Wiedervereinigung nach sechs Jahren: Erfolge, Defizite, Zukunftsperspektiven im Transformationsprozeß [1 ed.] 9783428490783, 9783428090785

Nach sechs Jahren Wiedervereinigung ist die Zeit reif, Analysen über Erfolge und Defizite im bisher abgelaufenen Transfo

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Wiedervereinigung nach sechs Jahren: Erfolge, Defizite, Zukunftsperspektiven im Transformationsprozeß [1 ed.]
 9783428490783, 9783428090785

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Wiedervereinigung nach sechs Jahren: Erfolge, Defizite, Zukunftsperspektiven im Transformationsprozeß

Schriftenreihe des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung Nr. 144

Wiedervereinigung nach sechs Jahren: Erfolge, Defizite, Zukunftsperspektiven im Transformationsprozeß

Herausgegeben von

Karl Heinrich Oppenländer

Duncker & Humblot . Berlin / München

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Wiedervereinigung nach sechs Jahren: Erfolge, Defizite, Zukunftsperspektiven im Transformationsprozess / hrsg. von Karl Heinrich Oppenländer. - Berlin ; München: Duncker und Humblot, 1997 (Schriftenreihe des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung ; Nr. 144) ISBN 3-428-09078-0 NE: Oppenländer, Karl Heinrich [Hrsg.]; ifo Institut für Wirtschaftsforschung (München): Schriftenreihe des ifo Instituts ...

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0445-0736 ISBN 3-428-09078-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 00

Vorwort

Nach sechs Jahren Wiedervereinigung ist die Zeit reif dafür, Analysen über Erfolge und Defizite im bisher abgelaufenen Transformationsprozeß der NBL anzubieten, aber auch noch intensiver als zuvor über Zukunftsperspektiven nachzudenken. Das vorliegende Buch, das sich den relevanten Themen im Detail widmet, ist gleichzeitig Ausweis für die intensive Arbeit, die das ifo Institut für Wirtschaftsforschung in Sachen Wirtschaftsanalyse und -prognose für die NBL geleistet hat. Das gilt in besonderem Maße auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Niederlassung Dresden des ifo Instituts, die im September 1993 gegründet worden war, um den Transformationsprozeß analytisch und kritisch zu begleiten. Die beiden Geschäftsführer der Niederlassung, Professor Dr. Max Eli und Dr. Jürgen Riedei, haben das ihre dazu beigetragen, daß die Entwicklung der ifo Niederlassung Dresden als Erfolgsstory bezeichnet werden kann. Insbesondere danke ich Frau Dr. Barbara Schaden, zukünftig in leitender Stellung in der Niederlassung, für ihre umsichtige und zielgerichtete Arbeit bei der Fertigstellung des Bandes. Autoren, die von außen kommen, und die wir gebeten hatten, Beiträge zu liefern, sei besonders gedankt, so Frau Gerlinde Sinn, den Herren Dr. Viktor Steiner und Patrick A. Puhani, Frau Kerstin Schwenn sowie Herrn Dr. Karl Lichtblau. Herzlich danke ich auch Herrn Dr. Kajo Schommer, dem sächsischen Staatsminister für Wirtschaft und Arbeit, der über "Die Förderung der Kapitalbildung im Freistaat Sachsen: Der Umgang mit Zielkonflikten" referiert, sowie Herrn Professor Dr. Georg Milbradt, dem sächsischen Staatsminister der Finanzen, der den Beitrag über "Aufholprozeß Ostdeutsch land: Strategien für die Zukunft" verfaßt hat. Der Transformationsprozeß dauert an, wobei ich eine Überschrift zum Begleitmotto nehme: "Von der Transformation zur Integration: Aufbau und Anpassung". Auch die Analysen und Prognosen sollten anhalten. Es gibt noch viel zu tun. Die Zukunft ist hoffentlich ins Erfolgreiche gewendet. München/Dresden, im Oktober 1996

Karl Heinrich Oppenländer

Inhaltsverzeichnis

Teil I Von der Transformation zur Integration: Aufbau und Anpassung Der Transformationsprozeß in der Diskussion

Von Karf Heinrich Oppenfänder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3 Synopse der bisherigen Entwicklung: Optimismus - Ernüchterung offene Fragen

Von Barbara Schaden und Gerhard Wiesner t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 9 Ostdeutsche Wirtschaft 1996/97: Abschied von den hohen Wachstumsraten

Von Wolfgang Nierhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 41

Teil 11 Bewirktes und Defizite: Auf der Erfolgsstraße? Private Haushalte: Kaufkraftplus auf breiter Front

Von Wolfgang Nierhaus .... . .... . . ............. , ............... 51 Investitionen: Aufbau Ostdeutschlands vorangetrieben

Von Wolfgang Gerstenberger und Frauke Neumann ............. . .. 73 Industrielle Innovationsdynamik: Förderung des endogenen Innovationspotentials weiterhin erforderlich

Von Horst Penzkofer und Heinz Schmafhofz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

VIII

Inhaltsverzeichnis

Außenhandel: Trotz erster Lichtblicke noch große Defizite Von U/rike Münstermann ... . ..... . ............................ 127

Teil 111 Neuaufbau Ost: Impulse durch Westtransfers Öffentliche Finanztransfers: Spirale ohne Ende? Von Barbara Schaden und Carsten Schreiber ... .. .... . .... . ..... 145 Aufschwung Ost: Konjunktur für Wirtschaftsförderprogramme Von Jürgen Riedel und Gerhard Wiesner t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 163 Die Förderung der neuen Bundesländer und Ost-Berlins durch die Regionalpolitik der EU Von Wolfgang Ochel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 185 Subventionen: Motor für Wachstum und Beschäftigung? Von Marlies Hummel ......................................... 201

Teil IV

Lohnpolitik: Belastung für den Arbeitsmarkt Arbeitsmarkt Ost: Ist die Beschäftigungspolitik am Ende? Von Kurt Vogler-Ludwig ..................... . ................. 233 Lohnentwicklung und Lohnpolitik in den neuen Bundesländern Von Gerlinde Sinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Inhaltsverzeichnis

IX

Die Entwicklung der Lohnstruktur im ostdeutschen Transformationsprozeß

Von Viktor Steiner und Patrick A. Puhani . ........................ 281

Teil V Kapitalstock: Sanierung erfordert Kraftakt Die Förderung der Kapitalbildung im Freistaat Sachsen: Der Umgang mit Zielkonflikten

Von Kajo Schommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Die Privatisierung der volkseigenen Betriebe durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolgeorganisation BvS

Von Kerstin Schwenn ................ . .................... . ... 347 Industrielle Kerne und neue Wachstumstheorie

Von Karl Lichtblau . ........................................... 357

Teil VI Systemwechsel treibt Strukturwandel: Eine Analyse nach Branchen Landwirtschaft: Großbetriebe prägen den ländlichen Raum

Von Rüdiger Meimberg ....... . ........... . ................... 383 Industrie: Rasche Angleichung an die westdeutsche Beschäftigtenstruktur

Von Bernhard Pieper ..... . .... . ..... . . .... . ..... . .... . .... . .. 401

x

Inhaltsverzeichnis

Bauwirtschaft: Die "Lokomotive" des Aufschwungs zeigt deutliche Ermüdungserscheinungen Von Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner ......... 419 Handwerk: Ein Motor des Wirtschaftswachstums Von Max Eli und Carola Vögtle ................................. 443 Handel: Hohe Wettbewerbs intensität fördert Anpassungsprozesse Von Josef Lachner, Thomas Nassua und Uwe Chr. Täger .... . ..... 455 Dienstleistungen: Dynamisches Wachstum verspricht Zukunftschancen Von Max Eli und Carola Vögtle ................... .. .... . .... . .. 469 Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur: Das Fallbeispiel Sachsen Von Ulrike Münstermann und Jürgen RiedeI . ............. . ... . ... 481

Teil VII Räumlicher Strukturwandel: Erhebliche Verlagerungen bei Wohnbevölkerung und Arbeitsplätzen Der räumliche Strukturwandel in Ostdeutschland: Was ist neu in den neuen Bundesländern? Von Robert Koll .. . .... . ..... . ..... . ...... . .... . ............ 505 Die Rolle Berlins im Entwicklungsprozeß der neuen Bundesländer Von Robert Koll ..................................... . ...... 527

Inhaltsverzeichnis

XI

Teil VIII Perspektiven der ostdeutschen Wirtschaft und wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen Summa summarum: Der Aufschwung Ost hat Zukunft

Von Barbara Schaden . ...................................... 551 Aufholprozeß Ostdeutschland: Strategien für die Zukunft

Von Georg Milbradt ............................... . . . . . . . ..

569

Personenregister

593

Sachregister

601

Autoren ............. . ........................................ 613

Teil I Von der Transformation zur Integration: Aufbau und Anpassung

Der Transformationsprozeß in der Diskussion Von Karl Heinrich Oppenländer

Aufholprozeß Ost ins Stocken geraten Die deutsche Öffentlichkeit ist im Sommer 1996 durch die Prognosen für 1997, die neuen Bundesländer betreffend, aufgeschreckt worden. Der Aufholprozeß im Osten ist danach ins Stocken geraten, was daran gemessen wird, daß das Wachstum sowohl in den neuen Bundesländern im Jahr 1997 als auch in den alten Bundesländern bei 2 % (reales BIP) liegen könnte. Im Herbst 1996 erwarten die Wirtschaftsforschungsinstitute für 1997 ein Wachstum von 2 % für die neuen und von 2,5 % für die alten Bundesländer. Nach Wachstumsraten in den neuen Bundesländern von durchschnittlich 8,9 % in den Jahren 1992 bis 1994 und 5,3 % im Jahr 1995 würde dies eine Umkehr der Wachstumsdynamik bedeuten (vgl. Abb. 1). Im Gefolge dieser Entwicklung wird man vor allem mit zwei Gedankengängen konfrontiert. Zum einen: "Trübe Aussichten im Osten mit dem wirtschaftlichen Aufholprozeß ist es vorbei". Zum anderen: "Der Aufholprozeß in Ostdeutsch land dauert länger: Bundesregierung rechnet nun mit mindestens 15 Jahren - Ostunternehmer sind überfordert".1 Der eine Gedankengang signalisiert Resignation, erinnert an Horrorszenarien, die bei Beginn der Wiedervereinigung verkündet worden waren (etwa Mezzogiorno im Osten oder "vor uns die Ödnis"), der andere Gedankengang dokumentiert die Ohnmacht der Politik, die sehr rasch "blühende Landschaften im Osten" versprochen hatte, und nun signalisiert, daß man sich getäuscht habe, daß noch weitere und noch lange Anstrengungen erforderlich seien, um den Anpassungsprozeß endgültig zum Abschluß zu bringen oder wenigstens zunächst einen "selbsttragenden Aufschwung" einzuleiten.

Vgl. die damaligen Headlines in den führenden Zeitungen.

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Abbildung 1 Szenario Gesamtdeutschland: BIP-Wachstum (real) • Westdeutschland 15

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der ostdeutschen Wirtschaft am gemeinsamen BIP 1991: ca. 7,2 % I

Quelle: Statistisches Bundesamt, Schätzungen der Gemeinschaftsdiagnose, Herbst 1996.

