Freiheit - eine Inventur: Zwischen Betreuungspolitik und digitaler Selbstentmündigung 9783839465523

Freiheit ist eines der höchsten Güter der Menschheit. Doch warum untergraben wir sie durch ein Denken in Sachzwang- und

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Freiheit - eine Inventur: Zwischen Betreuungspolitik und digitaler Selbstentmündigung
 9783839465523

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
1. Theorie
1.1 Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen…
1.2 Individuum und Kollektiv
1.3 Die Abwesenheit äußerer Hindernisse
1.4 Autonomie
1.5 In freier Entscheidung gegen die Autonomie?
1.6 Mills Voraussetzungen und die ›Befehlsgewalt der Gesellschaft‹
1.7 Das Paradox der besten Wahl
1.8 Das Dogma der Effizienz
1.9 Nudging: der Mensch als Maschine
1.10 Selbstoptimierung
1.11 Veränderte Verhältnisse
2. Praxis
2.1 Konformismus
2.2 ›Big Data‹
2.3 Weiter so! – Der ›Naturalistische Fehlschluss‹
2.4 Grenzen der Verantwortung
2.5 Das höchste Ziel
2.6 Folgen
2.7 Sozialer Determinismus
2.8 Virtuelle Freiheit: Ein Ersatz für die reale?
2.9 Staatlicher Übergriff und Selbstermächtigung
2.10 Smarter Totalitarismus
2.11 Die Macht der Mehrheit
2.12 Ökonomie
2.13 Einfache Sprache
2.14 Unbegrenzte Möglichkeiten
2.15 Die Freiheit der Andersdenkenden
2.16 Covid19: Comeback des Kollektivismus
2.17 Fazit
3. Anhänge
Anhang 1 – Willensfreiheit
Anhang 2 – Neo/Liberalismus
4. Quellen und Anmerkungen
Quellenverzeichnis
Anmerkungen

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Karl Hepfer Freiheit – eine Inventur

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Karl Hepfer

Freiheit – eine Inventur Zwischen Betreuungspolitik und digitaler Selbstentmündigung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sabine Erdbrink und Karl Hepfer Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-6552-9 PDF-ISBN 978-3-8394-6552-3 EPUB-ISBN 978-3-7328-6552-9 https://doi.org/10.14361/9783839465523 Buchreihen-ISSN: 2364-6616 Buchreihen-eISSN: 2747-3775 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorbemerkung .......................................................... 11

1.

Theorie

1.1

Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen… ................ 17

1.2 Individuum und Kollektiv ....................................... 21 ≡ Benthams ›Panopticon‹............................................25

1.3 Die Abwesenheit äußerer Hindernisse .......................27 ≡ Biometrie .......................................................... 32

1.4 Autonomie ....................................................... 35 1.5 In freier Entscheidung gegen die Autonomie? ................................................. 39 ≡ Wohnraumüberwachung ........................................... 42

1.6 Mills Voraussetzungen und die ›Befehlsgewalt der Gesellschaft‹ ............................ 45 ≡ ›Smarte‹ Todessehnsucht .......................................... 48

1.7

Das Paradox der besten Wahl ................................. 49 ≡ Schuldvermutung ................................................. 53

1.8 Das Dogma der Effizienz ....................................... 55 ≡ Nichts geht verloren ............................................... 57

1.9 Nudging: der Mensch als Maschine .......................... 59 ≡ ›Wearables‹........................................................ 66

1.10 Selbstoptimierung .............................................. 69 1.11 Veränderte Verhältnisse ....................................... 73

2. Praxis 2.1 Konformismus ...................................................79 2.2 ›Big Data‹ ........................................................ 83 2.3 Weiter so! – Der ›Naturalistische Fehlschluss‹ ............ 87 2.4 Grenzen der Verantwortung .................................... 91 2.5 Das höchste Ziel ................................................ 95 2.6 Folgen ............................................................ 101 2.7 Sozialer Determinismus .......................................105 2.8 Virtuelle Freiheit: Ein Ersatz für die reale? ................ 109 2.9 Staatlicher Übergriff und Selbstermächtigung ............. 115 2.10 Smarter Totalitarismus ........................................ 121 2.11 Die Macht der Mehrheit ........................................ 125 2.12 Ökonomie ........................................................ 127 2.13 Einfache Sprache ............................................... 129 2.14 Unbegrenzte Möglichkeiten ................................... 131

2.15 Die Freiheit der Andersdenkenden ...........................133 2.16 Covid19: Comeback des Kollektivismus ..................... 137 2.17 Fazit .............................................................. 141

3. Anhänge Anhang 1 – Willensfreiheit ........................................... 149 Anhang 2 – Neo/Liberalismus .......................................153

4. Quellen und Anmerkungen Quellenverzeichnis .................................................... 159 Anmerkungen .......................................................... 167

Inzwischen haben wir begriffen, dass es bei diesen Technologien nie um Beziehungen zueinander, sondern um Macht über andere ging. E. Snowden

Vorbemerkung

Die Steinzeit endete vor gut 8000 Jahren mit dem Wechsel zur Metallverarbeitung. So steht es im Lehrbuch. Heute wissen wir, dass dieses Zeitalter erst 1983 wirklich zu Ende war. Denn erst in diesem Jahr brachte eine Elektronikfirma aus Schaumburg/Illinois das erste Mobiltelefon auf den Markt. Es hörte auf den Namen Motorola Dynatac und kostete ein Vielfaches aktueller High-End-Modelle. Mit den Nachfolgern des Dynatac verbringt jeder Mensch in diesem Land heute knapp vier Stunden seiner Lebenszeit – pro Tag und im Schnitt.1 Dauerte der flächendeckende Umstieg vom Faustkeil auf Messer, Löffel, Axt und Sägeblatt um die 300 Generationen, so vollzog sich der Siegeszug der Elektronik to go in nicht einmal einer Generation. Heute ist das mobile Endgerät ein ständiger Begleiter fast jedes Deutschen jenseits des Grundschulalters. Weltwahrnehmung, Kontaktpflege, Orientierung, Einkauf, Freizeitgestaltung – ohne Handy und Internet geht inzwischen für die meisten so gut wie nichts mehr. Das hat Folgen. Eine der wichtigsten betrifft eine grundlegende Zutat unseres Lebens: unsere Freiheit. Während allgemeine Unzufriedenheit und Reizbarkeit, Abgelenktheit und verkürzte Aufmerksamkeit, Vernachlässigung der realen Umgebung und Gesundheitseffekte als Folgen des durchelektronisierten Alltags gelegentlich ins Bewusstsein drängen, bleiben die Konsequenzen für unsere Freiheit in der Regel unsichtbar. Jedenfalls solange man nicht bewusst hinsieht. Denn anders als bei einer militärischen Sonderaktion, die Menschen die Hoheit über ihre Lebensführung und ihr Land nehmen soll, liegt der Schaden für die Freiheit hier nicht offen auf der Hand. Es ist ein Freiheitsverlust der kleinen Schritte, der im Zusammenwirken einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren entsteht. Die elektronischen Handschmeichler und unser Online-Verhalten sind dabei nur ein Aspekt, wenn auch ein wichtiger. Weitere sind (unter anderem) eine Politik der ständigen

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Freiheit – eine Inventur

Bürgerbeschwichtigung und -betreuung, wie sie in den letzten Jahren üblich geworden ist, ein Dauerkrisenmodus, der die öffentliche Kommunikation regelmäßig an ihre Grenzen führt, eine Nachlässigkeit bei staatlichen Kernaufgaben, die sich nicht zuletzt in einer sogenannten Optimierung des Gesundheits- und des Bildungswesens niederschlägt, die Art und Weise wie wir miteinander umgehen. Die Entwicklungen wirken zusammen und arbeiten weitgehend unter dem Radar daran, unserer Freiheit auf mittlere und lange Sicht ihr Fundament zu entziehen. Für ein besseres Verständnis des Zusammenspiels, müssen wir ein wenig ausholen. Denn nicht nur die Wechselwirkungen und Vielfältigkeit der einzelnen Entwicklungen trüben hier den Blick, sondern auch die Tatsache, dass die Frage nach der Freiheit nicht irgendeine Frage ist. Im Gegenteil, sie betrifft den Kern unseres modernen Gesellschaftsund Selbstverständnisses. Darauf weist schon die Vielzahl von Kombinationen hin, in denen uns das Wort begegnet: Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Reisefreiheit, Religionsfreiheit und andere. Dies hat seinen Teil dazu beigetragen, dass der Freiheitsbegriff über die Zeit zu einer Chiffre von vagem Inhalt und hoher Beliebigkeit geworden ist,2 die es den unterschiedlichsten Gruppen ermöglicht, sich unter seinem Banner zu versammeln. Dabei ist nicht zuletzt der begriffliche Nebel, der die Freiheit umgibt, dafür verantwortlich, dass wir uns in ihrem Umfeld an viele widersinnige Denkfiguren gewöhnt haben. So scheint es gegenwärtig beispielsweise völlig normal zu sein, denjenigen, die unsere Freiheit mit Terror und Bomben beseitigen wollen, mit dem reflexhaften Ruf nach einer rigiden Einschränkung oder sogar nach der weitgehenden Abschaffung bürgerlicher Freiheiten zu begegnen. Die Freiheit soll hier im Namen der Freiheit eingeschränkt werden – um den Freiheitsfeinden ihr Handwerk zu legen. Ähnliches gilt für die fürsorgliche Einhegung der Bürger im Namen ihrer eigenen Freiheit, eine Denkfigur, die auch in offenen Gesellschaften inzwischen zum Standardinventar des Regierungshandelns gehört. Und zwar eben auch dort, wo sie keinerlei Berechtigung hat. Ein zentrales Anliegen des folgenden Textes ist es, den Blick für den Begriff und die Sache zu schärfen, so dass es leichter fällt, unzulässige Berufungen auf die Freiheit zu erkennen – und entsprechend zu handeln. Dies verlangt zunächst eine Beschäftigung mit den theoretischen Hintergründen, beginnend beim Ursprung unserer modernen Freiheitsvorstellung in der Aufklärung. Und zwar, weil viele der Fragen

Vorbemerkung

und Themen, die uns heute in diesem Zusammenhang beschäftigen, zu jener Zeit das erste Mal systematisch diskutiert wurden und weil diese Diskussion unseren Blick bis heute prägt. Es lässt sich daher nicht vermeiden, dass es gleich zu Beginn etwas kompliziert wird. Die gute Nachricht ist jedoch, dass es im zweiten Teil, in dem es um die Anwendung der in Teil eins gewonnen Einsichten auf die aktuelle Lage geht, deutlich einfacher zugehen wird. Wer etwas Geduld aufbringt und sich den theoretischen Grundlagen im ersten Teil stellt, erfährt, warum die Überlegungen und Antworten von damals in der Diskussion zwar noch sehr präsent sind, aber oft nicht mehr richtig greifen. Und er erfährt auch, wie die verschiedenen Aspekte der Freiheit miteinander verzahnt sind und welche aktuellen Entwicklungen deshalb besondere Aufmerksamkeit erfordern. Vorrangiges Ziel der Darstellung ist es, aus den grundsätzlichen (philosophischen) Überlegungen zum Thema einen Nutzen für die Beurteilung unserer gegenwärtigen Situation zu ziehen. Letzte Antworten wird es dabei, wie so oft in der Philosophie, keine geben. Wer nach ewigen Wahrheiten sucht, muss sich bei der Konkurrenz und ihren Glaubensgewissheiten umsehen. Wer dagegen das eigene Nachdenken den absoluten Wahrheiten vorzieht, ist hier richtig. Die gedankliche Auseinandersetzung wird seinen Blick und seine Urteilskraft schärfen und die Kenntnis der Zusammenhänge wird seine Argumentation in der Sache stärken. Der Schwerpunkt der Analyse liegt dabei, wie angedeutet, eher auf den wenig sichtbaren Mechanismen, die dabei sind, das Fundament unserer Freiheit ernsthaft und dauerhaft zu schädigen, als auf dem Versuch, Menschen durch Waffengewalt ihrer Freiheit zu berauben. Vorweg an dieser Stelle noch eine kurze Bemerkung zur Organisation. Die Anmerkungen, von denen es einige gibt, stehen hinter dem Haupttext. Dies mag lästig sein, weil es zum Umblättern zwingt. Da sich hier aber nicht nur Quellennachweise finden, die bequem am Seitenende Platz gefunden hätten, sondern auch längere Erläuterungen, die den Lesefluss unterbrechen, ist dies die elegantere Lösung. Hinzu kommt, dass, wer erst im Anschluss an den Haupttext einen Blick in die Anmerkungen wirft, ohne allzu häufiges Zurückblättern auskommen dürfte. Hannover, im März 2022

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1. Theorie

1.1 Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen…

»Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, ist die, unser eigenes Wohlergehen auf unsere eigene Weise zu verfolgen, solange wir dabei nicht versuchen, anderen ihre Freiheit zu nehmen oder ihre Bestrebungen behindern, ihr Wohlergehen zu erreichen«.1 Diese wirkungsmächtige Bestimmung stammt aus einem Schlüsseltext über die Freiheit. Er wurde Mitte des vorletzten Jahrhunderts von John Stuart Mill (1806–1873) der Öffentlichkeit vorgestellt. Dort bezieht der britische Philosoph die Freiheit offensichtlich bereits auf das Zusammenleben. Doch wie verhält es sich mit ihr vor jeder Vergesellschaftung des Menschen, also in einem (imaginierten) ›Naturzustand‹,2 in dem jeder auf sich allein gestellt für sein Überleben sorgt? Ist Freiheit wenigstens dort das Vermögen, jederzeit tun und lassen zu können, was auch immer wir wollen? Oder steht sie auch hier schon unter Einschränkungen? Eine kurze Überlegung macht deutlich, dass die überaus naheliegende Bestimmung der Freiheit als Vermögen, tun und lassen zu können, was immer wir wollen, auch hier schon nicht zutrifft. Zwar müssen wir im Naturzustand keine Rücksicht auf andere Menschen nehmen, doch die Natur selbst setzt uns klare Grenzen. Unsere Biologie, die Beschaffenheit unserer Umwelt und die Gesetze der Physik beschränken unsere Möglichkeiten. Diese Einsicht liegt auf der Hand. Doch sie weist auf einen wichtigen Gedanken hin, der sich leicht übersehen lässt: Gegen die Naturgesetze oder die Klugheitsregeln des Überlebens ist jede Auflehnung vergeblich – egal wie wir uns zu ihnen stellen, ändern können wir sie nicht.3 Anders dagegen die Gesetze und Regeln des sozialen Miteinanders: diese können wir anpassen, überarbeiten und verbessern (oder verschlechtern), im Idealfall durch friedliche Verhandlung und in Kooperation.

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Theorie

Und genau hier beginnt das philosophische Nachdenken. Denn folgen wir beim Aushandeln der Freiheit im gesellschaftlichen Zusammenleben etwa Mills naheliegender und durchaus einleuchtender Bestimmung, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo sie die Freiheit anderer beeinträchtigt, so wirft dies umgehend eine Reihe von Fragen auf. Einige von ihnen sind grundlegend und durchaus schwer zu beantworten. Dies gilt bereits für die naheliegende Frage, wann und wo genau die Ausübung meiner Freiheit die Freiheit meines Gegenübers einschränkt; und es gilt auch für die daran direkt anschließende Frage, wie mein Gegenüber oder auch die ganze Gemeinschaft reagieren darf und soll, wenn die Ausübung meiner Freiheit andere Menschen in ihrer Freiheit einschränkt. Den entsprechenden Zusammenhang kennen wir gut aus dem Alltag. Er spiegelt sich beispielsweise in der Frage, ob der Hang zu verletzungsträchtigen Sportarten oder ungesunder Ernährung die Krankenkasse zu höheren Prämien berechtigt, oder dazu, einen Antrag auf Aufnahme in die Versicherung von vornherein abzulehnen. Denn offensichtlich schränken Risikokandidaten die Freiheit der ›Solidargemeinschaft‹ ein, weil sie die Kasse zwingen, entweder die Beiträge für alle zu erhöhen oder aber Leistungen zu kürzen. Im Ergebnis bedeutet das, dass alle Versicherten, ob Risikosportler oder nicht, ob Steak- oder Körner-Fan, Alkoholiker oder Abstinenzler, einen größeren Teil ihres Einkommens für die gleichen Leistungen aufbringen müssen und über diesen Teil dann nicht mehr frei verfügen können. Schränkt ein solches Verhalten also ihre Freiheit ein? Sicher. Ist diese Einschränkung zulässig und vertretbar? Das kommt darauf an. Denn einerseits ist es einer der Kerngedanken einer solidarischen Krankenversicherung, die Gesundheitsrisiken einer frei gewählten individuellen Lebensführung abzusichern. Und zwar ohne vorzugeben, welches Verhalten akzeptabel ist und ohne die ständige Überwachung ihrer Mitglieder. Andererseits ist die Versuchung groß, bestimmte Verhaltensweisen als vermeidbare Risiken mit einem individuellen Risikoaufschlag zu belegen. Und im Extremfall die Aufnahme zu verweigern oder uneinsichtigen Mitgliedern zu kündigen. Wer meint, dies sei legitim, kann sich zur Begründung auf eine der beiden Traditionslinien berufen, auf denen sich die Freiheitsdiskussion bis heute bewegt.4 Diese Tradition bestimmt die Freiheit des Einzelnen von der Gemeinschaft aus. Wer dagegen der Auffassung ist, die Gemeinschaft solle ein solches Verhalten mittragen, nicht zuletzt, weil

1.1 Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen…

Vorschriften hier die Freiheit der individuellen Lebensführung erheblich einschränken, hat dagegen die zweite große Argumentationslinie der Philosophiegeschichte im Rücken. Diese beginnt mit ihren Überlegungen beim Individuum und betrachtet den Menschen erst in zweiter Linie als Teil einer Gemeinschaft. Bevor wir die beiden Modelle gleich etwas näher betrachten, ist es wichtig, sich an dieser Stelle bewusst zu machen, dass die Antwort auf die grundsätzliche Frage, wo die Freiheit des Einzelnen im Zusammenleben endet, aufgrund des unterschiedlichen Blicks auf die Rolle von Individuum und Gemeinschaft durchaus verschieden ausfallen kann. Das heißt, wer bestimmen möchte, wie viel Zwang die Gemeinschaft auf den Einzelnen ausüben darf oder sogar muss, damit alle Beteiligten ihren Lebensentwürfen in (größtmöglicher) Freiheit nachgehen können, kommt oft zu anderen Schlüssen, wenn er die Freiheit des Einzelnen als eine Funktion der kollektiven Freiheit betrachtet, als derjenige, der die Freiheit vom Individuum aus denkt.

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1.2 Individuum und Kollektiv

Sehen wir uns zunächst die kollektivistische Seite genauer an. Der Grundgedanke derjenigen, die von der Gemeinschaft aus denken ist dieser: Der Einzelne kann nur dann frei sein, wenn die Gemeinschaft, deren Teil er ist, als Ganzes frei ist; das heißt, unabhängig von dem, was andere Gemeinschaften für sich entscheiden. Da diese Grundannahme die Freiheit des Individuums direkt vom Zustand der eigenen Gemeinschaft abhängig macht, muss der Einzelne in diesem Modell für die Freiheit seiner Gemeinschaft unter Umständen erhebliche Einschränkungen bei der selbstbestimmten Verfolgung seiner Ziele hinnehmen.1 So formuliert klingt der kollektivistische Ansatz nach einem schlechten Handel. Warum sollte ich mich darauf einlassen, meinen Lebensentwurf zunächst den Bedürfnissen der Gemeinschaft unterzuordnen – und das nur auf das vage Versprechen hin, dass die Gemeinschaft mir irgendwann meine Freiheit mit Zinsen zurückgibt? Eine kurze Überlegung macht deutlich, dass der Ansatz nicht ganz so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Schließlich gewinnt auch der Einzelne, wenn es seiner Gemeinschaft gelingt, Reibungsverluste niedrig zu halten. Denn wenn das Kollektiv bei der Organisation und der Zuteilung von Ressourcen freie Hand hat, kann es dadurch den Spielraum für die Gemeinschaft unter Umständen erheblich vergrößern – und später ihre Mitglieder an den entsprechenden Gewinnen beteiligen. Eine Ressourcenverwaltung, die wenig Rücksicht auf die individuelle Freiheit nehmen muss, führt daher im guten Fall tatsächlich dazu, dass die anfänglichen Einschränkungen für den Einzelnen später mehr als ausgeglichen werden und die individuelle Freiheit am Ende höher ist, weil die Gemeinschaft weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen agieren kann und sich zum Beispiel keine Gedanken über die Energieversorgung im kommenden Winter machen muss. Soweit die Theorie.

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Theorie

Bekanntlich hat der kollektivistische Ansatz zurzeit keine gute Presse. Dies hat vor allem zwei praktische Gründe. Erstens sind die historischen Versuche, ihn in großem Stil in die Tat umzusetzen, im letzten Jahrhundert spektakulär gescheitert. Sowohl der Kommunismus in seinen verschiedenen Ausprägungen als auch der Nationalsozialismus waren, indem sie (im Namen der Partei, des Kollektivs, oder der Volksgemeinschaft) auch die Freiheit des Einzelnen von der Gemeinschaft aus bestimmten, die Quelle erheblicher sozialer und wirtschaftlicher Verwüstungen.2 Zweitens speist sich das Misstrauen gegen diesen Ansatz aus der durchaus naheliegenden Vermutung, dass, wenn sich die individuelle Freiheit allein oder auch nur überwiegend im Hinblick auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft bestimmt, es für den Einzelnen meistens doch eher ungemütlich wird. Dass dieses Misstrauen nicht unbegründet ist, lässt sich bei einem zweiten Blick auf das Versicherungsbeispiel erkennen. Denn sobald dort im Namen der Solidargemeinschaft ein bestimmtes Verhalten für alle verbindlich festgelegt wird, greift dies tatsächlich weitreichend in die freie Verfolgung individueller Lebensentwürfe ein. Egal, ob es diejenigen trifft, die ohne Neondress, Helm, Hand- und Knieschutz auf ihr Fahrrad steigen, oder diejenigen, die regelmäßig den Grünkernbratling für das Steak vom Grill stehen lassen: Sie alle laufen in diesem Modell Gefahr, im Namen der Gemeinschaft auf Linie gebracht zu werden. Und sei es nur dadurch, dass sie eben keine Versicherung mehr finden, die sie zu akzeptablen Bedingungen aufnimmt. Den Umstand, dass entsprechende Maßnahmen im Namen des Kollektivs durchaus unerbittlich eingefordert werden können, hatte der eingangs erwähnte Vordenker der modernen Freiheitsdiskussion, John Stuart Mill, schon vor mehr als 150 Jahren klar im Blick. Er sprach in diesem Zusammenhang von der »Tyrannei« oder der »Diktatur der Mehrheit«3 und stellte zudem fest, diese bedrohe die Freiheit des Einzelnen in erheblichem Maß. Heute sind seine Worte aktueller den je, weil die Möglichkeit der globalen Kommunikation die soziale Kontrolle durch das Kollektiv auf die nächste Ebene hebt. Nicht zuletzt deshalb stößt eine Argumentation, die den Einzelnen (und damit auch seine Freiheit) ausgehend vom Kollektiv bestimmt, aktuell oft auf Ablehnung. Und dies trotz der Tatsache, dass die philosophische Fachdiskussion ihrem Grundgedanken vor einigen Jahren unter der Überschrift des Kommunitarismus eine kurze Renaissance bescherte. Der folgende Text

1.2 Individuum und Kollektiv

nähert sich der Diskussion um die Freiheit nicht zuletzt deshalb von der anderen Seite, vom Individuum aus. Dennoch ist es wichtig, die kollektivistische Argumentation im Blick zu behalten. Denn sie taucht gelegentlich unvermittelt und mit Macht wieder auf und kann, wie etwa in der Argumentation zu Beginn der Corona-Pandemie, jederzeit wieder in die allgemeine Diskussion Einzug halten (s. unten Abschnitt 2.16). Wenden wir uns also diesem zweiten Modell zu. In ihm ist Freiheit zuallererst die Freiheit des Individuums. Es soll seinen Lebensentwurf selbstbestimmt und ohne unnötige Beschränkungen verfolgen können. Freie Wahl von Ausbildung, Beruf, Lebensort; Meinungs-, Rede- und Religionsfreiheit und die Möglichkeit, auch sonst das Leben weitgehend nach eigenen Vorgaben führen zu können – um die Freiheit des Individuums scheint es heute an vielen Orten dieser Welt tatsächlich gar nicht so schlecht bestellt zu sein. Vor allem, nachdem der Mauerfall dem Modell der offenen Gesellschaft noch einmal Auftrieb gegeben hat. Schließlich war es auch das Verlangen nach individueller Freiheit, das die Proteste von 1989 befeuerte und damit dem kollektivistischen Ansatz eine Absage erteilte. Allerdings ist die Lage seitdem nicht einfacher geworden, sondern tatsächlich um einiges unübersichtlicher und komplizierter. Denn die individuelle Freiheit lässt sich spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht länger an einer bestimmten Regierungsform festmachen, sondern wird, gerade auch in den offenen Gesellschaften des Westens, in vielfältiger Weise bestimmt von den Geschäftsmodellen multinationaler Unternehmen. Und die Mechanismen, auf denen diese Geschäftsmodelle beruhen, beschädigen die Freiheit des Einzelnen auf subtilere Weise als die staatlichen Beschränkungen, Vorgaben, Regeln und Gesetze, deren Zwänge durchsichtig und nachvollziehbar sind im Vergleich mit dem Konformitätsdruck und den Zwängen, die die Datenindustrie erzeugt. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Strategie der Datenindustrie darin besteht, ihren Kunden einen greifbaren Nutzen zu versprechen. Ihre autonom agierenden Fahrzeuge, die Legion der ›smarten‹ Helfer im Haus, der elektronische GesundheitsTracker, oder auch die sprachgesteuerten ›Wanzen‹ im Wohnzimmer erleichtern den Alltag. Doch sie machen uns eben auch abhängig von fremden Vorgaben und bedeuten an verschiedenen Stellen einen Verlust an Freiheit. Wer anderen die Auswahl von Informationen überlässt, wer Entscheidungen an eine Software delegiert, deren Hersteller an den

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Theorie

Daten verdienen wollen, an die sie durch ihre Dienstleitungen gelangen (und die oft sogar doppelt profitieren, weil es ihnen gelingt, den Nutzer für die Technik, die ihn ausforscht, ein weiteres Mal zur Kasse zu bitten), legt seine Freiheit nicht unbedingt in die besten Hände. Die Fremdbestimmung mag eher unproblematisch erscheinen, solange es nur darum geht, sich in einer unbekannten Umgebung zurechtzufinden, oder sich unterhalten zu lassen. Weniger harmlos allerdings ist der Tausch ›Freiheit gegen Komfort‹, wenn es um die Bildung eigener Meinungen zu wichtigen Fragen geht. Den Softwarearchitekten kommerzieller Anbieter mit ihren Algorithmen die Hoheit über die eigene Weltwahrnehmung zuzugestehen wird spätestens dann fragwürdig, wenn dies Wahlen beeinflusst und den Blick auf die Wirklichkeit verengt. Eine Online-Informationsindustrie, die uns dabei hilft, alle gesellschaftlichen Themen auszublenden, die uns unangenehm sind, arbeitet mit daran, dass wir den Kontakt mit den realen Gegebenheiten verlieren.4 Gleichzeitig erleichtert jede zusätzliche Einsicht in unsere Lebensgewohnheiten die Manipulation unseres Verhaltens.5 Und die Folgen der Entwicklung betreffen selbstverständlich auch diejenigen, die dem digitalen Komfortversprechen mit Zurückhaltung begegnen. Etwa dann, wenn viele Informationen nur noch im Netz abgerufen werden können und auch dann, wenn auch sie Waren nur noch Online beziehen können, weil der Einzelhandel am Ort vor der InternetKonkurrenz in die Knie gegangen ist. Denn dann sind auch die Skeptiker der flächendeckenden Digitalisierung gezwungen der Datenindustrie deren Rohstoff zuzuliefern. Ich komme darauf zurück. Und auch das Verhältnis von Regierung und Regierten ist unübersichtlicher geworden. Wo es lange Zeit nur Gesetze und Vorgaben gab, um den Rahmen für das gesellschaftliche Miteinander abzustecken, gibt es heute, selbst in Demokratien, die Tendenz, den unbedarften Bürger vor sich selbst zu schützen und ihn umfassend zu betreuen. Die staatliche Fürsorge reicht dabei oft weit in den persönlichen Alltag hinein. Das fängt bei kleinen Dingen an, wie beispielsweise bei Haushaltsgeräten, die eine bestimmte Leistungsaufnahme nicht überschreiten dürfen, oder bei den verbindlichen Vorgaben zur Installation von Rauchmeldern, und hört bei umfangreichen Vorschriften zur Dämmung von Privatimmobilien nicht auf. Die Haltung, die hinter derartigen amtlichen Durchgriffen steht, hat das aufklärerische Ideal des mündigen Bürgers

1.2 Individuum und Kollektiv

bereits de facto in den Ruhestand geschickt. Selbst wenn es in offiziellen Verlautbarungen noch ein Nachleben führen darf.6

≡ Benthams ›Panopticon‹ Im ausgehenden 18. Jahrhundert überlegte der Utilitarist Jeremy Bentham, wie sich die Beobachtung und Überwachung einer größeren Zahl von Menschen bereits durch die Architektur der Räumlichkeiten erleichtern lässt.7 Sein Vorschlag war die runde oder sternförmige Anlage, die es ermöglicht, alle Räume von einer zentralen Beobachtungsstation aus einzusehen. Dabei ging Bentham von der Annahme aus, dass bereits die bloße Möglichkeit beobachtet zu werden, einen psychologischen Druck erzeugt, der Regelverstöße und abweichendes Verhalten erheblich verringert.8 Sein ›Panopticon‹ (von griech. panoptes: allsehend) eigne sich, so meinte Bentham, besonders für den Strafvollzug, weil es eine Haftanstalt ohne Zellentüren ermögliche und die Aufsicht mit wenig Personal zu bewerkstelligen sei. Tatsächlich inspirierte sein Konzept in der Folgezeit Gefängnisbauten auf der ganzen Welt. Aber auch weitergehende Anwendungen hatte Bentham bereits im Blick. So schlug er vor, auch die Massenunterbringung von Obdachlosen oder die Beaufsichtigung der Arbeit in Fabriken auf diese Weise zu erleichtern, ebenso wie den Betrieb von Krankenhäusern und Schulen. Letztlich war er überzeugt, dass die Idee des Panopticons sich eigentlich »ohne Ausnahme auf alle Unternehmen [anwenden lasse], bei denen man eine Menge von Personen unter Beobachtung halten will.«9 Die naheliegende Frage, wer die Aufseher solcher Einrichtungen denn beaufsichtigen solle, beantwortete Bentham mit dem knappen Hinweis auf ›die Gesellschaft‹. Benthams Vorstellung des Panopticons, obwohl schon über 200 Jahre alt, illustriert unter anderem, wie ein großer Teil unserer Interaktion im Netz derzeit organisiert ist. Es fasst ein wesentliches Merkmal der großen virtuellen Gemeinschaften, in denen ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung heute regelmäßig aktiv ist, in ein einprägsames Bild. Denn auch hier steht hinter vielen der Angebote eine zentrale Instanz, die das Verhalten aller beobachtet und dabei selbst ungesehen bleiben kann. Benthams Annahme, die Beobachter würden von ›der Gesellschaft‹ kontrolliert, erscheint, jedenfalls in diesem Fall, mehr als optimistisch. Was bereits für sich genommen ein Grund wäre, genauer

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Theorie

hinzusehen. Doch es gibt noch einen zweiten Grund, der nicht weniger wichtig ist. Denn ebenso wie sich Bentham vor zwei Jahrhunderten mit utilitaristischem Eifer an der Verbesserung der Gesellschaft versuchte, treten die Weltverbesserer hinter den sozialen Plattformen im Netz mit einer Agenda an, die erhebliche Folgen für unser Zusammenleben und unsere Freiheit hat. Ausgangspunkt ihres Handelns ist die Behauptung, zu wissen, was Menschen wollen. Schließlich ermöglicht ihnen ihre Tätigkeit einen privilegierten Zugriff auf die Wünsche ihrer Mitmenschen. Dies führt dazu, dass der Konformitätsdruck, den sie in ihrem ›Panopticon‹ erzeugen können, schon heute erheblich ist. Wer damit rechnet, dass seine Äußerungen oder sein Verhalten ständig von der (Welt-)Öffentlichkeit beobachtet wird, übt sich bereits heute oft in Selbstzensur. Problematisch ist dies nicht zuletzt deshalb, weil auch für diejenigen, die der Vorstellung einer vollkommen transparenten Welt nichts abgewinnen können, die Räume eng werden. Die Valley-Vision der Totalen Transparenz – ›You have zero privacy anyway. Get over it‹10 – gibt weder etwas auf die Freiheit der Andersdenkenden, noch lässt sie den Einzelnen unbehelligt, selbst dann, wenn er seine Mitmenschen in keiner Weise in ihrer Freiheit einschränkt.

1.3 Die Abwesenheit äußerer Hindernisse

Bevor wir die Mechanismen genauer betrachten, die heute in oft schwer wahrzunehmender Weise die Mill’sche Freiheitsgrenze zu Ungunsten des Individuums verschieben, und bevor wir einzelne Überlegungen zur Freiheit genauer in den Blick nehmen, müssen wir uns zunächst mit dem Begriff selbst auseinandersetzen. Denn er steht nicht nur für eine zentrale Vorstellung unserer Ideengeschichte, sondern in dieser Eigenschaft auch als Überschrift über verschiedenen Diskussionen, die oft nicht allzu viel miteinander zu tun haben. Dies gilt für den allgemeinen Sprachgebrauch und die philosophische Fachdebatte, die diesen Sprachgebrauch in Teilen widerspiegelt, gleichermaßen. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen dabei zwei große Fragen: die Frage nach der Freiheit im sozialen Miteinander und die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens. Dabei ist die zweite Frage deutlich älter. Sie begleitet das abendländische Denken bereits seit seinen Anfängen und berührt den Bereich der Metaphysik. Was so viel heißt wie, dass es sich hier um eine Frage handelt, deren Beantwortung jenseits unserer Erkenntnismöglichkeiten liegt. Insofern ist es ein glücklicher Umstand, dass dieses Thema mit der Frage, die uns hier beschäftigt, nur wenig zu tun hat und wir uns nicht ausführlicher mit ihr auseinandersetzen müssen. An dieser Stelle deshalb nur so viel: Das zentrale Problem der Willensfreiheit besteht darin, das Bild, das wir von uns selbst als frei entscheidende und handelnde Akteure haben, mit der Auffassung zusammen zu bringen, dass jedes Ereignis eine Ursache hat. Denn wenn jedes Ereignis eine Ursache hat, wenn unsere Welt durchgängig kausal bestimmt ist, herrschen die Naturgesetze unerbittlich auch über unsere Entscheidungen und unser Verhalten. Sie gelten nicht nur für die Vorgänge der äußeren Natur, sondern bestimmen auch über die Abläufe in unserem Gehirn. Was sich schlecht mit der Ansicht zu vertragen scheint, dass unsere Entscheidungen frei sind; und offensichtlich erheb-

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Theorie

liche Folgen für unseren Blick auf Verantwortung und Bestrafung hat. Tatsächlich ist die Diskussion um den Freien Willen uferlos und fordert die Philosophie seit über zweieinhalbtausend Jahren heraus, ohne dass bisher eine befriedigende Antwort auch nur am Horizont in Sicht wäre (für weiterführende Bemerkungen zum Thema s. Anhang 1). Dies gilt für die Frage der Freiheit im sozialen Miteinander nicht. Sie beschäftigt die Philosophie erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit und sie erfordert keine metaphysischen Mutmaßungen und Spekulationen über Fragen, die sich mit unseren Mitteln prinzipiell nicht entscheiden lassen. Im Gegenteil, die Antworten, die wir hier erhalten, lassen sich gut an der Erfahrung überprüfen. Und auch wenn sich immer noch eine beachtliche Zahl verschiedener Themen unter der Überschrift der sozialen Freiheit versammelt, so laufen letztlich alle Stränge der Diskussion auf die Grundfrage zu: »Wie frei kann der Einzelne in der Verfolgung seiner Wünsche und Interessen sein, wenn er mit anderen in einer Gemeinschaft lebt – ohne dass er durch seine Handlungen die Grundlagen eines freiheitlichen Miteinanders untergräbt?« Die Frage so zu stellen, setzt zwar offensichtlich bereits voraus, dass wir der Meinung sind, in irgendeiner Weise Einfluss auf unser Verhalten nehmen zu können und grundsätzlich in der Lage zu sein, uns für oder gegen bestimmte Handlungen zu entscheiden – so dass die Auseinandersetzung um die soziale Freiheit dann letztlich also doch Stellung bezieht im Hinblick auf die Willensfreiheit. Dennoch, die Antwort, die wir bei der Willensfreiheit geben, ist logisch unabhängig davon, wie es sich in der Sache tatsächlich verhält (eben weil die Beantwortung der Frage unseren Erkenntnishorizont grundsätzlich übersteigt).1 Und deshalb gibt es keinen Grund, bei der Überlegung, wie ein Zusammenleben in Freiheit gelingen kann, nicht mit derjenigen Annahme zu arbeiten, die unserem Selbstverständnis entspricht und die uns weiter bringt. Also konkret: zu unterstellen, wir seien in unseren Entscheidungen und Handlungen wenigstens in diesem schwachen Sinn frei. Wenn die Frage der Willensfreiheit die Philosophie seit über zweitausend Jahren beschäftigt, so gilt dies für die Beschäftigung mit der Freiheit im Zusammenleben überraschenderweise nicht. Tatsächlich rückt die soziale Freiheit erst zu Beginn der Neuzeit in den Fokus einer systematischen Diskussion. Dass sie es ausgerechnet in jener Zeit tut, ist allerdings kein Zufall, sondern eine direkte Folge einer allgemeinen theoretischen Neuausrichtung der Epoche. Die neue Forderung ist, dass Ansprüche aller Art – dies gilt für Erkenntnis und Macht gleicher-

1.3 Die Abwesenheit äußerer Hindernisse

maßen – nachvollziehbar begründet werden müssen. Damit stellen die Denker der Neuzeit das bis dahin gültige Modell der Herrschaftssicherung auf den Prüfstand. Und kommen zu dem Schluss, dass eine Rechtfertigung von Machtansprüchen, die sich, wie bisher üblich, auf jenseitige (und ebenfalls metaphysische) Prinzipien stützt, ungenügend ist, weil sie weder nachvollziehbar ist noch sich an der Erfahrung überprüfen lässt. Die Suche nach einer Alternative konzentriert sich auf den Menschen selbst, auf seine Wüsche und Bedürfnisse. Da die Diskussion schnell an Umfang und Dynamik gewinnt, entwickelt sie sich zügig zu einer eigenständigen, systematischen Disziplin, zur Politischen Philosophie. Wichtig in unserem Zusammenhang ist dabei vor allem, dass die in diesem Zusammenhang geführte Auseinandersetzung die Ablösung des kollektivistischen Blicks auf den Menschen vorantreibt. Der Einzelne wird nun nicht länger als Teil einer gottgegebenen Gemeinschaft betrachtet, sondern er bekommt unverwechselbare Konturen und wird zum eigenständigen Individuum.2 Vor diesem Hintergrund entwickelt sich also unser modernes Gesellschafts- und Staatsverständnis und gleichzeitig entstehen die bis heute nachwirkenden Gedanken zur Freiheit. Sie nimmt eine zentrale Stelle ein, wenn es um die Neubegründung gesellschaftlicher Macht geht. Thomas Hobbes (1588–1679), der »Vater der Politischen Philosophie«, bestimmt sie so: »Unter Freiheit [liberty] versteht man, sofern man sich an die echte Bedeutung dieses Wortes hält, die Abwesenheit äußerer Hindernisse; von Hindernissen, die einem Menschen häufig einen Teil der Kraft nehmen, das zu tun, was er möchte, ihn aber nicht daran hindern können, die ihm verbliebene Kraft so zu nutzen, wie seine Urteilskraft und sein Verstand es ihm gebieten«.3 Und etwas allgemeiner: »Freiheit [Liberty or Freedome] bedeutet (eigentlich) die Abwesenheit von Hindernissen; (mit Hindernissen meine ich äußere Faktoren, die die Bewegung einschränken); sie lässt sich nicht weniger auf vernunftlose und unbelebte Kreaturen anwenden als auf vernünftige. Denn was auch immer so gebunden oder durch seine Umwelt eingeschränkt ist, dass es sich nur in einem bestimmten Raum bewegen kann, der durch einen äußeren Gegenstand begrenzt wird, von dem sagen wir, es habe nicht die Freiheit weiter zu gehen.«4

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Theorie

Diese Bestimmung gibt bis heute den Ton für die weitere Diskussion vor. Freiheit bemisst sich wesentlich daran, wie stark der einzelne Mensch in der Verfolgung seiner Ziele, seiner Wünsche und Bedürfnisse von äußeren Umständen behindert wird.5 Doch so plausibel es zunächst klingt, die menschliche Freiheit allein davon abhängig zu machen, dass der Verfolgung individueller Vorhaben keine äußeren (physischen) Hindernisse im Weg stehen, so kann diese Bestimmung dennoch nur eine erste Näherung sein. Sie muss an mehreren Stellen wenigstens erläutert und an einigen Stellen auch ergänzt werden. Erstens: Es geht bei der Bestimmung der Freiheit im Zusammenleben der Menschen offensichtlich nicht um die Hindernisse, die uns aus unserer Biologie entstehen – also etwa aus der Tatsache, dass wir uns nicht ohne Hilfsmittel längere Zeit unter Wasser aufhalten, oder für längere Zeit in die Luft erheben können und auch nur innerhalb eines sehr kleinen Temperaturfensters überleben. Kurz, es geht hier nicht darum, dass die Gesetze der Natur der Verfolgung »unseres eigenen Wohlergehens« Grenzen setzen. Auf diesen Punkt weist denn auch wenig später bereits Hobbes’ Landsmann John Locke (1632–1704) ausdrücklich hin. In seinen wirkmächtigen Abhandlungen über die Regierung heißt es, im Naturzustand, dem Zustand vor der Vergesellschaftung, genieße der Mensch die »perfekte Freiheit«.6 Dieser Meinung kann offensichtlich nur sein, wer die menschliche Biologie oder die Gesetze der Natur eben nicht als Hindernisse (im Sinn der Hobbes’schen Definition) betrachtet. Das bedeutet, bei der Freiheit im gesellschaftlichen Miteinander geht es von vornherein nicht um die biologischen und physikalischen Einschränkungen des Menschen, sondern um Einschränkungen durch andere Menschen und deren Bedürfnisse.7 Zweitens: Wenigstens einige Einschränkungen durch andere Menschen (beziehungsweise durch Gesetze) sind legitim. Den Grund dafür, den Mill in seiner eingangs erwähnten Bestimmung nicht nennt, formuliert ebenfalls Locke. Er stellt fest: »wo es kein Gesetz gibt, dort gibt es keine Freiheit«.8 Denn schließlich kann niemand frei sein, wenn er ständig befürchten muss, Opfer der Launen seiner Mitmenschen zu werden. Deshalb, so stellt er fest, sei es eben auch nicht das Ziel von Regeln und Gesetzen, Freiheit aufzuheben oder einzuschränken, wie man naheliegenderweise annehmen könnte, sondern im Gegenteil, Freiheit »zu bewahren und zu vergrößern«.9 Die ungeschriebenen Regeln des guten Benehmens und die kodifizierten Gesetze, die eine Gesellschaft sich gibt, sind unter diesem Vorzeichen durchaus zu den

1.3 Die Abwesenheit äußerer Hindernisse

äußeren Hindernissen zu zählen, von denen Hobbes in seiner Definition spricht. Und gerade, weil sie die individuelle Freiheit einschränken, gilt die Begründungsforderung für Gesetze in besonderem Maß. Für die ungeschriebenen Regeln fällt sie dagegen etwas schwächer aus, weil deren Verletzung keine offiziellen Strafen nach sich ziehen. Dennoch sollten auch sie wenigstens nachvollziehbar und sinnvoll sein. An diesen Gedanken von Locke schließt im letzten Jahrhundert der einflussreiche Staatstheoretiker John Rawls (1921–2002) direkt an, wenn er feststellt: »Freiheit ist ein Geflecht von Rechten und Pflichten, die durch [gesellschaftliche] Institutionen bestimmt werden.«10 Drittens: Auch einen anderen Gedanken erfasst Hobbes’ Bestimmung von Freiheit als Abwesenheit von Hindernissen noch nicht. Denn der Dreh- und Angelpunkt wenigstens der menschlichen Freiheit ist unsere Fähigkeit zur Reflexion. Sie ermöglicht es uns, über die einfachen Reiz-Reaktions-Muster der übrigen Natur hinauszugehen. Das Vermögen, Gründe gegeneinander abzuwägen und nach ihnen zu handeln, die Fähigkeit, die Befriedigung von Wünschen, Trieben und Bedürfnissen aufzuschieben oder umzuleiten, ist eine wichtige Zutat der menschlichen Freiheit. Denn schließlich ist es diese Fähigkeit, die es uns überhaupt erst ermöglicht, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen: »darin besteht die Freiheit, die der Mensch besitzt«.11 Also erst dadurch, dass wir uns vom Zwang unserer Triebe befreien, können wir agieren statt nur zu reagieren, erst dann haben wir Kontrolle über unser Verhalten.12 Viertens: Direkt damit zusammen hängt eine weitere Bedingung der Freiheit, die erst mit dem Aufkommen der modernen Psychologie wirklich in den Blick kommt. Individuelle Freiheit setzt, anders als Hobbes es nahelegt, nicht nur die Abwesenheit äußerer Hindernisse voraus, sondern sie hängt eben auch daran, dass ihr keine inneren Hindernisse im Weg stehen. Wer unfähig ist, die Konditionierungen seiner Sozialisation ernsthaft in Frage zu stellen, ist genauso wenig frei, wie derjenige, der physisch in Ketten liegt. Als »glücklicher Sklave« gehört er vielleicht sogar zu den »erbittertsten Feinden der Freiheit«. Und in dieser Perspektive ist es tatsächlich unverzichtbar, dem sapere aude!13 der Aufklärung Folge leisten zu können. Das heißt, wir müssen auch in Bezug auf die inneren Hindernisse die Fähigkeit, den Willen und die Gelegenheit zur Reflexion haben. Dies macht Bildung, Wissen und den Zugang zu Informationen offensichtlich zu wesentlichen Voraussetzungen von Freiheit. Ohne sie ist es unmöglich eine wirklich freie Wahl zu treffen.

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Und schließlich, fünftens, unterscheidet Hobbes’ Definition nicht zwischen äußeren Hindernissen, die uns an der Verfolgung von solchen Vorhaben hindern, die den Kernbereich unseres Selbstverständnisses berühren, und solchen die dies nicht tun.14 Es macht einen erheblichen Unterschied, ob die Nicht-Verfügbarkeit von Zutaten mich in der Freiheit meiner Menüplanung einschränkt, oder ob ich an der freien Äußerung meiner Meinung gehindert werde, etwa durch die Aussicht, mich dafür im Straflager wiederzufinden oder von den Häschern einer Internet-Treibjagd gestellt zu werden. Fassen wir kurz zusammen. Hobbes’ Bestimmung der Freiheit als Abwesenheit äußerer Hindernisse zielt auf menschengemachte Hindernisse und nicht auf solche der Natur. Um festzustellen, welche dieser ›Hindernisse‹ im Zusammenleben berechtigt sind und welche nicht, bedarf es einer Begründung.15 Zudem behindern nicht nur äußere, sondern auch innere Hindernisse unserer Freiheit.16 Und schließlich geht es stets auch darum, wie wichtig ein bestimmtes Vorhaben für einen Menschen ist. Daraus ergibt sich eine Bestimmung der Freiheit als Abwesenheit von Zwängen, die durch andere Menschen unberechtigterweise ausgeübt werden oder die aus psychologischen Zwängen und Unwissenheit entstehen. Sie steht zudem in einer engen Beziehung zur Wichtigkeit von Vorhaben und Zielen.

