Lebenssinn und Erbe 9783828206229, 9783110499278

In den modernen Gesellschaften des Westens nimmt das Übertragen von materiellen und immateriellen Gütern auf eine nachfo

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Lebenssinn und Erbe
 9783828206229, 9783110499278

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Wie gebe ich weiter? Ein Bericht zum Symposium
Weiterleben nach dem Tod - Theologische Aspekte des Vererbens
Lebenssinn und Erbe: Der philanthropische Impuls
Ein Leben mit dem Erbe: Chancen und Dilemmata zwischen Erwartungsdruck, Verantwortung, Handlungsstarre und Entscheidungsangst
Streit ums Erbe - eine Herausforderung für Familienbeziehungen
Reichtum und Philanthropie als Vermächtnis
Verwaltung von Stiftungsvermögen in Zeiten der finanziellen Repression
Erben und Vererben: Praxisbezogene Anmerkungen zu relevanten Beratungskompetenzen
Ererbter Lebenssinn: Weitergabe von ideellem Vermögen in Unternehmensdynastien
Unternehmertum als Lebenssinn am Beispiel der Nachfolgeregelungen in Familienunternehmen
Relevanz von Familienstiftungen als Unternehmensnachfolgemodell für landwirtschaftliche Betriebe
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Kai J. Jonas Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.) Lebenssinn und Erbe

Maecenata Schriften

herausgegeben von Rupert Graf Strachwitz und Christian Schreier

Band 12

Kai J. Jonas, Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.)

Lebenssinn und Erbe

®

Lucius 8t Lucius • Stuttgart • 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

ISSN 1866-122X ISBN 978-3-8282-0622-9 ® Lucius a Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2015 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Layout: Claudia Rupp, Stuttgart Umschlaggestaltung: I. Devaux, Stuttgart Druck und Bindung: Rosch-Buch, Scheßlitz

V

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Wie gebe ich weiter? Ein Bericht zum Symposium von Victoria Strachwitz

1

Weiterleben nach dem Tod - Theologische Aspekte des Vererbens von Anselm Bilgri

5

Lebenssinn und Erbe: Der philanthropische Impuls von Rupert Graf Strachwitz

15

Ein Leben mit dem Erbe: Chancen und Dilemmata zwischen Erwartungsdruck, Verantwortung, Handlungsstarre und Entscheidungsangst von Kai J. Jonas

39

Streit ums Erbe - eine Herausforderung für Familienbeziehungen von Christiane Wempe

47

Reichtum und Philanthropie als Vermächtnis von Miriam Ströing

67

Verwaltung von Stiftungsvermögen in Zeiten der finanziellen Repression von Thomas Landwehr

91

Erben und Vererben: Praxisbezogene Anmerkungen zu relevanten Beratungskompetenzen von Hubertus A. Jonas

101

Ererbter Lebenssinn: Weitergabe von ideellem Vermögen in Unternehmensdynastien von Beatrice Rodenstock und Felix-Michael Weber

117

Unternehmertum als Lebenssinn am Beispiel der Nachfolgeregelungen in Familienunternehmen von Andrea Müller und Kuno Ledergerber

135

VI

Inhaltsverzeichnis

Relevanz von Familienstiftungen als Unternehmensnachfolgemodell für landwirtschaftliche Betriebe von Georg Block-Grupe

151

Autorinnen und Autoren

171

VII

Vorwort Über 3 Billionen (3.000 Milliarden) Euro stehen im nächsten Jahrzehnt allein in Deutschland zur Vererbung an. Betriebsvermögen sind in dieser Zahl noch nicht einmal erfasst. Dies ist deutlicher Ausdruck davon, dass in den modernen Gesellschaften des Westens Erbschaft, das Übertragen von materiellen und immateriellen Gütern, einen prominenten Stellenwert im gesellschaftlichen wie im individuellen Leben einnimmt. Im internationalen Vergleich erlebt Deutschland diese Situation erst wieder seit einiger Zeit, nach einem Jahrhundert der Vernichtung von Vermögenswerten durch Kriege, Inflation, wirtschaftlichen Niedergang und Enteignungen. Nach einer neuen Studie der weltweit zu Reichtum forschenden Gesellschaft wealth-x weist Deutschland nach den USA, China und Großbritannien weltweit die meisten Milliardäre auf. Sie sind im Durchschnitt 65 Jahre alt und sind überwiegend unternehmerisch tätig. Dieser und anderer Wohlstand, durchaus nicht nur der von Milliardären, wird in naher Z u k u n f t im großen Stil vererbt. Zugleich sieht sich die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts einem fundamental entgegengesetzten Trend gegenüber: Das Leben in geschichtlicher Kontinuität steht auf dem Prüfstand. Jede neue Generation ist mehr denn je aufgerufen, sich ihre Welt selbst und neu zu schaffen. Fragen nach dem Zus a m m e n h a n g zwischen Lebenssinn, der eigenen Lebensgestaltung einerseits und der Weitergabe von Werten andererseits gewinnen an Aktualität. Disruptive Innovation ist zu einem Schlagwort sozialwissenschaftlicher Debatten geworden. In ihrem 2015 erschienenen Buch ,Wir Erben - Was Geld mit Menschen macht' plädiert beispielsweise die Autorin Julia Friedrichs f ü r eine stärkere steuerliche Belastung von Ererbtem gegenüber dem Erarbeiteten, nicht zuletzt deshalb, weil die Vererbung von Vermögenswerten Innovation behindere und zudem die soziale Ungleichheit befördere. Erben, so sagt sie, neigten nicht dazu, ihr Vermögen, sei es unternehmerisch, sei es philanthropisch, f ü r die Gesellschaft nutzbar zu machen. Angesichts der Zahlen, einer solchen, in allen Tageszeitungen rezensierten Veröffentlichung und einer durch Gerichtsentscheidungen angestoßenen politischen Diskussion um das richtige Maß der Besteuerung von Erbschaften ist es kaum verwunderlich, dass Debatten zum Generationenübergang schnell auf diese Aspekte reduziert werden. Sie greifen damit jedoch zu kurz. Das „Schaffen einer neuen, eigenen Welt" von Beschränkungen in der Übertragbarkeit von Vermögen abhängig zu machen, überschätzt nicht nur die Wirkung solcher Anreizsysteme. Es blendet auch eine ganze Palette von Facetten aus, die aus der Wirklichkeit der durchaus manchmal konfliktreichen - Rezeption des Ererbten, der Gestaltung des eigenen Lebensentwurfs und der Weitergabe von ideellen und materiellen Werten nicht wegzudenken sind. Andere Länder, beispielsweise die USA und die Niederlande, praktizieren seit Jahren ein Steuerrecht mit geringen Freibeträgen. Die Erfahrungen aus und der Vergleich mit diesen Ländern zeigen, dass nur mit Besteuerung dem Gesamtproblem nicht beizukommen ist.

VIII

Vorwort

Insbesondere drängt sich dem Menschen immer wieder eine Auseinandersetzung mit der Frage auf, was Lebenssinn und Vererbung miteinander zu t u n haben. So einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, ist dies nicht abzuhandeln. Nicht nur lebt durchaus noch die Erinnerung an Lebensentwürfe, die die Verwaltung des übernommenen Erbes f ü r die nächste Generation in den Mittelpunkt stellten. Der in Zeiten der Monarchie, die selbst ein Stück weit davon geprägt war, im Wesentlichen dem Adel vorbehaltene Fideikommiss erscheint in der modernen Republik nicht mehr als sinnvolle Vermögensordnung, wenngleich in der Schweiz, einer der ältesten Demokratien, noch heute Fideikommisse bestehen. Wenn Vertreter adeliger Familien öffentlich von der Verpflichtung sprechen, Traditionen zu erhalten oder eine Verantwortung gegenüber der Geschichte der Familie artikulieren, mag dies manchen heute als skurriles Relikt erscheinen. Und doch entstehen daraus gültige Lebensentwürfe. Einschlägige Untersuchungen zeigen, dass über Generationen planende Familienunternehmen nicht nur wirtschaftlich besonders erfolgreich sind, sondern auch ihre Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern ernster nehmen als nur auf Quartalszahlen (und ihre eigenen Bonuszahlungen) blickende Manager. Unter der Überschrift Resilienz (Beständigkeit) oder Nachhaltigkeit, anderen Modeworten der aktuellen Debatten, scheint also auch einiges f ü r generationenübergreifende Kontinuität zu sprechen. Eine übermäßige Besteuerung von Betriebsvermögen im Erbgang hätte daher beispielsweise vielleicht ungeachtet aller demokratietheoretischen Überlegungen negative Folgen f ü r den Wirtschaftsstandort Deutschland, f ü r Arbeitsplätze und damit f ü r den Wohlstand von viel mehr Menschen als durch eine einschneidende Besteuerung direkt erfasst werden. Schon aus diesem Grund gilt es, sorgfältig abzuwägen. Auch gebietet der demokratische Respekt vor anderen Denkmustern, diese nicht einfach vom Tisch zu wischen. Darüber hinaus behauptet die schon erwähnte Studie von wealth-x, 84% der deutschen Milliardäre seien aktive Philanthropen, was auf einen Zusammenhang zwischen Verantwortung und Sinnsuche einerseits und Vermögen andererseits hindeuten könnte. Aber auch auf der breiteren privaten Ebene ist eine Beschränkung der Übertragbarkeit schon deswegen nicht unbedingt die Lösung der Wahl, weil bürgerschaftliches Engagement, das Spenden von Empathie, Ideen, Reputation, Zeit und Vermögenswerten zugunsten des allgemeinen Wohls inzwischen als Gelingensbedingungen einer modernen, offenen Gesellschaft erkannt ist. Eine breiter angelegte Diskussion in der Gesellschaft erscheint, so lässt sich folgern, unbedingt notwendig. Angesichts offenkundiger Befunde des demographischen Wandels und der nachgewiesenen deutlichen Zunahme der Suche nach Sinnstiftung ist dies von zusätzlicher Bedeutung und Aktualität. In der Folge dieses Spannungsfelds f ü h r e n moderne, individuelle Lebensentwürfe und Veränderungen in der Lebenserwartung dazu, dass klassisches Vererben und Erben nicht mehr selbstverständlich erscheint. Auf der anderen Seite kann der Wunsch, immaterielle und materielle Werte auf die nächste Generation zu übertragen, als

Vorwort

IX

anthropologische Grundkonstante definiert werden, die nicht einfach auf dem Verordnungswege außer Kraft gesetzt werden kann. Vielmehr gilt es, das Ererbte auch unter veränderten Bedingungen und auch unter H i n z u f ü g u n g von Kritik und Veränderung zu verarbeiten, weiter zu entwickeln und wo sinnvoll und möglich weiterzugeben. Die Frage nach dem Weg und der Form, mittels derer dies geschehen kann, muss neu gestellt und vermutlich auch neu beantwortet werden. Das 2011 begonnene Projekt Lebenssinn Et Erbe ist ein interdisziplinäres Forschungs- und Publikationsprojekt, dessen Ziel es ist, sich der Komplexität des Themas diskursiv zu nähern. Es wird von der Universität von Amsterdam und dem Maecenata Institut f ü r Philanthropie und Zivilgesellschaft, Berlin, getragen. Der hier vorgelegte Band ist das vorläufige Ergebnis dieses Projekts. Es geht darin nicht um die Besteuerung, schon gar nicht u m deren rechtes Maß. Und wenn auch ökonomische und fiskalische Fragestellungen keineswegs außer Acht gelassen wurden, wurde doch versucht, diese in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Zu dem Kernteam gehörten daher von A n f a n g an neben zwei Ökonomen ein Psychologe, ein Theologe und ein Politikwissenschaftler. Vertreter weiterer Disziplinen wurden im Laufe der Projektarbeit beteiligt. Zu den Besonderheiten der Bearbeitung gehörte neben der Interdisziplinarität auch die zweifach verwirklichte Intergenerationalität innerhalb des Bearbeiter-Teams: Vater und Sohn, und Vater und Tochter bzw. Schwiegersohn tragen verschiedene Perspektiven bei. Ausgangspunkt des Projekts war die Erkenntnis, dass regelmäßig erst in der dritten Lebensphase die Planung der Übergabe des großen oder kleinen Vermögens, des Unternehmens, der aufgebauten Lebensleistung usw. an die nächste Generation einsetzt, während doch unausgesprochen die Suche nach und Vermittlung von Sinn und Werten viel f r ü h e r eingesetzt hat, ohne dass dies regelmäßig mit der Vererbungsthematik in einen Zusammenhang gestellt wird. Arbeitshypothese ist, dass die zu späte bewusste Befassung mit dem Generationenübergang vielfach eine f ü r alle Beteiligten befriedigende Lösung verhindert oder zumindest erschwert. Lernen, Leben und Weitergeben, dies wurde immer deutlicher, müssen als integrierter, kontinuierlicher und lebenslanger Prozess in den Blick genommen werden. Inhalt des Projekts war daher die Erforschung der Zusammenhänge zwischen selbständiger Lebensgestaltung und der generationenübergreifenden Weitergabe immaterieller und materieller Werte. Beispielhaft werden mehrfach der Unternehmer und seine Gedankenwelt angeleuchtet. Es geht aber nicht ausschließlich um Unternehmer im klassischen Sinn oder um Eliten, sondern letztlich um alle Bürgerinnen und Bürger. Nachdem sich am 27. und 28. Mai 2013 die Bearbeiter im Rahmen eines Symposiums erstmals der Diskussion in einem größeren Kreis von Interessenten gestellt haben, soll nun ein wissenschaftlicher, interdisziplinär angelegter Sammelband die Thematik einem größeren Publikum zugänglich machen. Wissenschaftlicher Anspruch und allgemeine Lesbarkeit sollten, so der Wunsch der Herausgeber, in Übereinstimmung gebracht werden.

X

Vorwort

Der Band wird eingeleitet durch einen knappen Bericht der Journalistin Victoria Strachwitz über die Tagung im Mai 2013. Es folgt ein Blick des Theologen Anselm Bilgri auf den ethisch-religiösen Hintergrund der Verantwortung auch über das eigene Leben hinaus. Rupert Graf Strachwitz, der sich als Politikwissenschaftler seit langem mit dem Phänomen der Philanthropie beschäftigt, setzt sich mit dem Schenken, ebenfalls einer anthropologischen Konstante, auseinander und leitet daraus Anmerkungen zur philanthropischen Komponente von Lebenssinn und Erbe ab. Kai J. Jonas, Sozialpsychologe, geht motivationalen Überlegungen zum eigenen Lebensentwurf nach, die sich dem Erblasser ebenso wie dem Erben selbst stellen und weist auf die Herausforderung hin, diese in einem modernen Umfeld angemessen zu beantworten. Christiane Wempe, ebenfalls Psychologin, beleuchtet die Chancen und Risiken von Erbvorgängen f ü r Familienbeziehungen und stellt sie in den Zusammenhang einer lebenslangen Auseinandersetzung mit diesem Problem. Die Soziologin Miriam Ströing, ausgewiesen im Feld der Vermögenden- und Vermögensforschung, geht dem Verhältnis zwischen Reichtum und Philanthropie im Einzelnen nach. Der Vermögensberater Thomas Landwehr macht auf das Dilemma aufmerksam, dass verwaltetes Vermögen kaum Renditen erwirtschaftet, woraus ein Antrieb zu einer unternehmerischen Aktivität erwächst, die sich auf wirtschaftliche ebenso wie auf philanthropische Tätigkeit erstrecken kann. Hubertus A. Jonas, langjährig erfahrener Berater wirbt f ü r das Hinzuziehen von Beraterkompetenz und einen langfristigen, strategischen Ansatz bei der Bewältigung des Generationenübergangs. Beatrice Rodenstock und FelixMichael Weber, beide Experten f ü r Familienunternehmen, widmen sich der Frage, inwieweit es in Unternehmerdynastien nicht nur um steuerliche erfassbare Vererbungsvorgänge geht, sondern vor allem um spezifische kulturelle Traditionen und ideelle Werte, die in Familienunternehmen von Generation zu Generation weitergereicht werden. Andrea Müller und Kuno Ledergerber greifen interdisziplinär den Zusammenhang zwischen Lebenssinn und Erbe nochmals auf und betonen die Lebensaufgabe, die dem Unternehmerdasein Sinn verleiht. Der Agrarwissenschaftler Georg Block-Grupe blickt auf eine spezielle Form des Familienunternehmens, den landwirtschaftlichen Betrieb, und diskutiert Modelle des Erbübergangs. Durch den interdisziplinären Ansatz lassen sich gewisse Inkongruenzen und Unterschiede in der Begrifflichkeit nicht vermeiden. Um die Authentizität der einzelnen Ansätze und Darlegungen zu erhalten, ist auf Versuche der Einebnung dieser Unterschiede weitgehend verzichtet worden. Auch ist den Herausgebern wohl bewusst, dass in dem vorliegenden Band - ebenso wenig wie in dem Projekt insgesamt - keineswegs die ganze Breite und Tiefe der Thematik abgebildet werden konnte. Es musste vielmehr im Kern d a r u m gehen, wichtige Aspekte und Sichtweisen paradigmatisch herauszugreifen, dadurch die Vielschichtigkeit der Thematik zu verdeutlichen und zu mehr Reflexion darüber anzuregen.

Vorwort

XI

Den Herausgebern ist es abschließend ein besonderes Anliegen, Dank zu sagen: Den weiteren Mitgliedern des Projektteams Anselm Bilgri, Hubertus A. Jonas, Victoria Strachwitz und Felix-Michael Weber, der Carl-Friedrich-von-SiemensStiftung, München, f ü r die großzügige Einladung, das Symposium in ihren Räumen abzuhalten, den Referentinnen und Referenten und anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern f ü r ihre Mitwirkung an diesem spannenden Symposium, Marius Mühlhausen und Lucie Kretschmer f ü r Lektorat, Betreuung und Finalisierung des Manuskripts sowie Thomas Landwehr f ü r die nachhaltige Unterstützung des Projekts. Amsterdam/Berlin, im September 2015

Kai J. Jonas Rupert Graf Strachwitz

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Wie gebe ich weiter? Ein Bericht zum Symposium von Victoria Strachwitz

Tod, Erbe, Lebenssinn und Verantwortungsbewusstsein waren die Themen, mit denen sich rund 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des inter-disziplinären Symposiums „Lebenssinn und Erbe" am 27. und 28. Mai 2013 in den Räumen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München befassten. Sie folgten einer Einladung der Universität von Amsterdam und des Maecenata Instituts f ü r Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Und das war, wie sich herausstellte, höchste Zeit. Tod und Erbe sind Themen, die wieder Platz im Leben finden müssen, die wieder ohne Umschweife angesprochen gehören. Die Tabuisierung der Endlichkeit des Lebens muss überwunden werden, so das Fazit des Symposiums. Das liegt im Sinne jedes Einzelnen, aber auch im Interesse von Rechtsanwälten, Steuer- und Vermögensberatern sowie von Stiftungen. Bis 2020 werden in Deutschland rund 2,6 Billionen Euro vererbt werden. Alleine im Jahr 2013 sollen es geschätzte 254 Milliarden Euro sein, referierte der Berater Hubertus A. Jonas. Und das sind nur die materiellen Werte. Das Thema Weitergeben müsse daher dringend angegangen werden, unterstrich auch Diplomsoziologin Christina Rahn von der Goethe-Universität F r a n k f u r t am Main. Derzeit befassen sich die Menschen in Deutschland, wenn überhaupt, erst in der dritten Phase ihres Lebens mit der Weitergabe ihres ideellen und materiellen Vermögens. Zu spät, meinen Dr. Kai Jonas, Professor f ü r Psychologie an der Universität Amsterdam, und Dr. Rupert Graf Strachwitz, Leiter des Maecenata Instituts, die vor zwei Jahren „Lebenssinn und Erbe" als interdisziplinäres Forschungs- und Publikationsprojekt zusammen mit einem Unternehmensberater, einem Unternehmer und einem Theologen konzipierten. Jetzt stellten die Bearbeiterinnen ihre Arbeitsthesen erstmals zur Diskussion. Wichtig war ihnen der interdisziplinäre und übergreifende Ansatz. So waren d a n n auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums in unterschiedlichen Disziplinen beheimatet: Juristen, Soziologen, Psychologen, Unternehmer, Vermögensverwalter, Politikwissenschaftler und Theologen zählten zu den Tagungsteilnehmerinnen. In einer Sache waren sich alle einig: Das Thema Weitergeben sollte auch außerhalb der Räume der Carl Friedrich von Siemens Stiftung mehr Beachtung finden. Dies gilt auch f ü r die Wissenschaft. Interessanterweise ist Erben und Vererben schon in der Bibel ein Thema, doch in München stellten Theologen wie Anselm Bilgri aus München und Psychologen wie Dr. Christiane Wempe von der Universität Mannheim fest, dass es in ihren Wissenschaftszweigen kaum behandelt wird. Die Vertreter der verschiedenen Disziplinen näherten sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Zunächst galt es, eine Frage zu klären: Stirbt die Fami-

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Victoria Strachwitz

lie aus? Die steigenden Scheidungsraten sprächen beispielsweise für eine sinkende Bedeutung der Familie. „Kinder aus Scheidungsfamilien haben eine viermal so hohe Wahrscheinlichkeit, sich selbst scheiden zu lassen", erklärte Dr. Peter Kaiser, Professor für Psychologie an der Hochschule Vechta. Dies würde das Problem des Weitergebens künftig noch verschärfen. Dem widersprach Dr. Christiane Wempe. „Man kann nicht vom Untergang der Familie sprechen", zeigte sich die Psychologin überzeugt. Das Kinderkriegen sei nach wie vor ein Wunsch junger Leute und zudem ein Schutzfaktor, was die Scheidung einer Ehe betreffe. Die Familie sterbe nicht aus, sie sei heute nur oft anders ausgestaltet. Dabei erinnerte Wempe an die Regenbogenfamilie, die heute viel häufiger vorkomme als früher. „In Erbsituationen ist das hoch problematisch", stellte sie fest. Diesem Trend folgend sollten Erblasser sich besser zeitig mit dem Thema Weitergeben befassen und ihr Testament gestalten. Wempe erklärte den erstaunten Tagungsteilnehmern weiter, dass aktuell nur ein Viertel der Deutschen ein Testament verfasse und das meist erst im Alter zwischen 50 und 60 Jahren. „Bei jeder sechsten Erbschaft gibt es Streit, meist unter Geschwistern", sagte sie. Dies erklärt den dringenden Handlungsbedarf. Spannend vor allem für Vermögensverwalter, Fundraiser und Stiftungsvertreter wurde es, als Dr. Kai Jonas sein jüngstes Forschungsergebnis vortrug. Seine Untersuchung mit Studenten der Universität von Amsterdam hatte ergeben, dass je entfernter der Verwandtschaftsgrad zwischen Erblasser und Erbe ist, desto risikoreicher der Empfänger mit dem Ererbten umgeht. Das Erbe wird dann als weniger wertvoll betrachtet, quasi als Spielgeld. Jonas ist der Meinung, die Frage, woher das Geld kommt, könnte als Marketinginstrument zum Verbraucherschutz oder zur Optimierung von Anlagestrategien und Bankprodukten eingesetzt werden. Auch für Stiftungen sieht er Chancen. Augenzwinkernd gab er den Anwesenden mit auf den Weg: „Wenn Sie Geld erben, bedenken Sie, von wem Sie es erhalten haben, bevor Sie es investieren." Am Ende gehe man sonst risikoreicher mit dem Erbe um, als man sollte. Erblasser sollten sich Gedanken machen, wie sie ihr Lebenswerk weitergeben wollen. Und zwar umfassend. Berater Hubertus Jonas, übrigens der Vater von Dr. Kai Jonas, prangerte an, dass bei der Beratung von Erblassern meist nur Steuer- und Rechtsthemen eine Rolle spielten. Die Maxime sei vor allem, beim Vererben Geld zu sparen. Der Sinn des Lebens und die Werte, die auch weitergegeben werden sollen, rückten damit meist in den Hintergrund. Jonas stellte fest, dass Rechtsanwälte, Steuer- und Bankberater oftmals gar nicht in der Lage seien, mit ihren Mandanten umfassend über den Tod zu sprechen. Sie scheuten das Thema. So böten sie meist hastig Produkte an, mit denen den Erblassern nur vordergründig geholfen sei. Gemeinsam mit seinem Sohn hat Jonas zu diesem Thema aktuell das Handbuch Konfliktfrei vererben: Ein Ratgeber für eine verantwortungsbewusste Erbgestaltung beim Hogrefe Verlag veröffentlicht.

Wie gebe ich weiter? Ein Bericht zum Symposium

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Um was aber handelt es sich bei dem Lebenssinn, der k ü n f t i g auch in Beratungsgesprächen mehr zum Tragen kommen sollte? Diesem Thema widmete sich der zweite Tag des Symposiums. Ist der Sinn des Lebens ein Dreiklang von Lernen, Leben, Weitergeben? Hat das Leben darin heute eine weitaus höhere Bedeutung als das Weitergeben, wie Dr. Rupert Graf Strachwitz bedauerte? Kann Philanthropie ein Weg sein, diesen Dreiklang wiederherzustellen? Ist der Sinn des Lebens, das eigene Leben anzunehmen, wie Theologe und Berater Anselm Bilgri vorschlug? In der Bibel heißt es: „Seid fruchtbar und mehret Euch." Dies sei auch auf den menschlichen Geist anzuwenden, denn so f ü h r e man ein sinnvolles Leben, meinte Bilgri. Miriam Ströing, Doktorandin an der Universität Potsdam, stellte in München ihre aktuelle Studie zum Thema Reichtum und gesellschaftliche Verantwortung vor. Ihr Vortrag brachte die Sache mit der Bemerkung auf den Punkt, beim Sinn des Lebens gehe es um Verantwortungsbewusstsein. Vor allem Kinderlose scheinen sich Gedanken zu machen, wie sie ihrem Erbe und damit ihrem Leben Sinn geben können. Ströings Ergebnisse zeigen, dass Kinderlose im Erbe noch immer zu 80 Prozent die Familie bedenken. Wer aber annimmt, dass Familien mit Kindern ausschließlich die Nachkommen bedenken, der irrt. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Mitverantwortung steigt, fand Ströing heraus. So ließen auch Familien mit Kindern gemeinnützige Organisationen an ihrem Erbe teilhaben. Grundsätzlich lasse sich sagen, dass höhere Bildung, höheres Alter, Kinderlosigkeit und ausgeprägte Religiosität ein Engagement über den Tod hinaus wahrscheinlicher machen, so die Doktorandin. „Philanthropie als Vermächtnis ist keine Ausnahme", sagte sie. 40 Prozent der von ihr Befragten planten, über den Tod hinaus gemeinnützig tätig zu sein. Ein Schwerpunkt der Tagung in München lag auf den Familienunternehmen. Zum einen sind 95 Prozent der Unternehmen in Deutschland in Familienhand. Zum anderen - und das ist in diesem Zusammenhang wichtig - sind dort Lebenssinn, Werte und Vermögen oft sehr eng aneinander gekoppelt. Das Weitergeben eines Familienunternehmens will besonders gut vorbereitet sein. Der Unternehmer Dr. Felix-Michael Weber ging der Frage nach, weshalb die Post-Gründergeneration ein Unternehmen oftmals weiterführt, obgleich es auch eine Last darstellen kann. Die Verantwortung sei groß, das Vermögen gebunden und nicht diversifiziert. Die Erben müssen also einen Sinn darin sehen, das Erbe anzutreten. In seiner Untersuchung dazu war er auf vier Gründe gestoßen, w a r u m Nachkommen ein Unternehmen übernehmen: Das Vermögen der Familie könne gebündelt besser verwaltet werden, der Zusammenhalt der Familie werde durch die Weiterführung der Firma gesichert, das Unternehmen biete der Familie die Gelegenheit zum Austausch und die Erben sehen eine Verpflichtung gegenüber den Mitarbeitern und dem sozialen Umfeld.

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Victoria Strachwitz

Dr. Andrea Müller von der Zürcher Hochschule f ü r Angewandte Wissenschaften wies d a r a u f h i n , dass sich bei der Art und Weise, wie Unternehmen an die nächste Generation übergeben werden, schon einiges getan habe. Als Negativbeispiel berichtete sie von einem Unternehmer, der mit seinem Sohn auf den Berg fuhr. „Unten in der Gondel sagte er zum Junior: ,Und wenn wir oben aussteigen, will ich wissen, ob du das Unternehmen übernimmst.' So darf es keinesfalls laufen", resümierte Müller. Auch deshalb bedürfe es Beratungsangebote. Sie stellte dazu ein von ihr mit-entwickeltes Prozessmodell der Unternehmensnachfolge vor. Das Thema Tod und Weitergabe dürfe nicht länger tabuisiert werden, war auch ihre Forderung. Was die Unternehmensnachfolge betrifft, gehe die Schweizer Bank UBS das Thema offensiv an, so Müller. Die Bank werbe mit dem Slogan: „Entscheiden Sie selbst, wann Sie aussteigen möchten." In anderen Worten: Befassen Sie sich mit der Weitergabe! Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift für das Recht der Non Profit Organisationen (npoR).