Eine Analyse des augenblicklichen und zukünftigen Wirtschaftsprozesses in den neuen Bundesländern sollte drei verschiedene Ebenen im Auge haben: 1. Die Wiedervereinigung ist aus ökonomischer und politischer Sicht in die Problematik des Transformationsprozesses einzuordnen, wie ihn jeder Staat des ehemaligen Ostblocks durchläuft. 2. Die Situation Ostdeutsch lands ist dennoch einmalig. Neben dem allgemeinen Transformationsprozeß gibt es NBL-spezifische Muster, die zu beachten sind. 3. Manches war einseitig vorprogrammiert, was während und nach der Wiedervereinigung geschah, und zwar vorprogrammiert vom Westen. Das "bessere" System wurde angeboten und durchgesetzt. Mit zunehmender Integration werden aber die Probleme des Westens auch im Osten spürbar. Ist die Stockung des Aufschwungs etwa darauf zurückzuführen?

Der Transformationsprozeß in der Diskussion

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Drei Problemebenen sind aufgezeigt, die im folgenden etwas näher durchleuchtet werden sollen.

Allgemeiner Transformationsprozeß: Drei Stufen simultan angehen Keine Frage ist, daß im Transformationsprozeß sozialistische Planmethoden durch marktwirtschaftliche Allokationsmechanismen ersetzt werden. Konstitutive Elemente dabei sind individuelle Handlungs- und Verfügungsrechte sowie das Privateigentum. Als Frage wird diskutiert, ob dieser Prozeß in Form einer Schocktherapie oder eher graduell durchzusetzen ist. Welche Art vorzuziehen ist, hängt zudem entscheidend von der Reform des politischen Systems ab, da immerhin ökonomische und politische Reformvorgänge Hand in Hand gehen: Das politische System setzt die Rahmenbedingungen für das Wirtschaften. Demokratie und Marktwirtschaft, das sind sich gegenseitig bedingende Reformteile, da die Bildung einer wie auch immer gearteten Demokratieform dazu beitragen kann, Machtkonzentration abzubauen. Die Realität hat indessen gezeigt, daß der Transformationsprozeß in einzelnen Ländern des ehemaligen Ostblocks unterschiedlich weit vorangekommen ist. Die Dreistufigkeit des Prozesses (politische Reformen, makroökonomische Stabilisierung, mikroökonomische Fundierung) ist zwar erkannt, aber oft nicht gleichgewichtig verfolgt worden (vgl. Oppenländer 1996, S.48 f.). Die Diskussion über Schock oder Gradualismus hat nicht eigentlich weitergeführt, da beide Formen angewendet wurden und beide Vor- und Nachteile aufwiesen. Heute unterhält man sich über und praktiziert eher ein Timing und ein Sequenzing, also eine möglichst in allen Stufen vorangetriebene gleichgewichtige Reform (vgl. Habuda et al. 1996, S.13 ff.).

NBL-spezifischer Transformationsprozeß: Mikroökonomische Fundierung dauert an Nun sind Teile dieses Transformationsprozesses in den neuen Bundesländern uno actu mit dem Wiedervereinigungsvertrag entschieden worden: Der Demokratisierungsprozeß ebenso wie der makroökonomische Stabilisierungsprozeß sollte sofort eingeführt werden, und zwar durch die Übernahme der Verfassung (GG) und der Wirtschaftsordnung (soziale Marktwirtschaft). Das wirft indessen 2 Wiedervereinigung

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die Frage nach dem Zusammenfallen oder Auseinanderklaffen des de factound des de jure-Zustandes auf. Ist hier Timing und Sequenzing erreicht worden? Wohl nicht annähernd, und dieser Zustand wird auch noch einige Zeit andauern. Insofern unterscheidet sich der allgemeine Transformationsprozeß vom spezifischen der neuen Bundesländer: Dort das Schaffen einer Demokratie mit allen anfänglichen Hindernissen, das Herantasten an neue Rahmenbedingungen, hier die Über-Nacht-Einführung von Demokratie und makroökonomischen Rahmenbedingungen wie Währung, Bankensystem, Finanzverwaltung usw. Aber: Ein learning-by-doing-Effekt ist beiden Reformbemühungen gemeinsam. Hinzu kommt aber, und das scheint besonders schwerwiegend zu sein: Während die Dreistufigkeit im allgemeinen Transformationsprozeß gemeinsam angegangen wird, wobei hier wohl die mikroökonomische Fundierung besonders lange auf sich warten läßt, sind im NBL-spezifischen Fall die zwei Stufen, politische Reform und makroökonomische Stabilisierung, kaum beeinflußbar gewesen. Die dritte Stufe konnte nicht ebenfalls (wie im allgemeinen Fall) auf dem Verordnungswege eingeführt werden: Märkte bilden sich allmählich, Suchprozesse dauern, durch Verordnungen "eingerichtete" Ausgangspositionen bildeten wegen ihrer schockartigen Auswirkung (Währungsumstellung und Aufwertung, Lohnbildung nach Westmuster und Nichtanpassung an Produktivitätsentwicklungen usw.) eine besonders hohe Hürde für die mikroökonomische Fundierung. Eine gleichgewichtige Behandlung der drei Stufen, begleitet von Lerneffekten und Vertrauensbildung, war also im NBL-spezifischen Fall gar nicht möglich. Dauert die Implementierung der dritten Stufe deshalb besonders lange?

Diktat des Westens: Sind die Transferleistungen angekommen? "Der reiche Onkel, der Geld mitbringt, ist gern gesehen, wenn er es abliefert, ohne Bedingungen zu stellen." Andernfalls ergeben sich Akzeptanzprobleme, Neidkomplexe kommen auf. Subventionsmentalität und Ineffizienz sind dabei allerdings auch vorprogrammiert. Eigene Initiative ist nicht gerade zu vermuten. Ebenso wie die Marktwirtschaft dazu führt, mit Arbeitslosigkeit und Inflation leben zu müssen (Markträumung ist nicht garantiert), so ist auch das Tragen von Verantwortung erst zu lernen. Eigeninitiative und Leistungswille sind gelähmt, vielleicht auch noch gar nicht zur Ausprägung gekommen.

Der Transformationsprozeß in der Diskussion

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Unter dem enormen Wettbewerbsdruck kann die Anpassungsgeschwindigkeit an neue Verhältnisse manchen überfordern. Das "gutgemeinte" Aufoktroyieren eines Systems wird zur Last, reizt zu Widerstand, weckt Unverständnis ("Arbeitslosigkeit als Schande", Preissteigerung als Wucher", "Korruption und Unfähigkeit als Begleiterscheinung"). Manager fallen nicht vom Himmel, Privatisierungen lassen sich unter Bedingungen wie Beschäftigungsgarantie und Investitionszwang nicht marktkonform vollziehen. Wie Maier ausführt, "ist das Forschungspotential das schwächste Glied im Transformationsprozeß. Durch die notwendige Entflechtung und Privatisierung der Unternehmen ist gerade die Forschung in negativer Weise betroffen. Die entflochtenen Treuhandbetriebe befinden sich in einer Situation extremer Unbestimmheit. In ihren kurzfristigen Überlebensstrategien ist die Forschung für sie nur eine Belastung, während die westlichen Käufer zum großen Teil an einer verlängerten Werkbank, den Immobilien sowie an den bisherigen Marktsegementen interessiert sind" (Maier 1992, S.57f.). Diese Äußerung aus dem Jahre 1991 trifft heute noch zu, da der Transformationsprozeß noch nicht abgeschlossen ist und die anfänglichen Probleme nach wie vor akut sind: Die Märkte im Osten waren weggebrochen, die Kosten sind zu hoch geblieben, was die Unternehmen international nicht wettbewerbsfähig sein ließ, Innovationen und Kreativität sind spärlich geblieben; sie sind aber für einen selbsttragenden Aufschwung unverzichtbar. Hinzu kommen Probleme, die die westdeutsche Marktwirtschaft beunruhigen: Die Diskussion um den Standort Deutschland, die Globalisierung der Wirtschaft mit den Integrationsbestrebungen in verschiedenen Teilen der Welt, die Infragestellung der Funktionsfähigkeit wichtiger Systeme, wie dem sozialen System. Wird das Wirtschaftswachstum wieder so angekurbelt werden können, daß die Arbeitslosigkeit spürbar absinkt? Das sind nicht NBL-spezifische sondern ABL-induzierte Probleme, die es in Ostdeutsch land mit zu verkraften gilt.

Literatur Habuda, J.lJennewein, M.lOppenländer, K.H. (1996): Der Transformationsprozeß in Ostmitteleuropa, München u.a. Maier, H. (1992): Korreferat zum Referat von K.H. Oppenländer (Mangelndes Verständnis in demokratische und ordnungspolitische Grundprozesse als Hin2·

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dernis auf dem Reformweg in Mittel- und Osteuropa - ein Vergleich mit der Situation im Nachkriegsdeutschland), in: B. Gahlen/H. Hesse/H.-J. Ramser (Hrsg.), Von der Plan- zur Marktwirtschaft. Eine Zwischenbilanz, Tübingen, S.53-58. Oppenländer, K.H. (1996): Stand und Beurteilung des Transformationsprozesses, in: K.H. Oppenländer (Hrsg.), Einfluß der europäischen Währungsunion auf den Transformationsprozeß in Ostmitteleuropa, München u. a., S. 47-58.

Synopse der bisherigen Entwicklung: Optimismus - Ernüchterung - offene Fragen Von Barbara Schaden und Gerhard Wiesner t

Aufregende und ereignisreiche Jahre des deutschen Vereinigungsprozesses sind seit dem November 1989 vergangen. Kontroverse Auseinandersetzungen um Richtung, Tempo und Unzulänglichkeiten der Vereinigung beherrschten die Tagesordnung. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die ökonomischen Aspekte der Diskussionen um die Art des Zusammenwachsens der beiden ehemals getrennten Teile Deutschlands. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer Analyse der Positionen, die die ökonomische Fachwelt im Anfangsstadium der wirtschaftlichen Integration eingenommen hat. Ihre Beurteilung der wirtschaftlichen Lage auf ihrem heutigen Kenntnis- und Erfahrungsstand wird diesen Positionen gegenübergestellt.

1. Ausgangsfragestellung Sechs Jahre nach dem Start der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR und damit dem Ende der DDR-Wirtschaft, sowie sechseinhalb Jahre nach der politischen Wende in Ostdeutschland wird die Einschätzung der wirtschaftlichen Situation und der Aussichten der ostdeutschen Wirtschaft von einem vielstimmigen Chor begleitet. Nach fünf Jahren überwogen die optimistischen Stimmen. Nach nunmehr sechs Jahren ist die Stimmung gedämpft; die optimistischen Stimmen sind leiser geworden. Es wird bezweifelt, daß es unter Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik überhaupt oder wenn, dann höchstens in einer ferneren Zukunft, gelingen wird, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft auf ein dem Westen vergleichbares Niveau zu heben.

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Sind solche Meinungsunterschiede Ausdruck einer neuen Debatte um die Zukunft der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern? Welche Einschätzungen haben demgegenüber im Jahr 1990 die Diskussionen zur Gestaltung des Umstrukturierungsprozesses bestimmt? Wie wurden damals Lage und Perspektiven der ostdeutschen Wirtschaft von der ökonomischen Zunft beurteilt? Welche Themen, Ziele, Handlungsprioritäten und Vorschläge standen bei den politisch Verantwortlichen bzw. den Wirtschaftsexperten ganz oben auf der Tagesordnung? Ein derartige Fragen aufgreifender Rückblick gibt Gelegenheit, mit dem Wissen um die Entwicklung der letzten sechs Jahre, die Entwicklung prägende Grundmuster herauszuarbeiten: Hat es einen Wandel gegeben in den Themenschwerpunkten, in den Erwartungen, Prognosen und der Bewertung des wirtschaftlichen Reformprozesses in Ostdeutschland; (wie) haben sich die propagierten wirtschaftspolitischen Ziele und Instrumente verändert? Inwieweit haben (Fehl-)Entwicklungen im Laufe der letzten sechs Jahre mit präjudizierenden Entscheidungen zu tun, die in der Frühphase der wirtschaftlichen Vereinigung fielen?