≡ Biometrie Beim Betreten eines Gebäudes weiß dessen Management-Software schon alles über uns: Name, Adresse, Einkommen, Kreditwürdigkeit, Steuerdaten, Kaufverhalten, Freizeitaktivitäten, Freunde, Bekannte, Vorlieben, Abneigungen, Meinungen, Weltbild. Ob beim Shoppen, im Fußballstadion, oder bei Behörden: Die vernetzte Welt kennt uns immer besser und kann optimal auf unsere Bedürfnisse eingehen. Gut, dass wir nichts zu verbergen haben. Oder? Weil wir wieder einmal spät dran waren, haben wir die Ampel bei dunkelgelb genommen und im Halterverbot geparkt. Auch haben wir uns zufällig und ohne uns dessen bewusst zu sein in letzter Zeit mehrmals in der Nähe von verdächtigen Personen aufgehalten. Zudem schlägt die Software des Finanzamts Alarm, weil die gesammelten Daten ein auffälliges Bild ergeben. Wenigstens ein automatischer Eintrag ins Register verdächtiger Personen ist uns damit sicher.

1.3 Die Abwesenheit äußerer Hindernisse

China zeigt, was heute schon möglich ist. Biometrie als Grundlage für die Zusammenführung von personenbezogenen Informationen und als Anlass für die Disziplinierung seiner Untertanen. Denn die automatische Identifizierung von Menschen anhand ihres Aussehens oder ihrer Art sich zu bewegen ist in den letzen Jahren so treffsicher geworden, dass die eindeutige Zuordnung über Gesichtserkennung und andere körperliche Merkmale weitgehend fehlerfrei gelingt. Das grundsätzlich Neue an der softwaregestützten Identifikation von Personen anhand biometrischer Merkmale ist, dass sie aus der Ferne unternommen werden kann und ohne Einwilligung der Betroffenen – und dass sie deshalb für diese vollkommen unsichtbar bleibt. Der Erfolg hängt schon heute fast nur noch davon ab, wie schnell und zuverlässig die entsprechenden Daten übermittelt, verarbeitet und miteinander verknüpft werden. Wer über die Definitionsmacht verfügt und in der Position ist, seine Ansichten durchzusetzen, kann so mit wenig Personal eine beliebige Menge von Menschen anhand festgelegter Kriterien sortieren und steuern. Er kann unerwünschtes Verhalten automatisch markieren, Privilegien gewähren oder verweigern, den Zugang zu Orten und zu Informationen festlegen. Kurz, er kann mit minimalem Aufwand über den Grad der individuellen Freiheit seiner Mitmenschen bestimmen. Was selbstverständlich dann auch für diejenigen gilt, die sich, auf welche Weise auch immer, Zugang zum System verschaffen: auch sie können die gesammelten Daten in ihrem Sinn ändern und für ihre eigenen Zwecke nutzen.17 Da eine biometrische Überwachung und Kontrolle so gut wie überall und weitgehend unbemerkt möglich ist, haben es Betroffene zudem schwer, sich zur Wehr setzen. Auch dann, wenn eine zufällige Korrelation oder ein Fehler im System der Grund dafür ist, dass ihr Leben gerade eine unerfreuliche Wendung nimmt.

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1.4 Autonomie

Spätestens an dieser Stelle müssen wir eine begriffliche Vereinfachung aufgeben, mit der der Text bisher operierte. Denn ob eine Person ihren Lebensplan und die ihr wichtigen Vorhaben (weitgehend) ungehindert verfolgen kann, ist eine Sache, ob ihr dabei im Einzelfall bestimmte Verhaltensweisen und konkrete Handlungen verwehrt werden, eine andere. Um diesen Unterschied zu markieren, wird begrifflich oft zwischen ›Freiheit‹ und ›Autonomie‹ (von griech. ›autos‹: selbst und ›nomos‹: Gesetz) unterschieden. Freiheit zielt dabei auf einzelne Handlungen, Autonomie dagegen ist eine Eigenschaft von Personen. Der Nutzen der Unterscheidung zeigt sich bereits bei John Lockes paradox klingender Bemerkung, Gesetze zielten, trotz ihres offensichtlich einschränkenden Charakters, darauf, Freiheit zu bewahren und zu vergrößern. Denn Gesetze und Regeln mindern zwar tatsächlich die Freiheit im Hinblick auf bestimmte Handlungen, im Gegenzug sichern sie aber die wichtigere Freiheit der autonomen Verfolgung individueller Lebensentwürfe. Das durch Gesetze abgesicherte staatliche Gewaltmonopol beispielsweise erlaubt es dem Individuum (in offenen Gesellschaften und wenn alles so läuft, wie es soll), seinem Leben frei von Übergriffen seiner Mitmenschen nachzugehen. Dass der Einzelne sich dafür einer staatlichen Autorität unterwerfen und auch selbst auf bestimmte Aktionen verzichten muss, ist der Preis, den er dafür bezahlt. Die Unterscheidung von Freiheit und Autonomie verdeutlicht so, wie jemand frei etwa im Sinn der selbstbestimmten Verfolgung seines Lebensentwurfs und der ihm wichtigen Vorhaben sein kann, obwohl ihm bestimmte einzelne Handlungen (bei Strafe) verboten sind, er also in dieser Hinsicht unfrei ist.

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Und auch die bekannte Zuspitzung, dass Freiheit darin bestehe, ›alles tun zu dürfen, was anderen nicht schadet‹, dies aber eben gerade nicht bedeute, ›alles tun zu müssen, was der Gesellschaft nützt‹ erschließt sich durch die Trennung von Autonomie und Freiheit besser. Im ersten Satz geht es um die Unterlassung einzelner Handlungen, im zweiten um die Einschränkung der Autonomie. Denn alles tun zu müssen (oder auch schwächer: nur dasjenige tun zu dürfen), was der Gesellschaft nützt, verlangt vom Einzelnen, seinen Lebensplan, seine Wünsche und Ziele, voll und ganz den Ansprüchen der Gemeinschaft unterzuordnen. Doch was bedeutet Autonomie nun genau? Die einen sind der Meinung, dass autonom ist, wer nach seinen Wünschen und Überzeugungen handelt. Andere behaupten das genaue Gegenteil. Auf keinen Fall dürften wir unseren Wünschen einen Einfluss auf unsere Handlungen und Entscheidungen einräumen, wenn wir wirklich autonom sein wollen. Und auch unsere Überzeugungen dürften uns in dieser Perspektive nur dann leiten, wenn sie völlig frei von Wünschen und Emotionen sind. Die Anhänger dieser zweiten, zunächst etwas seltsam klingenden Ansicht, können sich auf den Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) berufen und ihre Haltung auf die folgende Überlegung stützen: Wünsche und Gefühle unterliegen den Kausalgesetzen der Natur. Machen wir sie zur Grundlage unseres Handelns, dann unterwerfen wir uns damit den Vorgaben der (äußeren) Natur und lassen unser Verhalten durch sie fremdbestimmen. Es ist heteronom (fremdbestimmt). Autonom dagegen sind wir, folgt man dieser Argumentation, nur dann, wenn wir uns statt von unseren Gefühlen von unserer Vernunft leiten lassen – denn diese folgt ihren eigenen Gesetzen.1 Autonomie als Handeln nach unseren Wünschen auf der einen Seite und Autonomie als Handeln nach den Geboten der Vernunft und unter Ausschluss unserer Wünsche auf der anderen. Dies scheint tatsächlich im Widerspruch zueinander zu stehen. Umso mehr, wenn vernünftiges Handeln darin bestehen soll, auf unsere Wünsche nicht nur keine Rücksicht zu nehmen, sondern von uns verlangt, sogar das genaue Gegenteil dessen zu tun, was wir uns wünschen. Tatsächlich haben viele Interpreten Kants Argumentation in dieser Weise verstanden: Vernünftig und autonom kann nur sein, wer gegen seine Wünsche, Neigungen und Triebe handelt. Und nicht allen, die Kants Überlegungen so verstehen, geht es nur darum, die vermeintliche Lebensferne und Absurdität seiner Theorie deutlich zu machen – nicht selten in der Absicht, dadurch einer weiteren Auseinandersetzung mit seinen nicht immer leicht zu-

1.4 Autonomie

gänglichen Gedanken aus dem Weg gehen zu können.2 Die Angelegenheit lohnt einen zweiten Blick, auch deshalb, weil Kants Überlegung uns in der Sache voranbringt. Glücklicherweise ist der Kerngedanke nicht so kompliziert, wie man annehmen könnte, wenn man einen Blick auf den Umfang der Interpretationsliteratur wirft. Kant weist uns hier nämlich mit Nachdruck und völlig zu Recht darauf hin, dass wir uns von dem einfachen Reiz-Reaktions-Schema der Natur lösen müssen, wenn wir den Begriff der Autonomie mit Leben füllen wollen. Ohne Überlegung und Vernunft und ohne die Möglichkeit, von der direkten Erfüllung dessen zurückzutreten, was unsere Triebe und Neigungen uns gebieten, sind wir tatsächlich fremdbestimmt. Doch dies muss weder heißen, dass das, was die Vernunft uns nahelegt, zwangsläufig unseren Gefühlen und Wünschen entgegensteht. Noch muss es heißen, dass einzelne unüberlegte Handlungen auf der Grundlage von Wünschen und Gefühlen zwangsläufig unsere Autonomie insgesamt und für alle Zeit zu Fall bringen; denn schließlich entspringen auch sie ja dem eigenen Charakter. Und dieser ist seinerseits das Ergebnis der Antworten, die wir bis dahin – in autonomer Entscheidung – auf die Frage gegeben haben, welche Art von Person wir sein und wie wir unser Leben führen wollen. Außerdem, wenn das offizielle Verbot einiger Handlungsweisen im Zusammenleben die Autonomie des Individuums nicht generell zerstört (sondern sie, im Gegenteil, schützt), wie sollte eine einzelne unüberlegte Handlung sie dann unwiderruflich zunichte machen können? Wenn Kant uns also auffordert, die allgemeinen Leitlinien unseres Handelns, er nennt sie ›Maximen‹,3 auf ihre Vernünftigkeit zu überprüfen, empfiehlt er uns damit also letztlich nur etwas durchaus Naheliegendes, nämlich gründlich zu überlegen, ob das, was wir wünschen und was unsere Triebe und Neigungen von uns fordern, unsere Autonomie beeinträchtigen wird.4 Unterlassen wir dies, handeln wir nicht selbstbestimmt. Der an Kant angelehnte Vorschlag zur Bestimmung der Autonomie lautet deshalb: autonom sind wir dann, wenn wir unsere Handlungsgrundsätze auf ihre Qualität, auf ihre Vernünftigkeit, überprüfen und entsprechend handeln.5 Diese Überprüfung im Einzelfall zu versäumen, oder gelegentlich sogar bewusst wider besseres Wissen (unvernünftig) zu handeln, mag dazu führen, dass wir unsere Autonomie in diesen Fällen übergehen, untergräbt sie aber nur dann auf breiter Front, wenn es sich dabei um eine der in ihrer Zahl überschaubaren Aktionen

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handelt, die eine unwiderrufliche Aufgabe unserer Autonomie für die Zukunft nach sich zieht. Dazu gleich mehr. Außerdem bedeutet diese Bestimmung offensichtlich nicht, stets allen unseren Wünschen und Neigungen eine Absage zu erteilen. Dennoch bleibt die Beziehung von Vernunft und Autonomie kompliziert und wird uns wiederbegegnen.

1.5 In freier Entscheidung gegen die Autonomie?

Eine naheliegende Frage im Hinblick auf eine derart bestimmte Autonomie ist, ob es vielleicht sogar vernünftig sein kann, aus freien Stücken teilweise oder ganz auf sie zu verzichten. Beispiele dafür, dass wir unsere Autonomie freiwillig abgeben, gibt es jedenfalls einige. Wir wählen in freier Wahl autoritäre Regime an die Macht, die der weiteren autonomen Verfolgung individueller Lebensentwürfe dann sehr enge Grenzen ziehen;1 wir entscheiden uns dafür, die stetige Erweiterung staatlicher Überwachungsbefugnisse wenigstens zuzulassen (unter anderem deshalb, weil wir hoffen, dadurch erhöhe sich unsere Sicherheit); wir helfen dabei, die Spielräume einer autonomen Lebensführung dadurch einzuengen, dass wir immer mehr Regeln des Zusammenlebens von Gerichten verbindlich festlegen lassen;2 wir geben Entscheidungen an Algorithmen und Programme ab.3 Und schließlich: Wir entscheiden uns bewusst und frei für Dinge, die absehbar zu einem erheblichen oder kompletten Autonomieverlust führen. Hierzu gehören etwa die Entscheidung, einer religiösen oder weltanschaulichen Sekte oder einem Kloster beizutreten,4 die Entscheidung, sich auf stark abhängig machende (psychoaktive) Substanzen einzulassen, aber auch die Entscheidung, die eigene Weltsicht in einer Echokammer zu verfestigen. Zwar ist es naheliegend, sich die Sache durch den erneuten Verweis auf Mill einfach zu machen, der feststellt, die Freiheit des Einzelnen schließe selbstverständlich nicht ein, seine Autonomie aufgeben zu dürfen.5 Doch leider ist auch hier die Angelegenheit etwas komplizierter. In der Tat gibt es nämlich Situationen, in denen es sogar ›vernünftig‹ sein kann, der Vernunft nicht zu folgen, und das bedeutet, die eigene Autonomie wenigstens vorübergehend auszusetzen. Das gilt nicht nur im Alltag, wo es manchmal vernünftig sein kann, seinem Bauchgefühl zu vertrauen, sondern auch für komplexe Fälle, in denen vernünftiges Ab-

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wägen in ein Dilemma führt – das mit den Mitteln der Vernunft (allein) nicht zu lösen ist. Dazu kurz ein fiktives (und in seinen Randbedingungen zugegebenermaßen etwas konstruiertes) Szenario. In ihm bewerben sich einige Startup-Teams bei einer Risikokapitalfirma um Finanzmittel für die Umsetzung ihrer Ideen. In der Vorstellungsrunde können alle gleichermaßen überzeugen. Die Auswahlkommission ist überwältigt von der Vielzahl der guten Ideen und den sorgsam ausgearbeiteten Businessplänen. Da die Jury sich nicht entscheiden kann, überlässt sie die Entscheidung den Bewerberteams selbst. Dafür stellt sie zwei Bedingungen. Erstens müssen alle Teams sich verbindlich äußern, ob sie die Finanzierung haben wollen oder nicht. Zweitens: Erhebt mehr als ein Team Anspruch auf die Mittel, gehen alle gleichermaßen leer aus. Denn für diesen Fall kündigen die Kapitalgeber an, sich zurückzuziehen – da die Gründerinnen und Gründer offensichtlich doch weniger clever sind als gedacht. Eine Absprache der Beteiligten untereinander ist ausgeschlossen. Vom Standpunkt der einzelnen Bewerberteams scheint die Sache klar. Wer seinen Anspruch nicht anmeldet, geht mit Sicherheit leer aus. Vernünftig scheint es deshalb zu sein, seinen Anspruch auf jeden Fall zu erklären. Dies führt (als allgemeiner Grundsatz) allerdings unweigerlich dazu, dass am Ende tatsächlich niemand die Finanzierung erhält. Die scheinbar vernünftige Abwägung erzielt also das sowohl kollektiv als auch individuell schlechteste Ergebnis. – Doch gibt es wirklich eine bessere Option, als das Ziel auf direktem Weg erreichen zu wollen und dabei zwangläufig zu scheitern? Das Bespiel ist offensichtlich so angelegt, dass die Antwort positiv ausfällt. Denn es geht ja darum zu verstehen, wie vernünftige Überlegung den Verzicht auf ein vernünftiges Vorgehen nahelegen kann. Also: Da wir es mit tatkräftigen Jungunternehmern und Jungunternehmerinnen zu tun haben, die schon mit ihrer Geschäftsidee und ihrem Businessplan unter Beweis gestellt haben, dass sie die Dinge kreativ, überlegt und ergebnisorientiert angehen, sieht die erfolgreiche Strategie folgendermaßen aus. Alle Beteiligten können voneinander erwarten, unabhängig voneinander zu dem Schluss zu gelangen, dass das einzig wirklich vernünftige Vorgehen in diesem Fall darin besteht, die ›Entscheidung‹ einem nicht-vernünftigen Verfahren zu überlassen. Das bedeutet, da es keine Möglichkeit gibt sich abzusprechen, müssen sie Zuflucht zu einem Zufallsexperiment mit einer geeigneten Ereignismenge nehmen. Alle Teams greifen daher zu Würfel oder Münze, um ihre Rückmeldung an das Auswahlkomitee zu

1.5 In freier Entscheidung gegen die Autonomie?

ermitteln. Die Pointe ist, solange sich alle Beteiligten an das Ergebnis ihres Zufallsexperiments halten, erhöhen sich die Chancen auf die Auszahlung des Risikokapitals erheblich.6 Fallen die Beteiligten allerdings in das ursprüngliche und naheliegende vernünftige Denkmuster zurück – »ohne Anmeldung meines Anspruchs keine Chance auf eine Finanzierung« –, verfehlen sie dieses Ziel auf jeden Fall. Nur durch die vernünftige Entscheidung, die konkrete Entscheidungsfindung in ein (nicht-vernünftiges) Zufallsverfahren auszulagern, ergibt sich in diesem Fall überhaupt eine kollektive – und dadurch dann auch eine individuelle – Chance auf Erfolg.7 Wer diesem Gedankengang folgt, kann nachvollziehen, wie eine vernünftige Abwägung dazu führen kann, die Vernunft bei einer konkreten Entscheidung zu übergehen.8 Für unsere Ausgangsfrage bedeutet dies: Wenigstens in einem schwachen Sinn sollte es in dieser Perspektive auch möglich sein, dass einige Entscheidungen für die (teilweise) Aufgabe der eigenen Autonomie vernünftig sein können.9 Zum Beispiel dann, wenn wir meinen, durch die Aufgabe der Entscheidungshoheit an einer Stelle, Freiräume für die (autonome) Verfolgung wichtiger Projekte an einer anderen zu gewinnen. In der Tat beuten die Werbestrategen der ›smarten‹ neuen Welt diesen Zusammenhang aus. Sie versuchen, uns mit genau dieser Gedankenführung dazu zu bringen, einen Teil der Entscheidungen in unserem Leben an ihre Algorithmen zu delegieren. Der augenscheinliche Erfolg ihrer PR, der sich unter anderem an den entsprechenden Nutzerzahlen und Börsenbewertungen ablesen lässt, hat dabei nicht zuletzt damit zu tun, dass der Moment schwer zu bestimmen ist, an dem die Aufgabe der Hoheit über die eigenen Entscheidungen zur abschüssigen Bahn in die (Selbst-)Entmündigung wird. Dabei droht die Entmündigung sogar von zwei Seiten. Denn einerseits sind die Entscheidungsalgorithmen oft Betriebsgeheimnis und bleiben daher für die Nutzer undurchschaubar. Andererseits ist der Weg in die Selbstentmündigung ein gradueller Prozess. Die Fähigkeit, Entscheidungen ohne die Unterstützung smarter Helfer kompetent zu treffen, kommt uns nicht auf einen Schlag abhanden, sondern nach und nach und kaum merklich. Nur so ist die Überraschung darüber zu erklären, dass eine noch vor nicht allzu langer Zeit völlig alltägliche Situation, wie etwa die Navigation in unbekannter Umgebung, heute oft zu Schnappatmung und Panikpuls führt – nämlich dann, wenn die Anweisungen aus der Mittelkonsole plötzlich ausbleiben.

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Im Fall der bewussten Entscheidung für psychoaktive Substanzen mit hohem Abhängigkeitspotenzial liegt die Sache etwas klarer, denn hier steht der oft umfassenden Aufgabe der eigenen Autonomie kein Versprechen eines dauerhaften Freiheitsgewinns an anderer Stelle gegenüber und der Zeitpunkt des Autonomieverlusts lässt sich zeitlich enger eingrenzen. Ebenfalls kein gradueller Prozess ist der Verlust der Selbstbestimmung bei der Wahl eines totalitären Regimes. Der Punkt, an dem es mit der Freiheit vorbei ist, lässt sich (wenigstens im Nachhinein) meistens genau bestimmen. Ähnliches gilt auch für den Beitritt zu einer totalitären Sekte. Und auch bei der Aufgabe bürgerlicher Freiheiten im Namen der Sicherheit gibt es oft ein wichtiges Ereignis oder eine Maßnahme, die sich als der Anfang vom Ende der Freiheit ausmachen lässt.

≡ Wohnraumüberwachung Bereits im Jahr 2000 arbeitete eine Forschungsgruppe am Georgia Institute of Technology an der Umsetzung der Vision einer Wohnumgebung, die das Leben der Menschen durch den Einsatz elektronischer Helfer erleichtern sollte. Sensoren und ihre intelligente Vernetzung sollten die Bewohner weitgehend von lästigen Routineaufgaben befreien.10 Die Ingenieure und Wissenschaftler überlegten, was nötig wäre, damit aus mobil und stationär erfassten Daten in Verbindung mit einer entsprechenden Software eine echte Hilfe für den Alltag werden kann. Eine ihrer zentralen Forderungen war damals, dass die Hoheit über alle anfallenden Daten stets bei den Nutzern der Technik liegen muss – und zwar gerade auch dann, wenn die Verarbeitung der Daten außer Haus stattfinden sollte. Die Realität des Smart Homes im Jahr 2023 sieht anders aus. In dem inzwischen milliardenschweren Markt verlangen die Anbieter von vorneherein die Zustimmung ihrer Kunden zu einer Nutzung aller anfallenden Daten – für Zwecke, die oft erheblich über den Geschäftszweck hinausgehen. Dies wird spätestens dann zum Problem, wenn sprachgesteuerte Assistentinnen das Wohnzimmer überwachen und jede Anfrage und jedes gesprochene Wort an ihre Hersteller oder Betreiber durchreichen, wenn intelligente Stromzähler11 Daten generieren, die weitreichende Rückschlüsse auf die Lebensgewohnheiten zulassen, wenn die Elektronik des Fitnesstrackers im häuslichen

1.5 In freier Entscheidung gegen die Autonomie?

Trainingsgerät den Gesundheitszustand weitermeldet, oder wenn der autonome Staubsauger die Wohnung kartiert. Und natürlich auch, wenn die Sensoren im Kühlschrank und in den anderen Geräten des Smart Homes auch die letzten weißen Flecken füllen, die es auf der Karte der Lebensgewohnheiten bisher noch gab. Die durchaus charmante Vorstellung des hilfreichen Hauses, so wie sie von den Vordenkern der Georgia Tech ursprünglich formuliert wurde, hat sich in den Geschäftsmodellen der Datenindustrie in ihr Gegenteil verkehrt. Die Freiheit, die der Einzelne durch die Automatisierung von Routineaufgaben hier tatsächlich gewinnen kann, bezahlt er mit der Einladung an die Akteure hinter der Technik, sein Verhalten weiträumig auszuforschen und zu manipulieren.

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1.6 Mills Voraussetzungen und die ›Befehlsgewalt der Gesellschaft‹

Kommen wir nach dem Blick auf die Begrifflichkeit zurück zu den Begrenzungen, denen sowohl einzelne Handlungen als auch die Umsetzung langfristiger eigener Vorhaben im Zusammenleben unterliegen und blicken noch einmal auf Mills Formel. Für ihn beginnt die »Befehlsgewalt der Gesellschaft«1 dort, wo es gilt, Beeinträchtigungen und Schaden für andere zu vermeiden: »Der einzige Teil des Verhaltens eines Menschen, für den er der Gesellschaft gegenüber verantwortlich ist, ist der, der sich auf andere auswirkt. Für den Teil, der allein ihn selbst betrifft, ist seine Unabhängigkeit mit allem Recht absolut. Über sich selbst, seinen eigenen Körper und Geist ist das Individuum alleiniger Herrscher«.2 Und das bedeutet eben auch, wo andere nicht (erheblich) in ihrem Lebensentwurf behindert werden, darf es keine Einmischung geben. Die Voraussetzung dieses durchaus einleuchtenden Gedankens geraten seit einigen Jahren zunehmend unter Druck. Besonders die Trennung von privatem und öffentlichem Leben löst sich auf. Mit der Folge, dass die Anlässe dafür, Beeinträchtigungen oder einen Schaden für andere zu diagnostizieren, vielfältiger werden. Wo Mill noch vor allem die Regierung mit ihren strafbewährten Gesetzen, als diejenige Instanz sah, die das (öffentliche) Handeln des Individuums einschränkte, da erzeugt heute auch eine Vielzahl nicht-staatlicher Akteure einen Zwang. Besonders seit ihnen der systematische Zugriff auf immer mehr Lebensbereiche ihrer Mitmenschen möglich ist, die noch bis vor kurzem dem privaten Leben zuzurechnen waren. Das bedeutet, die »Zwangsherrschaft der Mehrheit«, ihre »soziale Tyrannei« und ihr »despotischer« Übergriff, reichen heute deutlich weiter und können einen sehr viel größeren Einfluss auf die Möglichkeit – oder besser: die Unmöglichkeit – entfalten,

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den eigenen Lebensentwurf selbstbestimmt und frei von Einmischung zu verfolgen.3 Verstärkend wirkt dabei, dass das Wissen der Welt und die Information über viele Dinge zunehmend von einigen wenigen gewinnorientierten Unternehmen organisiert wird. Auch weil die Oligopolisierung von Information oft unter der Schwelle der bewussten Wahrnehmung bleibt, entfaltet sie eine enorme Wirkung. Hinzu kommt, dass unsere derzeitige Lebensweise den direkten Kontakt mit der Welt immer weiter zurückdrängt. Die Folge: Diejenigen, die Wissen und Informationen organisieren und zugänglich machen, bestimmen in noch stärkerem Maß über die allgemeine Weltwahrnehmung, als dies zu einer Zeit möglich war, in der der direkte Kontakt mit den Ereignissen noch eine größere Rolle spielte. Die besondere Brisanz für die individuelle Autonomie liegt hier nicht zuletzt darin, dass gleichzeitig die Bedeutung zuverlässiger Informationen für die Lebensführung in unserer komplexen Welt noch einmal stark zugenommen hat. Auch aus diesem Grund stimmt es nachdenklich, dass dieselben Akteure, die unsere Weltwahrnehmung maßgeblich konfigurieren auch das Werkzeug anbieten, mit dem sich abweichendes Verhalten öffentlich ahnden lässt. Denn dies trägt nicht unerheblich dazu bei, unsere Vorstellungen von einem Leben nach eigenen Vorstellungen in einer offenen Gesellschaft zu untergraben. Jeder Internet-Lynchmob, der sich auf eben den Plattformen organisiert, deren algorithmisch gesteuerte Informationsversorgung den Einzelnen durch die emotionalisierende Auswahl von Inhalten vorher zu Empörung und Hysterie getrieben hat, führt uns diese neue Qualität autonomieschädigenden Verhaltens vor. Der Staatstheoretiker John Locke forderte Ende des 17. Jahrhunderts, die »Freiheit [liberty] des Menschen in der Gesellschaft solle weder unter irgendeiner anderen gesetzgebenden Macht stehen als unter derjenigen, die durch Übereinkommen in der Gemeinschaft eingerichtet wurde, noch unter der Herrschaft eines Willens oder der Beschränkung durch irgendwelche anderen Gesetze, als denjenigen, die von der Legislative aufgrund des in sie gesetzten Vertrauens zu erlassen sind«.4 Jenseits dieser Einschränkung, die sich eine Gesellschaft in gegenseitigem Einvernehmen auferlegt, müsse der Einzelne tun und lassen können, was er will und ohne, dass andere sich einmischen. Genau diese Randbedingung der Freiheit aber, nämlich dass der Einzelne in seinen privaten Handlungen und seinem Lebensentwurf vor Einmischung si-

1.6 Mills Voraussetzungen und die ›Befehlsgewalt der Gesellschaft‹

cher ist,5 erfüllt sich unter den gerade genannten Bedingungen immer weniger.6 Doch was treibt die Entwicklung? Es ist zu einfach, allein einer übergriffigen Datenindustrie die Schuld zu geben. Denn auch wenn deren Geschäftsmodelle ihren Teil dazu beitragen, die Privatsphäre weitgehend abzuschaffen, so wird die Entwicklung durch staatliches Handeln (oder Nicht-Handeln) wenigstens unterstützt und auch unser eigenes Verhalten trägt seinen Teil bei. Die Tendenz, dem unfähigen Bürger in (fast) jeder Lebenslage unter die Arme zu greifen und dafür weit in sein Leben hinein zu regieren, wird begleitet vom Bedürfnis des Einzelnen zur datengetriebenen Optimierung des eigenen Lebens. Hier treiben Nachlässigkeit und Bequemlichkeit viele in eine Komplizenschaft bei der Demontage der Voraussetzungen ihrer Autonomie. Dass ein selbstbestimmtes Leben anstrengend ist, ist unbestritten. Literatur und Philosophie erinnern uns ständig daran. Bereits das delphische ›Erkenne dich selbst!‹ wies mit Nachdruck darauf hin, dass es schon mühevoll genug ist, sich über die eigenen Ziele und Wünsche klar zu werden (was schließlich erst die Voraussetzung für ihre selbstbestimmte Verfolgung ist). Vor diesem Hintergrund erscheinen wohlwollende staatliche Hilfen und die Angebote, sich das Leben durch ›smarte‹ Technik zu erleichtern, attraktiv – auch wenn klar ist, dass deren unüberlegte Annahme zu Autonomieverlusten führt. Im Anschluss an die ideologischen Verwüstungen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts schrieb die Sozialforscherin Hannah Arendt (1906–1975): »Wir wissen […] nicht, aber wir können es ahnen, wie viele Menschen sich in Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit, die Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu ertragen, willig einem System unterwerfen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene Leben nimmt.«7 Und auch wenn Arendt mit dieser Äußerung vor allem den kommunistischen und nationalsozialistischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts im Blick hatte, so trifft ihre Bemerkung erstaunlich gut auch auf den heraufziehenden ›smarten‹ Totalitarismus unserer Zeit zu (mehr dazu in Abschnitt 2.10). Auch wenn es keine politischen Großideologien mehr sind, die versprechen, uns von der Zumutung des autonomen Lebens zu befreien, sondern ein fürsorglicher Staat und mathematische Algorithmen, die uns in aller Freundlichkeit die Last der Entscheidung abnehmen wollen: einem selbstbestimmten Leben bekommt beides nicht gut. Wer hier

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ständig jeder Anstrengung aus dem Weg geht, trägt dazu bei, dass der Bereich, in dem er autonom agieren kann, immer kleiner wird.

≡ ›Smarte‹ Todessehnsucht Die Freiheit, sich auf deutschen Autobahnen mit Höchstgeschwindigkeit zu Tode zu fahren, gehört bis heute ebenso zur deutschen Kultur, wie das Recht Schusswaffen zu tragen zur Kultur der Vereinigten Staaten. Neu ist allerdings die Bereitschaft, das eigene Ableben im Straßenverkehr bewusst in fremde Hände zu legen. Keine Frage, es erleichtert das Leben, wenn der Wagen das Lenken und Fahren selbst übernimmt. Doch damit er dies tun kann, braucht es eine Menge Elektronik: Sensoren, Assistenzsysteme, eine komplexe Software und eine zuverlässige Breitbandverbindung. Da ständig Daten in beide Richtungen ausgetauscht werden (müssen), kann jeder, der sich, legal oder illegal, Zugang zu diesem Datenstrom verschafft, den Befehl zur Vollbremsung bei voller Fahrt geben, das Lenkradschloss einrasten, beschleunigen, abbremsen, die Spur wechseln oder anderen Unfug treiben. Und selbst ohne, dass jemand mit seinem Laptop und bösen Absichten auf der Autobahnbrücke steht, ist die Wahrscheinlichkeit für fatale Ausfälle hoch. Denn je komplizierter der Steuercode, desto mehr nicht definierte Ereignisse, Fehler und Ausfälle produziert er. Dabei steht das autonome Fahrzeug hier nur stellvertretend für all jene Bereiche, in denen die Vernetzung zum Internet der Dinge gerade erst begonnen hat: Kraft- oder Wasserwerke, Flugverkehr und sonstige Infrastruktur, Haushalt, Arbeitswelt und tägliche Routinen. ›Sicherheit und Bequemlichkeit im Tausch gegen Freiheit‹: dass dieser Handel aufgeht, ist nicht ausgemacht. Ohne ständige Wachsamkeit gegen Rückkopplungen, Kreuz- und Kaskadenreaktionen, Ausfälle und zielgerichtete Manipulation jedenfalls wird die elektronisch vernetzte Welt zu einem riskanten und doch eher unsicheren Unterfangen. Doch die Kunden der deutschen Autoindustrie haben sich offenbar bereits entschieden. Für die Möglichkeit, sich auf deutschen Autobahnen mit hohem Tempo in die Leitplanke lenken zu lassen, kehren sie sogar ihrer Hausmarke immer öfter den Rücken, wenn diese mit ihrem Angebot noch nicht so weit ist.

1.7 Das Paradox der besten Wahl

Einen naheliegenden Plan, den Menschen mit einem Schlag von der Zumutung der Autonomie (und damit zugleich von Verantwortung) zu befreien, verfolgen seit geraumer Zeit die Gründer des größten Datenkonzerns der Welt (Google/Alphabet). Mit großem Eifer und Einsatz sind sie dabei, eine ›echte‹ KI (künstliche Intelligenz) zu erschaffen.1 Die Hoffnung, die diese Unternehmung treibt, ist, wie Google-Mitgründer Sergey Brin bereits im Jahr 2004 verkündete, das »künstliche Gehirn, das klüger ist als das eigene.« Das Unterfangen ist naheliegend und überzeugt uns intuitiv, weil es an eine aus der Tradition bekannte Strategie zur Vermeidung von Verantwortung anschließt: den Gottesgedanken. Denn ob jenseitig oder diesseitig, wer den Anweisungen einer Instanz folgt, die (vermeintlich) klüger ist als er selbst, sollte kein schlechtes Gewissen haben müssen, wenn er das eigene Denken einstellt. Die säkularisierte Variante des Versuchs, uns auf diese Weise von der Verantwortung für unsere Entscheidungen und Handlungen zu befreien, stellt ein weiteres Mal die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Vernunft. Sie ist eine gute Veranschaulichung für das Paradox, in das eine allzu enge Verbindung der beiden Vorstellungen führt. Erinnern wir uns kurz an die Behauptung, wir seien nur dann wirklich autonom, wenn wir den Geboten der Vernunft folgen (s. oben Abschnitt 1.4). Die naheliegende und sehr verbreitete Möglichkeit dies zu interpretieren ist es, die vernünftige Wahl als die Entscheidung für die jeweils beste Option zu verstehen. Diese Interpretation ist nicht nur der Grund dafür, dass der Gedanke einer künstlichen Über-Intelligenz, die ständig die beste Möglichkeit ermittelt, attraktiv erscheint, sondern führt uns eben zugleich auch den Widersinn vor Augen, der in dieser Gleichsetzung liegt. Wenn Autonomie nämlich tatsächlich bedeuten soll, sich stets für die beste Möglichkeit zu entscheiden, folgt daraus unmittelbar, dass jeder Wissenszuwachs uns ein Stück unserer Freiheit nimmt.2

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Schließlich gibt es für diejenigen, die die beste Möglichkeit kennen, am Ende nichts mehr zu entscheiden; sie sind, qua Definition, gezwungen die beste Möglichkeit zu wählen, sofern sie autonom sein wollen. Und das bedeutet: dadurch, dass sie der Vernunft folgen, tritt das Gegenteil dessen ein, was beabsichtigt war. Alternativlose Aktionen anstelle autonomer Entscheidungen. Die einzige freie Entscheidung, die es unter dieser Voraussetzung noch zu treffen gilt, ist die, die beste Lösung anzunehmen oder sich ihr zu verweigern. Die Vorstellung, es ließe sich bei richtiger Organisation ein individuelles oder kollektives Maximum im Leben erreichen, hat schon früher immer wieder ihre Anziehungskraft entfaltet. Sie befeuert unter anderem die klassischen Gesellschaftsutopien mit ihren Entwürfen für den ›besten‹ Staat. Dennoch ist sie, wie wir gerade gesehen haben, bei genauerer Betrachtung wenig überzeugend, weil sie am Ende zu einer gänzlich unplausiblen Vorstellung der Autonomie führt, zu einem Verständnis von Autonomie als dem ›Zwang zur besten Option‹. Daran kann auch das Marketing der Datenindustrie, das sich auch dieser Denkfigur gern bedient, nichts ändern. Jederzeit alles über alle und alles zu wissen, vergrößert unsere Autonomie auch dann nicht, wenn es einer Maschinenintelligenz tatsächlich gelänge, aus den gesammelten Daten tatsächlich für jeden eine beste (Lebens-) Strategie abzuleiten. – Was allerdings nicht möglich ist, weil die Vorstellung eines Optimums in der Lebensführung auf einem Denkfehler beruht. Das heißt, selbst wenn es nicht zuträfe, »dass es eine Folge der Rationalität ist, dass eine Wahl – und die Freiheit definiert als Möglichkeit – […] durch echtes Wissen nicht erweitert, sondern vernichtet wird«,3 so hilft diese Vorstellung nicht weiter. Denn in der Welt der Erfahrung und außerhalb axiomatischer Systeme ist es schlicht falsch, dass es in jedem Fall, oder auch nur in einer Mehrheit der Fälle, jeweils eine vernünftige oder beste Option gibt. In der Regel gilt sogar das Gegenteil. Kaffee oder Tee, Shakespeare oder Goethe, Apple OS oder Android? Selbst bei einer derart reduzierten Auswahl ist oft nicht zu bestimmen, wer oder was hier die vernünftige beziehungsweise beste Wahl ist; ja oft lässt sich noch nicht einmal sagen, welche Option besser und welche schlechter ist. Doch woran liegt es, dass dieser Gedanke überhaupt eine breite Überzeugungskraft im allgemeinen Bewusstsein entfalten konnte? Es hat damit zu tun, dass er naheliegend ist. Und auch damit, dass viele Denker des Rationalismus die Annahme einer besten Option für un-

1.7 Das Paradox der besten Wahl

problematisch hielten und die Vorstellung im allgemeinen Bewusstsein verankern konnten. Das Ideal des (historischen) Rationalismus war die Mathematik, eine Disziplin, die auf Axiomen aufbaut, auf Annahmen, die nicht weiter bewiesen werden (müssen) und die deshalb für die Gültigkeit ihrer Aussagen nicht auf die Erfahrungswelt angewiesen ist. Dort haben Sätze und Gleichungen deshalb tatsächlich oft eine einzige richtige Lösung. Hinzu kommt, dass die aufkommende neue Physik im Gefolge von Isaac Newton, die Hoffnung nährte, gewissenhafte Forschung könne in der Erfahrungswelt zu ebenso eindeutigen Aussagen führen. Heute wissen wir, dass und warum diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen kann.4 Ein weiterer Grund dafür, dass die Vordenker des Rationalismus die Vorstellung einer besten Lösung für unproblematisch hielten, ist ihr fester Glaube daran, dass die Vernunft letztlich alle Ziele miteinander in Einklang bringt, dass die ideale Welt der Ratio also frei von Widersprüchen ist.5 Auch dies ist fraglich. Denn selbst wenn wir annehmen, dass alle Beteiligten ausschließlich vernünftige Ziele verfolgen, so schließt dies offensichtlich nicht aus, dass diese Ziele sich unterscheiden und in Konflikt miteinander geraten können. Und nicht einmal die Annahme, dass alle Beteiligten dasselbe Ziel verfolgen, kann Konflikte zuverlässig verhindern. Schon Immanuel Kant notierte in diesem Zusammenhang mit gewohntem Esprit, dass auch bei übereinstimmenden Zielen immer die Möglichkeit besteht, dass »eine Harmonie heraus(kommt), die derjenigen ähnlich ist, welche ein gewisses Spottgedicht auf die Seeleneintracht zweier sich zu Grunde richtenden Eheleute schildert: O wundervolle Harmonie, was er will, will auch sie etc., oder was von der Anheischigmachung König Franz des Ersten gegen Kaiser Karl den Fünften erzählt wird: was mein Bruder Karl haben will (Mailand), das will ich auch haben.«6 Die Pointe an dieser Stelle ist also: Fällt die intuitiv durchaus naheliegende Vorstellung, es gebe die eine richtige Interpretation, so fällt damit zugleich die Möglichkeit der besten Lösung. In einer Welt, in der es mehrere (gleichermaßen richtige) Interpretation gibt, kann es allein schon aus diesem Grund kein (globales) Optimum geben. Wer Autonomie also auf die Fähigkeit reduziert, sich für eine vermeintlich beste Lösung zu entscheiden, geht nicht nur von einer wenig plausiblen Voraussetzung aus, sondern operiert mit einer bei genauerer Betrachtung unverständlichen weil sinnlosen Vorstellung. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass eine überzeugende Konzeption der Autonomie immer auch die

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Freiheit einschließt, sich für eine unvernünftige, suboptimale Möglichkeit zu entscheiden. Und sie schließt sogar die Möglichkeit ein, einer moralisch zweifelhaften Option den Vorzug zu geben.7 Dafür, dass ein solches Verständnis unsere Vorstellung besser trifft als die Bestimmung der Autonomie als Fähigkeit, ständig dem Gebot der Vernunft zu folgen, spricht zudem die Beobachtung, dass wir selbst die ›Fehler‹ in unseren Lebensentwürfen und die Reibungsverluste, die aus der bewussten Wahl einer zweit- oder drittbesten Option entstehen, in aller Regel als wesentlichen Teil dessen betrachten, was uns ausmacht – und zwar deshalb, weil wir es sind oder waren, die so entschieden haben. So wäre denn im Eingangsbeispiel etwa die Entscheidung, (bewusst) den unvernünftigen Weg zu nehmen und sich gegen eine durchgängig gesunde oder risikovermeidende Lebensführung zu entscheiden, durchaus autonom8 – und jeder Eingriff von außen ein Eingriff in die Autonomie desjenigen, der sich so entschieden hat. Halten wir fest: Auch wenn Autonomie nicht auf Vernunft verzichten kann, so folgt daraus kein Zwang, stets vernünftig entscheiden und handeln zu müssen. Autonomes Handeln schließt »die Fähigkeit ein, unsere Vorstellung vom Guten voranzutreiben, soweit dies vereinbar ist mit der Beachtung der fairen Regeln gesellschaftlicher Zusammenarbeit.«9 Und dies heißt eben auch, gelegentlich mit Absicht zweit- und drittbeste Lösungen zu wählen und sich für Dinge zu entscheiden, von denen wir wissen, dass sie nicht gut für uns sind. Und auch derjenige, der seine Vernunft gezielt dazu einsetzt, einen Schaden nicht für sich selbst, sondern für seine Mitmenschen zu erzeugen, ist nach dieser Bestimmung autonom (sofern seine Vorstellungen vom ›Guten‹ denn in diese Richtung gehen). Allerdings verletzt sein Handeln Mills Kriterium, so dass er sich an dieser Stelle eben von denjenigen unterscheidet, die sich in Bezug auf ihr eigenes Leben bewusst gegen bessere Möglichkeiten entscheiden und das Recht auf eigene Fehler als Teil ihrer Autonomie betrachten. Und damit kommen wir schließlich noch einmal zu dem Gedanken zurück, der diesen Abschnitt einleitete. Es dürfte deutlich geworden sein, warum wir uns nicht dadurch von unserer Autonomie und damit zugleich von der Verantwortung für unser Tun befreien können, dass wir die Entscheidungen einer Instanz überlassen, die (vermeintlich) klüger ist als wir. Egal ob diese Instanz uns, wie die längste Zeit üblich, in ihrer religiösen Variante gegenübertritt, oder in der säkularisierten Version einer Maschinenintelligenz begegnet: Bereits die hier vorausgesetzte Vorstellung einer ›besten Lösung‹ ist falsch, weil die Rede vom

1.7 Das Paradox der besten Wahl

Optimum nur in klar definierten (axiomatischen) Zusammenhängen überhaupt sinnvoll ist. Eine Ideologie der besten Lösung und der Fehlervermeidung wird unserer Autonomie deshalb nicht gerecht – und wer sich an ihr orientiert, schwächt sie, anstatt sie zu stärken.

≡ Schuldvermutung Nur Optimisten denken bei einer Politik zur ›vorausschauenden‹ Verbrechensbekämpfung, dass es hier darum ginge, kriminellem Verhalten durch bessere Bildung vorzubeugen, durch das Bemühen, Lebensperspektiven zu eröffnen, oder durch eine Ausweitung der gesellschaftlichen Teilhabe. Tatsächlich erschöpft sich die vorausschauende Polizeiarbeit [predictive policing] in aller Regel darin, eine Schuldvermutungen zu formulieren, bevor es überhaupt zu einer Tat gekommen ist – und auf dieser Grundlage ordnungspolitisch tätig zu werden. Das Misstrauen richtet sich einerseits, täterorientiert, nach der Vermutung, dass die prospektiven Verbrecher möglichst wenig Aufwand treiben und deshalb (wiederholt) in der ihnen vertrauten Umgebung tätig werden. Andererseits wird, objektorientiert, unterstellt, dass Taten derselben Kategorie im selben Umfeld eine erhöhte Wahrscheinlichkeit haben. Dies ist zunächst unabhängig vom Fokus auf einzelne Täter. Der Zusammenhang ist jedenfalls statistisch auffällig und belegt. Das Kernstück der vorausschauenden Verbrechensbekämpfung ist die automatische Auswertung und Zusammenführung von Daten und Informationen aus verschiedenen Quellen. Die maschinelle Analyse führt bei vordefinierten Abweichungen vom Normalfall automatisch zum Alarm. Eine ungewöhnliche Verweildauer an bestimmten Orten etwa, oder auch eine auffällige Art sich zu bewegen, können hier bereits einen Verdacht begründen. Die Anbieter der entsprechenden Technik werben schon heute mit den spektakulären Erfolgen ihrer ›Mustererkennung‹. Ob zu Recht oder Unrecht, ist schwer zu überprüfen. Nach einigen Pilot- und Testprojekten, etwa in Berlin, Hamburg, Stuttgart, Karlsruhe oder Hannover, ist die vorausschauende Polizeiarbeit auch hierzulande inzwischen im Regeleinsatz. Systeme mit Kürzeln wie ›precobs‹ (Pre Crime Observation System) oder ›Skala‹ überwachen den öffentlichen Raum und haben auffällige Personen im Vi-

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sier. Der offizielle Zweck ist es Einbrüche sowie Eigentums- und KfzDelikte zu verhindern, auch wenn trotz der zahlreichen Pilotstudien bis heute nicht klar ist, wie viele solcher Delikte (wenn überhaupt) diese Art der präventiven Generalüberwachung tatsächlich verhindert. Klar dagegen ist, dass der allgemeine Verdacht gegen Bürger und Bürgerinnen mit dem Ideal eines gesellschaftlichen Miteinanders in Freiheit unvereinbar ist.

