ist“. Jochen Hörisch ruft in einem so kämpferischen wie luziden Artikel noch einmal diejenigen Werte und Formen auf, die in der Tat das komplexe Idealbild der Universität lange bestimmt haben: Produktive Abwesenheit und Einsamkeit, Kairos, Überzeitlichkeit und Unzeitgemäßheit, lang durchgehaltene Aufmerksamkeit, Bildung.

610

Wenn die Universität in das Format MOOC einsteigt, so könnte man Hörischs Abwehr auch lesen, darf der institutionell-­szenische Charakter der Vorlesung also nicht gänzlich verloren gehen. Es müssen die Ritualität und Institutionalität, d. h. die Zeitschemata der alten Institution, wenigstens zum Teil erhalten bleiben. Es kommt auf das Wie der Präsenz im Netz und auf das Wie der Zugänglichkeit an. Auch muss der Hörsaal als symbolischer Raum symbolisch erhalten bleiben – er fungiert selbst im Netz noch als ikonographischer Verweis auf die Universität als Institution.611 Schließlich sind neueste Forschungsimpulse zu berücksichtigen, die doch nur alte Wahrheiten aussprechen, die vor lauter Virtualitätsversessenheit in Vergessenheit gerieten: ‚Der Raum ist der dritte Pädagoge‘.612

* Gleichzeitig muss der Eindruck der Kulissenhaftigkeit oder der Show vermieden werden. Schon machen die Namen der angeblich ‚besten Performer‘ unter den Professoren an den Unis die Runde. Ein Ein357

610 Jochen Hörisch, Ein bezaubernd sturer Anachronismus. Über die Universität in Zeiten von MOOCs und Co, in: Forschung & Lehre 5 (2014), S. 354 f. 611 Vgl. Hartmut Boockmann, Ikonographie der Universität, in: Johannes Fried (Hg.), Schulen und Studium im Wandel des hohen und späten Mittelalters, o. O. (1986), S.  565 – 599. 612 Vgl. Marc Kirschbaum/ Katja Ninnemann, ‚Der Raum ist der dritte Pädagoge‘. Die Bedeutung von Lernräumen für eine zeitgemäße Hochschullehre, in: Forschung & Lehre 9 (2015), S. 738 f.

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stellen oder Erscheinen von Vorlesungen auf privatwirtschaftlichen Portalen wie YouTube, wie es derzeit schon massenhaft geschieht, wertet das ohnehin populäre Videoportal zur unterhaltungskonformen Bildungsinstitution auf, aber es schwächt möglicherweise die Idee einer Universität, die etwas anderes als Serviceleistung und Unterhaltungskultur im Tutorialformat sein soll. Die Universitäten müssen eigene Portale einrichten und pflegen, müssen formale Regeln für das Einstellen von Veranstaltungen und die Form der eingestellten Veranstaltungen selbst aufstellen. Eine Bildungsinstitution, die sich damit zufriedengibt, dass auch das ein oder andere aus ihrem Hause im eigenen oder fremden ‚Netz landet‘, gibt sich genauso auf wie eine Universität, die nicht über den Zustand und die Verfügbarkeit ihrer Hörsäle wacht. Genauso üblich ist es aber in diesen Debatten über Bildung, dass an anderer Stelle all diese Korrekturen, Bedenken oder Vorschläge einfach mit einem technologisch-­politischen Keulenschlag und einem ebenso heftigen utopischen Gestus vom Tisch gefegt werden. Die Entwicklung sei (schon) so stark, heißt es, sei so gegenwärtig und zwingend, dass man längst Teil eines ganz Neuen sei – auch wenn man es noch nicht gemerkt hat. Jeremy Rifkin gab hier – wie schon so oft – das Schlagwort vor: 613

Gegenwärtig klammern sich Universitätsadministratoren wie Fakul-

Jeremy Rifkin, Die Null Grenzkosten Gesellschaft, Frankfurt/M. – New York (2014), S. 178.

täten an die Hoffnung, dass ihre Weltklasse-­Online-­Kurse Studenten für eine konventionelle Art der Bildung gewinnen können, die tatsächlich Einkünfte bringt. Sie werden erst noch erkennen müssen, dass eine – von ihnen selbst geschaffene – Online-­Bildung zu Grenzkosten nahe null in einem globalen virtuellen Commons zunehmend das neue Lehrparadigma für höhere Bildung wird, während die traditionelle höhere Bildungsanstalt eine immer schmalere, lediglich ergänzende Rolle spielt.613

Online-­Bildung als Schlagwort setzt eine Technik (der Zugänglichmachung) an die Stelle einer Idee. Bildung wird zu konventioneller Bildung, zur Ergänzungsnahrung. Das ist Rifkins Befürchtung. 358

vortr agen

Schließlich: Lecture Performances? Das szenische Live-­Arrangement der Vorlesung selbst ist seit jeher komponiert aus der architektonischen Blicksteuerung im Hörsaal, aus der Gestik und modulierten Lautstärke der Vorlesenden, aus ihrer Pausenregie und ihrem bereitliegenden festen Skript. Dieses Live-­ Arrangement erzeugt idealiter periodische Kurzschlüsse zwischen der interessierten Hörerschaft und der schriftlich fixierten Gedankenführung des lehrenden Forschers im Zeichen von Verstehen. In dem mit der Nennung von erhöhtem Pult, Mikrofon, beweglicher Tafel bzw. illuminierendem Folienprojektor und aufsteigenden Sitzreihen fast schon vollständig angegebenen, recht spärlichen medialen Rahmen fand lange Zeit so ein dialogisch-­didaktisch vielleicht gezähmter, szenisch dafür aber forcierter Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden über eine je aktuelle Forschung statt. – Man könnte es im Nachhinein einen gelenkten Lehrdialog (mit einseitigem Zugang zu den medialen Machtmitteln) nennen. Es ging jedenfalls um mehr als stellvertretende Stoffbewältigung.

* Alternativen dazu innerhalb der Institutionen setzen nicht zufällig bei den hierarchischen Verhältnissen an. Unter den Stichworten Labor, Projekt, Werkstatt, künstlerisches oder experimentelles Forschen zeichnen sich allesamt Tendenzen ab, welche die Autoritätsverhältnisse (und damit die Hör- und Sprechverhältnisse) der gelehrten Kommunikation, die in der Vorlesungsszene kulminiert, variieren. Das Labor bringt gleichzeitig die Naturwissenschaften erneut ins Spiel. Das Sprachlabor gab es schließlich auch schon. [➤ Revolutionieren, S. 266] Am konsequentesten leistet das zurzeit die sogenannte Lecture Performance. Diese begriffliche Kreuzung aus Gelehrsamkeit und Kunst verlangt, das Präsentieren von Wissen nicht als eine der Forschung nachgeordnete Pflicht- und Lehrveranstaltung, sondern als ein Szenario der Wissenspoiesis zu erleben und zu betreiben.614

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614 Sybille Peters, Für die Einrichtung eines experimentellen Lecture Theatres an Universitäten!, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2014), S. 151 – 161, hier: S. 153.

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615 Vgl. nur Daniel Hornuff, Kann Kunst forschen?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 59. Jg. (2014), H.2, S. 225 – 233.

Man ist vielleicht geneigt, diese Form als endgültiges Ausschütten des Vorlesungskindes mit dem Bade des Experimentellen anzusehen. – Und es gibt viele gewichtige kritische Stimmen, die zu bedenken geben, dass mit dieser ‚Jubelprosa‘ für das sogenannte ‚künstlerische Forschen‘ nun der ideologische Kerngehalt eines längst überlebten Kunst-­Moderne-­Begriffs auf die wehrlosen Kulturwissenschaften übertragen wird 615, in denen es nach Meinung ihrer Verächter schon lange ‚um nichts mehr geht‘ (und die somit eine ideale Bühne für Scharlatane abgeben). Aber allein der riesige akademisch-­ begriffliche Aufwand, der getrieben wird, um das Künstlerisch-­ Experimentelle der Lecture Performance zu erläutern, lässt auch für das Universitäre der Form hoffen. Außerdem ist das Bewusstsein für das hier betonte szenische Element der Vorlesung zur Zeit nirgendwo größer. Wenn nun eine überaus berufene Autorin das Forschungsprogramm dieser Lecture Performances zusammenfasst, so mag sie kein befriedigendes Bild jener Lecture Performances liefern, aber eine nachdenklich stimmende Kritik der Vorlesung ist es allemal:

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So haben zwar die Wissenschaften den Anspruch, die Bedingungen

Sybille Peters, Für die Einrichtung eines experimentellen Lecture ­Theatres an Universitäten!, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2014), S. 152. Vgl. auch dies., Der Vortrag als Performance, Bielefeld (2011).

ihrer Wissensherstellung zu kontrollieren und zu gestalten, nicht jedoch die Bedingungen ihrer Wissensdarstellung. Dies unterscheidet die Wissenschaften deutlich von den Künsten und begründet zahlreiche Missverständnisse, die entstehen, wenn VertreterInnen beider Felder sich über Forschung austauschen. Ist doch die zwischen Beobachtung und Aktion hin und her wechselnde Variation der Darstellung, der Präsentation und Repräsentation auf der Szene das zentrale Merkmal szenischer Forschung.616