2. Nach der Wende Die Position des Sachverständigenrates zu den Wirtschafts reformen in der DDR Noch zu Jahresbeginn 1990, wenige Monate nach der Wende, geht der Sachverständigenrat in seinem Sondergutachten "Zur Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR: Voraussetzungen und Möglichkeiten" von der weiteren Existenz zweier deutscher Staaten aus. Er verweist mit Recht darauf, daß eine schwierige Übergangsphase bevorstehe, da es "nirgendwo in der Welt abschließende Erfahrungen mit einem Wechsel von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft mit Privateigentum an Produktionsmitteln gibt" (SVR 1990a, Tz. 10). Zu den von der politischen Führung der DDR zu ergreifenden Reformen zählt der Rat an erster Stelle eine wettbewerbsorientierte Preisbildung und das Abgehen von zentralen Planungsentscheidungen auf ein dezentrales, von privaten Akteuren getragenes Entscheidungssystem. Folgerichtig plädiert er dafür, daß der wirtschaftliche Reformprozeß vorrangig durch private Investoren unterstützt werden müsse. Blieben diese aus, wäre das ein Zeichen dafür, daß die DDR noch keine zufriedenstellenden Investitionsbedingungen geschaffen habe. Falsch sei es jedenfalls, an Stelle des fehlenden privaten Kapitals verstärkt auf den Einsatz

Synopse der bisherigen Entwicklung

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öffentlicher Mittel zu setzen. Vielmehr könne der Staat auf "bereits vorhandene Formen der Risikoabsicherung zurückgreifen" (SVR 1990a, Tz. 48), ohlle gleich eine spezielle "DDR-Förderung" ins Leben rufen zu müssen. Im Kern läuft die Vorstellung des Sachverständigenrates am Jahresanfang 1990 darauf hinaus, daß die Bereitstellung öffentlicher Mittel aus der Bundesrepublik zur Unterstützung der DDR-Wirtschaft ein überschaubares Volumen nicht übersteige und auch nicht übersteigen dürfe.

Die Positionen der Bundesregierung und der Wirtschaftsforschungsinstitute

Auch die Bundesregierung vertritt im Jahreswirtschaftsbericht 1990 diese Meinung. Staatliche Hilfen könnten nur subsidiären Charakter haben, da es bei einer Modernisierung der DDR-Wirtschaft vor allem auf private Existenzgründungen und auf einen privaten Kapital- und Know-how-Transfer ankomme. Die Einhaltung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen vorausgesetzt, könne sich in der DDR rasch eine wirtschaftliche Dynamik entwickeln, zumal ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stünden (vgl. Bundesregierung 1990, Tz. 15). Mittelständische Unternehmensgründungen gelten dabei als Hoffnungsträger. Im wesentlichen geht es bei dieser Diskussion um die Höhe der Kosten einer Vereinigung, die immer mehr in den Blickpunkt rückt. Welcher finanzielle Aufwand ist erforderlich, um Wirtschaft, Wohnungsbau, Infrastruktur und Umwelt in der DDR auf den Standard der Bundesrepublik zu bringen? Ebenso wie andere Wirtschaftsexperten vertrauen auch die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten 1990 auf die Dynamik eines von der Privatwirtschaft getragenen Systemwandels. Gegen die verbreitete Befürchtung, daß auf die Bundesrepublik gewaltige finanzielle Belastungen (für den Umbau der Wirtschaft, aber auch für Transferzahlungen), letztlich also Steuererhöhungen zukämen, wenden sie ein, daß es sich "bei den Kosten der Sanierung der DDR-Wirtschaft zum allergrößten Teil um die - auf etliche Jahre verteilte - privatwirtschaftliche Finanzierung eines Investitionsprozesses handelt" (vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Frühjahr 1990, S. A20). Entweder werden diese Mittel in der DDR selbst aufgebracht oder sie stammen von privaten Investoren aus der Bundesrepublik oder dem Ausland. Auch wenn mit dem Einsatz öffentlicher Mittel für die Sanierung von Infrastruktur und Umwelt zu

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rechnen ist, können diese Mittel nach Auffassung der Institute doch zunehmend aus der steigenden Wirtschafts- und Steuerkraft der DDR bestritten werden. Sofern öffentliche Mittel benötigt werden, müßten diese also nicht unbedingt aus der Bundesrepublik zufließen.

3. Die Währungsunion Zum Zeitpunkt der Vorlage des Frühjahrsgutachtens 1990 der Wirtschaftsforschungsinstitute trifft die Bundesregierung Vorbereitungen für eine Währungs-

und Wirtschaftsunion, deren Notwendigkeit bzw. Ausgestaltung in der Fachwelt umstritten ist. Hauptsächlich geht es der Bundesregierung mit diesem Vorhaben darum, den Vereinigungsprozeß voranzubringen, ihn unumkehrbar zu machen und die "Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer" (d. h. der DDR-) "Bevölkerung stetig zu verbessern" (Bulletin der Bundesregierung vom 18. 5. 1990). Aber es spielen auch andere Faktoren eine Rolle. Die kontinuierliche Abwanderung vor allem qualifizierter Arbeitskräfte aus der DDR erhöht den Druck auf den Arbeitsmarkt im Westen und läßt ein Ausbluten der DDR-Wirtschaft befürchten. Zugleich gibt es, auch wegen einer wachsenden Zahl von Aussiedlern aus Osteuropa, Warnungen vor Engpässen auf dem Wohnungsmarkt im Westen, und es häufen sich darüber hinaus Meldungen über immer offener zutage tretende wirtschaftliche Probleme der DDR - Gründe genug für ein entschiedeneres wirtschaftspolitisches Handeln der Bundesregierung. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, daß das in dem Vorschlag einer Währungsunion enthaltene Versprechen einer auf dem Gebiet der DDR geplanten Einführung der Deutschen Mark zu sozial verträglichen Umtauschsätzen auch den (Wahl-)Interessen der Regierungsparteien ins Kalkül paßt.

Zentrale Modalitäten der Währungsunion Ab 1. 7. 1990 tritt die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft. 1 Die Festlegung des Umtauschkurses von DDR-Mark in DM ist von zentraler Bedeutung. Einerseits soll nach dem Willen der Bundesregierung ein positiver Signaleffekt auf Zu den Regelungen im einzelnen siehe Vertrag Ober die Schaffung einer Wahrungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, in: Bulletin der Bundesregierung vom 18. 5.1990.

Synopse der bisherigen Entwicklung

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die Bevölkerung der DDR ausgehen (was einen paritätischen Umtausch der privaten Sparguthaben und der Arbeitsverdienste nahelegt), andererseits sind aber besonders die ökonomischen Auswirkungen einer plötzlich ansteigenden Liquidität und nicht produktivitätsgerechter Verdienste zu beachten. Die Stromgrößen Löhne, Gehälter, Renten etc. (laufende Kosten und Preise) werden im Verhältnis 1: 1 auf DM umgestellt. Auf DDR-Mark lautende Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem Bankensystem der DDR (also die Bestandsgrößen Geldvermögen und Kredit) werden im Prinzip im Verhältnis 2:1 auf DM umgestellt; allerdings werden, abweichend davon, in Abhängigkeit vom Alter der Gläubiger, deren DDR-Mark-Sparguthaben bei Geldinstituten bis zu einer bestimmten Höhe ebenfalls im Verhältnis 1: 1 getauscht. Mit der raschen Einführung der Währungsunion hat die Bundesregierung die Fachwelt, aber auch Vertreter der Kreditwirtschaft nicht auf ihrer Seite. Am nachhaltigsten macht der Sachverständigenrat in einem Brief vom 9. Februar 1990 an den Bundeskanzler auf seine abweichende Haltung aufmerksam. Danach dürfe eine Währungsunion nicht am Beginn eines Wirtschaftsreformprozesses stehen, vielmehr seien zuerst eine Preisreform sowie weitere Reformschritte erforderlich. Insbesondere hebt der Rat hervor (vgl. SVR 1990a), daß die Konsumenten mit der neugewonnenen konvertiblen Währung verstärkt Konsumgüter aus der Bundesrepublik und dem Ausland nachfragen würden, dadurch Kaufkraft aus der DDR abfließe, was Produktion und Beschäftigung der DDR-Betriebe schrumpfen lasse; daß, da die Nominallohnunterschiede gegenüber dem Westen nach einer Währungsumstellung nicht lange akzeptiert würden, ':der Druck auf die Bundesrepublik anwachsen würde, den Abstand der Einkommen durch einen 'Finanzausgleich' zugunsten der DDR zu verringern"; enorme Belastungen für die öffentlichen Haushalte, etwa in Form von Transferzahlungen, und erhebliche Steuererhöhungen wären die Folge; daß die sofortige Einführung der D-Mark bei den DDR-Bürgern zu der Illusion führen müsse, größere eigene wirtschaftliche Anstrengungen seien nicht notwendig. Statt dessen komme es darauf an, die unabdingbaren Anpassungsleistungen für Betriebe und Bürger der DDR zeitlich zu strecken.

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Aus der Argumentation des Rates läßt sich ein Plädoyer für ein Stufen modell der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR ablesen, das realwirtschaftliche Anpassungen (z. B. Schließen der Produktivitätslücke) als Vorstufe einer monetären Integration begreift. Gegenüber der monetären Schocktherapie der Bundesregierung kommt darin ein weitgehendes Vertrauen auf die Durchsetzungs- und Regulierungsfähigkeit der Marktkräfte zum Ausdruck. Es ist zu vermuten, daß damals die meisten Ökonomen, unterschieden nur durch das empfohlene Ausmaß staatlicher Intervention, Anhänger eines solchen in Etappen verlaufenden Integrationsprozesses waren (vgl. Schiller 1994, S. 35). Die Kritik der meisten Wirtschaftsexperten am Zeitpunkt und an den Modalitäten der Währungsunion bezieht sich vor allem auf die zu erwartende Lohndynamik und Unternehmensverschuldung, Faktoren, die weit über den Zeitpunkt der Währungsumstellung hinaus für die ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung Konsequenzen haben. 2 Erstens wird argumentiert, daß die Währungsumstellung zwar die Einkommensunterschiede zwischen West- und Ostdeutschland, welche der Motor der Arbeitskräftewanderungen sind, einebnen würde, daß dadurch aber auch mit einem Nominallohnniveau im Osten zu rechnen sei, das weit über dem Stand des dortigen Produktivitätsniveaus liegt. Extremer Kostendruck für die Unternehmen, Beschäftigungsabbau und damit indirekt neue Wanderungsanreize, um deren Abbau es ja ursprünglich gehen sollte, seien die logische Folge. Der Preis einer solchen Strategie wäre daher im Endergebnis zu hoch. Zweitens wird die - obgleich durch den Umtauschkurs halbierte - Schuldenbelastung der ostdeutschen Unternehmen als schwere Hypothek für deren weitere Wettbewerbsfähigkeit angesehen (vgl. Hoffmann 1993, S. 17ff.). Da die DDR-Unternehmen vormals gezwungen waren, wegen des systemimmanenten Fehlens an Eigenkapital Kredite zur Investitionsfinanzierung bei der DDRStaatsbank aufzunehmen, seien sie zum Zeitpunkt der Währungsumstellung zwangsläufig mit einem verhältnismäßig hohen Schuldenstand ausgestattet. Ihre Position als Kreditnehmer verschlechtere sich, und spätere Privatisierungs- oder Sanierungsbemühungen würden erschwert. Diesen Argumenten entziehen sich auch die Wirtschaftsforschungsinstitute nicht. Aber trotz des Anpassungsdrucks, den sie auf die DDR-Unternehmen zukommen sehen, birgt die Währungs- und Wirtschaftsunion nach ihrer Überzeugung auch Auch die Inflationsgefahr wird thematisiert; erstens wegen der zu erwartenden Expansion der Geldmenge, die über den Zuwachs des Produktionspotentials hinausgeht und zweitens im Zusammenhang mit einer Lohn-Preis-Spirale. Das Thema Inflation spielt aber in den weiteren Diskussionen aus Mangel an empirischer Evidenz nur eine untergeordnete Rolle.