1.8 Das Dogma der Effizienz

Eng verbunden mit der Ideologie der besten Lösung ist der Effizienzgedanke. Auch er ist im Hinblick auf die Autonomie problematisch. Einerseits, weil Effizienzgewinne, wenn sie durch verbindliche Standards erreicht werden sollen, auf Kosten der Freiheit gehen. Andererseits, weil der Versuch der Effizienzsteigerung oft einen gegenteiligen Effekt hat und die Beteiligten am Ende gezwungen sind, größeren Aufwand für dasselbe Ergebnis zu treiben – mit den entsprechenden Freiheitseinbußen. Ein anschauliches Beispiel ist die europäische Hochschulreform von 1999. Sie soll hier stellvertretend für eine große Zahl ähnlicher Fälle stehen. Als Beispiel eignet sie sich besonders gut, weil der Bereich, um den es hier geht, selbst erheblichen Einfluss auf die Möglichkeit zukünftiger Effizienzsteigerungen hat. Betrachten wir die Angelegenheit genauer. Das Kerngeschäft der Hochschulen ist ein zweifaches: Lehre und Forschung, die Vermittlung von Wissen und dessen Vermehrung. Die Hochschulreform von 1999 hatte sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, beides deutlich effizienter zu machen. In der Lehre bedeutete dies ›Normierung‹ und ›Ausrichtung von Studieninhalten an den Bedürfnissen des Marktes‹.1 Per Verordnung wurden deshalb Studienzeiten und Abbruchquoten reduziert,2 Inhalte so umverpackt, dass sich standardisierte Module ergaben, Studiengänge akkreditiert, diverse Evaluations-, Dokumentations- und Rückmeldemechanismen installiert, sowie ein Verrechnungssystem zur ständigen Leistungsbewertung der Studierenden vorgegeben. Die Forschung, auf der anderen Seite, sollte sich vermehrt nichtstaatliche Finanzierungen, sogenannte ›Drittmittel‹, erschließen und ihren Schwerpunkt auf anwendungsbezogene und direkt verwertbare Ergebnisse legen.3 Das erste Ergebnis der Hochschulreform ist deshalb, wenig überraschend, eine erhebliche Zunahme des Verwaltungsaufwands, nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Forschung. Daraus

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folgte unmittelbar eine Veränderung des Anforderungsprofils an das akademische Personal. Wer heute an europäischen Hochschulen lehren und forschen will, muss vor allem willens sein, seine Tätigkeit stets umfassend zu dokumentieren. Und er muss Routine haben in der Erstellung von Drittmittelanträgen – worauf viele Stellenausschreibungen inzwischen auch vollkommen ironiefrei hinweisen. Im Ergebnis leiten die bürokratischen Nebenprodukte der BolognaEffizienzinitiative Ressourcen in erheblichem Umfang um. Genau für die Tätigkeiten, die durch die Reform ursprünglich optimiert werden sollten, stehen sie seitdem deshalb immer weniger zur Verfügung. Eine wichtige Begleiterscheinung ist dabei auch der Rückgang von Forschung abseits der ausgetretenen Pfade. Zwar macht diese einen echten Fortschritt überhaupt erst möglich,4 doch unter Bologna-Bedingungen ist sie Sand im neu eingestellten Getriebe (weil schlecht zu normieren) und ein Karrierehemmnis für die beteiligten Wissenschaftler. Denn wer mit seinen originellen Ideen in den Besetzungsverfahren direkt gegen diejenigen antritt, die die neuen Bürokratismen besser beherrschen als die Inhalte ihres Fachs, hat nicht selten das Nachsehen. So trägt das Effizienzdenken hier in der Tat dazu bei, »die Wüste unseres Denkens jeden Tag ein Stückchen weiter wachsen« zu lassen.5 Das grundsätzliche Dilemma, das besonders der Versuch einer Effizienzsteigerung der Forschung mit den Mitteln der Verwaltung deutlich macht, ist, dass derartigere Optimierungsversuche ihre eigenen Voraussetzungen untergraben. Wer Überraschungsmomente, Unvorhersehbarkeit und Misserfolg im Namen der Effizienz administrativ einhegt, erschwert direkt die zukünftige Effizienzsteigerung. Um nicht nur die bestehenden Verfahren zu verbessern, sondern neue zu entdecken, braucht es schließlich Freiheit, nämlich die Freiheit Umwege zu gehen und mit ungewöhnlichen Ideen gelegentlich auch Schiffbruch zu erleiden. Jedes System, das dies ignoriert und ausschließen möchte, endet in der Stagnationshölle der trivialen Innovation, also der nur vermeintlichen Verbesserung. Der Versuch, Forschung durch eine Einschränkung der Freiheit effizienter zu gestalten, untergräbt den Fortschritt. Dieser Gedanke ist nicht neu. Samuel Bailey etwa weist bereits in einer 1821 erschienenen Schrift darauf hin, dass es wohl »kein größeres Hindernis für den Fortschritt in den Wissenschaften gibt, als den fortwährenden und besorgten Hinweis auf den greifbaren Nutzen in jedem Schritt.«6 Was diesen Hinweis bemerkenswert macht, ist sein Autor; denn dieser war bekennender An-

1.8 Das Dogma der Effizienz

hänger des Utilitarismus, also der Denkrichtung, für die es kein wichtigeres Prinzip gibt als die Nützlichkeit. Unterstützung erfährt Bailey auch von seinem Landsmann Mill, der, obwohl sogar ein zentraler Ideengeber des Utilitarismus, ähnlicher Meinung ist. Er illustriert seine Feststellung, dass Freiheit die unverzichtbare Voraussetzung echten Fortschritts ist, mit dem Verweis auf China. Dieses Land, so bemerkt er bereits vor gut 150 Jahren, sei zwar »eine Nation von großem Talent und, in mancher Hinsicht, sogar Weisheit, die sie ihrem besonderen Glück verdankt, mit einem besonders guten System von gesellschaftlichen Bräuchen« begonnen zu haben. Aber es sei eben auch eine Nation des erfinderischen Stillstands, der eine direkte Folge des Versuchs sei, »die Menschen alle gleich zu machen«7 – und damit den kreativen Ideen und den Köpfen hinter ihnen keinen Raum lässt. Etwas näher an der Gegenwart als Bailey und Mill ist Friedrich August Hayek, wenn er Mitte des letzten Jahrhunderts anmerkt: »In der Vergangenheit konnten die spontanen Kräfte des Wachstums, so sehr sie auch eingeschränkt wurden, sich für gewöhnlich noch gegen den organisierten Zwang […] behaupten. Mit den technischen Mitteln, die […] heute zur Verfügung stehen […] könnte dies bald unmöglich sein. Wir sind nicht weit von dem Punkt, an dem die straff organisierten Kräfte der Gesellschaft vielleicht jene spontanen Kräfte zerstören, die den Fortschritt allererst möglich gemacht haben.«8 Dies klingt, vor allem wenn man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte betrachtet, nicht gänzlich abwegig.9

≡ Nichts geht verloren 2004 in den USA erstmals zur Anwendung im Menschen zugelassen, ist die RFID-Technik (radio-frequency identification) aus dem Alltag heute nicht mehr weg zu denken. Die nützlichen Chips, die mit bloßem Auge gerade noch zu erkennen sind, markieren Waren im Supermarkt, verhindern, dass Bücher aus Bibliotheken abhandenkommen und wenn sie Tieren oder Menschen implantiert werden, stellen sie sicher, dass diese nicht verloren gehen. Nicht nur geistig verwirrte Personen und die Kinder von überfürsorglichen Eltern lassen sich mit ihnen jederzeit orten, sondern auch Soldaten im Feld (oder das, was von ihnen übrig ist). Firmen setzen die Identifikations-Chips ihrem Personal ein, um den Zugang zu sensiblen Bereichen zu regeln und um ihre

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Arbeitskräfte zu überwachen; und auch Gefängnisse RFID-chippen ihre Insassen gerne. Der Vorteil dieser Technik: sie ist billig und taugt für den Masseneinsatz. Ihre Befürworter weisen gern darauf hin, dass auf den Chips keine Daten gespeichert werden, abgesehen von einer Zeichenfolge, die eine eindeutige Identifikation und Ortsbestimmung des mit dem Chip versehenen Gegenstandes zulassen – egal ob dies der Rasierschaum im Supermarkt ist oder das Kleinkind auf dem Spielplatz. So geht nie mehr etwas verloren. Und die RFID-Technik wird zur nützlichen und hilfreichen Begleiterin im Alltag. Zu einer harmlosen Begleiterin zudem, weil der Transponder schließlich nur eine ID speichert und weiterführende Informationen an anderer Stelle hinterlegt werden müssen. Dennoch gilt, je weiter sich die Technik verbreitet, desto mehr verraten diejenigen, die an den Scannern vorbeikommen denjenigen, die die Server betreiben: Wo sie sich wann aufhalten, für was sie gerne Geld ausgeben und mit wem sie sich treffen. Wer Zugriff auf diese Daten hat, hat deshalb einen deutlichen Informationsvorsprung. Er kann seine Software Profile erstellen und Aktivitäten ermitteln lassen – und die so erlangten Erkenntnisse entsprechend verwerten. Er kann Zugangs- und Zugriffsmöglichkeiten einschränken oder gewähren, Menschenrechtsaktivisten oder andere Unzufriedene identifizieren, Abweichlern das Leben schwer machen oder sie gleich ganz aus dem Verkehr ziehen. Eine Regierung, die ihre Untertanen flächendeckend mit den Chips ausstattet, kann jeden Protest gegen die herrschende Ordnung bereits im Keim ersticken. Aus der Luft gegriffene Szenarien? Eher nicht, denn wir leben in einer Zeit, in der die RFID-Technik längst auch bei uns großflächig verbaut wird und die Geräte zum Auslesen ständig mehr werden.10 Sie findet sich unter anderem in jeder Geldkarte und in offiziellen Ausweisdokumenten, also genau in den Dingen, ohne die kaum jemand das Haus verlässt. Ob es wirklich klug ist, der Entwicklung hin zu einer Welt, in der Menschen und Dinge jederzeit und überall automatisch aufzufinden sind, mit einem Schulterzucken zu begegnen, ist deshalb mehr als fraglich.

1.9 Nudging: der Mensch als Maschine

Kommen wir nach dem Blick auf den ›Effizienzgedanken‹ und die Ideologie der ›besten Wahl‹ noch ein weiteres Mal zurück auf das Verhältnis von Autonomie und Vernunft. Denn neben den bisher genannten Gründen dafür, sie nicht allzu eng aneinander zu binden, gibt es noch eine weitere Überlegung, die Zurückhaltung nahelegt. Die enge Verknüpfung begünstigt eine paternalistische Argumentation und stellt einen Blankocheck für freundliche Nachhilfe durch Gesetzte, Ge- und Verbote aus.1 Der Gedankengang geht so: Wenn autonom zu sein bedeutet, den Geboten der Vernunft zu folgen, sind offensichtlich all diejenigen (paternalistisch) zu unterstützen, die unvernünftig handeln. Und zwar in ihrem eigenen Interesse, denn dies stärkt und fördert schließlich ihre Autonomie. Dabei ist es dann auch völlig unerheblich, ob die Hilfe erwünscht ist oder nicht. Tatsächlich ist das Argumentationsmuster aus der Geschichte hinlänglich bekannt. Die Führungsriegen organisierter Religionsgemeinschaften haben sich seiner stets gern bedient, wenn es galt, die Gefolgschaft in deren eigenem Interesse auf Linie zu bringen.2 Heute, nach dem (partiellen) Rückzug der organisierten Religion aus dem öffentlichen Leben, sind politische Glaubenssysteme an ihre Stelle getreten. Besonders prominent rechtfertigten beispielsweise der Nationalsozialismus und der Kommunismus ihr Recht zum Durchgriff auf das Leben der Untertanen. Und nachdem in aufgeklärten Gesellschaften die allzu offene Berufung auf unumstößliche religiöse und ideologische Wahrheiten fragwürdig geworden ist, begegnet uns das Denkmuster nun in wissenschaftlicher Verkleidung wieder. Die Erkenntnisse von Biologie, Psychologie, Gesellschaftswissenschaften und Kognitionsforschung, im Verein mit der Möglichkeit, Verhalten, Vorlieben und allgemeine Lebensumstände des Menschen immer genauer zu bestimmen, ermutigen die Entscheider von heute zu der Annahme, die Berufung auf das Eigeninteres-

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se ihrer Bürger gebe ihnen das Recht, diese auch gegen ihren Willen zu betreuen. Die Rückendeckung von Experten aus der Wissenschaft scheint sie zu jeder Art von wohlwollender Einmischung zu ermächtigen.3 Tatsächlich führt die überinterpretierte Verbindung von Autonomie und Vernunft bis heute an vielen Stellen zu Unfreiheit, zu »Fundamentalismus, Verfolgung und Intoleranz«.4 Dafür sorgt, an der Schwelle zum Zweiten Maschinenzeitalter,5 eben die Wissenschaft – lange nachdem die Heilige Inquisition und die kommunistischen und nationalsozialistischen Versuche, durch gezielte Nachhilfe den Neuen Menschen zu erschaffen, im Archiv der toxischen Ideen eingelagert wurden. Im Ergebnis ist es allerdings nebensächlich, ob sich die Verfechter paternalistischer Fürsorge auf jenseitige Prinzipien, politische Dogmen oder eben auf die Erkenntnisse der Wissenschaft berufen. Die Behauptung, aufgrund der eigenen überlegenen Einsicht und Vernunft seine Mitmenschen zu einem bestimmten Verhalten nötigen zu dürfen, ist stets respektlos und immer ein unzulässiger Eingriff in deren Autonomie. Doch der Paternalismus ist nicht nur deshalb fragwürdig, weil er sich über die Autonomie von Menschen hinwegsetzt, sondern auch, weil er sich auf eine sehr zweifelhafte Annahme stützt. Sie lautet, dass Menschen durch äußere Impulse beliebig gesteuert werden können. Eine wichtige Voraussetzung dieser Annahme ist ein mechanistisches Menschenbild, also die Gleichsetzung des Menschen mit einer Maschine und die aus dieser Gleichsetzung abgeleitete Überzeugung, er ließe sich auf ähnliche Weise manipulieren und optimieren. Was für manche Ohren absurd klingen mag, ist tatsächlich eine verbreitete Meinung, die auf eine lange geistesgeschichtliche Tradition zurückblickt. Diese beginnt mit René Descartes (1596–1650), dem Begründer des neuzeitlichen Rationalismus. Er war maßgeblich dafür verantwortlich, die Vorstellung vom Menschen als mechanischem Wesen zu popularisieren. Sein Vorschlag hatte durchschlagenden Erfolg und ist auch knappe vierhundert Jahren später noch sehr lebendig. Er bildet die Grundlage für den Glauben, man müsse auch beim Menschen nur an den entsprechenden Stellschrauben drehen, um zuverlässig bestimmte Ergebnisse zu erhalten. Dabei kann sich der mechanistische Blick auf den Menschen, wie erwähnt, heute auf Unterstützung aus vielen wissenschaftlichen Disziplinen verlassen. Entdeckungen der Medizin und der Molekularbiologie, der Verhaltens- und Kognitionswissenschaften scheinen dieses Menschenbild zu bestätigen, wo immer sie nahelegen, dass

1.9 Nudging: der Mensch als Maschine

ein gezielter Eingriff zuverlässig zu einer bestimmten Reaktion führt. Dennoch bleibt das mechanistische Bild des Menschen aber die Folge eines gleich doppelt überinterpretierten Rationalismus: einer übermäßig engen Verbindung von Vernunft und Autonomie auf der einen Seite und eben der Maschinenanalogie auf der anderen. Wer sich dies bewusst macht und dennoch nicht bereit ist, sich seine paternalistische Berufung nehmen zu lassen, muss daher konsequent ausblenden, dass Vernunft mehr ist als das Vermögen, den effizientesten Weg zu einem vorgegebenen Ziel zu ermitteln, eine Einsicht, die für die Denker des und 18. und 19. Jahrhunderts (im Nachgang des Rationalismus) noch selbstverständlich war.6 Denn sobald in den Blick kommt, dass Vernunft nicht nur das Vermögen der Mittel, sondern auch das Vermögen der Zwecke und Ziele ist, wird deutlich, wie kontraproduktiv und absurd Optimierungsbestrebungen in vielen Fällen sind. Dies gilt besonders dort, wo menschliche Freiheit und menschliches Glück Teil der Gleichung sind. Der Anthropologe David Graeber (1961–2020) stellt in seiner Analyse der modernen Arbeitswelt beispielsweise fest: »›Effizienz‹ bedeutet mittlerweile, Managern, Aufsichtspersonen und anderen ›Effizienzexperten‹ mehr und mehr Macht zu verleihen, so dass die Menschen, die tatsächlich etwas herstellen, so gut wie keine Autonomie mehr haben. Gleichzeitig scheint sich die Klasse und die Schicht der Manager endlos selbst zu vermehren.«7 In anderen Worten: In der Arbeitswelt der ausentwickelten Ökonomien des Westens führt das Effizienzdogma nicht nur zu Autonomieeinbußen, sondern am Ende zum genauen Gegenteil dessen, was beabsichtigt ist. Statt die Produktivität zu steigern, verringert sie sich durch die Institutionalisierung der Effizienzideologie.8 Denn die ständigen administrativen Kontrolleingriffe und Rückmeldungsschleifen erzeugen bürokratischen Leerlauf und krankheitsbedingte Ausfälle, als Folge der Unzufriedenheit der Arbeitnehmer mit dem hohen Grad an Fremdbestimmung. Ein Ergebnis, dass zunächst überrascht, weil nach dem Mauerfall und nach dem Ende der Systemrivalität mit ihren Reibungsverlusten eher das Gegenteil zu erwarten gewesen wäre. Doch zurück zum mechanistischen Blick auf den Menschen. Vor einiger Zeit veröffentlichten Richard Thaler und Cass Sunstein eine Abhandlung unter dem Titel Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness.9 In diesem viel beachteten Werk entwickeln sie, wie Menschen durch unterschwellige Reize, das heißt, ohne dass die Betroffenen dies selbst wahrnehmen, »in ihrem eigenen Interesse«

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gelenkt werden können. Obwohl die beiden Autoren an der Universität von Chicago lehren und wohl nicht im russischen, chinesischen, oder nordkoreanischen Sold stehen, treten sie mit Nachdruck dafür ein, erwachsene Menschen wie Kinder zu behandeln, die durch die Vorstrukturierung von Entscheidungen in Richtung ihres Glücks ›geschubst‹10 werden müssen. Ihre Abhandlung ist reich an praktischen Hinweisen, wie sich dies am besten bewerkstelligen lässt. Und es dürfte nicht zuletzt an der Anschaulichkeit ihrer Darstellung liegen, dass viele Entscheidungsträger ihre Vorschläge mit großem Wohlwollen zur Kenntnis genommen und in ihr Handlungsrepertoire aufgenommen haben. Egal, ob es darum geht, Menschen durch die clevere Präsentation des Kantinenessens mit Grünkern-Bratlingen zu überrumpeln und sie vom ungesunden Burger abzubringen,11 oder darum, ihnen den Einstieg in einen Rentensparplan durch eine vorstrukturierte Auswahl zu erleichtern,12 oder auch nur darum, ihnen beim früheren Aufstehen im Winter durch einen Zeitumstellungs-Schubs zu helfen:13 die Vorschläge fielen in den Entscheidungsetagen auf fruchtbaren Boden. Die Steuerung erwachsener Menschen halten Thaler und Sunstein wenigstens so lange für unproblematisch, ja sogar für erstrebenswert, solange das Ziel der Manipulation das ›Glück‹ der Menschen ist. Dabei entspringt die Motivation für ihre Haltung der unerschütterlichen Überzeugung, dass ihre Mitmenschen, auf sich allein gestellt, unfähig zu klugen Entscheidungen sind und deshalb ihr Glück fast zwangsläufig verfehlen. Sie »gehen systematisch in die Irre«14 und »haben Probleme mit der Selbstkontrolle«.15 Obwohl die unterschwellige Manipulation keine Erfindung von Thaler und Sunstein ist, so erteilen sie ihr mit ihrem Bestseller-Erfolg doch den (populär-)wissenschaftlichen Ritterschlag und haben damit einen erheblichen Anteil daran, dass diese Art zu denken auch in Demokratien inzwischen zu einem akzeptierten Mittel des Regierungshandelns geworden ist.16 Der Unterschied zu den üblichen Praktiken der Manipulation durch die Werbewirtschaft ist, dass es hier nicht darum geht, den Absatz von Waren und Dienstleitungen zu steigern, sondern um einen bewussten Eingriff in die Autonomie von erwachsenen Menschen, der durch nichts zu legitimieren ist. Um von diesem Umstand abzulenken, verharmlosen die Autoren ihre Vorschläge als »libertären Paternalismus«. »Extrem freiheitlich«, wie der Duden uns als Übersetzung für ›libertär‹ mitteilt,17 ist an dieser Art der Manipulation jedoch im besten Fall, dass die Regierungen, die ihre

1.9 Nudging: der Mensch als Maschine

Bürger und Bürgerinnen in dieser Weise steuern, noch in freien Wahlen ermittelt wurden. Die Kritik am libertären Paternalismus von Thaler und Sunstein kommt aus mehreren Richtungen. In unserem Zusammenhang sind dabei vor allem drei Gedanken wichtig. Erstens widerspricht die unterschwellige Beeinflussung der Vorstellung vom selbstbestimmten Individuum, wie sie die Aufklärung formuliert. Sie erklärt erwachsene Menschen für unfähig, Entscheidungen für sich selbst zu treffen.18 Zweitens und damit zusammenhängend greift jeder Paternalismus, ob nun libertär oder nicht, auf respektlose und unzulässige Weise in das Recht der Menschen ein, ihre Ziele ohne Einmischung zu verfolgen. Er zwingt den Einzelnen wenigstens dazu, bei jeder Entscheidung zu überlegen, ob er gerade Opfer einer unterschwelligen Vorstrukturierung wird, die seine Präferenzen trickreich unterlaufen soll. Und drittens ist die Grundlage der von Thaler und Sunstein vorgeschlagenen paternalistischen Manipulation unklar. Wer darf hier für andere entscheiden, mit welchem Recht und nach welchen Vorgaben? An welchem Grundsatz richtet sich die Manipulation aus, was ist ihr Ziel? Und schließlich: Wer stellt sicher, dass die Steuerung und Lenkung tatsächlich den ›wahren‹ Interessen des Einzelnen oder der Gemeinschaft entspricht und nicht etwa nur den Interessen der Entscheidungsarchitekten dient – oder dass diese überhaupt richtig liegen mit ihrer Einschätzung der ›wahren‹ Interessen ihrer Mitmenschen? Kurz, der Anspruch, das Individuum in dieser Weise vor sich selbst zu schützen oder es durch entsprechende Anstöße zu seinem Glück zu nötigen, greift erheblich in dessen Autonomie ein, und wirft grundlegende Fragen auf. Wenigstens auf die Frage nach dem Grundsatz, an dem sich die Vorstrukturierung von Wahlmöglichkeiten ausrichten soll, geben Thaler und Sunstein tatsächlich selbst eine Antwort. Im Geist des Kollektivismus schlagen sie vor, die Richtschnur müsse sein, dass das erwünschte Verhalten dem »Wohl der Gesellschaft« dient.19 Viel mehr erfahren wir in dieser Angelegenheit dann allerdings auch nicht. Was etwas enttäuschend ist angesichts der zahlreichen historischen und aktuellen Belege dafür, dass zu viel Vertrauen in diejenigen, die für ihre Mitmenschen die Spielregeln festlegen, nicht ratsam ist. Und auch die Autoren selbst liefern, wohl eher ohne Absicht, bereits Gründe dafür, dass in dieser Hinsicht Vorsicht angebracht ist. So führen sie beispielsweise aus, wie es gelingen kann, ein Sparverhalten aus Umwelt-Erwägungen heraus anzustoßen und stellen fest: »Als libertäre Paternalisten, wollen wir

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nicht, dass öffentliche Verwalter den Leuten eine solches [Sparverhalten] zwangsweise verordnen«. Die Antwort auf die bei Thaler und Sunstein rein rhetorische Frage: »Aber wenn die Leute selbst in eine Art Wettstreit eintreten wollen mehr zu sparen, wer könnte etwas dagegen haben?«20 ist aber tatsächlich alles andere als selbstverständlich. Sie könnte etwa lauten: wenigstens alle diejenigen, deren Versorgungsbetriebe die Folgekosten auf sie abwälzen. Um diesen Gedanken mit Leben zu füllen, hilft schon der Blick auf die hiesigen Verhältnisse, in diesem Fall etwa auf das Sparen von Trinkwasser in Privathaushalten. Auch hier wurde das entsprechende Sparverhalten eng mit dem Umweltschutz verbunden und mit einem TS-Schubs angestoßen. Dieser mag etwas weniger subtil gewesen sein als von Thaler und Sunstein in ihrem Beispiel vorgeschlagen, hatte aber beachtliche Folgen, denn solange es dem Deutschen Auto nicht an den Kragen geht, macht uns in Umweltdingen schließlich so schnell keiner etwas vor. Inzwischen spart das ganze Land tatsächlich derart viel Wasser, dass die Abwasserrohre korrodieren und flächendeckend saniert werden müssen. Ein bizarres Detail dabei ist: Wenn die kommunalen Finanzen für eine Grundsanierung nicht reichen, wird Frischwasser zugeführt, damit sich die Fließgeschwindigkeit in den Rohren wieder erhöht. Zudem wird seitdem das Abwasser oft mit erheblichen Mengen von Chemikalien versetzt, um die Geruchsentwicklung in Schach zu halten. Trotz bester Absichten der Entscheidungsarchitekten verfehlt dieser Anstoß also offensichtlich nicht nur sein ursprüngliches Ziel, sondern bewirkt sogar das Gegenteil.21 Wer also könnte etwas dagegen haben? Wenigstens in diesem Zusammenhang lässt sich die Frage eindeutig beantworten: Nicht nur die Endverbraucher, die die Mehrkosten der Versorger auf ihrer Abrechnung wiederfinden, sondern auch diejenigen, die sich ernsthaft um unsere Umwelt Gedanken machen. Blicken wir, um den Gedankengang abzurunden, noch kurz auf das Menschenbild hinter dem ›libertären Paternalismus‹. Denn daran gibt es nichts zu deuten: Wer versucht, jemanden durch unterschwellige Manipulation dazu zu bringen, Dinge zu tun, die er von sich aus so nicht tun würde, nimmt ihn nicht für voll. Der heimliche Schubs soll schließlich gezielt Entscheidungen unterlaufen, weil er durch die Überzeugung motiviert ist, dass erwachsene Menschen unfähig zu guten Entscheidungen sind:22

1.9 Nudging: der Mensch als Maschine

»Ich muss für (oder mit) Menschen dasjenige tun, was sie nicht für sich selbst tun können, und ihre Erlaubnis oder ihre Zustimmung dazu kann ich deshalb nicht einholen, weil sie nicht in der Verfassung sind zu wissen, was das Beste für sie ist, [denn] welchen Grund könnte es geben, ein Verhalten zuzulassen, das nicht von entsprechenden Experten abgesegnet ist?« bringt der politische Philosoph Isaiah Berlin (1909 – 1997) diesen Gedanken auf den Punkt.23 Er ordnet diese ›Begründung‹ zu Recht als das Argument von Diktatoren, Inquisitoren und all denjenigen ein, die anderen ihre Vorstellungen aufzwingen wollen, aber dabei dennoch nicht darauf verzichten wollen, ihr Handeln in irgendeiner Weise zu rechtfertigen. Und selbst für Entscheider mit genuin guten Absichten gilt: Wer autonomiefähige Menschen fortwährend wie kleine Kinder behandelt und denen, die unter seiner Macht stehen dadurch verwehrt, erwachsen zu werden, sollte nicht überrascht sein, wenn diese sich irgendwann auch wie kleine Kinder verhalten – im Umgang miteinander, im öffentlichen Leben und an der Wahlurne. Dabei liegt die Alternative zur unterschwelligen Manipulation auf der Hand. Wer meint, die Qualität der Entscheidungen seiner Mitmenschen, Bürger, oder Schutzbefohlenen, ließe zu wünschen übrig, muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie informierte und gute Entscheidungen treffen können und, auch wenn es mühsam ist, mit Argumenten und durch Bildung überzeugen.24 »Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Unterthanen als unmündige Kinder, […] wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urtheile des Staatsoberhaupts […] erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Unterthanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt)«25 bemerkte schon Immanuel Kant. Das heißt, jeder Paternalismus, ob nun libertär oder anders begrifflich verkleidet,26 entmündigt erwachsene Menschen. Daran kann auch der Vorschlag nichts ändern, nur diejenigen paternalistisch zu betreuen, die einen »offensichtlichen Mangel an Vernunft oder Willenskraft«27 erkennen lassen. Mit einem aufgeklärten Menschenbild ist dieser Ansatz unvereinbar. Allenfalls extreme Fälle von Unzurechnungsfähigkeit mögen es rechtfertigen, dem Einzelnen das Recht abzusprechen, selbst zu entscheiden und eben auch seine eigenen Fehler zu machen.28

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Theorie

≡ ›Wearables‹ Die Verkaufskurve zeigt steil nach oben für Elektronik, die am oder im Körper getragen wird, sogenannte ›Wearables‹. Es gibt sie zwar schon lange, zum Beispiel in der Medizin als Herzschrittmacher oder Hörhilfe. In den letzen Jahren ist zu diesen Klassikern aber eine Armee von Lifestyle-Produkten hinzugekommen: Fitnessarmbänder, sensorbestückte Uhren und Geräte, die unsere Aktivitäten aufzeichnen und auswerten. Außerdem Geräte, die erfassen, was in ihrer Umgebung geschieht, wie Datenbrillen, oder sensorbestückte Kleidung, die Daten zum Gesundheitszustand oder Standortinformationen aufzeichnet. Und selbstverständlich gehören auch die mobilen Endgeräte hierher. Jenseits von Handy und Tablet ist der gegenwärtige Boom der ›Wearables‹ aber dennoch vor allem ein Boom der Lifestyle-Geräte. Ihre Beliebtheit verdanken diese Geräte dem Trend zur Selbstoptimierung, die sie durch ständige Aktivitätsmessungen unterstützen. Ein entsprechendes Marketing sorgt dafür, dass wir nie vergessen, dass das Leben durch die mobile Elektronik komfortabler, effizienter und kontrollierbarer wird. Und das Werbeversprechen geht durchaus auf. Und zwar umso besser, je besser es gelingt, menschliches Verhalten richtig zu deuten und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ist jemand als Tourist oder geschäftlich in einer fremden Umgebung unterwegs? Sucht er gerade nach Produkten für sich selbst oder für seine halbwüchsigen Kinder? Bevorzugt er Markenprodukte oder lässt sein Kaufverhalten darauf schließen, dass er versucht, mit einem knappen Budget über die Runden zu kommen? Wenn die smarten Helfer im Hintergrund solche Fragen richtig beantworten, steigt der Nutzen ihrer algorithmischen Empfehlungen enorm. Voraussetzung für einen solchen Nutzen ist ein möglichst vollständiges Persönlichkeitsprofil. Dieses entsteht aus der Protokollierung des individuellen Such- und Kommunikationsverhaltens im Netz, den Daten der ›smarten‹ Wohnung und eben dem Rücklauf der Wearables. Wer diesen Anwendungen hilft, die anfallenden Daten eindeutig auf seine Person zu beziehen, indem er sich ihnen stets mit dem gleichen Account zu erkennen gibt, erleichtert ihnen ihr nützliches Werk also erheblich. Denn dann gelingt es den ›smarten‹ Helfern beispielsweise, den erhöhten Puls vom Fitnessarmband als Anzeichen sportlicher Betätigung zu deuten und nicht als etwas,

1.9 Nudging: der Mensch als Maschine

das sofortige medizinische Aufmerksamkeit verlangt, und dann sind sie auch in der Lage, die Erinnerung an Geburtstage gleich mit dem Vorschlag für das passende Geschenk oder gar dessen eigenständiger Bestellung zu verbinden, oder die Buchung der nächsten Ferienreise selbstständig zu erledigen und den turnusmäßigen Wechsel des Stromversorgers zu veranlassen. In unserem Zusammenhang sind hier vor allem zwei Dinge wichtig. Erstens, das Datenprofil, das in der Zusammenführung entsteht, ermöglicht bereits nach kurzer Zeit sehr treffsichere Aussagen über ein zukünftiges Verhalten, was das Versprechen, dass diejenigen, die sich umfassend auf die Technik einlassen, dadurch mehr Kontrolle über ihr Leben erhalten, doch in ein etwas anderes Licht rückt. In diesem Fall ist nämlich offensichtlich das Gegenteil richtig. Die Kontrolle wird abgegeben an eine Software, die von nun an die Entscheidungen trifft; und zwar nach Regeln, die für die Nutzer meistens undurchsichtig bleiben. Und zweitens: Die Auslagerung von Entscheidungen ist auch hier eine Einladung an die Datenindustrie zur weiträumigen Verhaltensmanipulation. Selbst wenn wir den Anbietern der ›smarten‹ Geräte noch weitgehend über den Weg trauen, so geben wir letztlich jedem, der sich Zugang zu unserer elektronischen Personalakte verschaffen kann, damit eine erhebliche Macht über unser Leben.

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1.10 Selbstoptimierung

Die Tendenz, dem Individuum in immer mehr Bereichen seines Lebens durch Betreuung zu seinem Glück zu verhelfen – ob nun verdeckt oder mit Ansage –, ist die eine Seite des Autonomieverlusts. Die andere hat ihren Ursprung in uns selbst. Hier ist der Verlust der Autonomie eine direkte Folge der Tendenz zur ›smarten‹ Selbstoptimierung. Äußere Faktoren sind daran nur indirekt beteiligt, nämlich als Ergebnis von Sozialisation und Zeitgeist, die vermitteln, dass das Gute Leben das Effiziente Leben sei. Da es sich in diesen Fällen um Prägungen und Vorgaben handelt, die uns oft nur im Ansatz bewusst sind, fällt die genaue Analyse naturgemäß schwer. Den klaren Blick verstellen hier außerdem zwei weitere Dinge: Einerseits die Nähe der ›smarten‹ Selbstoptimierung zur traditionellen Empfehlung, die eigenen Anlagen und Fähigkeiten zu entwickeln, so wie sie sich etwa aus dem delphischen Imperativ ableitet. Und andererseits ein Marketing, das oft genau auf diese Stelle zielt. Die Optimierungsindustrie nutzt die oberflächliche Ähnlichkeit in geschickter Weise, um ihre Geräte und Dienstleistungen als unverzichtbar anzupreisen. Nur mit dem Fitness-Tracker für das optimale Workout, mit der Software, die bei der optimalen Ernährung unterstützt, oder mit dem Programm, das unseren Schlafrhythmus analysiert und optimiert, lässt sich das Selbstverbesserungsprojekt zeitgemäß gestalten. Kaum vorstellbar, dass es bisher ohne ging. Die Pointe ist natürlich auch hier, dass ohne die Auseinandersetzung mit ihren Zielen und Zwecken die Selbstverbesserung ohne jeden Wert bleibt. Wer die Definition der Ziele der Verbesserungsindustrie überlässt, ersetzt den delphischen Imperativ jedenfalls durch den kommerziellen (»Du sollst kaufen!«), wobei die Schnittmenge von ›smarter‹ Selbstoptimierung und Gutem Leben auch im besten Fall eher gering sein dürfte.

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Theorie

Der innere Zwang ist wirkungsvoller als der äußere, weil er die Motivation zum Gehorsam bereits in sich trägt. Einer Anweisung, die von uns selbst kommt, folgen wir eher als dem fremden Kommando. Die Tatsache, dass die Technik nicht zum Schnäppchenpreis zu haben ist, tut ein Übriges; der oft hohe Preis weckt den Wunsch, die Investition zu amortisieren. Wenn dann noch die Optimierung in Eigenregie als ein im Grunde harmloses Unterfangen daherkommt – ein Eindruck, den die Hersteller gezielt durch die Gamifizierung ihres Angebots stärken, durch die farbenfrohe Auswertung des Trainingsfortschritts, durch Wettbewerbselemente, etc. – kommen Gedanken an einen etwaigen Autonomieverlust an dieser Stelle kaum auf. Und Einwände gegen die von smarter Technik gestützte Optimierung in Eigenregie haben es ohnehin schwer. Denn gegen sie steht ein Zeitgeist, der mit dem Utilitarismus (s. oben Abschnitt 1.8) eine mächtige Ideologie im Rücken hat. Diese Ideologie hatte Jahrhunderte Zeit, sich in den Köpfen festzusetzen und die Nützlichkeit als obersten Grundsatz allen Handelns fest in unserem mentalen Erbgut zu verankern. Utilitaristische Erwägungen leiten heute nicht nur das Nachdenken über uns selbst, sondern bestimmen derzeit auch viele politische und wirtschaftliche Entscheidungen. Eine Kritik am besinnungslosen Effizienz- und Optimierungsdenken wendet sich also gegen einen Gegner aus einer hohen Gewichtsklasse. Wer sich dem Trend zur ›smarten‹ Selbstoptimierung entzieht, um nicht zum »Komplizen der eigenen Überwachung«1 zu werden und an der Abschaffung der eigenen Freiheit mitzuarbeiten, braucht daher wenigstens ein gesundes Selbstvertrauen. Denn darüber, dass die eigene Freiheit wenigstens auf längere Sicht unter dem Optimierungs- und Effizienzdenken leidet, besteht kein Zweifel. Es sei an dieser Stelle noch einmal auf das Versicherungsbeispiel von oben hingewiesen. Aus der freiwilligen Übermittlung von Fitnessdaten an die Krankenkasse, die dies anfangs oft mit einem Rabatt auf die Prämie belohnt, wird über kurz oder lang der Prämienaufschlag für Verweigerer und schließlich der Zwang für alle.2 Am Ende sind auch diejenigen davon betroffen, die der ›smarten‹ Selbstoptimierung mit Skepsis begegnen. Das heißt, selbst wenn die Entwicklung hier mit der freien Entscheidung einiger beginnt, so kann sie leicht in einem Autonomieverlust für alle enden. Und das bedeutet unterm Strich: »der Wunsch: ›Ich will Kontrolle über mein eigenes Leben gewinnen‹, schlägt in sein exaktes Gegenteil um.«3 Dem Einzelnen machen die ›smarten‹ Helfer zunächst nur

1.10 Selbstoptimierung

klar, dass der Weg zu einer (fragwürdigen) Perfektion noch sehr weit ist (und jede Abweichung von ihren Anweisungen ihn verlängert), für alle anderen kann der sorglose Einsatz der Datentechnik durch einige wenige am Ende den Rückbau auch ihrer Autonomie bedeuten.

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1.11 Veränderte Verhältnisse

Fassen wir zusammen. Seit der Zeit, in der die Vordenker unserer modernen Freiheitsvorstellung ihre Gedanken formulierten, haben sich vor allem drei wichtige Dinge geändert. Erstens: Thomas Hobbes, John Locke, John Stuart Mill und ihre Mitstreiter entwickelten ihre Überlegungen zur Freiheit vor dem Hintergrund einer weitgehend intakten Trennung von öffentlichem und privatem Leben. Diese Trennung hat in den letzen Jahren stark an Bedeutung verloren. Private Räume, in denen sich Meinungen und Lebensentwürfe frei von fremder Einmischung entwickeln können, werden stetig enger. Vor allem deshalb, weil heute fast jede private Lebensäußerung unter dem Vorbehalt steht, mit geringem Aufwand (welt-)öffentlich werden zu können. Das bedeutet, dass auch private Äußerungen und Handlungen die zukünftigen Optionen des Einzelnen in einem nie da gewesenen Maß beeinflussen können, und dass der Gemeinschaft zunehmend die Räume abhandenkommen, in denen sich der Protest gegen Fehlentwicklungen in Ruhe organisieren kann. Zweitens: Das Ideal des mündigen Bürgers, der die wichtigen Entscheidungen seines Lebens frei trifft und ihre Folgen selbst verantwortet, ist gleich an mehreren Fronten auf dem Rückzug. Gingen die Denker der Aufklärung bei ihren Überlegungen noch mit einiger Selbstverständlichkeit davon aus, dass bessere Bildung zu einer allgemeinen Zunahme von Mündigkeit und Eigenverantwortung führen würden, so unterstellen Regierungen, nicht nur in autokratischen Systemen, ihren Untertanen und Bürgern inzwischen immer öfter, dass sie unfähig sind, kluge Entscheidungen für sich selbst und die Gemeinschaft zu treffen. Die Begründung dafür lautet, sie seien sich entweder nicht im Klaren über ihre wahren Interessen oder aber zu willensschwach, diese ohne äußere Hilfe zu verfolgen. Das macht sie zum Betreuungsfall, so dass sie durch Verordnungen und Verbote vor sich selbst geschützt und zu

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Theorie

ihrem Glück genötigt werden müssen. Zugleich wird wenig unternommen, um diesem (vermeintlichen) Missstand durch bessere Bildung abzuhelfen. Im Gegenteil: Bereits im Primarbereich löst inzwischen die Dokumentation der Wissensvermittlung immer öfter die Wissensvermittlung selbst ab. Drittens: Die Sorglosigkeit, mit der viele der Betroffenen der Einhegung ihrer Autonomie begegnen. Sie entfaltet nicht zuletzt durch die technische Entwicklung eine Wirkung, die vor einigen Jahren noch schwer vorstellbar war. Wer unüberlegt und ohne Scheu in die Schleppnetze der Datenindustrie schwimmt, trägt schließlich nicht nur dazu bei, die Profite dieser Industrie zu steigern, sondern erleichtert ihr auch die vollständige Durchdringung aller Lebensbereiche und macht so den Architekten der Datenwelt den Weg frei für die gezielte Verhaltenssteuerung sowohl des Einzelnen als auch großer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Gleichmut und Bequemlichkeit, wenn Regierungen bürgerliche Freiheiten im Namen von Sicherheit und Freiheit einschränken oder um das Glück ihrer Staatsbürger zu fördern, arbeiten der Abkehr von der Idee des autonomen, eigenverantwortlichen Individuums zusätzlich zu und führen zum dauerhaften Autonomieverlust für alle.

Testing the unknown is how you make progress. Finding ever-smarter ways of staying safe is how you die. A. Lamb, Exodus

»Let us spy on you and in return you’ll get free services.« This might seem like a reasonable deal in the short term, but in the long term it’s terrible. J. Lanier

2. Praxis

2.1 Konformismus

Als Mitglieder einer Gesellschaft sind wir immer auch Teil verschiedener Gruppen und Gemeinschaften. Wir sind Teil einer Sprachgemeinschaft, einer Familie, eines Betriebes, einer Gemeinde, einer Nation. Wer sein Selbstbild und seinen Wert allerdings vorwiegend über eine Gruppenzugehörigkeit bestimmt, gibt dadurch oft einen erheblichen Teil seiner Autonomie auf. Isaiah Berlin vermutet sogar, dass eine Identifikation mit den Zielen, Werten und Strukturen einer Gruppe »die mächtigste Form der Fremdbestimmung [sei], die man sich vorstellen kann.«1 Seine Überlegung ist die folgende: Gemeinschaften definieren sich über Denk- und Verhaltensregeln. Diejenigen, die einer Gemeinschaft angehören (wollen), müssen diese Vorgaben einhalten – und wer sie ignoriert oder fortgesetzt in schwerer Weise gegen sie verstößt, wird über kurz oder lang von ihr verstoßen. Tatsächlich bietet der Tausch eines Teils der eigenen Freiheit gegen eine Gruppenzugehörigkeit und ihre Regeln aber auch klare Vorteile. Dennoch sind hier zwei Dinge voneinander zu trennen. Es ist eine Sache, sich auf die Normen einer Gemeinschaft einzulassen, um etwa an ihren Kooperationsgewinnen teilzuhaben,2 und eine andere, sich selbst vorwiegend oder ausschließlich über eine Gruppenzugehörigkeit zu definieren. Nur auf den zweiten Fall trifft die Feststellung Berlins zu, denn hier machen wir uns in abhängig von Vorgaben, auf die wir so gut wie keinen Einfluss haben (s. dazu auch Abschnitte 1.2 und 1.5), und die Regeln der Gemeinschaften können zu einem (inneren) Zwang werden, dem auch gedanklich kaum noch zu entkommen ist. Doch wie weit können wir uns den Ansprüchen einer Gruppe oder eines Kollektivs unterwerfen, ohne unsere Autonomie auf’s Spiel zu setzen? Nicht zuletzt die zunehmende Vielfalt an virtuellen Gemeinschaften macht eine Antwort auf die Frage dringlicher. Denn auch wenn der gehobene Daumen nur eine rudimentäre Form des Lobens und Tadelns

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Praxis

ist, eine sehr schlichte Form der Zustimmung und, bei der Verweigerung dieser Auszeichnung, der Ablehnung, so erzeugt schon diese Form der Bewertung einen Konformitätsdruck, der Menschen zu Entscheidungen und Handlungen treibt, die außerhalb ihres sonstigen Verhaltens liegen. Und auch wenn die Mitgliedschaft in den virtuellen Gemeinschaften des Internets bisher (weitgehend) freiwillig ist,3 so ist es an vielen Stellen schon heute schwer, sich dem Druck zu entziehen, der von solchen Gruppen ausgeht. Er wirkt sogar auf diejenigen, die sich von den social networks fernhalten; etwa, wenn sie einigen Aufwand treiben müssen, um an Informationen zu gelangen, oder weniger harmlos, wenn sie trotz ihrer elektronischen Diät Opfer von Bloßstellung und Ächtung durch einen Social-Media-Mob werden. Bei denjenigen andererseits, die sich auf die virtuellen Gemeinschaftsangebote einlassen, kann aus dem Bedürfnis nach Lob und Wertschätzung in Kombination mit der Furcht vor der Sanktionsmacht der Gemeinschaft eine starke Verbindung von innerem und äußerem Zwang werden, die sich sehr schwer wieder lösen lässt.4 »Facebook« etwa, so spitzte es Jaron Lanier, einer der prominenten Vordenker der elektronischen Vernetzung schon vor Jahren zu, »ist ein Konzern der Verhaltenskontrolle«.5 Anders als in Gemeinschaften in der analogen Welt sind dabei die Regeln des Wohlverhaltens im virtuellen Raum meistens völlig undurchsichtig. Oft gibt es keine klare Hierarchie, kein verbindliches Regelwerk und selten auch jemanden, der verantwortlich für die Umgangsformen wäre. Dies führt dann nicht selten zu einem vorauseilenden Gehorsam der Mitglieder, dessen oberstes Ziel es ist, auf keinen Fall etwas falsch zu machen – damit das (anonyme) Kollektiv keinen Anlass hat, den Daumen zu senken. Die Architekten der großen kollektivistischen Gesellschaftsentwürfe der Vergangenheit hätten vermutlich viel dafür gegeben, um Eigensinn, nonkonforme Meinungen und Widerstand auf derart elegante Weise zu beseitigen – ohne jeden obrigkeitlichen Eingriff und allein im Rückgriff auf die anderen Gruppenmitglieder. Für alle, für die Autonomie mehr ist als die Freiheit, ihr Leben an der mutmaßlichen Mehrheitsmeinung eines Kollektivs auszurichten, ist diese Entwicklung unerfreulich. Denn je transparenter das Leben des Einzelnen wird, desto schwerer wird es für alle, der Gesinnungsnormierung und der öffentlichen Ächtung keine Angriffspunkte zu bieten. Schließlich kann sich heute ausnahmslos jeder am virtuellen globalen Pranger wiederfinden, sofern seine Ansichten oder sein Lebensentwurf auch nur einem seiner Mitmenschen aufstößt.