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Weiterleben nach dem Tod Theologische Aspekte des Vererbens von Anselm Bilgri

„Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst." Das sagte der Liedermacher Konstantin Wecker in einem Zeitungsinterview im Herbst 2011 und trifft damit prima vista den Nagel auf den Kopf. Zumindest gibt er die weitverbreitete Meinung unserer Zeit wieder. Es geht im Leben um das Hier und Heute, um seinen Genuss, um das Erleben des Lebens. Sich zu viele Gedanken um die Zukunft zu machen, führt nur zu Kummer und Sorge, wenn nicht gar zu Verzweiflung und Überdruss. Vor allem ein Punkt in der Zukunft jedes menschlichen Individuums wird weitgehend ausgeblendet: das Ende des biologischen Lebens, der unausweichliche Tod. Dabei kann ihm kein Mensch entrinnen. Der Tod findet - wie auch die Geburt - seit der exorbitanten Entwicklung der Medizin nicht mehr im unmittelbaren Umfeld der Familie statt, sondern ist ausgelagert in Krankenhäuser oder in eigens dafür eingerichtete Sterbehospize. Wir erleben das Sterben nicht mehr. War der Tod zu früheren Zeiten ein normaler Begleiter des Lebens, ist er heute zu einer verschämten Chimäre geworden. Man spricht nicht über ihn und man versucht, nicht an ihn zu denken. Im Gegenteil: Wir wünschen uns ein langes Leben, möglichst in körperlicher und geistiger Gesundheit. Die erste Frage bei Begrüßungen lautet: „Wie geht's?" Der Wunsch beim Verabschieden heißt: „Gesundheit ist das Wichtigste!" Sollte man doch einmal an den eigenen Tod denken, dann wird die Hoffnung geäußert, es möge schnell und schmerzlos, möglichst während des Schlafs geschehen. Für den Menschen vergangener, zugegebenermaßen religiös geprägter Zeiten war das eine Horrorvorstellung. Man versuchte, sich ein Leben lang auf den Tod vorzubereiten; ein plötzliches Sterben - ohne Vorbereitung, ohne die „Tröstungen der Kirche" - hätte bedeutet, das ewige Leben aufs Spiel zu setzen. In den alten Gebetbüchern gab es lange Zeit noch eine „Übung vom guten Tod". Schon in der Antike war die ars moriendi, die Kunst zu sterben, eines der Hauptthemen der Ethik von einem erfüllten und gelungenen Leben, der vita beata der Römer, beziehungsweise der Eudämonie der Griechen. Der Ahnherr der nachmetaphysischen Philosophie Martin Heidegger definiert den Tod folgendermaßen: „Der Tod ist die eigenste, unbezügliche, unüberholbare, gewisse und unbestimmte Möglichkeit des Daseins." (Heidegger 2006: 258) Eigenst ist der Tod, weil er durch Andere nicht vertretbar ist. Kein Dasein kann einem anderen Dasein sein Sterben und damit den Tod abnehmen. Selbst wenn sich jemand dazu entscheidet, für einen anderen Menschen in den Tod zu gehen,

6

Anselm Bilgri

bedeutet dies nicht, dass ihm der Tod abgenommen würde. Lediglich der Zeitpunkt des Todes wird damit vielleicht verschoben. Unbezüglich ist er deshalb, weil er alle Bezüge, das heißt alle Beziehungen zu anderem Dasein und der Welt löst. Es gibt keine Möglichkeit mehr, mit anderen und in der Welt zu sein, ihnen vielleicht vom Tod zu erzählen oder eine Handlung rückgängig zu machen, die zum Tode geführt hat. Das gilt sowohl f ü r den, der tot ist, wie auch f ü r jene, die zurückbleiben. Unüberholbar meint, dass alle anderen Möglichkeiten von Dasein immer f r ü h e r sind als der Tod. Wer nach seinem Tod in irgendeiner Weise handeln würde, wäre nicht tot. Dieser Punkt ist jener, der am deutlichsten macht, was der Tod als ZuEnde-Sein bedeutet: Der Tod als die letzte Möglichkeit, die Dasein überhaupt hat, nämlich tot zu sein, die Möglichkeit zu einer anderen Seinsweise, einer Leiche beispielsweise, einer Weise, in der es dem Dasein nicht mehr um sein Sein gehen kann. Damit wird der Tod die Möglichkeit zur Unmöglichkeit. Gewiss ist der Tod, weil wir ihm nicht entkommen. Er ist also nicht nur eine wahrscheinliche Möglichkeit von vielen, aus denen gewählt werden kann. Heidegger meint damit, dass wir in jedem Falle aufhören werden zu Sein. Mit dieser Gewissheit schließt er an ein weiteres Attribut des Todes an. Unbestimmt ist der Tod, weil wir nicht wissen können, w a n n er eintritt. Möglich ist er zu jeder Zeit. Selbst ein zum Tode Verurteilter mag zwar annehmen, dass er als finaler Höhepunkt des Sterbens jeden Moment eintreten kann, aber er k a n n nicht wissen, w a n n . Hinzu kommt, dass ich, wenn ich tot bin, nicht mehr weiß, w a n n der Tod eingetreten ist. Wüsste ich dies, wäre ich nicht tot. Dies alles empfinden wir in einer normalerweise diffusen Gemengelage von Gedanken und Gefühlen, wenn wir uns mit dem Tod, also dem Ende des (diesseitigen) Lebens, beschäftigen. Was hinter dem Tor des Todes liegt, ist f ü r uns terra incognita aber auch terra ignorabilis - ein gleichermaßen unbekanntes wie unerfahrbares Land. Dem Unbekannten gegenüber hat der Mensch trotz aller Neugier eine Grundempfindung: Angst. Deshalb hat die Menschheit angesichts der Todesangst verschiedene Methoden der Angstbewältigung entwickelt. Sicher gehört dazu auch das Phänomen der Religion. Diese hat nach den gängigen Auffassungen der Religionswissenschaften vor allem zwei Funktionen, Transzendenzerklärung und Kontingenzbewältigung. Beides ergibt sich aus dem Spezifikum der menschlichen Existenz. Der Mensch hat als vermutlich einziges Lebewesen die Fähigkeit der Reflexion über sich selbst. Er k a n n geistig aus sich heraustreten und sich selbst beobachten. Das geht so weit, dass er sich in die Gedankenwelt Anderer hineinversetzen kann. Evolutionspsychologen bezeichnen dies als Fähigkeit zur Mentalisierung. Damit wird der Tod zum Problem, weil der Mensch sich mit ihm und seinen Folgen befassen muss. Die Religion in all ihren Erscheinungsformen bietet d a f ü r die Lösung eines irgendwie gearteten Weiterlebens nach dem physischen Tod an. War es Menschen vergangener Epochen, vor allem wegen ihres

Weiterleben nach dem Tod - Theologische Aspekte des Vererbens

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selbstverständlichen Glaubens an ein jenseitiges Leben und dessen Priorität vor dem hiesigen, leichter gegeben, sich in „Andachten für einen guten Tod" auf diese radikalste aller Lebenswenden vorzubereiten, ist uns heute mit der f ü r den aufgeklärten Menschen konstitutiven Anfechtung des Glaubens an ein Jenseits ein derart unbefangener Umgang mit dem Tod nicht mehr möglich. Deshalb wird auch alles, was mit dem Tod zu tun hat, weitgehend beiseitegeschoben. Dazu gehört auch die Frage nach dem Vererben, der rechtzeitigen Regelung von Nachlass und Nachfolge.

Wahrnehmung von Zeit als menschliches Spezifikum Der Tod weist auf die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens hin. Vergänglichkeit ist ein Aspekt der Zeit. Der Mensch nimmt Zeit als Veränderung im Raum wahr; damit kann man Zeit auch messen, wenn etwa der Zeiger einer Uhr weiterrückt. Die Veränderung drückt sich bei Lebewesen im Phänomen des Alterns aus. Dies empfinden Menschen zunehmend als bedrohlich. Der Jugendwahn der vergangenen Jahrzehnte hat das Älterwerden desavouiert. Und doch gehört das Altern und Vergehen zur Evolution. Nur weil jede Generation ihre Gene mit kleinen Mutationen weitergibt und durch den eigenen Tod Platz macht für neue, besser angepasste Generationen, kann Entwicklung vonstattengehen. Der Mensch macht die Erfahrung, dass es Lebewesen gibt, die ihn überleben, und Dinge, deren Lebensdauer länger als ein Menschenleben währt. Wenn diese Dinge zu seinem Eigentum gehören, möchte er, dass auch seine Verfügungsgewalt über sie den eigenen Tod überdauert. Zumindest die letzte Verfügung, in wessen Eigentum sie übergehen sollen, möchte er selbst treffen. Auch und gerade die Tatsache, dass Immobilien und anderer werthaltiger Besitz von Generation zu Generation weitergegeben werden, macht Geschichte, Tradition und damit Zeit erfahrbar. Die Götter des homerischen Olymps werden als die Unsterblichen bezeichnet. Von ihnen berichtet der Mythos zwar einen Anfang, aber sie kennen kein Ende, keine „Götterdämmerung" wie im germanischen Walhall. Der Gott der antiken Philosophen war nicht nur unsterblich, sondern ewig. Er ist das „göttliche Prinzip", ohne A n f a n g und Ende. In der Verbindung mit Jahwe, dem Gott der Bibel, der sehr persönlich und in das Weltgeschehen eingreifend gedacht und geschildert wird, übernimmt er, dann wieder ähnlich wie Zeus und Jupiter, eine moralische Wächterfunktion über das rechtgeleitete Handeln der Menschen. Er mahnt vor allem in prophetischer Zeit zu sozialer Verantwortung und Rücksicht auf die Bedürftigen, Recht- und Besitzlosen. Exemplarisch zusammengefasst ist diese Auffassung im berühmten Spruch beim Propheten Micha: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott." (Micha 6,8) Die Wende der Achsenzeit von einer kultischen zu einer ethischen Verantwortung

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Anselm Bilgri

des Menschen wird darin deutlich. Der ewige, überzeitliche Gott ist damit auch Garant der sozialen Verantwortung des Haushaltsvorstandes über die beschränkte Zeit seines Lebens hinaus. Die Lebenszeit als eine grundsätzlich endliche wird damit auch zur Zeit des lebenslangen Lernens. Dieses Lernen ist zuerst ein Einüben eines sinnvoll gelebten Lebens. Die Antike nannte das Ziel eines derart glückenden Lebens „eudaimonia". Modern gefasst würden wir von einem gelingenden, erfüllten Leben sprechen. Dafür stellt die klassische Philosophie verschiedene Modelle zur Verfügung, die in den herkömmlichen „Schulen" gelehrt und praktiziert wurden. Allen gemeinsam ist die Erlangung der „Ataraxie", der Seelenruhe, die auf verschiedene Weise erlangt werden kann. Die Stoa versucht sie zu erreichen, indem sie die Vernunft die Affekte beherrschen lässt und das als naturgemäßes Leben propagiert. Die Kyniker, allen voran Diogenes in der Tonne, predigen die vollkommene Bedürfnislosigkeit. Für Epikur wird sie erreicht, indem der Mensch einige Grundängste überwindet: die Furcht vor dem Leiden, vor den Göttern und vor dem Tod. Epikur ist in seiner Behandlung des Themas am ehesten unser modernen Lebensauffassung ähnlich. In einem Brief an einen Freund schreibt er schon im 4. Jahrhundert vor Christus, dass der Weise weder das Leben zurückweist, noch das Nichtleben fürchtet. Angesichts des Lebensendes muss der Mensch ein gutes Leben führen. Gut bedeutet hier: sinnvoll, in sich ruhend, ausgeglichen - ein erfülltes Leben. Der Tod und die gedankliche Beschäftigung mit ihm helfen dem Menschen dabei, sich schon in diesem Leben um die wahre Glückseligkeit zu bemühen. Wenn du Abschied nimmst von diesem Leben, musst du ein sinnvoll gelebtes Leben zurücklassen können, das Bestand hat vor dem, was immer danach kommen mag. Daraus ließe sich eine Art ethischer Imperativ formulieren: Handle stets so, dass dein Tun und Lassen unter dem Aspekt der Ewigkeit (sub specie aeternitatis) Bestand hat. Dies erreicht man schon in der Philosophie durch Einüben (griechisch „askesis"). Der Begriff der Askese sollte in der christlichen Theologie eine Erweiterung bei gleichzeitiger Einengung erfahren. Erweitert wurde er durch den Verweis auf die Transzendenz: Das hiesige Leben ist ein Einüben f ü r das eigentliche Leben, das erst im Jenseits, in der Ewigkeit Gottes, stattfindet. Eingeengt wurde der Begriff, weil er seinen vorbereitenden Charakter immer mehr zugunsten eines Eigenwertes verlor. Askese wurde zur Bedingung eines eigentlich geschenkten Lebens mit Gott, statt dass sie eine Folge davon blieb. Diese Auseinandersetzung durchzieht die theologischen Diskussionen durch beide Jahrtausende der Geschichte des Christentums. Die Polemik der Reformatoren gegen die „Werkerey" des „Papismus" und die Betonung der Rechtfertigung allein aus dem Glauben ist nur die Speerspitze dieser Auseinandersetzung um die göttliche „paideia", das Lern- und Lehrprogramm des Religiösen und Spirituellen. Auch der Religion in ihrer christlichen Ausprägung geht es im Letzten um ein gelingendes und erfülltes Leben, das ich an seinem natürlichen Ende, dem Tod, in die Hände Gottes zu übergeben

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habe. Er allein und keine andere Instanz wird darüber richten, ob es sinnvoll und gerecht gelebt wurde. Der Glaube an einen liebenden Gott geht davon aus, dass er es auch „richten", das heißt zurechtrücken wird. Damit wird die Zeit des Lernens auch zu einer Zeit ethisch und moralisch verantworteten Handelns und eines gerechten Umgangs mit den sogenannten zeitlichen Gütern.

Vom Erben in der Bibel Es ist erstaunlich, dass ein derart wichtiger Aspekt des menschlichen Lebens wie das (Ver-)Erben in der Ethik der christlichen Konfessionen nur ein Randdasein führt. So verhandelt die katholische Moraltheologie und Soziallehre vor allem das Thema Gerechtigkeit und soziale Verantwortung. Das Erbe soll gerecht unter den Erben aufgeteilt werden, die Erbschaftssteuer soll die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität garantieren. Eigenartigerweise spielt der Themenbereich des Erbes im Grunddokument des Christentums, der Bibel, eine gar nicht so geringe Rolle: im Neuen Testament eine fast ausschließlich symbolische, im Alten Testament auch eine sehr reale. Schon die Benennung der beiden Teile der Bibel in Altes und Neues Testament weist auf den Bedeutungszusammenhang hin. Eine interessante Wort- und Sinngeschichte findet sich in einer Kette von Übersetzungen. Das hebräische Wort f ü r Bund (berit) wurde ins Griechische mit dem Term diatheke übersetzt. Diatheke hat die Bedeutung „Bündnis", aber auch „Anordnung" und schließlich „letzter Wille". Dafür steht das lateinische „testamentum". Das Alte Testament, für das heutige Theologen lieber die Formel „Erster Bund" verwenden, um die Konnotation von „alt" als „vom Neuen überholt" zu vermeiden, enthält wenige positiv gesetzte erbrechtliche Bestimmungen. Das Erbrecht wird vor allem durch Brauch und Herkommen geregelt. Der Erstgeborene des Mannes erhält den doppelten Anteil. Damit wird der wirtschaftliche Fortbestand der Sippe gesichert. Töchter erben nur ausnahmsweise. Bleibt eine Ehe kinderlos, fällt das Erbe nicht an die Ehefrau, sondern an den nächsten männlichen Verwandten. Die sogenannte „Leviratsehe", bei der der Bruder des verstorbenen Gatten diesem mit dessen Witwe Nachkommen zeugen soll, gehört in diesen Zusammenhang. Aus den erzählenden Teilen des Alten Testaments wie den Patriarchengeschichten lassen sich gelegentliche Abweichungen von diesen Rechtssätzen erschließen. Der Erblasser trifft kurz vor seinem Tod Anordnungen über die Verteilung seines Besitzes und bestimmt den Haupterben. Man denke nur an Isaaks Bevorzugung seines Sohnes Jakob gegenüber dem erstgeborenen Esau, der wegen eines Linsengerichts hintergangen wurde. Söhne von Nebenfrauen wurden häufig übergangen. Ismael, der Sohn der Sklavin Hagar, wurde mit dieser von Abraham aus dem Zelt vertrieben. Er sollte in der Überlieferung des Islam

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z u m Stammvater der A r a b e r werden. Erst in der hellenistischen Zeit ist auch die Ehefrau als Erbin belegt. Schon im Alten Testament wird der Begriff des Erbes in ü b e r t r a g e n e r Bedeutung eng v e r k n ü p f t mit dem Land, das Israel als von Gott den Vätern verheißenes zugeteilt wurde. Das Land wird mit dem darin lebenden Volk identifiziert. Israel selbst ist daher Gottes Erbbesitz. Im Neuen Testament steht das Erbe in Beziehung zu dem von Jesus v e r k ü n d e t e n Reich Gottes. Dieser Herrschaftsbereich Gottes ü b e r n i m m t die Verheißungen, die im Alten Bund an das Land u n d Volk Israel gebunden sind. So heißt es in einer der Seligpreisungen der Bergpredigt: „Selig die S a n f t m ü t i g e n , d e n n sie werden das Land erben." (Matthäus 5, 5) Für die christliche Gemeinde ist n a c h Ausweis eines Gleichnisses Jesus als der Sohn Gottes der Erbe des Weinberges, eines alten Bildes f ü r Israel. Für Paulus ist Christus der Erbe der dem A b r a h a m gegebenen Verheißungen. Die ihm Zugehörigen sind damit ebenso N a c h k o m m e n A b r a h a m s und Erben der Verheißung wie Söhne und Erben Gottes. Sie sind nach einer Formulierung des Epheserbriefes Miterben Christi. Dieses Bild vom Erbe Gottes ist streng logisch gedacht nicht stringent, da der Tod des Erblassers nie eintreten wird. Es geht wohl eher u m die Rechte des Erstgeborenen nach alter jüdischer Tradition - daher auch die theologische Aussage, dass Jesus der Erstgeborene des Vaters sei. A n seinen A n r e c h t e n auf die Bürgerschaft im Reich Gottes h a b e n seine Miterben, die ihm Zugehörigen, seine Brüder u n d Schwestern, Anteil. In der Theologiegeschichte wird das Thema Erben in einem heute nicht mehr sehr populären Z u s a m m e n h a n g gebraucht, n ä m l i c h in der Lehre von der sogen a n n t e n Ur- oder Erbsünde. Zu Beginn der Geschichte des Christentums w u r d e n erwachsene Menschen durch die Taufe in die Kirche a u f g e n o m m e n , die durch die V e r k ü n d i g u n g des Glaubens die Entscheidung gefällt hatten, den Glauben an Christus a n z u n e h m e n . Die Taufe bedeutete eine bewusste Abkehr vom vorherigen heidnischen Leben und H i n w e n d u n g zu einem Leben gemäß der Lehre Christi. Beim Taufakt w u r d e symbolisch die Befleckung durch die vorher b e g a n g e n e n Sünden abgewaschen. Schon bald k a m der Brauch auf, auch Kinder bereits kurz n a c h der Geburt zu t a u f e n . Was w u r d e aber bei Kleinkindern „abgewaschen", die noch gar nicht f ä h i g w a r e n , zu sündigen? Hier entstand, angeregt durch Ged a n k e n aus den Briefen des Apostels Paulus, das theologische Konstrukt einer seit A d a m dem Menschen vererbten Ursünde, die durch den bloßen Z e u g u n g s a k t weitergegeben wird. Dieser Gedanke hatte zwei Konsequenzen: Erstens b e k a m der Z e u g u n g s a k t u n d d a m i t die Sexualität insgesamt einen negativen Beigeschmack. Zweitens w u r d e die Kindertaufe zur normalen Form des Eintritts in die Kirche. Eltern hatten A n g s t , ihr Kind könne noch mit der Erbsünde b e h a f t e t sterben u n d so des ewigen Heils verlustig gehen.

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Im Z u s a m m e n h a n g mit der Taufe wird auch ein weiteres Rechtsinstitut der Antike b e m ü h t : die Adoption. Vor allem im römischen Rechtskreis w a r die Adoption ein beliebtes u n d h ä u f i g angewandtes Rechtsmittel, u m die Rechtsnachfolge innerhalb von Familien zu regeln. Ein (meist) erwachsener M a n n w u r d e an Sohnes statt a n g e n o m m e n und garantierte so die Kontinuität einer Familie u n d deren Besitzes. Das Christentum wendet dieses Bild auf die Taufe an: Der Neophyt wird von Gott an Kindes statt a n g e n o m m e n u n d damit aller Rechte u n d Pflichten eines Erben teilhaftig: „Du wirst das Reich erben [...]".

Weiterleben nach dem Tod Im weitesten Sinn hat der Themenbereich des Erbes auch etwas mit der Vorstell u n g vom Weiterleben nach dem Tode zu t u n . Es gehört zu den ältesten religiösen Vorstellungen des Menschen, dass sein Geist beziehungsweise seine Seele den physischen Tod des Körpers überdauert. Schon im Alten Ä g y p t e n w a r e n detaillierte Schilderungen des Weges der Seelen im Jenseits verbreitet. Die P y r a m i d e n und die M u m i e n in den Museen legen heute noch Zeugnis ab von der Bedeutung des Jenseitsglaubens am Nil. M a n versuchte, im Diesseits beständige u n d fortdauernde Zeichen der Ewigkeit zu setzen. Die Völker des Vorderen Orients h a t t e n dagegen ähnlich wie die Griechen und Römer n u r eine sehr s c h e m e n h a f t e Theorie über das Weiterleben des Menschen nach seinem Ableben. Die „scheol" der Israeliten w a r ähnlich wie der „hades" ein Schattenreich, das gerade kein Leben bezeichnete. Das eigentliche Fortleben des Familienoberhauptes geschah in seinen Kindern, n ä h e r h i n im Erstgeborenen. Deshalb ist bis heute im J u d e n t u m ein eheloses beziehungsweise kinderloses Dasein von negativem Wert. Im S p ä t j u d e n t u m k a m dazu noch die A u f f a s s u n g , der Messias werde aus dem Volk erstehen; er könnte eines von den eigenen Kindern sein. Dies verstärkte die moralische Verpflichtung, f ü r (männliche) Nachkommen zu sorgen. Mit der starken Stellung des Erstgeborenen w a r damit auch die Sicherung des Familienbesitzes v e r b u n d e n . Er ü b e r n a h m das Eigentum, aber auch die Verpflicht u n g , f ü r die Angehörigen der Familie zu sorgen. Die Familie setzte sich nicht n u r aus den Blutsverwandten z u s a m m e n ; der gesamte Haushalt samt den Knechten, Mägden, Sklaven („famuli") u n d dem Vieh w u r d e der Obhut des neuen Familienoberhauptes übergeben. Wie oben schon e r w ä h n t , gab es in biblischer Zeit n u r ein r u d i m e n t ä r e s Erbrecht, das allerdings im durch Brauch u n d Herkommen geregelten Familienrecht seinen R a h m e n fand.

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Planvolles Vererben als Konkretisierung des Liebesgebots Schon im Alten Testament, aber besonders im Neuen Testament und daraus resultierend und nochmal verstärkt im Koran entsteht die Vorstellung eines göttlichen Gerichts nach dem Tod des Individuums. Ist dies zur archaischen Zeit noch sehr verdinglicht und hebt auf die Korrektheit des äußeren rituellen Vollzugs ab, nach dem der Mensch beurteilt wird, verlagert sich der Beurteilungsmaßstab in der Achsenzeit, sprich im Alten Testament zur Zeit der Propheten ins Innere, ins Gewissen des Menschen und hier wieder auf sein Verhältnis zum Mitmenschen. Ist der „Nächste" im Judentum zunächst tatsächlich der Angehörige der eigenen Sippe, so wird dies im Christentum ausgeweitet auf die Glaubensgeschwister, die auch anderen Völkern und Ständen angehören können, dann auf jeden Menschen, der mir nahesteht oder im Augenblick nahekommt und schließlich bei Jesus radikal sogar auf die Gegner und Feinde. Die große Gerichtsrede, die beim Evangelisten Matthäus überliefert wird, rückt die Maßstäbe, die Jesus anwendet f ü r die Beurteilung ob ein Leben sinnvoll geführt worden ist, ins rechte Licht: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, (wörtlich: „erbt das Reich") das seit der Erschaffung der Welt f ü r euch bestimmt ist [...] Was ihr f ü r einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Matthäus 25, 3 1 - 4 6 ) Auf den Punkt bringt Jesus seine Ethik und damit den Maßstab f ü r gelingendes Leben in seinen beiden Kurzformeln, mit denen er „das ganze Gesetz und die Propheten" zusammenfasst, dem Hauptgebot der Liebe und der goldenen Regel: „Liebe Gott von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das größte und wichtigste Gebot. Aber gleich wichtig ist ein zweites: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!" (Matthäus 24, 44 ff.) „Behandelt die Menschen so, wie ihr von ihnen behandelt werden wollt." (Matthäus 7, 12) Aus diesen christlichen Grundregeln f ü r gelingendes menschliches Zusammenleben, vulgo Glück, ergibt sich die (Selbst-)Verpflichtung, f ü r andere genauso zu sorgen wie f ü r sich selbst. Die Selbstliebe ist dabei übrigens der Maßstab f ü r die Nächstenliebe, nicht umgekehrt! Damit ist auch implizit die Sorge f ü r die Nächsten über den Tod hinaus gemeint. Damit sind die „Nächsten" in der ganzen Bandbreite der Bedeutung zu interpretieren: Zuerst die Angehörigen, d a n n diejenigen, die einem darüber hinaus am Nächsten stehen, schließlich jene, die aktuell mit ihren Bedürfnissen zeitlich die Nächsten sind. Es handelt sich um konzentrische Kreise, die „ver-sorgt" werden sollen. („Sorge" hier im Sinne von Martin Heidegger, der sie als Grundkonstante menschlichen Handelns sieht.) Damit deckt sich die bürgerschaftlich geforderte Philanthropie mit dem ethischen Anspruch des Christentums und mit der sozialen Verantwortung von Besitz, Eigentum und Vermögen in unseren liberalen und sozialen Verfassungen. Sicher hatten die Menschen früherer Zeiten nicht weniger Angst vor dem Tod als wir heute. Aber sie verdrängten diese Angst nicht, sondern beschäftigten sich ein

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Leben lang damit. Unser Verdrängungsmechanismus bringt uns auch dazu, die Regelung des Nachlasses auf die lange Bank zu schieben, denn diese konfrontiert uns mit der Frage, was nach unserem Tod mit der materiellen oder ideellen Hinterlassenschaft geschehen soll. Religionen geht es nicht nur um die Hilfe zu einem ethischen und damit gelingenden Leben im Hier und Heute, sondern um die Letztverantwortung f ü r das eigene Leben. In den Religionen des Altertums konnten viele Dinge und Begebnisse des Alltags dem Wirken der Götter und Geister zugeschrieben werden, die selbst wiederum dem Schicksal unterworfen waren. Das Christentum hat im Gegensatz dazu den Begriff der Gnade und des Segens kultiviert, also die grundsätzliche Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung und damit zum Menschen, der religiös als Zielpunkt dieser Schöpfung gedeutet wird. Angesichts dieser herausragenden Stellung und der damit verbundenen Gottebenbildlichkeit bekommt der Mensch aber auch persönliche Verantwortung f ü r die Gestaltung seines Lebens angesichts der menschlichen Entscheidungsfreiheit. Er muss dieses Leben moralisch gestalten, um die ewige Vollendung des Himmels zu erlangen, der j a nichts anderes als die Chiffre f ü r die unmittelbare Gottespräsenz ist. Diese seligmachende Gottesschau (visio beatifica) wird in der Theologie der Frühzeit sogar als Vergöttlichung beschrieben. Es geht um nicht mehr oder weniger als das Weiterleben nach dem Tod. Der moderne Mensch hat mit der fraglosen A n n a h m e eines Jenseits Schwierigkeiten, da dessen Existenz nicht nachzuprüfen ist. Aber gerade in der Unmöglichkeit, diese Frage definitiv zu klären, erhebt sich nur umso lauter der unstillbare Wunsch eines Weiterlebens. Die Regelung des eigenen Nachlasses ist nun eine Möglichkeit, f ü r eine sehr diesseitig erfahrbare Form nach dem eigenen Tod noch weiter zu existieren. Nicht nur in der bloßen Erinnerung der Hinterbliebenen, auch in der positiv gestimmten Erinnerung, zu der eine wohlgeordnete Regelung des eigenen Nachlasses f ü h r t , vielleicht sogar in der Gründung einer Stiftung, eröffnet sich diese Möglichkeit. Jeder Mensch vererbt etwas und sei es nur die Aufgabe, das Begräbnis zu organisieren. Deshalb ist es ein Zeichen der Verantwortung, sich schon zu Lebzeiten darum zu kümmern. Je größer der Umfang der Erbmasse ist, umso größer ist auch die Verantwortung. Dies r ü h r t schon vom Grundsatz der sozialen Bindung des Eigentumsrechtes her. Im Artikel 14 des Grundgesetzes der Bundesrepublik, der auch das Erbrecht garantiert, heißt es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Dieser Auftrag, dem Gemeinwohl zu dienen, wird sicher im Besonderen dadurch erfüllt, den Rechtsfrieden durch ein wohlüberlegtes Testament zu wahren. Viele Menschen schieben die Regelung ihres Nachlasses auch deshalb hinaus, weil sie ihre Erben ganz besonders und detailliert auswählen wollen. Bei unvorhergesehenem Eintritt des Erbfalls tritt d a n n aber die gesetzliche Erbfolge in Kraft, die man gerade vermeiden wollte. Dies f ü h r t oft zu nachträglicher Enttäuschung, weil vorher durch Andeutungen Hoffnung verbreitet wurde.

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Fazit Worin liegt nun der Sinn des Lebens? Wirklich nur in sich selbst? Von Madame Pompadour wird das Wort überliefert: „Après nous le déluge!" (Nach uns die Sintflut!) Heute gebrauchen wir dies als geflügeltes Wort im Sinne von: Was interessiert mich das, was nach mir kommt! Eine derart wenig nachhaltige Denkweise hat keine Zukunft mehr. Für viele Menschen gehört zum Sinn des Lebens gerade die Sorge f ü r das Leben nachkommender Generationen. Da der aus der Forstwirtschaft kommende Begriff der Nachhaltigkeit inflationär gebraucht wird, bietet sich eher das Attribut „dauerhaft" als Substitut an. Auch im Bereich der Wirtschaft galt bis zum Triumphzug des shareholder value der Gedanke des generationenübergreifenden Bestandes eines Unternehmens als ein wichtiges Zeichen des ökonomischen Erfolgs. Mit welchem Stolz tragen Firmen die Jahreszahl ihrer Gründung im Logo, wenn sie mindestens zwei Generationen zurückliegt. Das Erbe bewahren, es weitergeben, die Idee in die Z u k u n f t hinein lebendig erhalten, das ergibt Sinn f ü r s eigene Leben. Damit kann man auch den A u f t r a g aus dem uralten Schöpfungsmythos der Bibel erfüllen: Seid fruchtbar und vermehret euch. Das ist nicht nur im Sinn der Fortpflanzung und des Weitergebens der Gene und damit im Sinn der Evolution gemeint, es ist auch auf die Fruchtbarkeit des menschlichen Geistes und seiner Tätigkeit anzuwenden. Die Verantwortung wirkt über das beschränkte eigene Leben hinaus. Und damit ist auch das grundlegende ethische Prinzip der christlichen Tradition f ü r ein gelingendes und erfülltes Leben zu realisieren - f ü r den Nächsten, den Mitmenschen und den überschaubaren Teil der Menschheit, den das eigene Umfeld bietet, etwas zu t u n . Zumindest so viel, wie m a n f ü r sich selbst zu t u n bereit ist.

Literatur Heidegger, M. (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.

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Leben - Lernen - Weitergeben Wir durchleben eine ausgedehnte Prüfungsphase, in der es darum geht, zu ergründen, ob alte Werte so richtig, wichtig, fundamental sind, wie unsere Vorväter dies geglaubt haben. Wir fragen uns: „Was ist wirklich wichtig in unserem Leben?" und finden nur schwer eine Antwort. Wir nehmen immer weniger als „gottgegeben" hin, sondern begreifen unser ganzes Leben als aufregenden Lernprozess. Lebenslanges Lernen ist nicht zuletzt deshalb ein Schlagwort unserer Bildungspolitik geworden. Aus diesem Lernen erwachsen neue Fragen: Wie sollen wir leben? Was wird aus uns, was aus der Welt, wenn wir nicht mehr Teil davon sind? Was müssen wir lernen, um uns diesen Fragen überhaupt nähern zu können? Was müssen wir, was sollen wir weitergeben? Was nicht? Der Dreiklang von Lernen - Leben - Weitergeben ist von hoher Aktualität. Zu ihm gehört, dass wir darüber nachdenken, wo wir herkommen. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen", sagt Johann Wolfgang von Goethe. Und Richard von Weizsäcker formulierte knapp: „Ohne Herkunft keine Zukunft!" Vielen Menschen fällt es heute schwer, sich so zu sehen. Bedingt durch soziale Umwälzungen, neue Bildungschancen und in jüngster Zeit die kommunikative Revolution, die uns mit unseren Zeitgenossen in fernen Weltgegenden enger zu verbinden scheint als mit unseren Vorfahren und Nachkommen, wollen wir vielleicht das Ererbte gar nicht besitzen, wollen an seine Herkunft nicht erinnert werden, wollen uns davon bewusst freimachen und denken zunächst auch nicht darüber nach, dass wir etwas weiterzugeben haben. Und doch schulden wir unseren Nachkommen etwas - zumindest eine Welt, in der sie leben können. Durch den Lernprozess des Lebens wird deutlich, wie schwierig das ist. Das Ererbte anzunehmen, zu lernen, damit umzugehen, ist möglicherweise weiterführend als es zu verdrängen. Und wer Kinder oder gar Enkel hat, verspürt den Drang, ihnen etwas weiterzureichen, sich ihnen aber auch zu erklären. Die horizontale Verflechtung des Menschen mit seinen Zeitgenossen ist eben doch nicht die ganze Wahrheit; jeder Mensch ist auch vertikal, in der Zeitachse verankert. Sie verbindet ihn mit den Ahnen ebenso wie mit den Nachkommen. Dennoch beginnen viele Menschen erst in ihrer dritten Lebensphase, stärker an ihre Vertikalbindung zu denken. An das Weitergeben zu denken, soweit es über das eigene Leben hinausreichen soll, behalten sich viele für „ihre alten Tage" vor. Dies gilt in erster Linie für das materielle Vermögen, unabhängig davon, ob das groß oder klein und wie es strukturiert ist. Für einige wenige ist das früh genug, weil ihr Vermögen und ihre persönliche Situation alles im Grunde schon vorgeben. Für die meisten ergeben sich hinge-

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gen schwerwiegende Dilemmata, w e n n sie erst am Lebensende b e g i n n e n , d a r ü b e r n a c h z u d e n k e n , was von dem Erlernten und Erlebten sie weitergeben wollen. Dies gilt schon gar im Hinblick auf immaterielle Werte, d e n n diese lassen sich, allen Abschiedsbriefen z u m Trotz, nicht durch Testament übertragen, sondern müssen g e m e i n s a m u n d meist über lange Zeit e r f a h r e n und gelebt werden. Daher gehört der Gedanke des Weitergebens im Grunde von A n f a n g an z u m Lernen u n d Leben dazu. Aber vielleicht ist es nie zu spät, d a m i t a n z u f a n g e n . Von M a r t i n Luther s t a m m t der A u s s p r u c h : „Und w e n n ich w ü ß t e , dass morgen die Welt untergeht, w ü r d e ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen."