360

wiederholen

w ieder holen Der Bildungskanon Wiederholungen. Das Auffangen. Das Auffinden einer Methode. Kafka, Im Dunkel

der

Gasse

Es ist Zeit für ein Fazit: Die offene Frage einer zeitgemäßen Programmatik von Bildung lässt sich allein aus den Verhältnissen einer bis vor kurzem noch vorherrschenden Buchkultur nicht mehr beantworten. Das Verweisen auf einen Kanon beispielsweise, auf eine ausgewählte, scheinbar zeitlose Liste von Büchern und die in ihnen verkörperten Ideen kann nicht mehr die Antwort sein. Setzt diese Antwort doch die Vorstellung von Buchformaten und der Bibliothek als physischem Zentralort von Wissen voraus. Die Vorstellung einer hierarchisch geordneten Welt der Bücher und des Geistes ist mit den zumindest vergleichsweise wahllosen und vor allem gleichzeitigen gigantischen Bereitstellungskapazitäten der neuen Medien nicht mehr (selbst-) verständlich. Wenn alles immer so schnell verfügbar ist, muss man sich wohl kaum noch weniges wiederholend aneignen, um es ganz sicher zu haben. Bevor man aber das ganze Prinzip der Kanonisierung mitsamt der aus dem Zentrum von Bildung langsam aber sicher herausgravitierenden Buchkultur verabschiedet, sollte man sich lieber anschauen, was das Prinzip geleistet hat, dass es sich dort so lange halten konnte. Der Kanon existierte – stark vereinfacht – als Bücherliste, auf der nur sehr selten Ab- und Zugänge zu verzeichnen waren. Der ‚Wilhelm Meister‘ gehörte im Übrigen offiziell nie dazu.617 Bei dieser Liste ging es auch nicht einfach um irgendwelchen Lesestoff, auf den man sich geeinigt hatte. Das griechische Wort ‚Kanon‘ bedeutet ‚Maß‘, ‚Regel‘ oder ‚Bemessung‘ und stammte – als semitisches Lehnwort kanna (für Schilf) – aus der Bautechnik. Zunächst bezeichnete es die idealen (Körper-) Maßverhältnisse der altgriechischen Plastik und war eine Art Werkzeug. Mit ‚Maßstab‘ übersetzte es auch Paulus in seinem Brief an die 361

617 Vgl. Hermann Korte/ Ilonka Zimmer/ Hans-­ Joachim Jakob, Der deutsche Lektürekanon an höheren Schulen Westfalens von 1871 bis 1918, Frankfurt/M. – Berlin – Bern (2011).

teil 2 – die bildungsdebat te

618 Dazu: Hubert Cancik, Kanon, Ritus, Ritual – Religionsgeschichtliche Anmerkungen zu einem literaturwissenschaftlichen Diskurs, in: Maria Moog-­Grünewald (Hg.), Kanon und Theorie, Heidelberg (1997), S.  1 – 19.

619 Am besten analysiert und illustriert das Achim Hölter, Kanon und Text, in: Maria-­Moog Grünewald (Hg.), Kanon und Theorie, Heidelberg (1997), S.  21 – 39.

Galater [6,16]. Doch bedeutete es jetzt schon ‚Maßstab‘ im übertragenen ethischen Sinne. Dann änderte sich der Sprachgebrauch erneut – allerdings ohne dass der ethische Aspekt je wieder verloren ging. In der Bedeutung einer mehr oder weniger geschlossenen Autoren- oder Textliste erschien ‚Kanon‘ erstmals in einer kirchengeschichtlichen Abhandlung um 320 n. Chr. und meinte dort die biblischen Bücher. Anschließend tauchte er im Kirchenrecht des vierten nachchristlichen Jahrhunderts, der Kanonistik, als Begriff für juridisch gefasste Normen des Glaubens und der Gemeindeordnung auf.618

* Was aber war die Leistung des Kanons? Der Kanon organisierte eine relative Zeitresistenz der Inhalte und Formen, die er repräsentierte. Seine produktive und schützende Trägheit gegenüber schnelleren Gegenwarten schuf den Raum für (zunächst theologische) Bildung und stabilisierte die Institutionen, die verlässlich in den Umgang mit ihm einführten. Allen ‚Kanon‘ genannten Phänomenen wurde deshalb eine besondere Kraft zugesprochen.619 Ob im Ritual der Messe, ob in den Normen des Kirchenrechts oder in der autoritativen Zusammenstellung eines geschlossenen geheiligten Textkorpus – immer ging es um die Ausschaltung von aktueller Zeittaktung. Genau an dieser Stelle schloss das Bildungskonzept an das Kanon-­Prinzip an. Es versuchte für die Zeit der Bildung die sie umgebende Zeitordnung produktiv auszusetzen. Es versucht, einen eigenen ‚Zeit-­Raum‘ für die ‚Bildung‘ zu schaffen. Indem spezielle, qua Wiederholung verlangsamende Operationen im Umgang mit einem Kanon, der ja selber schon eine Engführung und Tempodrosselung darstellte, eingeübt wurden, reproduzierte man auch die Idee der Sonderzeit für Bildung. [➤ Verlangsamen, S. 314] Nach diesem Prinzip von Bildung machte gerade die Idee eines unmittelbaren Schritthaltens mit der Gegenwart und eines Zugriffs auf all ihre Möglichkeiten keinen Sinn. Auswahl, Verzögerung und Wiederholung bürgten hingegen für Qualität und Stabilität.

* 362

wiederholen

Diese Verhältnisse haben jede Selbstverständlichkeit verloren. Die Idee des Kanons hat eine sogenannte App sich zeitgemäß anverwandelt: Die App Blinkist bietet dem Nutzer – man ist froh, das Wort Leser hier vermeiden zu können – Bücher, die man kennen muss, Klassiker, in zehn Sätzen zusammengefasst, an. [➤ Applizieren, S. 68] So spart man Zeit und kann doch mitreden, so geht man heute noch als ‚gebildet‘ nach älteren Maßstäben durch, ohne denselben Aufwand wie früher treiben zu müssen. Die Möglichkeit der Aussetzung von aktueller Zeit dagegen mag in teuren Wellness- und Meditationsurlauben eine Rolle spielen, im Bildungssektor ist sie seit einiger Zeit unerwünscht. Die Forderungen des Tages sehen anderes vor. Wie aber findet man etwas zwischen Kanon und Blinkist? Immer noch geht es bei Bildung darum, etwas an die Hand zu bekommen, das die erneute Lektüre lohnt. Etwas, das die anderen auch aus demselben Grund gelesen haben. Die Gruppe etwas im Buch lesen zu lassen, um es dann zu kommentieren und zu diskutieren, bedarf größerer Synchronisationsanstrengungen als ein gemeinsamer Blick auf eine angestrahlte Wand. Wenn dort allerdings mehr als nur vom Rechner assoziativ versammelte Bilder (oder auch PowerPoint-­Textzeilen) zu sehen sind, dann wird auch hier häufigeres Nachfragen notwendig: ‚Sind Sie alle einmal mit dem Text durch?‘ Außerdem ist zu entscheiden, ob eine zweite Lektüre sinnvoll oder notwendig ist. Wird auf das Gelesene später argumentativ aufgebaut oder erscheint stetig Neues? Schon der Folienprojektor warf diese Probleme auf. Schneller als die nächste Folie sind heute allerdings mehrere Tausend „weitere Bilder zum Thema“ greifbar. Mit dieser nachdrängenden Überfülle aber wird das Prinzip der Wiederholung zusätzlich aus dem Zentrum der Bildung herausgedrängt.

* Warum aber war Wiederholung so wichtig? Eine Antwort gibt der schon mehrfach zitierte Historiker Reinhart Koselleck. Indem Koselleck Fernand Braudels Formel der longue durée aufgreift und differenziert, kommt er zu einem überzeugenden Modell von Kultur und Bildung, das eben auf Wiederholung beruht. Wiederholung ist die 363

teil 2 – die bildungsdebat te

620 Eugen Rosenstock, Soziologie: Die Kräfte der Gemeinschaft (1925), S. 103. 621 Reinhart Koselleck, Einleitung (2000), in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. (2003), S. 9 – 16, hier: S. 12 ff.