2.1 Konformismus

Die »Diktatur der Mehrheit« (Mill) entfaltet sich dabei im Rahmen der bestehenden Ordnung. Sie kann auf eine sichtbare ›Machtergreifung‹ verzichten, weil die Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft kommt und gerade nicht staatlich gesteuert wird. Der »Schutz vor dem Magistrat« ist deshalb offensichtlich nur die eine Seite, wenn es darum geht, die Autonomie zu sichern. Es bedarf heute, sehr viel dringender als noch zu Mills Zeit, ebenso eines wirksamen Schutzes des Einzelnen »vor der Tyrannei der vorherrschenden Meinung und der vorherrschenden Gefühle«,6 weil die Gleichschaltungsdynamik sich durch die moderne Medientechnik erheblich verstärkt hat. Diese mediale Gleichschaltung wirkt zudem genau in dem Bereich, der bisher noch nicht abgedeckt ist von staatlichen Vorgaben. Und trotz entsprechender Bemühungen, bisher auch noch nicht komplett abgedeckt wird von einer »kleinen Gruppe amerikanischer Firmen« mit quasistaatlicher Macht, die mit viel Energie darauf hinarbeiten, wenigstens in naher Zukunft einseitig vorschreiben zu können, wie »Milliarden von Menschen arbeiten, spielen, kommunizieren und die Welt betrachten«.7

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2.2 ›Big Data‹

Parallel zum Einfluss der Verhaltenskontrollindustrie werden die Rahmenbedingungen für die Gemeinschaft und den Einzelnen immer mehr von einer Entwicklung bestimmt, die uns unter dem Schlagwort Big Data begegnet. Der Begriff mag unscharf sein – er zielt nicht nur auf die Menge der Daten, sondern meint oft auch die Technik, mit der diese gesammelt und ausgewertet werden – aber worum es geht, erschließt sich unschwer, nämlich um die Sammlung, Speicherung, und Aufbereitung von Inhalten in einer bis vor kurzem unvorstellbaren Größenordnung, sowie um die maschinelle Auswertung und Verknüpfung dieser Daten. Das Rohmaterial stammt von Überwachungssystemen im öffentlichen Raum, von den Zeiterfassungssystemen am Arbeitsplatz und den Bewegungsprofilen mobiler Endgeräte. Es entsteht durch jede Fahrt im vernetzten Auto und durch jeden (elektronischen) Bezahlvorgang, durch Suchanfragen im Netz, durch die Auswertung von Verbindungsdaten und Kommunikationsinhalten, durch Arztbesuche und personalisierte ›smarte‹ Technik. Und selbstverständlich fällt es in großem Umfang und in hervorragender Qualität auf den Selbstdarstellungs- und Diskussions- und Kommunikationsplattformen im Netz an. Das grundsätzlich Neue am Big-Data-Ansatz ist das Zusammenspiel von lückenloser Erhebung, dauerhafter Speicherung und maschineller Auswertung.1 War es bis vor kurzem noch aufwendig, überhaupt an die entsprechenden Inhalte zu kommen, vergleichsweise teuer sie dauerhaft zu speichern und kaum möglich und profitabel, derartige Mengen an Daten automatisch nach Mustern zu durchforsten, so spielen all diese Beschränkungen inzwischen fast keine Rolle mehr. Derzeit besteht die größte Herausforderung tatsächlich darin, die Daten zuverlässig bestimmten Personen zuzuordnen und frühzeitig gewinnversprechende Auswertungsmodelle zu entwickeln und diese dann als Erster im Markt

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Praxis

zu installieren. Denn erst durch die clevere Verknüpfung und Auswertung werden die Rohdaten zu Erkenntnissen, die treffsicherere und profitable Verhaltensvorhersagen ermöglichen. Wem es gelingt durch Big Data den Lebensumständen und dem individuellen und kollektiven Verhalten auf die Spur kommen, erhält damit ganz nebenbei auch nie da gewesene Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung. Die Technik hinter der Mustererkennung in riesigen Datenmengen steht derzeit erst am Anfang und ihre Auswirkungen im Alltag sind noch überschaubar. Für jeden sichtbar ist bisher nur der Anstieg der personalisierten Informations-, Unterhaltungs- und Werbeangebote. Doch neben der ökonomisch motivierten Verwertung2 weckt die steigende Zuverlässigkeit der Big-Data-Analysen bereits Begehrlichkeiten auch an anderer Stelle, nämlich bei staatlichen Stellen, die Interesse an besseren Möglichkeiten zur Verhaltenssteuerung ihrer Bürger haben. Das chinesische System des ›Sozialkredits‹3 führt vor, wozu die vorhandene Technik bereits heute in der Lage ist. In China entsteht mit Hilfe der automatischen Verarbeitung riesiger Datenmengen gerade der »perfekteste Überwachungsstaat, den die Welt je gesehen hat«.4 Der normierte Neue Mensch jedenfalls, der schon immer der große Traum aller übereifrigen Sozialarchitekten war, kommt durch Big Data ein großes Stück näher – und das nicht nur in China. Vergleichsweise harmlos nimmt sich demgegenüber der oben erwähnte Versuch aus, durch die massenhafte maschinelle Auswertung personenbezogener Daten, Verbrechen zu verhindern, bevor sie begangen werden,5 obwohl auch er am Ende darauf zielt, nicht nur den Schurken ihr Handwerk zu legen, sondern letztlich jedes unerwünschte Verhalten zu unterbinden. Wenn die nach soziologischen und psychologischen Erkenntnissen aufbereiteten Daten individuelle und kollektive Verhaltensmuster sichtbar werden lassen – und zwar zunehmend auch solche, die nicht einmal den Betroffenen selbst bewusst sind – so wachsen selbstverständlich die Möglichkeiten der Beeinflussung und Steuerung. Subtile Willenslenkung und Überredung treten an die Stelle der Überzeugung durch Argumente. Die Freiheit verliert hier allein schon deshalb, weil diese Praxis jede (öffentliche) Kontrolle umgeht. Und dies eben nicht nur in Autokratien, Diktaturen, und bei kommerziellen Datendienstleistern, sondern gerade auch in demokratischen Gesellschaften. Der Umstand, dass die Smarte Diktatur des »Überwachungskapitalismus«6 auf offene Willkür, finstere Folterkeller, übermächtige Geheimdienste und andere klassische Instrumente des Totalitarismus (mehr dazu in Abschnitt 2.10) ver-

2.2 ›Big Data‹

zichten kann und uns mit dem Versprechen gegenübertritt, das Leben besser zu machen, unterläuft unsere Wahrnehmung. Wer der Entwicklung nicht mit Aufmerksamkeit begegnet, für den bleiben die Folgen für die Freiheit daher meistens unsichtbar. Gerade in den (Noch-)Demokratien des Westens ist es bisher eher die Ausnahme, dass der Datendurchgriff tatsächlich einmal die allgemeine Wahrnehmungsschwelle überschreitet. Oft ist dies nur dann der Fall, wenn es um eine großflächige Erweiterung der Befugnisse in einem Krieg gegen den Terror oder die organisierte Kriminalität geht – oder eben zur Bekämpfung einer Pandemie. Die flächendeckende Anwendung des Big-Data-Ansatzes hat zwei wichtige Folgen. Erstens stärkt sie die bestehenden Verhältnisse. Wer Interesse an der Aufrechterhaltung des Status Quo – beispielsweise der gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse7 – hat, wird es kaum bedauern, wenn Big Data aufziehenden Unmut und Protest frühzeitig identifiziert. Das heißt, bevor er die bestehende Ordnung ernsthaft in Frage stellt.8 Und zweitens treten mit Big Data die Statistik und die algorithmische Mustererkennung an die Stelle der Urteilskraft. Das bedeutet, die Frage, ob Ziele sinnvoll und Grundannahmen richtig sind, tritt in diesem Fall hinter die kennzahlengetriebene Optimierung zurück. Denn auch wenn der Gedanke, Menschen als Automaten der Optimierungs-Ökonomie zu betrachten und ihre aktuellen Präferenzen unhinterfragt als Maßstab zu nehmen, selbstverständlich nicht neu ist – er war schon immer der Leitgedanke der Verwaltungsbürokratie – so sorgt das Datenargument für eine deutlich höhere Durchschlagskraft dieses Ansatzes. Um sich die grundsätzliche Fragwürdigkeit dieser Folge der statistischen Argumentation, genau der Gedankenführung, die durch Big Data enorme Rückendeckung erhält, vor Augen zu führen, kann ein Alltagsbeispiel dienen. Wie etwa die Debatte um ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Diese Diskussion begleitet uns schon seit Jahrzehnten und enthält sämtliche Denkfehler, die sich hier machen lassen. Verkehrstote, Umweltbelastung und Ressourcenverbrauch: Je besser und umfangreicher die Zahlen erfasst und dokumentiert sind, desto überzeugender klingt die Begründung für ein Limit. Doch sehen wir genauer hin. Das entscheidende Fehlurteil versteckt sich in der stillschweigenden Unterstellung, dass die meisten Menschen immer noch und unter allen Umständen weite Strecken bevorzugt mit dem eigenen PKW zurücklegen wollen (und dass Industrie und Handel unter keinen Voraussetzungen auf ihre Lkw-Flotte verzichten können). Diese

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Praxis

Annahme wird sogar von den Befürwortern eines Limits selten in Frage gestellt. Doch trifft sie tatsächlich zu? Denn wenn sie es nicht tut, ginge offensichtlich ein großer Teil des Verkehrsaufkommens auf unseren Straßen (und damit auch der Verkehrstoten, der Umweltbelastung und des Ressourcenverbrauchs) gar nicht auf die unterstellte Präferenz für den Individual- und Lieferverkehr auf der Straße zurück, sondern wäre der Ausdruck eines anderen Zusammenhangs, naheliegenderweise des Mangels an anderen Möglichkeiten. In diesem Fall setzte die Diskussion um ein Tempolimit – auch wenn die Zahlen immer besser abgesichert werden können – allein bei den Symptomen an und der Fokus auf die Statistik verhinderte, dass die Diskussion zum Kern des Problems vordringt. Wer den Zahlen mit einer falschen Interpretation begegnet, optimiert am Ende das Falsche. Und Maßnahmen, die das Ziel nicht nur besser, sondern auch mit deutlich geringeren Abstrichen bei der Freiheit erreichen könnten (als dies bei einem Verbot der Fall ist), geraten erst gar nicht in den Blick. Die statistische Debatte bewegt sich dabei immer innerhalb des Rahmens der bisher unterstellten Präferenzen. Diesen Rahmen verlassen wir tatsächlich erst mit der Frage, wie viel und welche Art von Mobilität wir uns vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen leisten wollen und können und welche Veränderungen unseres Lebens wir bereit sind, für die Aufrechterhaltung des Status quo in Kauf zu nehmen. Zum Kern des Problems können wir nur dann überhaupt vordringen, wenn wir uns von der statistischen Debatte lösen und uns mit den Zielen und der Sinnhaftigkeit unseres Handelns beschäftigen. Im Beispiel wäre dies etwa der Frage, wie sinnvoll globale Lieferketten sind, oder ob ein Konferenz-, Krisen- und Administrationstourismus9 im aktuellen Umfang tatsächlich so unverzichtbar ist, wie oft behauptet wird (und anlässlich der Corona-Beschränkungen gerade das erste Mal in größerem Rahmen in Frage gestellt wurde), und ob unsere aktuellen Mobilitätsbedürfnisse und -wünsche dauerhaft mit den Möglichkeiten unseres Planeten verträglich sind. So gesehen streift die Diskussion um ein Tempolimit kaum die Oberfläche des Problems und zeigt damit, wie die Argumentation mit Kennzahlen und großen Datenmengen eben nicht nur auf Abwege führt, sondern leicht auch zu vermeidbaren Freiheitsbeschränkungen – sofern sich die Limit–Befürworter denn irgendwann mit ihrem Verbot durchsetzen.

2.3 Weiter so! – Der ›Naturalistische Fehlschluss‹

Die Möglichkeit, in Echtzeit Muster in großen Datenmengen zu erkennen und Schlüsse aus ihnen zu ziehen, verleiht der zahlengestützen Begründung, wie gesagt, Nachdruck. Dies ist, wie das Beispiel vorführt, von eher zweifelhaftem Wert. Die Zahlen selbst mögen zwar neutral sein, jedenfalls solange sie nicht schon mit einer klaren Agenda im Hinterkopf erhoben werden, doch eine Optimierungsstrategie auf Grundlage der Statistik schreibt eben stets den Ist-Zustand fort. Und dies ist problematisch. Die Überzeugungskraft großer Datenmengen beruht nämlich auf einer Vorentscheidung zugunsten der bisherigen Wirklichkeitswahrnehmung und blendet deshalb die Frage nach der Tragfähigkeit der aktuellen Annahmen und Überzeugungen von vornherein aus. Besonders ungünstig ist dies, wenn die Informationsvermittlung selbst Opfer einer derartigen Optimierung wird. Genau dies ist aber seit geraumer Zeit der Fall. Kennzahlen und Abrufstatistiken bestimmen direkt die Auswahl der Themen, über die berichtet (oder eben nicht berichtet) wird und sie haben auch Einfluss auf die Art und Weise, in der berichtet wird. Schon lange vor der Inflation von Kampfbegriffen wie ›Lügenpresse‹ und ›Fake News‹ und einer heiß laufenden Diskussion um die Zuverlässigkeit journalistischer Arbeit, schilderte der amerikanische Journalist Eli Pariser einen einschlägigen Fall. Bereits im Jahr 2004, so berichtet er, begann eine südamerikanischen Zeitung, ihre Themenauswahl mit der Abrufstatistik ihrer Artikel zu verbinden: »Stories mit vielen Klicks bekamen Fortsetzungen und Stories ohne Klicks wurden abgeschossen«.1 Diejenigen, die in diesem Modell Inhalte zulieferten, hatten sich auf die neuen Vorgaben einzustellen. Honorar und Folgeaufträge waren nur dann sicher, wenn ihre Beiträge hinreichend häufig abgerufen wurden. Inzwischen hat sich dieses Modell der Be-

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richterstattung auf breiter Linie durchgesetzt. Mit Folgen: »Die TopStory der Los Angeles Times im Jahr 2007«, nicht unbedingt ein journalistisches Leichtgewicht, etwa war »ein Bericht über den hässlichsten Hund der Welt«2 – und eben kein Bericht über Themen von gesellschaftlicher Bedeutung. Und dass die Entwicklung hin zum gnadenlos kundengängigen Journalismus auch bei uns angekommen ist, führte vor einiger Zeit ein smarter Märchenerzähler vor, dem es gelang, sämtliche Seriositätsfilter eines großen deutschen Nachrichtenmagazins zu unterlaufen. Mit seinen in weiten Teilen frei erfundenen ›Reportagen‹ täuschte er nicht nur das Publikum, sondern über lange Zeit auch fast sein gesamtes Redaktionskollegium.3 Doch zurück zur Frage der Begründung zukünftigen Handelns aus der Statistik und zu den Folgen für unsere Freiheit. Eine solche Begründung folgt immer demselben Grundmuster. Deshalb hat ihr die Philosophie auch einen eigenen Namen gegeben; sie kennt sie als ›naturalistischen Fehlschluss‹ und schon die Wortwahl weist darauf hin, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Der entscheidende Einwand gegen diese Denkfigur ist, dass sich aus einem Sein, also dem Ist-Zustand, kein Sollen, keine Rechtfertigung für zukünftige Aktionen ableiten lässt. Daraus, dass die Dinge so sind, wie sie sind, folgt schließlich nicht einmal, dass es gut ist, dass sie so sind. Und noch viel weniger, dass sie auch (in Zukunft) so sein sollten. Wäre es anders, würden wir heute noch in einer Welt leben, in der Sklaverei und Kolonialismus sehr viel weiter verbreitet wären als sie es derzeit sind, und es gäbe auch keine anhaltenden Diskussionen über Rassismus, Diskriminierung, oder Unterdrückung. Tatsächlich begegnet uns der naturalistische Fehlschluss in der öffentlichen Auseinandersetzung häufig. Er steckt nicht zuletzt im Hinweis auf Sachzwänge oder verbirgt sich in der Rede von der Alternativlosigkeit.4 Der Versuch, andere mit solchen Vokabeln vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, zeigt zuverlässig an, dass das weitere Vorgehen aus dem Ist-Zustand begründet werden soll. Dabei ist die Denkfigur nicht nur logisch fehlerhaft, sondern eben meistens auch in der Sache fragwürdig, weil sie eine Zwangsläufigkeit unterstellt, die selten vorliegt. Wie problematisch dies ist, zeigt sich daran, dass es so gut wie nie gelingt, aktuelle Probleme durch die Fortschreibung des bisher verfolgten Ansatzes dauerhaft in den Griff zu bekommen. Verwunderlich ist dies natürlich nicht, denn die aktuellen Schwierigkeiten sind ja bereits das Ergebnis der bisher verfolgten Strategie. Deshalb verschafft der Versuch, Probleme durch Optimierung und Effizienzstei-

2.3 Weiter so! – Der ›Naturalistische Fehlschluss‹

gerung zu lösen, der bestehenden Ordnung allenfalls eine Gnadenfrist, zu einem tragfähigen Ergebnis führt er in keinem Fall. Dafür braucht es eine Auseinandersetzung mit den Grundannahmen und Zielen des eigenen Handelns. Wer ihr aus dem Weg geht und einen problematischen Zustand, das aktuelle Sein, als ein Sollen in die Zukunft verlängert, nimmt stets eine Hypothek auf, die später von anderen zurückgezahlt werden muss. Die Währung, in der dies geschieht, ist die Freiheit der Nachfolgenden – als Einschränkung ihrer Möglichkeiten. Krisensituationen machen den Zusammenhang besonders sichtbar. Etwa wenn eine fortgesetzte ökonomischen Fehlsteuerung erheblich zum Zusammenbruch eines Systems beiträgt, wie gegen Ende der 80er Jahre im Fall der sozialistischen Planwirtschaft. Oder wenn ungezügelte Gier das globale Finanzsystem an den Rand des Abgrunds führt und die Rechnung dann von der Allgemeinheit beglichen werden muss. Oder wenn der unbeschwerte Ausbau der Kernenergie Landstriche hinterlässt, die auf Jahrhunderte unbewohnbar sind. Oder auch, wenn ein sorgloses Leben über die Verhältnisse unseres Planeten das Klima weiträumig verändert. In all diesen Fällen gilt: Je länger das problematische Verhalten fortgesetzt wird, desto mehr Aufwand erfordert die Reparatur und desto größer ist der damit einhergehenden Freiheitsverlust derjenigen, die gezwungen sind, die Reparatur zu unternehmen. Die Verlängerungen von Ist-Zuständen, die Sachzwang-Argumentation, der Versuch der Problemlösung durch Effizienzsteigerung führt fast immer zum Tausch von zukünftiger Freiheit gegen aktuelle Vorteile. Dies ist »eine verhängnisvolle Schwäche« auch der offenen Gesellschaft und »führt unvermeidlich zu ihrer langsamen Erosion«.5 Kurz, dort wo es dem Glauben an Daten, Kennzahlen und Optimierung bestehender Verhältnisse gelingt, unsere Urteilskraft auszuschalten, verliert die Freiheit. Noch ist es auch jedem Einzelnen möglich, sich nicht unbedacht zum Komplizen der statistischen Argumentation zu machen, indem er seine Daten leichtfertig gegen kurzfristige Vorteile und Bequemlichkeit tauscht. Wen die Aussicht auf eine Welt voller neuer Vorgaben, die aus Fortschreibung des Bisherigen oder der aus der lückenlosen Erfassung sämtlicher Lebensbereiche entstehen, nicht mit Begeisterung erfüllt – ob bei der Gestaltung von Versicherungstarifen, bei der Zuteilung von Krediten, oder bei der Themenauswahl der allgemeinen Berichterstattung –, hat es auch selbst in der Hand, ob und in welcher Form diese neue Welt Gestalt annimmt. Voraussetzung dafür ist Achtsamkeit im

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Umgang mit der Technik, die versucht, unser Leben zu kartografieren und erhöhte Aufmerksamkeit denjenigen gegenüber, die mit Sachzwängen argumentieren. Und gegebenenfalls eine entsprechende Gegenwehr.

2.4 Grenzen der Verantwortung

Verantwortung ist die andere Seite der Freiheit. Deshalb ähneln sich auch die Voraussetzungen von Freiheit und Verantwortung. Wer auf Anweisung oder unter Zwang handelt, aber auch, wer nicht in der Lage ist, die Folgen seiner Entscheidungen wenigstens grob zu überblicken, dessen Verantwortung ist ebenso eingeschränkt wie seine Freiheit. Zwar werden ihm Handlungen zugeschrieben, weil schließlich er es ist, der am Ende etwas tut oder unterlässt, doch wir ziehen ihn selten in vollem Umfang zur Rechenschaft. Wenn seine Informationen lückenhaft waren, er kognitiv nicht fähig ist, eine Situation angemessen zu beurteilen oder die Handlung Folge eines Befehls war, gelten ›mildernde Umstände‹. Dies betriff besonders Kinder und Jugendliche, Personen in Ausnahmesituationen oder solche mit psychischen Beeinträchtigungen. Und es wird in Anschlag gebracht, wenn bei einer Aktion bewusstseinsverändernde Substanzen im Spiel waren. Doch es gibt noch eine andere Seite der eingeschränkten Verantwortlichkeit. Sie ist in unserem Zusammenhang weitaus interessanter. Es geht darum, dass die Verantwortung auf so viele Schultern verteilt ist, dass eine Zuschreibung nicht gelingt. Dieses Phänomen erleben wir oft in institutionellen Zusammenhängen. Besonders in großen (Verwaltungs-)Apparaten gibt es oft niemanden, der für einen bestimmten Vorgang geradesteht. Schuld ist dann das System als Ganzes. Um diesen Gedanken anschaulich zu machen, kehren wir noch einmal zu einigen Beispielen zurück, denen wir zum Teil schon in anderen Zusammenhängen kurz begegnet sind: zur Qualitätssicherung, zum Baurecht und zu den Vorgaben für die Steuer. Der Reihe nach.

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Grundgedanke der Qualitätssicherung ist es, durch klar definierte Arbeitsabläufe (›Prozesse‹) zu einem Ergebnis zu kommen, das bestimmte Mindestanforderungen sicher erfüllt. Dazu werden meistens einzelne Arbeitsschritte definiert, standardisiert und verbindlich vorgeschrieben. Diejenigen, die nach qualitätsgesicherten Vorgaben arbeiten, sind in dem, was sie tun, also weder frei – im Sinn der Hobbesschen Bestimmung – noch tragen sie Verantwortung für die Ergebnisse und Folgen ihres Tuns. Jedenfalls solange sie die Anweisungen gewissenhaft abarbeiten. Wenn Fehler auftreten, dann liegen diese im System: Das System als Ganzes ist verantwortlich. Was in der Praxis eben meistens bedeutet, dass niemand die Verantwortung trägt. Dies gilt auch für die seit Jahren angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt. Damit auf dem Bau nichts schiefgeht, hat der Gesetzgeber fast jedes Detail geregelt. Derzeit gibt es deshalb allein etwa 4000 baurelevante DIN-Normen, zu denen eine deutlich größere Zahl von Vorschriften des Bauplanungsrechts (Baugesetzbuch, Baunutzungsverordnung) hinzukommt. Sie werden ergänzt um die Vorschriften nachgeordneter Verwaltungsebenen (Länder, Kommunen), um Vorschriften des Baunebenrechts, sowie Bestimmungen zum Denkmal-, Umwelt und Arbeitsschutz, Verordnungen des Wasser- und des Verkehrs- und Tiefbaurechts, Auflagen für den Brandschutz und den Energieverbrauch, etc. Der bauwillige Mensch wird so am Ende von ungefähr 20.000 verbindlichen Regeln durch sein Vorhaben geleitet.1 Und trägt, jenseits der Finanzierung, deshalb so gut wie keine Verantwortung für das Ergebnis. Da, wer sich an geltendes Recht halten möchte, bereits mehrere Jahre allein für die Durchsicht der Bestimmungen benötigt,2 stellen inzwischen offensichtlich immer mehr Menschen fest, dass an dieser Stelle die Befreiung von der eigenen Verantwortung den Aufwand für die Anlage ihres Kapitals in einem Neubau dann doch nicht aufwiegen kann. Ergebnis: Ein Mangel an Wohnraum und die Oligopolisierung des Marktes. Drittens: das deutsche Steuerrecht. Gern wird erzählt, es sei mit all seinen Ausnahmetatbeständen das komplizierteste der Welt und auch, dass sechzig bis achtzig Prozent der Steuerliteratur weltweit in deutscher Sprache abgefasst sind. Dies dürfte zwar eine polemische Zuspitzung sein, doch es ändert nichts an der Tatsache, dass unser Steuerrecht wenigstens so kompliziert ist, dass kaum noch jemand die Erklärung ohne professionelle Hilfe anfertigen kann. Jedenfalls dann, wenn seine Steuersituation irgendwelche Besonderheiten aufweist. Der Grund da-

2.4 Grenzen der Verantwortung

für liegt im Leitgedanken des Systems. Er lautet, dass der Staat nicht pauschal zur Kasse bitten, sondern sich bei der fiskalischen Einschätzung seiner Bürger an deren Leistungsfähigkeit orientieren möge. Um diesem Leitgedanken in der Praxis Geltung zu verschaffen, gibt es für fast jeden Einzel- und Sonderfall inzwischen eine gesetzliche Regelung. Was dazu führt, dass die ursprüngliche Vorstellung der angemessenen und in diesem Sinn gerechten Besteuerung heute unter einem Berg von Bürokratie begraben und einer erheblichen Ungerechtigkeit gewichen ist. Dies führen uns nicht nur internationale Großkonzerne mit einer (lokalen) Steuerquote kurz über dem Gefrierpunkt vor, sondern auch der Blick auf die Möglichkeiten zur (legalen) kreativen Steuergestaltung am oberen Ende der Einkommensskala macht es unmissverständlich deutlich.3 Dennoch wird sich daran, dass der ursprüngliche Gedanke der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit inzwischen kaum noch zu erkennen ist, in absehbarer Zeit nichts ändern. Der Grund ist auch hier, dass sich die Verantwortung auf so viele Schultern verteilt, dass am Ende niemand mehr für die Ergebnisse des Systems geradesteht. Zurück zur Freiheit. Die Einsicht, dass Freiheit und Verantwortung zwei Seiten derselben Medaille sind, erlaubt hier einen Rückschluss auf die Wertschätzung der Freiheit. Schließlich geht nicht beides zugleich. Wer Verantwortung beseitigt – und sei es durch Regelungen, die auch noch das letzte Detail im Blick haben – schränkt damit zugleich auch die Freiheit ein. In den Beispielen betrifft dies sowohl die Freiheit derjenigen, die Wohnraum schaffen wollen, als auch die Freiheit derjenigen, die ihn suchen; es betrifft sowohl diejenigen, die versuchen, ihre Steuererklärung in Eigenregie und ohne eine entsprechende Fachausbildung korrekt anzufertigen, als auch diejenigen, die einfach nur ihre Arbeit gut machen wollen. Und es betrifft letztlich alle Menschen in ihrem Alltag, wenn gut gemeinte Konzepte – wie etwa bei der ›Verkehrswende‹ – zu chaotischen Zuständen in den Ballungsräumen führen.4 Dennoch wird auch in freiheitlichen Gesellschaften das Angebot, den Einzelnen weitgehend aus seiner Verantwortung zu entlassen, gern und in der Breite angenommen. Bereits vor über 2000 Jahren vermutete der griechische Philosoph Aristoteles deshalb, dass viele Menschen von Natur aus »Sklaven« seien und mit ihrer Freiheit nichts anzufangen wüssten;5 Sklaven, die, verlören sie ihre Ketten, sich eilig neue schmieden würden. Sollte der Grund für diese pessimistische Einschätzung allerdings sein, dass sie dies deshalb tun, weil sie »nicht über die moralischen und intellektuellen Fähigkeiten verfügen, sich

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dem Anblick der Verantwortung zu stellen«, wie Isaiah Berlin vermutet,6 liegt die Gegenstrategie nahe: Förderung der Eigenverantwortung, Bildung und die Ermutigung zur gesellschaftlichen Teilhabe. Denn das ist der Umkehrschluss der Diagnose: Wer über die moralischen und intellektuellen Voraussetzungen verfügt, der sollte in der Lage sein, seine Ketten dauerhaft abzulegen.

2.5 Das höchste Ziel

Kehren wir an dieser Stelle noch ein weiteres Mal zu John Stuart Mills Freiheitsformel zurück. Sie hat nämlich interessante Konsequenzen. Wenn Freiheit bedeutet, das eigene Leben selbstbestimmt gestalten zu können, solange dies andere Menschen nicht in ihrer freien Lebensgestaltung beeinträchtigt, wird Freiheit zu ihrem eigenen Regulativ. Das heißt, der einzige Grund für eine Einschränkung der Freiheit ist tatsächlich die Freiheit selbst (nämlich die Beeinträchtigung der Freiheit der Mitmenschen). Damit ist sie offensichtlich unabhängig von anderen Grundsätzen und steht entweder neben oder über ihnen.1 Diese Behauptung hat weit reichende Folgen, so dass es sich lohnt, kurz nachzufassen. Gibt es nicht doch Werte oder Prinzipien, die über der Freiheit stehen oder wenigstens gleichberechtigt neben ihr? Ein kurzer Blick auf die aussichtsreichere Konkurrenz klärt die Frage. Die erste und naheliegende Bewerberin ist die ›Sicherheit‹. Dafür sie zum obersten Organisationsprinzip zu machen, an dem sich das Zusammenlebens ausrichten soll, votierte bereits Thomas Hobbes. Er meinte, das Bedürfnis nach Sicherheit sei tatsächlich das eine herausragende Motiv für Menschen, sich überhaupt den Regeln des Zusammenlebens zu unterwerfen – denn schließlich bedeutet dies für jeden Einzelnen, einen nicht geringen Teil seiner Freiheit abgeben zu müssen.2 Hobbes’ Argument dafür, die Sicherheit an die oberste Stelle zu setzen, liegt auf der Hand. Was, so gibt er zu bedenken, nützt einem Menschen am Ende seine Freiheit, wenn er in ständiger Bedrohung lebt und nicht sicher vor der Willkür seiner Mitmenschen sein kann? Was spricht gegen die Sicherheit? Vor allem eine Paradoxie, die sich nur dann auflösen lässt, wenn die Sicherheit einem anderen Grundsatz untergeordnet wird. Denn anders als die Freiheit, kann das Prinzip der Sicherheit sich nicht selbst regulieren. Um zu sehen, warum dies so ist, hilft ein kurzer Umweg. Erinnern wir uns an den erwähnten

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Zusammenhang, dass Mills Formel im politischen Diskurs oft herangezogen wird, um eine Einschränkung bürgerlicher Freiheiten zu begründen, und zwar oft mit dem zweifelhaften Argument, die Freiheit des Einzelnen müsse zurückstehen, wenn die Freiheit der Gemeinschaft erhalten werden soll. Ganz besonders die Erweiterung der Befugnisse des Staatsschutzes folgt zuverlässig dieser Gedankenführung mit der Behauptung, die Verringerung der individuellen Freiheit des Bürgers sei ein kleiner Preis dafür, die Freiheit der Allgemeinheit im Angesicht von Terror, Organisierter Kriminalität und (staats-) feindlichen Umtrieben aller Art zu schützen. Auf den ersten Blick scheint diese Argumentation durchaus auf der Linie von Mill zu liegen. Dennoch erzeugt sie bei vielen ein Unbehagen; ein Unbehagen, für das es keinen Anlass geben sollte, wenn der Gedankengang tatsächlich ein klarer Anwendungsfall seiner Formel wäre. Und tatsächlich ist er es auch nicht; obwohl es nicht ganz einfach ist, die Abweichung zu erkennen. Erst bei genauerem Hinsehen erschließt sich der Grund für den Vorbehalt. Er steckt in den verdeckten Zusatzannahmen. Diese sind nicht zuletzt deshalb schwer auszumachen, weil sie rhetorisch oft von einer Dämonisierung der Freiheitsfeinde überdeckt werden. Besonders zwei der entsprechenden Annahmen stimmen nachdenklich. Die erste lautet: ›Freiheit gibt es nicht ohne Sicherheit‹; die zweite: ›Sicherheit gibt es nicht ohne Kontrolle‹. Die erste Annahme ist fragwürdig, die zweite ist falsch. Die Behauptung ›Freiheit gibt es nicht ohne Sicherheit‹ ist deshalb fragwürdig, weil sie sich auf die pessimistische Annahme stützt, der Mensch habe nichts Besseres im Sinn, als seinen Mitmenschen bei jeder Gelegenheit zu schaden. Und diese Annahme, auch wenn sie bereits von Thomas Hobbes mit Nachdruck vertreten wurde, hat einen entscheidenden Schönheitsfehler, denn Sie lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Kein Experiment und auch kein noch so informierter Blick in die Geschichte sind in der Lage, die Angelegenheit nach der einen oder anderen Seite zu entscheiden. Für jedes (sozialwissenschaftliche) ›Experiment‹, das die Behauptung stützt, gibt es eines, das das Gegenteil nahelegt, und auch jedes Beispiel aus der Geschichte hat sein Gegenbeispiel. Die zweite Annahme dagegen, ›Sicherheit gibt es nicht ohne Kontrolle‹, ist nicht nur fragwürdig, sondern schlicht falsch. Denn wenn mehr Kontrolle automatisch zu mehr Sicherheit führte, wären »Überwachungsstaaten die sichersten Orte« der Welt.3 Zahllose historische und aktuelle Beispiele führen das Gegenteil vor. Allein die stete Gefahr, in einem solchen Staat Opfer von

2.5 Das höchste Ziel

Denunziation, Deportation oder Umerziehungsmaßnahmen zu werden, zeigt an, dass es mit der Sicherheit für den Einzelnen dort nicht zum Besten steht. Mehr noch, vermutlich ist sogar das genaue Gegenteil der Annahme der Fall und mehr Regeln und mehr Kontrolle führen im Ergebnis zu weniger Sicherheit. Diese Vermutung lässt sich wenigstens in einigen Fällen sogar belegen. Ein anschauliches Beispiel stammt aus der Stadt- und Verkehrsplanung. Bereits seit den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts weisen Anhänger des sogenannten ›Shared-Space‹-Ansatzes darauf hin, dass die umfassende Regulierung des Verkehrsraums durch Beschilderung, Ampeln und dergleichen die Zahl der Unfälle erhöht. Und zwar mit der Begründung, dass dies die Verkehrsteilnehmer überfordert und sie, auch durch die strikte Trennung der verschiedenen Verkehrsarten (Kraftfahrzeuge, Fahrräder, Fußgänger), gleichzeitig aus der Verantwortung entlässt. Unter dem Motto »Unsicherheit schafft Sicherheit« tritt die Shared-Space Bewegung deshalb seit längerem dafür ein, die Regulierung deutlich zurückzunehmen und auch die Trennung der Verkehrsarten weitgehend aufzuheben. Dadurch soll den Beteiligten die Verantwortung für ihr Handeln zurückgegeben werden. Soweit die Theorie. Lange Zeit war die Grundannahme der SharedSpace Verfechter wenig mehr als eine Hypothese und eher spekulativ. Ihr Ansatz galt als eines jener gut gemeinten Konzepte, die am grünen Tisch funktionieren, den Praxistest allerdings nicht bestehen. Dies hat sich inzwischen geändert, denn seit einigen Jahren bestätigen zahlreiche Feldversuche den Zusammenhang. Einer von ihnen fand (mit wissenschaftlicher Begleitung) auch in Deutschland statt4 und zeigte: Der Umweg über Freiheit und (Eigen-) Verantwortung erhöht die Sicherheit im Straßenverkehr sogar deutlich. Durch die Unterordnung der Sicherheit unter die Freiheit nahm die Sicherheit (paradoxerweise) zu und zwar deutlich.5 Anders ausgedrückt: Der Versuch, Sicherheit auf direktem Weg zu erreichen, durch Ver- und Gebote, Verfahrensregeln, Vorgaben und Kontrolle, hat wenigstens in diesem Bereich nicht nur keinen Erfolg, sondern bewirkt wohl eher das Gegenteil. Die Vermutung, dass dieses Ergebnis auch für andere Bereiche unseres Lebens gilt, liegt nahe. Ob in der Produktion oder im gesellschaftlichen Umgang – auch hier dürfte die Entbindung des Einzelnen von der Verantwortung die Lage am Ende in vielen Fällen also unsicherer machen. Die zweite naheliegende Konkurrentin der Freiheit ist die Gerechtigkeit. Auch gegen sie gibt es Einwände. Es beginnt schon damit, dass die

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Auffassungen davon, was Gerechtigkeit ist, weit auseinander gehen. Einigkeit besteht allenfalls noch darüber, dass Gerechtigkeit ein Gegenteil von Willkür ist. Jenseits davon wird es kontrovers. Für die Einen, angefangen mit Platon, ist Gerechtigkeit zuallererst eine fortwährende innere Einstellung (Tugend), die Einstellung, dasjenige zu unternehmen, was der eigenen Lebensaufgabe entspricht. Um dadurch, so meinte er, die verschiedenen Teile der »Seele« in Einklang zu bringen. Für die Nächsten ist Gerechtigkeit etwas, das Gerichte herstellen, idealerweise und besonders im Bezug auf einzelne Handlungen. Für die Dritten steht, wenn es um Gerechtigkeit geht, die angemessene Entlohnung für geleistete Arbeit oder für einen Beitrag zum Allgemeinwohl im Vordergrund. Wieder andere, wie etwa der schottische Philosoph David Hume, sehen Gerechtigkeit, viertens, vornehmlich als Prinzip bei der Verteilung und Sicherung von Eigentum. Und schließlich, fünftens, meinen viele, dass es bei der Gerechtigkeit vor allem um den Ausgleich unterschiedlicher Interessen geht. Kurz, das Bedeutungsfeld ist groß. Die Verschiedenheit der Meinungen und die Unschärfe der Bedeutung allein wären allerdings noch kein Grund, um die Gerechtigkeit zu disqualifizieren. Denn eine Bestimmung, der die meisten zustimmen können, ließe sich mit Forschergeist und Ausdauer vielleicht noch finden. Aber auch die Gerechtigkeit, wie auch immer sie am Ende definiert wird, hat interne Schwierigkeiten. Sie treten beispielsweise dann auf, wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Und dafür ist es tatsächlich unerheblich, ob es um Eigentumsverteilung, Entlohnung, oder eine Ungerechtigkeit an anderer Stelle geht. Hier muss in jedem Fall einigen Menschen etwas genommen werden, um die Nachteile derjenigen auszugleichen, die schlechter gestellt sind. Und die Umverteilung im Namen der Gerechtigkeit trifft selbstverständlich auch diejenigen, die ihre bessere Stellung allein oder vorwiegend ihren eigenen Anstrengungen verdanken – was wenigstens diese Gruppe als ungerecht empfinden dürfte. Es ist daher nicht zu sehen, wie eine widerspruchsfreie und überzeugende Gerechtigkeitskonzeption aussehen könnte, die sich nicht wenigstens an dieser Stelle auf ein anderes regulatives Prinzip berufen müsste. Wenn die Gerechtigkeit aber auf Hilfe angewiesen ist, kommt sie als oberstes Organisationsprinzip der Gesellschaft ebenso wenig in Frage wie die Sicherheit.6 Eine dritte aussichtsreiche Mitbewerberin schließlich ist die Gleichheit. Schon die Französische Revolution nannte sie in einem Atemzug mit der Freiheit. Doch was sich auf Fahnen und Bannern gut macht,

2.5 Das höchste Ziel

muss deshalb noch lange nicht richtig sein. Tatsächlich waren Freiheit und Gleichheit auch 1789 schon nicht miteinander vereinbar. Denn Freiheit, die autonome Verfolgung individueller Lebensziele, erzeugt zwangsläufig Ungleichheit, weil einige Lebensmodelle eben zu einem Mehr an Gütern, Einfluss, Zufriedenheit oder Glück führen. Dieser Umstand ist eine Hauptmotivation des selbstbestimmten Lebens: »Wenn das Ergebnis individueller Freiheit nicht klar zeigte, dass einige Lebensweisen erfolgreicher sind als andere, verlöre die Argumentation für sie viel von ihrer Überzeugungskraft«.7 Damit gerät die Diskussion um die Gleichheit dann in ähnliches Fahrwasser wie die Diskussion um die Gerechtigkeit. Der Vorstellung der gerechten Entlohnung oder Eigentumsverteilung dort, entspricht hier die Vorstellung der gleichen Entlohnung oder der Gleichverteilung (von Gütern, Ressourcen, oder Macht). Wegen dieser Parallelen ist auch der Einwand ähnlich. Wenn alle gleich zu behandeln sind, über die gleiche Macht, oder die gleiche Menge an Gütern und Ressourcen verfügen sollen, geht es auch hier nicht ohne Umverteilung und Kontrolle. Einerseits um diesen Zustand allererst herzustellen, andererseits um ihn später aufrecht zu erhalten. Und wenn dafür der einen Seite etwas genommen wird um es der anderen zu geben, werden beide Seiten offensichtlich eben nicht gleich behandelt. Zu dieser systeminternen Widersprüchlichkeit kommen noch zwei weitere Überlegungen hinzu, die es der Gleichheit schwer machen, beim Wettbewerb um den ersten Platz unter den Grundsätzen erfolgreich zu sein. Denn zum einen braucht es diejenigen, die über den fortgesetzten Bestand gleicher Verhältnisse wachen. Dafür benötigen sie entsprechende Befugnisse, das heißt: mehr Macht als diejenigen, deren Verhalten sie auf Linie bringen sollen – und sind damit wenigstens in dieser Hinsicht ihren Mitmenschen nicht gleich. Zum anderen gilt: Wer überzeugt ist, dass ein größeres gesellschaftliches Engagement, oder allgemein, ein größerer Tatendrang eine bessere Entlohnung oder einen größeren Einfluss auf die Geschicke der Gemeinschaft begründen (weil Gleichheit sonst zu Gleichmacherei wird), ergänzt den Gleichheitsgedanken unter der Hand bereits um eine Vorstellung der Angemessenheit oder des Verdienstes. Und ordnet das Gleichheitsprinzip damit stillschweigend einer anderen Vorstellung unter. Es sieht also ganz danach aus, als könne die Konkurrenz es tatsächlich nicht mit der Freiheit als oberstem Organisationsprinzip aufnehmen, wenn es selbst gegen die aussichtsreichsten Kandidatinnen grund-

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legende Einwände gibt. Vor allem die Tatsache, dass Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit nicht ohne höhere regulierende Prinzipien auskommen, unterscheidet sie klar von der Freiheit, die solche Prinzipien nicht benötigt.

2.6 Folgen

Wenn wir diese Einsicht ernst nehmen, so hat das, wie erwähnt, Folgen. Vor allem drei von ihnen sind für uns wichtig. Erstens: Wenn Freiheit sich selbst reguliert, kann offensichtlich keiner ihrer einzelnen Aspekte absolut gelten. Das bedeutet, einzelne Freiheiten müssen immer wieder neu aufeinander abgestimmt werden, besonders dann, wenn sich die Umstände ändern.1 Zweitens: Für die nachgeordneten gesellschaftliche Grundsätze und Werte wie Sicherheit, Gerechtigkeit und andere gilt, dass ihre institutionelle Umsetzung sich daran messen lassen muss, ob sie (wenigstens in ihrer Tendenz) die Autonomie der Mitglieder der Gemeinschaft fördert. Tut sie dies nicht, ist eine Institution im besten Fall verzichtbar und im schlechten schädlich für ein Zusammenleben in Freiheit. Und drittens: Freiheit kann sich für den Einzelnen nur dann vergrößern, wenn derselbe Zuwachs allen Mitgliedern der Gemeinschaft gleichermaßen zugestanden wird. Ebenso müssen dann natürlich auch die Freiheitsbeschränkungen für alle gleichermaßen gelten. Wer größere Freiheit ausschließlich für sich selbst oder deren Einschränkung nur für andere fordert und sich selbst davon ausnimmt, setzt sich über die Autonomie seiner Mitmenschen hinweg und folgt offensichtlich einem anderen obersten Prinzip. Der Gedanke, dass kein Aspekt der Freiheit absolut sein kann, ist naheliegend und leuchtet unmittelbar ein. Deshalb kann ihn Mill auch bei der Formulierung seines Prinzips mit einiger Selbstverständlichkeit voraussetzen. Die beiden anderen Überlegungen sind vielleicht weniger einsichtig, werden aber durch Beispiele deutlicher. Erstens: Dass wir wenigstens an einigen Stellen umdenken müssen, wenn wir gesellschaftliche Institutionen konsequent danach beurteilen, ob sie Freiheit fördern oder verringern, kann der Blick auf eine Institution deutlich machen, die in vielen freiheitlich organisierten Gesellschaften ihren festen Platz hat. Sie eignet sich vielleicht gerade deshalb besonders zur

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Veranschaulichung des Gedankens, weil wir selten weiter über sie nachdenken. Es geht um die Praxis, Bürger in materieller Not langfristig von offizieller Seite zu unterstützen. Und zwar dadurch, dass einer Mehrheit genommen wird, um einer Minderheit zu geben. Für die Freiheit ist dies gleich in doppelter Hinsicht schädlich. Einerseits, weil die Umverteilung die Autonomie derjenigen verringert, die (mehr oder weniger bereitwillig) die Mittel zur Verfügung stellen. Und andererseits, und dies ist bei weitem wichtiger, weil sie auch die Autonomie derjenigen beschädigt, denen auf diese Weise geholfen wird. Denn diese Menschen treibt der fortgesetzte Transfer in eine Abhängigkeit, aus der sie kaum wieder entkommen – und die sie oft sogar an die nächste Generation weiterreichen. Die Tatsache, dass die Gemeinschaft die fortgesetzte Abhängigkeit von Transferleistungs-Empfängern akzeptiert, zeugt von Gleichgültigkeit. Sie gibt damit zu verstehen, dass es ist ihr letztlich egal ist, ob die in Not Geratenen wieder auf eigene Füße kommen oder nicht.2 Wem es mit der Freiheit als oberstem Prinzip ernst ist, gerät an dieser Stelle ins Grübeln, denn schließlich ist es unverträglich mit dem Freiheitsgedanken, sich an einer Praxis zu beteiligen, die die langfristige Abhängigkeit und die dauerhafte Fremdbestimmung (Heteronomie) von Mitmenschen schulterzuckend in Kauf nimmt. Zweitens: Der Gedanke, dass Freiheit für alle in gleicher Weise und in gleichem Maß gelten muss, lässt sich ebenfalls gut mit einem Beispiel verdeutlichen, das nicht unbedingt als erstes in den Sinn kommt, wenn man über dieses Thema nachdenkt. Es stammt aus dem Umfeld der Meinungsfreiheit und begegnet uns seit einigen Jahren unter der Überschrift der Politischen Korrektheit. Das zentrale Anliegen derjenigen, die sich unter diesem Begriff versammeln, ist es, bestimmte Ausdrucks- und Verhaltensweisen im öffentlichen (und oft auch im privaten) Raum für alle verbindlich festzulegen. Die Anfänge der Political Correctness reichen zurück in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts.3 Die Bewegung entstand aus einem studentischen Protest an der amerikanischen Westküste, der sich gegen die Themensetzung des universitären Lehrplans richtete. Konkreter Anlass war der Unwille, sich mit den Gedanken der europäischen Aufklärung auseinanderzusetzen. Eine Begründung dafür, warum dies weder wünschenswert noch nötig ist, war schnell gefunden: Die Grundideen dieser Epoche seien schließlich von toten weißen (europäischen) Männern formuliert worden und bildeten deshalb die Vielfalt der globalen Geistesgeschichte nicht ab. Und die Beschäftigung mit den Ideen der Aufklärung vernachlässige zudem

2.6 Folgen

allgemein die Sichtweise von Minderheiten. Soweit die ursprüngliche, logisch mutige, Kritik. Aus der Ablehnung des Lehrplans wurde in den 1990er Jahren dann eine allgemeine Haltung, die den akademischen Elfenbeinturm hinter sich ließ, zunächst in den USA, etwas später dann auch in Europa. Und die ursprüngliche Forderung nach der angemessenen Berücksichtigung bisher vernachlässigter Perspektiven mündete in einen Kreuzzug, in dem einige (und oft nicht einmal die Betroffenen selbst) sich das Recht zusprachen, für alle verbindlich festzulegen, was als diskriminierend zu gelten habe. Der daran anschließende Versuch, den Sprachgebrauch zu normieren, war in vielen Fällen erfolgreich. Kaum ein offizielles Dokument und kaum ein journalistischer Text, die heute nicht im Sinn einer (vermeintlich) diskriminierungsfreien Rede bearbeitet werden; selbst literarische Werke werden inzwischen nachgebessert. Die Überschrift Politische Korrektheit trifft die Sache dabei gar nicht schlecht, deutet sie doch an, dass viele Vertreter der politisch korrekten Sprachgestaltung, so wie die unerschütterlichen Weltverbesserer aller Zeiten, der Überzeugung sind, im Besitz der endgültigen Wahrheit zu sein.4 Hinsichtlich der Freiheit gilt: Wer seinen Mitmenschen seine Sicht der Dinge aufzwingt, setzt sich über deren Autonomie hinweg5 und misst mit verschiedenen Maßstäben. Meinungen, die von der eigenen abweichen, mit sprachlichen Vorschriften, Verboten und mit diskursiver Gewalt zu begegnen (anstatt mit Argumenten), verwehrt dem Gesprächspartner offensichtlich eine Freiheit, die für die eigene Rede und die eigenen Meinungen in Anspruch genommen wird. Wer derart entspannt mit der Symmetrieforderung umgeht, kann der Freiheit offensichtlich nichts abgewinnen.6