Die neue Zeit Diese Zuversicht fällt unserer Generation angesichts der Zeitbomben, die wir immer lauter ticken hören, besonders schwer. Wir k ö n n e n nicht d a r ü b e r hinwegsehen, dass wir u n s e r e natürlichen Ressourcen zu stark ausbeuten und d a m i t den k o m m e n d e n Generationen zu w e n i g davon hinterlassen. Wir h a b e n keine A h nung, welche Folgen der Klimawandel f ü r u n s u n d unsere Kinder h a b e n wird. Wir wissen, dass sich die Alterspyramide im letzten J a h r h u n d e r t fast vollkommen auf den Kopf gestellt hat. Die Erde wird heute von mehr als doppelt so vielen Menschen bevölkert wie noch vor einer Generation. Aber wir wissen nicht, ob sich diese E n t w i c k l u n g linear fortsetzen wird u n d schon gar nicht, wo die Grenze der Erträglichkeit liegt u n d w a n n und ob diese erreicht wird. Über all dies n a c h zudenken, könnte u n s zur Verzweiflung treiben. Aber d a m i t nicht genug: Auch das Gefüge unserer G e m e i n s c h a f t ist aus den Fugen geraten. Wir a h n e n , dass das zwischen dem 16. u n d 19. J a h r h u n d e r t entwickelte Modell eines Staates mit nationaler Regierung und Verwaltung, repräsentativer Demokratie u n d u n a b h ä n g i g e r Gerichtsbarkeit i m m e r weniger in der Lage ist, seine A u f g a b e n zu erfüllen. Nicht n u r exotische, von u n s o f t als weniger entwickelt bezeichnete Staaten, sondern auch u n s e r eigener ist längst an die Grenze seines Leistungsvermögens gelangt. Wir beobachten einen rapiden Kompetenzverfall und müssen, w e n n wir den Tatsachen ehrlich ins Auge blicken, von einem Staatsversagen sprechen. Auch der Markt versagt. Die j ü n g s t e n W i r t s c h a f t s k r i s e n , insbesondere die von 2008, h a b e n u n s dies überdeutlich vor Augen g e f ü h r t . Zwar stellt der Markt hierzulande noch geradezu im Überfluss Güter und Dienstleistungen zur V e r f ü g u n g , doch wissen wir nicht, wie lange das noch gut geht. Staatliche Hilfen in Größenordnungen, die wir u n s gar nicht vorstellen können, sind gewiss kein langfristiges Heilmittel. Wir sind Zeugen einer z u n e h m e n d e n Entstaatlichung von Politik. Was Politiker gern als Staatsverdrossenheit beklagen, ist in Wirklichkeit eine Verdrossenheit mit den konventionellen staatlichen Akteuren, die mit einem steigenden Interesse an Politik in neuer Form und mit alternativen A k t e u r e n einhergeht. Das Legitimitätsmonopol der repräsentativen Demokratie ist allenfalls ein nicht m e h r einlös-

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barer Anspruch; die Wirklichkeit spiegelt er nicht wider. In den letzten 20 Jahren hat der Staat massiv an Macht verloren - an den Markt, aber zunehmend auch an eine dritte Arena, die sich immer stärker in das Bewußtsein der Menschen und in das Gefüge der politischen Ordnung hineinschiebt: die Zivilgesellschaft. Noch ist es so, dass Zivilgesellschaft von unserem politischen System gepriesen wird, wenn sie in fernen Ländern unliebsame Regime zu beseitigen hilft. Im eigenen Land jedoch wird sie gern marginalisiert und instrumentalisiert. Dennoch: Zu unserer Lebenswirklichkeit gehört, dass wir in drei Arenen kollektiven Handelns agieren, jeder von uns - gleichzeitig, nach- und miteinander. DOT.GOV, DOT.COM und DOT.ORG sind gleichermaßen legitimiert, über öffentliche Angelegenheiten zu debattieren und Entwicklungsprozesse voranzutreiben. Kurzum: Wir leben in einer neuen Zeit, haben neue, nie gekannte Herausforderungen zu meistern und wollen auch anders leben! Da liegt die Frage nahe, was wir d a f ü r lernen sollen, wie wir heute leben, was wir weitergeben sollen. Sollen wir resignieren? Keine „Apfelbäumchen pflanzen"? Oder sollen wir uns der neuen Zeit stellen, den neuen Wein in neue Schläuche gießen? Traditionelle Muster taugen dazu wenig, das Vertrauen in sie ist geschwunden. Wie also strukturieren wir unser Leben, Lernen und Weitergeben? Die Zeit der lebensumspannenden Karrieren ist vorbei. In einer Hierarchie über Jahrzehnte aufzusteigen oder sein Leben lang ein Unternehmen zu führen, j a überhaupt über Jahrzehnte hinweg dasselbe zu t u n - all das sind Auslaufmodelle. Es gibt Unternehmer, die als Mittdreißiger ihr Unternehmen verkaufen. Natürlich ist f ü r sie das Leben nicht abgeschlossen. Es gibt Menschen, denen erst spät im Leben ein Durchbruch gelingt. Natürlich ist alles Frühere nicht verloren. Frauen erobern die Männerwelt. Die Zeit männlicher Dominanz über ökonomische Gestaltungsprozesse und Lebensentwürfe ist vorbei. Und doch .ticken' Frauen anders, suchen anderen Rat und finden nicht selten andere Lösungen. Auch ein anderes Prinzip, das bald 1000 Jahre gegolten hat, gilt heute im Grunde nicht mehr. Der älteste Sohn als vorbestimmter Erbe gehört der Vergangenheit an. Eignung, Verantwortungsbewußtsein und nicht zuletzt der freie Wille wiegen heute als Auswahlkriterium schwerer als ein Erstgeburtsrecht. Wir denken und handeln immer weniger in nationalen oder milieu-spezifischen Kategorien. Unsere heutige Gesellschaft lässt ebenso wie das je besondere Leben Zukunftspläne um ein Vielfaches komplexer erscheinen als noch vor einer Generation. Kann ich - und will ich - das, was mich bewegt, „umtreibt", eigentlich weitergeben? Wird sich jemand noch an das erinnern, was ich geschaffen und gesagt, geschrieben und aufgebaut habe, wenn ich nicht mehr da bin, um es ständig voranzutreiben? Wird sich überhaupt jemand an mich erinnern? Es ist eigentlich zu spät, denn die Weichen hätten viel f r ü h e r gestellt werden müssen. Was kann jetzt noch sinnvoll geordnet werden? Wer erbt, übernimmt nicht nur Vermögenswerte, sondern auch eine mitunter große Verantwortung - beispielsweise f ü r die Mitarbeiter eines Unternehmens, den Erhalt eines über viele Generationen tradierten Familienerbes, f ü r eine(n)

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Witwe(r) oder Geschwister. Gibt es jemanden, der dem gewachsen ist? Gibt es eine andere Lösung? An Beratern ist kein Mangel. Aber sind sie auch geeignet? Muss ich nicht befürchten, dass eigene Überlegungen, Kundenbindung, Mandatsverlängerung und Testamentsvollstreckung Einfluss auf die Vorschläge der Ratgeber haben? Was mache ich ohne natürliche Erben? Sollen Partner, Kinder, Verwandte erben? Vielleicht nur einen Teil? Oder sollen künstliche Erben geschaffen werden? Hat mein Leben überhaupt einen Sinn, wenn ich nichts weitergeben kann, wenn es niemanden gibt, der weiterträgt, was mich bewegt hat? Solche Fragen sind immer aufgekommen, wenn es galt, die letzten Dinge zu regeln. Oft genug haben sie oder der Mangel an Antworten dazu geführt, den Kopf in den Sand zu stecken und gar nichts zu unternehmen - so lange, bis es zu spät ist oder man sich zu nichts Wichtigem mehr a u f r a f f e n kann, schon gar nicht zu großen Entscheidungen. „Nach mir die Sintflut" ist ein ebensooft gehörter wie später verfluchter Spruch. Eine besondere Sorge ist all das sicher dann, wenn ein Familienunternehmen, gleich ob ererbt oder selbst geschaffen und gleich, ob Forstbesitz oder High-Tec-Produzent, auf dem Spiel steht. Eigentümergeführte Unternehmen sind das Rückgrat unserer Wirtschaft. Ihr Überleben hängt wesentlich von geordneten Familienverhältnissen und geeigneten Führungspersönlichkeiten ab. Sind diese in der Familie vorhanden? Oder steht der Übergang zum familienfremden Management an? Wie steht es um den Frieden unter den Erben? Wie um deren Konsens, was Einfluss, Unternehmensstrategie und Ausschüttungspolitik betrifft? Niemand sieht oder ahnt gern, dass sein Werk zerrinnen könnte. Und jeder weiß, dass der Übergang einer Unternehmung auf eine neue Generation eine Krise darstellt, die strategisch gemeistert sein will. Es ist also kein Zufall, dass in den letzten Jahren neue Berater und Wissenschaftler in großer Zahl auf den Plan getreten sind, die sich mit diesen Herausforderungen befassen. Seminare sind gut besucht, Bücher werden gern gekauft, auch individuelles Coaching f ü r Erblasser und Erben wird nicht selten in Anspruch genommen. Kein Zweifel: Vielen Menschen k a n n dadurch wirksam geholfen werden. Und doch scheinen einige wichtige Aspekte außer Betracht zu bleiben. Es ist also heute nicht einfach, den Sinn, den man seinem Leben gibt, tatsächlich weiterzugeben. Gar nicht wenige Menschen haben sich vor diesem Hintergrund in eine Parallelwelt zurückgezogen; sie blenden aus, was wirklich in dieser Welt geschieht. Und doch gilt, was Dante gesagt hat: „Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt; der andere packt sie kräftig an und handelt!" Wer beansprucht, zu einer wie auch immer definierten Elite zu gehören, darf in diesem Sinn nicht abwarten, sondern muss handeln, sich in den Wandel einbringen. Nur die Kombination von Lernen, Leben und Weitergeben ermöglicht eine umfassende Strukturierung der Herausforderungen. Dies gilt besonders f ü r alte und neue Eliten.

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Vertikale Bindungen Scheinbar ist die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ganz und gar auf die Jetzt-Zeit fixiert, sie gilt als geschichtsvergessen. Die traditionelle Abfolge der Generationen tritt in dieser Form nicht mehr ein. Zugleich wird Nachhaltigkeit zu einem zentralen Begriff für neue Ordnungskonzepte. Die Demokratisierung der Gesellschaft ist weit fortgeschritten und in ihrem Kern auch unumstritten. Doch unter dem Druck, nachhaltiger denken zu müssen, scheint sich entweder der Widerstand gegen das Vertikale beruhigt oder, was wahrscheinlicher ist, eine Gegenbewegung gebildet zu haben. Gegenbewegungen sind nicht notwendigerweise zerstörerisch. Sie bilden vielfach eine antagonistische Kooperation, das heißt eine durch die Kontroverse beförderte Weiterentwicklung oder Problemlösung. Zu viel Horizontalität scheint dem Wesen des Menschen letztlich nicht zu entsprechen. Aleida Assmann schreibt: „Der Zusammenhang von Erinnerung und Identität hat seit den 80er Jahren dieses [des 20.] Jahrhunderts eine neue Aktualität gewonnen. Sie hat zu tun mit der Auflösung und Wiederaufrichtung politischer und kultureller Grenzen überall auf der Welt." (Assmann 2009: 62) Vertikale Verankerung muss nicht ererbt sein. In jeder Kette dieser Art gab oder gibt es ein erstes Glied, das diesen Schritt bewusst getan hat. Der Moses-Mythos der jüdischen Religion ist beispielsweise ein Urmythos des Stiftens einer solchen Vertikalkette. Jeder Stifter, gleich ob er in der Römischen Republik eine Memorial-Stele oder in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts eine Kapitalstiftung begründete, setzte eine solche Tradition in Gang. Wir können annehmen, dass sie ihn zutiefst befriedigte. Auch heute ist es durchaus möglich, sich neu in dieser Weise zu verankern. Die Emanzipation des Bürgertums und der Juden im 18. und 19. Jahrhundert hat dazu geführt, dass früher als typisch aristokratisch angesehene, ja sogar Aristokraten vorbehaltene Verhaltensweisen nachgeahmt und weiterentwickelt wurden. Und schon lange vorher gab es in den typischen Bürgerstädten Patrizierfamilien, die sich in diesem Punkt nicht von adeligen Familien unterschieden. Gerade in den lokalen Gesellschaften, in denen es keine so festgefügte Hierarchie gab, sprich in den Städten - man denke an den berühmten, seit dem Mittelalter kursierenden Ausspruch „Stadtluft macht frei" - , finden sich besonders reiche Beispiele dafür: prächtige Grabmäler in den Kirchen etwa, oder Stiftungen zugunsten der Armen und Waisen. Sie dienten der „immerwährenden" Erinnerung an den Stifter und dessen Rang und Persönlichkeit. Auch heute wird ein Mitglied der Familie Fugger mit Stolz durch die Fuggerei spazieren, die sein Vorfahr vor 500 Jahren für eine menschenwürdige Unterbringung bedürftiger Augsburger Bürger gestiftet hat. Dass sich mit solchem Tun in vielen Fällen auch ein Gefühl verband, Eigeninitiative und unternehmerische Gestaltung sollten von einer zunehmenden Staatsmacht nicht verdrängt werden, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. „Wir müssen einstehen, wenn der Staat überfordert ist", sagte der jüdische Unternehmer und Mäzen James Simon, der die Büste der Nofretete und

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zahllose andere Kunstwerke in die Berliner Museen brachte, aber auch überreichlich an soziale Einrichtungen spendete. Ich will gewiss nicht einer Wiedereinführung vormoderner Strukturen das Wort reden. Aber der Gedanke einer Einordnung in die Geschichtlichkeit der Welt in Verbindung mit einem Elitebewusstsein hat zu Konstrukten geführt, die sich über relativ lange Zeit als tragfähig erwiesen haben. Dies gilt zunächst einmal unabhängig davon, ob persönliche und Familieninteressen oder darüber hinausgreifende Anliegen die entscheidungsleitende Motivation darstellen. Ich denke, das Vererben ist nicht nur ein Akt des Ordnens, der, sofern man dies überhaupt vorhersagen will, vor dem Ableben aus einem gewissen Ordnungssinn heraus fällig ist, wie das häufig bei älteren Menschen zu beobachtende Vernichten von Briefen und Akten. Das Nachdenken über die Kontinuität über das eigene Leben hinaus als Teil der Lebensgestaltung an sich hat eine lange Tradition. Diese wird im Übrigen auch schon seit Jahrhunderten von zahlreichen Familienunternehmen und ihren Unternehmerfamilien gepflegt und entwickelt. Ein erfülltes, sinnhaftes Leben schließt, so können wir vermuten, schon weit diesseits religiöser Überzeugungen die Einordnung in die Vertikalachse unserer Existenz als anthropologische Grundkonstante zwingend mit ein. Dies gilt daher auch f ü r den Menschen des 21. Jahrhunderts in seiner starken, existentiell bedeutsamen, globalen horizontalen Verankerung, die ihm spätestens die kommunikative Revolution der ersten Dekade gewissermaßen frei Haus geliefert hat. Wir brauchen im Übrigen nicht zu befürchten, schlechte Demokraten zu sein oder als solche angesehen zu werden, wenn wir vertikale Verankerungen pflegen. Unsere Gesellschaft beruht eben nicht nur auf dem Prinzip der Demokratie, sondern auch auf dem des Rechtsstaates (englisch besser the rule of law, zu übersetzen als Herrschaft des Rechts), der f ü r Kontinuität und Verlässlichkeit sorgt. Jeder Bauherr begründet mit seinem Bau etwas in der Vertikalachse. Es wird voraussichtlich über den Tod des Bauherrn hinaus Bestand haben. Jedem Gärtner und Forstmann geht es ähnlich.

Horizontale Bindungen Neben Argumenten f ü r die sinnstiftende vertikale Verankerung ist genauso die horizontale Verankerung in den Blick zu nehmen. Denn die Bezugnahme des Menschen auf ein ,Du' gehört zu den grundlegenden Parametern menschlichen Daseins. Gemeint ist zunächst das ,Du' in dieser Welt, auf das sich folgende Ausführungen konzentrieren. Überraschenderweise gilt es auch hier, in die Geschichte zurückzublicken. „Es hat sich f ü r unsere Gattung im Laufe der Evolution als extrem wirkungsvoll erwiesen, ein Modell des ,Ich' zu entwickeln. Ein solches Selbstbild erlaubt uns, Zukunftspläne zu entwickeln, eigene Interessen zu verfolgen, das Verhalten anderer in Bezug auf uns selbst zu beurteilen und somit das

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eigene Überleben sicherzustellen. Doch zugleich f ü h r t diese Erfindung des Ich, diese Frucht vom Baum der Erkenntnis, zur Vereinzelung. Wir empfinden uns als getrennt von anderen Existenzen, erleben uns als in die Welt geworfene Objekte, die eine Zeitlang ihre egoistischen Interessen verfolgen und irgendwann zu Staub zerfallen. [...] Wird dieses ,Ich' dagegen nicht als eigenständige, abgetrennte Instanz begriffen, sondern als eine Schöpfung, die in Abhängigkeit von anderen Menschen und letztlich vom ganzen Kosmos existiert, weitet sich der Blick auf einmal." (Schnabel 2008: 495 f.) Es gab Zeiten, in denen Vertikales und Horizontales dadurch außerordentlich eng miteinander verknüpft waren, dass sich beide auf biologisch verwandte Menschen bezogen. Die meiste Zeit in der nun etwa 150 000 Jahre währenden Geschichte des homo sapiens gab es so wenige Exemplare dieser Spezies, dass diese sich untereinander kaum kannten, kaum miteinander Berührung hatten, aufeinander auch nicht angewiesen waren. Insofern gab es keinen Bedarf an Überlegungen, die über den Familienbereich hinausreichten. Die Schicksalsgemeinschaft bildete sich in den Familien fort: Großeltern, Eltern, Geschwister, Kinder, Neffen und Nichten, Enkelkinder. In diesem Feld war man aufeinander angewiesen, kommunizierte man, entwickelte man emotionale Beziehungen, half sich aus Neigung und Vernunft. Mit der Entwicklung der Menschheit änderte sich dies, und spätestens in den f r ü h e n Hochkulturen des Zweistromlandes und Ägyptens bildeten sich Gemeinschaften heraus, die weit über die Familienzusammenhänge hinausreichten. Sie enthielten hierarchische Strukturen und Ordnungskonzepte, die religiös untermauert waren; die Gesellschaften nahmen nicht nur an Größe, sondern auch an Komplexität zu. Erstaunlicherweise verknüpften sich damit noch keine zwischenmenschlichen Beziehungen personaler Art, die über die Familien hinausreichten, bis es um das f ü n f t e Jahrhundert vor Christus ziemlich gleichzeitig in allen Kulturen der Welt, über die wir überhaupt etwas wissen, zu einer großen philosophischen Neuorientierung kam. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers nannte die Ära dieser geistigen Wende die „Achsenzeit" (Jaspers 1949) Achse deswegen, weil er die Kulturen des Mittelmeerraums, des Vorderen Orients und des Fernen Ostens auf einer intellektuellen Achse einordnete. 1 Die englische Religionswissenschaftlerin Katherine Armstrong widmete dieser Zeit eine große und sehr interessante Monographie unter dem Titel The Great Transformation. The World in the Time of Buddha, Socrates, Confucius, and Jeremiah. Der Titel drückt aus, worum es geht. Hier entsteht das Konzept der Nächstenliebe. Bei Konfuzius drückt sich das in dem Wort und Schriftzeichen ,ren' aus, zusammengesetzt aus zwei einfachen Zeichen: .Mensch' und ,Zwei' (vgl. Klein 2010: 236). Im Alten Testament liest sich das so: „Wenn dein Feind hungrig ist, d a n n gib ihm zu essen, und wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Damit bringst du ihn dazu, sich zu ändern und Gott wird dich d a f ü r belohnen." (Spr. 25,21)

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Siehe hierzu Klein 2010: 241 f.

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Warum diese geistige Wende sich gerade in dieser Epoche vollzog, braucht hier nur am Rande zu interessieren. Es mag genügen, auf den technologischen Fortschritt, eine zunehmende Arbeitsteilung und damit Interdependenz der Menschen, die Überwindung der reinen Subsistenzwirtschaft und die Herausbildung einer intellektuellen Elite zu verweisen (vgl. Klein 2010: 241). Es liegt nahe, sich bei der Sichtweise auf die Theorie des Gabentauschs zu berufen, die insbesondere Marcel Mauss entwickelt hat und die zum klassischen Referenzpunkt f ü r anthropologische und soziologische Überlegungen zu diesem Thema geworden ist (vgl. Mauss 1968).2 „Geben, Nehmen und Erwidern sind die kollektiven Basisaktivitäten, durch die sich [...] Gesellschaften reproduzieren." (Adloff 2010: 226) Für unseren Zusammenhang geht es bei dieser Betrachtung aber im Kern um den Perspektivenwechsel in der Sicht auf den Mitmenschen. Es mag angesichts des dichten Netzes von Beziehungen, die wir pflegen, banal klingen. Und doch ist es hilfreich, sich darauf zu besinnen, dass die Betrachtung des anderen Menschen jedes Menschen - als f ü r unsere Existenz überlebensnotwendig einen intellektuellen Akt von überaus großer Bedeutung darstellt. Dass wir es allein und auch mit unseren biologischen Verwandten nicht nur aus allerlei praktischen Gründen nicht schaffen, unser Leben zu gestalten, sondern dass dies prinzipiell unmöglich erscheint, ist eine Erkenntnis, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen. Schon seit Jahrhunderten beschäftigt die Philosophen und Theologen das Problem, dass Nächstenliebe nicht notwendigerweise frei von Eigenliebe, also im strengen Sinn nicht wirklich altruistisch sei. Auch ich spreche hier nicht von Altruismus, sondern lediglich von einer vernunftgeprägten Einsicht in eine über die Familie hinausgehende Abhängigkeit jedes Menschen von den Mitmenschen und den ebenso vernünftigen Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Heute scheint dies gelegentlich als Argument auf, wenn die Lauterkeit eines Philanthropen in Frage gestellt werden soll, gewiss nicht immer ohne Grund. Deshalb sei an dieser Stelle betont, dass hier ausdrücklich nicht von Gutmenschentum die Rede ist; die Beziehung aufzubauen und zu pflegen ist im Kern kein ethisches Postulat, auch wenn es, etwa im Neuen Testament, in der Formulierung „Liebe deinen Nächsten" (Mt. 22,39) so klingen mag. Die Beziehung zum ,Du' ist vielmehr eine f u n d a m e n tale Gelingensbedingung menschlichen Lebens. Nicht umsonst heißt das Gebot vollständig: „[...] wie dich selbst!" Es geht um das permanente lebensnotwendige Spannungsverhältnis unter Menschen. Dass dieses ,Du' nicht nur eine(r), etwa der Lebenspartner oder die Lebenspartnerin ist, sondern vielerlei Gestalt annehmen kann, ist die Erkenntnis der Achsenzeit. Martin Buber hat dies auf die prägnante Formel gebracht: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du."

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Siehe hierzu u.a. Adloff 2010: 225ff.

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Der homo oeconomicus Seit A d a m Smith, einem der Protagonisten der schottischen A u f k l ä r u n g im 18. J a h r h u n d e r t , glauben wir zu wissen, dass w e n n wir u n s e r Handeln n u r alle von u n s e r e n eigenen Interessen leiten lassen, letztlich in der Summe allen H a n delns dem Gemeinwohl gedient ist. Ist also ökonomisches Denken und Nächstenliebe so einfach zu verbinden? Es ist hier nicht zu erörtern, ob Smith eigentlich richtig verstanden wurde. Ganz sicher w u r d e er in dieser Interpretation z u m Vater der modernen Nationalökonomie. Smith k a n n d a m i t auch als der Erfinder der Akteure in diesem System gelten. Es entstand der homo oeconomicus, der Mensch also, der sich in seinen Entscheidungen allein von seinem, in der Regel w i r t s c h a f t lichen, Vorteil leiten lässt. Dem citoyen, dem der G e m e i n s c h a f t zugewandten Bürger, trat idealtypisch der bourgeouis gegenüber. Dass es diesen in vollständigen A u s p r ä g u n g k a u m gegeben hat, braucht hier nicht weiter a u s g e f ü h r t zu werden. Es sei n u r darauf hingewiesen, dass gesellschaftliches A n s e h e n , Beliebtheit, Eitelkeit u n d andere Ziele gerade auch denen nicht fremd sind, die vorgeben, allein ihren eigenen w i r t s c h a f t l i c h e n Zielen zu dienen. Aber auch echter A l t r u i s m u s ist, wie ich aus E r f a h r u n g weiß, immer wieder bei Menschen a n z u t r e f f e n , denen m a n ihn nicht ansehen oder z u t r a u e n würde, und die ihn mit Rücksicht auf ihr gewöhnliches Umfeld schon vor sich selbst, geschweige denn vor einem Fremden, k a u m zugeben w ü r d e n . In der europäischen Gesellschaft, ebenso natürlich der n o r d a m e r i k a n i s c h e n und einigen anderen, hat das Prinzip von A d a m Smith f ü r vorher nie g e k a n n t e n allgemeinen Wohlstand gesorgt. Die Bevölkerungsexplosion des 19. J a h r h u n d e r t s hätte ohne diese W i r t s c h a f t s g r u n d s ä t z e wohl tatsächlich zu der von Karl M a r x (wie sich erwies zu Unrecht) prognostizierten Verelendung g e f ü h r t , wenngleich m a n d a r ü b e r streiten k a n n , ob sie nicht auch eine Folge der industriellen Arbeitsteilung war. In der A u s g e s t a l t u n g als soziale M a r k t w i r t s c h a f t w a r diese auch nach 1945 o f f e n k u n d i g erfolgreich, so sehr, dass m a n c h e Menschen nach 1990 glaubten, mit dem Ende des Kalten Krieges u n d der Ü b e r w i n d u n g des Kommun i s m u s breche eine A r t von goldenem, vom Kapitalismus getragenen Zeitalter an. Wie wir wissen, w a r dies ein großer I r r t u m , doch stand von 1990 bis 2008 m a r k t gerechtes Verhalten hoch im Kurs. Es w a r die Zeit, in der die Business Schools in Scharen j u n g e M a n a g e r ausspuckten, die perfekt mit betriebswirtschaftlichen K e n n z a h l e n u m g e h e n konnten, denen aber ein Gefühl f ü r das rechte Maß weitgehend abging u n d die oft nicht das w a r e n , was m a n mit gesundem M e n s c h e n verstand einen „ehrbaren K a u f m a n n " n e n n e n würde. Die Ergebnisse der Arbeit der Treuhandanstalt, die die Ü b e r f ü h r u n g der ostdeutschen S t a a t s w i r t s c h a f t in die M a r k t w i r t s c h a f t bewerkstelligen sollte, sind d a f ü r ein gutes Beispiel. Aber auch die großen Fusionen u n d U n t e r n e h m e n s v e r k ä u f e zeigen, dass der n u r auf den (meist kurzfristigen) Vorteil bedachte M a n a g e r diesen zwar o f t erzielen, im Übrigen aber beträchtlichen Flurschaden anrichten konnte.

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Diese zwei Dekaden waren auch die Zeit der Ü b e r f ü h r u n g von I n f r a s t r u k t u r diensten wie der Deutschen Post oder der Deutschen Bahn aus Staatsbetrieben in Wirtschaftsunternehmen. Es war die Zeit, in der erstmals Behörden ein Minimum an Wirtschaftlichkeit in ihre Abläufe brachten, was gewiss überfällig war. Aber sind nicht dadurch auch unheilige Allianzen zwischen hoheitlichem Dünkel und Gewinnstreben entstanden? Schien es nicht f ü r manchen besonders leicht, gute Quartalszahlen vorzulegen und sich eine Gewinnbeteiligung zu sichern, wenn er sich d a f ü r überkommener Monopole und Verhaltensmuster des Staates bedienen konnte? Ich habe mich immer dagegen verwahrt, als .Kunde' einer Behörde apostrophiert zu werden. Nach meinem Demokratieverständnis gehört das Gemeinwesen seinen Bürgerinnen und Bürgern; dementsprechend bin ich also dort kein Kunde, sondern in erster Linie einer der Eigentümer. Dieses Missverständnis weist in der Tat auf das viel tiefer gehende Problem hin, dass die marktgerichtete Privatisierung weiter Teile f r ü h e r staatsimmanenter Funktionen und Strukturen den Effekt einer Verschränkung der Handlungslogiken von Staat und Markt gehabt hat. Einerseits ist der homo oeconomicus in Bereiche eingedrungen, in denen es gerade nicht um rationale Entscheidungen im eigenen, sondern um akzeptable Entscheidungen im allgemeinen Interesse geht. Andererseits haben sich viele große Unternehmen von den Staatsbetrieben eine Behördenmentalität abgeschaut, die sich vielleicht f ü r eine kurzfristige Gewinnmaximierung, aber weder f ü r die Optimierung der Unternehmensgewinne, noch gar f ü r die der angebotenen Güter und Dienstleistungen positiv auswirken kann. Die Verschränkung zwischen Staat und Markt äußert sich beispielsweise auch in der Externalisierung von Kosten und Risiken, die einem Unternehmen umso leichter gemacht wird, je größer es ist. Die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger ist immer häufiger aufgefordert, zur Stabilisierung oder gar Optimierung der Ertragslage von Unternehmen beizutragen. Ein noch größeres Problem stellt freilich der Niedergang des „ehrbaren Kaufmanns" dar. Gewiss, in vielen eigentümergeführten Unternehmen lebt er fort. An Unternehmern, die rational und gewinnorientiert handeln und dennoch weder ihre Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, der Umwelt und vielem mehr, noch ihre ethischen Grundsätze aus dem Blick verlieren, ist auch heute kein Mangel. Aber es ist unbestreitbar, dass innerhalb der Wirtschaftseliten die Zahl der Egoisten, die um des eigenen Vorteils willen sehr nah an die Grenzen des allgemein Zuträglichen gehen oder diese überschreiten, in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends zugenommen hat. Dies sind die Trittbrettfahrer und Schmarotzer der Marktwirtschaft (siehe hierzu Klein 2010: 265 f.). Die Fixierung auf den homo oeconomicus hat ihnen die Tür geöffnet. Wie oft habe ich beispielsweise erlebt, dass Maßnahmen eines Unternehmens, die angeblich dem allgemeinen Wohl dienen sollten, von einem zynischen Augenzwinkern der Insider begleitet waren, das dem Eingeweihten kenntlich machen sollte, der Vorteil läge letztlich doch beim angeblichen Wohltäter!