622 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. (2009), S. 14.

eigentlich Kultur-­initiierende Operation: „Es ist der gebildete Mensch, der allein der Wiederholung von Formen fähig ist“ 620, schrieb Eugen Rosenstock in seiner Soziologie von 1925. Koselleck wird ihm in genau dieser Grundannahme folgen und sie ausarbeiten: Entweder handelt es sich bei der ‚longue durée‘ um geographisch oder biologisch einkreisbare Vorbedingungen, deren Dauer sich dem menschlichen Zugriff weitgehend entzieht. Oder aber es handelt sich um Wiederholungsstrukturen, die der Mensch bewusst aufnimmt, ritualisiert, kulturell anreichert und auf jene Stetigkeit einspielt, die seine jeweilige Gesellschaft stabilisieren hilft.621

Erst Wiederholungsstrukturen konstituieren also Kultur. Eine Geschichte entsteht aus der Bewegung – individuell wie kollektiv –, die mit der Wiederholung unter veränderten Bedingungen eine Gewichtung, einen Akzent gewinnt – und natürlich irgendwann auch verschiebt. „Es ist an der Zeit“, hieß es vor kurzem (dieses Wissen wieder aufgreifend), „den Menschen als das Lebewesen zu enthüllen, das aus der Wiederholung entsteht“ 622. Alle diese beobachteten Strukturen und Abläufe, die im Kern Praktiken, Gebrauchsformen, Schemata und Routinen sind, haben verschiedene Zeithorizonte und sind deshalb abschichtig gestaffelt [R. Koselleck]. Diese abschichtige Staffelung größerer, aber unterschiedlich dichter Zeitflöze durchzieht auch das Subjekt, macht das integrierte ‚Gefälle‘ (P. Sloterdijk) aus, was an ihm Kultur ist. Es geht um Formen und Phasen der Ablagerung, Überlagerung, Verschiebung und Komprimierung, oder auch – alternativ – des spurlosen Durchfließens. Das Wort ‚Schicht‘ ist hier mehrdeutig, wie Ernst Jünger in An der Zeitmauer von 1959 betont: Wenn wir im Laufe der Betrachtung ‚Zeiten‘ zuweilen als ‚Epochen‘ und zuweilen als ‚Schichten‘ behandeln und wenn die Unterscheidung nicht scharf genug hervortritt, so gleicht das den Influenzen zweier Ströme durch die Isolierung hindurch. Es soll aber nicht korrigiert werden, da es tief in der Wirklichkeit gegründeten Identitäten

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wiederholen

entspricht. Auch in der Geologie hat das Wort ‚Schicht‘ einen sowohl

623

stratographischen wie chronologischen Sinn.

Ernst Jünger, An der Zeitmauer (1959), in: ders., Sämtliche Werke Bd. 8: Der Arbeiter. Der Arbeiter/ Maxima-­Minima. Adnoten zum Arbeiter/ An der Zeitmauer, Stuttgart (1981), S. 399 – 645, hier: S. 503.

623

Eine Ergänzung wollen wir gerade angesichts einer Bemerkung des (Sand-)Uhren-­Fachmanns Ernst Jünger 624 machen: Kulturelle Zeithorizonte, als Bedingung für kontrollierte Wiederholung, werden für Menschen bekanntlich erst durch technische Medien organisiert. Die Uhr oder der Kalender und ihre verschiedenen Funktionsprinzipien, als „Instrumente der Verzahnung natürlicher und kultureller Zeitformen“ 625 sind die einfachsten Beispiele. Das Beispiel voneinander abhängiger Gebets- und Arbeitsordnungen der christlichen Mönche ist schon eine hochkulturelle und komplexe Spielart davon. Kulturelle Zeithorizonte sind Umgangsweisen in und mit Medien, sind „operative Akteure und dynamische kulturelle Institute“ (A. Honold).

Bildung und Routine? Bildung hat, das dürfte deutlich geworden sein, neben einer philosophischen auch mindestens eine recht schnöde Seite: Sie überführt ausgerechnet den Umgang mit Besonderem, mit Wertvollem, in Routinen. Diese Routinen helfen dabei, dass sich Besonderes zu langfristiger Wirksamkeit sedimentieren kann. Das ist eine paradoxale Struktur, denn Bildung besondert etwas und/oder jemanden, indem sie den Umgang damit routiniert, Bildung ‚staffelt abschichtig‘ (Koselleck), Bildung ‚stabilisiert durch Schematisierung‘ (A. Gehlen) und ‚Wiederholung‘ (Rosenstock). Klar ist damit auch, dass Bildung auswählen muss, damit überhaupt ‚wiederholt‘ werden kann. Weil es dafür Strukturen, Infrastrukturen, technische Umgebungen [➤ Umgeben,  S. 307] braucht, braucht man auch die Medien(-geschichte) in der Bildungsgeschichte.626 Die Rede von den neuen technischen – digitalen – Lehr-/Lernumgebungen, die es natürlich immer schon gibt, ist allerdings nur ein Gemeinplatz. Sie ist nur die je aktuelle Gestalt des allfälligen Fortschritts- und Modernisierungsdiskurses. Richtig ist an dieser Rede, dass – auch in den Bildungsinsti365

624 Vgl. Ernst Jünger, Das Sanduhrbuch, Frankfurt/M. (1957). 625 Alexander Honold, Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur, Basel (2013), S. 72. Vgl. auch insgesamt Harold Innis, Ein Plädoyer für die Zeit (1950), in: ders.: Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hg. v. Karlheinz Barck, Wien – New York (1997), S.  120 – 146.

626 Vgl. Dirk van Laak, Infra-­Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 27. Jg., H.3 (2001), S.  367 – 393.

teil 2 – die bildungsdebat te

tutionen – ein neuer Ausgleich zwischen exponentiell wachsenden Speicherkapazitäten, ganz neuen, entscheidend erleichterten und schnellen Bedienungskulturen hochtechnischer Interfaces und ‚Bildung‘ gefunden werden muss. Falsch ist an dieser Fortschrittsrede die implizite Verkennung, dass die reine Geschwindigkeit, die reine Kapazität, der reine Komfort als Standards von Bildungsinstitutionen noch nichts über die Ziele, die Nachhaltigkeit und die Effizienz von Bildung aussagen. Die unreflektierte, nur als Fortschritt propagierte Übernahme technoider Parolen in ältere Institutionen verunsichert zunächst nur deren Programme, ohne neue, haltbare an ihre Stelle zu setzen. Das ist eine alte theoretische Einsicht: 627 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1958), 7. Aufl., Frankfurt/M. (2016), S. 48.

Wenn Institutionen im Geschiebe der Zeiten in Verfall geraten, abbröckeln oder bewusst zerstört werden, fällt die Verhaltenssicherheit dahin, man wird mit Entscheidungszumutungen gerade da überlastet, wo alles selbstverständlich sein sollte.627

Bildungsumgebungen sind empfindlich, denn sie bestehen aus verschachtelten Umgebungsringen mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften, Tempi und Techniken, die sich im Subjekt eben nur abschichtig gestaffelt, durch Wiederholung abbilden lassen. Solche technisch, institutionell und ideell gestaffelten Umgebungsringe kann man gar nicht durch einen einzigen neuen schnellen Technikstandard ersetzen. Das liegt unter anderem daran, dass der Mensch – egal welche Anthropologie man heranzieht! – kein eindimensionales, kein mit einem einzigen technischen Standard mental und historisch synchronisierbares Wesen ist. Er hat ja immer noch eine Biographie in der Zeit, d. h. setzt sich immer noch aus verschiedenen Lebensaltern und Epocheneinflüssen zusammen, tauscht sich immer noch auf komplexe Weise mit verschiedenen Umwelten und Umgebungen gleichzeitig oder aber in einer je spezifischen Reihenfolge aus. [➤ Prägen, S. 222] Der Mensch braucht für unterschiedliche Austauschprozesse immer noch signifikant unterschiedliche Tempi und Ressourcen. Auch eine neueste komplexe Anthropologie formuliert das so:

366

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Jede Kulturtheorie ist für einäugig zu halten, die nicht auf die Ten-

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denzen des kulturellen Lebens zur Ausbildung interner Mehrstöckig-

Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Berlin (2009), S. 208.

keit achtet – und zwar nicht nur in Abhängigkeit von politischen Hierarchien.628

* So schließen sich auch um ein zunächst leeres, möglicherweise aber genetisch schon relativ stark vorgeprägtes Zentrum der handelnden Personen weitere Umgebungsringe: Neben der Epoche noch die der Familie, der Schule, der Universität, des Betriebs, des Vereins oder der spezifischen Geographie. Umgebungen aktivieren überhaupt erst die Gene, sagen Neurobiologie und Genforschung. Das klingt nach dieser Reihe durchaus plausibel. Wie es sich anfühlt, wenn all das wegfällt, beschreibt schon Friedrich Schlegel in seinem einzigen Roman Lucinde von 1799: „Er hatte nie weniger eine Ansicht vom Ganzen seines Ichs. Er lebte nur in der Gegenwart, an der er mit durstigen Lippen hing.“ 629 Peter Sloterdijk nannte dasselbe Phänomen einmal das „Universum der synchronen Quer-­Nachahmungen“ 630. Eine Stärke des Bildungssystems muss es sein, das Bewusstsein für diese verschachtelten und gestaffelten, nicht vollends synchronisierbaren Verhältnisse des einzelnen Menschen zu schärfen und die Produktivität von Ungleichzeitigkeit vorzuführen. ‚Totale Gegenwart‘ ist nicht umsonst ein Schreckbild aus Science-­Fiction-­Filmen, als Bildungsziel taugt es nichts. [➤ Revolutionieren, S. 266] Tempo- und Intensitätswechsel – um im Bild zu bleiben – müssen eingebaut werden, um Räume der Reflexion des unmittelbar Erfahrenen zu ermöglichen. Aus diesen Gegebenheiten, den Wiederholungsstrukturen mit Schwerpunktoder Akzentverschiebung, lässt sich auch leichter erklären, warum Ideen von Bildung häufig nur ungefähre, irgendwie verschobene Wiederaneignungen und Verlängerungen vergangener historischer Ideen und Epochen (in die je aktuellen Verhältnisse hinein) sind. Arnold Gehlen beschrieb das für einen äußerst prominenten Fall einmal so: „In Deutschland fiel die nach einem imitierenden Vorspiel sehr spät 367