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erhebliche Vorteile in sich (vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Frühjahr 1990, S. A10f.). In kurzer Zeit lasse sich durch neue Preis- und Lohnstrukturen ein deutlicher Produktivitätsschub realisieren, die Kosten für Importgüter würden sinken und die Unternehmen könnten, z. B. auch durch die Anpassung an das westdeutsche Steuersystem, mit beträchtlichen Kostenentlastungen rechnen, dies allerdings unter dem Vorbehalt, daß sich die Lohnvereinbarungen am Produktivitätsgefälle zur Bundesrepublik orientierten.

Wirtschaftspolitische Alternativen Gibt es wirtschaftspolitische Alternativen zum Vorgehen der Bundesregierung? Die Position des Sachverständigenrates wurde erwähnt: Keine sofortige Währungsumstellung, sondern Orientierung des Wechselkurses der DDR-Mark an der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der DDR, quasi in einer "Stoßdämpfer"-Funktion. Hoffmann (1993) wehrt sich gegen eine deterministische Betrachtungsweise des Prozesses der Vereinigung und erinnert an Überlegungen, das wirtschaftliche Zusammengehen zu einem späteren Zeitpunkt vorzunehmen. Der ökonomische Schock, der aufgrund der Währungsunion zu erwarten war, hätte sich durch zunächst getrennte Wirtschaftsräume, Freihandelsabkommen zwischen beiden deutschen Staaten und festgeschriebene Umtauschrelationen vermeiden lassen. 3 Derartige Einwände geraten durch die Faktizität der politisch bestimmten Ereignisse aber schnell in den Hintergrund. Dabei zeigt sich, daß eine rein ökonomische Beurteilung der deutschen Vereinigung in ihrer Kritik zu kurz greift, wenn sie nicht den Kontext der deutschlandpolitischen Strategie der Bundesregierung berücksichtigt. Kantzenbach (1992) vermißt in diesem Zusammenhang unter den Ökonomen, die sich zur wirtschaftlichen Vereinigung äußern, die Bereitschaft, gesellschaftliche Wertvorstellungen in ihre Analysen zu integrieren. Darin liegt für ihn auch eine Ursache ihres relativ geringen Einflusses auf die Vereinigungspolitik. Zur schnellen Bildung einer Währungsunion gibt es für ihn keine Alternative; seine Kritik setzt vielmehr am Fehlen einer die Währungsunion flankierenden Wirtschaftspolitik an, verursacht durch die Unterschätzung der realen wirtschaftlichen Probleme und dem mangelnden politischen Willen, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Ähnliche Überlegungen werden zu Beginn des Jahres 1990 von einigen Gruppierungen in der DDR unter dem Stichwort "Konföderation" formuliert.

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4. Nach der Währungsunion Zwischen Optimismus und Ernüchterung Wie reagieren die Wirtschaftsexperten auf die ökonomische Entwicklung in Ostdeutschland in den Monaten nach dem Inkrafttreten der Währungsunion und der neuen politischen Rahmenbedingungen? Mitte 1990 gibt es durchaus noch optimistische Stellungnahmen, die den wirtschaftlichen Erfolg der Integration in etwa vier bis fünf Jahren prognostizieren und ihn mit den positiven Integrationseffekten des Europäischen Binnenmarktes 1992 vergleichen (vgl. Siebert 1990). Unter der Prämisse, daß sich die staatliche Wirtschaftspolitik aus der Gestaltung des ostdeutschen Strukturwandels heraushält und ihn den Marktkräften überläßt, entfaltet sich folgendes Szenario: Der zunächst ausgelöste "positive Angebotsschock" der Integration stellt eine "neue Grenze" dar, zu deren Überwindung neue Investitionen und Innovationen notwendig sind. Die Produktivitätsunterschiede sind dabei Anreiz für zu erzielende Produktivitätsgewinne (vgl. Siebert 1990, S. 51). Sollte die Umstrukturierung schnell über die Bühne gehen - und dafür spricht einiges - wird der Beschäftigungsabbau im Osten auch nicht allzu deutlich ausfallen. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuß. Mit der Öffnung der Märkte geraten bestehende ostdeutsche Betriebe in größte Absatzschwierigkeiten, weil hohe Kosten durch veraltete Produktionsverfahren sowie durch personelle Überbesetzung (verdeckte Arbeitslosigkeit; vgl. Gürtler et al. 1990), wie auch ungenügende betriebswirtschaftliche Kenntnisse, ein Mithalten mit konkurrierenden westlichen Anbietern unmöglich machen. Zudem entspricht die Qualität ostdeutscher Produkte vielfach nicht den durch ein inzwischen breites Warenangebot gestiegenen Ansprüchen der Nachfrager. Als schweres außenwirtschaftliches Handikap entpuppt sich der für viele Experten plötzlich eintretende - Zusammenbruch der auf planwirtschaftlichen Grundlagen beruhenden Handelsbeziehungen innerhalb des RGW. Absatzmärkte für ostdeutsche Produkte in den RGW-Staaten verschwinden, und traditionelle Lieferkontakte aus diesen Ländern funktionieren nicht mehr. Verschärfend kommt seit Anfang 1991 hinzu, daß von jetzt an in konvertierbarer Währung abgerechnet wird. Ehemalige osteuropäische Käufer weichen daher zunehmend auf andere Märkte aus; umgekehrt finden sie für ihre eigenen Produkte (z. B. Rohstoffe) auch anderswo Abnehmer. Dies alles impliziert einen drasti-

Synopse der bisherigen Entwicklung

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schen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Ostdeutschland, wobei das verarbeitende Gewerbe nach dem Systemwechsel einen besonders schmerzhaften Anpassungsschock erleidet (vgl. Abb. 1). Abbildung 1

Produktionsentwicklung in den neuen Bundesländern" - Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % 30~--------------------------------------------,

20

------------ ----------------------------------------

10

O+-------------~~----------------------~ -10

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-30 -40

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-~L---l~~-----1~9b91~----1~99~2~--~1~99~3----~1~~----~1~9~5~~

I-- Gesamtwirtschaft b)

-0-

Verarbeitendes Gewerbe c)

I

a) Neue L3nder und Bertin-Ost. - b) Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1991. c) BruttowertschOpfung in Preisen von 1991.

Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Statistisches Bundesamt (Stand: Sept. 1996).

Die gesamtwirtschaftliche Produktion sinkt zwischen 1990 und 1991 um 19,0 %, die Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes um 46,7 %. Der Produktionseinbruch führt gleichzeitig zu einem dramatischen Beschäftigungseinbruch (vgl. Abb. 2). So reduziert sich die Zahl der Erwerbstätigen im Inland (ohne Kurzarbeiter und Beschäftigte in Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen 4 ) 1991 gegenüber 1990 um 2.310.000 auf6.164.000, was einer Reduktion der Erwerbstätigenzahl um rund ein Drittel entspricht. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen steigt im selben Zeitraum sprunghaft an und beziffert sich 1991 auf 913.000. Der starke Beschäftigungsabbau wird zum Teil durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, wie etwa Kurzarbeit, AB-Maßnahmen, berufliche Vollzeitweiterbildung und FrühABM, Förderung nach § 249h AFG.

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verrentung aufgefangen, zum Teil durch die Zunahme der stillen Reserve (i.e.

SV

Abbildung 2 Der ostdeutsche Arbeitsmarkt 1990,1991-1996 - Jahresdurchschnitte in 1.000 Personen 12.000 10.000 c: c:

'f!?" Cl. '"

8.000

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6.000

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4.000 2.000

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1991

1990

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1993

1992

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• •

1994

ABM-Beschaftigte c) Stille Reserve

1995

D

1996 a)

Kurzarbeiter d)

a) Angaben geschätzt. - b) Erwerbstätige im Inland. - c) ABM, FOrderung nach § 249h AFG. - d) Einschließlich Schlechtwellergeld. - e) Einschließlich beruniche Rehabilitation und Sprachlehrgänge. - f) Einschließlich Altersübergangsgeld und ältere Arbeitslose (§ 105cAFG)

Quelle: ifo Institut, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

In den Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute und des Sachverständigenrates Ende 1990 bzw. im Frühjahr 1991 ist von "Umstellungs"- und "An pas-

sungskrise" die Rede sowie davon, daß sich - offensichtlich vorhandene - Hoffnungen auf einen raschen Investitionsanstieg, verbunden mit der Schaffung neuer rentabler Arbeitsplätze, nicht erfüllt haben: "der mitreißende Schwung einer Aufbruchstimmung ist ausgeblieben" (SVR 1990c, Tz. 300). In den Reaktionen kommt zum Ausdruck, daß der Rückgang der ostdeutschen Produktion, vor allem in der Industrie, und der dramatische Beschäftigungseinbruch in dieser SChärfe und in dieser Geschwindigkeit nicht erwartet wurden. Die Ursachen liegen auf der Hand: Erstens bedeutet die entgegen die ökonomische Vernunft beschlossene

Ausführlich dazu der Beitrag von Vogler-Ludwig im vorliegenden Band.

Synopse der bisherigen Entwicklung

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sofortige Währungsumstellung eine faktische Aufwertung der DDR-Währung. Dies zwingt die ostdeutschen Unternehmen von der Kostenseite her in eine Wettbewerbssituation, auf die sie nicht vorbereitet waren und die die Produktivitätsrückstände eklatant hervortreten läßt. Die dadurch ausgelösten Anpassungsprozesse gehen weit über das durch den ohnehin anstehenden Strukturwandel erforderliche Maß hinaus und schaffen einen Startnachteil, der unumkehrbar ist. Die kräftigen Lohnerhöhungen tun das Übrige. Zweitens sind es Hinterlassenschaften des planwirtschaftlichen Systems der DDR, die sich insbesondere in einer auf Planvorgaben beruhenden Preisstruktur und daraus resultierend ineffizientem Einsatz von Produktionsfaktoren (z. B. überhöhte Belegschaften) sowie im Mangel wettbewerblicher Strukturen und international wettbewerbsfähiger Unternehmen zeigen; drittens sind es konkrete Investitionshemmnisse, die teils Überbleibsel der alten planwirtschaftlichen Strukturen sind, teils auf neugeschaffenen Bestimmungen beruhen. Zur ersten Kategorie zählen vor allem Infrastrukturdefizite und Umweltschäden, die anderen Hemmnisse beziehen sich in erster Linie auf einen akuten Mangel an geeigneten Gewerbeflächen und -räumen und auf die politische Grundsatzentscheidung des Vorrangs der Rückgabe vor Entschädigung beim Erwerb von Grund und Boden. Diese Entscheidung wird für den Verlust wertvoller Zeit für den Investitionsprozeß verantwortlich gemacht. Auch partielle Revisionen dieser Regelung, wonach Restitutionsansprüche von Alteigentümern ausgeschlossen werden, wenn Grundstücke für "besondere Investitionszwecke" erworben werden, sowie die im Beschleunigungsgesetz vom März 1991 vorgesehene Vorfahrtsregelung für Neuinvestoren bringen nach Expertenmeinung keine wesentliche Verbesserung (vgl. SVR 1990c, Tz. 545, Schiller 1994, S. 27). Letztlich ist dies aber nur ein weiteres Indiz für die Schwierigkeit, im deutschen Vereinigungsprozeß ökonomischen Argumenten Gehör zu verschaffen.