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Wohlgemerkt, der homo oeconomicus ist - als Bild f ü r den rational, entscheidungsorientiert denkenden Menschen - nicht in sich verwerflich. Er ist auch „kein Auslaufmodell" (Felden 2011: 121). Aber er kann nicht Maßstab menschlichen Handelns an sich sein - weder empirisch noch normativ. Ihm tritt, um in der Terminologie zu bleiben, der homo politicus, der homo ludens3, der homo reciprocans, das heißt der machtbewusste, spielerische, experimentierende, der auf Kommunikation bedachte Mensch gleichberechtigt zur Seite. Vom letzteren wird im Folgenden ausführlicher die Rede sein. Das Überhandnehmen von Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, in der Wirtschaft ebenso wie im Staat, ist beredter Ausdruck davon, dass gerade bei denen, die ihn propagieren, die Schwächen des homo oeconomicus sehr präsent sind. Werbung richtet sich gerade nicht an rationale Entscheidungsvorbereitung, sondern an irrationale Sphären des Denkens. Und weil fast jeder dies rational durchschaut - in den Vereinigten Staaten gibt es den schönen Spruch „You can't cheat the consumer" - verschwindet das Vertrauen in die Aussagen der Werbung, ganz ausdrücklich auch in das der politischen. Vertrauensverlust und damit einhergehend Verlust der Akzeptanz sind letztlich mächtige Kräfte, die über sozialen Druck selbst Revolutionen auslösen, zumindest aber Veränderungen erzwingen können. Im englischen wird die grundsätzliche Akzeptanz als licence to operate, übersetzbar als .allgemeine Betriebserlaubnis' bezeichnet. Diese droht, abhanden zu kommen. Rechtzeitige Neujustierung und Umsteuerung erscheint also dringend erforderlich. Das heißt einerseits, der homo oeconomicus ist nicht mehr zeitgemäß. „Was man uns heute als unvermeidliche Folgen ökonomischer Grundwahrheiten und der Globalisierung auftischt, sind genau besehen die phlegmatischen Äußerungen abergläubischer Männer, die auf die Erfüllung des .Großen Schicksals' warten. Eine Haltung, die jeder vernünftige Mensch ohne weiteres ablehnen wird. Aber diese Ablehnung heißt auch: Übernahme von Verantwortung. Unsere Eliten haben natürlich wenig Lust auf einen Wandel, der von ihrer Machtstruktur so etwas wie Verantwortung verlangt. Nur eine nachdrückliche Einmischung und Teilnahme der Bürger bringt ihn zustande." (Saul 1997: 171) Die Interdependenzen und Abhängigkeiten sind so exponenziell gestiegen, dass heute ganz andere Qualitäten im Vordergrund stehen, zum Beispiel die, mit Hilfe sozialer Kompetenz Vertrauen zu erwerben und zu bewahren, oder die, Zukunftsszenarien entwerfen zu können, die auch f ü r die Erben, die Kinder und Kindeskinder also, ein menschenwürdiges Leben einigermaßen wahrscheinlich erscheinen lassen. Das Erstaunliche ist, dass andererseits der egoistische homo oeconomicus in einer Krisenzeit wie unserer nach allen anthropologischen Erfahrungen auch keine Überlebenschance hat. Wer allein und gegen alle ums Überleben kämpft, hat so lange eine gute Chance zu gewinnen, wie es keine nennenswerten Krisen gibt und jeder sich frei entfalten kann. In der Krise hingegen überleben diejenigen, die mit kooperativem Verhal3

Siehe hierzu Huizinga 1987.

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ten vertraut sind und im Einzelfall zurückstecken können. Seltsamerweise kann man dies mathematisch berechnen. George Price hat dies getan (vgl. Price 1970).4 Wir sprechen also hier nicht von ethischen Postulaten, sondern von Ergebnissen empirischer Forschung. Der homo reciprocans, also der Mensch, der sich bewusst in das Beziehungsgeflecht von Rücksicht, Respekt und Vertrauen, aber auch eines Gebens und Nehmens einordnet, hat die größeren Überlebenschancen - und wahrt erstaunlicherweise in besonderem Maße seine Individualität, seine persönliche Unverwechselbarkeit. Er bleibt Herr oder Herrin des eigenen Lebens. Dem Leben einen Sinn zu geben heißt unter diesen Umständen ohne Zweifel, sich für diesen vernünftigen Weg zu entscheiden. Er ermöglicht zugleich mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit das Überleben der Gesellschaft insgesamt und damit auch die Vererbbarkeit im Einzelnen.

Soziales Kapital Angesichts der globalen Herausforderungen haben, wie ich versuchte zu zeigen, die „Trittbrettfahrer und Schmarotzer" (Klein 2010: 265 u. passim) eine geringere Überlebenschance als kooperative Menschen. Dennoch können Trittbrettfahrer einen so gewaltigen Schaden anrichten, dass dies letztlich zu einer umfassenden Katastrophe führt. Gerade in Deutschland rufen wir in dieser Situation traditionell nach dem Staat. Noch mehr Regeln, noch mehr Investitionen in Sicherheit, noch mehr Kosten der Durchsetzung, noch mehr Kontrollen: Das ist die Spirale, die dadurch entsteht, und auf der wir schon ein ganz gutes Stück hinauf- oder sollten wir sagen hinuntergedreht worden sind. Es sieht nicht danach aus, als ob dieses System besonders erfolgreich wäre. Die einzige Folge, die wir relativ klar erkennen können, ist, dass unsere Freiheit zunehmend bedroht ist. Wir scheinen auf eine rechtsstaatlich verbrämte Zwangsherrschaft zuzusteuern. Den Trittbrettfahrern durch hoheitliches Handeln das Handwerk zu legen erscheint dennoch illusorisch; der geschickte Entrepreneur ist immer ahead ofthe curve - uneinholbar eine Nasenlänge voraus. Vor diesem Hintergrund stellt sich neu die Frage: Ist alles des Kaisers? Stehen alle Gemeinschaftsverpflichtungen der Bürger dem Staat zur Definition, Gestaltung, Durchführung und Regelung zu? Ist der Staat der Herr über unser Leben? Muß alles und jedes über den Umverteilungsmechanismus der Steuererhebung finanziert werden? Ist es vernünftig und zielführend, die traditionelle Unterscheidung zwischen .öffentlich' und .privat' beizubehalten und alles, was nicht Wirtschaft oder unmittelbarer Familienbereich ist, als öffentlich zu klassifizieren und dem Staat zu überantworten? Zunehmend kommen wir dazu, diese Fragen mit einem klaren .Nein' zu beantworten. Als Begründung fallen uns sofort die immensen

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Siehe hierzu Klein 2010: 188 ff., 290, Anm. 2.

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Kosten staatlichen Handelns u n d die oft defizitäre A u f g a b e n e r f ü l l u n g ein. Diese Gründe sind in der Tat weithin stichhaltig. Es gibt aber noch einen anderen Begründungsansatz. Ausgehend von der Frage, w a r u m in einigen Teilen Italiens die öffentliche Verw a l t u n g und auch die W i r t s c h a f t besser f u n k t i o n i e r e n als in anderen, f ü h r t e der a m e r i k a n i s c h e Soziologe Robert P u t n a m in den 1980er J a h r e n eine u m f a n g reiche Feldforschung durch. Das Ergebnis w a r f ü r viele Staatstheoretiker ü b e r r a schend. Kennern der menschlichen Natur hingegen erschien es sofort plausibel: Informelle Netzwerke sind die entscheidende G e l i n g e n s b e d i n g u n g f ü r erfolgreich arbeitende O r d n u n g s s t r u k t u r e n . Wo diese v o r h a n d e n sind, f u n k t i o n i e r t die öffentliche V e r w a l t u n g messbar besser als dort, wo sie fehlen. Gleiches gilt auch f ü r die W i r t s c h a f t . A u c h diese ist angewiesen auf informelle Beziehungen u n t e r den Teilnehmern an den Kreisläufen. Es ist also gerade nicht so, wie die Staatstheoretiker des 18. J a h r h u n d e r t s v e r m u t e t e n : Eine starke Zivilgesellschaft ist nicht eine gefährliche K o n k u r r e n z z u m Staat, sondern eine entscheidende Voraussetz u n g f ü r dessen Erfolg. P u t n a m baute seine in Italien gewonnenen empirischen Erkenntnisse zu einer Theorie des sozialen Kapitals aus (vgl. P u t n a m 1994). Ohne auf ihn ausdrücklich Bezug zu n e h m e n , k n ü p f t e er damit an eine These an, die der deutsche Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde schon 1976 vertreten hatte (vgl. Böckenförde 1976). Der (säkulare) Staat, so a r g u m e n t i e r t e er, lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen k a n n . Böckenförde hatte, indem er auf den s ä k u l a r e n Staat verwies, dabei insbesondere die religiösen Voraussetzungen im Blick, die er im Kontext des Gottesbezugs im Grundgesetz herausstellen wollte; der Gedanke bleibt derselbe, w e n n wir ihn auf andere soziale Voraussetzungen beziehen. Neben finanziellem u n d Humankapital ist soziales Kapital, definiert als ein Geflecht von informellen S t r u k t u r e n , Grundlage des Reichtums einer Gesellschaft und damit auch Voraussetzung f ü r das Gelingen staatlicher u n d m a r k t w i r t s c h a f t l i c h e r S t r u k t u r e n u n d Prozesse. Nun ist dies z u n ä c h s t eine Betrachtungsweise, die aus der Perspektive der Gesells c h a f t auf den einzelnen B ü r g e r b l i c k t und somit nicht u n s t r i t t i g ist. Das 20. J a h r h u n d e r t hat u n s drastisch vor Augen g e f ü h r t , dass eine solche Blickrichtung m e n s c h e n r e c h t s g e f ä h r d e n d wirken k a n n . So h a b e n es weder Böckenförde, der gewiss die katholische Naturrechtslehre z u m A u s g a n g s p u n k t seiner Überlegungen n a h m , noch P u t n a m , der auf einer Tocquevilleschen Tradition a u f b a u t e , gemeint. Gerade bei P u t n a m ist die Freiwilligkeit der Z u s a m m e n s c h l ü s s e oder Netzwerke ausschlaggebend. Im Interesse aller liegt es, w e n n sich starke Netzwerke bilden. Aber ist damit auch gesagt, dass es im Interesse des Einzelnen liegt, sich zu vernetzen? Nur d a n n sind f ü r ein freiwilliges Engagement in solchen Netzwerken die Voraussetzungen gegeben. Dieses Interesse k a n n in der G e w i n n u n g persönlicher Vorteile oder A b w e h r persönlicher G e f ä h r d u n g e n liegen, k a n n aber auch durch den Willen bedingt sein, zu schenken. Auf diesen Schenkungswillen oder philanthropischen Impuls wird im folgenden A b s c h n i t t n ä h e r einzugehen sein. A n dieser Stelle m a g

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es genügen, an das oben beschriebene Spannungsverhältnis zum Du zu erinnern, um zu verdeutlichen, dass es tatsächlich in jedermanns Interesse liegt, mit anderen Menschen einen ständigen Kontakt zu pflegen, gemeinsame Anliegen zu besprechen, gemeinsame Vorlieben zu verfolgen und so weiter. Heinrich von Kleist gab einem Aufsatz den Titel: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1966: 810 ff.). Darin kommt Wesentliches zum Ausdruck: Nur indem man sich einem anderen mitteilt, kommen gedankliche Prozesse voran. Auch „deshalb propagieren die Religionen einen radikalen Perspektivwechsel. Sie erinnern uns daran, daß das Problem der Vereinzelung mit unserer beschränkten Sichtweise zu t u n hat und daß es die unbedingte Identifikation mit unserem Selbstmodell, dieses ständige Kreisen um das eigene Ego ist, das Leid erzeugt. Denn wer die eigene Person als den Nabel der Welt betrachtet, ist permanent damit beschäftigt, die Interessen, Wünsche und Begierden dieser Person zu befriedigen, was den wenigsten auf Dauer gelingt. [...] Wird dieses ,Ich' dagegen nicht als eigenständige, abgetrennte Instanz begriffen, sondern als eine Schöpfung, die in Abhängigkeit von anderen Menschen und letztlich vom ganzen Kosmos existiert, weitet sich der Blick auf einmal; und wir können uns im besten Falle, als Teil eines großen Ganzen begreifen, das den Tod dieses ,Ich' überdauert." (Schnabel 2008: 496) Diese Sicht wird empirisch breit gestützt. Etwa 23 Millionen Bürgerinnen und Bürger engagieren sich beispielsweise in Deutschland in bürgerschaftlichen Anliegen jedweder Art; 80 Prozent hiervon t u n dies in freiwilligen Zusammenschlüssen, vor allem in Vereinen. In der Tat ist die relative Stabilität unserer Gesellschaft in hohem Maße dieser Vereinskultur geschuldet. Hier wird Demokratie eingeübt, hier partizipieren Menschen an f ü r sie relevanten Entscheidungsstrukturen und beziehen daraus ein tiefes Gefühl der Befriedigung. Hier wirken Inklusions- und Integrationsmechanismen, hier wird - allen bekannten Streitereien zum Trotz - eine Zivilität des Umgangs eingeübt und gepflegt. Der A u f b a u von sozialem Kapital ist insofern durchaus die Folge davon, dass Menschen aus freiem Entschluss intensiv miteinander kommunizieren. Solche Entschlüsse bedürfen gelegentlich der Ermutigung durch andere und staatliche Regulierung kann abschreckend wirken. Doch haben beispielsweise die Vorgänge im Vorfeld der Ereignisse von 1989/90 in Mittel- und Osteuropa gezeigt, dass sich auch unter schwierigsten Bedingungen Menschen freiwillig zu gemeinsamem Handeln zusammenschließen und selbst Gefahr f ü r Leib und Leben in Kauf nehmen, wenn ihnen das Ziel ihrer Aktivität wichtig genug erscheint. Der Arabische Frühling zeigt uns, dass dies auch heute, auch unter anderen Bedingungen und in anderen Kulturen aktuell ist. Die kommunikative Revolution der ersten Dekade des neuen Jahrtausends unterstützt solches Handeln und trägt dadurch zur S c h a f f u n g von sozialem Kapital bei. Dennoch bleibt die Frage, ob dies alles etwas mit dem Lebenssinn zu tun hat. Geht es hier um Einsicht in gesellschaftliche Notwendigkeiten? Oder hat der einzelne Mensch etwas davon, wenn er sich engagiert? In einem Extremfall, wie es der Arabische Frühling ohne Zweifel ist, kann vielleicht jeder seinen persönlichen

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Nutzen aus dem gemeinsamen Handeln ableiten. Aber wie steht es u m den alltäglichen Dienst, den vielleicht auch j e m a n d anderes t u n könnte, den zu t u n vielleicht A u f g a b e des Staates ist. Ein anderer Aspekt verdient es, an dieser Stelle e r w ä h n t zu werden: „Vertrauen scheint sich am besten in kleinräumigen, ü b e r s c h a u b a r e n Ordnungen zu entfalten, im Privaten, im Zwischenmenschlichen: also in einer Sphäre, wo es möglich ist, Menschen k e n n e n z u l e r n e n , ihr Verhalten zu beobachten, E r f a h r u n g e n mit i h n e n zu s a m m e l n u n d stabile Beziehungen aufzubauen." (Maier 1988: 35) Dieses Vertrauen ist in politischen und w i r t s c h a f t l i c h e n Z u s a m m e n h ä n g e n weithin abh a n d e n gekommen - kein Wunder, möchte m a n im A n s c h l u s s an Hans Maier sagen, d e n n diese sind längst zu groß, zu amorph, zu u n ü b e r s e h b a r geworden, u m die Bedingungen f ü r die Genese von Vertrauen zu erfüllen. Nur 38 Prozent der deutschen Bürger glauben, dass die Regierung im Wesentlichen das Richtige tut (vgl. Edelman 2010: 8), weniger als ein Drittel hat ein grundsätzliches Vertrauen in u n s e r politisch-administratives System (vgl. Opaschewski 2010), n u r 17 Prozent der Deutschen hatten 2010 Vertrauen in die Banken (vgl. Edelman 2010: 8). Dieser V e r t r a u e n s s c h w u n d wirkt sich verheerend auf die Kohäsion unserer Gesellschaft aus. Wenn es nicht gelingt, eine neue V e r t r a u e n s o r d n u n g zu schaffen, droht ein Z u s a m m e n b r u c h , der j e d e n v e r n ü n f t i g e n U m g a n g miteinander u n d mit den „Zeitbomben" verschiedenster Art, die w i r dringend e n t s c h ä r f e n müssen, ad absurdum f ü h r t . 5 Wir „befinden [...] uns im .turbulenten Teenageralter', einem J a h r z e h n t (oder mehr) der Orientierungslosigkeit u n d U n o r d n u n g " (Khanna 2011: 286). Wir benötigen soziales Kapital in nie g e k a n n t e m Maße.

Lebenssinn und Erbe als Elitenproblem „Die kommende Renaissance [nach dem f ü r die Gegenwart konstatierten neuen Mittelalter] wird eine Epoche der universellen Befreiung durch exponentiell wachsende u n d freiwillige Verbindungen sein. Wir stehen am A n f a n g einer neuen Ära, in der jedes Individuum u n d jedes Kollektiv in der Lage sein wird, seine eigenen Ziele zu verfolgen. Die Revolution in der Informationstechnologie b e f ä h i g t Menschen zu eigenmächtigem Handeln u n d dies wird u n s in eine Welt wechselseitiger Beziehungen zwischen zahllosen G e m e i n s c h a f t e n unterschiedlicher Größe f ü h r e n . " (Khanna 2011: 291) Die deutsche Öffentlichkeit hat eine Scheu vor dem Elitebegriff, die durch mediale Diskussionen a m Leben gehalten wird. Gewiss ist unsere Gesellschaft ganz reichlich mit Menschen bestückt, die zu Unrecht glauben, einer Elite zuzugehören. Die Mitgliedschaft in einem Golf-Club, die (oft recht sklavische) Befolgung von Moden eines äußeren Habitus u n d andere Äußerlichkeiten f ü h r e n eben gerade 5

Siehe hierzu Strachwitz 2010: 37 ff.

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nicht zu der erstrebten Zugehörigkeit. Und doch ist uns bewusst, dass in jeder Gesellschaft Teile von ihr den Anspruch erheben - und gar nicht so selten auch einlösen, in welcher Weise auch immer zu Führungsaufgaben berufen zu sein. Auf die Thematik des Lebenssinns bezogen, ist mit dem Anspruch, einer Elite zuzugehören unabhängig von der Frage, ob dieser Anspruch auch nur teilweise eingelöst oder akzeptiert wird, in jedem Fall ein anderer Lebensentwurf verbunden. Wer einer Elite zugehören will, muss sein Leben danach ausrichten, muss, und sei es im ganz Kleinen, eine singulare Position einzunehmen versuchen, durchaus in Demut und Bescheidenheit, durchaus mit vollem Respekt f ü r andere Lebensentwürfe, aber doch stets mit einer Überzeugung, dass der eigene geeignet ist, den selbst gesetzten Anspruch einzulösen. Dazu gehört auch, sich nicht in jeder Hinsicht verkollektivieren zu lassen, es heißt, wo immer möglich, seinen Standpunkt selbst zu vertreten. Anders ist der Elitenanspruch gar nicht zu artikulieren. Ebenso hat dieser gewiss Auswirkungen auf die Gestaltung des Lernens und des Weitergebens. Das Lernen hat einen Fokus, das Weitergeben ein Ziel: die vorgeblich oder tatsächlich errungene Elitenposition mitgeben zu können. Ob das in Zeiten wie diesen prinzipiell gelingen kann, ist eine ganz andere Frage, die hier nicht zu erörtern ist. Entscheidend ist der Wille. Wer sich in dieser Weise selbst versteht, f ü r den sind Du-Beziehungen von anderer Art; sie werden mit mehr Bedacht entwickelt und gepflegt. Auch der öffentliche Auftritt ist anders konstruiert. Er verleiht dem individuellen Anspruch Attribute, die diesen untermauern sollen. Insofern erscheint das vorher Ausgeführte unter diesem Vorzeichen in anderem Licht. Vor allem setzt sich in der Lebensgestaltung ohne Zweifel mit diesem Anspruch eine Scheu vor kollektivem Handeln durch. Das Genossenschaftsprinzip, das jeder Vereinigung eigen ist, und gerade der diese auszeichnende Partizipationsgedanke ist dem Elitenangehörigen fremd. Er bedarf eines eigenen, höchst individuellen Handlungsinstruments. Als Individuum und eben nicht als Kollektiv will er sich in die Gemeinschaft einbringen. Es scheint, als ob unter dem Vorzeichen, dass freiwillig zustande gekommene Organismen an sich zur Begegnung mit den Herausforderungen unserer Zeit geeigneter sind als Strukturen, in die man hineingeboren ist und denen man nicht entkommen kann, die Option der Stiftung im Kontext der Elite attraktiver erscheint als die assoziativen Instrumente. Die Stiftung aus philanthropischem Impuls k a n n - wohlgemerkt kann, muss nicht - eine Brücke zwischen dem elitären Individualitätsanspruch und der Notwendigkeit gemeinschaftsorientierten, vom freiwilligen Geschenk getragenen Handelns schlagen. Das Stiftungswesen bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen den Paradigmen des homo oeconomicus, des Individualismus, des staatlichen Monopolanspruchs und des moralischen Imperativs. Karl Popper hat in seinem Hauptwerk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde in Auseinandersetzung mit Piatons politischem Programm das Problem des Individualismus und Kollektivismus behandelt. Einen Gegensatz zwischen Individualismus und Egoismus zu konstruieren, weist er ausdrücklich zurück (vgl. Popper 1992: 120ff.).

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Vielmehr bilden f ü r ihn Kollektivismus und Individualismus einerseits, Egoismus und A l t r u i s m u s andererseits Gegensatzpaare. „Ein Gegner des Kollektivismus, also ein Individualist, [kann] zur gleichen Zeit ein Altruist sein." (Popper 1992: 121) Zwei Dinge sind an dieser Aussage bemerkenswert. Zum einen ist es die Herausstellung des Individualisten als eines wichtigen und legitimen Akteurs in der Gesellschaft. Popper erteilt damit der Vorstellung, alles müsse, u m mit Legitimität ausgestattet zu sein, von Repräsentanten verabschiedet worden sein, u n m i s s v e r ständlich eine Absage. Die V e r a n t w o r t u n g u n d das Recht, etwas einzubringen, hat v i e l m e h r jeder Bürger f ü r sich allein u n d aus sich allein heraus. Zum anderen ist das in Deutschland so beliebte Gegensatzpaar von A l t r u i s m u s u n d Eigennutz damit dekonstruiert. Vielmehr wird a n e r k a n n t , dass eigene und altruistische Ziele u n t r e n n b a r miteinander verquickt sind.

Der philanthropische Impuls Jack Ma, der Gründer von alibaba.com, der chinesischen Version von eBay, hat mit Millionen die chinesische Variante der Grameen Bank f i n a n z i e r t , die M i k r o kredite vergibt. Er sagt: „Wenn m a n ein Vermögen von m e h r e r e n Millionen oder gar Milliarden besitzt, d a n n gehört einem dieses Geld nicht mehr. Es ist eine Ressource, die der Gesellschaft gehört." 6 Ä h n l i c h e Aussagen f i n d e n w i r in Variationen bei zahlreichen anderen Zeitgenossen in allen Kulturen. Vom Zurückgeben an die Gesellschaft ist oft die Rede, auch von der höheren V e r a n t w o r t u n g der Vermögenden. Dem wird von Kritikern oft entgegengehalten, das seien letztlich Werbesprüche; so etwas sage m a n , u m sich beliebt zu machen, oder, schlimmer noch, u m die Mitwelt über die w a h r e n Absichten bewusst zu täuschen. Letztlich gehe es j e d e m u m den eigenen Vorteil, alles andere sei im Grunde gelogen. Nun ist gewiss nicht zu bestreiten, dass nicht j e d e r angebliche Philanthrop aus ganz u n d gar altruistischen Motiven handelt. 25 J a h r e E r f a h r u n g mit Persönlichkeiten, die ihre Philanthropie in die Form einer d a u e r h a f t e n S t i f t u n g gießen wollten, h a b e n mir bestätigt, was ein kluger Benediktiner-Abt mir einmal in einer sehr konkreten Situation eindringlich nahegebracht hat: „Man k a n n in die Seele eines anderen Menschen nicht hineinsehen." Dies gilt allerdings in jede Richtung. Es gibt eben d u r c h a u s Menschen, die vor Gemeinnützigkeit n u r so „triefen", von denen m a n aber n a c h einer Weile a h n t - gelegentlich auch sehr h a n d f e s t e r f ä h r t dass eben nicht die Allgemeinheit - der Nächste - im Z e n t r u m der Überlegungen steht, sondern das eigene Ich. Aber es gibt eben auch die, die zu einem o f t sehr schwer b e s t i m m b a r e n Teil einen Impuls verspüren, die Liebe z u m Nächsten zu leben, ihr konkrete Gestalt zu verleihen. In dieser Zwischenzone - oder sollte m a n

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Zitiert nach Khanna 2011: 232.

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sagen Kernzone, in der die Liebe zum Nächsten und zu sich selbst die in dem Wort ,wie' ausgedrückte unauflösliche Verbindung eingehen - vollzieht sich Philanthropie. So gesehen ist es also nicht nur übertrieben puristisch, sondern auch vom Ansatz her falsch, den reinen Altruismus zum positiven Wert an sich zu erheben und jedes Abweichen von dieser Norm mit dem Makel der Täuschung zu belegen. An dieser Stelle mag es hilfreich sein, die Bedeutung des Wortes Philanthropie in Erinnerung zu rufen. An seinen Wortwurzeln philos (der Freund) und anthropos (der Mensch) ist Philanthropie als griechischer Ausdruck erkennbar. Seine heutige Bedeutung erlangte der Begriff allerdings erst im 18. Jahrhundert, also interessanterweise gerade der Zeit, in der die Vertikalachse radikal in Frage gestellt wurde. 1774 wurde beispielsweise in Dessau das Dessauer Philanthropische Institut, kurz Philanthropin, gegründet, eine moderne Erziehungsanstalt nach den Grundsätzen damaliger Reformpädagogik. Wenn also heute, zumal im amerikanischen Gebrauch, philanthropist (der Philanthrop) mit dem Stiftungsgründer oder Großspender gleichgesetzt wird, so ist dies eine Verkürzung, die weder historisch noch etymologisch begründet werden kann. In seiner vollen Bedeutung sagt Philanthropie vielmehr etwas aus über ein - mag sein, säkulares - Verständnis des ganzen Lebens, sowohl in seiner zeitlichen Abfolge, als auch in seiner Fülle. Philanthropie im modernen Sinn ist eine der Gelingensbedingungen eines sinnerfüllten Lebens. Sie gehört zur Selbstverwirklichung, ist also eigentlich kein Opfer, sondern die ins Säkulare gewendete Selbstbezüglichkeit der Ich-Du-Beziehung. Wenn es in der - heute gültigen - Verfassung eines der ältesten Orden der christlichen Kirche, des meist kurz Malteser-Orden genannten Ritterlichen Ordens vom Spital des Heiligen Johannes des Täufers zu Jerusalem, heißt, der Orden diene „der Heiligung seiner Mitglieder", so widerspricht dies diametral dem gängigen Verständnis von Altruismus, entspricht aber dem Doppelziel der Philanthropie. Diese Heiligung widerspricht eben nicht, sondern wird geradezu bedingt durch den Hauptzweck des Ordens, den Kranken und Schwachen beizustehen. Dieses Argument wird von drei Impulsen gestützt, die in Kombination den philanthropischen Impuls dann befördern, wenn dieser tatsächlich zu dauerhafter Institutionalisierung f ü h r t - zur Stiftung. Diese Impulse sind keine Erfindung unserer Tage, sondern begleiten das Stiftungswesen seit den f r ü h e n Hochkulturen, in ihren Blütezeiten im Hellenismus, im nachkonstantinischen Christentum, im Islam, im europäischen Mittelalter, in der bürgerlichen Emanzipation des 19. Jahrhunderts und heute. Es wäre völlig falsch, sich dieser Impulse gewissermaßen zu schämen. Im Gegenteil: Man darf ruhig zu solchen Primärempfindungen und -zielen stehen. Der erste Impuls ist der Schenkungsimpuls. Es gibt ihn tatsächlich; dass er mit einer gewissen Reziprozitätserwartung verknüpft ist, steht dem nicht entgegen. Denn diese unterscheidet sich grundlegend von der des Tausches, wie er im Markt als Prinzip gilt. Im Markt tausche ich, was ich habe, gegen eine konkret erwartete Gegenleistung, die im Wesentlichen auch sogleich erfolgt. Auch mein Verhält-

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nis z u m Staat k a n n ich als Tauschgeschäft sehen. Hier tausche ich idealtypisch meine Steuern gegen einen v e r e i n b a r t e n Leistungskatalog: Sicherheit, öffentliche Güter, Dienstleistungen. Anders beim Geschenk: Ich m a g zwar hoffen, dass ich eine Gegengabe bekomme; ob sich diese H o f f n u n g aber erfüllt, bleibt prinzipiell ungewiss. Insbesondere ist es wahrscheinlich, daß nicht der Beschenkte mir eine Gegengabe anbietet, sondern dass diese in einem komplexen Gebilde von Sozialbeziehungen entwickelt und mir dereinst von einem Fremden angeboten wird. Wem das unrealistisch erscheint, dem sei angedeutet, dass die Primatenforscher diesen Impuls schon dort feststellen, einige Biologen behaupten dies auch von den Vögeln. Allerdings ist ein wichtiger Schritt in der Tierwelt nicht vollzogen: die seit der Achsenzeit in der menschlichen Gesellschaft entwickelte Sozialbeziehung zu f r e m d e n Menschen. Aristoteles spricht daher in seiner Nikomachischen Ethik vom Schenken als einem G r u n d m o t i v menschlicher Gemeinschaft. 7 Der f r a n z ö sische Anthropologe Francois P e r r o u x hat, bemerkenswerterweise 1959, also in einer Zeit, als das Bild des homo oeconomicus im A u f b l ü h e n war, dieses Konzept dadurch zurückgewiesen, dass er menschlichem Handeln drei Attribute zugemessen u n d j e d e m Attribut eine H a n d l u n g s s p h ä r e zugeordnet hat: Zwang, Tausch und Geschenk als Charakterisierungen von Staat, Markt und einem dritten Bereich, der heute allgemein als Zivilgesellschaft bezeichnet wird. Dieses Geschenk m u s s keineswegs materieller Natur sein. Das wichtigste Geschenk, das wir u n s e r e n Mitmenschen machen, ist nicht materieller Natur: es ist Empathie, das Mitempfinden an den G e f ü h l e n , dem Leid, der Freude eines anderen Menschen. Geschenkt wird auch Zeit, Zeit im b ü r g e r s c h a f t l i c h e n Engagement, aber auch im einfachen Zuhören, Da-sein, Hand halten. Geschenkt wird Reputation, Anteil an dem, was der Schenker ist. „Der echte Schatz des Sterblichen ist sein u n b e f l e c k t e r Ruf", lässt William Shakespeare in seinem Drama Richard II. den angeklagten Herzog Mowbray sagen. Geschenkt werden Ideen, Kreativität u n d vielleicht erst an letzter Stelle Vermögenswerte, bedeutende und gänzlich u n bedeutende. Das Geschenk einer Einladung, eines Besuchs, eines Gesprächs ist oft eine komplexe M i s c h u n g aus solchen Grundelementen - u n d doch oft das wichtigste Geschenk, das j e m a n d e r f a h r e n k a n n , der einsam ist, der kommunizieren möchte, der Freude am Z u s a m m e n s e i n mit anderen Menschen hat. Der zweite Impuls ist der Memorialimpuls. Wenngleich wir hier nicht auf biologische Forschung z u r ü c k g r e i f e n können, so ist doch, was den Menschen b e t r i f f t , der W u n s c h , in E r i n n e r u n g zu bleiben, ein kulturelles P h ä n o m e n , das u n s seit den f r ü h e s t e n Zeugnissen begleitet. Die ägyptischen P y r a m i d e n sind ein grandioses Beispiel d a f ü r , wie sehr eine E r i n n e r u n g s k u l t u r eine ganze religiöse Kosmologie beherrscht u n d Menschen zu schier übermenschlichen A n s t r e n g u n g e n angefeuert hat. Das Territorium des Römischen Reichs, von Nordengland über Westdeutschland u n d Italien bis nach Libyen und Syrien, ist gut bestückt mit Memorialstelen 7

Siehe hierzu Rassem 1979: 184.