629 Friedrich Schlegel, Lucinde. Idylle über den Müßiggang (1799), Frankfurt/M. – Berlin (1980), S. 53. 630 Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-­ genealogische Experiment der Moderne, Frankfurt/M. (2014), S. 225.

teil 2 – die bildungsdebat te

631 Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt/M. – Bonn (1969), S. 181.

nachgeholte Renaissancebewegung mit einer feudalistischen Aufklärung zusammen: Geist von Weimar.“ 631

* Aber auch aktuelle Technikkulturen, die meistens als schnelle Unterhaltungsumgebungen den Jugendlichen zuerst begegnen, können die schon genannten Umgebungen spielend überwölben. Musik, Sport [➤ Trainieren,  S. 298] oder – je nach Perspektive – ein zunächst für abseitig gehaltenes Spezialinteresse zwischen Freizeit und Professionalisierung können in Bildungsprozessen alternativ relativ früh und selbstständig zum Vorschein kommen. Voraussetzung dafür ist, dass die jeweils neueste Unterhaltungsumgebung mit ihrer technoiden und dynamischen Attraktivität dafür noch Platz gelassen hat. Denn auch hier gilt: Was in einem schnellen Takt als Anregungsmasse aus der hochtechnisierten Unterhaltungsumgebung abwechslungsreich bereitgestellt wird, muss dann zu Bildungszwecken aktiv, durch Training einer Sache, isoliert und vertieft werden. [➤ Verlangsamen, S. 314] Bildung kann Technikstandards aus der Konsumumgebung nicht ignorieren, muss seine eigenen Leistungsparameter aber in die von Unterhaltung abweichende, anders intensivierte Programmatik und Umgebung von Bildung umformulieren.

*

632 Vgl. die Debatte zwischen Christoph Meinel, Heike Schmoll und Wolfgang Schimpf auf der Seite Bildungswelten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 01.06. 2017, Nr.126, S. 7.

Der Hoffnungsträger der Gegenwart in dieser Hinsicht heißt derzeit Cloud. Dass etwa eine spezielle Schul-­Cloud von Spezialisten betreut und installiert wird 632, ist ja nicht deswegen eine gute Idee, weil nun die fällige Technisierung – Stichwort ‚Digitalisierungsoffensive‘ oder ‚Digitalpakt‘ – auch dort endlich statthat. Das wäre höchstens ein gutes Geschäft für die Entwickler. Es ist eine gute Idee, weil nur diese technische Lösung die normalen Bereitstellungsressourcen und -geschwindigkeiten (jenes die Schule umlagernden WorldWideWeb und seiner Interfaces) etwas kontrollierbarer macht und abstuft. Aber wenn sich StaatssekretärInnen, MinisterInnen und DirektorInnen privatwirtschaftlicher ‚Forschungsinstitute‘ von einem Pilotprojekt 368

wiederholen

‚Schul-­Cloud‘ auf Länderebene in einer gemeinsamen Stellungnahme vor allem „einen deutlichen Schub in der digitalen Bildung versprechen“ 633, ohne jede methodische und inhaltliche Vorstellung, was ‚digitale Bildung‘ denn nun ist, dann könnte es eng werden für die deutsche Bildungsidee. Über ‚bildende Operationen‘ in, mit und an der Cloud ist bisher aus guten Gründen nicht gesprochen worden. Bildung und Technik sind eben nicht einfach zur Deckung zu bringen. Alle ‚Argumente‘ sind bisher rein tautologischer Natur:

633 Vgl. ela, Aufbau einer Schul-­Cloud. Projektpartner unterzeichneten Absichtserklärung, in: Preussenspiegel v. 06.03. 2019.

Die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ist schon heute sehr

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stark von digitalen Technologien geprägt. Digitale Technologien müs-

Nach ela, Aufbau einer Schul-­Cloud. Projektpartner unterzeichneten Absichtserklärung, in: Preussenspiegel v. 06.03. 2019.

sen (!) daher im Schulalltag selbst genutzt werden.634

Dass Schülerinnen und Schüler „jederzeit und überall Zugang zu Lern- und Lehrmaterialien haben“ (müssen)635, ist das einzig erkennbare ‚Argument‘ in der Debatte. Aber ist es eins? Hat es an Lehr- und Lernmaterialien gefehlt in Deutschland? Waren Bücher zuletzt wieder knapp? Kulturtechniken sind etwas anderes als eine dominante aktuelle Technikkultur oder ein aktueller Technikstandard, der unbedingt (von allen) erreicht und passiv ausgeübt (‚ausgeführt‘) werden muss. Längerfristige Deckungsgleichheit zwischen solchen Kulturtechniken (des Lernens) und einer aktuell dominanten Infrastruktur ist in diesem Zusammenhang gar nicht denkbar. [➤ Ausstatten, S. 80] Denkbar wäre als Methode und Lerninhalt die Technik selbst, d. h. diese Technik nicht nur nach den Vorstellungen von politisch protegierten Monopolisten zu benutzen oder anzuwenden, sondern sie zu verstehen. Dafür müsste es ein Schulfach, nein Schulfächer, geben, die die Geschichte des Programmierens und das Programmieren selbst zum Thema machen, die die Theorie, Geschichte und Praxis solcher Technologien als Kulturtechniken verständlich machen, die die Schülerinnen und Schüler über die Geschichte, Ästhetik und Funktionsweise von aktuellen und historischen Infrastrukturen aufklären – Anfertigung und Anwendung inbegriffen (Flanke zu Mathematik, Physik, Geographie und Geschichte sperrangelweit offen). 369

635 Nach ela, Aufbau einer Schul-­Cloud. Projektpartner unterzeichneten Absichtserklärung, in: Preussenspiegel v. 06.03. 2019.

teil 2 – die bildungsdebat te

* Erst wenn der und dem Einzelnen Möglichkeiten des Vergleichens zwischen Kulturtechniken und Technikkulturen, Möglichkeiten, ihre Ergebnisse (praktisch, historisch, ästhetisch und theoretisch) zu beurteilen, eingeräumt werden, erst wenn diese Ermöglichung in Erziehungsprogrammen über lange Zeiträume stabil angelegt wird, erst wenn eine Institution in der Lage ist, Innovation und Tradition über einen langen Zeitraum in ein ebenso stabiles Verhältnis zu bringen, erst dann können wir auch von der Bedingung der Möglichkeit von Bildung ausgehen. Ausgerechnet davon aber scheinen wir uns gerade unbedingt entfernen zu wollen. Mein Buch über die ‚Deutsche Bildungsidee und digitale Globalisierung‘ soll aber nicht mit drei Zitaten enden, die ich ganz gegen Ende der Arbeit, fast am letzten Tag ihrer Fertigstellung, einer Gratis-­ Wurfzeitung mit dem seltsamen Titel ‚Preussenspiegel‘ entnommen habe, die zufällig – in einen Packen von etwa 20 Exemplaren eingeschnürt und von Regenfeuchte schon leicht gewellt – vor meiner Haustür lag und zu etwa 80 Prozent aus regionaler Werbung bestand. Abgesehen davon, dass die Zitate doch allzu nichtig erscheinen, soll in dieser Angelegenheit auch ein Klassiker das letzte Wort haben. Der Autor des folgenden Zitats war allerdings weder Deutscher, noch schrieb er in der Zeit, in der ich den Ursprung der deutschen Bildungsidee angesiedelt habe. Trotzdem war er schon erheblich früher, im einsamen Umgang mit sich selbst sozusagen, zu Einsichten gelangt, die noch heute wie ein Vorschein auf die Ideen wirken, die hier hoffentlich angemessen thematisiert worden sind und noch vielen den Weg zur ‚Bildung‘ öffnen mögen: Der Lehrer soll von seinem Zögling verlangen, dass er nicht nur den Wortlaut der jeweiligen Lektion wiederzugeben vermag, sondern auch deren Sinn und Substanz; und zum Prüfstein für den Nutzen, den der Zögling hieraus zog, nehme er nicht dessen Gedächtnis, son-

370

wiederholen

dern seine Lebensführung. Er lasse ihn das frisch Erlernte in hun-

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derterlei Formen umsetzen und es auf ebenso viele Gegenstände

Michel de Montaigne, Essais (1572 – 92), Bd. I/ Abs. 26, erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M. (1998), S. 83.

anwenden, um zu sehen, ob er es bereits richtig erfasst und sich zu eigen gemacht hat.636