Wirtschaftspolitische Hektik nimmt zu Sachverständige bemühen sich um Korrekturen Die angesichts immer beunruhigenderer Daten aus der ostdeutschen Wirtschaft von der Bundesregierung massiv vorangetriebenen (wirtschafts-)politischen Rettungsversuche, wie Fonds Deutsche Einheit, Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, verschiedene Nachtragshaushalte etc., bringen eine Dynamik ins Spiel, bei welcher dem SachversUindigenrat und den Wirtschaftsforschungsinstituten nur

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die Rolle "nacheilender" Kommentatoren zu verbleiben scheint. Ihre Warnungen hinsichtlich des eingeschlagenen Weges und ihre Gegenvorschläge lassen sich an folgenden Themen illustrieren: (1)

AufgabensteIlung der Treuhandanstalt beim Konflikt um die Priorität von Privatisierung bzw. Sanierung von ehemals volkseigenen Betrieben;

(2)

Eingeleitete Maßnahmen zur Förderung infrastruktureller und industrieller Investitionen;

(3)

Finanzierung der Lasten der deutschen Einheit.

Zu (1): Schon bald nach Beginn der Tätigkeit der Treuhandanstalt entflammt ein Streit über die ihrer Arbeit zugrundeliegende Privatisierungsstrategie (vgl. Thanner 1990, Siebert 1991, Kronberger Kreis 1991, HickellPriewe 1994); daneben steht auch noch ihr Autonomiestatus zur Debatte. Nach Auffassung der Bundesregierung soll die Treuhandanstalt der Veräußerung von Betrieben Vorrang vor

deren Sanierung einräumen, zumal sie die Privatisierung als das am besten geeignete Mittel zur erfolgreichen Sanierung betrachtet. Allerdings erinnert sie auch an den § 2 Abs. 6 des Treuhandgesetzes, wonach der Treuhandanstalt "die Entwicklung sanierungsfähiger Betriebe zu wettbewerbsfähigen Unternehmen" obliegt und sie in diesem Rahmen "regional-, industrie- und handelspolitische Absichten und Entscheidungen staatlicher Instanzen berücksichtigen" soll (vgl. Bundesregierung 1991, Tz. 29). Diese Ambivalenz des Privatisierungsauftrags ist dem Sachverständigenrat ein Dorn im Auge. Da er die Veräußerung von ehemaligen

DDR-Betrieben für den besten Weg zu deren Sanierung hält, stellt für ihn die umgekehrte Reihenfolge eine falsche Weichenstellung dar; denn die Treuhandanstalt ist weniger als jeder private Investor in der Lage, die Erfolgsaussichten von Unternehmen zu beurteilen. Über die Notwendigkeit von Sanierungen bzw. Stillegungen hätten alleine Marktkriterien zu entscheiden. Unternehmen sind dann sanierungsfähig, wenn private Investoren bereit sind, ihr Kapital dafür einzusetzen; tun sie es nicht, ist das ein aussagekräftiges Urteil gegen den Sanierungserfolg (vgl. SVR 1990c, Tz. 516f.1531). Der Rat sieht die Gefahr, daß die Treuhandanstalt zu einem Instrument der Strukturpolitik wird, die vorrangig politischen Zielen folgt, zumal bereits ostdeutsche Landesregierungen versuchen, ihren Einfluß geltend zu machen (vgl. SVR 1991a, Tz. 27).

Synopse der bisherigen Entwicklung

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In der Bewertung der Aufgaben der Treuhandanstalt sind sich die Wirtschaftsfor-

schungsinstitute mit dem Sachverständigenrat einig. Ihrer Meinung nach sind bereits im Treuhandgesetz Konstruktionsfehler enthalten, die zweideutige Interpretationen zulassen. Eine Neuformulierung des gesetzlichen Auftrages, verbunden mit einer möglichen Entlastung der Treuhandanstalt von zu vielen Aufgaben tue not. Allerdings lassen sich die Forschungsinstitute bei ihrer Argumentation ein Hintertürchen offen: "Wenn aber viele Betriebe nicht sanierungsfähig sind oder nur um den Preis hoher Arbeitsplatzverluste privatisiert werden können, muß wohl zur Kenntnis genommen werden, daß der politische Druck, solche Unternehmen zu erhalten, ... übermächtig sein wird" (Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Frühjahr 1991, S. A24). Zu (2): Die öffentlichen Leistungen für das Beitrittsgebiet nehmen in den ersten beiden Jahren nach der Vereinigung vor allem unter dem Eindruck der sich rapide verschlechternden Beschäftigungssituation gewaltig zu. Im Jahr 1990 werden vom Bundestag drei Nachtragshaushalte verabschiedet, der Fonds Deutsche Einheit wird gegründet und spezielle Förderhilfen werden geschaffen. 6 Der Bund bringt für diese Leistungen an Ostdeutschland im Jahr 1990 rund 50 Mrd. DM auUlm März 1991 wird das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost verabschiedet und im Juli 1991 tritt das "Gesetz zur Förderung von Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet" in Kraft. Nach Berechnungen des Bundesministeriums der Finanzen haben sich die öffentlichen Finanztransfers für das Beitrittsgebiet im Jahr 1991 enorm erhöht; sie belaufen sich brutto, d. h. ohne die Rückflüsse, auf 139 Mrd. DM, und 1992 steigen sie sogar auf 152 Mrd. DM brutto an. Neben den Zahlungen an die Sozialversicherungen, den Finanzmitteln für die Sanierung des Verkehrsnetzes und anderen Unterstützungsmaßnahmen haben Fördermaßnahmen für die kommunale Infrastruktur und private Investitionen ein besonderes Gewicht. Zu erwähnen sind außer den seit Mitte 1990 gewährten Investitionszulagen und den im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" gezahlten Investitionszuschüssen die

AusfOhrlich dazu der Beitrag von Schaden/Schreiber in diesem Band. Dazu gehören allgemeine finanzielle Hilfen an die Wirtschaft (u. a. zinsgOnstige Investitionskredite), steuerliche Hilfen und besondere Infrastrukturprogramme und Strukturanpassungshilfen (v. a. regionale Wirtschaftsförderung, Förderung kommunaler Investitionen). DarOber hinaus können in den neuen Bundesländern alle bisher im frOheren Bundesgebiet geltenden Wirtschaftsförderprogramme, einschließlich der Hilfen der EG in Anspruch genommen werden. 3 Wiedervereinigung

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Mitte 1991 neu hinzugekommenen kumulationsfähigen Sonderabschreibungen (bis zu 50 % der Anschaffungskosten). Sowohl die Wirlschaftsforschungsinstitute als auch der Sachverständigenrat zeigen sich Ende 1990 noch im großen und ganzen mit den eingeleiteten Maßnahmen zur Investitionsförderung zufrieden. Mögliche Mitnahmeeffekte und "allokative Verzerrungen" werden unter der Prämisse einer Befristung der Förderung wegen der dringend benötigten Investitionsimpulse in Kauf genommen (vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Herbst 1990, S. A21). Wenn dabei anstelle allgemeiner Investitionshilfen an die Wirtschaft die Gemeinden gezielt mit großzügigen finanziellen Zuwendungen unterstützt würden, um die wirtschafts nahe Infrastruktur, etwa durch die Erschließung von Gewerbeflächen, auszubauen, könnten Standortnachteile noch besser kompensiert werden (vgl. SVR 1990c, Tz. 556). Der Sachverständigenrat verteidigt die eingesetzten Instrumente der Wirtschaftsförderung damit, daß sie bereits vielfach erprobt sind und in der regionalen Wirtschaftsförderung einen hohen Stellenwert genießen. Allerdings ist auch die Begrenztheit dieser Maßnahmen nicht zu übersehen. So handelt es sich bei den regionalen Förderprogrammen lediglich um "additive" Aktivitäten, eine Neuorientierung der regionalen Wirtschaftspolitik unter Einbeziehung der neuen Bundesländer findet nicht statt (vgl. SVR 1990c, Tz. 344). In der ersten Hälfte des Jahres 1991 kehrt sich die positive Bewertung der Wirtschaftsförderung aber schon um. Die Institute beklagen, daß die angebotene Investitionsförderung zu unübersichtlich und zu breit gefächert, die Effizienz der Maßnahmen inzwischen durch beträchtliche Mitnahmeeffekte beeinträchtigt worden sei und eine Wirkungsanalyse gar nicht mehr durchgeführt werden könne. Die Investoren selbst haben Probleme, den für sie optimalen Fördermix zu identifizieren (vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Frühjahr 1991, S. A23). Der bislang praktizierte wirtschaftspolitische Kurs "des Förderns von allem und jedem" sollte daher aufgegeben werden (vgl. SVR 1991a, Tz. 4). Der Sachverständigenratfindet die kapitalorientierte Förderung auch prinzipiell problematisch, da dadurch falsche strukturelle Anreize entstehen könnten. Kapitalintensive Produktionsverfahren würden nämlich bevorzugt, und bestimmte Investitionen würden erst durch die Förderung rentabel. Entschieden widerspricht er daher auch der öffentlich diskutierten Forderung, daß der

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Staat über die Anschubfinanzierung privater Investitionen hinaus notleidende Unternehmen durch Subventionierung etwa der Produktionskosten unterstützen solle, um weiteren Arbeitsplatzabbau zu verhindern. Zu (3): Die öffentlichen Haushalte werden durch die Lasten des Einigungsprozesses zunehmend beansprucht. Allerdings grenzt die Gemeinschaftsdiagnose der Institute noch im Herbst 1990 den Rahmen der Belastungen für die öffentlichen