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2.7 Sozialer Determinismus

Ungemütlich wird es für Freiheit und Autonomie allerdings nicht nur dort, wo andere diese gezielt ins Visier nehmen. Auch wir selbst können ihnen, wie wir bereits mehrfach gesehen haben, durch Nachlässigkeit erheblichen Schaden zufügen. Besonders im Umgang mit der Datenindustrie und dem Kleingedruckten ihrer Geschäftsmodelle führen Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit dann leicht in einen sozialen Determinismus und zu einer Konditionierung, die sich im Lauf der Zeit kaum mehr durchbrechen lässt. Determinismus ist die Bezeichnung dafür, dass ein Vorgang stets zum gleichen Ergebnis führt, solange die Ausgangs- und die Rahmenbedingungen die gleichen sind. In der Philosophie begegnet uns der Determinismus vor allem in der Wissenschaftstheorie und bei der metaphysischen Debatte um die Willensfreiheit. Im letzten Fall steht der Begriff als Überschrift über einer Diskussion, die davon ausgeht, dass alle unsere Entscheidungen kausal vollständig festgelegt (determiniert) sind durch die physikalischen Ausgangszustände unseres Gehirns – und daraus ableitet, dass von Freiheit im Zusammenhang mit unserem Willen nicht die Rede sein kann (s. Anhang 1). Die Kausalzusammenhänge der Natur können wir nicht ändern, ob wir ihnen allerdings einen sozialen Determinismus an die Seite stellen und die Entstehung von (vermeintlichen) Zwangsläufigkeiten in unserem Denken und Handeln zulassen, liegt durchaus in unserer Hand. Denn ein solcher Determinismus ist die Folge einer permanenten Verstärkung unserer gegenwärtigen Vorlieben durch ihre ständige Rückspiegelung. Sehen wir genauer hin. Obwohl der soziale Determinismus kein neues Phänomen ist, haben sich auch seine Rahmenbedingungen geändert. Vor noch nicht allzu langer Zeit und in einer gesellschaftlich wenig durchlässigen Umgebung entschieden äußere Faktoren wie Abstammung und Herkunft weitgehend über den weiteren Lebensweg

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des Einzelnen. Heute ist vor allem das eigene Verhalten die treibende Kraft, Tradition und das Korsett eines starren Gesellschaftsgefüges sind in den Hintergrund getreten. Die Gitterstäbe des autonomen Lebens lassen wir von automatischen Systemen einziehen, indem wir ihnen gestatten, unsere aktuellen Vorlieben und Entscheidungen in endloser Wiederholung zu verfestigen. Für die Herrscher über die Algorithmen ist es dabei durchaus naheliegend anzunehmen, dass die Dinge, die uns aktuell interessieren und beschäftigen, die Dinge sind, in die wir auch in Zukunft Zeit und vor allem Geld investieren werden. Diese Annahme ist die Grundlage einer Logik, die versucht, Verhaltensvorhersagen in Profit zu verwandeln. Dies gelingt umso besser, je genauer Daten aus unterschiedlichen Quellen eindeutig zuzuordnen sind. Um die elektronischen Personalakten zu füllen, die die Datenfirmen über ihre Nutzer führen, gibt es vermutlich kaum ein einfacheres und wirksameres Rezept für eine dauerhafte Kundenbindung als die fortgesetzte Schmeichelei der ständigen Bestätigung und Verstärkung seiner Vorlieben. Dabei geht es den Anbietern im Kern wirklich nur darum, Daten möglichst lückenlos zu erfassen: Einkaufsverhalten, Termine, Kontakte, Fitnessdaten und Lebensgewohnheiten. Denn wer diese und all die anderen Rückmeldungen der ›smarten‹ Technik am umfassendsten erhebt und am genauesten zuordnen kann, ist der Konkurrenz mit seinen personalisierten Empfehlungen den entscheidenden Schritt voraus (s. oben).1 Dabei geht das Versprechen, das Leben des Einzelnen durch die umfassende Analyse seiner Daten und die ständige Überwachung seiner Aktivitäten bequemer und sicherer zu machen an vielen Stellen durchaus auf. Die Sensoren in der Kleidung melden den Gesundheitszustand und die nachgeschaltete Analysesoftware kann kritische Situationen frühzeitig entschärfen; das Elektrofahrzeug bestimmt den optimalen Zeitpunkt für seine Aufladung und plant die laut Terminkalender anstehenden Fahrten demnächst in Eigenregie; das Gehaltskonto hat unsere Ausgaben und unser Konsumverhalten im Blick und das Smartphone gibt uns Empfehlungen zum Kaffeekonsum.2 Dies scheint für beide Seiten ein Gewinn zu sein, weil es den Nutzer in seiner Alltagsroutine entlastet und dem Anbieter eben die Vermarktung immer passgenauerer Dienstleistungen ermöglicht. Und hier schließt sich der Kreis. Indem die Personalisierung des gesamten Lebens die Perspektive verengt durch die fortwährende Bestätigung eines aktuellen Verhaltens, durch das Bemühen, Unbekanntes und

2.7 Sozialer Determinismus

Ungewohntes von vornherein auszufiltern, treibt sie den Nutzer immer tiefer in eine Welt, die sich ausschließlich um ihn selbst dreht, in eine Welt, in der seine aktuellen Vorlieben seinen weiteren Weg in einer bisher nicht da gewesenen Weise festlegen.3 Ein personalisiertes Leben mag bequemer und an einigen Stelle vielleicht sogar glücklicher sein – wer sich voll und ganz darauf einlässt, macht sich allerdings zum Komplizen seiner eigenen Unfreiheit. Denn seine Möglichkeiten, andere Wege einzuschlagen verengen sich so lange, bis sein Leben in vollkommen vorhersehbaren Bahnen verläuft. An die Stelle von Gewalt, Zensur, Verboten, Kontrolle und Zwang – also der Mittel, die Diktatoren in der Vergangenheit einsetzen mussten, um dieses Ziel bei ihren Untertanen zu erreichen –, tritt die freiwillige Unterwerfung. Und die Empfehlungsroutinen lernen rasch. Noch haken die Algorithmen und Modelle, die aus bisherigem Verhalten die richtigen Schlussfolgerungen ziehen sollen, zwar an einigen Stellen. Wer gerade ein neues Fahrrad erworben hat, braucht so schnell kein zweites (vorausgesetzt, es kommt nicht durch Fremdeinwirkung abhanden), und fortgesetzte Velo-Werbung ist ebenso unnötig wie lästig. Doch mit jeder (Selbst-)Auskunft helfen wir dem Programm, jede Suche, die sich eindeutig zuordnen lässt, jeder Like, jeder Kommentar, jede OnlineShoppingtour und jede Rückmeldung eines mobilen oder stationären Sensors, die eindeutig unserer Person zugeordnet werden können, erhöht die Treffgenauigkeit der nächsten Empfehlung. Und obwohl die computergestützte Verhaltensvorhersage gerade erst begonnen hat, so sind die ersten Auswirkungen des neuen Paradigmas bereits heute kaum zu übersehen. Unsere Weltwahrnehmung, unser Alltag und besonders unsere Kommunikation wandeln sich grundlegend. Der gehobene (oder eben nicht gehobene) Daumen tritt an die Stelle der Diskussion, Fertigkeiten gehen verloren und der unversöhnliche Standpunkt aus dem personalisierten Meinungsbiotop ersetzt Argument und Gespräch. Bereits verhältnismäßig wenige Angaben reichen dabei für eine Einschätzungen der Persönlichkeit und die automatische VerhaltensPrognose, wie eine Forschergruppe bereits vor einigen Jahren durch eine Untersuchung von zustimmenden und ablehnenden Urteilen (Likes und Dislikes), ermittelte. Sie veröffentlichte ihre Ergebnisse 2015 in einem Aufsatz mit dem Titel: »Computer-basierte Persönlichkeitsurteile sind genauer als diejenigen von Menschen«.4 Die Studie wies nach, dass die Software auf der Grundlage von »10, 70, 150 und 300 ›Likes‹, eine

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bessere Einschätzung [d.i. Verhaltensprognose] gibt als [jeweils] der Arbeitskollege, die Mitbewohnerin oder ein Freund, ein Familienmitglied, oder der Lebenspartner«.5 Wobei die Autoren anmerken, dass hier Luft nach oben ist.6 Ihre Prognose lautet deshalb, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Menschen bei »wichtigen Lebensentscheidungen« wie denen über »Aktivitäten, Berufslaufbahn, oder sogar Partnerschaft«, ihrem eigenen Urteil weniger vertrauen als den Entscheidungen und Anweisungen einer Software.7 Denn schon bald werde diese in der Lage sein, auf der Grundlage der gesammelten Daten eine viel bessere Wahl zu treffen, als die Betroffenen selbst es könnten. Sollte dies zutreffen – und es spricht derzeit nichts dagegen –, so führt dies direkt in die »Paradoxie der besten Wahl« (s. oben Abschnitt 1.7).8 So dass als einzige freie Entscheidung am Ende die Auswahl des Anbieters steht, dem wir die Entscheidungshoheit über unser Leben anvertrauen.9 Halten wir fest: Was den Einzelnen mit dem Versprechen lockt, ihn effizient und bequem durch sein Leben zu führen, mit passgenauen Vorschlägen für seinen Konsum, seine Freizeitgestaltung und seine Meinungen, treibt ihn stetig tiefer in die endlose Fortschreibung seiner gerade aktuellen Vorlieben. Dabei gilt hier, wie bei »allen Formen eines echten Determinismus«, dass mit der Fremdsteuerung zugleich jede »individuelle Verantwortung eliminiert« wird.10 Und auch wenn dies im Einzelfall reizvoll erscheinen mag, so gilt doch, dass wer sich weiträumig auf die smarte Personalisierung einlässt, wenigstens ausblenden muss, dass ein vollständig fremdbestimmtes und vorhersagbares Leben, ein Leben ohne Risiko, ohne Freiheit und Verantwortung, wirkungsvoll jeden Kontakt mit all den Überraschungen verhindert, die das Leben lebenswert machen. Je umfassender die Personalisierung, je weniger Irritation und Ungewohntes, desto enger der Horizont und desto größer die Langeweile. Wer sich von einer Technik, die, obwohl sie erst am Anfang steht, schon heute gute Erfolge vorweisen kann, in die ständige Selbstbestätigung treiben lässt, opfert seine Autonomie damit auf dem Altar des sozialen Determinismus.

2.8 Virtuelle Freiheit: Ein Ersatz für die reale?

Andererseits: Wären wir nicht vielleicht tatsächlich glücklicher, wenn wir keine wichtigen Entscheidungen treffen müssten – und damit zugleich der Verantwortung entkommen könnten, die jede Entscheidung mit sich bringt? Die Gelassenheit, mit der viele der Aushöhlung bürgerlicher Freiheiten begegnen,1 ihre fleißige Mitarbeit bei der digitalen Unterwanderung des Alltags und eben die faktische Inkaufnahme eines sozialen Determinismus, deuten in diese Richtung. Und gäbe es da nicht das unbestimmte Gefühl, dass einem weitgehend fremdbestimmten Leben vielleicht doch etwas fehlen könnte,2 so wäre es in dieser Perspektive folgerichtig, sich mit verhältnismäßig wenig Freiheit dauerhaft einzurichten – auch wenn vielleicht nicht jede Ausgestaltung des fremdgesteuerten Lebens gleichermaßen attraktiv ist, wie es die überschaubare Begeisterung für offen totalitäre Verhältnisse nahelegt. Die unbequeme Aufforderung zu Autonomie und Eigenverantwortung auf der einen Seite, der Hang zur Bequemlichkeit und der Wunsch nach der Vermeidung von Verantwortung auf der anderen – der technische Fortschritt scheint auch dafür eine Lösung zu bieten: die Verlagerung des Lebens in den virtuellen Raum. In den Anfangstagen des weltweiten Datennetzes waren tatsächlich nicht wenige der Meinung, die Virtualität eröffne auch der Freiheit ganz neue Möglichkeiten.3 Die elektronische Vernetzung weckte damals die Hoffnung auf die Überwindung alter Barrieren und versprach den mühelosen und unzensierten Austausch von Ansichten und Informationen und Meinungen über alle Grenzen hinweg. Zugleich schien bereits damals die Aussicht auf, in virtuellen Umgebungen die eigene Person völlig neu erfinden zu können. Die einzigen Beschränkungen waren Rechenleistung, Bandbreite und die eigene Phantasie.4 Und trotz einer gewissen Ernüchterung, die seit den frühen Tagen eingekehrt ist, ist der Gedanke der digitalen Welt als eines Möglichkeitsraums der Freiheit immer

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noch lebendig. ›Alternative Fakten‹, Desinformation und ›Hate Speech‹ konnten die ursprüngliche Hoffnung nicht grundsätzlich zerstören. Zuverlässig zeigt sich dies an dem Protest, der noch heute regelmäßig aufflammt, wenn ein Angriff auf die Freiheit des Netzes vermutet wird. Für uns ist diese dialektische Denkfigur wichtig. Denn sie erklärt, warum es leichtfällt, die virtuelle Freiheit im Datenraum für das Original zu halten und wir gleichzeitig der Meinung sein können, diese Freiheit sei nicht mit echter Verantwortung verbunden. Diese Meinung entsteht aus einer gedanklichen Vermischung verschiedener Ebenen, die an dieser Stelle deshalb besonders naheliegt, weil die Beziehung zwischen realer und virtueller Welt insgesamt unübersichtlich ist und dazu einlädt. Betrachten wir einige Beispiele, um der Verwirrung auf den Grund zu gehen. Erstens: Es gibt unproblematische Fälle, bei denen die Verwechslungsgefahr zwischen realer Welt und virtuellen Umgebungen entweder gering ist oder der Unterschied keine oder keine nennenswerte Rolle spielt. Die Goldmünzen aus der virtuellen Piratentruhe etwa fallen in die erste Kategorie, weil wohl den meisten klar ist, dass der virtuelle Schatz keine realen Geldsorgen löst. Ebenfalls hierher gehört das sorgsam bearbeitete Profilbild. Ein Blick in den Spiegel reicht, um uns daran zu erinnern, dass die Retusche den echten Falten nichts anhaben kann. In die zweite Kategorie, bei der der Unterschied für die Praxis unerheblich ist, gehören die Fälle, bei denen die virtuelle Umgebung in erster Linie ein Hilfsmittel für alltägliche Vorgänge und Tätigkeiten ist. Das Wissen, das im virtuellen Klassenzimmer vermittelt wird, ist ebenso echt wie das Wissen, das von Angesicht zu Angesicht im realen Klassenraum weitergegeben wird. Und auch die Transaktionen eines elektronischen Behördengangs oder in der virtuellen Filiale der Hausbank unterscheiden sich nicht wesentlich von den Transaktionen, die wir analog an Ort und Stelle durchführen. Sie erfüllen ihren Zweck und erreichen ihr Ziel genauso wie ihre realen Analoga. Das bedeutet: auch hier kaum Verwechslungsgefahr. Doch ungünstigerweise liegen die Dinge eben nicht immer so klar. Zwischen den beiden Polen – der Simulation ohne direkte Folgen für die reale Welt und Handlungen, für die die virtuelle Umgebung nur ein (weiteres) Medium ist – gibt es eine erhebliche Grauzone. Und dort werden die Dinge schnell kompliziert, weil wir es mit Fragen zu tun bekommen, die sich nur schwer beantworten lassen. Wie können aus virtuellen Kontakten echte Freunde werden, wenn doch der Kontakt den virtuellen

2.8 Virtuelle Freiheit: Ein Ersatz für die reale?

Raum nie verlässt? An welchem Punkt schlägt virtuelle Gewalt in reale Gewalt um? Erst dann, wenn das Schießtraining im Ego-Shooter seine Fortsetzung in einem Schulmassaker findet? Oder schon bei den Drohungen und Hassbotschaften, die uns aus dem virtuellen Raum entgegenschlagen, auch wenn mit ihnen keine realweltlichen Anschlusshandlungen verbunden sind? Die eindeutige Zuordnung fällt schwer und der Versuch einer genauen Bestimmung erzeugt Verwirrung. Und es ist diese Verwirrung, die auch den Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung der Freiheit zugrunde liegt und uns leicht glauben lässt, dass es im virtuellen Raum echte Freiheit gibt, ohne dass wir reale Verantwortung für unsere Aktionen übernehmen müssen. Denn auch die Freiheit ist in allen drei Kategorien vertreten. Es gibt Fälle mit geringer Verwechslungsgefahr und solche, bei denen der Unterschied kaum ins Gewicht fällt. Und es gibt einen großen Bereich, in dem eindeutige Zuordnungen schwerfallen. So erhöht etwa die Markttransparenz, die sich vom heimischen Rechner aus herstellen lässt, die realweltliche Freiheit des Nutzers. Schließlich erleichtert sie es ihm, sich auf einfache Weise einen guten Überblick über ein Angebot zu verschaffen. Ähnliches gilt für die Möglichkeit, virtuell auf einen großen Teil des Weltwissens zugreifen zu können. Die Verwechslungsgefahr, andererseits, ist gering, solange klar erkennbar ist, dass die virtuelle Freiheit am Netzschalter des Systems endet. Den virtuellen italienischen Sportwagen mit hoher Geschwindigkeit in die ebenso virtuelle Leitplanke zu setzen, ruft weder die Haftpflichtversicherung noch den (realen) Krankenwagen auf den Plan. Schwieriger dagegen ist das Urteil beim gerade erwähnten Ego-Shooter. Das liegt auch daran, dass Verstand und Gefühl hier leicht zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können. Obwohl kognitiv unschwer nachvollziehbar ist, dass es einen großen Unterschied macht, ob man eine Waffe aus Bits und Bytes auf eine computergenerierte Figur richtet, oder dasselbe mit einer echten Waffe in einer realen Umgebung macht, lässt ein emotionales Engagement diese Einsicht mitunter verschwimmen. Denn obwohl wir wissen, dass die Lizenz zum Töten sich auf die virtuelle Umgebung beschränkt, suggeriert das Gefühl – je nachdem wie hoch die Immersionstiefe der Simulation ist – dass es vielleicht doch keinen ganz so großen Unterschied macht, in welcher Umgebung die Gewaltphantasien ausgelebt werden. Die Diskussion jedenfalls wird seit Jahrzehnten ohne eindeutiges Ergebnis geführt. Auch die unumschränkte Herrschaft über ein virtuelles Reich aus Bits und Bytes mag uns in der realen Welt ein All-

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machtsgefühl geben und suggerieren, dass wir auch dort etwas weniger verantwortlich für unsere Handlungen sind. Der Mechanismus, der dafür verantwortlich ist, ist ein Erbe der Evolutionsgeschichte: Unser Gehirn gibt einfachen und schnellen Lösungen den Vorzug vor aufwendigen Erwägungen, weil früher die schnelle Reaktion oft lebensrettend war. Fehlurteile inklusive. Bereits im 18. Jahrhundert wies der Philosoph David Hume ausführlich auf das Phänomen hin und analysierte, wie der durch Gewohnheit verstärkte Reflex »noch vor jedem Nachdenken einsetzt« und durch Nachdenken oft »nicht einmal [dann] unterbunden werden kann«, wenn wir den Zusammenhang durchschauen.5 Die modernen Kognitionswissenschaften, die sich dem Phänomen mit Experimenten und Tomografen nähern, bestätigen knapp dreihundert Jahre später seine Hypothese. Doch auch ohne die Hirnforschung lässt sich das Phänomen im Alltag an vielen Stellen ausmachen. Beispiele dafür, wie schnelle Urteile uns täuschen können, wären (um im Kontext zu bleiben) etwa die Tatsache, dass die Erlebnisse in der offenen Welt eines Computerspiels offensichtlich imstande waren, den Lagerkoller eines Pandemie-Lockdowns für viele etwas erträglicher zu machen, nicht zuletzt, weil sie einen Aufenthalt im Freien emotional überzeugend simulieren. Oder die Tatsache, dass die Karriere in einem Online-Spiel den trüben Aussichten im realen Job mitunter die Spitze nehmen kann,6 dass die Gefühle und Phantasien aus dem Ego-Shooter die Grenzen der Spielwelt hinter sich lassen und die Hemmschwelle für ein Massaker in der realen Welt senken und eben auch, dass simulierte Freiheit das Gefühl stärkt, frei zu sein ohne Verantwortung zu tragen. Gefördert wird die Verwirrung auch dadurch, dass ein Teil der neuen Technik ausdrücklich darauf zielt, den Unterschied zwischen Original und Kopie, zwischen realer Welt und virtueller Nachbildung aufzuheben, beziehungsweise reale und virtuelle Elemente zu einer neuen Einheit zu verschmelzen. Bei der ›augmented reality‹, der technisch unterstützten Erweiterung der Realität, etwa geht es explizit darum, unsere Weltwahrnehmung bereits auf der Ebene der Wahrnehmungseindrücke zu verändern und auf diesem Weg zu augmentieren. Dafür werden die Daten gefiltert, aufbereitet und verändert, noch bevor sie unsere Sinne und unser Gehirn überhaupt erreichen. Je besser dies gelingt, desto überzeugender ist dann die alternative Weltsicht, die den Nutzern dieser Technik präsentiert wird.7 Und obwohl auch hier die technische Entwicklung erst am Anfang steht, ist bereits abzusehen, wie sie in Kürze dazu beitragen könnte, dass wir uns in eine »realweltliche

2.8 Virtuelle Freiheit: Ein Ersatz für die reale?

Filterblase« zurückziehen können, »aus der ein Entkommen immer schwerer wird«.8 Grenzverwischungen dieser Art, ob nun absichtsvoll herbeigeführt oder nicht, sind es jedenfalls, die es uns erleichtern, uns aus der Verantwortung für das eigene Handeln zurückzuziehen ohne auf unsere Freiheit verzichten zu müssen. Dass das Angebot gerne angenommen wird, zeigt sich im Alltag nicht zuletzt immer dann, wenn bei Interaktionen im virtuellen Raum jede zivilisatorische Beißhemmung abhanden kommt.

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2.9 Staatlicher Übergriff und Selbstermächtigung

Gegenspieler der Freiheit ist der Zwang. »Zwang liegt immer dann vor, wenn die Handlungen eines Menschen dem Willen eines anderen Menschen dienen, nicht seinem eigenen Ziel sondern dem des Anderen«.1 Wir hatten gesehen, dass kein gesellschaftliches Zusammenleben ohne Regeln und Ge- und Verbote auskommt und auch nicht ohne Zwang, wenn es darum geht, deren Einhaltung durchzusetzen. Die Freiheit als oberstes Prinzip gebietet es allerdings, die Menge der Vorschriften möglichst gering zu halten und unnötigen Zwang zu vermeiden. Wie dies im Detail zu erreichen ist, gehört zu den schwierigen Fragen. Auch deshalb, weil die Diskussionen darüber, welche Regeln unverzichtbar sind und wie viel Zwang notwendig ist, oft nicht weniger unübersichtlich sind als die Beziehung zwischen Realität und Simulation. Konkrete Fälle können uns aber auch hier helfen, etwas mehr Klarheit in der Sache zu gewinnen. Betrachten wir dazu beispielsweise das staatlich verordnete Rauchverbot. Seit auf breiter Front ins Bewusstsein gerückt ist, dass Rauchen weitaus schädlicher ist, als es die Tabakindustrie lange glauben machen wollte, versuchen viele Staaten, diese Gewohnheit bei ihren Bürgern durch rigide Regelungen einzudämmen. Sie nehmen dafür bewusst höhere Kosten in Kauf2 und verzichten auf Steuereinnahmen. Die Begründung der Regelungen stellt oft auf den Schutz von Nichtrauchern ab, was nach Mills Formel völlig unproblematisch ist, da hier ein erheblicher Schaden für andere entstehen kann. Überstrapaziert wird Mill allerdings in dem Augenblick, in dem die Berufung auf sein Prinzip rechtfertigen soll, Menschen vor sich selbst zu schützen. Deshalb hat in privaten Umgebungen, in denen sich erwachsene Menschen freiwillig begegnen, ein amtliches Rauchverbot definitiv nichts zu suchen.

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Dabei steht die Diskussion um ein Rauchverbot hier stellvertretend für viele andere Debatten. Denn tatsächlich begegnen wir der Überinterpretation des Mill’schen Kriteriums überall im öffentlichen Diskurs. Sie schlägt sie sich nicht zuletzt in der allgemeinen Annahme nieder, der Staat habe nicht nur die Aufgabe, den Rahmen für ein gesellschaftliches Miteinander in Freiheit zu sichern, sondern sei eigentlich ständig in der Pflicht, seine Bürger vor sich selbst zu schützen.3 Zu ihrem eigenen Besten und vor allem zur Wahrung ihrer Autonomie. Wer diese Haltung, die hinter der ausufernden Vermehrung von Verordnungen, Vorschriften, Gesetzen und verdeckter Manipulation (s. Abschnitt 1.9) steht und eben auch in den offenen Gesellschaften des Westens inzwischen weit verbreitet ist, als übergriffig empfindet, hat in diesem Fall Mill auf seiner Seite. Denn regulatorische Eingriffe an Stellen, an denen der Bürger sich möglicherweise gegen sein eigenes Wohl und seine Autonomie entscheiden könnte, sind von seiner Formel nicht nur nicht gedeckt, sondern laufen ihr klar zuwider. Sehen wir uns noch einen anderen Fall an. Am 1. Januar 1974 trat in Deutschland die »Einbaupflicht« von Sicherheitsgurten in Neufahrzeugen in Kraft. Zwei Jahre später schloss sich an diese Auflage für die Hersteller die (zunächst straflose) Anschnallpflicht für Insassen an (DDR: 1980). Ab 1984 wurden diejenigen, die sich ihr verweigerten, zunächst mit 40 DM zur Kasse gebeten; heute liegt schon die einfache Verwarnung höher, und die Strafe noch einmal deutlich darüber; sie wird zudem von einem Strafpunkt im Flensburger Register flankiert. Wer es etwas aktueller haben möchte, kann an dieser Stelle auch die Anweisung zum Einbau eines automatischen Notfallmelders einsetzen, der bei Neuzulassungen ab 2018 Pflicht ist.4 Beide Maßnahmen sind ohne Zweifel sinnvoll, denn sie verhindern schwere Verletzungen oder retten Leben. So hat sich die Zahl der Autounfälle mit Todesfolge, nicht zuletzt durch die Gurtpflicht, mehr als halbiert. Dennoch sind beide unvereinbar mit der Freiheit als oberstem Prinzip. Das heißt, es gibt keine Möglichkeit, sie aus dem Freiheitsgrundsatz zu rechtfertigen und den Bürger an dieser Stelle in die Pflicht zu nehmen, weil der mögliche Schaden für andere Menschen (etwa für Versicherungen, Rettungsdienste und Arbeitgeber) überschaubar ist. Diejenigen, die Gurt und Notfallmelder ablehnen, schaden damit in erster Linie sich selbst. Und auch die Hilfskonstruktion eines volkswirtschaftlichen Schadens, mit der die historische Debatte zur Gurtpflicht argumentierte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies eine Maßnahme zum Schutz des Bürgers vor sich selbst ist und

2.9 Staatlicher Übergriff und Selbstermächtigung

deshalb trotz ihrer guten Absicht auf der Grundlage der Freiheit nicht zu rechtfertigen. Schwierig wird die Argumentation in diesem Zusammenhang oft deshalb, weil es zwar viele ähnlich gelagerte Fälle gibt, aber eben auch solche, in denen die Ähnlichkeit nur oberflächlich ist. Zu letzteren gehört beispielsweise die Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht im Rahmen der Corona-Pandemie. Auf den ersten Blick stellt eine Pflicht zur Impfung einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Autonomie des Einzelnen nach dem Muster der beiden Beispiele dar. Sieht man genauer hin, gibt es aber einen entscheidenden Unterschied zur Gurtpflicht und dem zwangsverordneten Notfallmelder. Die Haltung in der Frage der Impfung hat erhebliche Folgen für andere. Wer die Impfung ablehnt, trägt in diesem Fall nicht nur wesentlich dazu bei, dass andere Menschen mit einer gefährlichen Krankheit infiziert werden, sondern leistet auch der Entstehung neuer Varianten des Erregers Vorschub und damit auch möglichen Engpässen bei der sonstigen medizinischen Versorgung. Zugleich liegt das Risiko einer Schädigung durch den Impfstoff um Größenordnungen unter den Risiken, die jeder Einzelne, etwa durch die Teilnahme am Straßenverkehr und am öffentlichen Leben, jeden Tag bereitwillig in Kauf nimmt. Das allgemeine Fazit hier also ist: Wer ohne genaue Prüfung der Sachlage auf Ge- und Verbote setzt, um seine Bürger vor sich selbst zu schützen oder ihnen zu ihrem Glück zu verhelfen, beeinträchtigt ihre Autonomie oft in unzulässiger Weise. Es kann sogar sein, dass er durch sein Eingreifen das Gegenteil des eigentlich Beabsichtigten bewirkt, wie Friedrich Hayek zu bedenken gibt, wenn er feststellt, es sei »wahrscheinlich, dass diejenigen, die fest entschlossen sind, das Böse durch Zwang auszurotten, [sogar] mehr Schaden und Leid verursacht haben, als diejenigen, die mit der Absicht antreten, Böses zu tun«.5 Hinzu kommt, dass selbst die wohlmeinendste Einmischung des Staates in die Autonomie seiner Bürger oft ein Eingeständnis des eigenen Versagens ist. Denn wer überzeugt ist, seine Bürger hätten ein Mündigkeitsdefizit und seien unfähig zu klugen und eigenständigen Entscheidungen, weist damit letztlich immer auch auf eigene Versäumnisse im Bildungsbereich und in der Risikokommunikation hin. Und schließlich ist auch der gesellschaftliche Preis ständiger staatlicher Einmischung hoch. Die Folgen der Betreuungspolitik der letzten Jahre sind kaum zu übersehen: ein schwindendes Vertrauen in staatliche Institutionen und nachlassender Respekt für diejenigen, deren Aufgabe es ist,

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für die Umsetzung und Einhaltung offizieller Vorgaben zu sorgen – egal ob Ordnungs- oder Verwaltungskräfte oder Träger eines politischen Mandats. Hinzu kommen abnehmende Hemmungen, die Regeln kreativ zum eigenen Vorteil auszulegen oder gleich ganz zu umgehen, sowie eine Vielzahl anderer Trotzreaktionen (die im Übrigen bereits vor den Protesten gegen die Maßnahmen im Rahmen der Corona-Pandemie deutlich zugenommen hatten). Und nicht selten wird dabei inzwischen gleich die Legitimität des gesamten Systems grundsätzlich in Frage gestellt.6 Eine weniger offensichtliche Folge des systemischen Paternalismus ist die allgemeine Schwächung der Resilienz der Gemeinschaft: »Ein Staat, der seine Menschen klein macht, damit sie folgsamere Werkzeuge in seinen Händen sind, und sei es für einen guten Zweck – wird feststellen, dass mit kleinen Menschen keine großen Dinge zu erreichen sind« notierte bereits Mill.7 Konkret schwächt die Dauerfürsorge das kollektive Immunsystem und verringert seine Fähigkeit, gegen die Absetzungsbewegung der Bürger an den radikalen Rand und die entsprechenden Begleiterscheinungen anzugehen. Die Wahlergebnisse der letzen Jahre, die vermehrte Hinwendung zu alternativen Fakten und alternativen Erklärungen und die allgemeine Zögerlichkeit im Angesicht von Krisensituationen sind hier Indikator und Warnung. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich kaum ermitteln lässt, wie groß der Beitrag der Betreuungspolitik und einer Politik der Verhaltenssteuerung a la Sunstein und Thaler zum Vertrauensverlust und den daraus folgenden Selbstermächtigungstendenzen tatsächlich ist. Unbestritten dürfte allerdings sein, dass besonders die Kommunikationsmängel beim Umgang mit der Corona-Pandemie den Versuch, durch eine eigenwillige Interpretation der Realität Kontrolle zurückzuerlangen, noch einmal deutlich gefördert haben.8 Dabei werden die Schwachstellen eines Systems sichtbar, das durch mangelnde Wartung und einen Betrieb im Dauerkrisenmodus ohnehin schon länger Risse zeigt. Verstärkend kommt in diesem Zusammenhang außerdem hinzu, dass Vorschriften und Regeln miteinander in Konflikt geraten. Dies ist unvermeidlich und es geschieht umso häufiger, je mehr Regeln es gibt. Die widersinnigen Ergebnisse, zu denen Regelkonflikte oft führen, verstärken den Unmut der Regierten. Und wenn ein pandemisches Großereignis diesen Umstand besonders sichtbar werden lässt, werden

2.9 Staatlicher Übergriff und Selbstermächtigung

selbst diejenigen unwillig, die sich mit der aktuellen Betreuungspolitik mehr oder weniger eingerichtet hatten. Auch wenn dies schon zu normalen Zeiten nicht immer leicht war. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an einige fragwürdige Highlights, wie die Nötigung zur Verwendung von Leuchtmitteln, die weder gut für die Umwelt noch für die Haushaltskasse waren,9 die verordnete Begrenzung der Leistungsaufnahme von Haushaltsgeräten (dito10 ), oder eine Kennzeichnung von übermäßig zucker-, fett- oder salzhaltigen Lebensmitteln, die sogar im Junk-Food-Regal die Ampel mehrheitlich auf grün (oder allenfalls auf gelb) stellt.11 Und, um hier wenigstens ein Beispiel für eine Unterlassung zu nennen, also für eine sinnvolle Regulierung, für die der Fürsorgeeifer dann doch nicht reichte, sei hier (stellvertretend) auf den unterbliebenen Schutz der Bürger und Krankenkassen vor unsinnigen, wirkungslosen und überteuerten Arzneimitteln hingewiesen.12 So viel zu den Absurditäten der Betreuungspolitik, mit denen es sich in den letzten Jahren irgendwie zu arrangieren galt. Doch zurück zum eigentlichen Thema des Abschnitts, dem Zusammenhang von staatlicher Betreuung und gesellschaftlicher und individueller Freiheit. Denn dass Regierungen, wie die gerade genannten Fälle illustrieren, mit ihren Interventionen trotz vielleicht guter Absichten allzu oft ihr Ziel verfehlen, ist schließlich nur die eine Seite. Nicht weniger wichtig ist auf der anderen, dass die Rundum-Betreuung die Autonomie der Bürger unterläuft. Dies gilt in besonderer Weise, wenn der staatliche Eingriff mit dem Schutz der Bürger vor sich selbst begründet wird.13 Denn eine solche Begründung verkehrt die Vorstellung des mündigen Bürgers, der selbstbestimmt die Weichen in seinem Leben stellt, in ihr Gegenteil, indem sie unterstellt, er sei von seiner Freiheit überfordert und auf breiter Linie unfähig, kluge eigene Entscheidungen zu treffen. Tatsächlich unterscheidet sich der Blick eines demokratischen Paternalismus, der mit immer neuen Gesetzen und unterschwelliger Manipulation in die Lebensführung seiner Bevölkerung eingreift an dieser Stelle kaum von der Einschätzung, mit der die Diktatoren aller Zeiten auf ihre Untertanen blicken. Wer meint, erwachsenden Menschen seien nicht in der Lage selbst zu entscheiden, ob sie ihr Heim mit giftigen Quecksilberlampen und gedrosselten Haushaltsgeräten oder anderen fragwürdigen Dingen zustellen möchten oder nicht, behandelt sie vom Ansatz her nicht anders. Dabei erzeugt die Abwendung vom Leitgedanken des mündigen Bürgers dann genau jene Unfähigkeit, die später zum Anlass

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weiterer Interventionen wird. Die Rundum-Betreuung setzt so eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in Gang – und fördert am Ende damit Wutbürger- und Sowjetmenschentum14 oder eben die verschwörungstheoretische Selbstermächtigung.

2.10 Smarter Totalitarismus

Wer noch nicht bereit ist, die Vorstellung der offenen Gesellschaft zu den Akten zu legen, hat, wie schon an mehreren Stellen deutlich wurde, im heraufziehenden Daten-Totalitarismus1 einen schwer zu fassenden Gegner, weil dieser auf das sichtbare Beiwerk der Gewaltherrschaft verzichtet. Keine Vernichtungslager, kein Gulag, keine Wochenschaubilder von im Gleichschritt marschierenden Kolonnen. Die Manifestationen und die Unterwerfungsrituale seiner jubelnden Massen finden vor Premium-Tempeln statt. Seine Imperatoren sind visionäre Firmengründer, keine überlebensgroßen politischen Führer oder unfehlbaren Erste Parteisekretäre. Die Protagonisten der Smarten Neuen Welt treten, wie an mehreren Stellen deutlich wurde, mit dem freundlichen Versprechen an, unser Leben bequemer, sicherer, einfacher und einfach irgendwie besser zu machen. Im Gegenzug für ihre Wohltaten verlangen sie von ihren Untertanen nur ein wenig Entgegenkommen bei der Mitteilung ihrer Vorlieben und Abneigungen, ihrer Sorgen und Wünsche. Wer sich auf dieses Angebot einlässt, wird mit maßgeschneiderten Angeboten in jeder Lebenslage belohnt, erhält Unterstützung bei Alltagsproblemen. Sichtbarer Vorteil: Er muss kaum noch eigene Entscheidungen treffen und braucht deshalb auch kaum noch Verantwortung zu übernehmen. Wer sich den Segnungen der Digitalisierung verweigert, den trifft allerdings schnell der gesenkte Daumen des Kollektivs. Treiber der Entwicklung sind ohne Frage die Großkonzerne der Datenwirtschaft und ihre willigen Helfer in der Politik. Doch anhaltenden Erfolg kann dieses Gesellschaftsmodell letztlich nur dann haben, wenn hinreichend viele Menschen davon überzeugt sind, es sei das Beste für sie, einen großen Teil ihrer Freiheit an Algorithmen abzugeben. Das heißt, jeder Einzelne entscheidet auch durch sein eigenes Verhalten darüber, ob oder in welcher Form die ›Smarte Diktatur‹ zu unserer neuen gesellschaftlichen Realität wird. Klar ist nur, dass gegenwärtig viele

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diesen Weg mitgehen und die »sozialen Verkehrsformen« auch in den offenen Gesellschaften des Westens deshalb bereits »erste Merkmale des Totalitären zeigen«.2 Die einzelnen Schritte auf diesem Weg sind klein und erscheinen für sich genommen vollkommen harmlos. Um so wichtiger ist es, das ganze Bild in den Blick zu nehmen. Deshalb an dieser Stelle noch einmal eine kurze Zusammenstellung der Stellen, an denen besondere Aufmerksamkeit geboten ist, wenn gesellschaftliche Freiheit und individuelle Autonomie nicht zur Verfügungsmasse von global agierenden Konzernen werden sollen. Erstens: totale Transparenz. Eine Welt, in der alles über alle bekannt ist, verengt die Spielräume nicht nur für den Einzelnen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Die Datenindustrie arbeitet derzeit mit großem Nachdruck an der Abschaffung der Privatsphäre. Ihr Motto: »Wenn es etwas gibt, von dem du nicht willst, dass es jemand erfährt, solltest du es vielleicht von vornherein nicht tun«.3 Die eigene Freiheit in solche Hände zu legen, ist mutig. Unterstützung erhält der Shareholder-Value-Traum der totalen Transparenz von Regierungen, die ihre Bürger und Bürgerinnen durch Gesetze und Vorschriften in eine Mittäterrolle bei ihrer eigenen Überwachung treiben. Dies geschieht durch die Verpflichtung auf ›smarte‹ Haustechnik, die detaillierte Rückschlüsse auf die Lebensgewohnheiten des Einzelnen zulässt und durch die automatisierte Überwachung des öffentlichen Raums.4 Es geschieht auch durch Vorhaben, die oft unter anderen Vorzeichen vorangetrieben werden, wie etwa bei der sukzessiven Abschaffung des Bargelds,5 beim Ausbau der vorausschauenden Polizeiarbeit,6 durch den Zwang zur elektronischen Übermittlung sensibler persönlicher Daten,7 oder durch die Digitalisierung im Bildungsbereich.8 Zweitens: die Rundumbetreuung des Bürgers. Wer versucht, das Wohlergehen der Bevölkerung vor allem durch die Vermehrung von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen sicherzustellen, untergräbt deren Fähigkeit, autonome Entscheidungen zu treffen. Zwar mag es auch für die betreuten Bürger zunächst durchaus bequem sein, wenn ein wohlwollender Staat ihnen Entscheidungen vorstrukturiert oder gleich ganz abnimmt, doch dadurch gehen eben immer auch Freiräume verloren, in denen sie ihre Urteilskraft schärfen können. Wer selten die Gelegenheit hat, eigene Entscheidungen von größerer Tragweite zu treffen, ist schnell überfordert, wenn dies doch einmal nötig ist. Und er ist auch eher bereit, die Entlastungsangebote der Datenindustrie

2.10 Smarter Totalitarismus

anzunehmen. Auf jeden Fall gilt hier, dass die regulatorische Einhegung des Bürgers und seine weiträumige Verhaltenssteuerung dadurch nicht besser werden, dass sie unter demokratischen Vorzeichen geschehen. Dass die Tendenz zur regulatorischen Betreuung sich auch in modernen Arbeitsumgebungen immer mehr durchsetzt, stimmt ebenfalls nachdenklich. Drittens: Die Abwendung vom Leitgedanken des eigenverantwortlichen und mündigen Bürgers im Bildungsbereich hat erhebliche Langzeitwirkung. Wer ökonomische Optimierungsgedanken über die Erziehung zur Selbstständigkeit stellt, bereitet seine Absolventen kaum darauf vor, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen und klug mit neuen Entwicklungen und Möglichkeiten umzugehen. Eine Qualitätssicherung im Bildungswesen, die dazu führt, dass die Wissensvermittlung hinter die Dokumentation der Wissensvermittlung zurücktritt, sowie die ständige Aufforderung zur Einwerbung von Firmengeldern zur Finanzierung von Forschung und Lehre, drängt das Ziel, die nachwachsende Generation zur Autonomie zu erziehen, weiter in den Hintergrund.

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2.11 Die Macht der Mehrheit

Vor allem diese drei Entwicklungen fördern und beschleunigen derzeit die Abwendung von der Freiheit als organisierendem Prinzip der Gesellschaft und bereiten den Boden für die Entstehung totalitärer Strukturen. Flankiert werden sie dabei von zwei in ihrer Wirkung auf den ersten Blick gegenläufigen Tendenzen, der Überinterpretation und undifferenzierten Anwendung des Mehrheitsprinzips und der Meinungsbildung in der Echokammer. Die Überzeugung, die Mehrheit sollte in jedem Fall das letzte Wort haben, führt besonders dort auf die abschüssige Bahn, wo sie kollektive Egoismen stärkt. Wer etwa meint, die aktuelle Mehrheit dürfe über den Umgang mit den Ressourcen des Planeten entscheiden, muss ausblenden, dass viele von denen, die mit den Folgen ihrer Entscheidungen werden leben müssen, noch nicht einmal geboren sind. Und dass die Entscheidungen, die die Mehrheit heute trifft, letztlich zu einem erheblichen Freiheitsverlust und zukünftigen Totalitarismen führen werden.1 In diesem Zusammenhang gilt tatsächlich, dass »diejenigen, die meinen, dass Demokratie immer kompetent sei, egal um was es geht, und die unterstützen, was auch immer die [aktuelle] Mehrheit gerade wünscht, an ihrem Niedergang arbeiten«.2 Die Echokammer, andererseits, ist bereits der Anwendungsfall eines fehl- oder überinterpretierten Mehrheitsprinzips. Hier sind von vornherein nur Meinungen ›richtig‹, wenn sie auf der Linie der im entsprechenden Meinungsbiotop vertretenen Mehrheitsmeinung liegen. Mit der Weigerung, die Dinge vom Standpunkt des Gegenübers aus zu betrachten, geht offensichtlich die Fähigkeit zum Kompromiss verloren. Und die unversöhnliche Berufung auf eine Wahrheit, die von der Mehrheit einer spezifischen Echokammer geteilt wird, verhindert gemeinsame Lösungen. Wer sich auf diesem Weg der Einsicht entzieht, dass ein Zusammenleben Zugeständnisse und Abstriche verlangt, arbeitet ebenfalls totalitären Verhältnissen zu. Wenn wichtige Systemfragen

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nicht im Dialog ausgehandelt werden können, weil sich verschiedene ›absolute‹ Wahrheiten, die jeweils die Mehrheit einer Gruppe hinter sich haben, unversöhnlich gegenüberstehen, so entscheidet am Ende der Zufall oder diejenigen, die ihre Vorstellungen mit Gewalt durchsetzen. Die Mechanik der kollektiven Selbstbestätigung greift dabei auf jeder Ebene. So zum Beispiel auch dann, wenn wir uns (als Bürger eines wirtschaftlich starken Landes) ständig gegenseitig in der Überzeugung bestärken, der Zugriff auf die Ressourcen des Planeten sei das Recht derjenigen, die dafür bezahlen, oder die Verwerfungen, die unser Lebensstil in weniger wohlhabenden Regionen verursacht, gingen uns nichts an – oder seien durch Spenden und Almosen zu beheben.

2.12 Ökonomie

Der bereits erwähnte Anthropologe David Graeber stellt in seiner umfangreichen Bestandsaufnahme zur modernen Arbeitswelt fest, »gelebte Freiheit« bestehe nicht zuletzt darin, dass der Einzelne »frei von Hindernissen« entscheiden kann, wie er durch seine Arbeit »am besten zum Wohl der Menschheit beitragen« kann.1 Das ist offensichtlich weit entfernt vom gegenwärtigen Ist-Zustand. In der Arbeitswelt gilt der Mensch seit einiger Zeit ausdrücklich als Rohstoff (human resource), den es effizient zu verwerten gilt. Paradoxerweise führt gerade der Fokus auf die Effizienz zu einer enormen Steigerung des unproduktiven Leerlaufs, wie Graeber anhand zahlreicher Beispiele vorführt. Denn das Effizienzdogma fördert nicht nur die Entstehung überflüssiger und sinnloser Tätigkeiten, sondern es macht Menschen unzufrieden und krank – und schon dadurch weniger ›effizient‹. Für die Freiheitsdiskussion wichtig ist: Weil die meisten sich der ›Verwertung‹ ihrer Arbeitskraft nicht verweigern können, leidet ihre Autonomie an dieser Stelle erheblich. Graebers Bestimmung ist offensichtlich eine Variante der Hobbesschen Formel von der Autonomie als Möglichkeit des Menschen, »seine Kraft so zu nutzen, wie seine Urteilskraft und sein Verstand es ihm gebieten«. Eine Arbeitswelt, die dies über das notwendige Maß hinaus verhindert, deren Organisation und deren Institutionen die individuelle Autonomie unnötig einschränken, lohnt ebenfalls einen zweiten Blick. Der Kern des Problems liegt hier in der Annahme, der Mensch lebe für die Wirtschaft – obwohl das Gegenteil richtig ist. Nur wer an das Primat der Wirtschaft glaubt, kann Menschen im Ernst als Ressource betrachten. Da diese Ansicht dennoch in weiten Teilen unserer Arbeitswelt inzwischen zum theoretischen Grundbestand gehört, überrascht es auch kaum, mit welcher Leichtigkeit es der ›social network‹-Industrie in den letzten Jahren gelungen ist, so gut wie alle sozialen Beziehungen mit ei-

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nen Preisschild zu versehen und sie als Produkte handelbar zu machen.2 Zur Erinnerung: Vor bald 250 Jahren hatte der Königsberger Philosoph Immanuel Kant bereits mit Nachdruck, in der sogenannten ›Zweckformel‹ des Kategorischen Imperativs, darauf hingewiesen, dass derjenige erheblich in die Autonomie seiner Mitmenschen eingreift, der sie als Mittel zur Erreichung seiner eigenen Zwecke betrachtet.3 Anschauungsmaterial für eine Denkweise, die andere Menschen nicht nur im Einzelfall sondern auch in großem Stil als Mittel betrachtet, gibt es reichlich. Börsenakteure, die, im Nachgang der SubprimeKrise von 2007/8 ihre Mitmenschen bis heute dazu zwingen, enorme finanzielle Anstrengungen zu unternehmen, um das globale Finanzsystem zu stabilisieren (wovon dann nicht selten die ursprünglichen Profiteure ein weiteres Mal profitieren);4 eine globale Wirtschaftsordnung, die nur einer Minderheit Vorteile bringt und Nachteile bei all jenen in Kauf nimmt, die als günstige Ressource am falschen Ende der Wertschöpfungskette stehen. Und eine kollektive Lebensweise, die hervorragende Voraussetzungen für weitere Verwerfungen im globalen Maßstab schafft – etwa ein gefährliches Virus, das sich unter diesen Bedingungen hervorragend verbreiten kann – und ein weiteres Mal diejenigen besonders mit den Folgen belastet, die von vornherein nicht auf der Gewinnerseite stehen.