371

Anhang

textnachw eise

t ex t nach w eise Ohne zu wissen, dass ich dieses Buch einmal schreiben würde, habe ich das folgende, sehr lange Kapitel zum ‚Wilhelm-­Meister‘-Komplex veröffentlicht: ‚Er läse hinter einem Vorhange am allerbesten.‘ – Zur mediengeschichtlichen und poetologischen Kontroverse über ‚epische Dichtung‘ im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller [in meinem Buch Der Roman vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750 – 2000), Freiburg/Br. (2004), S. 125 – 174]. Viel, viel später entstand eine erste (unveröffentl.) Skizze mit dem Titel Was kann Bildung heute (noch) heißen? anlässlich eines Vortrags im Rahmen des Workshops ‚Empirie und Ideologie einer Gesellschaft des langen Lebens und Lernens – Verklärung oder Gestaltungschance‘ im Bundesministerium für Bildung und Forschung [Referat 316 – Weiterbildung] am 03. 12. 2015 in Berlin. Als erste Veröffentlichung erschien das Essay ‚Bildschirm beerbt Bildungsroman?‘, in: Literarische Welt, 22. August 2015, S. 7. Ebenfalls eingegangen ist der unveröffentlichte Vortrag Bildung und Umgebung, gehalten an der Université de Luxembourg im Rahmen der Tagung ‚The Ends of the Humanities‘ vom 10. – 14.09. 2017. Die Kapitel ‚Punkten‘ und ‚Kritisieren‘ erschienen als ‚Bildung und Umgebung. Wege aus der pädagogischen Provinz‘ in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hefte 820/821 (August/ September 2017). Zugrunde lag dieser Publikation ein Vortrag im Zentrum für Qualitätsentwicklung in Lehre und Studium (ZfQ) der Universität Potsdam im Februar 2017. Das Kapitel ‚Spielerisch lernen‘ ging aus einem Vortrag im SS 2017 im Rahmen der Ringvorlesung ‚Videospiele als didaktische Herausforderung‘ an der Universität Potsdam hervor und erschien unter 375

anhang

dem Titel „Was bedeutet der alte Topos vom ‚spielerischen Lernen‘ für die neuen ‚Games‘ und die Schule?“ in: Sebastian Möring/ Nathanael Riemer (Hg.), Videospiele als didaktische Herausforderung [= Reihe DIGAREC Series], Potsdam (2019), S. 14 – 41. Das Kapitel ‚Fernsehen‘ wurde zum Teil veröffentlicht in: Julia Schuhmacher/ Andreas Stuhlmann (Hg.), Die ‚Hamburgische Dramaturgie‘ der Medien. Egon Monk – Autor, Regisseur, Produzent, Marburg (2017), S.  235 – 241. Das Kapitel ‚Radikalisieren‘ wurde unter dem Titel ‚Radikalisierung und Medienbildung‘ zuerst abgedruckt in Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 810 (Nov. 2016), S. 79 – 88. Das Kapitel ‚Reformieren‘ wurde in einer kürzeren Version zuerst veröffentlicht unter dem Titel ‚Der Reformer‘ in: ‚Die Welt‘, 25. April 2017, S. 21. Das Kapitel ‚Wiederholen‘ beruht zum Teil auf Gedanken aus meinem Artikel ‚Kanon‘, in: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Hamburg (2001), S. 295 – 298. Das Teilstück ‚Nach dem Ende von Kanon und Interpretation‘ durfte ich in einer ersten Fassung im November 2018 bei einem Workshop zu ‚Digitalisierung und Bildung‘ an der Université de Luxembourg vortragen. Der Grundgedanke des Kapitels ‚Fabrizieren‘ wurde zuerst formuliert in: ‚Das Groschenheft als Bildungsfaktor oder die Zähmung der Einbildungskraft. Ernst Jüngers Roman Die Zwille von 1973 wiedergelesen‘, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 63, H.2 (2018), S. 321 – 330. Alle anderen Kapitel und Textteile wurden für dieses Buch geschrieben. Der Abdruck der Abbildung von Eugen Rosenstock-­Huessy (S. 5) erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Raymond Huessy. 376

da nksagung

da nk sagung Bei diesem Thema geht es nicht anders: Ich danke meinen Lehrerinnen und Lehrern. Dass dabei der ganze Passus etwas länger als gewöhnlich gerät, ist ebenfalls dem Thema geschuldet. Ich komme nicht umhin, damit ein paar Stationen des eigenen Bildungswegs zu erwähnen. Aus der Zeit an der ‚Grund- und Volksschule‘ Oldeborg-­ Upende (Ostfriesland) danke ich: Elisabeth Goldenstein, Elfriede Schönherr (†) und Günter Hensel (†). Letzterem besonders für eine dreibändige ‚Reise in die Vergangenheit‘ (Westermann, 1970) und stellvertretend für alle Lehrerinnen und Lehrer, die es in den Kriegswirren aus dem heutigen Polen, Russland und Tschechien in den 1940er Jahren in das denkbar fernste Ostfriesland verschlug, wo sie in den folgenden Jahrzehnten eine echte Bildungsrevolution ausgelöst haben. So wie am Gymnasium Ulricianum Aurich: Norbert Backa († , aus Oberschlesien) für eine frühe Ermutigung, Inka Gibbs (†) für ein Weihnachtslied, Frauke Fleßner für die Droste, für Eichendorff, für Büchner, Kleist und für Hölderlins ‚Heidelberg‘, Wilfried Breyer, Edzard und Waltraud Bruns für die Carmina Burana (bzw. für ein hartes Jahr mit Vergil zu acht) und vor allem ­Focke Focken für Grimmelshausen, Gryphius, Heym, Musil und fast grenzenloses Vertrauen. Auf keinen Fall vergessen will ich den Dank an Heinrich Below (†) aus Mühlheim/R. (für diverse Bruckner-­Audio-­Kassetten), Jan Klinkenborg (†) aus Emden (für eine Intervention), Peter von Oertzen (†) für ein langes Gespräch (über einen ‚Mann ohne Eigenschaften‘) in Hannover, Hera und Richard Berndt (für tausend Gespräche in ihrem Haus in Victorbur), Falk Rössler, Felix Grigat, Sebastian Möring und Nathanael Riemer, Sophia Rost und den Mitgliedern des ZfQ der Universität Potsdam (jeweils für eine Einladung), Ekkehard Knörer und Christian Demandt (für viel redaktionelle Geduld mit meinen vorabgedruckten Texten im ‚Merkur‘), Johanna Höflich (für ihren Sinn für Proportionen und Farben) und meinem Kölner Lehrer Ernst 377

anhang

Vollrath (†) für einen (bis heute) unerschöpflichen Vorrat an Themen, Fragen und Begeisterungen. In Potsdam mussten Jan Distelmeyer, Julian Drews, Judith Pietreck, Kai Knörr, Fritz Schlüter, Christian Richter, Eik Dödtmann und ­Susanne Müller das Thema ununterbrochen mit mir diskutieren, obwohl sie manchmal einfach nur in Ruhe essen oder lieber über ihre eigenen Themen sprechen wollten. Ihre tapfere Bereitschaft war entscheidend für den Abschluss meines lange Zeit unabsehbaren Projekts. Dankbar bin ich auch allen anderen Kolleginnen und Kollegen aus dem Studiengang ‚Europäische Medienwissenschaft‘, die in unzähligen Sitzungen der letzten drei Jahre klaglos hinnahmen, dass ich immer wieder einmal mit den Gedanken Richtung Weimar, Griechenland oder pädagogische Provinz entschwand – anstatt (so wie sie) mitzuhelfen, konzentriert und verantwortungsvoll die Tagesordnung abzuarbeiten. Marie-­Luise ­Angerer versorgte mich schon morgens früh aus dem Regionalexpress kontinuierlich mit Zeitungsartikeln zum Thema, um sie später zu thematisieren. Einzelne Gespräche und Mailwechsel mit Luis Muñiz (Köln), Christian Dawidowski (Osna­ brück), Steffi Bahro (Potsdam) und Harun Maye (Weimar) sorgten an Stellen schnell für Klarheit, die mir lange dunkel erschienen. Mein langjähriger Kommilitone, Freund und Kollege Matthias Bickenbach war jederzeit ansprechbar, denn er schrieb im selben Zeitraum ein Buch zum selben Thema. Wahrscheinlich ein Besseres. Große Unterstützung erfuhr ich über Jahre immer wieder an der Philosophischen Fakultät der Université de Luxembourg. Mein Dank gehört ganz besonders Georg Mein, außerdem Wilhelm Amann, Till Dembeck und Jennifer Pavlik. Die für mein Thema zentrale Arbeit mit dem Nachlass Eugen Rosenstock-­Huessys am Dartmouth College, ­Hanover/ N. H. erlaubte mir vor Ort die großzügige Einladung als Harris Distinguished Visiting Professor. Ich danke Jane Carroll vom Harris Advisory Board und besonders Petra McGillen. Dann Bruce Duncan, Ellis Shookman und Eric Miller vom dortigen German Department. Großer Dank gebührt auch Morgan Swan von der Rauner Special Collections Library. Nationale Förderinstitutionen konnte ich 378