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und anderen Denkmälern, die, wer immer sich das leisten konnte, aufstellen ließ, damit m a n sich später an ihn erinnere. Bis heute zehren die christlichen Kirchen in Europa von den Stiftungen f ü r das Seelenheil, auch Seelgerätsstiftungen gen a n n t , die gemacht w u r d e n , d a m i t m a n sich bis zum J ü n g s t e n Tage an den Verstorbenen erinnere u n d f ü r sein ewiges Heil bete. Für Aristoteles ist die Beziehung zu den Toten ein zweites G r u n d m o t i v menschlicher G e m e i n s c h a f t (vgl. hierzu Rassem 1979: 184). Ob dieser Impuls inzwischen von der Moderne hinweggefegt worden ist, wird im Folgenden noch zu erörtern sein. Der dritte Impuls ist ebenso wie der zweite kulturell bedingt. Den eigenen Willen durchzusetzen ist befriedigend, ist A u s d r u c k von Macht, b e k a n n t e r m a ß e n einem der ursächlichsten Antriebe des Menschen. Die A u s ü b u n g dieser Macht muss nicht anderen Menschen schaden. Nicht vor der Macht an sich müssen wir A n g s t h a b e n , sondern vor deren Missbrauch. Im kreativen Handeln muss der M a c h t i m puls überdies nicht sehr stark ausgebildet sein, die D u r c h s e t z u n g des Willens hat hier m e h r mit A n e r k e n n u n g zu t u n . Jeder Künstler weiß u m die Befriedigung, die die A n n a h m e seiner Kunst verleiht. Jeder Bauherr - und j e d e r Architekt zieht aus dem Wissen, dass sein Bauwerk ihn voraussichtlich überdauern wird, ein Glücksgefühl. In Luthers Satz mit dem Apfelbäumchen kommt es auch z u m A u s d r u c k . A n einer Stelle im Leben etwas zu s c h a f f e n , was n a c h h a l t i g sein wird, gehört ohne Zweifel zu den Impulsen, die unser Leben begleiten.

Philanthropisches Handeln 8 Was geschieht n u n also, w e n n diese Impulse mit anderen Gedanken z u s a m m e n k o m m e n , von denen schon die Rede war? Es k a n n sein, dass d a r a u s ein S t i f t u n g s impuls erwächst. Gemeint ist hier, was das Ergebnis b e t r i f f t , nicht notwendigerweise die S t i f t u n g im modernen j u r i s t i s c h e n Sinn. Stiften ist ein viel weiterer Begriff. Karl M a r x ist mit seinem b e r ü h m t e n Wort „Die Philosophen h a b e n die Welt n u r interpretiert; es kömmt [sie] aber darauf an, sie zu verändern!", insoweit ein geradezu p h ä n o t y p i s c h e r Stifter. Hier o f f e n b a r t sich ein geradezu unglaubliches Paradox: Der M a n n , der wie kein anderer der Kollektivierung das Wort geredet hat, erscheint selbst als individueller Ideengeber u n d gerade nicht im Sinne Kleists als Mitwirkender an einem kollektiven Denkprozess. Viele Staaten sind gestiftet worden - durch den Willen eines Einzelnen, etwas zu s c h a f f e n , das auf lange Zeit Bestand h a b e n sollte, das den eigenen Willen repräsentiert und das, subjektiv e m p f u n d e n , beschenkt wird mit einer Idee. Er w a r der Stifter des modernen Preußen, heißt es von König Friedrich II., dem Großen, schon bald nach seinem Tod. Gestiftet werden vor allem Ideen. Nicht u m s o n s t wird die christliche Kirche als die S t i f t u n g Jesu Christi bezeichnet; v o m Islam könnte m a n 8

So der Titel der Habilitationsschrift von Frank Adloff, Frankfurt a. M. 2010.

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in Bezug of M o h a m m e d Ähnliches sagen. In den meisten europäischen Sprachen ist S t i f t u n g und G r ü n d u n g dasselbe Wort: Foundation, fondation, fondazione sind Begriffe, die im Hausbau ebenso V e r w e n d u n g f i n d e n wie in der Stiftungslehre. „Eine u n v e r r ü c k b a r e Beziehung zu einem Leitbild ist eine S t i f t u n g . Sie erst ergibt ,Sitte u n d Brauch' statt dieses und j e n e s Verhaltens, und d a m i t erst die Möglichkeit einer W i s s e n s c h a f t von dem .Gebilde' dieses Brauchtums. Ohne das Vorhandensein bzw. Erkennen gestifteter Beziehungen k a n n m a n nicht von Geschichte sprechen." (Rassem 1979: 193) Das in j ü n g s t e r Zeit geradezu überbordende S t i f t u n g s w e s e n k a n n insoweit auch als Gegenbewegung gegen die tatsächliche oder j e d e n f a l l s vermutete („gefühlte") Flüchtigkeit des Seins gedeutet werden. Wer stiftet, so lässt sich folgern, erkennt f ü r sich die Vertikalität des Daseins an, stellt sich bewusst in die Geschichte. Dieses A r g u m e n t ist freilich ein zweischneidiges. Denn angesichts des horizontalen Lebensgefühls der Mehrheit der Zeitgenossen schreckt die Historizität des Stiftens, so sehr sie f ü r m a n c h e anziehend wirken mag, andere zugleich ab. Wer den philanthropischen Impuls verwirklichen will, vor einer zu sehr ausgestalteten Memoria aber z u r ü c k z u c k t , dem k a n n eine Überlegung helfen, die sich in den letzten J a h r e n verbreitet hat. Das Stiften wird in diesem Sinn aufgefasst als individualisiertes Umverteilungssystem, das über Sozialdruck u n d G r u n d b e d ü r f n i s s e (Schenken, Memoria) f u n k t i o n i e r t . Ü b e r n i m m t die hoheitliche Gewalt die Umverteilung, schwindet die Motivation f ü r ein selbstermächtigtes Komplementärsystem. Erst w e n n die Schwächen der Umverteilung erkennbar werden, kommt es zu einer Gegenbewegung, die aber d a n n nicht komplementär, sondern subversiv agiert. Das Stiften ist ein Agieren gegen den gleichmacherischen V e r w a l t u n g s staat. Jeder Stifter ist ein kleiner König. Je demokratischer eine Gesellschaft, desto höher die Attraktivität.

Fazit und Ausblick In unserer historischen Situation scheint es schwieriger d e n n j e zu sein, Lebense n t w ü r f e zu formulieren. Geradezu u n m ö g l i c h scheint es, diese mit dem Gedanken des Weitergebens a n die k o m m e n d e n Generationen zu v e r k n ü p f e n . Zu u n sicher erscheint alles Z u k ü n f t i g e . Zu verlockend ist es vielleicht, die Gegenwart auszukosten und die Z u k u n f t zu v e r d r ä n g e n . Und doch beweist uns eine Gegenbewegung, die Nachhaltigkeit einfordert, dass das Denken in Generationen nicht gänzlich aus der geistigen Formatierung v e r s c h w u n d e n ist. Allerdings entfaltet dieses Denken zurzeit eher als Produkt einer Subkultur seine Wirkung, als dass die Eliten e r k a n n t hätten, dass gerade sie an Nachhaltigkeit und lebensübergreifender P l a n u n g Interesse haben sollten. W ä h r e n d einerseits Kinder von der realen Welt abgeschottet werden, u m sie vor ihr „in Schutz zu n e h m e n " u n d sie auf eine angeblich elitäre Z u k u n f t vorzubereiten, wird andererseits die reale Welt und

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besonders deren Zukunft auch aus den Überlegungen mancher Angehöriger der Eliten ausgeblendet. Auch innerhalb der Eliten kann jedoch von einer Gegenbewegung gesprochen werden, die an Stärke zunimmt. So wird etwa bei vielen jüngeren, erfolgreichen Vertretern wirtschaftlicher Eliten Lebenssinn und Erbe, Lernen, Leben und Weitergeben viel früher und intensiver verknüpft als dies noch vor einer Generation der Fall war. Das Beispiel vergleichsweise junger Stifter (vgl. Neue Philantropie 2011: 98 ff.), die durch Philanthropie schon in der ersten Lebenshälfte ihrem Leben einen neuen Sinn geben wollen, die zunehmende Zahl von Kindern aus Eliten, die unter Verzicht auf hohe Einkommen in der Zivilgesellschaft ihre berufliche Zuk u n f t sehen, die Social Entrepreneurs und Social Investors, sie und andere tragen dazu bei, dass Gelingensbedingungen für ein erfülltes Leben zunehmend von der Sinnfrage abhängen und dass Mehrgenerationenplanungen wieder an Attraktivität gewinnen. Es ist nicht undenkbar, dass manches, was im 20. Jahrhundert als Fortschritt gepriesen wurde, im 21. als Irrweg erkannt wird. „Alle großartigen globalen Pläne verkennen die Tatsache, dass Repräsentation demokratische oder anderweitige - nicht genügt, um unser tief sitzendes Bedürfnis zu befriedigen, unsere Angelegenheiten in eigener Verantwortung zu regeln. [...] Die kommende Renaissance wird eine Epoche der universellen Befreiung durch exponentiell wachsende und freiwillige Verbindungen sein. Wir stehen am A n f a n g einer neuen Ära, in der jedes Individuum und jedes Kollektiv in der Lage sein wird, seine eigenen Ziele zu verfolgen. [...] Unordnung beziehungsweise Komplexität ist das, was dauerhaft unseren Alltag bestimmt. In der Zukunft wird es keine exklusiven, sondern multiple Souveränitäten geben." (Khanna 2011: 289ff.) In dieser Welt kommen auf wirkliche Eliten große Aufgaben zu. Lernen, Leben und Weitergeben wird darin zum Gradmesser eines erfüllten Lebens.

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Ein Leben mit dem Erbe: Chancen und Dilemmata zwischen Erwartungsdruck, Verantwortung, Handlungsstarre und Entscheidungsangst von Kai J. Jonas Ein Erbe kann vieles bedeuten. Es kann eine Chance darstellen, etwas Neues zu ermöglichen oder die Basis f ü r einen eigenen Lebensentwurf bieten. Ebenso ist denkbar, dass ein Erbe eine große Erleichterung bietet, da ein anderweitig und bereits bestehender monetärer Druck gemindert oder beendet werden kann. Ein Erbe kann auch mit neuer Verantwortung einhergehen oder mit der Aufgabe, etwas fortzuführen, das schon lange in der Familientradition liegt. Dies können Unternehmen, Immobilien oder ideelle Verpflichtungen sein. Aber auch auf einer psychologischen Ebene, also ohne ein direktes, greifbares Verantwortungsobjekt, kann ein Erbe eine belastende oder zumindest Auseinandersetzung fordernde Verantwortung darstellen. Eine Reihe von Fragen auf der Seite der Erben kann diese psychologische Verantwortungsebene beispielhaft verdeutlichen. Darf ich mit dem Erbe machen, was ich will oder muss ich es im Sinne des Erblassers weiterführen? Hinter dieser Frage steht der Widerstreit zwischen einer auf das Individuum ausgerichteten Lebensgestaltung und der Einbeziehung des genealogischen Hintergrunds dieser Person. Wie groß ist meine Freiheit im Umgang mit dem Erbe? Darf ich das Erbe auch anderen zugutekommen lassen? Mit der Einsetzung als Erbe hat ein Erblasser bestimmt, wer von dem Erbe Vorteile haben soll beziehungsweise wer es verwalten soll. Viele Erben versuchen, ein Erbe auf Abstand zu halten, indem sie beispielsweise Geld verschenken, spenden oder anderen von dem Erbe Vorteile geben. Sicherlich darf jeder Erbe mit dem Erbe so umgehen, wie er oder sie das will. Jedoch gibt es oft die normative Erwartung, das Erbe f ü r sich zu verwenden und nicht „bloß wegzugeben". Das ist insbesondere der Fall, wenn andere in einem Erbfall nicht bedacht wurden, aber auch nicht später an dem Erbe teilhaben können. Muss ich genauso erfolgreich sein wie die Erblasser, die die Erbmasse akkumuliert haben? Viele Erben sind sich unsicher darüber, welche Rolle von ihnen erwartet wird oder welche ihnen zusteht. Dürfen sie das Erbe verbrauchen, müssen sie es bewahren oder sogar vermehren? Gerade die impliziten Standards, die durch Eigenschaften der Erblasser entstehen, haben hier einen großen Einfluss.

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Muss ich sofort oder überhaupt eine richtige Entscheidung treffen? Wie groß ist mein zeitlicher Spielraum beziehungsweise gibt es eine richtige Entscheidung? Ein Erbe, das (plötzlich) zur Verfügung steht, erzeugt einen Entscheidungsdruck. Ob dieser tatsächlich besteht oder auferlegt ist, ist vielfach nicht eindeutig abzuleiten. Oft besteht die externe Erwartung, dass Erben nun Entscheidungen treffen. Darf ich mit dem Umgang des Erbes scheitern? Vielfach wird ein Erbe als eine Chance konstruiert, die man nicht vertun darf. Was Scheitern darstellt, ist zunächst definitorisch offen. Zudem ist zu hinterfragen, ob ein Scheitern erlaubt sein darf oder - im Falle von übermäßig erfolgreichen Erblassern - sogar muss. Wem gegenüber bin ich zu Rechenschaft verpßichtet? Vielfach sehen sich Erben einer ganzen Reihe von (nicht) berufenen Instanzen und Personen gegenüber, denen gegenüber sie Rechenschaft über ihr Tun pflichtig zu sein scheinen. Dies kann auch die eigene Person, also den Erben selbst, miteinbeziehen. Die Frage, ob die Rechenschaftsverpflichtung legitim ist, muss im Einzelfall geklärt werden und beinhaltet neben juristischen Elementen meist eine wichtigere psychologische Komponente. Bei Betrachtung der (zugegeben prototypischen) Formulierung der Fragen wird deutlich, dass eine deutliche normative Komponente vorliegt. Erben „dürfen" oder „müssen" etwas. Die sich anschließende Frage ist: Wer stellt diese Normen auf und wer kontrolliert oder sanktioniert ihre Einhaltung? Neben rein juristischen Aspekten, die aber in der Minderzahl sind, geht es eher um „weiche" Formen der Kontrolle. Im Kontext der Familie sind es oft die anderen Familienmitglieder, die diese Normen etablieren, kontrollieren und möglicherweise auch zu sanktionieren versuchen. Ob dies legitim ist, ist eine nicht-juristische Debatte und vielmehr in der Familiendynamik verankert. Viele Familien haben ein „Oberhaupt". Dies kann eine Vaterfigur, ein älterer Bruder oder auch eine Matriarchin sein. Oft ist diese normative Instanz auch gar nicht personifiziert, sondern existiert als psychologisches Konstrukt in den Köpfen der Erben. Das bedeutet nicht, dass sie deshalb weniger wirksam ist. Unsere eigene Handlungskontrolle kann im Gegenteil viel effizienter sein als eine Kontrolle durch eine externe Person. Reaktanz gegenüber Dritten (also die Ablehnung deren Einflusses) gelingt vielen Menschen besser als die Reaktanz gegenüber sich selbst. Unabhängig von der Frage, wo diese Instanz verortet ist, kann sie Macht ausüben, das Verhalten und die Entscheidungsprozesse von Erben steuern oder gar lähmen. Diese Macht muss sich nicht erst mit dem Erbfall einstellen, sie kann bereits zuvor erlebt werden - faktisch oder vorgestellt. Der Erbfall und alle damit verbundenen Erwartungen beginnen im Kopf bereits weit vor ihrem tatsächlichen Eintritt. Gesät wird dieses Phänomen bei-

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spielsweise bereits in kleinen, „unschuldigen" Aussagen gegenüber Kindern, die später mögliche Erben sein werden: „Dies wird später e i n m a l alles Dir gehören", stellt eine Bemerkung dar, die einen A n s p r u c h u n d aufgeladene V e r a n t w o r t u n g im Subtext in sich t r ä g t . Dieser Subtext ist u n a b h ä n g i g von der Aussage auf der ersten Ebene, dass es einmal zu einer (erfreulichen) E i g e n t u m s ü b e r t r a g u n g kommen wird (wobei die Trauerkomponenten dabei oft noch ausgespart bleiben). Sein Inhalt ist j e d o c h sofort psychologisch w i r k s a m auf einer zweiten Ebene: Das Kind muss die V e r a n t w o r t u n g erkennen u n d lernen, ihr gerecht zu werden. Z u s a m m e n g e f a s s t bleibt festzuhalten: Wo es etwas zu vererben gibt, werden Normen über den U m g a n g mit dem Erbe erzeugt, die in den Köpfen der Erben erstaunlich aktiv u n d steuernd wirken können. Dieses Steuerungsmoment k a n n produktiv oder richtungsweisend wirken sowie die nötige Reflexion erzeugen. Aber es k a n n auch destruktiv wirken, indem es sich als eine übermächtige A u f g a be manifestiert, die lieber vermieden als a n g e g a n g e n wird.

Entscheidungsprozesse bei Erben Im Kontext eines mit einem Todesfall assoziierten Erbfalls, was die S c h e n k u n g und damit den Vollzug zu Lebzeiten z u n ä c h s t a u s k l a m m e r t , b e f i n d e n sich viele Erben in einer Gemengelage von G e f ü h l e n . Sicherlich ist Trauer das stärkste Element, aber nicht die einzige Emotion. Auch k a n n es zu W u t g e f ü h l e n k o m m e n . Die Forschung zu Trauer hat verschiedene Trauerphasen ermittelt, die in vielen Fällen d u r c h l a u f e n werden: Verleugnung, emotionale Verarbeitung, Loslassen und Suche und A k z e p t a n z (vgl. Kübler-Ross 1969, 2001; Wagner 2013; Wehner/ Husi-Bader 2014). Der Vorteil solcher Phasenmodelle ist der Fokus auf die t e m p o rale Verlaufsdimension. Der Nachteil ist eine o f t m a l s zu lineare A u f f a s s u n g der Prozesse. Die Kritik der Modelle hat dementsprechend auch auf den (sich überlappenden) Wellencharakter von Trauerprozessen im Gegensatz zu einem S t u f e n m o dell verwiesen. Nach u n d neben der Trauer b e g i n n t mittelbar auch die (heute stark a d m i n i s t r a t i v überformte) A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit dem Erbe. Testamente müssen eröffnet, Erbscheine müssen b e a n t r a g t und das Erbe muss aufgeteilt werden. Und d a n n ist das Erbe plötzlich da. Die psychologische Realität einer Geldsumme auf dem eigenen Konto stellt sich schwieriger ein als beispielsweise die psychologische Besitznahme eines Hauses. Letzteres erfordert durch Unterhaltsverpflicht u n g e n auch eine sofortige A u s e i n a n d e r s e t z u n g oder „Pflege", wohingegen Geld, Wertpapiere et cetera auch gut auf einem Bankkonto „geparkt" werden können, mit dem m a n sich k a u m b e s c h ä f t i g e n muss. A m Beispiel von m o n e t ä r e m Erbe lässt sich die folgende A r g u m e n t a t i o n am leichtesten durchspielen, aber sie gilt mit E i n s c h r ä n k u n g e n auch f ü r Immobilien, A u f g a b e n oder auch f ü r Normen und Werte.

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In weniger wohlhabenden Kontexten von Erbschaften stellt sich die große Frage der Auseinandersetzung mit dem Erbe in einem geringen Maße oder gar nicht. Das Erbe wird vielfach zur Deckung von Verpflichtungen benötigt und ist damit eigentlich bereits verplant. Oder die geringen Erbsummen werden im Alltag benötigt und brauchen sich Stück f ü r Stück auf. In diesen Fällen tritt vielfach eine spätere Reue auf, mit dem Erbe nichts oder wenig Signifikantes oder Dauerhaftes gestaltet zu haben. In diesen Fällen bestimmen externe Faktoren den Umgang mit dem Erbe und lassen psychologischen Prozessen weniger Spielraum. In wohlhabenderen Kontexten nimmt der Einfluss von solchen externen Faktoren ab; es entsteht Raum f ü r die psychologischen Prozesse. Der Übergang ist selbstverständlich fließend und Ausnahmen sind natürlich denkbar. Frühere Forschung hat versucht, in Anlehnung an Konsumtypologien so genannte Erbentypologien zu entwickeln. Braun, Burger, Miegel, Pfeiffer und Schulte (2002) und später Braun und Pfeiffer (2011) unterscheiden sechs Typen. Die Unterteilung in (1) überrascht zerrissene, (2) überrascht konsumfreudige Erben, (3) Treuhänder., (4) Rationale Bewahrer, (5) Selbstverwirklicher und (6) Restkategorie ist vielleicht in den Details zu wenig trennscharf (zum Beispiel zwischen Treuhändern und rationalen Bewahrern) und vermisst in jedem Fall ein temporär-dynamisches Element: Wie verändern sich diese Typologien im Verlauf der Zeit, das heißt mit der Zunahme der zeitlichen Distanz zum Beginn des Erbfalls? Leider ist noch keine Integration von Trauerprozessmodellen mit Erbentypologien vorgenommen worden. Somit muss noch unklar bleiben, w a n n (und ob überhaupt) sich Erbentypologien ausbilden und wie stabil diese sind. Weiterhin können Reflexionsprozesse, die das Erbe betreffen, unabhängig von einer bestimmten Typologie oder ihres Verlaufs auftreten. Daher erscheint es sinnvoll, auch die psychologischen Determinanten und Prozesse genauer herauszuarbeiten, die unabhängig von Typologien und zeitlichen Verläufen den Umgang mit einem Erbe beeinflussen können. Hierzu ist ein Blick in die Motivationspsychologie sinnvoll, da Handlungen und Entscheidungen im Kontext des Erbes notwendig sind und Ziele und deren Erreichung relevant sein können. Die Motivationspsychologie unterscheidet beispielsweise Handlungs- und Lageorientierung als eine Beschreibung von menschlichem Verhalten (vgl. Kuhl/Beckm a n n 1994). Menschen, die eher zu einer Handlungsorientierung neigen, sind zukunftsorientiert und lösen Probleme aktiv. Lageorientierte hingegen sind eher vergangenheitsorientiert und lösen Probleme durch tiefe Informationsverarbeitung. Beiden Ansätzen haften Vorteile wie auch Nachteile an. Aber gerade eine lageorientierte Person k a n n in einem Erbkontext in (zu) langen Schleifen der Abw ä g u n g aller Optionen und Risiken verhaften bleiben. Handlungsorientierte hingegen haben das Risiko, mehr Reue über irreversible Entscheidungen zu erleben. Ein anderes Modell, das der regulatorischen Fokustheorie, unterscheidet zwischen

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Promotions- und Präventionsorientierung. Promotionsorientierung als Zielerreichungsprozess ist auf Gewinnmaximierung ausgelegt, ein Präventionsfokus auf die Vermeidung von negativen Konsequenzen (vgl. Higgins/Shah/Friedman 1997). Auch hier gilt wieder, dass beide Fokusse Vor- und Nachteile haben. Gewinnmaximierung muss nicht immer die optimale Lösung sein und das Vermeiden von Verlust kann ebenfalls zu einer Handlungsstarre führen. Diese Formen der Handlungs- und Entscheidungsstarre lassen sich gut auf der Makroebene mit zwei Begriffen aus der Jugendsprache beschreiben: „yolo" und „fomo". Yolo steht für „you live only once" (Spiegel 2012) und kann als moderne Form des „carpe diem" oder „Nutze den Tag" verstanden werden. Allerdings kommt bei yolo oft noch eine Risikokomponente hinzu. Da man nur einmal lebt, sind bestimmte Risiken erlaubt. Yolo wird als Begründung eingesetzt, um unsinniges, verantwortungsloses Handeln zu legitimieren. Auf das Erbe übertragen ist dies die Legitimation zur hedonistischen Verwendung des Erbes, auch mit dem Risiko des Scheiterns und des totalen Kapitalverlusts. Yo/o-Erbverhalten entsteht häufiger, wenn die verwandtschaftliche Distanz zum Erblasser größer wird (beispielsweise das Erbe einer Großtante im Vergleich zu einem Erbe der eigenen Eltern), eine negative Beziehung bestand (der ungeliebte Vater) oder der Erblasser unter Umständen noch Wohlstandsmerkmale besaß (im Vergleich zur immer sparsamen Großmutter). Dem Yö/o-Erbverhalten gegenüber steht „Fomo", für „fear of missing out" (vgl. Oxford Dictionary, o. D.), also der Sorge, etwas zu verpassen, was auch noch möglich gewesen wäre. Fomo kann auch die Entscheidungs- und Handlungsstarre bedingen, da sich Erben nicht zu notwendigen Entscheidungen im Umgang mit dem Erbe drängen lassen wollen aus der Angst, durch eine Entscheidung eine bessere Option zu verpassen. Gerade die Fomo-Erben drohen an der Vielzahl der Möglichkeiten zu ersticken, die ihnen ihr Erbe bietet. Sie erscheinen wie das Kaninchen vor der Schlange, wobei das Bild hier an sich nicht passt, da das Erbe an sich keine Schlange ist (also negativ), sondern nur die Bedrohlichkeit einer Schlange übernommen hat. Diese paradoxe Lage wird oft noch dadurch verstärkt, dass die Erben unter der Beobachtung der noch lebenden Erblasser stehen, wodurch eine weitere Bedrohungsebene hinzukommt. Zusammengefasst bedeutet dies, dass gerade die Wohlstandserben harte psychologische Arbeit leisten müssen, um mit ihrem Erbe sinnvoll (in der jeweiligen individuellen Form) umzugehen. Tun sie das nicht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu nicht reflektierten Übersprunghandlungen kommt (Yö/o-Erben) oder dass die Erben in einer Handlungsstarre verbleiben (Fomo-Erben). Die beraterische oder therapeutische Praxis ist auf die Form der Erbproblematik noch wenig eingestellt. Dies liegt an einer Reihe von Faktoren. Zunächst wird die Problematik als Luxusproblem eingeschätzt, das vielfach therapeutisch nicht ernst genommen wird, beziehungsweise bei dem sich Erben schämen, es als Problem zu benennen. Weiterhin liegt es an der Verwendung von wenig umfassenden Analysen und Interventionsmodellen (Trauermodelle und Erbentypologien), die

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der grundlegenden Problematik, in der sich diese Personenkreise befinden, nicht gerecht werden. Letztlich müssen die psychologischen Prozesse noch abstrakter, beispielsweise motivationspsychologisch, analysiert werden, um Menschen in diesen Situationen hilfreich zur Seite stehen zu können. Ganz hoffnungslos ist die Situation allerdings nicht, denn Ausnahmen stellen bestehende Beratungsangebote zur Philanthropie und zur intergenerationalen Firmenübernahme dar. Das skizzierte Bild ist allerdings noch komplexer. Eingangs haben wir das vorgezogene Erbe, die Schenkung, zunächst ausgeblendet. Im folgenden Abschnitt widmen wir uns nun dieser Form des vorgezogenen Erbes.

Die andere Perspektive: W i e sehen dies die Erblasser?

Der Erbprozess hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Die typische Filmszene, in der ein Testament eröffnet wird und die Erben keine Ahnung davon haben, wie viel es zu erben gibt und wer es erhält, gehört immer mehr der Vergangenheit an. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Erstens haben sich die Familienbeziehungen geändert. Kinder haben mehr Mitspracherechte und werden an Familienentscheidungen beteiligt, Eltern sind seltener Patriarchen. Dadurch wissen Kinder häufig, was es zu erben gibt und wer etwas davon erhält, auch wenn das nicht immer konfliktfrei abzulaufen hat. Zweitens hat sich zumeist aus steuerlichen Gründen in Deutschland ein vorgezogenes Vererben etabliert. Erben erhalten Erbanteile in Form von Schenkungen bereits zu Lebzeiten der Erben. Drittens machen die wirtschaftlichen Geflechte, in denen sich Familienunternehmen oftmals befinden, eine transparente Auseinandersetzung notwendig, bevor der Erbfall eintritt. Erben und Erblasser sind heute somit viel verschränkter als in der Vergangenheit. Aus dieser Verschränkung heraus entsteht zugleich eine neue Form des Informationsaustauschs über das Erbe: Wer bekommt was, aber auch was tun diejenigen damit. Dieser kommunikative Erbprozess (vgl. Jonas/Jonas 2012) bietet eine Reihe von Chancen, aber auch die kontrollierende Möglichkeit für Erblasser, ihre testamentarische Entscheidung zu überdenken, wenn ihnen die Ansichten oder das Verhalten der Erben nicht zusagen. Gleichzeitig sind die Erben viel früher mit einer Auseinandersetzung über ihren Umgang mit dem Erbe konfrontiert und stehen dabei noch unter Beobachtung. An einem fiktiven Beispiel wird dies deutlich. Kinder einer Unternehmerfamilie haben bereits aus dem großelterlichen Erbe und Schenkungen der Eltern zu Lebzeiten größere Geldbeträge erhalten beziehungsweise beziehen ein Einkommen aus Immobilienbesitz. Keines der Kinder nutzt das Geld unternehmerisch, um beispielsweise ein eigenes neues Unternehmen zu gründen, da sie alle nicht-wirtschaftliche oder -juristische Ausbildungen erhalten haben, die gerade auf der Basis der Wohlstandsfreiheitsgrade der Eltern möglich wurden (man denke an Kunstgeschichte oder ähnliches). Sie treten somit aus der

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Sicht der Eltern nicht in ihre Fußstapfen, von der Ü b e r n a h m e der elterlichen Firmen einmal ganz abgesehen. Diese Konfliktlage - teilweise ausgesprochen, teilweise nur indirekt zugänglich - f ü h r t bei den Eltern zu der Entscheidung, den Kindern nach Erhalt des Pflichtteils kein weiteres Erbe z u k o m m e n zu lassen, da sie ihre elterlichen Ideale u n d u n t e r n e h m e r i s c h e n Normen nicht erfüllt sehen. Stattdessen planen die Eltern, eine S t i f t u n g mit ihrem Erbe zu bedenken. Die Kinder a h n e n von der W a h r n e h m u n g der Eltern, dass sie deren u n t e r n e h m e r i s c h e Ambitionen nicht e r f ü l l e n u n d d a m i t ihre Eltern enttäuschen. Gleichzeitig beschreiben sie aber auch ihr Dilemma. Sie f ü h l e n sich gefangen in dem A n s p r u c h , etwas Eigenes a u f z u b a u e n , die elterlichen U n t e r n e h m e n zu ü b e r n e h m e n u n d wissen gleichzeitig aus dem Elternhaus von der Möglichkeit des u n t e r n e h m e r i s c h e n Scheiterns. Sie wollen ihre Eltern nicht enttäuschen, aber auch das Richtige f ü r sich selbst t u n . In der Suche nach dem richtigen Schritt sind sie in einer Entscheidungsstarre gelandet, die zu der negativen B e w e r t u n g durch ihre Eltern f ü h r t u n d diese n u r verstärkt. Beraterisch lässt sich so ein „Erbknoten" lösen, allerdings nur, w e n n alle Parteien mitarbeiten u n d erkennen, dass mit den finanziellen Möglichkeiten auch eigenständige u n d selbst bedrohliche Entscheidungen (für eigene Werte u n d Normen) einhergehen k ö n n e n u n d dass möglichweise noch Ausbildungsschritte nachgeholt werden müssen, u m die gewünschte u n t e r n e h m e r i s c h e Aktivität erfolgreich u m z u s e t z e n . Dies zu erkennen ist eine große Herausforderung f ü r die Erblasser u n d die Erben gleichermaßen. Früher f a n d dies seltener statt, die Beoba c h t u n g durch den Erblasser trat a u f g r u n d dessen Todes nicht ein. Es w a r n u r eine familiäre Normkontrolle möglich, die aber andere Freiheitsgrade beinhaltete. Die gemeinschaftliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g über den Erbprozess und die Verwend u n g des Erbes - zu Lebzeiten aller Beteiligten - ist daher die einzige Möglichkeit, allen Beteiligten die Reflexion u n d Freiheitsgrade zu ermöglichen, die f ü r einen zufriedenstellenden Erbprozess (aus Sicht der Erblasser) u n d einen zufriedenstellenden U m g a n g mit dem Erbe (aus der Sicht der Erben) notwendig sind.