Haushalte, die unter dem Stichwort "Kosten der Einheit" firmieren, auf die Anschubfinanzierung für die Sozialversicherung, die Abdeckung von Defiziten für ostdeutsche Gebietskörperschaften und den Aufbau der öffentlichen Infrastruktur ein. Der Aufwand für die Sanierung der ostdeutschen Wirtschaft wird explizit als hauptsächliche Angelegenheit der privaten Wirtschaft betrachtet (vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Herbst 1990, S. A20). So ist es auch zu erklären, daß am Horizont - erfolgreiche Sanierung vorausgesetzt - bereits Erträge gesichtet werden, die mit den fiskalischen Kosten (der Einheit) verrechnet werden können. Trotzdem ist offensichtlich, daß aufgrund der zugesagten Leistungen für Ostdeutschland das Staatsdefizit ansteigt. Inwieweit soll dieses Defizit kreditfinanziert werden? Sind Steuererhöhungen die ultima ratio? Während die Institute eine weitgehende Kreditfinanzierung der Einheitskosten befürworten, antworten sie auf die Frage nach steuerlichen Korrekturen zunächst mit einem eindeutigen Nein. Angesichts der aus politischen Gründen kaum zu vermeidenden schnellen Einkommenserhöhungen und des demzufolge zu erwartenden Anstiegs der öffentlichen Transfers machen sie aber einen Rückzieher. Auf Dauer könnten Steuererhöhungen wohl nicht zu vermeiden sein (vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Herbst 1990, S. A22). Diese Auffassung bekräftigen sie auch im Frühjahrsgutachten 1991. Der Sachverständigenrat hält schon die Finanzierung der einigungsbedingten Budgetdefizite durch Kreditaufnahme für eine bedenkliche Methode. Seine Haupteinwände sind mangelnde Kongruenz mit der realwirtschaftlichen Expansion und die Gefahr prohibitiver Zinssteigerungen. Trotzdem kann es unter ganz bestimmten, sehr eng gefaßten Voraussetzungen, insbesondere der Finanzierung wachstumsbezogener staatlicher Investitionen, tolerabel sein, den Kapitalmarkt auf befristete Zeit in Anspruch zu nehmen (vgl. SVR 1990c, Tz. 350ff.). Eine rasche Senkung der Nettokreditaufnahme ist aber trotzdem unverzichtbar. 3·

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In dem Maße, in dem das gelingt, würde es auch leichter fallen, Steuererhöhungen oder die Einführung neuer Steuern auszuschließen. Sollten tatsächlich Steuern erhöht werden, kämen allenfalls Verbrauchsteuern in Frage. Einkommensbezogene Steuererhöhungen sind das am wenigsten geeignete Finanzierungsinstrument. Denn auch wenn sich, etwa bei der Einführung einer proportionalen Ergänzungsabgabe für alle Steuerpflichtigen, "moralische" Rechtfertigungen ableiten lassen, überwiegen doch eindeutig die Nachteile. Der Leistungswille wird gedämpft und die Innovationsbereitschaft leichtfertig aufs Spiel gesetzt (vgl. SVR 1990c, Tz. 379). Freilich ahnt auch der Rat, daß noch viel größere Haushaltsbelastungen als bisher eintreten könnten. Die Schlußfolgerung bleibt trotzdem die gleiche: Die Konsolidierungsanstrengungen müßten nochmals erhöht werden.

Der Sachverständigenrat zur Rolle des Staates bei der Umstrukturierung das Dilemma mit dem "Rechthaben"

Die Position des Sachverständigenrates ist zu Beginn der wirtschaftlichen Vereinigung von zwei Grundüberlegungen gekennzeichnet. Erstens: Durch die Übernahme marktwirtschaftlicher Bedingungen werden sich im Osten Deutschlands spontane Wachstumskräfte entfalten, die dafür sorgen, daß sich der Zu erwartende Produktions- und Beschäftigungsrückgang in Grenzen hält und sich die finanzwirksamen staatlichen Maßnahmen vor allem auf die Sanierung der Infrastruktur beschränken. Zweitens: Es wäre genau der falsche Weg, diese Entwicklung durch den künstlich herbeigeführten Aufwertungseffekt einer Währungsunion in Gefahr zu bringen. Dann nämlich ist abzusehen, daß wegen der rapiden Verschlechterung der Wettbewerbsposition ostdeutscher Unternehmen und überhöhter Einkommen hohe Budgetdefizite auf die öffentlichen Haushalte zukommen. Tatsächlich ist die Situation, vor der der Rat warnte, auch so eingetreten. In den folgenden Gutachten wiederholt er seine Vorbehalte. Er erinnert an seine Pflicht, die volkswirtschaftlichen Kosten der Währungsunion zu benennen; "und zu diesen Kosten ist es, wie vorauszusehen war, gekommen" (SVR 1990c, Tz. 297). Es war insbesondere zu erwarten gewesen, daß die ostdeutschen Betriebe durch "die schlagartige Öffnung der Märkte" Probleme mit ihrem Absatz bekommen würden (vgl. SVR 1991a, Tz. 8). Auch im Jahresgutachten 1991/92 rechtfertigt der Sachverständigenrat noch einmal seine Position: "Die Erwartung derer, die geglaubt hatten, mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und

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einer gehörigen Anschubfinanzierung sei die sozialistische Wirtschaft der ehemaligen DDR binnen kurzem in eine blühende Marktwirtschaft zu verwandeln, hat, wie vorauszusehen, gründlich getrogen" (SVR 1991 b, Tz. 260). Das Dilemma des Rates liegt nun zum einen darin, daß er zwar die Entwicklung nach der Währungsunion richtig antizipiert hat, daß er aber trotzdem - politisch nicht recht bekommt. Andererseits geht er zwar selbst implizit von gewaltigen finanziellen Belastungen aus, die im Falle einer Währungsunion auf die staatlichen Haushalte zukommen. Gleichwohl beharrt er aber auch nach Eintreten dieser Situation weiter darauf, daß sich der Staat bei der strukturellen Anpassung im Osten zurückhalten müsse. Auch wenn die Lage in den neuen Bundesländern kritisch sei, müsse darauf geachtet werden, daß die Wirtschaftspolitik auf Marktkräfte setzt. Über die Anschubaktivitäten hinaus seien staatliche Interventionen nicht erforderlich. Der Sachverständigenrat hält auch an seiner angebotsorientierten Strategie fest, obwohl der erhoffte Zuwachs privater Investitionen im Osten weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Konzepte, bei denen nach alternativen Wegen aus der schweren Wirtschaftskrise im Osten gesucht wird, finden keine Resonanz. Weder kann sich der Rat mit unterschiedlichen Entwürfen zur Lohnsubventionierung anfreunden, wie sie etwa von Akerlof et al. (1991) oder vom DIWvorgelegt werden, noch greift er das von Sinn/Sinn (1992) formulierte Beteili-

gungsmodell auf, und er kann auch Vorschlägen zum Beispiel zur befristeten steuerlichen Entlastung von Unternehmen im Osten nichts Positives abgewinnen.

5. Ein Strategievorschlag für die ostdeutsche Wirtschaft: "Hochlohn-High-Tech" Indem die staatliche Wirtschaftspolitik keine einkommenspolitischen Instrumente zur Abfederung der kräftigen Lohnerhöhungen heranzieht, andererseits aber eindeutig auf die Kapitalsubventionierung setzt, fördert sie - mehr oder weniger beabsichtigt - eine Hochlohn-High-Tech-Strategie (vgl. Sinn/Sinn 1992, S. 162ft., Kantzenbach 1992, S. 242). Wie ein Großteil der wirtschaftspolitisch maßgeblichen Akteure stellt sich auch der Sachverständigenrat hinter diese Konzeption. Da er davon ausgeht, daß der westliche und der östliche Arbeitsmarkt zusammenwachsen werden, wäre es verfehlt, im Osten auf eine Wirtschaftsstruktur zu setzen, die auf Niedriglöhnen basiert. Gleichzeitig erlaube es der freie Kapital-

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transfer der ostdeutschen Wirtschaft, ihre Produktionsanlagen ziemlich rasch auf ein dem Westen vergleichbares Niveau zu bringen (vgl. SVR 1990c, Tz. 308). Im Kern läuft dieser Ansatz darauf hinaus, bestehende Strukturen zu beseitigen und alle Unternehmenssanierungen zu unterlassen, die nicht dem Hochlohn-HighTech-Niveau entsprechen. Dieser Logik zufolge besteht nur an der Inbetriebnahme solcher Werke ein Interesse, in denen mit den im internationalen Vergleich fortgeschrittensten Verfahren produziert wird, "Zwischenlösungen werden nicht gestattet" (Sinn/Sinn 1992, S. 162). In der Tat beschleunigt die Entwicklung der Tariflöhne bzw. der Lohnkosten sogar diesen Kurs. Zwar läßt sich diese Entwicklung damit verteidigen, daß sonst die Abwanderung von Arbeitskräften in den Westen anhalten würde und daß die hohen Löhne kapitalintensive und moderne Produktionsverfahren begünstigen und somit das Wachstum fördern würden. Zugleich sind damit aber, wie Sinn/Sinn (1992, S. 173ff.) nachweisen, erhebliche Effizienzverluste verbunden. Die durch die Hochlohnstrategie im Osten arbeitslos gewordenen Erwerbstätigen werden sich nur zum Teil zu einer Abwanderung in den Westen entschließen, da die ihnen gezahlten Bleibeprämien in Form von Arbeitslosenunterstützung durch deren Kopplung an das hohe Lohnniveau wenig Wanderungsanreize bieten. Die im Osten verminderte Wertschöpfung wird durch eventuelle wanderungsbedingte Wertschöpfungsgewinne im Westen nicht kompensiert. Da der Staat außerdem den Status der Arbeitslosigkeit über die Bleibeprämien finanziert, erweist sich diese Strategie unter Effizienzgesichtspunkten als suboptimal.

6. Der wirtschaftspolitische Aktionismus der Bundesregierung vor dem Hintergrund des "Portokassen"-Versprechens

Wie der Sachverständigenrat und andere Wirtschaftsexperten hat auch die Bundesregierung im Laufe der wirtschaftlichen Vereinigung mit einem (wirt-

schafts-)politischen Dilemma zu kämpfen, das zum Teil durch das allmähliche Bekanntwerden besorgniserregender ökonomischer Daten - z. B. die Leistungsfähigkeit von DDR-Betrieben oder den Zustand der Infrastruktur betreffend entstanden ist, in das sie sich zum Teil aber auch selbst hineinmanövriert hat. Auf den ersten Blick zeichnet sich die wirtschaftspolitische Konzeption der Bundesregierung anfänglich dadurch aus, daß sie, in Übereinstimmung mit einer Mehrheit

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der Fachwelt, den angebotsseitigen Marktkräften Priorität einräumt. Die Sanierung der ostdeutschen Wirtschaft, deren Dauer auf wenige Jahre taxiert wird, wird in erster Linie von den privaten Investitionen erwartet. Öffentlich kolportierte Äußerungen, wonach sich der Aufschwung Ost quasi aus der "Portokasse" finanzieren lasse und im Osten bald blühende Landschaften zu besichtigen seien, stehen aber in auffälligem Kontrast zum dramatischen Verfall der ostdeutschen Wirtschaft, der für die Bundesregierung nach eigenem Bekunden überraschend kommt. In Reaktion darauf, ganz im Gegensatz zu dem vormals gezeigten Optimismus, und auch abweichend von den wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen, werden die bereits 1990 außergewöhnlich hohen finanziellen Anstrengungen der öffentlichen Haushalte, insbesondere des Bundes, in bisher nicht gekanntem Ausmaß gesteigert (siehe oben). Allerdings muß es verwundern, daß keine Anstrengungen unternommen werden, um auf der Einnahmeseite für Entlastung zu sorgen oder Subventionen in größerem Umfang zu kürzen, bzw. es sogar vermieden wird, 1991 in Kraft tretende Steuererhöhungen und die Erhebung eines Solidaritätszuschlags mit den einigungsbedingten Belastungen in Verbindung zu bringen. So begründet die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht 1991 (vgl. Bundesregierung 1991, Tz. 52) u. a. die Einführung des nur auf ein Jahr befristeten Solidaritätszuschlags zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie der übrigen Steuererhöhungen lediglich mit weltpolitischen Veränderungen und den daraus entstandenen Verpflichtungen. Das in sich widersprüchlich erscheinende Verhalten der Bundesregierung, einerseits die Staatsausgaben rapide zu erhöhen, andererseits aber daraus explizit keine Maßnahmen abzuleiten, die der westdeutschen Bevölkerung begründete und spürbare Belastungen abverlangen würden, unterliegt zahlreicher Kritik. Es wird moniert, daß einseitig auf Staatsverschuldung gesetzt '!Vird. Die Kritik gipfelt in dem Vorwurf, daß die Bevölkerung 1990/91 angesichts der Schilderungen über die Lage der ostdeutschen Wirtschaft noch bereit gewesen wäre, Einkommenseinschränkungen in Kauf zu nehmen, die über die Zahlung des einjährigen Solidaritätsbeitrags hinausgegangen wären. Da nämlich statt eines raschen Anpassungsprozesses eher mit einem Anpassungszeitraum von 15 bis 20 Jahren zu rechnen sei, seien folglich auch die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen während dieses Zeitraums in Betracht zu ziehen (vgl. Kantzenbach 1992, S. 242). Eine ordnungspolitisch begründete Zurückhaltung der staatlichen Wirtschaftspolitik lasse sich auch nicht ohne weiteres mit positiven Erfahrungen beim Wieder-