2.13 Einfache Sprache

Ein weiteres Element, das in der Praxis eine unterschätzte Rolle spielt, ist die Sprache. Als der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein Anfang des letzten Jahrhunderts notierte: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«,1 brachte er damit eine auch in unserem Zusammenhang wichtige Einsicht auf eine griffige Formel. Sie fand schon wenig später breitenwirksam Eingang in die Literatur. Georg Orwell beschreibt in seinem Klassiker 1984, wie ein totalitäres Regime versucht, jede aufrührerische Bestrebung dadurch im Kern zu ersticken, dass die Untertanen den Protest in der von der Partei radikal reduzierten Sprache nicht einmal mehr denken können, weil es unmöglich geworden ist, komplizierte und gegen die bestehende Ordnung gerichtete Gedanken überhaupt zu formulieren. Die von Wittgensteins Diktum (und den totalitären Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) inspirierte Strategie, die Orwell hier fiktional ausbreitet, veranschaulicht den für uns wichtigen Gedanken. Voraussetzung dafür, sich frei und kompetent entscheiden zu können, ist, dass wir in der Lage sind, die Situation und unsere Wahlmöglichkeiten angemessen einzuschätzen. Und die Voraussetzung dafür wiederum ist, dass wir die relevanten Zusammenhänge und Gedanken entsprechend formulieren können. Ist dies schwierig oder unmöglich, sind unsere Entscheidungen und Reaktionen defizitär und wir bleiben weit unter unseren Möglichkeiten. Das Sprachdesign der Werbung setzt auf diese Mechanik ebenso wie die Propaganda von Diktatoren und Autokraten, oder das Framing in Demokratien. All diese Strategien versuchen, durch die Wahl bestimmter Begriffe und Formulierungen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit gezielt zu verändern. Doch ebenso wie hochgezuckerte Nahrungsmittel nicht dadurch gesünder werden, dass sie als Vitaminbonbons deklariert werden, sterben in Kriegen natürlich nicht dadurch

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Praxis

weniger Menschen, dass ein Propagandaministerium sie sprachlich als ›humanitäre Interventionen‹, ›Friedensmissionen‹ oder ›Sondereinsätze‹ umverpackt. Gleiches gilt für den Massenmord, der als ›Säuberung‹ oder ›Endlösung‹ daherkommt. Wir mögen uns hier inzwischen auf viele Dinge eingestellt haben, von der als ›Politikberatung‹ verkleideten Lobbyarbeit, über die als ›Fortbildung‹ getarnte Werbeveranstaltung, sowie ›Reformen‹ und ›Eliteförderung‹, die eigentlich Sparmaßnahmen sind, bis hin zu den ›sozialen Netzwerken‹, die asozialem Verhalten den roten Teppich ausrollen. Doch um diese bekannten Versuche, unsere Wahrnehmung zu beeinflussen und dadurch unsere Autonomie zu unterlaufen, soll es an dieser Stelle nicht gehen, da sie mehr oder weniger offensichtlich sind. Stattdessen geht der Blick auf eine Sprachverkürzung, die, jedenfalls dem ersten Anschein nach, von den besten Absichten getragen wird: die sogenannte Leichte oder Einfache Sprache. Unter diesen Überschriften steht nämlich das Vorhaben, durch rigorose Vereinfachung von Satzkonstruktionen, Begriffen und allgemeinem Ausdruck die Autonomie derjenigen zu fördern, die Schwierigkeiten mit komplizierten Texten haben.2 Ob dieses Vorgehen allerdings wirklich das Mittel der Wahl sein sollte, um ein Mehr an Freiheit herzustellen und Menschen eine bessere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, ist zweifelhaft. Denn einerseits ist die Vereinfachung der Sprache, wie wir gesehen haben, unter dem Gesichtspunkt der Autonomie an sich schon fragwürdig. Andererseits setzt das Vorhaben bei den Symptomen an und nicht bei Ursachen. Nicht zuletzt deshalb liegt der Verdacht nahe, dass die Einfache oder Leichte Sprache wohl eher eine etatschonende Maßnahme sein dürfte, um frühere Versäumnisse bei der Bildung öffentlichkeitswirksam einzufangen. Eine in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik lautet denn auch wenig überraschend, die Übersetzung von Texten in Leichte oder Einfache Sprache sei propagandistischer Aktionismus und der gesamte Ansatz herablassend und entwürdigend.3 In unserer Perspektive erweitert sich diese Kritik um die Feststellung, dass es wirksamere Mittel zur Förderung der Autonomie gibt. Beispielsweise ein deutlich stärkeres und frühzeitigeres Engagement bei der Bildung. Leichte und Einfache Sprache mögen im Trend liegen in einer Zeit, in der auch kommerzielle Kommunikationsplattformen erheblichen Aufwand betreiben, um ihre Nutzer vor allen (komplizierten) Gedanken zu bewahren, die sie unter Umständen ›beunruhigen‹ oder verstören könnten, doch letztlich gilt auch hier: Wer Sprache manipuliert und Inhalte verkürzt, untergräbt Autonomie.4

2.14 Unbegrenzte Möglichkeiten

Ebenfalls in diesen Kontext schließlich gehört auch noch ein anderer Ansatz der Komplexitätsreduktion. Anstatt den Umweg über die Sprache zu gehen, setzt er direkt bei den Wahlmöglichkeiten selbst an, und verringert diese von vornherein. Zur Begründung berufen sich seine Verfechter gern auf das sogenannte Auswahl-Paradox. Dessen Kerngedanke ist, dass bei einer (zu) großen Zahl von Wahlmöglichkeiten Menschen eher ganz auf eine Entscheidung verzichten, als sich möglicherweise falsch zu entscheiden. Um solchen Personen zu helfen, so der paternalistische Schluss, muss eine Vorauswahl für sie getroffen werden. Auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen. Das Auswahl-Paradox (engl.: Choice Overload) geht auf eine Hypothese zurück, die mit einer Feld- und Laborstudie erhärtet beziehungsweise widerlegt werden sollte. Diese Studie präsentierten die Wirtschaftspsychologin Sheena Iyengar und der Psychologe Mark Lepper in einem Aufsatz im Jahr 2000 der Öffentlichkeit. Ihr Fazit: Zu viele Wahlmöglichkeiten überfordern die Menschen.1 Konkret beschreiben sie, wie ihre Probanden reagierten, wenn sie mit verschieden großen Auswahlmengen konfrontiert wurden und stellten anhand ihrer Daten fest, dass ein statistisch signifikanter Zusammenhang besteht zwischen der Größe der Menge (in der ursprünglichen Versuchsanordnung waren es sechs Wahlmöglichkeiten gegenüber 24 und 30) und der Zufriedenheit der Teilnehmer mit ihrer Entscheidung. Aus den Rückmeldungen schlossen sie, »dass Menschen die Wahl zwischen zu vielen Möglichkeiten durchaus als zugleich erfreulich und überfordernd empfinden können«.2 Einerseits nähmen die Probanden die größere Auswahlmenge zwar durchaus positiv wahr, eben weil sie ihnen mehr Möglichkeiten bietet, andererseits aber wachse das Gefühl für die eigene Verantwortung in Abhängigkeit von der Zahl der Optionen. Was im Ergebnis eben zu Unmut »mit dem Auswahlprozess und zur Unzufriedenheit mit dem

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Praxis

Ergebnis« führte.3 Die Autoren brachten ihren Befund schließlich auf die allgemeine Formel: »unbegrenzte Möglichkeiten können Menschen unzufriedener mit ihren Entscheidungen machen.«4 Und stießen damit eine rege Diskussion an. Dabei half es wenig, dass sie selbst deutlich auf den engen Geltungsbereich ihrer Forschung hinwiesen;5 Iyengar und Lepper konnten nicht verhindern, dass ihre Studie zur Vorlage für eine Reihe von publikumsgängigen Verallgemeinerungen wurde. Ihr Fachkollege Barry Schwartz etwa meinte, unter der Überschrift ›Die Tyrannei der Freiheit‹,6 aus der Studie ableiten zu können, dass es »eine dunkle Seite« der grenzenlosen Freiheit gebe und die »Betonung der Individuen als Erschaffer ihrer eigenen Welten, ihrer eigenen Schicksale« ins Unglück führe. Und zwar, weil der Zwang zur Freiheit »die Menschen unentschieden hinsichtlich dessen zurücklasse, was sie tun sollten und warum«. Bei ihm lautete das erweiterte (und durch die Studie eben in keiner Weise gedeckte) Fazit nun, dass man »Individuen keinen Gefallen damit tut, ihnen grenzenlose Wahlfreiheit zu lassen«.7 Kurz: Uneingeschränkte Freiheit untergrabe ihr Wohlergehen. Ob der Zusammenhang zwischen der Menge der Möglichkeiten und der Unzufriedenheit mit der eigenen Wahl auch abseits von Konsumentscheidungen im Supermarkt gilt (dies war die Basis der Studie von Iyengar und Lepper), also etwa für die Wahl eines Ausbildungsgangs, eines Berufs oder eines Partners, wie Schwartz behauptet, ist indes zweifelhaft. Tatsächlich legen Folgeuntersuchungen eher Zurückhaltung schon bei der Übertragung des Ergebnisses auf andere Konsumentscheidungen nahe.8 Für die Freiheitsdiskussion sind solche Details zweitrangig. Denn hier kommt es vor allem darauf an, dass selbst wenn wir hin und wieder von der Menge der Möglichkeiten überwältigt und vielleicht auch überfordert sein sollten, dies allein auf keinen Fall rechtfertigen kann, die Wahl erwachsener Menschen mutwillig einzuschränken, oder ihre Entscheidungen im Sinn von Thaler und Sunstein vorzustrukturieren. Wer dies dennoch tut, beschneidet ihre Freiheit in unzulässiger Weise.

2.15 Die Freiheit der Andersdenkenden

»Unwissenheit ist Stärke«.1 Wer bei totalitärer Unterdrückung nur in orwellschen Bahnen denkt – Sprachmanipulation, Propaganda, Gehirnwäsche, offene Gewalt – übersieht, dass bereits unser eigenes Gehirn entsprechende Vorarbeit leistet. Stellvertretend für eine Vielzahl anderer Mechanismen, mit denen es dies tut, sei an dieser Stelle deshalb wenigstens eine der einschlägigen Strategien vorgestellt: der Bestätigungsfehler (engl.: confirmation bias).2 Er entspringt dem Bestreben unseres Denkorgans, Energie zu sparen: Haben wir uns einmal eine Meinung zu einem Thema gebildet, ist der Fall damit erledigt. Das Gehirn schützt sich vor erneuter Arbeit mit der ebenso einfachen wie wirkungsvollen Strategie, nur noch solche Wahrnehmungen und Erinnerungen auf die bewusste Ebene vorzulassen, die eine einmal geformte Meinung bestätigen. Gegenläufige Beobachtungen und alles, was erneutes Nachdenken erfordern würde, wird von vornherein blockiert und aussortiert. Es liegt auf der Hand, dass gerade Experten besonders anfällig für den Bestätigungsfehler sind, denn schließlich haben sie viel Arbeit in ihre Modelle gesteckt. Weshalb es ihnen dann eben auch besonders schwer fällt, darüber nachzudenken, ob sie mit ihren Meinungen und Annahmen grundsätzlich auf dem richtigen Weg sind. Menschen, die sich ihre Meinung zu einem Thema eher im Vorbeigehen gebildet haben, sind hier im Vorteil. Oder anders: Wer seinen Hammer eigenhändig und mit besonderer Sorgfalt geschmiedet hat, sieht mehr Nägel als derjenige, der ein Werkzeug von der Stange benutzt. Wer sich diesen Zusammenhang bewusst macht, versteht besser, wie aus einfachen Behauptungen schnell Glaubensgewissheiten werden können, die der Freiheit dann das Leben schwer machen. Dies gilt besonders im sozialen Bereich.3 Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sich hier, anderes als in den Naturwissenschaften, kaum echte Experi-

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mente durchführen lassen, deren Ergebnisse ein erneutes Nachdenken erzwingen und die dabei helfen könnten, kognitive Verzerrungen zu korrigieren. Für uns ist dabei wichtig, dass es abweichende Meinungen umso schwerer haben, je größer der Nachdruck ist, mit dem die vermeintlichen Gewissheiten vertreten werden; Gewissheiten, über deren Wahrheitsgehalt oder Gültigkeit vor allem die Glaubenskraft und die Zahl ihrer Anhänger entscheidet. Werden solche Gewissheiten erst einmal von einer Mehrheit geteilt, wird sogar derjenige verdächtig, der auf den Bestätigungsfehler und andere Mechanismen für kognitive Verzerrung hinweist und die unvoreingenommene Überprüfung anmahnt; tut er dies, vor allem bei konkreten Fällen, laut und ausdauernd genug, wird er vom Querulanten schnell zum Spinner, Verräter oder Ketzer. Die Ergebnisse einer Wahrheitsfindung, die die Überzeugungskraft ihrer Behauptungen aus dem Glaubenseifer ihrer Fangemeinde zieht, sind im Alltag gut zu beobachten. Das Phänomen begegnet uns an vielen Stellen; nicht nur in den Verschwörungsbiotopen des Netzes, sondern auch in der allgemeinen öffentlichen Diskussion. Beispiel Umweltschutz. Hier nimmt es etwa die Form der festen Überzeugung an, dass ein Verbot von Plastiktrinkhalmen den Planeten rettet (und ein Verbot von überdimensionierten PKW im Stadtverkehr dabei offensichtlich nicht hilft), oder dass es sinnvoll ist, eigens dafür angebaute Nutzpflanzen zu Kraftstoffen zu verarbeiten und dies aus den Mitteln der Allgemeinheit zu fördern. Weitere Fälle sind die unerschütterliche Gewissheit, dass der Umstieg auf den batteriegetriebenen Individualverkehr den Klimawandel stoppt, oder der feste Glaube an die segensreiche Kraft der deutschen Mülltrennung.4 Alles Gewissheiten, die keiner erneuten Überprüfung bedürfen und oft mit großem Eifer vertreten werden. Jenseits der Umweltdogmen treffen wir auf Glaubenssätze wie den von der Möglichkeit des unendlichen Wachstums bei endlichen Ressourcen, oder die Gewissheit, dass es bei der globalen ›Arbeitsteilung‹ am Ende doch irgendwie fair zugeht, besonders dann, wenn man bei seinem eigenen Einkauf stets darauf achtet, dass nur Produkte mit einem entsprechenden Aufdruck den Weg in den Korb finden. Wer einmal eine entsprechende Meinung gefasst hat, bei dem arbeitet der Bestätigungsfehler beharrlich gegen das erneute Nachdenken. Wirkverstärkend ist dabei nicht zuletzt der Verdacht, dass die Überprüfung der eigenen Meinung es am Ende nötig machen könnte, auch das eigene Verhalten erheblich zu ändern.

2.15 Die Freiheit der Andersdenkenden

Dennoch, auch wenn Glaubensgewissheiten einen Diskurs beherrschen, so ist dies keine Entschuldigung dafür, auf die argumentative Auseinandersetzung zu verzichten. In leichter Abwandlung einer Formulierung Mills: Wer die Auseinandersetzung »aufschiebt, bis das Leben fast gänzlich gleichgeschaltet ist« muss sich nicht wundern, wenn über kurz oder lang »jede Abweichung als ketzerisch, unmoralisch oder sogar als monströs und gegen die Natur betrachtet wird«.5 Oder anders: Je umfassender eine Gemeinschaft sich von unumstößlichen Gewissheiten leiten lässt, desto kleiner wird der Raum für die abweichende Meinung, für die Autonomie des Einzelnen – und am Ende dann auch für die Freiheit der Gemeinschaft insgesamt. Und desto weiträumiger wird das Leben irgendwann von Sachzwängen, Alternativlosigkeiten und unüberwindlichen gedanklichen Mauern begrenzt.

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2.16 Covid19: Comeback des Kollektivismus

Der kollektivistische Blick auf die Gesellschaft, der sich nach dem Mauerfall erledigt zu haben schien, hat Wiedergängerqualitäten. Fast genau eine Generation nach der Implosion des kollektivistischen Ostblocks sorgte die erste globale Gesundheitskrise des neuen Jahrtausends für die Wiederbelebung entsprechender Gedankenmuster. In der Covid–Pandemie ging es von Anfang an nicht nur um die Unterstützung eines Gesundheitswesens, das in den letzen Jahrzehnten ›durchoptimiert‹ wurde – und heute offensichtlich weiter denn je davon entfernt ist, optimal aufgestellt zu sein. Die Begründung, mit der die Gemeinschaft nun wieder gefragt war, lautete jedenfalls, dass durch die Aussetzung bürgerlicher Freiheiten verhindert werde, dass das System unter einer Überlast in die Knie geht. Der Appell, durch den individuellen Freiheitsverzicht ein System zu stabilisieren, dem neo-liberale1 Vorgaben und gesetzliche Fehlsteuerungen seine Reserven genommen haben, empfanden viele offenbar nicht als so abwegig, dass nicht ein schwacher Impuls aus dem Ideen-Defibrillator ausreichte, um dem Kollektivismus argumentativ wieder auf die Beine zu helfen. Die Gegenwehr gegen die weiträumige Aussetzung bürgerlicher Freiheiten jedenfalls war zunächst überschaubar. Tatsächlich gab es sogar oft Beifall für die verordneten Freiheitsbeschränkungen – und das nicht nur in Weltgegenden, wo die Zustimmung zur offiziellen Politik gern mit dem Hinweis auf andernfalls anstehende Nachschulungen und andere Unannehmlichkeiten dringend nahegelegt wird, sondern eben auch in den offenen Gesellschaften des Westens.2 Trotz seiner oberflächlichen Ähnlichkeit lässt der Corona-Kollektivismus an einigen Stellen allerdings das Standardmodell hinter sich. Betrachten wir deshalb kurz die Argumentation. In der ursprünglichen Version verspricht der Kollektivismus dem Einzelnen einen (verzinsten) Freiheits-Ausgleich für einen aktuellen Verzicht, einen langfristigen

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Praxis

Nutzen. Einen Nutzen stellte zwar auch die kollektivistische Argumentation in der Viruskrise in Aussicht. Doch dieser unterscheidet sich an zwei entscheidenden Stellen von dem Nutzen der Standardversion. Erstens ist es nicht der Einzelne selbst, der am Ende die Dividende seines Verzichts einfährt, sondern es sind seine Mitmenschen; und hier besonders diejenigen unter ihnen, die einer sogenannten Risikogruppe angehören. Das heißt, wo das Standardmodell des Kollektivismus an das (langfristige) Eigeninteresse des Einzelnen appelliert, fordert der Corona-Kollektivismus zum Altruismus auf, zum Einsatz für andere. Zweitens verspricht die Corona-Argumentation die ›Erstattung‹ in anderer Währung. Sie stellt keinen Zuwachs an (individueller) Freiheit in Aussicht, sondern eben die Rettung von Menschenleben. Einen Ausgleich in gleicher Münze dagegen gibt es hier allenfalls auf Umwegen, nämlich als eine in Aussicht gestellte Rückkehr zum Status Quo. Dies ist zwar etwas näher an der Gedankenführung des Standardmodells, weil es auf das Eigeninteresse des Einzelnen abstellt, dennoch weicht auch hier die Argumentation offensichtlich von der klassischen Linie ab. Denn schließlich ist die Wiederherstellung der bisherigen Verhältnisse kein wirklicher Vorteil, sondern tatsächlich nur die Rücknahme eines Nachteils. Nur wer der festen Überzeugung ist, dass die verordneten Einschränkungen von Dauer sein werden, erkennt in dem Versprechen von der Wiederherstellung der alten Verhältnisse einen echten Gewinn. Auch blendet diese Begründung der Freiheitsbeschränkungen die Frage aus, ob eine Wiederherstellung des Status Quo wirklich so wünschenswert ist, denn schließlich wartet dieser schon seit einiger Zeit auf seine Generalüberholung. Der Wunsch nach der Rückkehr zu einem Modell des immerwährenden Wachstums, erscheint in dieser Perspektive voreilig. Ein Teil der Corona-Proteste, die mit einiger Verzögerung einsetzten und sich dann nicht nur beharrlich hielten, sondern periodisch eskalierten, mag sich deshalb vielleicht tatsächlich auch daraus erklären, dass eine Rechtfertigung für den kollektiven Freiheitsverzicht, die auf die Rückkehr zur alten Normalität abstellt, von vielen wenigstens unterschwellig als wenig überzeugend empfunden wurde. Und schließlich: Auch wenn die Argumentation für den (temporären) Freiheitsverzicht in der Pandemie in mehreren Punkten vom Standardmodell abweicht, erledigen sich die oben, genannten Gründe für das Misstrauen gegen den kollektivistischen Ansatz dadurch selbstverständlich nicht (s. Abschnitt 1.2). Der entscheidende Einwand lautete dort, dass es für die Autonomie des Einzelnen schnell ungemütlich

2.16 Covid19: Comeback des Kollektivismus

werden kann, wenn diese sich allein oder überwiegend im Verhältnis zu den Bedürfnissen der Gemeinschaft bestimmt. Im konkreten Fall liegt der Verdacht nahe, dass wenigstens einige der obrigkeitlichen Durchgriffsmöglichkeiten, die im Windschatten des Krisenmanagements erweitert wurden, von Dauer sein könnten. Historische Beispiele dafür, wie in Krisenzeiten gewährte Vollmachten ein Eigenleben weit über ihren ursprünglichen Anlass hinaus führten, gibt es schließlich genug.

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2.17 Fazit

Bleibt die Frage, wie sich Freiheit und Autonomie erhalten und stärken lassen. Wir haben gesehen, warum geänderte Rahmenbedingungen die Anpassung zentraler Überlegungen aus der Entstehungszeit unseres modernen Freiheitsverständnisses erfordern. Die Verengung privater Räume, politischer Paternalismus, eine Kultur der Vermeidung von Risiko und Verantwortung, begleitet von einer abnehmenden Gelassenheit im gesellschaftlichen Diskurs, arbeiten derzeit gemeinsam gegen ein Zusammenleben in Freiheit und erschweren dem Einzelnen ein selbstbestimmtes Leben. Nicht nur an der Seitenlinie dieser Entwicklungen steht eine Datenindustrie, die zwischenmenschliche Beziehungen zügig ökonomisiert und dabei ist, soziale Verhältnisse nach ihren totalitären Vorstellungen umzuformen. Wer nicht bereit ist, die Regie im eigenen Leben abzugeben, braucht daher vor allem Aufmerksamkeit und Urteilskraft. Bei den vielfältigen Angeboten, das Leben dadurch leichter zu machen, dass man Entscheidungen und Verantwortung in fremde Hände legt, gilt es jeweils genau zu prüfen, welche mittel- und langfristigen Folgen dies für die eigene Autonomie und Freiheit der Gesellschaft haben könnte. Eine grundsätzliche Anfälligkeit für das Versprechen, unser Leben zu erleichtern – egal ob es von einer fürsorglichen Politik, ›smarten‹ Alltagshelfern oder einer Qualitätssicherung am Arbeitsplatz ausgeht – mag in unserer Natur liegen, doch ein unbedachter Tausch von Bequemlichkeit gegen Freiheit befreit uns eben nicht nur von unserer Verantwortung, sondern ebnet der Heteronomie (Fremdbestimmung) das Gelände. Daher führt hier kein Weg daran vorbei, sich im Einzelfall bewusst zu machen, wann wir wichtige Entscheidungen ohne Not in fremde Hände legen und auf welche Angebote zur Erleichterung des Alltags wir uns einlassen können, ohne dass unsere Freiheit nachhaltig Schaden nimmt. Manche dieser Angebote erfordern nicht nur einen (kollektiven) Verzicht, son-

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dern die rechtzeitige und aktive Gegenwehr jedes Einzelnen – weil sie die allgemeinen Voraussetzungen unserer Freiheit untergraben. Es mag bedauerlich sein, dass es hier keine allgemeinen Antworten und Anweisungen gibt. Dennoch, wer seine Aufmerksamkeit für dieses Thema und seine Urteilkraft schärft, ist in der Lage, den aktuellen Entwicklungen souverän zu begegnen und angemessene eigene Entscheidungen zu treffen. Dabei hilft ihm das Verständnis der systematischen Zusammenhänge auf verschiedene Weise. Erstens: Das Wissen um die Voraussetzungen von Freiheit, Autonomie und Verantwortung und um deren Wechselwirkungen kann vor gedanklichen Abwegen bewahren. Wobei drei Dinge hier besonders wichtig sind. Wer sich mit der eigenen und der allgemeinen Freiheit im gesellschaftlichen Zusammenleben beschäftigt, darf dabei die Frage der Willensfreiheit getrost ausblenden. Dies hilft, weil das Problem der Willensfreiheit schon seit den frühen Tagen der schriftlichen Überlieferung gedanklichen Nebel verbreitet und leicht in uferlose Grübelei führt. Außerdem ist es an vielen Stellen nützlich, zwischen der Freiheit einzelner Handlungen und der Freiheit eines Lebensentwurfs (Autonomie) zu unterschieden. Die begriffliche Aufteilung lässt uns unter anderem nachvollziehen, warum Regeln und Gesetzte die gesellschaftliche Freiheit erhöhen können, obwohl sie prima facie doch einschränkenden Charakter haben. Und schließlich ist es sinnvoll, Vernunft und Autonomie nicht allzu eng miteinander zu verzahnen. Die enge Verbindung mag aufgrund unserer Geistesgeschichte naheliegen, sie führt aber zu einem wenig überzeugenden Verständnis der Autonomie. Dies gilt besonders dann, wenn Vernunft dabei zugleich auf ihre instrumentellen Aspekte verkürzt wird – ein Verständnis, das (jenseits der Fachphilosophie) heute oft die Diskussion dominiert. Autonomie ist mehr als die Erfüllungsgehilfin der besten Lösung. Wer Vernunft dennoch weiter als diejenige Fähigkeit verstehen möchte, die stets den effizientesten und besten Weg ermittelt, sollte deshalb wenigstens in Gedanken behalten, dass schon die Vorstellung der besten Lösung selbst (in der Erfahrungswelt und jenseits axiomatischer Zusammenhänge), kaum sinnvoll ist. Ebenso, dass wenigstens Zweifel daran angebracht sind, ob das Effiziente Leben wirklich ein Gutes oder Gelungenes Leben sein kann. Zweitens: Die gedankliche Auseinandersetzung mit der Freiheit schärft den Blick dafür, dass nicht nur physische Bedingungen, Mauern, Gewalt und Gefängnisse darüber entscheiden, wie frei es in einer

2.17 Fazit

Gesellschaft zugeht, sondern auch Sprache, Diskussionskultur und Sozialisation. Medial verstärkte rhetorische Übergriffigkeit und (ideologisch motivierte) Versuche der Sprachnormierung verstoßen gegen ein wesentliches Merkmal der Freiheit: ihre Symmetrie. Wer Freiheit für seine Weltsicht beansprucht, ist nur dann ernst zu nehmen, wenn er seinen Mitmenschen, ihren Meinungen und ihrer Ausdrucksweise dieselbe Freiheit einräumt. Wer dagegen Ideologismen, Hass und diskursiven Zwang an die Stelle von Argumenten setzt, arbeitet an der Abschaffung der Freiheit.1 Hier ist es nicht empfehlenswert, von der Seitenlinie aus zuzusehen, wenn derartige Umgangsformen sich durchsetzen und den Alltag prägen. Drittens gilt es, auch ein anderes Element unserer gegenwärtigen Kommunikationskultur im Blick zu behalten: das Sachzwang-Argument; denn es schränkt die (kollektive) Handlungsfreiheit willkürlich ein. Dies gilt besonders, wenn in der politischen Diskussion Standpunkte und Entscheidungen mit dem Verweis auf eine fehlende Alternative durchgesetzt werden sollen. Alternativlos sind bei einer solchen Rhetorik letztlich nur zwei Dinge: erhöhte Wachsamkeit und rigoroses Nachhaken. Damit sich nicht im Nachhinein herausstellt, dass die vermeintlichen Zwänge völlig aus der Luft gegriffen waren. Viertens lenkt die Analyse den Blick darauf, dass es unverzichtbar für ein Zusammenleben in Freiheit ist, sich zu bemühen, abweichende Standpunkte ernsthaft in den Blick zu nehmen. Auch wenn die Voraussetzungen dafür, die eigenen Ansichten in hermetischen Meinungsbiotopen zu bekräftigen, derzeit besonders gut sein mögen, so gilt Dasselbe glücklicherweise auch für die möglichen Gegenmaßnahmen. Nie war es derart einfach, Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen zu beziehen und dadurch die eigenen offensichtlichen Gewissheiten gelegentlich auf den Prüfstand zu stellen. Und nie zuvor gab es derart zuverlässige Erkenntnisse zu den blinden Flecken unserer Wahrnehmung und unseres Denkens, zu den Bestätigungsmechanismen und den Vermeidungsstrategien, mit denen unser Gehirn sich die Urteilsbildung leicht macht. Fünftens weist uns der Blick in die Philosophie- und Geistesgeschichte mit Nachdruck darauf hin, dass im Kern unserer modernen Freiheitsvorstellung die Trennung des Öffentlichen vom Privaten steht. Die Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte unseres aktuellen Blicks auf die Freiheit kann uns deshalb daran erinnern, der Einebnung dieser Differenz mit einem gesunden Misstrauen zu begegnen und sie

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nicht ohne Not zu fördern. Denn der Tausch private Daten gegen (vermeintlichen) Komfort lässt unsere Entscheidungen und unser Verhalten zum ›Rohstoff‹ einer Industrie werden, den diese auf dem »Futures-Markt der Verhaltensvorhersage« monetarisiert und zu einer besinnungslosen Disruption tradierter Strategien der gesellschaftlichen Organisation nutzt,2 die über kurz oder lang der Freiheit ihr Fundament entzieht. Wem mit dieser Einsicht im Rücken Zweifel kommen, ob es klug ist, ein Viertel seiner Lebenszeit darauf zu verwenden, der Datenindustrie über seine mobilen Endgeräte ihren Rohstoff zuzuliefern, kann dadurch nur gewinnen. Uns schließlich, sechstens, sollten wir stets im Blick behalten, dass die andere Seite der Freiheit die Verantwortung ist. Wer sie ständig an ›smarte‹ Algorithmen oder eine fürsorgliche Politik delegiert, untergräbt deshalb seine Autonomie. Verantwortung zu übernehmen mag anstrengend sein, auch deshalb, weil Risiken und Fehler dann auf eigene Rechnung gehen; wer sein Leben weiterhin selbstbestimmt gestalten möchte, kommt aber nicht daran vorbei. Und sollte besonders bei Entlastungsversprechen genau hinsehen. Denn eine konsequente Vermeidung von Verantwortung führt am Ende zu einem sozialen Determinismus, zur ewigen Wiederholung des Gleichen, zur Verengung der eigenen Möglichkeiten und zur Unfähigkeit, sich auf Veränderungen einzulassen. Die Freiheit des Einen endet dort, wo ihre Ausübung (erheblich) in die Freiheit des Anderen eingreift. Diese Formel ist heute noch genauso richtig, wie vor mehr als 150 Jahren, als der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill sie formulierte. Geändert haben sich die Rahmenbedingungen und ihr Umfeld. Deshalb ist es heute deutlich schwieriger geworden diese Formel anzuwenden. In einer Welt, in der fast jede Lebensäußerung unter dem Vorbehalt der globalen Veröffentlichung steht, und in einer Welt, in der auch viele demokratische Regierungen ihre Bürger nach Kräften betreuen und wenig Vorbehalte gegen einen libertären Paternalismus haben, wird die Beschäftigung mit den Voraussetzungen der Freiheit, mit dem Begriff und der Sache selbst, deshalb umso wichtiger. Wer darauf verzichtet, die eigene Urteilskraft im Hinblick auf das Thema zu schärfen, findet im konkreten Fall oft keine tragfähigen Antworten mehr und wird anfälliger dafür, diesem Umstand mit der (verschwörungstheoretischen) Vereinfachung seiner Weltsicht zu begegnen. Die Tatsache, dass Mills Kriterium oft missbräuchlich herangezogen wird, um politische oder gesellschaftliche

2.17 Fazit

Ansprüche im Namen der Freiheit zu rechtfertigen oder durchzusetzen, macht die Angelegenheit dabei nicht eben leichter. Sei es, dass die Berufung auf die Freiheit hier dabei helfen soll, staatliche Überwachungsmaßnahmen auszuweiten, ›smarte‹ Datentechnik zu verkaufen oder eine identitätspolitische Agenda abzusichern.3 Doch, wie gesagt, informierte Aufmerksamkeit und ein vertieftes Verständnis der Zusammenhänge können die eigene Navigation erheblich verbessern.

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3. Anhänge

Anhang 1 – Willensfreiheit

Die Frage, ob unser Wille ›frei‹ ist, gehört zu den ältesten Fragen der Philosophie. Bis heute gibt es keine befriedigende Antwort. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass bei dieser Frage bereits metaphysische Hintergedanken im Spiel sind.1 Denn oft wollen wir eigentlich wissen, ob unser Wille durch eine naturgesetzliche Kausalität vollständig bestimmt ist oder nicht. Wir wollen wissen, ob es uns möglich gewesen wäre, in einer bestimmten Situation anders zu entscheiden, oder ob wir uns dies nur einbilden. Anders formuliert: Ob ein Beobachter, der von außen auf unsere Welt blickt und den Ausgangszustand (unseres Gehirns und der Welt) vollständig erfassen kann, in der Lage wäre, den weiteren Verlauf mit absoluter Gewissheit vorher zu sagen – eben weil dieser nach dem Grundsatz von Ursache und Wirkung unausweichlich ist – oder nicht. Stellen wir die Frage so, ist sie mit unseren Mitteln nicht zu beantworten und führt in ein Dilemma. Sie ist deshalb nicht zu beantworten, weil es uns offensichtlich unmöglich ist, einen Standpunkt außerhalb unseres Erkenntnishorizonts einzunehmen. Wir können nicht feststellen, ob wir in einer Welt leben, in der das Prinzip von Ursache und Wirkung durchgängig und das heißt: auch für unseren Willen und die Vorgänge in unserem Gehirn gilt, oder eben nicht. Eine Antwort ist allenfalls innerhalb unseres Erkenntnishorizonts möglich. So legen unsere derzeit besten physikalischen Modelle etwa nahe, dass wenigstens im Quantenbereich das Kausalitätsprinzip zeitweilig suspendiert ist. Das hilft bei der Lösung des Problems der Willensfreiheit allerdings nicht weiter. Denn egal, wie es sich mit der kausalen Bestimmtheit unserer Welt verhält, die Frage kann dem erwähnten Dilemma nicht ausweichen. Es ist das Dilemma von Zufall und Zuschreibung. Entweder müssen wir ein zufälliges Ereignis (der Wille soll ja ausdrücklich kein Teil des kausalen Naturverlaufs sein) zum Ergebnis eines Willensaktes erklären – was widersinnig ist. Oder es lässt sich nicht verstehen, wie

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Anhänge

ein Ereignis auf den Willen einer Person zurückgehen soll, wenn das, was geschieht, gerade nicht kausal aus bestimmten Anfangsbedingungen folgt. Veranschaulichen lässt sich die Schwierigkeit vielleicht mit einem Ergebnis beim Würfeln. Einen Würfel zur Hand zu nehmen, lässt sich unschwer als Folge eines Willensaktes interpretieren, für die Augenzahl auf dem Tisch dagegen gilt dies nicht. Denn der Vorsatz, eine bestimmte Punktezahl zu würfeln, hat keinen Einfluss auf das tatsächliche Ergebnis. Wollen wir dieser Schwierigkeit durch die Behauptung entgehen, dass wir auch das konkrete Ergebnis zur Folge eines Willensaktes erklären, denn schließlich hängt es kausal von dem Entschluss ab, einen Würfel zur Hand zu nehmen, stehen wir wieder am Anfang der Überlegung. Und unterstellen dabei stillschweigend, dass die Entscheidung, eine bestimmte Augenzahl zu werfen, genau dieses Ergebnis herbeiführt hat (was, sofern es sich nicht um einen gezinkten Würfel handelt, bei dem die Augenzahl bereits vor dem Wurf feststeht) absurd ist. In diesem Fall verliert die Vorstellung, wir hätten eine andere Augenzahl werfen können, ebenso ihre Bedeutung wie im Fall des kausal determinierten Willens die Behauptung ihre Bedeutung verliert, wir hätten uns anders entscheiden können. Solange sich die Auseinandersetzung um die Willensfreiheit auf die (metaphysische) Frage der kausalen Geschlossenheit unserer Welt konzentriert und sich zwischen der Annahme bewegt, der Wille sei entweder kausal bestimmt und deshalb unfrei, und der Annahme, er sei unverursacht und deshalb frei, kommen wir also offensichtlich nicht weiter.2 Bleiben wir in diesem Umfeld, trifft deshalb das Urteil des Logischen Positivismus zu, dessen Vertreter bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts feststellten, es handle sich bei der Frage nach der Willensfreiheit um eine sinnlose Frage, mit der eine weitere Beschäftigung nicht lohnt.3 Dafür, es nicht dabei bewenden zu lassen, gibt es dennoch einen guten Grund. Denn trotz der verfahrenen metaphysischen Lage rücken wir selten von der Überzeugung ab, dass wir uns in einer bedeutungsvollen Weise ›frei‹ entscheiden können und Kontrolle über unser Verhalten haben; wir fühlen uns verantwortlich für unsere Entscheidungen und ihre Ergebnisse, wir loben und tadeln, belohnen oder bestrafen unsere Mitmenschen, weil wir der Überzeugung sind, dass auch sie eine entsprechende Kontrolle über ihr Verhalten haben, wir empfinden Schuld für eigene Versäumnisse und sind stolz auf das, was wir (nicht zuletzt durch unsere Willensstärke) erreicht haben. Kurz, die Willensfreiheit liegt im Zentrum unseres Selbstverständnisses. Deshalb müssen wir versuchen, das

Anhang 1 – Willensfreiheit

Dilemma von kausalem Zwang und blindem Zufall, von Fremdbestimmung und Zuschreibung, wenigstens zu entschärfen. Wenn wir die verschiedenen Diskussionsebenen voneinander trennen, verschiebt sich die Frage. Da Metaphysik in dieser Frage nicht weiterhilft, kann ein für uns sinnvoller Umgang mit dem Thema nur in dem Bereich liegen, der unserer Erkenntnis zugänglich ist, in der Welt der Erfahrung. Die Frage lautet dann, wie wir hier – ohne metaphysische Vermutungen – in einem gehaltvollen Sinn von einer freien Entscheidung sprechen können. Eine mögliche Strategie ist es, sich dabei auf unsere Meinungen zu konzentrieren. Und sich bewusst zu machen, dass sich unsere ›normalen‹ Meinungen in der Regel ändern, wenn sich die äußeren Gegebenheiten ändern, dies in der Frage der kausalen Geschlossenheit oder Offenheit aber gerade nicht gilt. Es gibt schlicht keine für uns erkennbaren Änderungen im Weltzustand, die eine entsprechende Meinungsänderung veranlassen könnten. Deshalb dürfen wir in dieser Frage letztlich annehmen, was wir auch immer wir wollen; wir dürfen mit dem gleichen Recht der Meinung sein, unsere Welt sei kausal geschlossen wie auch der Meinung, sie sei es nicht. Da die Annahme der ›Willensfreiheit‹ (egal wie sie dann im Detail ausformuliert wird) ein zentraler Bestandteil unseres Selbstverständnisses ist, ist es mit dieser Einsicht im Rücken offensichtlich sinnvoller anzunehmen, wir könnten uns grundsätzlich zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden, als zu glauben, wir könnten dies nicht. Und zwar deshalb, weil ein großer Teil des Vokabulars, mit dem wir uns selbst beschreiben, sonst unverständlich ist. Von ›Handlung‹, ›Verantwortung‹, ›Bestrafung‹ und dergleichen zu sprechen hat keine Bedeutung, wenn wir meinen, wir hätten nicht anders entscheiden und handeln können. Bereits im 18. Jahrhundert brachte Immanuel Kant diesen Gedanken auf die Formel, dass, wer nicht anders als »unter der Idee der Freiheit handeln« könne, in diesem Sinn »wirklich frei« sei.4 Die Frage nach der Freiheit unseres Willens wird so zu einer Frage nach unserer Haltung in dieser Frage. Dadurch treten Gründe gegenüber (Kausal-)Ursachen in den Vordergrund. Der Unterschied zwischen beiden: Gründe können wir gewichten, Ursachen nicht. Indem wir bestimmten Gründen einen stärkeren, einen weniger starken oder auch gar keinen Einfluss auf unsere Entscheidungen zugestehen, leiten sie unsere Handlungen. Das kausale Gefüge der Welt mag den Rahmen vorgeben, innerhalb dessen unsere Entscheidungen und unsere Handlungen möglich sind, es mag unseren Optionen einschränken, doch unsere

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Gründe bestimmen die positive Seite. Indem sie unsere aktive Auseinandersetzung mit unserer Umgebung bestimmen, lassen sie bloßes Verhalten zu bewusstem Handeln werden. Wenn wir fragen, warum jemand so und nicht anders gehandelt hat, erwarten wir deshalb auch stets, die Gründe für seine Entscheidung zu hören, und nicht etwa eine Auflistung von Ursachen. So kann ein Grund für die Anreise mit der Bahn beispielsweise die allgemeine Präferenz einer Person für dieses Verkehrsmittel sein, oder ihr Wunsch, sich nicht mit starken Kopfschmerzen ans Steuer zu setzen. Die Ursache, dass der Wagen in der Werkstatt ist, wird dagegen für den überzeugten Autofahrer nur dann zum (entscheidenden) Grund für seine aktuelle Wahl der Bahn, wenn ihm der Aufwand für einen Leihwagen oder die Verschiebung des Termins zu groß ist.5 Das heißt, der Verweis auf Ursachen erläutert den Rahmen unserer Handlungen (eine Anreise mit dem Auto wäre unter keinen Umständen möglich gewesen) aber nur Gründe erklären einzelne Handlungen. Nur sie machen Willensentscheidungen nachvollziehbar.

Anhang 2 – Neo/Liberalismus

Liberale Positionen haben derzeit keine gute Presse. Wesentlich dafür verantwortlich ist die Gleichsetzung des Liberalismus mit dem Neo-Liberalismus. Dabei sind es allein die Lehrsätze des Neo-Liberalismus, deren Anwendung in den letzten Jahrzehnten in vielen Gesellschaften für erhebliche Verwerfungen sorgte. Und auch wenn die Ähnlichkeit der Begriffe dies nahelegt, so hat der Liberalismus mit dem Neo-Liberalismus nicht mehr zu tun als Birnen mit Glühbirnen. Wer dem Liberalismus die Verfehlungen seines begrifflichen Verwandten anlastet, verhält sich deshalb wie jemand, der versucht, die Birne aus der Obstabteilung in eine E14 Fassung zu schrauben. Sehen wir uns die Sache genauer an. Liberalismus ist ein Sammelbegriff für Positionen der Politischen Philosophie. Sein Leitgedanke ist die Freiheit des Individuums und seine Wurzeln liegen in der Zeit der Aufklärung. Die ursprüngliche Formulierung seiner Grundgedanken ist eng mit Namen wie Thomas Hobbes, John Locke und David Hume verbunden. Alle liberalen Positionen teilen, trotz einiger Unterschiede in den Details, die Forderung, die Freiheit des Einzelnen durch eine verbindliche Rechtsordnung vor staatlicher Willkür und Übergriffen zu schützen. Dass diese Forderung des klassischen Liberalismus heute erweitert werden muss, haben wir mehrfach gesehen. Organisierte Willkür und Übergriffe kommen inzwischen auch von anderer Seite. Weitere Gemeinsamkeiten liberaler Positionen sind die Betonung der Eigenverantwortung, die Ablehnung eines Kollektivismus und die Forderung nach weltanschaulicher und religiöser Toleranz. Der Liberalismus trägt der Einsicht Rechnung, dass Menschen verschiedenen und manchmal sogar miteinander nicht zu vereinbarenden Vorstellung des Guten anhängen und dennoch zum gegenseitigen Vorteil und in Frieden in einer Gesellschaft zusammenleben können. Jenseits der Garantie für die Sicherheit und Ordnung des Zusammenlebens und jenseits der Durchsetzung der entsprechenden

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(rechtlichen) Rahmenbedingungen, so die Forderung des Liberalismus, sollten Staat und Gesellschaft allerdings große Zurückhaltung beim Eingriff in die Lebensverhältnisse des Einzelnen an den Tag legen. Die Überschrift Neo-Liberalismus steht dagegen über Theorien, die sich in erster Linie mit der Organisation der Wirtschaft beschäftigen. Der Ursprung des Begriffs liegt in der Weltwirtschaftskrise von 1929–1932. Sie war der Anlass dafür, nach neuen Wirtschaftsmodellen zu suchen, weil die vorherrschenden ökonomischen Ideologien der Zeit, also die (kommunistische) Planwirtschaft und die (kapitalistische) Marktwirtschaft, als Hauptschuldige für die damaligen Verwerfungen gesehen wurden. Unter dem Arbeitstitel Neo-Liberalismus bündelte sich die Suche nach diesem neuen Ansatz, so dass sich in seiner Entstehungszeit noch eine Reihe recht verschiedener Theorien unter diesem Dach versammeln. Ihnen waren vor allem zwei Dinge gemeinsam. Sie alle suchten nach einem ›dritten Weg‹, und sie alle gingen davon aus, dass an einigen Stellen Eingriffe in den Markt nötig seien – ohne allerdings damit gleich einer ausgewachsenen Planwirtschaft das Wort reden zu wollen. Wichtige Schlagworte der Diskussion waren hier ›innerbetriebliche Mitbestimmung‹, ›sozialer Wohnungsbau‹ und ›Sozialversicherung‹. Hinzu kam oft noch die Überzeugung, es sei Aufgabe der Politik, die Ausschläge von Konjunkturzyklen durch staatliche Eingriffe zu dämpfen. Dass uns die genannten Begriffe und das Rahmenprogramm bekannt vorkommen, liegt daran, dass diese im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise formulierten Vorstellungen Eingang fanden in das Programm der Sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit. Zu einem negativ besetzten politischen Kampfbegriff wurde der Neo-Liberalismus erst geraume Zeit später. Der Bedeutungswandel setzte in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein. Heute steht der Neo-Liberalismus in der Regel für die Forderung, sämtliche Bereiche des Lebens zu ökonomisieren und sie umfassend der Logik der (Finanz-)Märkte zu unterwerfen. So konnte der Shareholder-Value zum Kürzel für den neo-liberalen Ansatz werden. Seine aktuellen Markenzeichen sind die reflexhafte Forderung nach Deregulierung und nach einer radikalen Rückführung der Staatsquote. Anders ausgedrückt: Trotz seiner vielversprechenden Anfänge haben der Begriff und die mit ihm verbundene Diskussion eine Richtung eingeschlagen, die sie heute in enge Verbindung zum Effizienzdogma bringen und sie damit wenigstens indirekt auch zu Mitverantwortlichen für die Ausbreitung extremistischer und antidemokratischer Meinungsbiotope machen,

Anhang 2 – Neo/Liberalismus

weil sie der Ökonomisierung sozialer Beziehungen (nicht nur in den ›social networks‹ des Internets) erheblichen Vorschub leisten. Das neo-liberale Denken, als leitendes Prinzip des wirtschaftlichen und politischen Handelns, verschärft offensichtlich viele gesellschaftliche Probleme und führt in der Folge zur Selbstentmündigung staatlicher Politik. Schließlich müssen Regierungen, die sich den Leitgedanken des Neo-Liberalismus verschrieben haben, sich ständig mit den Folgen dieses Ansatzes auseinandersetzen; unter ihnen hohe Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und wachsende soziale Ungleichheit. Denn diese Probleme sind die zuverlässigen Begleiterscheinungen von neo-liberaler Privatisierung und Deregulierung. Das herausragende Merkmal des Regierens unter neo-liberalen Vorzeichen ist die Dauerkrise.1 Geht es dem Liberalismus um individuelle Freiheit, Mündigkeit und Eigenverantwortung, so steht der Neo-Liberalismus in seiner aktuellen Fassung also für das genaue Gegenteil. Er ist ein Projekt der Gegenaufklärung und führt am Ende zur (Selbst-) Entmündigung des Einzelnen und der Gesellschaft. Dabei liegt eine gewisse Ironie darin, dass es ausgerechnet einem Ansatz, der die radikale Freiheit des Marktes auf seine Fahnen schreibt, wohl gelingen wird, diesen Markt wirkungsvoller zu zerstören, als es sämtlichen regulatorischen Wirtschaftsideologien bisher je gelungen ist.