Fazit Die Erbengesellschaft der Gegenwart hat ihre Eigenschaften geändert. Die Erbs c h a f t kommt heute mit Möglichkeiten, aber auch mit Herausforderungen, die oft nicht einfach zu meistern sind. Ein Erbe e r ö f f n e t Möglichkeiten u n d erzeugt V e r a n t w o r t u n g . In dieser Dialektik müssen Erblasser und Erben sich zu bewegen lernen. Gerade das Ziel der Erben, das Richtige zu t u n und, u m sich nicht falsch zu entscheiden, besser erst einmal nichts zu t u n , k a n n von der noch lebenden Erblassergeneration als H a n d l u n g s s t a r r e w a h r g e n o m m e n werden. Die A u s e i n a n dersetzung u n d Kommunikation d a r ü b e r sind ein erster Schritt hin zu der Lösung dieses Problems von Erben in einer Wohlstandsgesellschaft.

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Literatur Braun, R./Burger, F./Miegel, M./Pfeiffer, U./Schulte, K. (2002): Erben in Deutschland. Volumen, Psychologie und gesamtwirtschaftliche Auswirkungen. Köln: Deutsches Institut für Altersvorsorge. Braun, R./Pfeiffer, U. (2011): Erben in Deutschland. Volumen, Verteilung und Verwendung, empirica ag, forschung + Beratung, im Auftrag: Des Instituts für Deutsche Altersvorsorge, Köln http://www.empirica-institut.de/kufa/erben_in_d_bis_2020.pdf. Higgins, E. T./Shah, J./Friedman, R. (1997): Emotional responses to goal attainment: Strength of regulatory focus as moderator. Journal of Personality and Social Psychology, 72, 515-525. Jonas, K. J./Jonas, H. A. J. (2012): Konfliktfrei vererben: Ein Ratgeber für eine verantwortungsbewusste Erbgestaltung. Göttingen: Hogrefe. Kübler-Ross, E. (2001): Interviews mit Sterbenden. München: Droemer Knaur. Kühl, J./Beckmann, J. (Hrsg.) (1994): Volition and Personality. Action versus state orientation. Göttingen: Hogrefe und Huber. Oxford Dictionary (o. D.). Fomo. http://www.oxforddictionaries.com/de/definition/englisch _usa/FOMO Spiegel (2012): Yolo, Alter, http://www.spiegel.de/schulspiegel/jugendwort-des-jahres-2012jury-kuert-yolo-a-869201.html, letzter Zugriff 23.07.2015. Wagner, B. (2013): Normale Trauer und Trauertheorien. In: Komplizierte Trauer (pp. 1 - 12). Berlin u. Heidelberg: Springer. Wehner, L./Husi-Bader, B. (2014): Trauerbegleitung. In: Empathische Trauerarbeit (pp. 5-16). Wien: Springer.

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Vererben und Erben sind heikle Themen, die tief in das Familienleben eingreifen und die Familienmitglieder emotional sehr berühren. Eine wesentliche Rolle spielt dabei, dass diese Prozesse mit dem Ableben eines engen Angehörigen und der damit verbundenen Trauer einhergehen. Der bevorstehende oder bereits eingetretene Tod eines Elternteils wirft dessen Kinder auf sich zurück und k a n n ihre Beziehung stärken, sie einander (wieder) näher bringen. Aber die Realität sieht oft anders aus und Abgrenzung und Distanzierung sind die Folge. Jeder kennt aus seinem Verwandten- oder Freundeskreis solch schwierige Erbschaftsgeschichten, die ganze Familien spalten und auseinanderbrechen lassen können (vgl. Plogstedt 2011). Erbschaftskonflikte ziehen sich teilweise bis weit in die nachfolgenden Generationen hinein. Bei diesem Thema wird schnell an Erbschleicher gedacht, die sich auf Kosten der anderen Erben zu Unrecht bereichern. Nach welchen Strategien Erbschleicher vorgehen, schildert die Ordensschwester Bernadette Bromme (2011) eindrucksvoll. Das Erben bzw. Vererben ist gesellschaftlich eher tabuisiert, weil es nicht selten eines der finstersten Kapitel von Familiengeschichten berührt. Gleichzeitig hat dieses Thema seit Menschengedenken Familien intensiv beschäftigt. Schon in der Bibel finden sich hierzu erste Beiträge (vgl. das Kapitel von Bilgri in diesem Band). In den klassischen Märchen wie z.B. Die drei Federn läuft das Vererben typischerweise so ab: Der alternde Königsvater gibt seinen Söhnen einen A u f t r a g und verspricht demjenigen den Königsthron, der diesen am besten erfüllt. Auch in der Belletristik haben sich viele Autoren diesem Thema gewidmet. Ein Beispiel f ü r einen berühmten Roman sind die Buddenbrooks, in denen Thomas Mann (1901/2008) den dramatischen Untergang des Familienunternehmens nachzeichnet. Ebenso begegnet man in modernen Medien diesem Stoff, wie beispielsweise in der beliebten TV-Familienserie „Das Erbe der Guldenburgs". Besonders spektakuläre Fälle von Erbstreitigkeiten, in denen es zu dramatischen Eskalationen bis hin zu Selbstmord oder Tötungsdelikten kommt, werden in den Medien gern ausgeschlachtet. Heutzutage ist dieses Thema umso bedeutsamer, als die jetzt alternde Generation in Deutschland der nachfolgenden ein beträchtliches Vermögen hinterlässt. Laut einer Studie der Postbank (2013) werden bis zum Jahr 2020 etwa 2,6 Billionen Euro vererbt, sowohl in Form von Immobilien als auch von privatem Geldvermögen (vgl. Lauterbach/Lüscher 1996). Darüber hinaus gestalten sich Vererben und Erben in den heute weit verbreiteten Fortsetzungs- und Stieffamilien deutlich komplizierter und häufig in aufgeheizter Stimmung, denn

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die relative Erbmasse schrumpft mit der Zahl der Erben. In diesen Familien konkurrieren leibliche und angeheiratete Kinder, was das Konfliktrisiko erhöht. Erbschaften werden von den einzelnen Erben oft sehr unterschiedlich erlebt. In der Regel ist eine Erbschaft ein willkommenes Ereignis, denn sie trägt dazu bei, die Lebensqualität zu verbessern und sich bestimmte Wünsche zu erfüllen. Geht dagegen ein Angehöriger leer aus oder erhält einen deutlich kleineren Anteil als andere, so r u f t dies heftige Gefühle von Benachteiligung und Enttäuschung hervor. Kaum ein anderer Finanztransfer in Familien ist emotional so behaftet wie das Vererben bzw. Erben, denn es handelt sich dabei um ein machtvolles Mittel der Beziehungsgestaltung. Erblasser drücken damit Wertschätzung oder Herabsetzung f ü r ihre Nachkommen oder Anverwandten aus, belohnen oder bestrafen diese f ü r ihr Verhalten. In etlichen Familien kommt es zu unüberbrückbaren Konflikten bezüglich der Verteilung der Erbmasse, hauptsächlich entweder unter den Kindern oder zwischen diesen und einem neuen Partner des Verstorbenen sowie eventuell weiteren Halb- oder Stiefgeschwistern, seltener mit anderen, nicht verwandten Personen (vgl. Plogstedt 2011). Die familialen Zerwürfnisse sind an Heftigkeit kaum zu überbieten und ziehen sich oft j a h r e l a n g hin (vgl. Schönberger 2008).

Derart hartnäckige Erbstreitigkeiten lassen sich oft nicht im Kreis der Familie lösen, sodass Rechtsbeistand eingeholt wird. Laut Postbankstudie zeichnet sich ein Trend dahingehend ab, immer häufiger juristische Unterstützung einzuholen: Bisherige Erben hatten sich nur in jedem vierten Erbfall bei Beratern informiert, von den jetzt angehenden Erben aber hatte oder plant schon jeder Dritte, Rechtsbeistand in Anspruch zu nehmen. Der aufblühende Zweig der Erbschaftsmediation zeugt von diesem steigenden Beratungsbedarf. Ebenso haben entsprechende Ratgeber Hochkonjunktur, die wertvolle Informationen und Tipps liefern (z.B. Jonas/Jonas 2013). Nicht zuletzt sind auch psychologische Beratungsstellen und psychotherapeutische Praxen damit konfrontiert, weil die Betroffenen extrem darunter leiden. Angesichts der Brisanz dieses Themas und dessen breiter Resonanz in der Ratgeberliteratur erstaunt es umso mehr, dass man in der familienpsychologischen Fachliteratur diesbezüglich auf ein Vakuum stößt. Das Thema wird nur selten behandelt, wie auch die Rolle von Geld in Familien überhaupt. Vielmehr wird dieser Forschungszweig von ökonomischen und soziologischen Ansätzen dominiert. Familienpsychologisch handelt es sich jedoch um ein äußerst spannendes Thema, das einen tiefen Einblick in Familiendynamiken liefert. Beim Vererben und Erben geht es um mehr als rein materielle Transfers, denn sie spiegeln Qualität und Dynamik der Beziehungen am Ende der Familiengeschichte wider. Für das einzelne Familienmitglied handelt es sich um ein kritisches Lebensereignis, über dessen subjektiver W a h r n e h m u n g und Bewältigung wir aus psychologischer Sicht bisher so gut wie nichts wissen.

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In diesem Beitrag wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu dieser Thematik gegeben, hauptsächlich aus Sicht der Familien- u n d Entwicklungspsychologie. Zunächst werden die Rolle von Geld in Familien allgemein sowie speziell die Formen intergenerativen Transfers zwischen Eltern u n d ihren erwachsenen Kindern erläutert. Es folgt ein A b s c h n i t t über die Bedeutung des Vererbens f ü r die Elterngeneration sowie ihre Motive bei der A u f t e i l u n g des Erbes. Anschließend geht es u m die Situation von Geschwistern in späteren Lebensphasen sowie das Erleben einer Erbschaft u n d deren Folgen f ü r die Geschwisterbeziehungen. Das Kapitel endet mit einer Z u s a m m e n f a s s u n g u n d einem Ausblick.

Finanzielle Transfers zwischen den Familiengenerationen Die Bedeutung von Geld in Familien

Geldtransfer allgemein hat in Familien sehr unterschiedliche Bedeutungen. Faktisch hat Geld die Bedeutung, die ökonomische Existenz der Familienmitglieder zu sichern oder i h n e n Mittel f ü r bestimmte Vorhaben zur V e r f ü g u n g zu stellen. Daneben hat Geld eine symbolische Bedeutung, weil Familienmitglieder mit finanziellen Transferleistungen auch i m m e r eine gewisse W e r t s c h ä t z u n g z u m A u s d r u c k bringen (vgl. z.B. Moch 1993). Geld ist d e m n a c h ein Mittel f ü r die Darstellung von Beziehungen. Geldgeschenke wie Erbschaften werden weiter d a nach differenziert, ob sie eher eine instrumentelle oder eine expressive Funktion h a b e n : Im ersten Fall ist das Erbe an einen b e s t i m m t e n Zweck (Ausbildung der Kinder, ein bestimmtes Projekt) gebunden, im zweiten Fall wird auf diese Weise Z u n e i g u n g ausgedrückt (vgl. Nauck 2010). Das Thema Geld spielt in Familien eine besondere Rolle, da finanzielle Transfers die Qualität der Familienbeziehungen b e e i n f l u s s e n . Systemtheoretisch besteht ein Familiensystem aus mehreren sich wechselseitig b e e i n f l u s s e n d e n Subsystemen: der elterlichen Dyade, der(n) Eltern-Kind-Dyade(n) u n d der Geschwisterdyade (vgl. Schneewind 2010). Auch in den zugedachten Geldern spiegeln sich Sympathien und A n t i p a t h i e n zwischen den Familienmitgliedern wider. Dies w i e d e r u m wirkt sich direkt auf die Qualität der ehelichen Ehe, der Eltern-Kind- u n d der Geschwisterbeziehung aus, u n d f ü h r t nicht selten zu G e f ü h l e n der Benachteiligung oder der Bevorzugung. Letzteres gilt u m s o mehr, w e n n aus neuen Verbindungen eines Elternteils noch Stief- und/oder Halbgeschwister h i n z u k o m m e n , die zu versorgen sind. Aus psychologischer Sicht wird die Familie als eine Gruppe von Menschen definiert, „die durch n a h e u n d d a u e r h a f t e Beziehungen miteinander v e r b u n d e n sind, die sich auf eine nachfolgende Generation hin orientiert u n d die einen erzieherischen u n d sozialisatorischen Kontext f ü r die Entwicklung der Mitglieder bereitstellt" (Hofer 2008: 6). Zu den sozialisatorischen A u f g a b e n der Eltern gehört auch,

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den Kindern einen angemessenen Umgang mit Geld beizubringen (siehe unten). „Familienspezifische Geld- u n d F i n a n z k u l t u r e n " (Fooken, 1998) werden den Kindern von ihren Eltern m o d e l l h a f t vorgelebt: Wird das Geld eher gespart oder großzügig ausgegeben? Weiterhin belohnen Eltern ihre Kinder gern mit finanziellen Zuwendungen f ü r Mithilfe im Haushalt oder gute Leistungen. Mit Geschenken wird Liebe und Dankbarkeit zwischen Familienmitgliedern z u m A u s d r u c k gebracht. Da Familienbeziehungen einzigartig im A u s m a ß ihrer Nähe u n d Solidarität sind, gestaltet es sich äußerst schwierig, ihren Wert in Geldflüssen a u s z u d r ü cken. Insgesamt ist Geld in Familien o f t ein Tabuthema. Nicht selten sind daher Geldangelegenheiten Inhalte von Familiengeheimnissen, beispielsweise werden „unmoralisch" erworbener Reichtum oder heimliche Schulden verschwiegen (vgl. Fooken 1998). Die Gelderziehung hat in jeder Familienphase eine spezifische Funktion, wie dies Tabelle 1 veranschaulicht. Tabelle 1: Geldbezogene Familienaufgaben Altersphase der Kinder

Familienaufgabe

Kindheit

Eltern vermitteln den Kindern die Bedeutung von Geld

Jugendalter

Eltern und Kinder verhandeln die Höhe des Taschengeldes

frühes Erwachsenenalter

Eltern finanzieren die Ausbildung der Kinder, helfen beim Berufseinstieg

mittleres

Eltern unterstützen Kinder (Enkel) bei besonderen Anschaffungen und in Krisen

höheres

Erwachsenenalter Erwachsenenalter

Eltern regeln ihr Erbe, teilen es zwischen den Kindern auf

Quelle: Wempe 2013

Zu Beginn der Entwicklung sehen Eltern es als eine wesentliche Erziehungsaufgabe an, ihren Kindern den Wert von Geld beizubringen. Geld wird aber auch als Erziehungsmittel zur B e s t r a f u n g beziehungsweise Belohnung kindlichen Verhaltens eingesetzt. Im Jugendalter ist das Verhandeln von Taschengeld ein zentrales K o n f l i k t t h e m a in Familien. Höhe und Verwendungszweck von Taschengeld spiegeln elterliche Erziehungswerte wider. Die Jugendlichen fordern oft Erhöhungen, um ihre steigenden Bedürfnisse (Kleidung, neue Medien) zu erfüllen, u n d wollen über dessen Verwendung selbst entscheiden. Die Ausbildungszeit der Kinder ist f ü r Familien die Phase, in der sie die höchsten finanziellen A u f w e n d u n g e n erbringen müssen. Lange Ausbildungszeiten u n d Unsicherheiten beim Berufseinstieg der Kinder belasten viele Eltern erheblich, S p a n n u n g e n in der Eltern-Kind-Beziehung können die Folge sein. Eltern u n t e r s t ü t z e n ihre Kinder oft auch d a n n noch, w e n n diese schon erwachsen sind (siehe unten). Im Alter schließlich steht die Regelung des elterlichen Erbes a n : Die Weitergabe materieller Güter der Eltern- an die Kin-

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dergeneration ist der letzte Akt intergenerationeller Solidarität. So behalten Eltern über ihren Tod hinaus Einfluss auf das Leben ihrer Kinder. Der familiale Umgang mit Geld orientiert sich an der dominierenden Geldkultur der Gesellschaft: In ökonomisch schlechten Zeiten wie etwa in der Nachkriegszeit wird gespart, die Ausgaben werden gut überlegt, während in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs großzügiger Geld ausgegeben wird und die Familien sich etwas leisten (vgl. Fooken 1998). Die aktuell das Alter erreichende „Wirtschaftswunder-Generation" k a n n besonders großzügige Schenkungen machen, in den alten Bundesländern noch ausgeprägter als in den neuen (vgl. Leopold 2009). In Abhängigkeit von den finanziellen Ressourcen der Familien wachsen Kinder unter sehr unterschiedlichen Bedingungen auf. Das Spektrum reicht von Kindern, die an der Armutsgrenze leben, bis hin zu verwöhnten „Konsum-Kids", die im Überfluss leben. Die finanzielle Lage einer Familie wirkt sich auch auf die Beziehungsdynamik aus. Armut gilt als ein Risikofaktor f ü r negative Familieninteraktionen (vgl. Walper/Schwarz/Gödde 2001). Die angespannte Lage erhöht die Wahrscheinlichkeit f ü r familiale Konflikte und Defizite in der elterlichen Erziehungskompetenz: Die Kinder erhalten weniger Zuwendung und Anregung, werden nicht so zuverlässig beaufsichtigt sowie häufiger und strenger bestraft. Kinder aus ökonomisch deprivierten Verhältnissen haben daher ein erhöhtes Risiko, Verhaltensauffälligkeiten und ein geringes Selbstvertrauen zu entwickeln. In reichen Familien dagegen haben Kinder eine übernommene Reichtums- und Anspruchsmentalität, da ihnen der Reichtum in den Schoß gefallen ist, ohne dass sie etwas d a f ü r t u n mussten. Dafür stehen sie meist im Schatten des elterlichen Erfolgs (vgl. Fooken 1998). Aktuell sind Familien weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen, die mit einem stetigen Wandel der Familienbeziehungen einhergehen (vgl. Hofer 2008; Schneewind 2010). Eine wachsende Zahl von Kindern ist mit der Trennung ihrer Eltern konfrontiert und wächst im Alltag mit nur einem Elternteil auf oder in einer neu zusammengesetzten Familie, mit einem Stiefelternteil und eventuell Stief- oder Halbgeschwistern, die sich miteinander arrangieren müssen. Typisch f ü r zweite Familien ist eine Verknappung der Ressourcen, die dazu f ü h ren dürfte, dass ihr Austausch nicht ganz reibungslos abläuft. Beispielsweise sind Unterhaltszahlungen in Trennungsfamilien oft ebenso strittig wie Erbschaften. Geldtransfer im mittleren und höheren Erwachsenenalter

Die elterliche Unterstützung im mittleren Alter ist vielfältig. Sie reicht von der Möglichkeit, im Haus der Eltern zu wohnen, bis zu Sachgeschenken, Einladungen zu Urlauben oder Unterstützung beim Hausbau. Zuwendungen können einmalig oder regelmäßig erfolgen, sowie freiwillig oder aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen wie der Unterhaltspflicht. Etwa ein Drittel der Eltern in Deutschland unterstützt ihre erwachsenen Kinder regelmäßig, allerdings weichen die Angaben - je nach

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Datenbasis - v o n e i n a n d e r ab. Nicht wenige h a b e n in dieser Lebensphase a u f g r u n d einer Wiederheirat auch noch recht kleine Kinder, f ü r die sie a u f k o m m e n m ü s sen. Da S c h e n k u n g e n seltener u n t e r s u c h t werden als Erbschaften, k a n n ihre Höhe n u r geschätzt werden (vgl. Leopold 2009). S c h e n k u n g e n können auch als eine A r t vorzeitiges Erbe betrachtet werden, sind aber im Unterschied zu Erbschaften nicht gesetzlich geregelt. Generell ist von einem einseitigen Investitionsfluss der Eltern a n die Kinder auszugehen (vgl. Fooken 1985), denn die Eltern bringen viel m e h r ein, als sie herausbekommen. Allerdings k a n n sich das in der Lebensmitte ändern. Kinder im mittleren Erwachsenenalter sind damit konfrontiert, dass ihre alternden Eltern k r a n k u n d p f l e g e b e d ü r f t i g werden u n d n u n ihrerseits auf Hilfe angewiesen sind. In dieser Lebensphase k ö n n e n sich erwachsene Kinder r e v a n chieren, indem sie ihren alternden Eltern Hilfeleistungen angedeihen lassen (vgl. Borchers 1997). Materiell fließt jedoch eher weniger. Auch das Vererben folgt einem Kaskadenmodell: Die Leistungen fließen von oben nach u n t e n , von der ältesten an die mittlere und j ü n g e r e Generation (vgl. Kohli 2005; Szydlik 2001). Dabei gibt die mittlere Generation h ä u f i g e r etwas an ihre Kinder, als dass sie selbst Transfers von ihren eigenen Eltern erhält. Drei Viertel aller Erbschaften sind f ü r die eigenen Kinder der Erblasser geplant, 37 Prozent f ü r die Ehegatten, 33 Prozent f ü r Enkel, gefolgt von Geschwistern u n d Lebenspartn e r n (vgl. Postbank 2013). Dabei gibt es deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede: Mütter vererben eher a n ihre Kinder, M ä n n e r an ihre P a r t n e r i n n e n (vgl. Euler 2007). Die A r t des Transfers zwischen den Generationen wird maßgeblich durch die Ressourcen der Geberseite bestimmt: In höheren Sozialschichten fließen größere Zuw e n d u n g e n , sowohl inter vivos als auch p o s t h u m (vgl. Leopold 2009). A u c h die Höhe von Erbschaften h ä n g t maßgeblich von der finanziellen Lage der Erblasser ab (vgl. Motel/Szydlik 1999). Je höher das Einkommensniveau der Elterngeneration, desto m e h r wird vererbt, im Westen m e h r als im Osten Deutschlands (vgl. Leopold 2009). Infolge der großen V e r m ö g e n s a k k u m u l a t i o n vererbt die aktuelle Generation so viel wie noch nie in der Geschichte Deutschlands. Die P o s t b a n k s t u die spricht von der „historisch größten Erbschaftswelle". Daneben spielt die ökonomische Situation der Kinder eine Rolle: Bedürftige Kinder, die beispielsweise noch in der Ausbildung, k r a n k oder arbeitslos sind, werden h ä u f i g e r u n t e r s t ü t z t und beerbt als andere (siehe unten). Weiterhin erfolgen S c h e n k u n g e n g e h ä u f t n a c h kritischen Ereignissen im Leben der Kinder, wie beispielsweise Eheschließungen oder Scheidungen (vgl. Leopold 2009). Neben dem tatsächlichen Geldtransfer werden außerdem die Werte u n d Normen, die familiale Austauschprozesse regeln, n ä h e r betrachtet (vgl. Gerlitz 2008). Solche Verteilungsideologien geben Aufschluss darüber, welches Unterstützungsverhalten gegenüber Familienmitgliedern jeweils als angemessen gilt. Dabei wird zwischen kollektivistischen u n d individualistischen Familienorientierungen u n terschieden: „Kollektivismus als Familienideologie bedeutet also die Betonung der

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Prinzipien Bedarf, Gleichheit und Status zur Verteilung von sozialer Unterstützung unter Angehörigen, während familialer Individualismus mit der Präferenz des Prinzips (Gegen-)Leistung verbunden ist." (Gerlitz 2008: 628). Die Ergebnisse von Gerlitz lassen auf ein Überwiegen kollektivistischer Verteilungsprinzipien innerhalb der deutschen Bevölkerung schließen, das für ein breites Unterstützungspotential in Form unbedingter familialer (normativer) Solidarität spricht. Dennoch steht etwa die Hälfte der Bevölkerung individualistischen Unterstützungsprinzipien zumindest ambivalent gegenüber, was Gerlitz (2008) als Hinweis auf eine nur bedingt solidarische Grundhaltung deutet.

Eitern als Erblasser Vererben als Form der Generativität

Aus entwicklungspsychologischer Perspektive kann das Vererben als ein Akt der Generativität verstanden werden, die Erikson (1966) als typische psychosoziale Krise des mittleren Alters definiert. Gemeint ist damit das Bedürfnis von Menschen im mittleren Alter, Werte und Traditionen an die nachfolgende Generation weiterzugeben sowie Fürsorge und Verantwortung für diese zu übernehmen. Als die entscheidende Bedingung f ü r Generativität gilt das Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit. Diese sogenannte „Mortalitätssalienz" löst den Wunsch aus, etwas von sich auf dieser Welt zu hinterlassen und sich so über den Tod hinaus unvergesslich zu machen. Das Weitergeben richtet sich vorrangig an die eigenen Kinder und Kindeskinder, die f ü r die Eltern eine Art „soziales Erbe" repräsentieren, über das sie Kontinuität wahren. Die Befunde der Erbschaftsforschung stützen diese Sichtweise, da bei den Motiven der Erblasser laut Postbankstudie (2013) an erster Stelle das Bedürfnis steht, Angehörige zu versorgen, gefolgt von dem Wunsch, anderen eine Freude machen. Unter (experimentell induzierter, siehe unten) Mortalitätssalienz neigten vor allem ältere Probanden (über 50 Jahre) dazu, die biologischen Bande („in den Kindern weiterleben") hervorzuheben (Bossong/ Nussbeck 2004). Im Fall von Stiefkindern ist diese Verpflichtung nicht gegeben, hier kommt es vermutlich eher auf die Beziehungsqualität an. Bei kinderlosen Erblassern können sich generative Akte auf die nachfolgende Generation allgemein beziehen, beispielsweise indem Patenschaften übernommen oder Stiftungen gegründet werden. Andere setzen sich in kulturellen Bereichen für die nachfolgende Generation ein. Generative Akte werden als befriedigend, erfüllend und sinnstiftend erlebt und gehen mit höherem Wohlbefinden und Selbstvertrauen im Alter einher. Den Gegenpol hierzu bildet laut Erikson die „Stagnation" beziehungsweise „Selbstabsorption", das Kreisen um sich selbst, verbunden mit Gefühlen der Leere und Sinnlosigkeit, Langeweile und sozialer Isolation.