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aufbau Deutschlands nach dem Krieg begründen. In den fünfziger Jahren zeichnet sich die Wirtschaftspolitik nämlich vor allem durch außenwirtschafts- und währungspolitische Interventionen aus (vgl. Spahn 1991). Die sich hauptsächlich auf die positiven Impulse der Verbreitung der Marktwirtschaft verlassende Strategie der Bundesregierung wird angesichts des Niedergangs der ostdeutschen Industrie als nicht ausreichend angesehen. Sie erfährt auch in anderer Hinsicht keine "historische" Rechtfertigung, wie Mieth (1995) mit Blick auf wirtschaftspolitische Diskussionen der fünfziger Jahre ausführt.

7. Die wirtschaftliche Lage Der schweren Erschütterung der ostdeutschen Wirtschaft zu Beginn der wirtschaftlichen Vereinigung folgt im Laufe des Jahres 1991 eine leichte Erholung; sei es, daß positive Raten zu verzeichnen sind, sei es, daß die negativen Raten zurückgehen. Die gesamtwirtschaftliche Produktion erhöht sich erstmals im Jahr 1992, allerdings von einem sehr niedrigen Niveau aus. Die Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes steigt ebenfalls erstmals zwischen 1991 und 1992 an (vgl. Abb. 1). 1993 ist eine verlangsamte wirtschaftliche Erholung zu konstatieren, was hauptsächlich auf die Rezession in den alten Bundesländern und in Westeuropa zurückzuführen ist, die auf die ostdeutsche Wirtschaft ausstrahlt. So liegen die Wachstumsraten wichtiger Konjunkturindikatoren 1993 unter den entsprechenden Werten des Vorjahres, aber auch unter denen des nachfolgenden Jahres 1994 (vgl. Tab. 1). Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts fällt 1993 mit 8,9 % um einen Prozentpunkt höher aus als 1992. Grundsätzlich ist jedoch seit 1992 in der ostdeutschen Wirtschaft ein hohes Wachstumstempo zu beobachten, wobei das verarbeitende Gewerbe eine besondere Dynamik an den Tag legt. 1994 steigt das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt um 9,9 %, die Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes erhöht sich sogar um 15,5 %; 1995 liegen die entsprechenden Werte bei 5,3 bzw. 6,7 %. Ausgehend von dem extrem niedrigen Niveau im Jahr 1991 hat sich die gesamtwirtschaftliche Produktion in den neuen Bundesländern mehr und mehr belebt. Der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion ist nicht zuletzt auf die Investitionsdynamik zurückzuführen. Mit zweistelligen Steigerungsraten ist das jährliche Wachstumstempo beträchtlich, auch wenn diese Entwicklung 1993 unter dem Einfluß der Rezession im Westen nach dem sprunghaften Anstieg 1992 etwas an Schwung verliert (vgl.

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Synopse der bisherigen Entwicklung

Tab. 1). Das hohe Investitionstempo wird vor allem von den Bauinvestitionen bestimmt, deren Wachstumsrate 1995 mit 7,4 % erstmals einstellig ist. So sind in Ostdeutschland zwischen 1991 und 1994 kumuliert 188,2 Mrd. DM in Ausrüstungen und 320,7 Mrd. DM in Bauten investiert worden. 8 Tabelle 1 Die wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern" 1991 -1995 (in Preisen von 1991) - Ergebnisse der VGR 1991

I 1992 I 1993 I 1994 I 1995

1992

I 1993 I 1994 I 1995

Veränderung gegenüber dem Vorjahr in%

Mrd. DM Bruttoinlandsprodukt

206,0

222,1

241,8

265,7

279,9

7,8

8,9

9,9

Inlandsnachfrageb

360,4

409,1

437,4

469,1

-

6,9

7,2

-

Privater Verbrauch

183,4

198,1

204,0

208,3

-

13,5 8,0

2,9

2,1

-

5,3

-

Staatsverbrauch

89,6

94,1

95,2

96,2

-

5,0

1,1

1,1

Anlageinvestitionen

91,8

118,2

135,9

163,2

-

28,8

15.0

20,1

Ausrüstungen

41,8

45,6

48,6

52,2

-

9,0

6.6

7,3

-

Bauten

49,9

72,5

87,2

111,1

119,3

45,3

20,3

27,3

7,4

X

X

X

X

9,8

5,1

21,7

18,5

4,7

7,7

-

13,5

10,5

3,7

2,1

45,4

49,8

52,4

63,7

c

-

199,8

236,8

248,0

267,1

-

Verbraucherpreised

X

X

X

X

.

Außenbeitrag C Ausfuhrc

. Einfuhr

-154,4 -187,0 -195,6 -203,4

X

-

a) Neue Länder und Berlin-Ost. - b) Privater und staatlicher Verbrauch, Anlageinvestitionen, Vorratsveränderung. - c) Einschließlich innerdeutscher Transaktionen. - d) Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte. Quelle: Statistisches Bundesamt (Stand: September 1996).

Die Inlandsnachfrage liegt zwischen 1991 und 1994 erheblich über der inländischen Produktion, ein Zeichen dafür, daß im Beobachtungszeitraum weitaus mehr importiert als exportiert wird. Trotz des seit 1993 schnelleren Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber der Inlandsnachfrage beläuft sich der Bedarf an Realtransfers 1994 mit 203,4 Mrd. DM immer noch auf rund 77 % des Bruttoinlandsprodukts (vgl. Tab. 1). Damit reicht das in Ostdeutschland entstandene Einkommen bei weitem nicht aus, um die Käufe der Investitions- und Konsumgüter aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Diese Lücke wird teils durch

Ausführlich dazu der Beitrag von Gerstenberger/Neumann im vorliegenden Band.

Barbara Schaden und Gerhard Wiesner

30

private Kapitalzuflüsse, mehr aber noch durch öffentliche Finanztransfers geschlossen. Die öffentlichen Finanztransfers (brutto) summieren sich zwischen 1991 und 1995 auf 812 Mrd. DM, eine Summe, die zu rund zwei Dritteln durch leistungsgesetze im sozialen Bereich bzw. im Rahmen des Bund-länder-Finanzausgleichs fixiert ist (vgl. Abb. 3). 1996 übersteigen die kumulierten öffentlichen Finanztransfers für die neuen länder die Billionen-DM-Grenze. Als Folge der deutschen Vereinigung und der damit verbundenen Transferzahlungen erhöht sich das staatliche Finanzierungsdefizit sehr stark (vgl. Abb. 4). Abbildung 3 Öffentliche Finanztransfers für Ostdeutschland" (einschließlich Sozialversicherung) - Mrd. DM-

200,-------------------------------------------____~ 150

50

a) Neue Lander und Ber1in-Ost. - b) Angaben gesellitzt.

ID

Bruttotransfers

D

Nettotransfers

I

Quelle: Bundesministerium der Finanzen.

An den Arbeitsmarktbilanzen läßt sich ablesen, daß der wirtschaftliche Umbruch in starkem Maße auf den Schultern der ostdeutschen Erwerbstätigen ausgetragen wurde. Der Verlust von etwa 2,5 Mill. Arbeitsplätzen seit 1990 ist dafür nur ein Indikator. Zwischen 1993 und 1995 ist zwar ein Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen (ohne Kurzarbeiter und Beschäftigte in Arbeitsplatzbeschaffungsmaß-

31

Synopse der bisherigen Entwicklung

nahmen) zu beobachten. Die Zahl der Erwerbstätigen erhöht sich in diesem Zeitraum aber nur um 200.000. Dabei sind die meisten dieser neuen Arbeitsplätze im Dienstleistungsgewerbe und im Handel entstanden. 9 Seit Herbst 1995 sind die Beschäftigtenzahlen wieder rückläufig. 10 Parallel dazu sinkt die Arbeitslosenquote von ihrem höchsten Wert in 1993 (15,6 %) auf 14,0 % in 1995, liegt 1996 jedoch bereits wieder bei 15,5 %. Dies verdeutlicht, daß die Wende am Arbeitsmarkt noch nicht geschafft ist. Abbildung 4 Finanzierungsdefizit des Staates· - Mrd. DM150~----------------

__________________________--,

125 100 :::E

o

"E

:::E

75 50

25

1996 b)

1997 b)

a) In der Abgrenzung der VolkswirtschafUichen Gesamtrechnung. b) Vorausschlilzung des ifo Instituts (Sommer 1996).

Quelle: Deutsche Bundesbank, Statistisches Bundesamt (Stand: September 1996), ifo Institut.

8. Sechs Jahre wirtschaftliche Vereinigung: Ist der Aufholprozeß geschafft? Nach sechs Jahren wirtschaftlicher Vereinigung scheinen die schwersten Hinterlassenschaften der ostdeutschen Wirtschaft aus dem Weg geräumt, auch wenn der Aufholprozeß nur noch mühsam vorankommt. Im Gegensatz zu den wirtVgl. dazu die Beitrage von EliNögtle in diesem Band. 10

AusfOhrlich dazu der Beitrag von Vogler-Ludwig im vorliegenden Band.