da nksagung

trotz entsprechender Anträge leider nicht von der Güte oder Dringlichkeit meiner Fragestellung und Arbeit überzeugen. Das tut mir leid. Dafür half das Dekanat meiner Universität mir auf den letzten Metern des Buchs auf fast schon unbürokratische Weise. Ich möchte mich dafür ganz herzlich bei Thomas Brechenmacher und Mike Unger (und in diesem Zusammenhang auch bei Martin Schmidt) bedanken. Auch Jeltje Anna Schmidt und Jannes Weicht lieferten ihren Beitrag bzw. unzählige Bücher und Kopien. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des BA-Seminars ‚Bildung. Ein vorläufiger Rückblick‘ im WS 2015/16 sorgten für anregende Diskussionen (und Hausarbeiten) zum Thema. Stefanie Diekmann und Volker Wortmann aus Hildesheim diskutierten mit uns und informierten uns im Rahmen dieses Seminars über ‚Filmbildung‘. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Harald Liehr vom Böhlau Verlag hatte von der ersten Erwähnung an ein offenes Ohr für meine Wilhelminische Idee. Das machte Mut. Wenn dieser Mut dann doch ab und zu einmal gänzlich abhandengekommen war, sorgte ein Telefonat mit Köln über ‚die Sache‘, mit Dietz Bering, sofort für neuen Mut und neue Ideen. Das geht nun schon so seit fast 30 Jahren und soll nie aufhören. Dass mein anderer akademischer Lehrer und Freund, Wilhelm Voßkamp, das Themenfeld vermutlich besser kennt als jede und jeder andere, durfte ich mir ebenfalls immer wieder zunutze machen. Am meisten verdankt das Buch dem nicht abreißenden transatlantischen Austausch mit Nikolaus Wegmann. Denn nur die Möglichkeit des Vergleichens gibt auch die Möglichkeit des Erkennens an die Hand. Schließlich waren Geduld und Kritik meiner Frau Alena (und unserer Kinder) entscheidend. Für sie wünsche ich mir besonders, dass das Buch auch etwas geworden ist. Potsdam, April 2019

379

anhang

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von:

Wilhelm Meisters Lehrjahre

(1795/96), in: ders., Sämtliche Werke Bd. 5, hg. v. Hans-­Jürgen Schings, Münchner Ausgabe, München – Wien (1988). Goethe, Johann Wolfgang

von:

Letzte Jahre 1827 – 1832, in: ders.,

Sämtliche Werke Bd. 18.1, hg. v. G. Henckmann u. D. Hölscher-Lohmeyer, Münchner Ausgabe, München – Wien (1988). Goethe, Johann Wolfgang

von:

Bildungstrieb (1810), in: ders., Zur

Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erster Band, zweites Heft, Stuttgard u. Tübingen (1820). Goethe, Johann Wolfgang

von:

Wilhelm Meisters Wanderjahre/Ma-

ximen und Reflexionen (1821/ 1829), Werke in zwölf Bänden, Bd. 7, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, 4. Aufl., Berlin (1981). G o e t s c h , P a u l : Von Bücherwürmern und Leseratten. Der Motivkomplex Lesen und Essen, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-­Gesellschaft 37 (1996), S. 381 – 406. G o f f , J a c q u e s L e : Geld im Mittelalter, Stuttgart (2011). G ö r r e s , J o s e p h : Die teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat (1807), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803 – 1808), hg. v. G. Müller, Köln (1926), S. 169 – 293. G r a f t o n , A n t h o n y : Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin (1995). G r a u , A l e x a n d e r : Keine Bedenken und leider auch kein Denken, in: Cicero, 26. August 2017.

390

liter atur

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel

von:

Des Abenteuer-

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von:

Systemzwang und Selbstbestimmung. Über die

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va n d e r :

Leibniz im Netz. Die frühneuzeitliche Post als

Kommunikationsmedium der Gelehrtenrepublik um 1700, Hameln (2009). H e u z e r o t h , T h o m a s : Jeder zweite ist on, in: Die Welt, 08. 12. 2018, S. 12. H i l l , C h r i s t op h e r : Protestantismus, Pamphlete, Patriotismus und öffentliche Meinung im England des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. (1991), S. 100 – 120.

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G e r h a r d (H g .): Begriffswörterbuch

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et al.

( H g . ) , Die deutschen Studenten. Der

Kampf um die Hochschulreform. Eine Bestandsaufnahme, München (1969). Jahrbuch

für

H i s t o r i s c h e B i l d u n g s f o r s c h u n g B d .   2 0 : Schwer-

punkt Maschinen, Redaktion: Marcelo Caruso u. Christian Kassung, Bad Heilbrunn (2015). J a s p e r s , K a r l : Von der Wahrheit, München (1947). J a u m a n n , H e r b e r t : Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden – New York – Köln (1995). J a u s s , H a n s R o b e r t : Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1982), Frankfurt/M. (1997). J e i s m a n n , M i c h a e l : Das Vaterland der Feinde: Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792 – 1918, Stuttgart (1992). J u d t , T o n y : Das Chalet der Erinnerungen, München (2012). J u d t , T o n y : Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München (2006). J ü n g e r , E r n s t : An der Zeitmauer (1959), in: ders., Sämtliche Werke Bd. 8: Der Arbeiter/ Maxima-­Minima. Adnoten zum Arbeiter/ An der Zeitmauer, Stuttgart (1981), S. 399 – 645. J ü n g e r , E r n s t : Annäherungen. Drogen und Rausch (1970), [= Sämtliche Werke 13. Essays V, überarb. TB-Ausg.], Stuttgart (2015).

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von:

Die Sowjetunion und ihr Bildungs-

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anhang

und Legitimation des öffentlich-­rechtlichen Rundfunks (Historische Kommission der ARD), Leipzig (2015), S. 21 – 34. K u r b j u h n , C h a r l o t t e : Kontur. Geschichte einer ästhetischen Denkfigur, Berlin – New York (2014). K u r b j u h n , C h a r l o t t e : Winckelmann exzerpiert um sein Leben, singt lutherische Lieder und wird glücklicher als der Grossmogul. Sprachund Stilideale im Werdegang eines ‚klassischen‘ Autors, in: Elisabeth Décultot et al. (Hg.), Winckelmann. Moderne Antike, München (2017), S.  53 – 65. L a R occ a , C l a u d i o : Das Schöne und der Schatten. Dunkle Vorstellungen und ästhetische Erfahrung zwischen Baumgarten und Kant, in: Heiner F. Klemme et al. (Hg.), Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, Bielefeld (2006), S. 19 – 64. Laak, Dirk

va n :

Infra-­Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesell-

schaft, 27. Jg., H.3 (2001), S. 367 – 393. Laak, Dirk

va n :

Alles im Fluss: Die Lebensadern unserer Gesellschaft –

Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt/M. (2018). Laak, Dirk

va n :

Infrastrukturen und Macht, in: François Duceppe-­

Lamarre (Hg.), Umwelt und Herrschaft in der Geschichte, München (2008) S.  106 – 114. L a n i e r , J a r o n : ‚Könnte man das Internet in die Luft jagen?‘, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 12. 2018, Nr. 289, S. 15. L a n k a u , R a l f : Bildungshäppchen, frei Haus geliefert. Mit seiner Digitaloffensive unterläuft das Bildungsministerium den Bildungsföderalismus und hebelt nebenbei die Grundrechte aus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 12. 2016, Nr. 292, S. N4. L a s l e t t , P e t e r : Verlorene Lebenswelten: Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft (1965), Frankfurt/M. (1991). L e a v i s , F. R./ T h o m p s o n , D e n y s : Culture and Environment: The Training of Critical Awareness, London (1933). L e g e n d r e , P i e r r e : Die bevölkerte leere Bühne. Notizen zum kinematographischen Emblem. In: Rüdiger Campe/Michael Niehaus (Hg.), Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider. Heidelberg (2004), S.  43 – 56.