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In der Erbschaftsforschung hat sich die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit, die als eine der größten menschlichen Ängste gilt, als wichtiger Einflussfaktor herauskristallisiert. Als theoretischer Rahmen hierzu wird die Terror-Management-Theorie (vgl. Rosenblatt/Greenberg/Solomon/Pyszczynski/Lyon 1989) herangezogen, deren Kernaussage lautet: Die Gewissheit, selbst sterben zu müssen, ist f ü r Menschen extrem bedrohlich und löst daher intensive Angstreaktionen („terror") aus. Daher entwickeln sie Strategien, diese Angst in den Griff zu bekommen („terror management"), wobei zwei Mechanismen unterschieden werden. Einen ersten Weg zur Abwehr dieser Angst bieten kulturelle Weltbilder, die den Menschen angesichts dieser Verletzlichkeit Orientierung und Sicherheit bieten und dem Leben einen Sinn geben. Das funktioniert aber nur, wenn sie glauben, selbst einen Beitrag zu diesen kulturellen Weltbildern geleistet zu haben. Letzteres gibt Menschen das Gefühl, etwas von sich in der Welt zu hinterlassen, sich also symbolisch unsterblich zu machen. Das nahende Lebensendes aktiviert diesen Abwehrmechanismus: die Menschen neigen dann dazu, das eigene Weltbild und die eigenen Werte aufzuwerten. Demzufolge reagieren sie jenen Menschen gegenüber ablehnend, die andere Normen vertreten. Dies konnte empirisch untermauert werden: Unter experimentell induzierter Mortalitätssalienz f ü h r t e unmoralisches Verhalten potentieller Erben zu einer deutlichen Verringerung des Erbteils (vgl. Bossong/Kamkar 1999). Ein zweiter Mechanismus der Angstabwehr ist das Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit: Ein positives Selbstbild k a n n die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit zumindest etwas abmildern, dient als eine Art Puffer. Die Motivationslage der Erblasser

Erblasser haben ganz unterschiedliche Motive, wenn sie ihr Vermächtnis regeln. Gesellschaftlich erwartet wird, dass sie vor allem ihren Kindern etwas hinterlassen. In einer aktuellen australischen Studie wird die jetzige Elterngeneration hinsichtlich ihrer Motivlage im Erbgeschehen näher beleuchtet. Dabei ergaben sich zwei kontrastierende Positionen: Eltern als „hedonistic self-servers" oder als „sensible squirrels" (vgl. Lawrence/Goodnow 2011). Die erste Position charakterisiert die Elterngeneration als „SKIer" („an eider who is spending the kids' inheritance"), die ihre persönlichen Konsumbedürfnisse (beispielsweise Reisen) über die ihrer Kinder stellen, so dass ihre Nachkommen leer ausgehen. „Sensible Eichhörnchen" dagegen sparen ihr Geld, um f ü r das höhere Alter vorzusorgen, falls sie pflegebedürftig werden. Wie die Eichhörnchen-Metapher nahelegt, neigen sie dazu, Dinge, speziell Wohneigentum, zu bewahren. Die Entscheidungen von Erblassern haben weitreichende Konsequenzen, denn im Fall einer Fehlentscheidung ist viel zu verlieren: Was sie im Lauf ihres Lebens erwirtschaftet haben, steht auf dem Spiel. Das Erbe symbolisiert häufig das Lebenswerk, das der nachfolgenden Generation vermacht wird (vgl. Leopold 2009). AI-

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lerdings bekommt der Erblasser von den Folgen seiner Entscheidung nichts mehr mit. Einige legen ihren letzten Willen schriftlich fest, durchschnittlich im Alter von 52 Jahren (vgl. Allensbach 2006). Drei Viertel der Erblasser aber überlassen die Erbschaftsregelung dem Zufall beziehungsweise der gesetzlichen Erbfolge (vgl. Schönberger 2008). Dies wird auf zwei Gründe zurückgeführt: Erstens wird die eigene Sterblichkeit gern verdrängt und zweitens herrscht ein „Harmoniemythos" vor, also die Erwartung, die Kinder würden sich schon einigen (vgl. Schönberger 2008). Letzteres wird durch die Ergebnisse der Postbankstudie (2013) untermauert, der zufolge nur circa 10 Prozent der Erblasser mit Streitigkeiten zwischen den Erben rechnen. Die Gefahr von Konflikten ist in den modernen Familienformen erhöht, hier ist häufiger mit Ressentiments gegenüber neuen Familienmitgliedern (Partnern und Stief- oder Halbgeschwistern) zu rechnen. In Stieffamilien, in denen Erbfolgen nicht gesetzlich geregelt sind, werden häufig Testamente verfasst (vgl. Lettke 2004). Dabei können Kränkungen und Schuldgefühle in die Entscheidungsprozesse einfließen. Abbildung 1: Wünsche von Erblassern beim Vererben

Was Frauen und Männern bei Erbschaften „ganz besonders wichtig ist"





Frauen Männer

Auswahl, in Prozent Ein Teil des Erbes soll schon vor dem Tod durch Schenkung übertragen werden

f — — 20 H M 13

Das Erbe soll an keinerlei Bedingungen geknöpft werden Ober die Erbschaft soll frühzeitig vor dem

• • • • • • • • • • • • K l

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Unter allen Beteiligten und dem Erb-Geber soll M B M M H H M W M B M H M offen über die Erbschaft g e s p r o c h e n werden • • • • • • • • • • • • 46 Es soll keinen Streit um das Erbe geben Die Aufteilung des Erbes soll klar geregelt sein

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aaHjBB B M B M M M — — — — M • • • • • • • • • • i i 67

SO

Quelle: Postbank 2013

Eine zentrale Forschungsfrage ist, nach welchen Kriterien Menschen ihr Erbe aufteilen. Zu ihrer Beantwortung gibt es unterschiedliche methodische Herangehensweisen, wie etwa Interviews mit potentiellen Erblassern oder die Durchsicht von Testamenten. Eine übliche experimentelle Methode ist die Bearbeitung von Fallvignetten mit unterschiedlichen Erbkonstellationen, so wie beispielweise die Arbeitsgruppe um Bossong (1999) vorgeht: Menschen unterschiedlichen Alters

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sollen sich in die Situation eines Erblassers hineinversetzen und ihr Erbe aufteilen. Dabei wurden verschiedene Bedingungen variiert: a) Induktion von Mortalitätssalienz, b) Verwandtschaftsgrad (leibliche Kinder, Neffen und Nichten sowie nicht-verwandte Personen) und c) Beitrag (moralisches Verhalten) der potentiellen Erben. Die Ergebnisse verdeutlichen erstens eine Priorität des Verwandtschaftsgegenüber dem Beitragsprinzip und zweitens, dass (vor allem negative) Beiträge bei der Aufteilung der Erbmasse mit abnehmendem Verwandtschaftsgrad an Bedeutung gewinnen (vgl. Bossong/Nussbeck 2004). Fraglich ist, inwieweit solche experimentellen Situationen die Realität von Menschen im Alter abbilden, die tatsächlich ihr Vermächtnis regeln. Hinweise auf die externe Validität liefern Übereinstimmungen mit den Ergebnissen anderer Studien, die unter natürlichen Bedingungen stattfanden. Aus evolutionstheoretischer Sicht lassen sich zwei Kernprinzipien der Aufteilung unterscheiden: die Gleichbehandlung von Verwandten versus die Gleichheitsabstimmung nach Gegenseitigkeit (vgl. Euler 2007). Legen diese beiden Prinzipien unterschiedliche Aufteilungen nahe, sind Konflikte quasi unvermeidbar (vgl. Bossong/Nussbeck 2004). Gleichbehandlung von Verwandten: Nach diesem Prinzip wird nach Verwandtschaftsgrad gemeinschaftlich geteilt. Leibliche Kinder werden gleichgestellt, unabhängig von deren Verdiensten um das Wohlergehen des Erblassers. Diese einfachste Lösung soll helfen, Konflikte zwischen den Kindern zu vermeiden. „Transparenz und eine klare Aufteilung des Nachlasses" werden von 77 Prozent der Deutschen als „ganz besonders wichtig" erachtet (Postbank 2013). „Gleichheitsabstimmung nach Gegenseitigkeit": Bei diesem Prinzip wird danach verteilt, wer bestimmte Gegenleistungen erbracht hat, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad. Hier zählt nur, was jemand f ü r den Erblasser geleistet hat. Praktische Hilfeleistungen lassen sich aber nur schwer in Geld umrechnen und die emotionale Solidarität in Familien widerspricht einem solchen Aufrechnen. Außerdem werden Verdienste sehr subjektiv bewertet und daher häufig kontrovers gesehen. Manche Eltern wollen über eine besondere Berücksichtigung im Testament absichern, dass ein bestimmtes Kind sie im Alter versorgt. Nicht selten soll beispielsweise eine pflegende Tochter als Ausgleich f ü r ihren Einsatz das Elternhaus erhalten. Weitere Kriterien sind die Bedürftigkeit einzelner Kinder, besondere Sympathien der Eltern f ü r ein Kind sowie subjektive Beziehungserfahrungen. Bedürftigkeit: Einige Eltern orientieren sich bei ihren Entscheidungen an der Bedürftigkeit ihrer Nachkommen, indem sie beispielsweise ein finanziell schlechter gestelltes Kind in ihrem Testament gegenüber einem besser gestellten begünstigen. Dabei verbinden Eltern damit durchaus positive Absichten derart, dass sie einen finanziellen Ausgleich unter ihren Kindern schaffen wollen. Allerdings zeigte McGarry (1999), dass Eltern eher zu Lebzeiten benachteiligte Kinder mit

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ihren Zuwendungen begünstigen, während sie beim Vererben keine Unterschiede machen. Inter-vivo-Transfers und beabsichtigte Erbschaften folgen offenbar u n terschiedlichen Gesetzen (vgl. Light/McGarry 2003). Bedürftigkeit spielt offenbar besonders in Kombination mit Verdienst eine Rolle bei der Verteilung der Erbmasse (vgl. Drake/Lawrence 2000). Dabei ist allerdings entscheidend, ob die Erblasser die Bedürftigkeit als selbstverschuldet oder durch einen Notfall wie eine Krankheit oder einen Unfall bedingt verstehen. Bevorzugung: Mit der Verteilung der Erbgüter bringen Eltern ihre Position den Kindern gegenüber klar zum Ausdruck. Lieblingskinder werden großzügiger bedacht als abgelehnte Kinder. Ein Testament ist öffentlich, daraus geht deutlich die Wertschätzung des Elternteils f ü r ein Kind im Vergleich zu den anderen hervor (vgl. Drake/Lawrence 2000). Oft spiegelt dies die Beziehungsgeschichte wider: „Die Erbschaft steht überdies stellvertretend f ü r die gelebten Beziehungen zwischen den Generationen." (Lauterbach/Lüscher 1996: 66) Der Besitz verleiht der älteren Generation Macht, denn finanzielle Zuwendungen sind oft an Bedingungen geknüpft und bedeuten Bewertung und Kontrolle. Manche Eltern nutzen diese aus, um ihre Kinder zu manipulieren, schikanieren oder gegeneinander auszuspielen. Dabei k a n n es sich um Racheakte f ü r lange zurückliegende Zurückweisungen handeln.

Kinder als Erben Die Geschwisterbeziehung im höheren Alter Aufgrund der gemeinsamen Lebensgeschichte fühlen sich viele Geschwister einander verbunden und pflegen bis ins hohe Alter hinein Kontakt, auch wenn Einschränkungen in Gesundheit und Mobilität diesen zunehmend erschweren (vgl. Cicirelli 1995). Bereits ab dem mittleren Alter, wenn die Kinder aus dem Haus sind und Verluste im persönlichen Umfeld häufiger werden, kommt es oft zu einer (Wied e r a n n ä h e r u n g (vgl. Bedford 1997). Besonders Schwestern stehen einander nah, während Brüder weniger in das Leben des anderen involviert sind. Guter Geschwisterkontakt trägt zu Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden sowie einem Gefühl emotionaler Sicherheit und Kontinuität bei (vgl. Bedford, 1997; Cicirelli, 1995). Die einzigartige Kombination - Altersgefährte plus Familienmitglied - prädestiniert Geschwister, Vertraute füreinander zu sein. Als wesentliche Entwicklungsaufgabe der Geschwisterbeziehung im Alter betrachtet Goetting (1986) die Reminiszenz, das heißt das Pflegen gemeinsamer Erinnerungen im Zuge des Lebensrückblickes. Mangels gemeinsamer Familiengeschichte ist dies dagegen bei Stief- und Halbgeschwistern kaum möglich. Im Zuge der Reminiszenz setzen sich Menschen mit der Sinnfrage auseinander und ziehen Bilanz über das, was sie bisher im Leben erreicht beziehungsweise angesichts begrenzter Optionen noch vorhaben. Hier bestehen Parallelen zum Konzept der Generativität (siehe auch unten).

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Veränderungen der Geschwisterbeziehung werden nicht selten durch kritische Lebensereignisse wie Erkrankung oder Verwitwung ausgelöst. In solchen Krisenzeiten leisten sich Geschwister gegenseitig emotionalen Beistand und funktionale Unterstützung. Eine Herausforderung f ü r Geschwister im mittleren Alter stellt die Organisation der Betreuung und Versorgung ihrer alternden Eltern dar. Die Übernahme von Verantwortung und Fürsorge f ü r die Eltern wird als Erreichen der „filialen Reife" (Blenkner 1965) bezeichnet und geht mit einer Rollenumkehr in der Eltern-Kind-Beziehung einher. In der Regel übernimmt eine Schwester die Rolle der Hauptversorgerin f ü r die alten Eltern (vgl. Zank 2008). Die Pflege bringt erhebliche Belastungen und Einschränkungen mit sich. Gefühle der Überforder u n g stellen sich vor allem dann ein, wenn die anderen Geschwister wenig Unterstützung leisten, beispielsweise weil sie weit weg wohnen. Die Last wächst mit zunehmendem Grad der Pflegebedürftigkeit der Eltern und ist besonders ausgeprägt, wenn keine gute Beziehung zu den Eltern besteht (vgl. Zank 2008). Als herausragendes kritisches Lebensereignis ist der Tod des letzten Elternteils zu bewerten. Nun sind die Kinder selbst die Ältesten in der Familie, was ihnen ihre eigene Endlichkeit bewusst macht. Der Elterntod lässt Geschwister in ihrer gemeinsamen Trauer oft - zumindest vorübergehend - (wieder) zusammenrücken. Allerdings sind die Befunde hierzu nicht eindeutig (vgl. Sanders 2004). Die Geschwisterbeziehung kann sich nach dem Tod der Eltern verbessern, wenn diese vorher durch das elterliche Verhalten, insbesondere eine Ungleichbehandlung, belastet war. Demgegenüber kann es aber auch zu Entfremdung oder Distanzierung kommen, beispielsweise infolge von Konflikten über die Beerdigung (vgl. Umberson 2003). Nach dem Tod der Mütter fallen diese als Verbindungsglieder und Vermittlerinnen („kin-keeper") in den Familien weg, die Kinder über das Leben der anderen informieren (vgl. Fuller-Thomson 1999-2000). Danach werden die Familienrollen neu verteilt und es muss sich zeigen, ob j e m a n d von nun an diese Rolle des „kin-keepers" übernimmt (Umberson 2003). Generell wird die Geschwisterbeziehung als hochambivalent beschrieben, gekennzeichnet durch große Nähe, aber auch durch Rivalität. Da in dieser Lebensphase alte Rivalitäten wieder aufbrechen können (vgl. Matthews/Rosner 1988), hebt Goetting (1986) die Lösung von Geschwisterrivalitäten als weitere wichtige Entwicklungsaufgabe im Alter hervor. Andauernde Rivalität kann den Prozess der gemeinsamen Reminiszenz beeinträchtigen. Noch im Erwachsenenalter ziehen manche Geschwister, vor allem Brüder, einander als Maßstab heran, an dem sie ihren eigenen Erfolg messen. So können sich frühe Rivalitäten bis ins Erwachsenenalter hinein fortsetzen (vgl. Bedford 1997; Ross/Milgram 1982). Andere Autoren vertreten die Meinung, die Rivalität nehme mit dem Alter ab, weil die Geschwister sich um Konfliktvermeidung bemühen, um ihre Beziehung nicht zu gefährden (vgl. Cicirelli 1995). Weiter wird der elterlichen Ungleichbehandlung eine herausragende Bedeutung f ü r die Qualität geschwisterlicher Kontakte beigemessen (vgl. Boll/Ferring/Filipp

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2001). Die Folgen elterlicher Ungerechtigkeit sind auch bei erwachsenen Geschwistern noch deutlich zu spüren. Entscheidend ist dabei die subjektiv wahrgenommene Ungleichbehandlung und nicht das tatsächliche Elternverhalten, das sich auch nur schwer objektivieren lässt. Der überwiegende Teil der Forschung behandelt die Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Eine Ausnahme bildet die Studie von Ferring, Boll und Filipp (2003), in der Menschen mittleren Alters retrospektiv zum Elternverhalten befragt wurden. Überwiegend werden Benachteiligungen durch die Eltern in Kindheit und Jugend bezüglich Zuneigung, Disziplinierung und Privilegien berichtet. Als wichtiger Faktor kristallisierte sich die Rechtfertigung von Ungleichbehandlung heraus: Gefühle des Benachteiligung können abgemildert werden, wenn Eltern die Unterschiede in ihrem Handeln den einzelnen Kindern gegenüber begründen, beispielweise mit deren Alter oder u n terschiedlichen Bedürfnissen (vgl. Kowal/Kramer 1997). Benachteiligungen verschlechtern die Beziehung zum jeweiligen Elternteil und gehen mit einer geringeren Unterstützungsbereitschaft diesem gegenüber einher (vgl. Ferring/Boll/Filipp 2003). Die Geschwisterbeziehung leidet umso mehr, je größer die Unterschiede im Elternverhalten sind. Aber auch Bevorzugungen werden nicht nur positiv (z.B. höheres Selbstwertgefühl) erlebt, sondern können zu Schuldgefühlen gegenüber dem benachteiligten Geschwister f ü h r e n . Darüber hinaus wurden alters- und geschlechtsspezifische Effekte ermittelt. Töchter fühlen sich tendenziell häufiger benachteiligt als Söhne. Außerdem nehmen ältere Geschwister eher Benachteiligungen wahr als jüngere. Auch im f r ü hen Erwachsenenalter fühlen sich Erst- und Letztgeborene häufiger bevorzugt (vgl. Salmon/Schackelford/Michalski 2012). Des Weiteren wird die mütterliche Benachteiligung intensiver erlebt und wirkt sich ungünstiger auf die Geschwisterbeziehung aus als die väterliche (vgl. Ferring/Boll/Filipp 2003) Dies wird auf die stärkere Präsenz von Müttern im kindlichen Alltag zurückgeführt. Zu einem anderen Ergebnis jedoch kamen Kowal und Kramer (1997), die einen stärkeren negativen Effekt der väterlichen Ungleichbehandlung ermittelten, allerdings f ü r Jugendliche. Die Gefahr von Ungleichbehandlungen ist in Stieffamilien vermutlich noch erhöht, in denen leibliche und Stiefkinder um die - sowieso schon k n a p peren - elterlichen Ressourcen konkurrieren. Geschwister als Erben

Obwohl Erbschaften mit dem Tod eines Elternteils einhergehen, der in der Regel mit ausgeprägten Trauerreaktionen verbunden ist, ist eine Erbschaft dennoch sehr willkommen. Für die Kinder bietet das Erbe die Chance, ihre Alterssicherung zu verbessern oder sich bestimmte Wünsche wie einen Hausbau, größere Anschaff u n g e n oder Reisen zu erfüllen. Daher sind sie ihren Eltern auch über deren Tod hinaus dankbar und behalten sie in guter Erinnerung. Das Antreten eines Erbes k a n n aber auch verpflichten, bestimmte Traditionen fortzuführen und das Anse-

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hen der Familie hochzuhalten, wie beispielsweise in Familienunternehmen (siehe Beitrag in diesem Band). Historisch gut belegt ist die Bevorzugung von Erstgeborenen im Erbrecht, die in bäuerlichen Familien üblicherweise den Hof der Eltern übernahmen und sich als Ausgleich im Alter um diese kümmern mussten. Heute wird dies weniger strikt gehandhabt. Erbschaften können aber auch mit negativen Gefühlen einhergehen. So k a n n eine Erbschaft auch Schuldgefühle hervorrufen, wenn der Erbe seine Eltern zu Lebzeiten vernachlässigt hat. Umgekehrt k a n n das Erbe auch als Wiedergutmachung f ü r erlebte Kränkungen durch die Eltern bewertet werden. In der aktuellen Erbengeneration gibt es einige Besonderheiten. Angesichts sinkender Kinderzahlen muss das Erbe heute unter weniger Nachkommen aufgeteilt werden und die Zahl der Alleinerben, die teilweise über große Vermögen v e r f ü gen, nimmt zu. Weiterhin müssen Kinder infolge der gestiegenen Lebenserwart u n g der Elterngeneration heute länger auf ihren Erbteil warten. Meist werden Erbschaften im Alter von 50 bis 60 Jahren angetreten, einer Lebensphase, in der sich die Kinder bereits beruflich und familiär etabliert haben (vgl. Lauterbach/ Lüscher 1996) und daher nicht auf das Erbe angewiesen sind. Da im deutschen Rechtssystem Testierfreiheit herrscht, ist der Erblasser in seiner Gestaltung kaum eingeschränkt. Die wenigen Ausnahmen stellen insbesondere die Regelungen zum Pflichtteil von leiblichen und adoptierten Kindern dar. Im aktuellen Erbrecht sind die direkten Abkömmlinge des Erblassers Erben erster Ordnung, die zu gleichen Teilen erben (§ 1924 BGB). Es gilt das sogenannte Stammesprinzip: Die Erben, die über denselben Verwandten mit dem Erblasser verwandt sind, bilden jeweils einen Stamm. Das heißt, jedes Kind des Erblassers begründet einen neuen Stamm; jeder Stamm erbt zu gleichen Teilen. Diese gleiche Berücksichtigung von Kindern im Erbprozess ist neueren Datums, entstanden im Zuge einer allgemeinen Tendenz zu mehr Gleichberechtigung in Familienbeziehungen. In den neuen Familienformen sieht die rechtliche Situation anders aus. Stiefkinder haben nur bei ihren leiblichen Eltern ein gesetzliches Erbrecht, bei ihren Stiefeltern besteht dagegen kein gesetzlicher Anspruch. Ähnlich verhält es sich in Regenbogenfamilien, in denen nur ein Elternteil ein Kind adoptieren darf: Nur zwischen diesem und dem Adoptivkind bestehen erbrechtliche Ansprüche, nicht jedoch bei der beziehungsweise dem eingetragenen Lebenspartner beziehungsweise Lebenspartnerin. Daher sind in beiden Fällen testamentarische Verf ü g u n g e n erforderlich. Erbengemeinschaften sind Zwangsgemeinschaften. Jedes Geschwister ist ein Konkurrent um das elterliche Erbe. Eine Bevorzugung des einen Erben geht automatisch mit einer Benachteiligung des anderen einher (vgl. Bossong 1999). Laut der Postbankstudie (2013) ist jede sechste Erbschaft (17 Prozent) in Deutschland von Streitigkeiten, meist unter Geschwistern, begleitet. Rund 25 Prozent der Erben erwarten solche Konflikte, wobei als häufigste Ursachen genannt werden, dass einige Hinterbliebene sich benachteiligt fühlen (73 Prozent), oder die Hinterblie-

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benen schon vorher zerstritten waren (57 Prozent). Hauptursache dieser Konflikte sind also Ungerechtigkeiten bei der Verteilung der Erbgüter, die selbst bisher harmonische Familienbeziehungen auf eine harte Probe stellen: „Where inheritance distributions are concerned, however, perceptions of injustice may sour family relationships for generations." (Drake/Lawrence 2000: 272) Auch diesbezüglich ist in Stieffamilien ein noch höheres Streitpotential zu vermuten. Leibliche und Stiefkinder mussten sich schon zu Lebzeiten der Eltern die knapperen Ressourcen teilen, was sich im Erbschaftsfall noch einmal zuspitzen dürfte. Die elterliche Ungleichbehandlung lässt alte Rivalitäten wieder aufbrechen, welche die Geschwisterbeziehung nachhaltig schwer belasten. Nicht erfüllte Hoffnungen und nicht eingelöste Versprechen können Verbitterung und Gefühle der Demütigung auslösen und das Ansehen der Eltern in Frage stellen. Das benachteiligte Kind ist gekränkt und enttäuscht, neben Wut können sich aber auch Scham oder Schuldgefühle einstellen. Beispielsweise wenn ein Erbe, der von der Erbfolge ausgeschlossen wurde, seinen Pflichtteil einfordert, hat dies oft langwierige zähe Auseinandersetzungen zur Folge. Die Verteilung wird von den Erben oft ganz anders erlebt, als sie vom Erblasser gemeint war. Eine ungleiche Verteilung verlangt nach einer Rechtfertigung (vgl. Drake/Lawrence 2000), die aber posthum nicht mehr möglich ist. Die Eltern stehen nicht mehr zur Verfügung, um zwischen den Kindern zu vermitteln und ihre Absichten zu erläutern. Erschwerend kommt hinzu, dass in den meisten Familien nicht über das Erbe kommuniziert wird. Die Hälfte der Erblasser hat nicht mit den vorgesehenen Erben über ihre Pläne gesprochen, so die Ergebnisse der Postbankstudie. Die Akzeptanz der Betroffenen würde sich wohl erhöhen, wenn ungleiche Behandlungen vorher offen angesprochen und die Betroffenen nicht einfach vor vollendete Tatsachen gestellt würden (vgl. Lawrence/Goodnow 2011). Am ehesten wird von den anderen Geschwistern die Zuteilung eines großzügigeren Erbteils akzeptiert, wenn sich ein bestimmtes Geschwister einen Vorteil verdient hat. Dies ist der Fall, wenn beispielweise die Tochter, die die alten Eltern versorgt hat, einen nachträglichen Ausgleich f ü r die Pflegeleistungen erhält. Folgender Mechanismus hilft zu verstehen, w a r u m selbst Eltern, die nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, ihre Kinder gleich zu behandeln, Unterschiede nicht verhindern können. Nach der Gleichverteilungsheuristik verteilen Eltern zu jedem Zeitpunkt ihre Ressourcen vollkommen gerecht auf ihre Kinder (vgl. Hertwig/Davis/Sulloway 2002). Dennoch ist eine ungleiche Investition systembedingt unvermeidbar, da sich aus der der Geburtenrangfolge und dem damit verbundenen Altersabstand automatisch eine Ungleichbehandlung ergibt. Je nach Geburtenrang wächst der „Kontostand" der Nachkommen an erhaltenen Ressourcen unterschiedlich an. Erst- und Letztgeborene genießen die ungeteilte Zuwendung ihrer Eltern jeweils eine Zeit lang allein. Mittlere Kinder dagegen müssen von A n f a n g bis Ende teilen, ihre Benachteiligung verstärkt sich, je mehr Kinder vorhanden sind und j e kleiner deren Altersabstand ist.

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Ein weiterer Streitpunkt entsteht m a n c h m a l durch die A r t des Erbes, z.B. w e n n Erbstücke wie Häuser nicht teilbar sind, oder w e n n unterschiedliche „Währungen" vorliegen, beispielsweise Geld gegen eine Immobilie aufgewogen werden muss. Bei den Erbstücken muss es sich nicht u n b e d i n g t u m wertvolle Dinge wie Familienschmuck oder M ü n z s a m m l u n g e n handeln. Auch einfache Gebrauchsgegenstände, die eine Familiengeschichte haben und eng mit E r i n n e r u n g e n an den Verstorbenen v e r b u n d e n sind, k ö n n e n eine besondere Bedeutung erlangen.

Zusammenfassung und Ausblick Z u s a m m e n f a s s e n d lässt sich festhalten, dass Geldflüsse generell in engen Beziehungen einen hohen symbolischen Wert h a b e n , weil sie ein wirkungsvolles Mittel sind, der Qualität von Beziehungen A u s d r u c k zu verleihen. Das gilt u m s o m e h r f ü r das bisher zu Unrecht vernachlässigte Thema Erben und Vererben, das aus familienpsychologischer Sicht einen vielversprechenden innovativen A n s a t z bietet, u m typische Familienmuster abzubilden. Solche Muster sind i m m e r vor dem Hintergrund der jeweiligen Familiengeschichte zu verstehen und entfalten in j e d e m Lebensabschnitt ihre eigene D y n a m i k . Das Ende eines Familienzyklus ist ein emotional bedeutsamer Moment, v e r b u n d e n mit der Trauer der Kinder u m den Tod des letzten Elternteils. Die A r t u n d Weise, wie dessen Hinterlassenschaft auf die Hinterbliebenen aufgeteilt wird, b e e i n f l u s s t die Beziehung der N a c h k o m m e n u n t e r e i n a n d e r und gegebenenfalls auch zu anderen Erben erheblich. Einerseits k ö n n e n Erbschaften über den Tod der Eltern h i n a u s die Kinder verbinden, indem sie eine „gemeinschaftliche Identität der Familie (schaffen), sie verbinden tote und lebende Familienangehörige als letzter K o m m u n i k a t i o n s v o r g a n g " (Szydlik 2000: 147). Andererseits können f r ü h e r e ungelöste Konflikte wieder a u f b r e c h e n . Unstimmigkeiten über das Erbe k ö n n e n sogar dazu f ü h r e n , dass Beziehungen abbrechen u n d Familienverbände sich auflösen. Auf Seiten der Eltern stellt das Vererben den letzten Akt der Ressourcenvergabe im Sinne der Eriksonschen Generativität dar: Das Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit geht o f t mit dem W u n s c h der Eltern einher, den Kindern u n d deren N a c h k o m m e n etwas zu hinterlassen, u m so in guter E r i n n e r u n g zu bleiben. Die Motive, die Menschen bei der Verteilung ihres Erbens leiten, sind vielschichtig. Dabei werden zwei Kernprinzipien unterschieden: das V e r w a n d t s c h a f t s - gegenüber dem Beitragsprinzip. Dominiert wird der elterliche Entscheidungsprozess o f t von der abstrakten Regel, alle Kinder gleich zu b e h a n d e l n . Diese allgemeine Norm k a n n aber mit dem persönlichen W u n s c h kollidieren, einzelnen Kindern durch besondere Zuwendungen f ü r erbrachte Hilfeleistungen zu d a n k e n oder f ü r bedürftige Kinder auch z u k ü n f t i g weiter zu sorgen. Auf Seiten der Kinder k a n n das Erben als potentieller Kristallisationspunkt geschwisterlicher Rivalität gesehen werden. Erbkonflikte k ö n n e n erheblichen Un-

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frieden in der Familie stiften und Beziehungen noch lange über den Tod der Eltern hinaus beeinträchtigen. Mit intensiven Konflikten ist zu rechnen, wenn die elterliche Aufteilung des Erbes als ungerecht empfunden wird, was seine Wurzeln oft bereits in (gefühlten) Ungleichbehandlungen in früheren Lebensphasen hat. Solche subjektiv erlebten Benachteiligungen werden als Hauptursache von Streitigkeiten zwischen Geschwistern gesehen und sind von Elternseite schwer zu widerlegen. In Abhängigkeit von Alter und Geburtenrang der Kinder sind aber ungleiche Verteilungen der elterlichen Ressourcen kaum zu vermeiden. Nichtsdestotrotz stehen viele Geschwister im Alter einander nahe, schon allein durch die lange gemeinsame und in dieser Form einzigartige Geschichte, die sie nach dem Tod der Eltern in gemeinsamer Reminiszenz kultivieren. Angesichts des aktuell großen Forschungsdefizits bei dieser Thematik sind noch viele Fragen offen, die weiterer Forschung bedürfen. Erstens sind die Familienstrukturen infolge der Pluralisierung der Familienformen (beispielsweise Patchwork-Familien, Regenbogenfamilien) heute deutlich komplexer als früher, was in neuartigen Dynamiken auch im Erbschaftsgeschehen resultiert und diese weiter verkompliziert. Allein die Rechtslage ist schwieriger, von den Familiendynamiken ganz zu schweigen. Wenn Menschen, die nicht als zur Familie gehörend wahrgenommen werden, dennoch im Testament bedacht werden, löst dies oft Ärger bei den rechtmäßigen Nachkommen aus (vgl. Lawrence/Goodnow 2011; Light/McGarry 2004). Konflikte zwischen leiblichen und Stiefkindern oder Kindern aus erster und späterer Ehe der Eltern sind quasi vorprogrammiert, wenn nicht vorher eine faire testamentarische Regelung erfolgt ist. Zweitens bestehen aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung der Elterngeneration heute nicht selten auch enge Beziehungen zu (Ur-)Enkeln. Manche Erbschaften überspringen daher eine Generation und gehen direkt von den Großeltern an die Enkel (vgl. Hagestad 2006). Generell erscheint es aus einer Mehrgenerationenperspektive interessant, ob und wie familiale Geldkulturen von Generation zu Generation weitergegeben werden und welche spezifischen Probleme sich dabei ergeben, wie zum Beispiel in Familienunternehmen. Da sich alle bisherigen A u s f ü h r u n g e n auf westliche Industrienationen beziehen, sollten drittens z u k ü n f t i g verstärkt Vergleiche zu anderen Kulturen gezogen werden. Erste Ansätze hierzu finden sich beispielweise bei Nauck (2010), der in seiner Studie normative Erbschaftserwartungen in sechs Kulturen gegenüberstellt. Da Deutschland ein Einwanderungsland ist, ergeben sich zunehmend auch vielfältige Formen bi-kultureller Familien, in denen unterschiedliche Wertsysteme über das Erben und Vererben aufeinanderprallen und Konfliktstoff liefern.

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Reichtum und Philanthropie als Vermächtnis 1 von Miriam Ströing

„Wer hat, dem wird gegeben" (Szydlik 2001): Ein Großteil der hohen Erbschaften in Deutschland kommt von gut situierten Personen. Hinzu kommt eine aktuell konstatierte Erbschaftswelle derjenigen Vermögen, die nach dem zweiten Weltkrieg in den Zeiten des Wirtschaftswunders generiert wurden und seit Anfang des 21. Jahrhunderts auf die nächste Generation übergehen. Aufgrund der in Deutschland geringen Erbschaftssteuer und hohen Freibeträgen werden nur sehr geringe Teile dieser Transfers über die öffentliche Hand umverteilt. Resultierend stellt sich die Frage, wie und an wen reiche Personen ihr Vermögen nach ihrem Tod weitergeben. Neben Transfers an die Familie besteht unter anderem die Möglichkeit, gemeinnützige Organisationen zu bedenken und so über die eigene Lebenszeit hinaus gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Eine Analyse der Vererbungspraxis in Deutschland ist auch abgesehen von dem aktuell hohen Volumen der Vermögenstransfers von gesamtgesellschaftlichem Interesse: Das Thema zivilgesellschaftlicher Beteiligung ist aktueller denn je. Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise und demografischer Veränderungen sieht sich der deutsche Staat mit einer zunehmend prekären Finanzierungssituation konfrontiert, beispielsweise bezüglich des Gesundheits- oder Altersvorsorgesystems. Hier sind neue Lösungen vonnöten. Des Weiteren sinkt die staatliche Steuerungsfähigkeit, denn die Globalisierung verschafft der Wirtschaft gegenüber den Nationalstaaten insofern einen Wettbewerbsvorteil, als sie flexibler auf Änderungen reagieren kann und Nationalstaaten mit notwendigen Regulierungen in Verzug geraten. Neben Schwierigkeiten staatlicher Finanzierungskraft treten somit auch zunehmend Erfordernisse, politische Prozesse anders zu strukturieren und Problemlösefähigkeiten zu verbessern, wobei gleichzeitig ein schwindendes politisches Interesse seitens der Bürger konstatiert wird. Hinzu kommen gesellschaftliche Individualisierungstendenzen und der zunehmende Bedeutungsverlust traditional-familiärer Verbundenheit. Hiermit steigt auch das Bedürfnis nach Gemeinschaft außerhalb der Privatsphäre, gesamtgesellschaftlicher Mitwirkung und somit auch nach philanthropischem Handeln. All dies führt zu Diskussionen um zivilgesellschaftliche Modelle mit einer steigenden bürgerlichen Beteiligung. Von dieser verspricht man sich zum einen innovativere und flexiblere Problemlösestrategien und zum anderen die Möglichkeit zu Teilhabe und gesellschaftlicher Mitwirkung.