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4. Quellen und Anmerkungen

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Anmerkungen

Vorbemerkung 1

2

Über den aktuellen Beziehungsstatus führen die Geräte gewissenhaft Buch, einzusehen in der Rubrik Einstellungen/Digitales Wohlbefinden. Dabei tragen die jüngeren Jahrgänge etwas mehr zu dieser Zahl bei als die älteren. In der Gruppe der Sechzehn- bis Achtzehnjährigen etwa tritt die digitale Welt mit insgesamt über 70 Stunden Online-Zeit wöchentlich (davon Handy: Mädchen 49.7, Jungen 38.1 Stunden) an die Stelle analoger Beziehungen, mit einer deutlichen Steigerung gegenüber der Zeit vor der Pandemie (2019: 58 Stunden pro Woche), Postbank Jugend-Digitalstudie 2021. Diese Diagnose ist nicht neu. Klagen über die Unschärfe des Begriffs finden wir etwa schon bei Montesquieu in seiner 1748 erstmals erschienenen Schrift De l’esprit des lois: »Es gibt wohl kein Wort, dem man mehr unterschiedliche Bedeutungen gegeben hat als dem Wort Freiheit.« Montesquieu, 1748 § 11.2 (S. 213). Und auch zwei Jahrhunderte später hat sich an der Klage nichts geändert, wenngleich die Feststellung etwas wortreicher ist: »Der Ausdruck ›Freiheit‹ [freedom/liberty] hat wie kein anderer seine Konturen verloren. Er wurde missbraucht und seine Bedeutung so lange verzerrt, dass sich sagen lässt, dass der Ausdruck Freiheit nichts bedeutet, solange ihm nicht ein bestimmter Inhalt gegeben wird; und mit etwas Bearbeitung wird er jeden Inhalt annehmen, den man sich wünscht.« Becker, 1941 S. 4. Die totalitäre Vereinnahmung des Begriffs im letzten Jahrhundert – erinnert sei hier nur an den zynischen Verweis auf die Freiheit über dem Eingang zum Vernichtungslager – stützt die Diagnose.

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Quellen und Anmerkungen

Die Übersetzungen aus Werken, die im Literaturverzeichnis mit ihrem fremdsprachigen Titel verzeichnet sind, sind meine, hier wie auch im Folgenden.

Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen… 1

2

3

Mill, 1859 S. 72 (meine Hervorhebung). Gute sechzig Jahre früher formulierte Immanuel Kant bereits ganz ähnlich, wenngleich etwas wortreicher: »Die Freiheit als Mensch, deren Princip für die Constitution eines gemeinen Wesens ich in der Formel ausdrücke: Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d.i. diesem Rechte des Andern) nicht Abbruch thut« Kant, 1793 S. 290. Der Naturzustand ist ein Topos der neuzeitlichen Diskussion, wenn es um Fragen des Zusammenlebens, oder die Begründung von Gesetzen und Herrschaft geht. Thomas Hobbes, der Begründer der politischen Philosophie der Neuzeit, konstruiert ihn als einen ganz und gar gesetzlosen Zustand, in dem ein Kampf aller gegen alle stattfindet. Sein Landsmann John Locke hingegen entwirft ihn als einen vorgesellschaftlichen Zustand, in dem bereits Regeln (der Vernunft) gelten. Er notiert in seiner zweiten Abhandlung über die Regierung: »Der Naturzustand steht unter einem Gesetz der Natur, das jeden bindet: und Vernunft, die dieses Gesetz ist, lehrt die ganze Menschheit, sofern sie nur auf die Vernunft hört, dass alle gleich sind und unabhängig, dass keiner einem anderen Schaden an dessen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Besitz zufügen soll«, Locke, 1690b § 2.2.6. (S. 271). Wir können allenfalls unter dieser Voraussetzung versuchen, unsere Freiräume zu erweitern. – Die gesamte Geschichte der menschlichen Zivilisation und des wissenschaftlichen Fortschritts lässt sich in dieser Perspektive tatsächlich als Versuch verstehen, die Regeln der Natur zu unseren Gunsten zu ›verbiegen‹.

Anmerkungen

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Die Annahme, dass eine gesunde Lebensführung die Solidargemeinschaft in jedem Fall entlastet, ist kontrovers. Es ist unklar, ob nicht sogar das Gegenteil der Fall ist. Eine gesunde Lebensführung, regelmäßige Vorsorge, risikovermeidendes Verhalten, etc. sorgen schließlich dafür, dass die Lebenserwartung steigt und damit auch die Kosten für die Versicherung. Wer ungesund oder riskant lebt, entlastet das System unter Umständen durch sein frühes Ableben. Hier eine Beitragsanpassung für die Krankenversicherung mit der Freiheit der übrigen Versicherten zu begründen ist also problematisch.

Individuum und Kollektiv 1 2

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S. dazu Constant, 1819 S. 380f. Der Claim: »Erst siegen, dann reisen!« etwa illustriert, wie der kollektivistische Ansatz der Nationalsozialisten das Individuum durch das Versprechen zukünftiger Vorteile und zukünftiger Freiheit mit seiner eher entbehrungsreichen Lage vor dem Endsieg zu versöhnen versuchte. Mill, 1859 S. 62. Zu der abseitigen Weltwahrnehmung, die dies nach sich zieht, s. Hepfer, 2015 bes. Abschnitt 2.4 (S. 113ff.). Hinzu kommt, dass das menschliche Gehirn wie geschaffen ist für die Meinungsbildung in der Echokammer. Es ist ständig auf der Suche nach Bestätigung seiner einmal gefassten Meinungen und unternimmt einiges, um Widersprüche auszublenden: »wir neigen dazu unsere Vernunft nicht für die Suche nach der Wahrheit zu benutzen, sondern dazu, Gründe dafür [zu finden], das zu glauben, was wir glauben wollen.« Schmidtz/Brennan, 2010 S. 217, s. dazu auch die dort angegebene Literatur. Mehr zum Thema in Abschnitt 2.15. Wie die Personalisierung von Information die Freiheit des Individuums auf subtile Weise untergräbt, indem sie seinen Entscheidungen die informierte Grundlage entzieht, beschreibt Eli Pariser in seinem Bestseller The Filter Bubble – What the Internet is Hiding from You bereits vor über zehn Jahren, s. Pariser, 2011. Die besondere Ironie besteht darin, dass dieselben Akteure, die uns mit dem Versprechen der totalen Transparenz den weltweiten Zugriff auf alle nur erdenklichen Daten ermöglichen wollen, die Mechanismen der Aus-

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Quellen und Anmerkungen

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wahl und Aufbereitung der Daten zum Betriebsgeheimnis erklären und in ihrem Handeln selbst weitgehend intransparent bleiben. So etwa in der Formulierung des Bildungsziels allgemeinbildender Schulen. Dort heißt es bis heute: »Schülerinnen und Schüler sollen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden, die verantwortungsvoll, selbstkritisch und konstruktiv ihr berufliches und privates Leben gestalten und am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.« Bildungsstandards, 2004 S. 6f. Bentham 1787. Benthams Ansatz wird bis heute immer wieder aufgegriffen, prominent vor einiger Zeit von dem französischen Philosophen und Poststrukturalisten Michel Foucault (1926–1984; s. Foucault 1992) und drängt sich als Veranschaulichung auf, wenn es um Überwachung geht. In der Psychologie begegnet der Zusammenhang heute oft als Hawthorne-Effekt, benannt nach Studien zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA durchgeführt wurden. Allgemeine Kernaussage der (aufgrund ihrer methodischen Mängel umstrittenen) Studien: Menschen ändern ihr Verhalten, sobald sie wissen, dass sie unter Beobachtung stehen. Bentham 1987, Letter 1: Idea of the Inspection Principle. »Du hast keine Privatsphäre. Komm drüber weg.« Diese Äußerung von Scott McNealy, Gründer und ehemaliger CEO des Datenbankgiganten Sun Microsystems (inzwischen von der Oracle Corporation übernommenen), hatte vor kurzem ihren zwanzigjährigen Jahrestag (dazu Sprenger, 1999), und bringt die Grundüberzeugung, nach der viele der social networks derzeit organisiert sind, plakativ auf den Punkt.

Die Abwesenheit äußerer Hindernisse 1

Anders formuliert: Die Frage, wie sich die Willensfreiheit für einen Beobachter darstellt, der in der Lage wäre, unsere Welt von außen zu betrachten (und nicht nur als Gedankenexperiment, das unseren Erkenntnishorizont nicht verlässt), ist für uns unentscheidbar. Wir können in diesem Zusammenhang nur Vermutungen anstellen. Weder für die Behauptung, wir besäßen einen freien Willen, noch für die gegenteilige Behauptung gibt es einen Beleg. – Viele

Anmerkungen

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Denker hat dies allerdings nicht daran gehindert, eindeutig Stellung zu beziehen. Unter ihnen ist auch der große schottische Philosoph David Hume (1711–1776), der mit Nachdruck die Auffassung vertrat, der Mensch besäße keinen freien Willen (Hume, 1739/40 § 2.3.2.2). Eine ähnliche Auskunft erhalten wir zurzeit auch aus den Neurowissenschaften. Mehr dazu, wie erwähnt, in Anhang 1. Der Ursprung des neuen Blicks auf den Menschen lässt sich vielleicht sogar noch etwas früher verorten. Erste Ansätze für die Veränderung der Sichtweise finden sich bei entsprechender Interpretation schon bei dem Renaissancegelehrten Pico della Mirandola (1463–1494), s. Pauen/Welzer, 2015 S. 78. Hobbes, 1651 § 14 (S. 91). Hobbes, 1651 § 21 (S. 145). Hobbes Definition erzeugt bis heute ein lautes Echo. So notiert etwa Harald Welzer vor einigen Jahren in einem Text über den Angriff auf unsere Freiheit durch den Aufmarsch der ›smarten‹ neuen Technik ganz selbstverständlich: »Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang«, Welzer, 2016 S. 107; s. dazu auch Rawls, 1971 S. 240; und Schmidtz/Brennan, 2010 S. 74. – Auch wenn Hobbes eine traditionelle Bestimmung aufgreift, die Freiheit als die »ungehinderte Erfüllung [der] wahren Natur« des Menschen bestimmt (Berlin, 2013 S. 252), so ist er tatsächlich der Erste, der diese Bestimmung einer systematischen Untersuchung des menschlichen Zusammenlebens und seiner Institutionen zugrunde legt. S. z. B. Locke, 1690b § 2.4 (S. 269); § 2.22 (S. 283). Zum Naturzustand s. Anm. 2 zu Abschnitt 1.1 (›Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen‹). S. Hayek, 1960 S. 60. Der Gedanke, dass die eigentlich wichtige Freiheit in diesem Zusammenhang darin besteht, Einfluss auf die entsprechende Kodifizierung der gesellschaftlichen Regeln nehmen zu können, liegt vielleicht nahe. Doch eine solche Bestimmung greift zu kurz, nicht zuletzt, weil es historische Beispiele gibt, bei denen diese Freiheit eingesetzt wird, um eine autoritäre Regierung an die Macht zu bringen, das heißt, eine Regierung, deren Anliegen gerade nicht vornehmlich in der Sicherung der individuellen Freiheit besteht. In einem solchen Szenario gehen die Freiheit der Einflussnahme auf die Politik und individuelle Unfreiheit ohne Widerspruch zusammen.

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Locke, 1690b § 2.57 (S. 306). Vor dem Hintergrund dieser Einsicht formuliert einige Zeit später Thomas Paine, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, sein Bonmot: »Jede Art von Gesellschaft [society] ist ein Segen, eine Regierung dagegen, selbst in ihrer besten Form, ein allenfalls notwendiges Übel; in ihrer schlechtesten, ein nicht zu ertragendes«, Paine, 1776. Locke, 1690b § 2.57(S. 306); vgl. Pettit, 1997, S. 271. Rawls, 1971 S. 239. Locke, 1690a § 2.21.47 (S. 263). Der Gedanke, dass der Mensch frei ist, weil er die Fähigkeit besitzt, die Erfüllung seiner Wünsche aufzuschieben und seine Triebe umzuleiten, steht im Mittelpunkt eines der philosophischen Schlüsseltexte des 20. Jahrhunderts, der Dialektik der Aufklärung (1947) von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Die überlegte Selbstbeherrschung ist für die beiden Autoren der Schlüssel zum Verständnis des enormen Erfolgs, den unsere Spezies bei der Gestaltung und ›Beherrschung‹ der äußeren Natur hat. Viele unserer Ziele erreichen wir eben nur dadurch, dass wir über das triebgeleitete ReizReaktionsschema der Natur hinausgehen; s. auch unten, Anm. 6 zu Abschnitt 1.9 (›Nudging: der Mensch als Maschine‹). Wörtlich: »Wage zu denken!«. Die Formulierung, die Kant in seinem bekannten Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufkärung? von 1784 als deutsche Entsprechung wählt, ist: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«. S. dazu Taylor, 1992 S. 142f. S. dazu auch Hayek, 1960 S. 59f. und S. 70f.; Constant, 1819 S. 367. S. dazu Taylor, 1992 S. 143; vgl. Berlin, 2013 S. 252ff. Berlin gib zu bedenken, dass bereits die christlich-stoische Tradition vor Hobbes wenigstens an einigen Stellen die inneren Hindernisse der Freiheit im Blick hatte. Dennoch: Erst mit dem Aufkommen der modernen Psychologie, und eben lange nach Hobbes, findet dieser Aspekt Eingang in die systematische Diskussion. S. dazu Marciano, 2019.

Autonomie 1

S. Pauen/Welzer, 2015 S. 80: »Autonomie [besteht] für Kant gerade nicht im Handeln nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen – dies

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wäre in seinen Augen reine Heteronomie. Autonom handelt man dagegen, wenn man sich von allgemeinen moralischen Gesetzen leiten lässt.« Fairerweise sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Kant selbst zu dieser wenig plausiblen Deutung an vielen Stellen seines Œuvres durchaus einlädt. Schon früh erntete er deshalb Spott. Unter anderem von seinem Zeitgenossen Friedrich Schiller. Der las Kants Ausführungen in ähnlicher Weise wie es heute noch viele Interpreten tun – unter ihnen die gerade zitierten Pauen und Welzer, bes. Pauen/Welzer, 2015 S. 22. – und notierte mit spitzer Feder: »Gerne dien’ ich den Freunden, doch thu’ ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin«, Schiller, 1992 S. 357. Der Begriff der Maxime stammt ursprünglich aus der Logik und bezeichnet seit Anicius Boethius, einem Philosophen des 5. Jahrhunderts, für gewöhnlich den obersten Satz eines Arguments (maxima propositio). Die Diskussion dazu, was Kant genau unter Maximen verstanden hat, ist umfangreich und kontrovers; einen Einstieg in die Diskussion bietet Hepfer, 2001 und die dort aufgeführte Literatur. Das Kriterium dafür ist der bekannte Kategorische Imperativ. Kant bringt ihn in unterschiedlichen Formulierungen vor. In der sogenannten allgemeinen Gesetzesformel lautet er: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (Kant, 1785 S. 421; vgl. S. 402; S. 434 und S. 437f.); in der Naturgesetzformel: »handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (1785 S. 421; vgl. S. 437); und in der Zweckformel: »handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (1785 S. 429, vgl. S. 439). Letztlich geht es dabei immer darum, unsere allgemeinen Handlungsdispositionen (Maximen), die in der Summe unseren Charakter ausmachen, auf ihre widerspruchslose Verallgemeinerbarkeit – ihre ›Vernünftigkeit‹ – zu prüfen. Und selbstverständlich können in diese Dispositionen unsere Wünsche und Gefühle einfließen. So löst sich denn auch der vermeintliche Gegensatz, den Pauen und Welzer und viele andere zwischen ihrer und Kants Position konstruieren.

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Quellen und Anmerkungen

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Die Frage, wie der Vernunftbegriff genau zu bestimmen ist, treibt die Philosophie seit ihren Anfängen um. Doch auch wenn noch jede Epoche die Akzente anders gesetzt hat, so besteht in einem Kernbereich weitgehende Einigkeit: Vernunft ist diejenige Fähigkeit, die es uns erlaubt zu argumentieren, Schlüsse zu ziehen und zu allgemeinen und abstrakten Aussagen über die Welt zu gelangen. Zurzeit oft in den Vordergrund gestellt wird allerdings gern etwas anderes, nämlich, dass unsere Vernunft es uns erlaubt, Zusammenhänge zwischen den Zielen und den Mitteln herzustellen, die zu ergreifen sind, um diese Ziele zu erreichen. Diese Auffassung der Vernunft als Fähigkeit der Methoden und Verfahren (s. Adorno/Horkheimer, 1947 S. 10f.; S. 74ff.) verdankt ihre Popularität der ökonomischen Modellbildung, die heute unseren Blick auf die Welt in weiten Teilen direkt oder indirekt prägt. In den Modellen der Wirtschaftswissenschaften wählten die idealtypischen (rationalen) Akteure folglich lange Zeit stets die effizientesten und kostengünstigsten Mittel zum Ziel. Doch trotz ihrer gegenwärtigen Popularität – und selbst wenn sie für unsere Zwecke völlig ausreichend wäre – ist diese Bestimmung selbstverständlich eine Verkürzung, die ausblendet, dass unsere Vernunft uns eben auch in die Lage versetzt, die Qualität der Ziele selbst in den Blick zu nehmen.

In freier Entscheidung gegen die Autonomie? 1

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Mit Blick auf die großen Verwerfungen des letzten Jahrhunderts stellt Hayek in diesem Zusammenhang fest: »Vielleicht hat die Tatsache, dass wir gesehen haben, wie Millionen sich in die völlige Abhängigkeit eines Tyrannen wählten, unsere Generation verstehen lassen, dass die eigene Regierung zu wählen nicht zwangsläufig bedeutet, Freiheit zu bewahren«, Hayek, 1960 S. 63. In diesem Zusammenhang liegt die besondere Ironie darin, dass eine Institution, die dem Schutz der individuellen Autonomie vor Übergriffen dient, diese bei übermäßiger Beanspruchung weitreichend einschränkt. Dass dadurch auf Dauer die Voraussetzungen abhandenkommen, die nötig sind, um autonome Entscheidungen kompetent zu tref-

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fen, liegt nahe; für einen ausführlicheren Blick auf die kognitiven Mechanismen, die hier wirken und für einschlägige Beispiele s. Spitzer, 2012. S. dazu auch Pauen/Welzer, 2015 S. 27. Mill, 1859 S. 173. Die Herausforderung besteht hier allenfalls darin, die Ereignismenge abzubilden: Ihr globales Maximum liegt bei genau einer positiven Rückmeldung bezogen auf die Anzahl der teilnehmenden Teams. Da die Regeln nicht ausschließen, dass das erfolgreiche Team seine weniger glückliche Konkurrenz später an dem reichlich bemessenen Wagniskapital teilhaben lässt, ist es gut möglich, dass am Ende sogar alle Beteiligten profitieren. Einen guten Grund für das Gewinnerteam, ihren Gewinn zu teilen, gäbe es schließlich durchaus, denn immerhin war die Zurückhaltung und Disziplin der Konkurrenz maßgeblich für seinen Erfolg. Für eine weiterführende Diskussion vernunftinduzierter Irrationalität s. Derek Parfit: Schelling’s Answer to Armed Robbery, Parfit, 1984 S. 12f. Naheliegend ist natürlich die Frage, ob das Vorgehen, die konkrete Entscheidung einem Zufallsexperiment zu überlassen, nicht schon dadurch zu einem vernünftigen Verfahren wird, dass es ursprünglich eine vernünftige Überlegung ist, die zu diesem Vorgehen rät. Da das Beispiel keine weiteren argumentativen Lasten trägt, erübrigt sich an dieser Stelle die ausführliche Diskussion dieser (durchaus spannenden) Frage. S. GIT; dazu auch Zuboff 2019, S. 5ff., die mit diesem Beispiel ihren Begriff des Überwachungskapitalismus entwickelt. Die Wochenzeitung Die Zeit berichtete schon vor längerer Zeit ausführlich über das Projekt, Die Zeit, 2000. Die sogenannten smart meter zur Erfassung des Stromverbrauchs sind seit dem 1.1.2017 gesetzlich vorgeschrieben, wobei der Zeitpunkt der Verbindlichkeit an den Verbrauch gebunden wurde (über 10.000 kw/h: 2017; 6.000 – 10.000 kw/h: 2020). Die EU-Vorgabe ist es, mindesten 80% aller Endverbraucher zu erfassen, was, nebenbei, die Stromrechnung durch Einbau, Miete und Wartung der Technik wohl eher nicht senken wird.

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Quellen und Anmerkungen

Mills Voraussetzungen und die ›Befehlsgewalt der Gesellschaft‹ 1 2

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Mill, 1859 S. 141 [the authority of society]. Mill, 1859 S. 68f. In der Sache folgt Mill Thomas Hobbes und John Locke. Seine Ansicht, »Alles, was das Leben wertvoll macht für jemanden, hängt ab von der Durchsetzung von Beschränkungen für die Handlungen anderer Leute.«, Mill, 1859 S. 63f. findet sich in ähnlicher Weise bei seinen Vorgängern; s. etwa Hobbes, 1651 § 14 (S. 91ff.); § 21 (S. 147); § 28 (S. 214); und Locke, 1690b § 2.57 (S. 305f.). Die Einschränkung des Geltungsbereichs auf erwachsene Personen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist unproblematisch. Mill, 1996 S. 155 (Letter to Thomas Hare, vom 4.2.1860); und S. 74 (Letter to Theodor Gomperz, vom 4.12.1858); vgl. Mill, 1859 S. 62; S. 68; S. 73. – »Als Information noch vorwiegend analog war, schufen die Gesetze der Physik ohne weiteres einen Bereich der Privatheit. In einer digitalen Welt erfordert Privatheit mit Absicht entwickelte Institutionen, Anreize, Gesetze, Technik, oder Normen dafür, welche Informationsflüsse zugelassen oder zu verhindern sind und welche gefördert oder erschwert werden«, schreiben Erik Brynolfsson und Andrew McAfee in ihrem Buch The Second Machine Age (dt. Das zweite Maschinenzeitalter). Im Original trägt es den optimistischen Untertitel: Arbeit, Fortschritt und Wohlstand in einer Zeit grandioser Technik (brilliant technologies), Brynolfsson/McAfee, 2014 S. 253; s. auch Pauen/Welzer, 2015 S. 42; S. 14; S. 17. Locke, 1690b § 2.4.22 (S. 283). S. Rawls, 1971 S. 202. Wenig hilfreich ist eine Generalkritik an der Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, wie sie von Mills Kritikern oft vorgebracht wird. Sie weisen gern darauf hin, dass ausnahmslos jede individuelle Aktion (ungute) Folgen auch für andere Menschen haben kann und dass deshalb die Unterscheidung schon aus diesem Grund nicht aufrecht zu erhalten ist, s. dazu auch Berlin, 2013 S. 201. Selbst wenn dieser Einwand zutrifft, so scheint es vorschnell, deshalb die terminologische Differenzierung zu verabschieden, lässt sie uns doch leichter erfassen, warum auch in einer offenen Gesellschaft öffentlichkeitsfreie Räume nötig sind. Nämlich schon deshalb, damit der Protest und die Strategien gegen Fehlentwick-

Anmerkungen

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lungen zunächst ungestört und frei von einer Einmischung der Öffentlichkeit formuliert werden können. Der Generalkritik an der Unterscheidung von ›privat‹ und ›öffentlich‹ lässt sich mit dem Hinweis begegnen, dass jede natürliche Sprache an vielen Stellen mit unscharfen und kontextrelativen Unterscheidungen operiert, und dass wir dennoch meistens keine Schwierigkeiten haben, diese Begriffe zu verstehen. Denn nicht zuletzt gibt es auch bei solchen Ausdrücken, trotz der Grauzone, jeweils eindeutige Anwendungsfälle. In unserem Fall also individuelle Handlungen, bei denen die Folgen für andere Menschen so gering sind, dass sie vernachlässigt werden können oder solche, bei denen sich kaum bestreiten lässt, dass ihre Folgen für andere erheblich sind. Das Problem der unscharfen Begriffe und ihrer berechtigten Anwendung beschäftigt die Philosophie schon seit langem. Unter dem Titel des Sorites (lat. soros: Haufen), den Cicero dem Problem gab, wird das Thema, dessen inhaltliche Formulierung wahlweise bereits auf den Vorsokratiker Zenon von Elea (490–430 Jhd. v.) zurückgeht oder auf Eubulides von Milet (4. Jhd. v.) seitdem anhand eines Sandhaufens diskutiert. Denn offensichtlich verstehen wir ohne Schwierigkeiten, was diesen ausmacht, obwohl wir eben nicht genau bestimmen können, in welchem Moment er zu einem solchen wird. Auf ein Sandkorn trifft der Begriff offensichtlich nicht zu und auch nicht auf zwei oder drei Körner. Fügen wir allerdings weitere hinzu passt der Ausdruck aber irgendwann – obwohl sich der genaue Umschlagspunkt eben nicht bestimmen lässt. Arendt, 1951 S. 906; die erste deutsche Übersetzung erschien 1955. Isaiah Berlin formuliert denselben Gedanken anhand des Großinquisitors aus Die Brüder Karamasow. Dostojewski lässt seine Figur verkünden, dass die Kirche den Menschen die ständige Angst nehmen kann, die sie erfüllt, wenn sie ihren Weg durch die Dunkelheit alleine gehen müssen. Indem die Kirche ihnen die Last des Selbstdenkens abnimmt und die Menschen vor ihren »Zweifeln und der Verzweiflung und all dem Grauen der Unangepasstheit« und Individualität rettet, macht sie sie »zu willigen, dankbaren und glücklichen Sklaven«, s. Berlin, 2013 S. 86.

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Quellen und Anmerkungen

Das Paradox der besten Wahl 1

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Larry Page, einer der Gründer von Google (heute Alphabet), betont seit vielen Jahren, dass es bei der Datensammlung und der Ausspähung der Nutzer darum geht, die Grundlage für eine Künstliche Intelligenz (KI) zu schaffen, die die Anfragen (und auch sich selbst) tatsächlich versteht. Schon 2005 formulierte er: »Wir scannen all diese Bücher nicht, damit sie von Menschen, sondern damit sie von einer KI gelesen werden.« Dabei gehen die Pioniere des Valley davon aus, »dass die Durchdringung der Welt mit Software und Sensoren jetzt erst richtig losgeht und dass der technische Fortschritt sich weiter beschleunigen wird.« Schulz, 2017 S. 172. »Die Tech-Elite hat sich [dabei] eine Weltsicht, eine politische Philosophie geschaffen, die mit ihren Zielen übereinstimmt. Und die geht so: Wohlstand und Zufriedenheit für alle, durch so viel Autonomie und so wenig Staat wie möglich. Jegliche Autorität ist skeptisch zu betrachten. Regulierungen und staatliche Vorgaben haben in dieser Welt nichts verloren.« Schulz, 2017 S. 90. S. dazu auch Berlin, 2013 S. 131; vgl. S. 262. Berlin, 2013 S. 277; vgl S. 265. Den Gedanken, dass es für den vollständig von seiner Vernunft geleiteten Menschen nichts zu entscheiden gibt bei seinen Zielen, weil diese durch die Vernunft vorgegeben sind, findet sich schon bei dem niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677), Spinoza, 1677 S. 73; dazu Hampshire, 1960. Ähnlich wie Spinoza äußert sich wenig später auch John Locke; Locke, 1690a § 2.21.50 (S. 265). Ausführlicher dazu Hepfer, 2012 sowie die dort angegebene Literatur. Der Grund für die Unmöglichkeit der einen, richtigen Interpretation lässt sich anhand der Fiktion eines ›objektiven‹ Beobachters nachvollziehen. Denn selbst der perspektivisch unverzerrte Blick von außen kann eine solche Interpretation schon deshalb nicht liefern, weil ein integraler Bestandteil unserer Welt der subjektive Standpunkt eines jeden denkenden und fühlenden Wesens in ihr ist. S. dazu Nagel, 1986. Eine absolute Sicht der Dinge, die von aller Subjektivität abstrahiert, ist deshalb notwendig unvollständig. Berücksichtigt man dagegen die verschiedenen subjektiven Standpunkte, dann verliert die Behauptung der einen richtigen Sicht der Dinge (auch für den externen Beobachter) ihren Sinn.

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Vgl. Berlin, 2013 S. 212 ff.; S. 278f. Kant, 1788 S. 28. Vor ihm bemerkte bereits Thomas Hobbes, etwas weniger pointiert: »Der häufigste Grund aber, warum Menschen den Wunsch haben, einander Schaden zuzufügen, erwächst daraus, dass viele zugleich dieselbe Sache begehren«, Hobbes, 1642 § 1.1.6 (S. 61). Darauf weist uns bereits Jeremy Bentham hin, Bentham, 1843 Bd. 1 S. 301. Vgl. Neubacher, 2014 S. 124. Rawls, 1993 S. 306; vgl. S. 75. Und selbstverständlich gilt auch hier: Daraus, dass wir glauben, Gutes zu tun folgt nicht, dass das, was wir tun, gut ist; ebensowenig wie daraus, dass wir etwas für wahr halten, folgt, dass es wahr ist.

Das Dogma der Effizienz 1

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In der offiziellen Version der von sechzehn europäischen Bildungsministern und Bildungsministerinnen am 19. Juni 1999 im italienischen Bologna unterzeichneten Erklärung liest sich das so: Das Ziel der Reform sei es »die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger ebenso wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems zu fördern.« Bologna, 1999. Weder die Studiendauer noch die Abbruchquote ließen sich von den administrativen Vorgaben nennenswert beeindrucken. Dabei ist es, nicht zuletzt wegen des Neuzuschnitts von Studiengängen im Zuge der Reform, etwas schwierig, genaue Zahlen zu ermitteln (s. Heublein et al., 2012; Bildungsbericht, 2018 S. 163f.; Heublein et al. 2022). Auch ein weiteres Ziel, nämlich die unkomplizierte studentische Mobilität innerhalb Europas, scheint verfehlt worden zu sein: »Ein hoher Anteil Studierender (70%) sieht Schwierigkeiten bei der Durchführung eines studienbezogenen Auslandsaufenthaltes ohne zeitliche Verzögerung«, heißt es dazu im Studienqualitätsmonitor 2014 des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung; Willige, 2015. Dabei gilt die Höhe der eingeworbenen Fremdmittel tatsächlich als ein positives Kriterium, wenn es darum geht, die Qualität einer Universität, einer Fakultät, oder eines Fachbereichs zu ermitteln.

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Quellen und Anmerkungen

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Wie stark die Qualität des Kerngeschäfts – Forschung und Lehre – unter dem Zwang zur ständigen Verfertigung von Anträgen leidet, geht dagegen nicht in die Messung ein. »Jede Einschränkung der Freiheit verringert die Anzahl der Dinge, die ausprobiert werden und deshalb auch die Rate des Fortschritts […] maximale Freiheit fördert den Fortschritt am besten«, Phillips, 1945 S. 255; vgl. Mill, 1859 S. 129f.; passim. Neben der Ökonomisierung gibt es selbstverständlich auch andere Entwicklungen, die das freie Denken in der Forschung einhegen: Wer ständig Ideologismen in Sprache, Verhalten und bei der Themenauswahl im Blick haben muss, hat es schwer, unvoreingenommenen zu forschen. Erinnert sei an dieser Stelle zur Illustration an die in den Erziehungswissenschaften lange Zeit wenig populäre Einsicht zum Erwerb der Lese- und Schreibkompetenz in der Grundschule: Wer darauf hinwies, dass Jungen aufgrund der thematischen Ausgestaltung des Lernmaterials in die Defensive gerieten, erwies seiner wissenschaftlichen Karriere damals keinen Dienst. Tatsächlich gingen einige Jahrzehnte ins Land, bevor es ideologisch weniger verdächtig wurde, sich mit diesem Thema wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Seit einiger Zeit liest sich das dann etwa so: »Körperliche Geschicklichkeit, Selbstständigkeit, Mut, Abenteuerlust […] fehlen den modernen Kinderbuchjungen – sie sind übergegangen auf die starken Mädchen, die es wie Sand am Meer gibt.« Schilcher, 2003 S. 367f. Eilenberger, 2018 S. 69. Mit Blick auf die akademische Philosophie diagnostiziert Wolfram Eilenberger, Gründungsredakteur des Philosophie Magazins, das Fach habe sich unter diesen Bedingungen in inhaltlicher Stagnation und »zunehmend irrelevanter Selbstbespiegelung eigener Traditionsverhältnisse« eingerichtet, die »buchstäblich keinen Menschen« mehr interessierten. Wobei die Philosophie wohl diejenige Disziplin ist, die wie keine andere von der Freiheit lebt, nicht bei jedem Schritt nach der ökonomischen Verwertbarkeit ihrer Forschung zu fragen und in besonderer Weise auf sperrige Gedanken angewiesen ist. Insofern sind hier die Verwüstungen der »öffentlichen Förderungslogik« und des in ihrem Gefolge entstehenden »Denkbeamtentums« besonders sichtbar. Eilenbergers Diagnose lässt sich, obwohl sie ursprünglich auf die Fachphilosophie zielt, vermutlich ohne große Änderungen heute auf fast alle akademischen Bereiche übertragen, in denen die Inno-

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vation den echten Fortschritt abgelöst hat – und jegliche Forschung längst hinter die clever inszenierte, »vorbildlich ausdifferenzierte« Simulation von Forschung zurückgetreten ist. Bailey, 1821 Preface S. iv-v. Mill, 1859 S. 137f. An der Diagnose scheint sich bis heute nicht viel geändert zu haben. In dem regelmäßig vom Bundesverband der Deutschen Industrie herausgegebenen Innovationsindikator, der die Innovationsleistung von 35 Ländern in einem Gesamtindex abzubilden versucht, belegt die Volksrepublik China trotz ihrer riesigen Wirtschaftsleistung derzeit gerade einmal Platz 26 von 35. Das Land steht damit zwischen Ungarn und Polen und, vermutlich für das festlandschinesische Selbstbild doch etwas ärgerlich, deutlich hinter der demokratisch regierten Republik China (Taiwan; Platz 17); angeführt wird die Liste im Übrigen von der Schweiz, s. Innovationsindikator, 2020 S. 3. Hayek, 1960 S. 89f. Außerhalb der Universität gehen viele Wirtschaftsbetriebe seit einiger Zeit mit strengen Vorgaben gegen die Reibungsverluste an, die aus der ständigen Kommunikation und Dokumentation der eigenen Tätigkeit entstehen; s. dazu z. B. Nicolai, 2008. Denn dort geht es schließlich (anders als im Staatsdienst) darum, wenigstens so effizient zu sein, dass das Betriebsergebnis das ökonomische Überleben sichert. Gerade im Hinblick auf die exzessive Nutzung der elektronischen Kommunikation gilt im Übrigen, dass die Zufriedenheit mit der eigenen Tätigkeit und dem eigenen Leben abnimmt und pathologische Befindlichkeiten begünstigt werden, je umfassender die Elektronisierung ist. Die Forschung rubriziert die entsprechenden Effekte inzwischen unter der Überschrift Technostress, s. dazu z. B. Weil/Rosen, 1997. Ob die Technik auch dazu taugt, denjenigen das Handwerk zu legen, die mit krimineller Energie zu Werk gehen, ist fraglich. Denn die Manipulation von Daten, etwa um unter einer falschen (digitalen) Identität seinen dunklen Machenschaften nachzugehen, ist heute tatsächlich kaum mehr als eine Fingerübung für diejenigen, die ernsthaft Böses im Schilde führen; und das gilt selbstverständlich auch dann, wenn sie, um sich ihre Arbeit zu erleichtern, ihren (potenziellen) Opfern und ihren Feinden elektronisch nachspüren.

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Quellen und Anmerkungen

Nudging: der Mensch als Maschine 1 2 3 4 5

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Vgl. auch Berlin, 2013 S. 199. Hier ist Hilfe sogar Pflicht, denn schließlich geht es um Erlösung und das ewige Seelenheil. S. dazu auch Berlin, 2013 S. 194. Hardy, 2013 S. X. So der Titel einer Monographie, die sich mit den aktuellen Entwicklungen der Datentechnik auseinandersetzt; Brynjolfson/McAfee, 2014. Wer Vernunft auf ihren instrumentellen Aspekt verkürzt, gelangt leicht zu der (irrigen) Einschätzung, die Verwerfungen der modernen Welt seien vor allem ihr anzulasten, s. oben Anm. 12 zu Abschnitt 1.3 (›Die Abwesenheit äußerer Hindernisse‹) und Anm. 5 zu Abschnitt 1.4 (›Autonomie‹). Die Reduktion der Vernunft auf ihre organisierende Funktion legt es dann in der Tat nahe, sie für den industriellen Massenmord in den Gaskammern und die totale ökonomischen Verwertung des Menschen in Haft zu nehmen, wie es Adorno und Horkheimer tun, Adorno/Horkheimer, 1947 S. 19. Dies ist aber eben nur dann möglich, wenn ihre Rolle bei der Bestimmung der Sinnfrage konsequent ausgeblendet wird. Die Bestimmung des Rationalen als des Rationellen ist allerdings bereits im griechischen Odysseus-Mythos, der den beiden Denkern als Folie für ihre Argumentation dient, hochproblematisch. Der antike Held ist für sie deshalb der Prototyp des modernen Menschen, weil er seine Ziele vor allem durch Triebverzicht, Triebumleitung und Überlegung erreicht und deshalb, gemäß ihrer verkürzten Bestimmung hochgradig vernünftig handelt. S. Graeber, 2018 S. 178, vgl. S 147; passim; zur Ideologie des Neo-Liberalismus, die erheblich dazu beigetragen hat, dass sich eine derartige Rationalitätskonzeption weiträumig in der Arbeitswelt durchsetzen konnte, s. Anhang 2. Tatsächlich muss eine Steigerung der Effizienz ganz allgemein nicht zu einem geringeren Verbrauch führen – sondern kann ihn in vielen Fällen sogar erhöhen. Dieser Zusammenhang ist bekannt als Jevons-Paradox, benannt nach William Stanley Jevons, der bereits 1865 darauf hinwies, dass die Ablösung von Thomas Newcomens Dampfmaschine durch das weitaus energieeffizientere Modell von James Watt zu einem insgesamt höheren Kohleverbrauch führte.

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Die Verbilligung der Kohle – dieselbe Menge des Rohstoffs reicht für größere Lasten und weitere Strecken – steigerte die Transportnachfrage deutlich. Deshalb ist »es eine Fehlannahme zu glauben, dass der effizientere Einsatz von Treibstoff den Verbrauch senkt. Das genaue Gegenteil ist der Fall.«, [It is a confusion of ideas to suppose that the economical use of fuel is equivalent to diminished consumption. The very contrary is true.], Jevons 1866 Kap. 7. Allgemeiner formuliert: die Verringerung der relativen Kosten einer Ressource erhöht deren Nachfrage. Wie weit diese Erkenntnis auf andere Felder übertragbar ist, wird seitdem kontrovers diskutiert. Erhöhen effizientere Automobile die Menge der insgesamt gefahrenen Kilometer? Führt die Leistungssteigerung der elektronischen Hardware zu immer anspruchsvollerer Software, die diese Steigerung (mehr als) zunichte macht? Erhöht der Umstieg auf eine energieeffizientere Datenübertragung (5G statt 4G) den Datendurchsatz so, dass der Ressourcenverbrauch sich am Ende erhöht? Offensichtlich ist jedenfalls, dass ein echter Gewinn für die Ressourcenbilanz nur dann entstehen kann, wenn der sogenannte Rebound unter hundert Prozent liegt und die Effizientsteigerung größer ist als der durch die Verbilligung angestoßene Mehrverbrauch. Der deutsche Untertitel lautet etwas bescheidener: Wie man kluge Entscheidungen anstößt. So die deutsche Entsprechung des verhaltensökonomischen Begriffs nudge. Richard Thaler und Cass Sunstein werben schon seit längerem für die unterschwellige Verhaltensmanipulation (s. etwa Thaler/Sunstein, 2003) und ihr beharrliches Werben für diese Art, mit seinen Bürgern und Untergebenen umzugehen, hat bei den Entscheidern aus Politik und Wirtschaft entsprechenden Eindruck hinterlassen. Mehr dazu unten. Vgl. Thaler/Sunstein, 2008 S. 1–4. Thaler/Sunstein, 2008 S. 12f.; passim. Thaler/Sunstein, 2008 S. 51. Thaler/Sunstein, 2008 S. 21. Thaler/Sunstein, 2003 S. 176. Thaler/Sunstein, 2003 S. 179. Die erste deutsche Kanzlerin war bekanntlich eine Anhängerin dieser Art der Bürgermanipulation. 2014 stellte ihr Kanzleramt eigens drei Verhaltensökonomen ein, um die Umsetzung politischer Entscheidungen zu erleichtern. Ihr

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Quellen und Anmerkungen

Amtskollege, der damalige britische Premier Tony Blair, war ihr zu dieser Zeit allerdings bereits um einiges voraus. Seine Begeisterung für diese Art der Steuerung der Untertanen ihrer Majestät hatte im Vereinigten Königreich bereits im Jahr 2010 zur Gründung eines Behavioural Insights Teams geführt, das die Regierung entsprechend coachen sollte. Die Mitarbeit in diesem Team sollte sich für die Entscheidungsarchitekten später spektakulär auszahlen, wie eine britische Zeitung unter der Schlagzeile: »Auf Verhaltensökonomie spezialisierte ehemalige Staatsdiener streichen jetzt 14 Millionen Pfund im Jahr ein« im Jahr 2018 vermeldete, Guardian, 2018. Eher nachdenklich im Hinblick auf die anhaltende britische Begeisterung für die Bürgermanipulation stimmt der Verdacht, den Fred Wrigley im Zusammenhang der Corona-Pandemie im Tribune Magazin – jener traditionsreichen Zeitschrift, für die u.a. George Orwell lange Jahre als Kulturredakteur tätig war – schon früh äußerte. Er führte die hohen britischen Todeszahlen zu Beginn der Krise direkt auf eine amtliche Reaktion zurück, die vor allem auf Nudges a la Thaler und Sunstein setzte, s. Wrigley, 2020. 17 Duden, 1997; ebenso das Deutsche Wörterbuch von Gerhard Wahrig; Wahrig, 1986. Thaler und Sunstein erklären, es ginge ihnen nur darum zu verdeutlichen, dass ihr Paternalismus die »Freiheit« der Akteure »bewahrt«, s. Thaler/Sunstein, 2008 S. 5. Dabei gehört schon einige (orwellsche) Dialektik dazu, eine Haltung, die eine unterschwellige Manipulation ausdrücklich gutheißt, als respektvoll gegenüber anderen Menschen zu bezeichnen. 18 Vgl. Neubacher, 2014 S. 242. 19 S. Thaler/Sunstein, 2008 S. 74. Dies ist in der Tat die zentrale Frage. Wenn etwa eine autokratische Regierung entwürdigendes, selbstgefälliges oder intolerantes Verhalten als wünschenswert fördert: Wäre dann, solange damit nur dem »Wohl der Gesellschaft« gedient ist, an einer entsprechen Vorstrukturierung nichts auszusetzen? Und wenn man tatsächlich meint, dies sei nicht der Fall: Warum sollte eine verdeckte Manipulation plötzlich allein dadurch akzeptabel werden, dass sie unter (in einem weiten Sinn) demokratischen Vorzeichen stattfindet? 20 Thaler/Sunstein, 2018 S. 208; meine Hervorhebung. 21 Selbstverständlich fragt es sich auch, ob es in einem Land, das mit einer durchschnittlichen Niederschlagsmenge von 594 Litern auf den Quadratmeter nur unwesentlich hinter dem regenrei-

Anmerkungen

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chen Großbritannien (639 l/m2 ) liegt und klar vor Ägypten (23 l/m2 ; Statistisches Jahrbuch, 2019 S. 654f.), keine wirkungsvolleren Öko-Maßnahmen gibt als ausgerechnet die Privathaushalte zum Sparen von Trinkwasser anzuhalten. Das heißt: ob es nicht doch einen Versuch Wert wäre, Industrie und Landwirtschaft – ohne Schubs und mit offenem Visier – dazu zu bringen, etwas pfleglicher mit dieser Ressource umzugehen. Und nicht nur vor dem Eintrag von chemisch oder biologisch aktiven Substanzen in den Wasserkreislauf noch einmal nachzudenken, sondern auch den Vorrang der (kurzfristigen) Rendite bei der Flächenbewirtschaftung noch einmal zu kritisch zu hinterfragen. Was Thaler und Sunstein im Übrigen auch gar nicht bestreiten. Sie beginnen ihr Werk mit einer Auflistung von Faktoren, die belegen sollen, dass Menschen »systematisch in die Irre gehen« (Thaler/Sunstein, 2018 S. 21) und paternalistische Führung deshalb geboten ist. Berlin, 2013 S. 197. Ausführlich dazu Grüne-Yanoff und Hertwig, 2016. Kant, 1793 S. 290f.; meine Hervorhebung. S. dazu auch Schmidtz/Brennan, 2010 S. 179. Rawls, 1971 S. 250. Eine gute Illustration der Auswüchse paternalistischen Denkens sind die bürokratischen Phantasien Auguste Comtes; s. Comte, 1822. Für Comte besteht die Perfektion in einer »fanatisch aufgeräumten Welt« mit »unveränderlichen Hierarchien«, Berlin, 2013 S. 112. Er entwirft in seiner Abhandlung das Urbild der Effizienzhölle und kann damit bis heute all diejenigen begeistern, die sich ohne nachzudenken auf Expertenmeinungen zur Verbesserung der Welt verlassen – und hier besonders auf solche Vorschläge, die alle Risiken des Lebens beherrschbar machen (sollen) und dabei helfen, jede Überraschung im Leben zu vermeiden.

Selbstoptimierung 1 2

Welzer, 2016 S. 35. Wer »sich weigert, einen Pulsmesser zu tragen oder Biofeedback Geräte zum Einnehmen zu verwenden, (…) wird durch höhere Gesundheits- und Versicherungskosten bestraft«, King 2016, S.339.

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Quellen und Anmerkungen

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Dazu auch Neubacher, 2014 S. 134 und S. 146f.; sowie Welzer, 2016 S. 55. Ein frühes Beispiel dafür, wie aus anfänglicher Freiwilligkeit schnell ein Zwang wurde, der dann alle betraf, ist die Einführung des Girokontos am Ende der 1950er Jahre. Innerhalb kürzester Zeit verschwand die ›Lohntüte‹ vollständig aus dem Arbeitsleben und die Lohnzahlung erfolgte nur noch per Überweisung. Für die Banken und Sparkassen hatte dies den willkommenen Effekt, dass sie nun für einen bisher kostenlosen Vorgang Gebühren nehmen konnten. Einen etwas längeren Anlauf nahm dagegen der Zwang bei der Steuererklärung. Aus dem anfänglichen »Angebot«, seine Unterlagen elektronisch zu übermitteln, wurde im Jahr 2011 eine Pflicht für alle. Ohne Internetanschluss oder Steuerberater geht seitdem auch für analoge Senioren und den geringverdienenden Freiberufler nichts mehr. Welzer, 2016 S. 121f.

Konformismus 1 2

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Berlin, 2013 S. 202 Fn. 2. Für eine ausführlichere Diskussion s. Pauen/Welzer, 2015 S. 157–171; und Schmidtz/Brennan, 2010 bes. S. 213–217. Pauen und Welzer gehen in ihrer Betrachtung unter anderem der Frage der Selbstverstärkung gruppendynamischer Vorgänge und den Fehleinschätzungen nach, die sich in der kollektiven Rückkopplung verfestigen. Die Vereinigten Staaten von Amerika verlangen seit Juni 2019 für die Erteilung eines Einreisevisums je nach Herkunft des Antragstellers die vollständige Offenlegung der Online-Aktivitäten bei den zwanzig größten Social-Media-Diensten. Wer falsche oder unvollständige Angaben macht und dabei ertappt wird, darf nicht ins Land. Auch Israel ist dafür bekannt, dass es bei der Einreise selektiv Einblick in Online-Aktivitäten und besonders den Zugang zu privaten E-Mail-Konten verlangt. – Darüber hinaus nimmt die Zahl der Angebote ständig zu, die sich nur dann (sinnvoll) nutzen lassen, wenn sie mit einem Social-Media-Account verbunden werden. Die Betreiber der Kommunikationsplattformen sind sich dessen bewusst. Wer schon einmal versucht hat, seinen Account bei einem der großen Anbieter unwiederbringlich zu löschen, konnte sich

Anmerkungen

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bisher jedenfalls stets darauf verlassen, dass seinem Anliegen nicht entsprochen wurde. Bei der reumütigen Rückkehr, selbst nach längerer Abwesenheit, kann das Konto mit allen dazugehörigen Daten in der Regel nämlich meistens völlig problemlos wieder in Betrieb genommen werden. Lanier, 2015. Ausführlicher dazu Lanier, 2019: »Der zentrale Vorgang, der den social media Firmen erlaubt Geld zu machen und auch die Gesellschaft beschädigt, ist die Verhaltensmodifikation«, S. 11; passim. Mill, 1859 S. 63. Pariser, 2011 S. 243.