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L e g e n d r e , P i e r r e : Die Liebe des Zensors. Versuch über die dogmatische Ordnung (1975/ 2005), Schriften Bd. 8, Wien – Berlin (2016). L e g e n d r e , P i e r r e : Eine dogmatische Bewertung des Ästhetischen, in: Ruedi Baur (Hg.), Das Gesetz und seine visuellen Folgen, Leipzig (2005), S.  342 – 364. L e g e n d r e , P i e r r e : Die Narbe. An die Jugend, die begierig sucht … Rede vor Studenten über Wissenschaft und Unwissen (2007), in: ders., Vom Imperativ der Interpretation, Wien – Berlin (2010), S. 11 – 64. L e r s c h , P h i l i pp : Der Aufbau des Charakters, Leipzig (1938). L e n i n , W. I.: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution (1917), Bücherei des Marxismus-­Leninismus Bd. 17, Berlin (1948/ 1951), S. 108. L e n i n , W. I.: Clausewitz’ Werk Vom Kriege. Auszüge und Randglossen. Vorwort u. Anmerkungen v. Otto Braun, Ost-­Berlin (1957). L e p e n i e s , W o l f : Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München (1985). L é v i - ­S t r a u s s , C l a u d e : Anthropologie in der modernen Welt, Berlin (2012). L i c h t e n s t e i n , E r n s t : Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckhart bis Hegel, Heidelberg (1966). L i e h r , D o r o t h e e : Ereignisinszenierung im Medienformat. Proteststrategien und Öffentlichkeit – eine Typologie, in: Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart (2007), S. 23 – 36. L i e s s m a n n , K o n r a d P a u l : Was weiß die Wissensgesellschaft? in: ders., Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (2008), 9. Aufl., Wien (2014), S. 26 – 49. L i l t i , A n t o i n e : The Invention of Celebrity, Cambridge (2017). L i n d e m a n n , T h o m a s : Gefangen in einem Keller in den Südstaaten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.02. 2017, Nr. 5, S. 53. L i n d e m a n n , T h o m a s : Spiel mir das Lied vom Tod, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09. 11. 2006, Nr. 40, S. 50. L i pp e , R u d o l f

zur:

Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am

Menschen in der Renaissance, Reinbek b. Hbg. (1988). L i pp s , H a n s : Die menschliche Natur, Frankfurt/M. (1941).

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va n :

Vom Kontinent zur Union: Gegenwart und Ge-

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von:

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von:

Vom Nationalcharakter durch

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Die Comedian Harmonists – Sechs Lebensläufe: BRD, 1976, Eberhard Fechner. Die Anfrage: BRD, 1962, Egon Monk. Die Dämonen, TV-Vierteiler: BRD / ​AUT / ​HUN, 1977, Claus Peter Witt. Die Geschwister Oppermann, TV-Zweiteiler: BRD, 1983, Egon Monk. Die Gewehre der Frau Carrar: BRD, 1975, Egon Monk. Die Räuber: BRD, 1969, Egon Monk. Die Sopranos: USA, 1999 – 2007, HBO. Die Welle: D, 2008, Dennis Gansel. Die Wolke: D, 2006, Gregor Schnitzler. Ein Tag: BRD, 1965, Egon Monk. Er nannte sich Hohenstein – Aus dem Tagebuch eines deutschen Amtskommissars im besetzten Polen 1940 – 1942: D, 1994, Hans-­Dieter Grabe. Furcht und Elend des Dritten Reiches: BRD, 1964, Rolf Busch / ​Peter Michel Ladiges / ​Marcus Scholz / ​Claus-­Peter Witt. Gilmore Girls: USA, 2000 – 2007, The WB. Grabbes letzter Sommer: BRD, 1980, Shorab Shadud Saless. Heimat: D, 1984 – 2013, ARD / ​Arte. How I Met Your Mother: USA, 2005 – 2014, CBS. Industrielandschaft mit Einzelhändlern: BRD, 1970, Egon Monk. La Paloma: BRD, 1988, Eberhard Fechner.

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Lenin – Drama eines Diktators: D, 2014, Ulrich H. Kasten. Lockruf des Goldes, TV-Vierteiler: BRD / ​FRA / ​AUT / ​ROU, 1975, Wolfgang Staudte / ​Serge Nicola. Lost: USA, 2004 – 2010, ABC. Mad Men: USA, 2007 – 2015, AMC. Mauern: BRD, 1963, Egon Monk. Münchhausen: BRD, 1966, Fritz Umgelter. Nachrede auf Klara Heydebeck: BRD, 1969, Eberhard Fechner. Taboo: UK, 2017 – , BBC One. Tadellöser & Wolff, 2 Teile: BRD, 1975, Eberhard Fechner. The Wire: USA, 2002 – 2008, HBO. Top Of The Lake: AUS / ​USA / ​UK, 2013 – , Sundance Channel / ​BBC / ​Arte. Transplantation: BRD, 1985, Rolf Busch. True Detective: US, 2014 – , HBO. Utopia: BRD, 1983, Sohrab Shadid Saless. Vor dem Sturm, TV-Sechsteiler: BRD / ​AUT, 1984, Franz Peter Wirth, ARD  / ​ ORF.

420

personenregister

per sonenr egist er A

Bosse, Heinrich ​95 Brauer, Charles ​152 Brecht, Bertolt ​151 f. Brenan, Gerald ​124 Büchmann, Georg ​33 Burckhardt, Jacob ​75 Bürger, Gottfried August ​130 Busch, Rolf ​152 f. Butler, Eliza Marian ​99, 103 f.

Abbt, Thomas ​141 f. Adorno, Theodor W. ​140, 341, 351 Agricola, Georg ​230 Ahlsen, Leopold ​149 Aischylos ​ 103 Anderson, Benedict ​197, 242 Aquin, Thomas von ​332 Aristoteles ​ 289 Arnim, Achim von ​130 Asmodi, Herbert ​149 Assmann, Arno ​152

C Campe, Joachim Heinrich ​121 f., 141 Canetti, Elias ​123 Carlyle, Thomas ​125, 132, 139 f., 305, 309, 326 Cassirer, Ernst ​218 Chladenius, Johann Martin ​203 Cicero, Marcus Tullius ​118 Clausewitz, Carl von ​113, 249, 269 Comte, Auguste ​310 Conrad, Joseph ​250, 256 Cooper, James Fenimore ​138 Corneille, Pierre ​109 Cuvier, George ​225

A Bacon, Francis ​234 Bally, Charles ​341 Balzac, Honoré de ​310, 136, 139 Bantzer, Christoph ​149 Baumgarten, Alexander Gottlieb ​ 95 f. Bayle, Pierre ​191 Benjamin, Walter ​278, 348 Berendis, Hieronymus Dietrich ​ 100, 111 Bergala, Alain ​153 Bessen, Edgar ​151 f. Beuys, Joseph ​221 f. Blackwell, Thomas ​115 Bloch, Ernst ​223 f. Bloom, Harold ​155 Bloy, Léon ​80 f. Blumenbach, Johann Friedrich ​28 Blumenberg, Hans ​277 Böhme, Jakob ​232 f. Borchardt, Rudolf ​348 Börne, Ludwig ​153, 351

D Defoe, Daniel ​68, 115, 122, 141, 158 Diderot, Denis ​115 Dilthey, Wilhelm ​101, 345 – 347 Doderer, Heimito von ​76 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch ​ 136, 149 Drucker, Peter Ferdinand ​171 Dubos, Pierre ​95 Dumas, Alexandre ​141

421

anhang

E

Görres, Joseph ​130 Grabe, Hans-Dieter ​150 Grass, Günther ​152 Grimm, Jacob und Wilhelm ​130, 348 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von ​307 Grosz, George ​151 Gumbrecht, Hans Ulrich ​15, 208

Eichberg, Henning ​207 Eliade, Mircea ​223 Emerson, Ralph Waldo ​305 Eyth, Max von ​329

F Fairley, Barker ​236 Fassbinder, Rainer Werner ​152 Fechner, Eberhard ​149, 152 Fermor, Patrick Leigh ​124 Fest, Joachim ​152 Fetscher, Iring ​58 Feuchtwanger, Lion ​151 Fichte, Johann Gottlieb ​102, 335 Flaubert, Gustave ​80, 334 Flusser, Vilém ​68 f., 210 f., 340 Follett, Ken ​281 Fontius, Martin ​101, 112 Ford, Henry ​168 Forster, Georg ​330 f. Foucault, Michel ​42, 340 – 343 Franckenberg, Abraham von ​232 Frese, Jürgen ​285, 287 Freud, Siegmund ​36, 162, 182, 225 Freyer, Hans ​210 – 212, 215 f., 233, 350 Große, Friedrich der ​328 Friedrichsen, Uwe ​152 Fuessli, Johann Heinrich ​116

H Hasenclever, Walter ​149, 153 Haucke, Gert ​151 f. Hauff, Wilhelm ​131, 138 – 142, 324, 326 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm ​ 53, 112, 339 f. Heidegger, Martin ​32, 218, 340 Heinrich, Klaus ​85 Hemingway, Ernest ​141 Hentig, Hartmut von ​219 f. Herder, Johann Gottfried ​29, 97, 107, 232 Herodot ​ 103 Hitler, Adolf ​212, 267, 303 Hobbes, Thomas ​267, 307 Hoffmann, Benno ​152 Hoger, Hannelore ​152 Holborn, Hajo ​97, 158, 207, 210 f. Hölderlin, Friedrich ​53, 97, 112 Homer ​ 43, 100, 103, 107 f., 115 f., 119 Hörisch, Jochen ​357 Humboldt, Alexander von ​121 f., 141, 213, 225 Humboldt, Wilhelm von ​29, 69, 147, 217 f., 233, 239, 258, 303, 336 Hutton, James ​224

G Gadamer, Hans-Georg ​69, 72 f. Gehlen, Arnold ​155, 158, 183, 210 f., 214, 240, 341, 365, 367 Gesner, Johann Matthias ​98 Girard, René ​182, 253 Gneisenau, Neidhardt von ​113, 269 Goethe, Johann Wolfang von ​17, 21, 27 – 30, 78, 97, 102, 132, 139, 156 f., 159, 161, 225, 238, 277, 291, 295, 299, 303, 305, 309 f., 321, 334 Gogol, Nikolai ​330 f.