1

Für eine ausführliche Analyse der Thematik sowie auch bezüglich Philanthropie zu Lebzeiten siehe Ströing (2015).

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Miriam Ströing

In dieser Analyse wird gezeigt, inwieweit wohlhabende Personen planen, mindestens einen Teil ihres Vermögens gemeinnützig zu vergeben und über die eigene Lebenszeit hinaus gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Außerdem wird erarbeitet, welche strukturellen und individuellen Merkmale Engagierte von denen unterscheiden, die keine gesellschaftliche Verantwortungsübernahme in ihren Nachlass integrieren. Ein Indikator ist dabei etwa das Bildungsniveau, das sich positiv auf Spendentätigkeit und die Übernahme von Ehrenämtern auswirkt (vgl. Gensicke/Geiss 2010; Sommerfeld/Sommerfeld 2010). Die vorliegende Untersuchung basiert auf Daten der quantitativen Studie „Vermögen in Deutschland" {ViD 2008/2009). Der Beitrag gliedert sich in sechs Abschnitte. Zunächst wird das Thema Reichtum aufgegriffen, da für dessen Definition kein wissenschaftlicher Konsens besteht. Die Verwendung und Definition von Reichtum in diesem Kontext ist somit klärungsbedürftig. Daraufhin wird das Verständnis von Philanthropie im Allgemeinen sowie als Teil des Vermächtnisses dargelegt. Es folgt eine Vorstellung der Daten. Im vierten Kapitel geht es schließlich darum, Ergebnisse zur Vererbungspraxis in ViD aufzuzeigen und gesamtdeutschen Ergebnissen gegenüberzustellen. Dies ermöglicht einen Überblick sowie eine gesellschaftliche Einordnung der folgenden Ergebnisse. Daraufhin erfolgt die Analyse des philanthropischen Vererbens. Hierbei wird untersucht, welche Merkmale diejenigen, die philanthropisch vererben, von denen unterscheiden, die keine gemeinnützigen Zwecke in ihr Vermächtnis zu integrieren planen. Diese Analyse erfolgt zunächst deskriptiv und darauf folgend inferenzstatistisch. Geschlossen wird mit einem Fazit.

Reichtum Bei der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung wird Reichtum eine besondere Rolle zugeschrieben, da man hier den Ausdruck einer besonderen Schaffenskraft unterstellt. Dies hat mehrere Gründe. Erstens verfügen Reiche allein aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten über ein hohes Potenzial, sich zu engagieren. Aufgrund der Fähigkeiten und Anstrengungen, die zum Reichtum geführt haben, werden ihnen zweitens auch in Bezug auf Innovation und Kreativität höhere Fähigkeiten und Möglichkeiten zugeschrieben, insofern man von einer überwiegend meritokratisch basierten Gesellschaft ausgeht. Jedoch tritt gerade in Deutschland eine weit verbreitete Skepsis gegenüber Reichen hinzu, die mit der Frage nach der Rechtfertigung von Reichtum zusammenhängt. Dabei spielen sowohl die legale Genese als auch die Art und Weise der Verwendung des Reichtums eine Rolle. Eine Legitimation sozialer Ungleichheiten durch akkumulierten Reichtum wird dabei insbesondere durch seine Verwendung für das Gemeinwohl erreicht (vgl. Schervish/Havens 2001).

Reichtum und Philanthropie als Vermächtnis

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Um das soziale Engagement reicher Personen zu untersuchen, ist zunächst einzugrenzen, wie monetärer Reichtum 2 im vorliegenden Beitrag definiert wird, da es keinen wissenschaftlichen Konsens darüber gibt, w a n n genau Reichtum a n f ä n g t . Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten, Reichtumsgrade zu unterscheiden. Zum einen können Einkommen verglichen werden und zum anderen lässt sich die Vermögenshöhe betrachten, wobei Einkommen eine Fließ- und Vermögen eine Bestandgröße sind. Darüber hinaus besteht eine Beziehung zwischen beiden Betrachtungsweisen, denn Einkommen vermag Vermögen zu generieren und Vermögen können Einkommen hervorbringen (vgl. Lauterbach/Kramer/Ströing 2011; Deutsche Bundesregierung 2001). Analog zur Definition von Einkommensarmut, von der per definitionem Personen betroffen sind, die weniger als 50 oder 60 Prozent des mittleren beziehungsweise durchschnittlichen Einkommens generieren, lässt sich Reichtum ab einer Grenze des doppelten Durchschnitts- beziehungsweise Medianeinkommens festlegen. Teilweise wird diese Grenze auch bei 300 Prozent gezogen. Eine weitere Möglichkeit ist die Betrachtung von Einkommensmillionären. Auch die Differenzierung anhand der oberen ein oder zehn Prozent der Einkommensverteilung wird angewandt (vgl. Deutsche Bundesregierung 2001, 2005, 2008, 2013; Schupp (u.a.) 2003; Merz/Hirschel/Zwick 2005). In den letzten Jahren lässt sich eine steigende Einkommensungleichheit beobachten, die mit einer zunehmenden Zahl an Personen sowohl am unteren als auch am oberen Ende der Verteilung einhergeht. Derzeit stagniert diese Entwicklung (vgl. Deutsche Bundesregierung 2013; Grabka/Frick 2008). Mit der Identifizierung von Reichtum anhand von Vermögen ist die Idee verknüpft, dass hiermit eine Unabhängigkeit von Einkommen durch Erwerbsarbeit erreicht werden kann. Bei einer fünfprozentigen Verzinsung wäre beispielsweise ein Vermögen von 1,2 Millionen Euro notwendig, um ein durchschnittliches Konsumverhalten allein aus den Zinseinkommen zu ermöglichen (vgl. Deutsche Bundesregierung 2001: 46 f.). Auch hier lassen sich zur Grenzziehung die oberen Dezile der Verteilung heranziehen. Mit dem dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2008) wurde zudem eine integrierte Betrachtung von Reichtum eingeführt, die sowohl Einkommen als auch Vermögen einbezieht (vgl. Deutsche Bundesregierung 2008; Hauser/Becker 2007). Im Vergleich zur Betrachtung ausschließlich der Einkommen fallen die Unterschiede in der integrierten Analyse größer aus. Bei Einbezug des Vermögens steigen sowohl die Armuts- als auch die Reichtumsquote um j e weils zwei bis drei Prozentpunkte (vgl. Deutsche Bundesregierung 2013). Auf internationaler Ebene ist der seit 1997 jährlich veröffentliche World Wealth Report (WWR, Capgemini und Merrill Lynch beziehungsweise Capgemini und 2

Es gibt auch immaterielle Reichtumsdefinitionen, so beispielsweise das Konzept der Verwirklichungschancen von Amartya Sen (vgl. Sen 1999; Volkert 2005).

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RBC Wealth Management) a n z u f ü h r e n , in dem zwischen „High Net Worth Individuais" (HNWIs) u n d „Ultra-High Net Worth Individuais" (U-HNWIs) u n t e r s c h i e den wird, die jeweils mindestens eine beziehungsweise 30 Millionen US-Dollar N e t t o f i n a n z v e r m ö g e n aufweisen. Seit 1997 ist deutschland-, europa- sowie weltweit eine steigende A n z a h l von HNWIs zu verzeichnen, die w ä h r e n d der F i n a n z krise stagnierte u n d mittlerweile m e h r als ausgeglichen ist (siehe Abb. 1). Abbildung 1: High Net Worth Individuais (HNWIs, in Millionen)

weltweit

—Europa

Quelle: Capgemini/Merrill Lynch 2000,2003,2006,2009; 2012-2015

—Deutschland Capgemini/RBC Wealth

Management

Die zahlreichen Möglichkeiten, Reichtum zu identifizieren, haben wir a n h a n d der Reichtumspyramide (siehe Abb. 2) in eine sinnvolle Systematik gebracht. Dabei bietet es sich an, im unteren Bereich der D i f f e r e n z i e r u n g a n h a n d von Einkommen zu unterscheiden: überdurchschnittlich Verdienende, Wohlhabende u n d sehr Wohlhabende. Bewusst wird hier der Reichtumsbegriff noch nicht verwendet. Je höher die Vermögen, desto eher ist es möglich, u n a b h ä n g i g von Erwerbseinkommen u n d somit reich im hier gemeinten Sinne zu sein. Darüber h i n a u s variieren Einkommen nicht m e h r so stark, wobei Vermögen sehr unterschiedlich ausfallen k ö n n e n . Beispielsweise k ö n n e n zwei Personen mindestens 300 Prozent des D u r c h s c h n i t t s e i n k o m m e n s von ähnlicher oder gleicher Höhe generieren, wobei eine der beiden kein Vermögen besitzt und eine andere eines im Wert von 500.000 US-Dollar. Zweitgenannte Person ist eindeutig reich und gehört zu den Afßuents, w ä h r e n d erstgenannte als sehr w o h l h a b e n d e i n z u s t u f e n ist. Damit ist Vermögen eine sinnvolle Definitionsgröße f ü r den Reichtumsbegriff im oberen Teil der P y ramide: Afßuents, HNWIs, U-HNWIs, Superreiche u n d Milliardäre (vgl. Lauterbach/Ströing 2009; Lauterbach/Kramer/Ströing 2011).

Reichtum und Philanthropie als Vermächtnis

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Abbildung 2: Reichtumspyramide - superreich

2,4%

-

UHNWI:2 30 Mio. US-S Nettofinanzvermögen " i M i a . ^ S Nettofinanzvermögen affluent: 4500.000 l)S-$ frei verfügbares Kapitalvermögen

Miiljipttr» eiche Positionierung

affluent

V e r m ö g e n in Deutschland" (WO) cghf woh!hai)6nd 300% d e s durchschnittlichen

Nftttoäquivalen?f(inkomrinen5

6,8% -

wohlhabend

wohlhabend 200-300% des durchschnittlichen Nettoäauivalen2einkommens

Abgewandelt aus: Lauterbach/Ströing 2009,2012; Lauterbach/Kramer/Ströing, 2011 Die Reichtumsverteilung a n h a n d der P y r a m i d e zeigt, dass zum Befragungszeitp u n k t (2008) etwa 2,4 Prozent der Deutschen reich im Sinne der vorliegenden Systematik sind. 6,8 Prozent sind (sehr) w o h l h a b e n d . In Bezug auf die vorliegenden ViD-Daten zeigt sich, dass die Befragten in etwa zu den drei Prozent der reichsten Deutschen zu zählen sind, die in aller Regel Affluents, HNWIs u n d z u m Teil U-HNWIs sind.

Philanthropie im Allgemeinen und als Vermächtnis Wie auch bezüglich des Reichtumsbegriffs gibt es zum Verständnis von Engagement keinen eindeutigen w i s s e n s c h a f t l i c h e n Konsens. Nichtsdestotrotz lassen sich grundsätzlich zwei D i s k u s s i o n s z u s a m m e n h ä n g e ausmachen. Zum einen wird die Thematik im Sinne einer individuellen Nutzenorientierung a u f g e g r i f f e n , beispielsweise u m b e r u f l i c h e Vorteile aus dem Engagement zu erzielen. Im Zusamm e n h a n g mit der Individualisierungsthese lässt es sich auch als s i n n s t i f t e n d f ü r das eigene Leben und insofern als nutzenbringend identifizieren. Zum anderen gibt es die bereits erläuterte Debatte u m Zivilgesellschaft und Bürgerschaftlichkeit, bei der das gemeinschaftliche Wohl im Fokus der A r g u m e n t a t i o n steht (vgl. Lauterbach/Ströing 2012).

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Miriam Ströing

Bürgerschaftliches Engagement lässt sich übergreifend als all diejenigen Aktivitäten definieren, die außerhalb der Privatsphäre, ohne Profitgedanken und zum allgemeinen Wohl durchgeführt werden. Sie finden außerhalb des engen sozialen Umfelds wie Familie oder Nachbarschaft statt (vgl. Braun 2002). Laut jüngstem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung umfasst bürgerschaftliches Engagement ein breites Feld von informellem Engagement über Interessensvereinigungen bis hin zu formeller Mitarbeit in Parteien und Verbänden sowie allen anderen Ehrenämtern (vgl. Deutsche Bundesregierung 2013: 199). Auch wenn Spendentätigkeiten und das Mitwirken in wohltätigen Stiftungen in diesen Ausf ü h r u n g e n nicht explizit genannt werden, sind sie aus dieser Definition nicht auszuschließen, denn ihre Eigenschaften entsprechen den oben genannten Kriterien. Eine weitere Unterscheidung in der theoretischen Debatte lässt sich anhand des Gebrauchs der Begriffe Philanthropie und bürgerschaftliches Engagement ausmachen. Debatten, in denen der Begriff der Philanthropie gebräuchlich ist, drehen sich um Spenden, Stiftungen und Mäzenatentum, während bürgerschaftliches Engagement im Zusammenhang mit freiwilligen gemeinnützigen Tätigkeiten verwendet wird (vgl. Krimphove 2010). Innerhalb dieser Analyse werden die Begriffe synonym verwendet, da sie beide gesellschaftliche Verantwortungsübernahme widerspiegeln (vgl. Adam 2001). Das hier vorliegende Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme bedeutet die Bereitstellung materieller und immaterieller Güter f ü r öffentliche, kulturelle, soziale und bildungsfördernde Zwecke. Sie ist freiwillig, nicht gewinnorientiert und dient dem öffentlichen Wohl (vgl. Lauterbach/Ströing 2012; Haibach 2010). Der Fokus der folgenden Analyse liegt auf der Frage, inwiefern die Befragten planen, ihren Nachlass ganz oder teilweise gemeinnützigen Zwecken zugutekommen zu lassen. Dabei ist von Interesse, wie viele reiche Personen einen derartigen Vermögenstransfer planen und inwiefern dies alternativ oder parallel zur Vererbung an anderer Erbnehmer, insbesondere der Familie, vonstattengeht. Darüber hinaus wird untersucht, inwiefern sich diejenigen Erblasser, die Gemeinnützigkeit in ihrem Erbe planen, von denen unterscheiden, die dies nicht t u n .

Daten Um die Vererbungspraktiken der Befragten zu analysieren, werden folgend die Daten der ViD-Studie vorgestellt, die Angaben zu 472 Haushalten beziehungsweise 831 Personen umfasst. Es handelt sich hierbei um die erste Erhebung, die mit einem standardisierten Instrument quantitative Daten derartig vermögender Personen und Haushalte generiert. Verschiedene Gründe bedingen die vergleichsweise kleine Stichprobe, die anhand eines Free-Find-Verfahrens ermittelt wurde.

Reichtum und Philanthropie als Vermächtnis

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Zunächst einmal ist es schwierig, Daten von als reich definierten Personen zu generieren. Gerade in Deutschland sind sie tendenziell z u r ü c k h a l t e n d mit A u s k ü n f ten über ihre eigene Person, Lebensumstände oder finanzielle Belange. Darüber h i n a u s handelt es sich u m eine sehr kleine Gruppe innerhalb der Gesamtbevölker u n g . Um eine Zufallsstichprobe mit 500 Fällen u n d einem frei v e r f ü g b a r e n Kapitalvermögen von mindestens 250.000 Euro zu erhalten, müsste m a n 16.700 Personen finden, die bereit sind, über ihre finanzielle Situation A u s k u n f t zu geben. Die hier untersuchte Gruppe besteht aus Haushalten mit einem frei v e r f ü g b a r e n Kapitalvermögen 3 von mindestens 200.000 Euro (vgl. K o r t m a n n 2011). Inhaltlich w u r d e n Informationen z u r Reichtumsgenese und -Verwendung erhoben. Darüber h i n a u s machten die Teilnehmer unter anderem A n g a b e n zu ihrer persönlichen, b e r u f l i c h e n u n d f a m i l i ä r e n Situation, Einstellungen u n d Werten, gesellschaftlichem Engagement u n d ihren Erbschaftsplänen (vgl. Lauterbach/ Kramer/Ströing 2011). Da es sich u m eine Querschnittstudie handelt, lässt sich nicht feststellen, inwieweit die Pläne mit dem eigenen Nachlass tatsächlich vollzogen werden. Nichtsdestotrotz bieten die prospektiven A n t w o r t e n wichtige Informationen über Vorstellungen z u m U m g a n g mit dem eigenen Nachlass u n d dem diesbezüglichen gesellschaftlichen Engagement. Im Durchschnitt v e r f ü g e n die ViD-Haushalte, die sich den reichsten drei Prozent in Deutschland zuordnen lassen, über ein Vermögen von 2,5 Millionen Euro. Mehr als die Hälfte (55,6 Prozent) verdienen mindestens 80.000 Euro im J a h r (vgl. Lauterbach/Ströing 2012). Die Befragten sind zwischen 28 u n d 87 J a h r e und durchschnittlich 56 J a h r e alt. Vergleiche mit bevölkerungsrepräsentativen Daten aus dem Mikrozensus bezüglich des J a h r e s 2008 zeigen, dass die ViD-Befragten vergleichsweise alt sind. 79 Prozent von i h n e n sind mindestens 45 J a h r e als, was lediglich f ü r 63 Prozent der Deutschen gilt (vgl. StaBu 2013). Die Fragen zu Erbschaftsplänen erheben, ob die Befragten bereits d a r ü b e r n a c h gedacht haben, wie sie ihren Nachlass v e r m a c h e n möchten und, w e n n ja, wem: n a h e n oder fernen Verwandten, Freunden oder Bekannten, gemeinnützigen Zwecken oder anderen Nutznießern. Darüber h i n a u s w u r d e erhoben, ob sie jeweils einen kleinen oder großen Teil beziehungsweise ihr gesamtes Erbe f ü r die jeweiligen Erbnehmer v e r p l a n e n . Bevor diese Daten ausgewertet werden, wird ein gesamtdeutscher Überblick über Vererbungspraktiken als Vergleichshorizont gegeben. A u f g r u n d der besonderen Stichprobe ergeben sich beachtliche Unterschiede, die die Relevanz der vorliegenden Untersuchung unterstreichen, d e n n die Vi'D-Teiln e h m e r vererben nicht n u r häufiger, sondern auch wesentlich höhere Beträge als die Gesamtbevölkerung.

3

Frei verfügbares Kapitalvermögen setzt sich aus der Summe der Geldanlagen des Haushalts ohne den Rückkaufwert von Lebens- und privaten Rentenversicherungen und nach Abzug gegebenenfalls vorhandener privater Kreditverpflichtungen zusammen.

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Miriam Ströing

Vererbungspraktiken Gerade in Bezug auf vergleichsweise geringe Erbschaftssteuern und hohe Freibeträge ist von Interesse, wie insbesondere reiche Personen ihren Nachlass v e r w e n den und ob sie planen, einen Teil davon f ü r gemeinnützige Zwecke zu geben. Je nach verwandtschaftlicher Nähe zwischen Erblasser und Erbe und Höhe des Transfers rangieren die Steuern zwischen sieben u n d 50 Prozent. Dabei ist zu bedenken, dass die höchste Rate n u r erreicht wird, w e n n mindestens 13 Millionen Euro an Personen ohne jegliche verwandtschaftliche Beziehung transferiert werden, was äußerst selten vorkommt. Die Freibeträge liegen im Fall verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen 200.000 u n d 500.000 Euro (vgl. Bundesministerium f ü r Justiz 2013). Aus diesen Gründen sind Erbschaftssteuern mit einem Anteil von weniger als einem Prozent der gesamten staatlichen Steuereinnahmen von sehr geringer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung (vgl. Beckert 2009). Ebenfalls zu bedenken ist die aktuell konstatierte „Erbschaftswelle" infolge der Vermögensakkumulation nach dem zweiten Weltkrieg und dem aktuellen Transfer sehr hoher Vermögen (vgl. Kohli (u. a.) 2006; Lauterbach/Lüscher 1996; Szydlik 2009). Das geschätzte Volumen jährlicher Vermögensübertragungen zwischen 2006 und 2015 b e t r u g 236 Milliarden Euro (vgl. Braun/Metzger 2007). A u f g r u n d der in Deutschland hohen Vermögenskonzentration v e r f ü g e n gerade reiche Personen über einen erheblichen Anteil dieser Erbschaften (vgl. Frick/Grabka 2009; Grabka 2014; Grabka/Frick 2007). Mehr als die Hälfte der deutschen Haushalte h a b e n bisher geerbt oder e r w a r t e n z u k ü n f t i g eine Erbschaft. Nur in den wenigsten Fällen von 2,5 Prozent handelt es sich jedoch u m e x t r e m hohe Transfers von m e h r als 500.000 Euro. Zwei Drittel erben im Wert von weniger als 50.000 Euro (vgl. Beckert 2005). Soziologische Debatten rund u m E r b s c h a f t e n korrespondieren meist mit Fragen zu sozialen Ungleichheiten, wobei unterschiedliche Ergebnisse konstatiert werden. Kohli u . a . (2006) machen einen harmonisierenden Effekt a n h a n d der Daten des Sozio-oekonomischen Panels 4 (SOEP) aus. Sie argumentieren, dass Haushalte ohne Vermögen mit einer Erbschaft die Möglichkeit erhalten, erstmals ein solches a u f z u b a u e n . Für Haushalte, die bereits vermögend sind, macht der Zugewinn durch eine Erbschaft keinen spürbaren Unterschied f ü r ihr Gesamtvermögen. Gleichzeitig zeigt der Gini-Koeffizient 5 von 0,7 aber eine starke Ungleichheit in Bezug auf die Möglichkeit, durch Erbschaften Vermögen zu generieren. Darüber h i n a u s fallen Erbschaften h ä u f i g e r in Westdeutschland an u n d sind hier höher als in Ostdeutschland. Dies liegt in erster Linie d a r a n , dass es vor der Wiedervereinig u n g in den neuen Bundesländern nicht möglich war, Vermögen a u f z u b a u e n .

4

5

Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine für Deutschland repräsentative Langzeitstudie, die seit 1984 jährlich durchgeführt wird. Daten für Ostdeutschland werden seit 1990 ebenfalls erhoben (vgl. Schupp/Szydlik 2004; Szydlik/Schupp 2004). Der Gini-Koeffizient ist ein Maß für die relative Konzentration beziehungsweise Ungleichheit. Sein Wert liegt zwischen 0 bei absoluter Gleichheit und 1 bei absoluter Gleichheit. Je höher der Koeffizient, desto höher die Ungleichheit (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2011).

Reichtum und Philanthropie als Vermächtnis

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Im Gegensatz zu Kohli u.a. konstatiert Szydlik (2001) steigende Ungleichheiten durch Erbschaften: „Wer hat, dem wird gegeben." Er argumentiert mit ungleichen Erbschaftschancen sowie einer Ungleichverteilung der Höhe ererbten Vermögens. Die regionalen Unterschiede werden auch hier angeführt. Daneben zeigt Szydlik einen noch stärkeren positiven Einfluss des Bildungsniveaus auf Erbschaften und ihre Höhe. Neben dem SOEP basieren die Daten auf dem Alterssurvey 6 . Weitere Einflussfaktoren sind ein Migrationshintergrund (negativ), das Alter (positiv) und die Geschwisterzahl (negativ). Szydlik fügt außerdem hinzu, dass intergenerationale Transfers schon zu Lebzeiten Ungleichheiten erzeugen, da vermögende Eltern ihren Kindern eine höhere Bildung ermöglichen können, woraus besser bezahlte Jobs resultieren (vgl. Schupp/Szydlik 2004; Szydlik 1999, 2001; Szydlik/Schupp 2004). Mit einem Anteil von zwei Dritteln gehen die meisten privaten Erbschaften auf die eigenen (Schwieger-)Eltern zurück, der unter Einbezug der Großeltern auf drei Viertel ansteigt. Daher ist die Lebenszeit der Eltern der wichtigste Indikator für zukünftig erwartete Erbschaften. Nur drei Prozent derjenigen, deren Eltern bereits verstorben sind, erwarten eine zukünftige Erbschaft. Wenn die Eltern noch leben, beträgt dieser Anteil 53 Prozent (vgl. Schupp/Szydlik 2004; Szydlik 1999, 2001; Szydlik/Schupp 2004). Bei Betrachtung dieser gesamtdeutschen Ergebnisse ist zu erwarten, dass Erbschaften innerhalb von ViD überdurchschnittlich häufig vorkommen und höher ausfallen, da die Befragten vergleichsweise älter und höher gebildet sind (vgl. Lauterbach/Tarvenkorn 2011). Zudem sind die meisten Befragten Westdeutsche ohne Migrationshintergrund. Direkte Vergleiche zwischen den Daten sind schwierig. Die Erhebung von Erbschaften erfolgte in den hier verwendeten WD-Daten unter Einbezug von Schenkungen, welche nicht differenziert abgebildet werden. Somit ist eine leichte Überschätzung der Häufigkeit und Höhe intergenerationaler Transfers in Bezug auf Erbschaften zu erwarten. Die Unterschiede fallen jedoch so exorbitant hoch aus, dass sie eine eindeutig höhere Rate sowie höhere Werte von Erbschaften der ViD-Befragten aufzeigen: Gut 80 Prozent der Befragten erhielten mindestens eine Erbschaft oder Schenkung (siehe Abb. 3). Abbildung 3: Erbschaften/Schenkungen (Haushalte, > 20.000 Euro, in Prozent)

nein i 19,4 j i' ! i1 j! 0 20

|

]

;

i

40

60

80

100

Quelle: ViD; eigene Berechnungen; N = 433 6

Die 1996 erhobenen, repräsentativen Zufallsdaten enthalten Informationen über 5.000 Personen im Alter von 40 bis 85 Jahren in Deutschland (vgl. Szydlik 2004: 35).

76

Miriam Ströing

Der Gesamtwert dieser Transfers beträgt für die oberen 40 Prozent mindestens 500.000 Euro (siehe Tab. 1). Dies ist ein enormer Unterscheid zur gesamtdeutschen Bevölkerung mit einer analogen Rate von 2,5 Prozent. Im Vergleich zu zwei Dritteln der Erben in Deutschland erhielten nur knapp sieben Prozent der y/D-Befragten Vermögensübertragungen im Wert von unter 50.000 Euro. Gut die Hälfte erbt/erhält Schenkungen im Wert von 50.000 bis 500.000 Euro. Dies zeigt, dass die reichen V/D-Teilnehmer häufiger und von höherem Wert erben als alle Deutschen zusammen gesehen. Tabelle 1: G e s a m t w e r t aller Erbschaften/Schenkungen (Haushalte, gruppiert)

Wert (Euro)

Absolute

Relative

Kumulierte

Häufigkeiten

Häufigkeiten

Häufigkeiten

< 50.000 50.000 - 5 0 0 . 0 0 0

17

6,6

6,6

138

53,7

60,3 100,0

> 500.000

102

39,7

Gesamt

257

100,00

Quelle: ViD; eigene Berechnungen

Die Daten erlauben keine Analyse der Quelle von Erbschaften und Schenkungen, jedoch kann untersucht werden, wem die Befragten selbst ihr Erbe weiterzugeben planen. Tabelle 2 zeigt, dass 95 Prozent der Studienteilnehmer einen großen Teil ihrer Erbschaften für die eigene Familie verplanen. Das gesamtdeutsche Ergebnis, dass die meisten Vermögensübertragungen von den eigenen (Groß-)Eltern kommen, spiegelt sich somit auch für explizit reiche Personen wider. Knapp drei Prozent der Befragten wollen einen großen Teil gemeinnützig vererben. Demgegenüber sind es immerhin 38,8 Prozent, die einen geringen Teil ihres Erbes philanthropisch verplanen. Zusammengenommen möchten mehr als zwei Fünftel der Reichen mindestens einen Teil ihres Vermächtnisses im Sinne des Gemeinwohls verwenden. Tabelle 2: Pläne mit dem eigenen Erbe (Zeilenprozente)

Kein Teil Familie

2,1

Geringer Teil 3,0

Großer Teil/ Alles

N

94,9

333

Freunde/Bekannte

84,4

13,7

1,9

320

Philanthropische Zwecke

58,4

38,8

2,8

317

Quelle: ViD; eigene Berechnungen

Reichtum und Philanthropie als Vermächtnis

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Abbildung 4 zeigt darüber hinaus, dass vor allem diejenigen mit mindestens einem Kind einen großen Teil ihres Vermächtnisses der Familie zu überlassen gedenken. Im Vergleich dazu ist der analoge Anteil der Kinderlosen 18 Prozentpunkte niedriger. Zumindest in Bezug auf einen kleinen Anteil lässt sich eine hohe Bereitschaft, f ü r philanthropische Zwecke zu geben, erkennen. Sowohl in Bezug auf Eltern als auch hinsichtlich Kinderloser wird dies öfter geplant als Freunde und/ oder Bekannte zu bedenken. Die häufig getroffene Annahme, dass Erbschaften an das Gemeinwohl insbesondere f ü r Kinderlose eine Rolle spielen, t r i f f t in der Tendenz nicht zu. Eltern verplanen ihr Erbe zwar seltener als Kinderlose f ü r gemeinnützige Zwecke, jedoch geben sie deutlich häufiger f ü r diese Zwecke als f ü r Freunde und/oder Bekannte. In Bezug auf die relative Höhe der Erbschaft unterscheiden sich die Ergebnisse deutlicher. Lediglich 0,4 Prozent der Eltern verplanen einen großen Teil ihres Nachlasses f ü r Freunde, Bekannte oder das Gemeinwohl. Demgegenüber sind insbesondere philanthropische Zwecke mit einem Anteil von 14,5 Prozent, aber auch Freunde und/oder Bekannte (8,8 Prozent) f ü r Kinderlose häufiger ein Thema in Bezug auf den Großteil ihres Vermächtnisses. Erbschaften an das Gemeinwohl spielen demnach f ü r Kinderlose dann eine explizit größere Rolle als f ü r Eltern, wenn es um einen großen Teil des Erbes geht. Abbildung 4: Pläne mit dem eigenen Erbe nach Elternschaft (in Prozent)

j ..

.. J

. ......

Freunde/Bekannte/kein Kind

iiHiniiiiiiHian

;

i 50.9

4 -

60,0 ! 25

Philanthropische Zwecke / Kind(er)

kein Teil

,

]

H 88,9

Freunde/Bekannte / Kind(er) Philanthropische Zwecke / kein Kind

.

I kleiner Teil

1 7' i 50

1 ! ! HP 1 — 75

K

I

i

mm •.

1 i [ 0 1 100

I großer Teil/Alles

Quelle: ViD; eigene Berechnungen; N (Familie/Freunde/Bekannte/Philanthropische Zwecke) = 331/318/315; Chi2 = 40"*/31""/33""; Koeffizient signifikant zum '< 0,1, **< 0,05 und "'< 0,01-Niveau.

Eine nähere Betrachtung (siehe Abb. 5) zeigt, dass der Großteil der Befragten mit einem Anteil von 57 Prozent an die Familie und nicht philanthropisch vererben möchte. Im Gegensatz dazu geben gut zwei Fünftel sowohl an die Familie als auch an das Gemeinwohl. Nur jeweils etwa ein Prozent möchten ihren Nachlass weder der Familie noch der Allgemeinheit oder nur der Allgemeinheit vermachen.

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Abbildung 5: Pläne mit dem eigenen Erbe an die Familie und/oder philanthropische Zwecke (in Prozent)

0

20