›Big Data‹ 1 2

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Neu ist auch, dass viele dieser Inhalte durch neuartige DatenDienstleistungen allererst entstehen. Seit der öffentlichen Ankündigung der Personalisierung im Dezember 2009 hat Google (heute Alphabet), also die Firma, die wie keine andere mit der ökonomischen Verwertung persönlicher Daten groß geworden ist, ihre schon damals ordentliche Börsenbewertung noch einmal um gute 500% steigern können (Stand Juni 2020; in Euro). Für die Konkurrenz gilt Ähnliches. Dieses System ist die weltliche Umsetzung einer religiösen Idee. Konfuzianische und buddhistische Vorstellungen von der Verbesserung oder Verschlechterung des Karmas durch das eigene Verhalten werden nun in einem diesseitigen Punktesystem abgebildet, welches erwünschtes Verhalten sofort mit Privilegien belohnt und unerwünschtes Verhalten mit dem Entzug von Vergünstigungen bestraft: »das Karma [heißt] heute KP, [nimmt] Big Data zu Hilfe und Belohnung und Strafe [ereilen] einen noch in diesem Leben – im Idealfalle hier und sofort«, Strittmatter, 2018 S. 206. Der Punktestand auf dem Sozialkonto bestimmt darüber, wem es erlaubt wird, in staatsnahen Betrieben zu arbeiten, wer Flug- oder Bahntickets kaufen oder seine Kinder auf eine gute Schule schicken darf, wem es erlaubt ist, die Autobahnen zu benutzen, Immobilien zu erwerben, etc.; ausführlich dazu Strittmatter, 2018 S. 206ff. Strittmatter, 2018 S. 12; 198.

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Quellen und Anmerkungen

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Was vor einigen Jahren zunächst mit Pilotprojekten zu den Möglichkeiten und den verschiedenen Ansätzen beim sogenannten Predictive Policing (dt.: vorhersagende Polizeiarbeit, s. oben S. 53f.) begann, ist heute in vielen Großstädten und Bundesländern Teil des Regelbetriebs der Polizei. Von den Anbietern der entsprechenden Prognosesoftware offensiv beworben, unterläuft diese Art der vorhersagenden Verbrechensbekämpfung die Unschuldsvermutung. – Bereits vor über sechzig Jahren hatte sich der amerikanische Science-Fiction Autor Philip K. Dick des Themas in einer visionären Kurzgeschichte angenommen und viele der wichtigen Fragen formuliert, die auch die reale Umsetzung heute aufwirft. Der Titel der Kurzgeschichte, Minority Report (Dick, 1956), gab später auch der filmischen Umsetzung (2002) ihren Namen. Zuboff, 2019. Zurzeit besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr als die Hälfte der globalen Vermögenswerte, wie bereits vor einigen Jahren (2016) das Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter Berufung auf Berechnungen der Boston Consulting Group meldete: »Tendenz steigend«, Spiegel, 2016. Und auch wenn der Blick nur auf Deutschland geht, sehen die Zahlen nicht grundsätzlich anders aus: hier gehörte dem reichsten Prozent 2015 erst nur etwa ein Drittel des Gesamtvermögens, 2022 sind es allerdings schon 35 Prozent, Spiegel, 2022 S. 9. Hinzu kommt, dass diejenigen mit den größten Vermögen oft so gut wie keine Steuern zahlen: »Setzt man die ProPublica-Berechnungen an, betrug Elon Musks errechneter Einkommensteuersatz von 2014 bis 2018 lediglich 3,3 Prozent. Michael Bloomberg führte 1,3 Prozent ans Finanzamt ab und Jeff Bezos 1 Prozent«, Spiegel, 2022 S. 11. Dies sind Steuersätze, die offensichtlich weit von dem entfernt sind, was arbeitende Normalbürger dem Finanzamt aushändigen müssen. Hilfreich in dieser Hinsicht ist es auch, dass die Technik die Definitionsmacht dafür, was als Unmut, Protest, oder allgemeiner: als unerwünschtes Verhalten zu gelten hat, in die Hände von immer weniger Personen legt. Dasselbe Europäische Parlament beispielsweise, das den Bürgern gern mit Umweltschutzargumenten kommt, veranstaltet ohne Not im Wochenturnus einen Komplettumzug seiner Mitarbeiter, Übersetzer, Angestellten, Lobbyisten und natürlich seiner derzeit gut 750 Abgeordneten, zwischen zwei Tagungsorten, die über

Anmerkungen

400 Kilometer auseinanderliegen. Und erzeugt allein dabei einen ökologischen Footprint von geschätzten 20.000 Tonnen CO2 ; die wöchentlichen Flüge der Delegierten in die Heimat sind dabei noch nicht eingerechnet. – Strukturell ähnlich geartet wie die Auseinandersetzung um das Tempolimit ist auch die Diskussion um die Elektromobilität im Individualverkehr. Die Fixierung auf die Emissionen im direkten Betrieb und deren Reduktion, drängt Sinnfragen in den Hintergrund. Ebenso wie die Diskussion über die ›grauen‹ Emissionen, also den Energie- und Ressourcenaufwand für Herstellung und Entsorgung der zum Teil hochtoxischen Materialien, die in Elektrofahrzeugen verbaut werden. Wodurch sich eben auch hier der Verdacht aufdrängt, es werde mit erheblichem Eifer das Falsche optimiert.

Weiter so! – Der ›Naturalistische Fehlschluss‹ 1 2 3

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Pariser, 2011 S. 71. Pariser, 2011 S. 72. Juan Moreno, der als erster auf die Erfindungen seines damaligen Kollegen Claas Relotius aufmerksam machte, hat seine Erfahrungen inzwischen unter dem Titel Tausend Zeilen Lüge aufgearbeitet; Moreno, 2019; s. auch Fehrle et al., 2019. – Lanier bemerkt: »es gibt viele Schwierigkeiten wenn man den Journalismus dem Gott der Statistik unterstellt. […] Zu viel clickbait senkt das Niveau der öffentlichen Auseinandersetzung; Autoren erhalten nicht den Raum um Risiken einzugehen«, Lanier, 2015 S. 71. Und, in freier Übersetzung, wenn »Autoren weniger von dem Wunsch motiviert werden, Menschen unmittelbar zu erreichen, sondern gezwungen sind, sich einem zweifelhaften Kennzahlensystem auszuliefern, dann verlieren sie ihre Beziehung zu ihrem Kontext. Je erfolgreicher eine Autorin in diesem System ist, desto weniger Ahnung hat sie von ihrer Materie«, Lanier, 2015 S. 73. Margaret Thatcher, Tory-Premierministerin von 1979–1990, seit 1992 Baroness, macht schon früh die Rede von der Alternativlosigkeit zur Grundlage ihres Regierungshandelns. In Erinnerung geblieben als Mantra ihrer Regierungszeit ist deshalb wohl vor allem ihr oft wiederholter Ausspruch: »there is no alternative«. Er trug ihr schon damals in der Presse und beim politischen

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Quellen und Anmerkungen

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Gegner das Akronym tina ein. Alternativlos jedenfalls ging es für die spätere Baroness gerne dann zu, wenn ihr neoliberaler Glaube Zumutungen für den britischen Durchschnittsbürger (also diejenigen ohne gut bezahltes Regierungsamt, Ländereien oder Adelstitel) erforderte. Hayek, 1960 S. 130.

Grenzen der Verantwortung 1

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»Neben den für das Bauen relevanten Normen (DIN, EN, ISO), zusammen mit Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien, Satzungen etc., ergibt sich ein extrem umfangreiches und kaum noch überschaubares Regelwerk«, GdW, 2019; vgl. Spiegel Wissen, 2019 S. 64. Bei der fleißigen Durchsicht von fünf Verordnungen täglich, Sonnund Feiertage eingeschlossen, braucht es etwa zehn Jahre, um informiert zur Grundsteinlegung zu schreiten – vorausgesetzt, die Zahl der Regeln vermehrt sich während dieser Zeit nicht entscheidend. Dabei ist es durchaus eine Herausforderung, sich gleichzeitig auch noch an all die anderen Gesetze und Vorschriften zu halten, die in unserem Land aktuell gelten. Denn deren Zahl liegt mit einer geschätzten Viertelmillion (allein auf Bundesebene) noch einmal um eine Größenordnung über dem Baurecht, s. dazu auch Spiegel 2021, S. 70 – 74. Wem Gesetzestreue auch als Bauherr ein wirkliches Anliegen ist – schließlich gilt immer noch: Unkenntnis schützt nicht vor Strafe – sollte sich seine Lebenszeit also gut einteilen. Für aktuelle Zahlen s. etwa Spiegel, 2022 S. 8–16 und oben Anm. 7 zu Abschnitt 2.2 (››Big Data‹‹). Von den auf die Autofahrbahn aufgemalten Todesstreifen für Fahrradfahrer (gern auch zwischen den Spuren; und passenderweise in leuchtendem Rot), über den automobilen Verkehrsinfarkt vieler Innenstädte (als direkte Folge langjähriger Fehlregulierung im öffentlichen Transport), bis hin zur Invasion von Online-Auslieferern, Lastenrädern und Spaßfahrzeugen (für deren reibungslose Integration schlicht die straßenbaulichen Voraussetzungen fehlen): Allein mit den Mitteln der Verwaltungsbürokratie und immer neuen Geboten, Einschränkungen und Verboten dürfte hier eher nicht so viel auszurichten sein.

Anmerkungen

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S. Aristoteles, Politik S. 1254a ff.; passim. Berlin, 2013 S. 73.

Das höchste Ziel 1 2 3 4

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S. dazu auch Rawls, 1993 S. 295. Hobbes, 1651 § 13 (S. 88ff.); § 21 (S. 153); § 29 (S. 230): passim. Neubacher, 2014 S. 217. Im niedersächsischen Bohmte lief im Jahr 2008 ein entsprechendes EU-Modellprojekt an. Im Abschlussbericht, einige Jahre später, heißt es: »Auch wenn aus der amtlichen Statistik ein Ansteigen des Unfallgeschehens im Shared Space Bereich hervorgeht, entstand bei den Unfällen lediglich leichter Sachschaden […] Unfälle mit Personenschaden sind […] prozentual stark abgesunken.«, Bode et al., 2009 S. 40. Die Statistik der Polizeidirektion Osnabrück belegt, dass sich daran, auch nach dem Ende der wissenschaftlichen Begleitung, bis heute nichts geändert hat. Gestützt wird dieser Befund vielleicht auch von der verbreiteten Intuition, dass gesellschaftliche Verhältnisse, in denen eine vornehmlich durch Kontrolle und Überwachung erzeugte Sicherheit dem Einzelnen wenig Raum für eine autonome Lebensführung lässt – so wie es etwa in Autokratien und Diktaturen der Fall ist –, auf die meisten Menschen eine eher geringe Anziehungskraft ausüben und dies nicht nur in der westlichen Welt. In einem schwachen Sinn ist Freiheit natürlich immer schon eine Voraussetzung der Gerechtigkeit (und steht damit als regulatives Prinzip automatisch über ihr), weil bereits die Ermittlung eines gerechten Ausgleichs zwischen verschiedenen Ansprüchen und Interessen ohne den freien Meinungsaustausch der Beteiligten kaum möglich ist. Hayek, 1960 S. 148.

Folgen 1 2

Vgl. Rawls, 1993 S. 341. Die Gleichgültigkeit, beziehungsweise der Zynismus, steckt hier oft auch im Detail: Der Hartz-IV-Regelsatz sieht für Bildung, als wich-

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Quellen und Anmerkungen

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tiger Voraussetzung der persönlichen Autonomie, unfassbare 1,12 Euro im Monat vor (Stand: 2020). Der Begriff der Politischen Korrektheit selbst ist deutlich älter; er ist für das Ende des 18. Jahrhunderts das erste Mal belegt – in einem Gerichtsurteil des obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten (Chisholm vs. Georgia, 1793). Die Vorstellung, dass sich reale Missstände durch eine Anpassung der Sprache lösen lassen, ist an sich nicht ohne Charme. Dennoch bewirkt die Sprachnormierung oft das Gegenteil, weil sie die unvoreingenommene, freie Auseinandersetzung behindert. Im konkreten Fall der Politischen Korrektheit kommt hinzu, dass die gerade erst eingeführten Ersatzbegriffe ständig nachbearbeitet werden (weil sie ihrerseits in den Verdacht geraten, diskriminierend zu sein). Eher kontraproduktiv ist hier ebenfalls, dass der Versuch der Begriffsnormierung zur bequemen Vorlage für alle diejenigen wird, die ihre Ansichten mit dem Hinweis auf Zensur, Denkverbote, oder Tugendterror dann ohne eine weitere Diskussion aus der Kritik nehmen können. Dass es hier schnell sehr aufgeregt zugehen kann, lässt sich im Selbstexperiment ermitteln. Oft reicht es schon, in einem einschlägigen Text die Pronomen zu ersetzen (›sie‹ statt ›er‹ oder umgekehrt) und die neue Version einem Publikum vorzulegen, das mit der Originalfassung völlig einverstanden war. Werturteile, die in der einen Richtung als korrekt empfunden werden, rufen in die andere Richtung nicht selten starke Ablehnung hervor. Den Umgang mit dem Paradox der Toleranz, also der Frage ob auch die (Meinungs-) Freiheit derjenigen zu achten ist, die an deren Abschaffung arbeiten, brachte der Staatstheoretiker Karl Popper auf die einleuchtende Formel, Toleranz könne nur gelten »für alle jene, die nicht selbst intolerant sind« (Popper, 1945, Bd. II S. 279), denn »uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz« (Popper, 1945, Bd. I S. 361 Anm. 4). Popper mahnt deshalb: »wir sollten im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Intoleranten nicht zu dulden«, ibid. S. 362. – Die Polemik im Datenraum, als eine Variante der verordneten Sprechregeln, unterscheidet sich insofern von dem Versuch der politische korrekten Sprachnormierung, als sie in der Regel auf die moralische Überhöhung der eigenen Haltung von vornherein verzichtet.

Anmerkungen

Sozialer Determinismus 1

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Der öffentlich sichtbare Startschuss für das Geschäftsmodell fiel am 4. Dezember 2009. An diesem Tag kündigte der größte Suchmaschinenkonzern der Welt (in einem hausinternen Blog) an, von nun an gezielt die Personalisierung seiner Angebote anzugehen. Andere Datenkonzerne zogen schnell nach. Und gemeinsam sind sie seitdem ein erhebliches Stück vorangekommen auf dem Weg, mit ihren digitalen Assistenzsysteme und ubiquitären Empfehlungen den Nutzer gewinnbringend durch sein Leben zu coachen. Vgl. King, 2016 S. 262f.; passim. Harald Welzer spitzt mit Blick auf das Warenangebot zu: »Es ist ein bisschen deprimierend, sich eine Zukunft vorzustellen, in der alles, was angeboten wird, aus den Lebensäußerungen jener konstruiert wird, denen man das Zeug anschließend wieder andrehen möchte. Wie soll in eine solche Welt jemals etwas Neues kommen?« Welzer, 2016 S. 142. Friedrich Hayek merkte schon lange vor der Verstärkung dieser Entwicklung durch die Datentechnik an: »die Freiheit ist daher heute ernsthaft bedroht durch den Hang der arbeitenden Mehrheit dem Rest ihre Standards und ihre Einstellung zu leben aufzuzwingen.« Hayek, 1960 S. 186, vgl. S. 196. »Computer-based personality judgments are more accurate than those made by humans«; Kosinski et al., 2015; meine Übersetzung, wie auch im folgenden. Kosinski et al., 2015 S. 1037. Kosinski et al., 2015 S. 1039. Kosinski et al., 2015 S. 1039. Vgl. dazu auch Berlin, 2013 S. 131; vgl. S. 262. Dazu passt es, dass die Firmen, deren Geschäft die automatische Verhaltensprognose ist, schon seit einiger Zeit vermehrt auf Mitarbeiter mit einem humanwissenschaftlichen Hintergrund setzen: Soziologen, Psychologen und Neurowissenschaftler treten an die Stelle der Softwareingenieure. Sie entwickeln die Theorien, die aus Rohdaten am Ende die Nutzer-Persönlichkeit extrahieren; je besser ihre Modelle, desto schärfer das Bild und desto höher der Profit. Berlin, 2013 S. 115.

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Quellen und Anmerkungen

Virtuelle Freiheit: Ein Ersatz für die reale? 1

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Der Blick muss dabei nicht in die Ferne gehen. Auch direkt vor unserer Haustür sind derzeit Länder der Europäischen Union auf dem Weg in Autokratie und Diktatur – unter eher nominalem Protest des EU-Apparats und der EU-Bürger. Es spricht einiges dafür, dass unsere Geistesgeschichte mit ihrem Hinweis darauf, dass Freiheit eine der definierenden Eigenschaften des Menschen ist, so falsch nicht liegt; s. dazu auch den ausgezeichneten Text von Raymond M. Smullyan, Smullyan, 1977. Und auch Indizien, wie der ewige Kampf gegen die Unfreiheit in Form von Leibeigenschaft und Sklaverei, sowie die Tatsache, dass kaum eine revolutionäre Bewegung es versäumt, die Freiheit auf ihre Fahnen zu schreiben, stützen die Behauptung. Für die historische Seite s. z.B. Linden, 2002 bes. S. 308f. Tatsächlich schöpfen die virtuellen Weltentwürfe die Möglichkeiten des Mediums in dieser Hinsicht bis heute nicht einmal im Ansatz aus. Viele Anwendungen bieten ein nur leicht geändertes Abbild unserer Alltagswelt, so zum Beispiel die 2003 gestartete und eine Zeit lang sehr erfolgreiche Gesellschaftssimulation Second Life. Statt die neue Freiheit des elektronischen Raums zu nutzen und die Einschränkungen der analogen Welt konsequent hinter sich zu lassen, bildete die simulierte Umgebung diese mit nur geringfügigen Änderungen ab: Live-Konzerte realer Bands, virtuelle Ausstellungen realer Museen, detailgetreue Nachbildungen realer Straßenzüge und Sehenswürdigkeiten, virtuelle Filialen großer Firmen aus der ›ersten‹ Welt, sogar offizielle Ländervertretungen – und natürlich eine Währung (die in reale US-Dollar zurückgetauscht werden konnte – die Produktionsfirma selbst verdiente vor allem mit dem Verkauf virtuellen ›Baulands‹, selbstverständlich gegen echte Dollar). Zu ihren besten Zeiten konnte diese zweite Welt 30 Millionen Menschen überzeugen; immerhin genug um (ab 2009) auch die Aufmerksamkeit der Geheimdienste der ›ersten‹ Welt zu erregen. Bei der Konkurrenz sieht es ähnlich desolat aus. Die bereits im Jahr 2000 gestartete Alltagssimulation The Sims, angeblich das bisher meistverkaufte Computerspiel der Welt, orientiert sich ebenso an unserer Alltagswelt, wie das Mehrspieler System des überaus erfolgreichen World of Warcraft (2004/1994), hier allerdings in eine Mittelalter-Umgebung gekleidet und mit Fantasy-

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Elementen angereichert. Die Liste lässt sich fortsetzen. Sehr selten nur lässt die Phantasie im virtuellen Raum die bekannten Denkund Erzähl- und Interaktionsmuster und die Naturgesetze hinter sich und nutzt virtuelle Umgebungen wirklich als grenzenlosen Freiheitsraum. Hume, 1739/40 § 1.3.13.8; s. auch § 1.3.15. Seit der Suchtaspekt von Online-Spielwelten – nicht zuletzt durch den großen Erfolg von Blizzards MMORPG World of Warcraft – verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit und auch der Forschung gerückt ist, wird immer deutlicher, dass einer der effektivsten Suchtverstärker die Aussicht ist, mit der Spielfigur tatsächlich voranzukommen. Dass den Herstellerfirmen dies schon lange (und auch ohne wissenschaftliche Rückendeckung) klar war, zeigt sich auch darin, dass sie bereits früh damit begonnen haben, personalstarke Abteilungen einzurichten, die die Spielerbindung in dieser Hinsicht optimieren sollten, s. z.B. Dietrich, 2020. Die Augmented Reality wird es vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft möglich machen jede irritierende Erfahrung, also alles, was die Selbstwahrnehmung stören könnte, auszublenden, so dass sich ihre Nutzer mehr und mehr in einer Welt bewegen können, die ausschließlich auf sie selbst, ihre Wünsche und Vorlieben, zugeschnitten ist. – Eindrucksvoll führt uns Elisabeth Bear die Verlängerung des Gedankens der vollständig personalisierten Umwelt in einer Kurzgeschichte vor, in der sich alle unangenehmen Aspekte des Alltags durch augmented reality-Funktion wegretuschieren lassen: vom Müll vor der Haustür, über die Obdachlosen auf der Straße, bis hin zum Verfall der allgemeinen Infrastruktur. Und in der sich sogar leicht Ersatz schaffen lässt für den Verlust nahestehender Personen – indem ihre ›Persönlichkeit‹ kurzerhand über die eines anderen Menschen gelegt wird, Bear, 2015. Pariser, 2011 S. 212.

Staatlicher Übergriff und Selbstermächtigung 1 2

Hayek, 1960 S. 199. Diese entstehen nicht zuletzt dadurch, dass die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, mit entsprechenden Folgen für die Sozialkassen. Ob es zutrifft, dass »Raucher, […] rein finanziell, ein Segen

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für jedes Sozialsystem [sind]« (Neubacher, 2014 S. 117) oder nicht, ist tatsächlich schwer zu überprüfen, weil die entsprechenden Daten unter Verschluss sind. Die Krankenversicherer, die diese Frage wohl am besten beantworten könnten, lassen sich bei ihrer Risikokalkulation jedenfalls nicht in die Karten sehen. Dennoch: Der Zusammenhang zwischen steigendem Durchschnittsalter und steigenden Kosten für die Sozialsysteme liegt wenigstens nahe. Schon der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) argumentierte in diese Richtung: »Zwang«, so notierte er, wird »gerechtfertigt durch die Erziehung zur künftigen Einsicht«. Daraus entstünde automatisch das Recht des »höchsten Verstandes, … alle zu zwingen, seiner Erkenntniss zu folgen« Fichte, 1846 S. 578; vgl. S. 580. Die Aufwertung des Gedankens, es sei ein Anrecht staatlicher Stellen seine erwachsenen Bürger ständig zu erziehen, durch einen großen Denker der Philosophiegeschichte, macht ihn dennoch nicht richtig. Genauer, für alle Pkw-Modelle, deren Typenzulassung seit dem 31. März 2018 erfolgt. Der Notfallmelder (eCall) lässt sich vom Nutzer nicht deaktivieren. Hayek, 1960 S. 213. Nicht nur in den USA, wo ein gewisses Misstrauen gegen die Zentralregierung seit jeher verbreitet ist, sondern inzwischen eben auch bei uns, gibt es nicht wenige, die die Autorität des Staates und seiner Institutionen grundsätzlich (und militant) in Frage stellen; schon vor der Pandemie hatte beispielsweise die Reichsbürger-Bewegung bundesweit eine Gefolgschaft vom Umfang einer mittleren Kleinstadt. Mill, 1859 S. 186. Zur Konjunktur und zur Funktion von Verschwörungstheorien s. Hepfer, 2015 und die dort aufgeführte Literatur. Die entsprechende Ökodesign-Richtlinie der EU stammt von 2009; sie führte dazu, dass die herkömmlichen Glühbirnen über viele Jahre europaweit gegen hochgiftige und hochpreisige Kompaktleuchtstofflampen mit unterirdischer Öko-Gesamtbilanz ausgetauscht wurden. S. z.B. EU-Verordnung (666/2013). Auch hier liegt es in der Natur der Sache, dass genaue Zahlen kaum zu ermitteln sind, doch der Zusammenhang ist offensichtlich. Wenn die gedrosselten Geräte erheblich länger laufen müssen, um ihren Zweck zu erfüllen, steigt

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der Energieverbrauch unterm Strich – anstatt, wie beabsichtigt, zu sinken. Auch die neue Version der in die Jahre gekommenen Bestimmungen zum Datenschutz ist hier wenigstens eine Anmerkung wert. Denn auch sie führte einer breiten Öffentlichkeit vor Augen, wie eine gute Regulierung nicht aussehen sollte. Der Neufassung in der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die seit 2018 die EU-Bürger vor digitalem Raubrittertum schützen soll (die ursprüngliche Verordnung stammte von 1995), gelang es mit 99 Paragrafen (in ihrer ersten Fassung) eine derartigen Verwirrung zu erzeugen, dass viele außereuropäische Anbieter sich veranlasst sahen, den Zugriff auf ihre Seiten aus Europa wegen unklarer juristischen Konsequenzen zu blockieren; unter ihnen unter anderem auch namhafte Nachrichtenportale wie die LA-Times. Die sogenannte Positivliste wurde, nach unzähligen Meetings und Expertenrunden hierzulande inzwischen zu den Akten gelegt. In vielen anderen Ländern der Europäischen Union, von Finnland über Belgien, Luxemburg und Frankreich bis Portugal und auch in der Schweiz gibt es sie im Übrigen seit langem. Wer es mit dem Schutz seiner Bürger vor sich selbst wirklich Ernst meint, hätte an dieser Stelle viel zu tun: Fastfood-Verpackungen müssten ähnlich farbenfroh gestaltet werden wie heute schon die Verpackungen für Tabakprodukte, die Supermarktregale für Süßigkeiten und Grillzubehör würden wesentliche Inhalte des Diabetologiestudiums abdecken, bei Bier, Wein und Wodka ginge nichts mehr ohne Bilder aus der Pathologie, Autos, egal ob Verbrenner oder Elektro, und natürlich auch Fahrräder, würden detailliertes chirurgisches Wissen plakatieren müssen, und die Einwilligung in die Organspende würde zur zwingenden Voraussetzung für die amtliche Erlaubnis zum Führen eines Motorrades. Der Begriff des ›Sowjetmenschen‹ ist bereits älter und etwas vorschnell in Vergessenheit geraten. Der russische Dissident Alexander Sinowjew popularisierte ihn in seinem gleichnamigen Roman. Überragendes Kennzeichen des homo sovieticus: Er geht jeder Verantwortung aus dem Weg und zeigt keinerlei Eigeninitiative. Auch wenn sich Sinowjews Einschätzung als polemisch überspitzte Kritik am real existierenden Kollektivismus sowjetischer Prägung deuten lässt, so zeigte sich nach dem Mauerfall, dass er mit seiner Einschätzung nicht ganz daneben lag. Jahrzehntelange totalitäre

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Quellen und Anmerkungen

Rundumbetreuung und durchgehende Reglementierung hatten die Untertanen in den Ländern des Ostblocks schlecht auf den Systemwechsel vorbereitet, so dass viele von ihnen schell mit dem Ruf nach neuer obrigkeitlicher Einhegung bei der Hand waren. Und dann nicht selten diejenigen wieder an die Macht wählten, die ihnen die Rückkehr zu den alten Verhältnissen versprachen – und damit auch die schnelle Abkehr von der gerade erst gewonnenen Freiheit mit ihrer anstrengenden Verantwortung und ihrer lästigen Aufforderung zur Selbstbestimmung.

Smarter Totalitarismus 1

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Die Begriffsprägung Totalitarismus geht auf die Kennzeichnung des faschistischen Systems des italienischen Gewaltherrschers Benito Mussolini zurück. Das bestimmende Merkmal des klassischen Totalitarismus ist es, seine Untertanen zu zwingen, sich aktiv an der Verwirklichung der Herrschaftsideologie zu beteiligen. Wer danach strebt, seine Vorgaben in allen Lebensbereichen verbindlich zu machen, hat keine Verwendung für mündige und autonome Bürger. Pauen/Welzer, 2015 S. 218; s. auch S. 195. Dieses Bonmot verdankt die Welt Eric Schmidt, einem typischen Vertreter des California-Mindsets. Schmidt war lange in Leitungsfunktion für mehrere große Firmen des Valley tätig und beriet später Barack Obama im Wahlkampf. Es entbehrt, wie oben angedeutet, nicht der Ironie, dass die Vision der totalen Transparenz zuverlässig vor den Betriebsgeheimnissen derjenigen haltmacht, die die Daten sammeln. Die Intransparenz auf der Seite der Datenkonzerne trägt nicht zuletzt erheblich dazu bei, dass es ihnen regelmäßig gelingt, der Verantwortung für die von ihnen angerichteten sozialen Verwerfungen zu entkommen; s. dazu auch Pariser, 2011 S. 230 und Lanier, 2019. Zum Start eines Feldversuchs am Berliner Bahnhof Südkreuz am 1. August 2017 freute sich der Innenminister in der Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern jedenfalls »sehr, dass wir am Bahnhof Südkreuz jetzt unter realen Bedingungen testen, was auf der Grundlage der heute vorhandenen Technik möglich ist«, bmi, 2017. Ob es die Freude des Ministers getrübt hätte,

Anmerkungen

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wenn er gewusst hätte, dass die Technik schon damals deutlich mehr konnte, ist unklar. Die Ausstattung der bereits vorhandenen Überwachungssysteme mit einer besseren Software zur Gesichtserkennung am Südkreuz jedenfalls nimmt sich etwas überholt aus, angesichts der Identifizierung von Menschen anhand ihrer Art zu gehen (mit einer Zuverlässigkeit von 90 Prozent), wie sie China seit vielen Jahren vorführt. Die offizielle behauptete Absicht, durch diese Maßnahme Geldwäsche, Korruption und Steuervermeidung zu unterbinden, nimmt die totale Transparenz des (Konsum-)Verhaltens gesetzestreuer Bürger billigend in Kauf. Und dies, obwohl jeder Nachweis der Wirksamkeit fehlt. Der Verdacht, dass diejenigen, die mit krimineller Energie zu Werk gehen, sich den neuen Gegebenheiten schnell anpassen, liegt auf der Hand. »Don’t be evil!«, auch wenn es von offizieller Seite kommt und nicht von einem Konzern (der unter diesem Motto immerhin einem amerikanischen Präsidenten ins Amt half, der dieser Maxime offensichtlich nichts abgewinnen konnte), ist eben keine Garantie für ein gutes Ergebnis. S. oben S. 53f. und Anm. 5 zu Abschnitt 2.2 (››Big Data‹‹). Hier werden große Mengen personenbezogene Daten zusammengeführt. Eine Verbrechensbekämpfung, die mit präventiven Verdächtigungen arbeitet, bewegt sich tatsächlich nur mit viel Nachsicht noch in einer Grauzone, denn »[…] der Staat muss dem Verdächtigen eine Tat nachweisen, will er einen Strafanspruch haben. Es ist nicht an dem Verdächtigen, sich zu entlasten und einen Entlastungsbeweis mit voller Beweislast führen zu müssen. Einen Anfangsverdacht für Ermittlungen zu schaffen durch die kriminalistische Überlegung, dass, wer gerade noch Legales tue, auch Illegales tue, geht nicht an. Zwischen irrelevantem anzeichenlosem Verdacht und relevantem Anfangsverdacht muss eine Schwelle liegen, die auch und gerade eine technische Verbesserung polizeilicher Möglichkeiten nicht überschreiten darf. […] ›Wer nichts zu verbergen hat, muss auch nichts befürchten‹ kann und darf keine Maxime eines Rechtsstaates sein.« Mankowski, 2016 S. 275. In Steuerangelegenheiten etwa, in denen die elektronische Übermittlung mittlerweile Pflicht ist, war das offizielle Verhältnis zum Schutz vor unbefugtem Zugriff auf die übermittelten Daten jahrelang eher entspannt. Das Finanzamt setzte auch dann noch auf eine Software (Oracle-Java), vor deren Einsatz eine andere staatliche

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Quellen und Anmerkungen

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Stelle, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, wegen »gravierender Sicherheitslücken« bereits wiederholt und nachdrücklich gewarnt hatte. Auch dadurch gelangen personenbezogene Daten leicht in die Hände gewinnorientierter Akteure. Dabei ist die Begeisterung für die Digitalisierung, selbst angesichts der Ausnahmesituation, in die die Pandemie den Schulunterricht brachte, in der Sache kaum verständlich. Denn seit langem ist belegt, dass die elektronische Aufrüstung dem Lernerfolg erheblich schaden kann: »Misst man die Leistung von Schülern beim Lernen mit und ohne Computer, so zeigt sich beim computergestützten Lernen ein negativer Effekt auf die Leistung«, Spitzer, 2012 S. 84, s. auch S. 74 und S. 85ff. Einige Länder, etwa Schweden, Dänemark, Finnland und Australien, die ihre Schulen schon früh umfassend mit digitaler Technik ausgerüstet hatten, haben bereits die Konsequenzen gezogen und bauen die teuere Elektronik sukzessive zurück. Denn: »je mehr in einem Land in Computer an Schulen (pro Schüler) investiert wurde, desto eher hat sich die Leistung der Schüler in diesem Land verringert« fasst Spitzer den Sachstand unter Berufung auf eine OECD-Studie zu diesem Thema zusammen; Spitzer 2018, 29; OECD, 2015; s. dazu auch Mueller, 2014. Unverdrossen verkündete das Bundesministerium für Bildung und Forschung dennoch: »Der Bund gewährt den Ländern aus dem Sondervermögen ›Digitale Infrastruktur‹ […] Finanzhilfen von 5 Milliarden Euro […] die Länder erbringen einen investiven Eigenanteil von mindestens 10 Prozent zur Finanzierung der mit Bundesmitteln geförderten Investitionen« (DigitalPakt, 2019 §1; dies noch vor Corona). Das sind, ausgeschrieben, 5500000000 Euro aus Steuermitteln für Firmen, die deutsche Schulen mit einer Technik ausstatten dürfen, die nicht nur den Lernerfolg nachweislich erschwert, sondern ihnen gleichzeitig den millionenfachen Zugriff auf die Daten von Minderjährigen erlaubt.

Die Macht der Mehrheit 1 2

Vgl. Berlin, 2013 S. 83; und S. 81. Hayek, 1960 S. 183. Schon im Alltag kann die überinterpretierte Anwendung des Mehrheitsprinzips gelegentlich irritieren. Etwa

Anmerkungen

dann, wenn die Mehrheit angeblich oder tatsächlich andere Produkte verlangt. Die Floskel: »der Kunde will das so«, meint eben nicht den realen Kunden, der gerade offensichtlich etwas anderes will, sondern zielt auf eine (vermeintliche) Mehrheit, und markiert damit den konkreten Kunden als störende Abweichung von der Norm.

Ökonomie 1 2 3

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Graeber, 2018 S. 285. S. dazu auch Zuboff, 2019 (passim); und Hayek, 1960 S. 195, Lanier, 2019 S. 23. Kant geht sogar noch einen Schritt weiter und weist darauf hin, dass nicht nur einzelne Menschen niemals zu einem Mittel gemacht werden dürfen, sondern dass dies auch für die Menschheit als Ganzes gilt; dazu auch Anm. 4 zu Abschnitt 1.4 (›Autonomie‹). Dieser Gedanke liegt der Formel von der Unantastbarkeit der Menschwürde zugrunde, mit der unser Grundgesetz eröffnet. Die freiheitsmindernde Wirkung, die Schulden in modernen Gesellschaften haben, nahm bereits der schottische Philosoph David Hume Mitte des 18. Jahrhunderts mit den ihm eigenen Esprit in den Blick; nachzulesen in Hume, 1777 S. 95f.

Einfache Sprache 1 2

Wittgenstein, 1921, § 5.6 (S. 67). S. Behindertengleichstellungsgesetz § 11. Der Deutsche Bundestag und nachgeordnete Behörden stellen in vielen Bereichen zertifizierte Alternativversionen ihrer Texte in Leichter Sprache zur Verfügung. Da die Bewegung sich in den letzten Jahren ›professionalisiert‹ hat, gibt es inzwischen offizielle Richtlinien und staatliche Förderung (durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales), Gütesiegel, Auszeichnungen, sowie zahlreiche universitäre Forschungsprojekte. Ein Rätsel allerdings bleibt es, warum viele Gebrauchstexte überhaupt so kompliziert sein müssen, dass sie eine (zertifizierte) Vereinfachung benötigen.

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Quellen und Anmerkungen

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Die Journalistin Susanne Gaschke etwa spricht in diesem Kontext vom »Inbegriff von Herablassung«. Ihr Anlass ist eine Beilage der Bundestags-Zeitung Das Parlament in Leichter Sprache; hier würden »komplizierte Dinge nicht einfach, sondern dumm« ausgedrückt, Gaschke 2018. Die Sozialwissenschaftlerin Bettina Zurstrassen gibt zu bedenken, dass Analphabetismus eben nicht nur »durch kognitive Einschränkungen begründet« sein kann, sondern dafür »oft […] eine mangelhafte schulische Vermittlungsmethodik und Förderung ursächlich« sei. Der Hinweis, dass »Leichte Sprache zunehmend ökonomisiert« werde, wesentlich finanziert aus den »Mitteln der Sozialversicherungen«, schließt sich an (Zurstrassen 2015). Ähnlich Baumert (ohne Jahresangabe): »Leichte Sprache ist vor allem ein Geschäft. […] oft finanziert aus Steuergeldern: eine neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahme«. Zurstrassen nennt im Anschluss noch eine Reihe weiterer Kritikpunkte und weist etwa darauf hin, dass »dem Konzept der Leichten Sprache … eine wissenschaftlich-theoretische Fundierung und empirische Überprüfung« fehlen, dass nicht klar sei, ob Leichte Sprache »nicht sogar die Ausgrenzung von Menschen mit Lernschwierigkeiten fördern kann, wenn diese auf den zunehmend normierten Schreib- und Sprachstil der ›Leichten Sprache‹ hin sozialisiert werden« und dass nicht einmal klar sei, ob die sprachliche Vereinfachung »die Zielgruppe in ihren sprachlichen und kognitiven Entwicklungschancen nicht sogar einschränkt« und dadurch ihren »exkludierenden Sonderstatus verfestigt«, Zurstrassen 2015. Der Philosoph Konrad Liessmann stellt, unter der Überschrift Analphabetismus als geheimes Bildungsziel fest: »der Versuch, die Lesefähigkeit zu steigern, indem man die Texte drastisch vereinfacht, (zählt) zu den problematischen Strategien einer umfassenden Praxis der Unbildung«. Sein Fazit (»Besser wäre es, all jene, die Schwierigkeiten beim Erwerb dieser Fähigkeiten haben, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, damit sie wirklich lesen und schreiben lernen«, Liessmann, 2014) legt nahe, dass er in der Leichten Sprache eine (kostengünstige) Übersprungsmaßnahme des offiziellen Bildungsbetriebs sieht. Dazu auch Mill, 1859 S. 94.

Anmerkungen

Unbegrenzte Möglichkeiten 1

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Iyengar/Lepper (2000). Eine literarische Umsetzung dieses Gedankens findet sich aktuell in Eggers, 2021; einer der Untertitel des Werks: Limitless Choice is Killing the World (Uneingeschränkte Wahlmöglichkeiten bringen die Welt um). Die Vorstellung, dass eine Wahl den Willen überfordern kann, wird oft mit einem Bild veranschaulicht, das dem Scholastiker Johannes Buridan (ca. 1300–1358) zugeschriebenen wird. Buridans Esel steht in der Mitte zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen und kann sich nicht für einen von beiden entscheiden – weshalb er schließlich verhungert. Bei Buridan dient dieses Bild zur Illustration des Gedankens, dass der Wille seine Wirkung verliert, wenn der Verstand meint, es mit gleichwertigen Möglichkeiten zu tun zu haben. Iyengar/Lepper, 2000 S. 1002. Iyengar/Lepper, 2000 S. 1003. Iyengar/Lepper, 2000 S. 1004. Iyengar/Lepper, 2000 S. 997f. und passim; s. dazu auch Scheibehenne et al., 2010 S. 410. Schwartz, 2000; dazu auch seine drei Jahre später erschienene (und auch auf deutsch sehr erfolgreiche) Monografie, Schwartz, 2003. Schwartz, 2000 S. 87. Für einen Überblick über die Forschungsliteratur s. die Metastudie von Scheibehenne et al., 2010 S. 411f.

Die Freiheit der Andersdenkenden 1 2

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Orwell, 1949. Für eine Zusammenstellung weiterer mehr oder weniger gut gesicherten Erkenntnisse zu den kognitiven Verzerrungen, denen unser Gehirn (aufgrund seiner evolutionären Geschichte) kaum ausweichen kann s. Kahnemann, 2011 und Dobelli, 2011. S. mit Fokus auf die Freiheit dazu Taylor, 1992 S. 126; Berlin, 2013 S. 85; und auch Mill, 1859 S. 151. Selbstverständlich ist der Grundgedanke der Wiederverwertung und Rückgewinnung von Rohstoffen richtig. Allerdings ändert dies nichts an der derzeitigen Praxis, die große Mehrheit des mühevoll

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Quellen und Anmerkungen

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getrennten Mülls wiedervereint in die thermische Verwertung zu schicken. Dabei gehen offizielle Stellen (beim Plastikmüll) von einer tatsächlichen Recycling-Quote von 39 Prozent aus. Wobei diese Angabe deutlich zu hoch gegriffen sein dürfte. Realistisch sei eher eine Quote von unter 6 Prozent, vermeldete der Spiegel vor einiger Zeit unter der Überschrift: Abfallquoten – Deutsches Recyclingsystem versagt beim Plastikmüll, Spiegel, 2019. Auch die etwas freundlicheren Zahlen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bleiben klar unter dem offiziellen Wert: »In Deutschland wird derzeit weniger als 30 Prozent des Kunststoffabfalls ›stofflich‹ verwertet, also zur Herstellung neuer Produkte verwendet. Der Rest wandert in die ›thermische‹ Verwertung – die Müllverbrennungsanlage – oder wird exportiert«, Sadeler, 2018. Mill, 1859 S. 140.

Covid19: Comeback des Kollektivismus 1 2

Zum Begriff s. Anhang 2. Ein eher bizarres Detail zu Beginn der Pandemie war das Lob vieler demokratischer Entscheider für die »vorbildliche« Handhabung der Situation im eher nicht so demokratischen Ursprungsland der Krise.

Fazit 1

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Die Harvard-Politologen Steven Levitzky und Daniel Ziblatt weisen in ihrer Studie How Democracies Die (Wie Demokratien sterben) mit Nachdruck darauf hin, dass die rhetorische Verrohung und ein Umgang mit dem (politischen) Gegner, der ihm die Legitimität seiner Haltung abspricht, zu den wirksamsten Faktoren beim Niedergang freiheitlicher Gesellschaften gehören, s. Levitzky/Ziblatt, 2019 bes. S. 26ff.; passim. Shoshana Zuboff, Emerita der Harvard Business School, prägte für dieses Geschäftsmodell, dessen Erfolg in direkter Beziehung zur Transparenz der Nutzer steht, den Begriff Überwachungskapitalismus (engl.: surveillance capitalism) und bemerkt: »Der SurveillanceCapitalism erklärt menschliche Erfahrung einseitig zu freiem Roh-

Anmerkungen

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material, das in Verhaltensdaten übersetzt werden kann. Obwohl einige dieser Daten dazu dienen, Produkte oder Dienstleistungen zu verbessern, wird der Rest zu betrieblichem Eigentum an einem Verhaltensüberschuss erklärt, unter der Überschrift der ›maschinellen Intelligenz‹ in moderne Herstellungsverfahren gesteckt und zu Vorhersageprodukten verarbeitet, die voraussagen, was Sie jetzt, bald oder später tun werden. Schließlich werden diese Vorhersageprodukte auf einer neuen Art von Marktplatz für Verhaltensprodukte gehandelt, den ich den Verhaltens-Futures-Markt nenne. Surveillance Kapitalisten sind unglaublich reich geworden durch diesen Handel, denn es gibt viele Firmen, die begierig sind, Wetten auf unser zukünftiges Verhalten abzuschließen.« Zuboff, 2019 S. 8. Nicht wenige aktuelle Debatten, unter ihnen die sogenannte Identitäts-Debatte, beziehen einen Teil ihrer Motivation aus der Unterstellung, der eigene Lebensentwurf werde in übergriffiger Weise durch andere behindert, ohne jedoch im Gegenzug Neigung zu zeigen, die Lebensentwürfe dieser anderen als gleichberechtigt anzuerkennen. Beispielhaft für eine einseitige Wahrnehmung weist etwa Michael Lissack anhand der in diesem Zusammenhang geführten Diskussion um sogenannte ›Mikroaggressionen‹ darauf hin, dass wenn derartiges mikroaggressives Verhalten von denjenigen »wahrgenommen wird, die nicht zu einer stigmatisierten oder kulturellen Randgruppe gehören, davon ausgegangen wird, dass keine Mikroaggression stattfindet«, Lissack 2021, S. 1. Und stellt fest: »Wenn eine Person ›A‹ einer Person ›B‹ mikroaggressives Verhalten vorwirft, ist das, was sie damit fordert dass B sich einfühlsam mit A’s Perspektive, Meinungen und Umständen auseinandersetzen möge, wenn sie mit A zu tun hat. Dies können wir aber nur für eine sehr kleine Gruppe von Menschen leisten. Eine solche Forderung für diejenigen zu erheben, die sich außerhalb dieser Gruppe befinden, ist beleidigend. Das Ganze verschlimmert sich, wenn A dies von B einfordert, aber gleichzeitig selbst nicht willens ist, sich die Mühe zu machen, B’s Perspektive, Meinungen und Umstände zu verstehen. Die Einseitigkeit der Annahme (A zählt, aber B zählt nicht) ist ebenso unverschämt wie die Forderung, B möge sich in A einfühlen, wenn A nicht Teil von B’s innerem Kreis von Familie oder Freunden ist« Lissack 2021, S.2.

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Quellen und Anmerkungen

Anhang 1 – Willensfreiheit 1 2

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Für eine ausführlichere Diskussion s. Hepfer, 2008 Abschnitt 2.6 und die dort angegebene Literatur. Ein Grund, warum uns die Fremdbestimmung durch die Naturkausalität im Zusammenhang der Frage nach der Freiheit unseres Willens so hartnäckig verfolgt, mag darin liegen, dass der »Determinismus die menschliche Würde zu unterlaufen und unseren Wert zu untergraben scheint« (Nozick, 1981 S. 291) und das »Universum als Gefängnis erscheinen lässt«, Berlin, 2013 S. 155. Vor ihnen waren schon die großen Denker der Aufklärung der Meinung, der Freie Wille sei ein Phantomproblem, beziehungsweise schon die Frage nach ihm sei »unvernünftig, weil unverständlich«, Locke, 1690a § 2.21.14 (S. 240); s. dazu auch Hume, 1748 § 8.1.22f. (S. 157ff.). Friedrich Hayek bringt den Gedanken dann in der Mitte des letzten Jahrhunderts auf die Formel: »Die Behauptung, der Wille sei frei, hat genauso wenig eine Bedeutung wie ihre Umkehrung«, Hayek, 1960 S. 135. Kant, 1785 S. 448; vgl. auch S. 459ff. und 1788 S. 95ff. S. dazu auch Krüger, 1992 bes. S. 10f.

Anhang 2 – Neo/Liberalismus 1

Eine weitere direkte Folge neo-liberaler Deregulierung ist ein starkes Wachstum des weltweiten Finanzvermögens, ohne dass die Vermehrung des Geldes durch eine entsprechende Zunahme an Gütern und Dienstleistungen gedeckt ist.

Philosophie Die konvivialistische Internationale

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Frank Adloff, Alain Caillé (eds.)

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Philosophie Pierfrancesco Basile

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Karl Hepfer

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