I Illich, Ivan ​210 f., 230, 270 f. Immermann, Karl ​131 f.

422

personenregister

J

Lermontow, Michail Jurjewitsch ​ 330 f. Lévi-Strauss, Claude ​59 Lévinas, Emmanuel ​218 Liebig, Justus ​131 Lipps, Hans ​122, 210 f., 287 Littau, Karin ​204 Loos, Adolf ​157, 320 Lübbe, Hermann ​285, 323 Luther, Martin ​98, 269

Jacobi, Ernst ​151 Jaspers, Karl ​164 Jauss, Hans-Robert ​152 Jobs, Steve ​329 Jomini, Antoine-Henri ​171 Judt, Tony ​125 f. Jung, Carl Gustav ​225 Jünger, Ernst ​91, 132, 200, 210 f., 215, 217, 248 f., 274, 276, 295, 300, 364 f. Justi, Carl ​98, 105

M Macron, Emmanuel ​113 Maier, Hans ​238 Malaparte, Curzio (eig. Suckert, Kurt Erich) ​304 – 306 Malinowski, Bronisław ​76 Malthus, Thomas Robert ​130 Man, Paul de ​288 Mann, Thomas ​125, 141, 195, 215, 232 Mannheim, Karl ​226 Tse-tung, Mao ​198 Marcu, Valeriu ​248 f. Marx, Karl ​225, 249, 254 McLuhan, Marshall ​142, 181, 184 Meier, Georg Friedrich ​95 Melanchthon, Philipp ​105 Melville, Herman ​139 Menge, Wolfgang ​149 Meyrink, Gustav ​55 Moleschott, Jacob ​131 Mommsen, Theodor ​214 Monk, Egon ​149, 151 f. Morgenstern, Karl ​36 Morus, Thomas ​177 Müller, Adam ​173, 249, 340 Müller, Lothar ​139 Mumford, Lewis ​142, 210, 229 Münchhausen, Hieronymus Carl Friedrich von ​132, 142, 149 Musäus, Karl ​130 Musil, Robert ​320

K Kaczynski, Theodor ​256 Kafka, Franz ​331 Kant, Immanuel ​112, 187, 258 Kaufeld, Heini ​152 Khittl, Ferdinand ​149 Kieling, Wolfgang ​152 Kissinger, Henry ​90 Kleist, Heinrich von ​57 Klett, Ernst ​77 Kopernikus, Nikolaus ​266 Koselleck, Reinhart ​108, 127 f., 219, 226 f., 363 – 365 Kretschmann, Winfried ​42 Kun, Béla ​249

L Laak, Dirk van ​82, 189 Lamprecht, Karl ​212 Lang, Jack ​153 Lanier, Jaron ​115 Lawrence, Thomas Edward ​124 Lechtenbrink, Volker ​149 Legendre, Pierre ​226, 354 Leibniz, Gottfried Wilhelm ​93, 192, 234 Lenin (eig. Uljanow, Wladimir Iljitsch) ​ 153, 245 – 252, 254, 257, 330 Lenz, Jakob Michael Reinhold ​97

423

anhang

R

Musk, Elon ​329 Bonaparte, Napoleon ​93, 269, 335

Nasser, Abdel Gamal ​269 Natorp, Paul ​258 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig ​ 258 Nietzsche, Friedrich ​201, 248, 340, 344 Nolte, Ernst ​217 Novalis (eig. Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) ​159, 161, 225, 232 Nowotny, Helga ​53, 314

Raabe, Wilhelm ​133, 199, 236 Ranke, Leopold von ​345 – 347, 351 Rezzori, Gregor von ​206 Richardson, Samuel ​115 Ricoeur, Paul ​113 Riemann, Fritz ​260 Rifkin, Jeremy ​358 Roeck, Bernd ​317 Rosenstock-Huessy, Eugen ​34, 98, 185, 210 f., 268, 301 f., 305, 336 f., 364 f. Rousseau, Jean-Jacques ​118 Rowling, Joanne K. ​155 Rutschky, Michael ​40, 162, 200

O

S

Ortega y Gasset, José ​210, 311 Orwell, George ​177, 205

Saint-Just, Louis Antoine de ​268 Saless, Sohrab Shahid ​149 Salomon, Ernst von ​152 Sartre, Jean-Paul ​141 Saussures, Ferdinand de ​341 Schamoni, Peter und Ulrich ​149 Schapp, Wilhelm ​122, 161, 210 f. Scharnhorst, Gerhard von ​113, 269 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph ​53 Schelsky, Helmut ​192 Schiller, Friedrich ​29, 97, 112, 151, 281 – 283, 288, 296, 321 Schlaffer, Heinz ​116, 119 Schlegel, Friedrich ​102, 249, 367 Schleiermacher, Friedrich ​29, 258 Schmidt, Harald ​324 Schmitt, Carl ​110, 249 Schnabel, Gottfried ​141, 158 Schnitzler, Gregor ​147 Schöffler, Herbert ​103, 210 – 212, 307 Scholz, Hans ​149 Schöningh, Ferdinand ​77 Schopenhauer, Arthur ​248 Schubert, Heinz ​152 Schygulla, Hanna ​149

N

P Paracelsus (eig. Hohenheim, Theophrastus Bombastus von) ​ 231 Pausewang, Gudrun ​147 Perrault, Charles ​108 Pessoa, Fernando ​332 f. Pestalozzi, Johann Heinrich ​258 Pieper, Josef ​16, 155, 275 Platon ​ 311 Platonow, Andrei ​330 f. Plessner, Helmuth ​116 Pohl, Witta ​149, 152 Pooch, Jürgen ​152 Popitz, Heinrich ​286, 340 Pörksen, Uwe ​82 Posegga, Hans ​149 Pot, Pol ​268

Q Qualtinger, Helmut ​149 Quintilian (eig. Marcus Fabius Quintilianus) ​ 234, 347

424

personenregister

U

Scott, Walter ​138 f., 324 Sechehaye, Albert ​341 Sinkel, Bernhard ​152 Sloterdijk, Peter ​21, 37, 128, 189, 197, 267 f., 273, 277, 306, 364, 367 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand ​ 310 Sophokles ​103 Spengler, Oswald ​226 Spielhagen, Friedrich ​351 Spitzer, Leo ​210 f., 307, 309 f. Stael, Germaine de ​156 Stalin, Josef ​247, 267 Steinbuch, Karl ​165 Steiner, Rudolf ​225 Stendhal (eig. Henri Beyle) ​156 Stifter, Adalbert ​225 Stöcker, Adolf ​214 Stolberg, Friedrich Leopold zu ​153 Strack, Günter ​149 Strauß, David ​344 Strehler, Giorgio ​152 Sturz, Helfrich Peter ​109 Suchanow, Nikolai ​153 Süvern, Johann Wilhelm ​258 Syberberg, Hans-Jürgen ​151 Systrom, Kevin ​329

Uexküll, Jakob von ​310 f. Uhden, Wilhelm ​258 Ulbrich, Walter ​149 Umgelter, Fritz ​149

V Valentin, Thomas ​150 Valery, Paul ​90 Virchow, Rudolf ​213 f. Virilio, Paul ​278 Voss, Johann Heinrich ​153

W Warhol, Andy ​221 Weber, Max ​129, 161, 184, 265, 339 Weerth, Georg ​351 Weil, Hans ​210, 216 Wezel, Johann Karl ​141 Wicki, Bernhard ​147 Wieland, Christoph Martin ​29, 36, 97, 116, 119, 159 Wildenhahn, Klaus ​152 Wildt, Michael ​217 Winckelmann, Johann Joachim ​ 33, 86, 96 – 101, 103 – 112, 114, 116 – 120, 199, 303 Wirth, Franz Peter ​149 Wischnewksi, Siegfried ​152 Witt, Claus Peter ​149 Wolf, Friedrich August ​258

T Taine, Hippolyte ​310 Tappert, Horst ​152 Taubes, Jacob ​218 Thoreau, Henry David ​305 Thorpe, George ​172 Tieck, Wilhelm ​144 f. Toelle, Tom ​149 Trotzki, Leo ​153, 269 Tschechowa, Vera ​152 Tucholsky, Kurt ​151 Turkle, Sherry ​353 Turner, Fred ​330

X Xenophon ​ 103, 304

Y Yeats, John ​225

Z Zapatka, Manfred ​149 Zappa, Frank ​186 Zech, Rosel ​152 Zemecki, Robert ​141 Zola, Emil ​141, 310

425

Weitere Bücher des Verfassers Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen, Berlin: Akademie (1999); 2. Aufl./ Reprint Berlin – New York: de Gruyter (2015). Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750 – 2000), Freiburg i. Br.: Rombach (2004). Amok. Geschichte einer Ausbreitung, Bielefeld: Aisthesis (2008). Crux Scenica. Eine Kulturgeschichte der Szene von Aischylos bis YouTube, Bielefeld: Transcript (2016).