32

Barbara Schaden und Gerhard Wiesner

schaftlichen Lagebeurteilungen der Jahre 1990/91 ist die gegenwärtige Einschätzung der Lage und Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft stärker an Fakten orientiert, die Erneuerung des öffentlichen und privaten Kapitalstocks läßt belastbarere Berechnungen zu und Problembereiche, in denen sofort und verstärkt gehandelt werden muß, sind lokalisiert und werden thematisiert. Der Sachverständigenrat resümiert in seinem Jahresgutachten 1995/96, daß der Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft in den neuen Bundesländern in den vergangenen Jahren in beachtlichem Maße vorangekommen ist, weist aber gleichzeitig darauf hin, daß der Transformationsprozeß noch nicht bewältigt ist und der Weg zur Normalität noch lang (vgl. SVR 1995, Tz. 84). Der Sachverständigenrat spricht in diesem Zusammenhang von der immer noch hohen Arbeitslosigkeit und der immer noch erheblich über der gesamtwirtschaftlichen Produktion liegenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (vgl. SVR 1995, Tz. 288). Er betont, daß die gesamtwirtschaftliche Produktion nur verhalten expandiert. Da das Produktionspotential ebenfalls nur langsam wächst, wird das Beschäftigungswachstum nur gering stimuliert. Die Arbeitslosigkeit kann nicht zurückgeführt werden (vgl. SVR 1995, Tz. 221). Auch nach Meinung der Wirtschaftsforschungsinstitute ist der Umstellungs- und Aufholprozeß weiter vorangekommen. Allerdings hat die rasche Lohnangleichung nach ihrer Ansicht für die Volkswirtschaft in der Breite eine Unternehmens- und Investitionslücke geschaffen. "Angesichts der lohnpolitischen Vorgaben kann die ostdeutsche Wirtschaft aus eigener Kraft nicht aufholen, ... " (Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Frühjahr 1996, S. A18). Der Staat, so die Institute, wird sein finanzielles Engagement in Ostdeutsch land in absehbarer Zeit kaum merklich verringern können. Zur Sicherung der verfügbaren Einkommen und zur Aufrechterhaltung des sozialen Netzes werden auch in den nächsten Jahren erhebliche Mittel aus öffentlichen Haushalten erforderlich sein. Die Bundesregierung zieht in ihrem Jahreswirtschaftsbericht 1996 ebenfalls eine eher nüchterne Bilanz. Sie konstatiert, daß das Ziel einer sich selbst tragenden Wirschaft in den neuen Ländern bei weitem noch nicht erreicht ist. Das Gefälle in der Leistungskraft gegenüber den alten Ländern habe sich zwar weiter verringert, das Tempo des Angleichungsprozesses sei allerdings merklich langsamer geworden. Die eher nüchterne Zwischenbilanz der Experten macht deutlich, daß es auch sechs Jahre nach der Vereinigung noch immer beträchtliche ökonomische OstWest-Unterschiede gibt, wie ein Vergleich zwischen einigen wichtigen ökono-

Synopse der bisherigen Entwicklung

33

mischen Kennzahlen zeigt (vgl. Tab. 2). So liegt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner 1995 im Osten Deutschlands erst bei rund der Hälfte (52,8 %) des ProKopf-Bruttoinlandsprodukts im Westen. Die Erwerbstätigenproduktivität entspricht im gleichen Jahr 55,2 % des entsprechenden westdeutschen Wertes, während die Lohnstückkosten das westdeutsche Niveau um 31,2 % übertreffen. Allein die Bruttoanlageinvestitionen je Einwohner sind im Osten um rund die Hälfte (1994) höher als im Westen. Tabelle 2

Ost- und Westdeutschland im Vergleich" - Westdeutsch land = 100 1991

I

1992

I

1993

I

1994

I

1995

Bruttoinlandsprodukt

31,3

38,5

46,2

50,6

Privater Verbrauch

51,0

58,5

64,0

65,7

Bruttoanlageinvestitionen

65,5

89,7

117,5

144,9

-

Verfügbares Einkommen

48,8

58,9

64,6

66,1

-

Bereinigte LOhnstückkosten b

150,7

140,9

131,6

129,8

131,2

Erwerbstatigenproduktivitaf

31,0

43,1

51,6

54,3

55,2

52,8

Nachrichtlich:

I

a) Je Einwohner basierend auf Angaben in jeweiligen Preisen. - b) Bruttoeinkommen aus unselbstandiger Arbeit im Inland zuzüglich kalkulatorischem Lohn für Selbstandige und mithelfende Familienangehörige in Höhe des durchschnittlichen Bruttoeinkommens der abhangig Beschaftigten bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen. - c) Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstatigen. Quelle: Statistisches Bundesamt (Stand: Sept. 1996), Berechnungen des ifo Instituts.

Übersehen werden darf auch nicht, daß für die zukünftige Wachstumsstärke entscheidende Sektoren bzw. Determinanten noch weit hinterherhinken. So wird das Produktionswachstum überdurchschnittlich von solchen Wirtschaftsbereichen gestützt (lokale Dienstleistungen, Bau), für die nur lokale und/oder regionale Märkte ausschlaggebend sind; überregional handelbare Güter sind schwach vertreten (vgl. Klodt 1994). Die Bauwirtschaft zeigt bereits erste Ermüdungserscheinungen." Der Einschnitt, der 1990 bei der industriellen Forschung erfolgt

"

Ausführlich dazu der Beitrag von Rußig et al. im vorliegenden Band.

34

Barbara Schaden und Gerhard Wiesner

ist, als dort rund 90.000 FuE-Beschäftigte tätig waren, hat zudem deutliche Spuren in der industriellen FuE-Kapazität hinterlassen, die bis heute bei weitem nicht wettgemacht worden sind. 1994 zählt das verarbeitende Gewerbe erst wieder 14.000 FuE-Beschäftigte. 12 Sechs Jahre wirtschaftliche Vereinigung haben der ostdeutschen Wirtschaft Erfolge gebracht, es bestehen aber nach wie vor Defizite. Festzuhalten bleibt, daß die 1991 von verschiedener Seite prognostizierten vier bis fünf Jahre für den ostdeutschen Aufbau bei weitem nicht ausgereicht haben.

9. Neue Themen Die Euphorie, aber auch Aufgeregtheiten der ersten Monate nach der politischen Wende bzw. nach der wirtschaftlichen Vereinigung haben sich gelegt. Während der vergangenen Jahre wurde versucht, mittels einer wachstumsorientierten Strategie den großen Rückstand der ostdeutschen Wirtschaft aufzuholen. Sanierung und Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur sind vorangekommen, die größten Engpässe beseitigt. Die Privatisierung der ehemals staatseigenen Betriebe ist weitgehend abgeschlossen. Mit dem Ende des Jahres 1994 hat die Treuhandanstalt ihr operatives Geschäft beendet. Unter der Prämisse der Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten Deutschlands an das Westniveau fallen die erreichten ökonomischen Kennziffern, wie dargestellt, sehr unterschiedlich aus. Im Vergleich zur Situation von vor sechs Jahren liegen jedoch Jetzt präzisere Informationen über die Substanz der ostdeutschen Wirtschaft vor. Im Rückblick auf die Debatten Anfang der neunziger Jahre fällt auf, daß, abgesehen von einigen "Dauerbrennern", wie Anpassung der Lohnkosten an das Westniveau, die Themenbereiche sich etwas verschoben haben: Von der globalen Betrachtung hin zu bestimmten Schwerpunkten, die teilweise noch gravierende Defizite ins Blickfeld rücken. Auch werden einige Spätfolgen früher Weichenstellungen schärfer wahrgenommen (z. B. Abbau des FuE-Personals, Rückgang der Industrie). Dazu kommt, daß sich vermehrt Stimmen melden, die auf die Grenzen der Wirksamkeit der globalen Wachstumsstrategie hinweisen (vgJ. PohI1994). Folgende Problembereiche schälen sich heraus: 12

Vgl. dazu den Beitrag von PenzkoferlSchmalholz über industrielle Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsaktivitaten in den neuen Bundeslandern in diesem Band.

Synopse der bisherigen Entwicklung

35

Die Effizienz des Mitte/einsatzes: Aufgrund der zunehmenden Belastung der

öffentlichen Haushalte mit Transferzahlungen, zum Teil auch beeinflußt von aktuellen Diskussionen um den wirtschaftlichen Einsatz von Fördermitteln, soll die Förderpolitik neu gestaltet werden. Im Vordergrund stehen die gezielte Bearbeitung von Schwachstellen durch Konzentration der Mittel, die Transparenz der Mittelvergabe und ihre Befristung (vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Frühjahr 1995, S. A17ff., Wilhelm 1994, S. 96ff.). Bei den Schwerpunkten rangieren der bei einem Teil der mittelständischen Unternehmen diagnostizierte Eigenkapitalmangel, die Wiederankurbelung industrieller Aktivitäten und die Absatzförderung ganz vorne. Die Exporlschwäche: Die Exportkraft der ostdeutschen Unternehmen wird

als noch sehr unterentwickelt angesehen. Viele Ostunternehmen sind auf westdeutschen und vor allem auf ausländischen Märkten nicht präsent. Als Gründe werden u. a. die fehlende Marktnähe, ungenügende Vermarktungsstrategien, fehlende Markterfahrung, aber auch bereits besetzte Märkte ins Feld geführt. /nnovationsdefizite: Im Unterschied zur reinen Investitionsförderung wird die

weitere konzentrierte Forschungs- und Technologieförderung für unverzichtbar gehalten. Plädoyers für eine "innovationsorientierte Industriepolitik" gewinnen Anhänger. Die Tatsache, daß viele Großunternehmen aus Westdeutschland, die in Ostdeutschland vertreten sind, ihre Forschungslabors nicht verlagert haben, sowie der mit der Verringerung der Industriebetriebe einhergehende Abbau der Zahl der FuE-Beschäftigten stellen insgesamt ein Manko für die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft dar. Regionalisierungsbestrebungen: Die unterschiedliche regionale Entwicklung

in den ostdeutschen Bundesländern, aber auch Prognosen einer Zunahme des interregionalen Standortwettbewerbs, beleben das Interesse an einer mehr auf (Teil-)Regionen bzw. Kommunen gebündelten Wirtschaftsförderung (vgl. Pohl 1994, S. 210). Andererseits entwickeln sich Diskussionen, die einer Belebung intraregionaler Wirtschaftskreisläufe als Ausgangspunkt für eine Belebung der wirtschaftlichen Aktivitäten in ländlichen Räumen das Wort reden.

36

Barbara Schaden und Gerhard Wiesner

Arbeitsmarktprobleme: Nach wie vor ist allein der quantitative Umfang der Unterbeschäftigung, ausgedrückt in der Zahl der Arbeitslosen bzw. der Arbeitslosenquote, sowie das hohe Niveau der Stillen Reserve das drängendste Problem. Neben dem Mangel ausreichend vorhandener und geeigneter Arbeitsplätze (u. a. Teilzeit) für arbeitssuchende Frauen sind insbesondere die Defizite im Angebot an Ausbildungsplätzen neu hinzugekommen.

10. Offene Fragen Wie lange dauert es, bis in Ostdeutschland ein dem Westen vergleichbares wirtschaftliches Niveau erreicht ist? Geht die Entwicklung mehr in Richtung "blühende Landschaften" oder droht ein "Mezzogiorno"-Schicksal? Derartige, eher polarisierende Fragen begleiten lange Zeit die wirtschaftliche Vereinigung. Nachdem zunächst die Dauer des Anpassungsprozesses von einer Reihe von Experten auf wenige Jahre taxiert wurde, weicht diese Einschätzung später einer realistischeren Sichtweise. Wenn überhaupt, ist meistens von 15 bis 20 Jahren die Rede. Am anderen Ende der Erwartungsskala bewegen sich Prognosen von Barro oder

DornbuschMlolf, die auf der Basis einer 2 %-Konvergenzrate pro Jahr von über 80 (Barro) bzw. rund 50 Jahren (DombuschMlolf) Anpassungsdauer ausgehen. Dagegen läßt sich allerdings einwenden, daß bestimmte Annahmen des zugrundeliegenden Wachstumsmodells keine - empirisch gleichwohl nachweisbaren - ungleichmäßigen Wachstumssprünge der Arbeitsproduktivität berücksichtigen und damit übersehen wird, daß so neue (günstigere) Ausgartgsbedingungen für die Fortsetzung des Wachstumsprozesses geschaffen werden. Außerdem wird im klassischen Wachstumsmodell negiert, daß durch den Strukturwandel laufend die weniger produktiven Bereiche tendenziell eliminiert werden, was noch durch die Mobilität des physischen und des Humankapitals unterstützt wird und insgesamt auch zur Beschleunigung der Anpassung beiträgt (vgl. Burda/Funke 1995). Als Fazit ihrer Berechnungen für Ostdeutschland kommen Burda/Funke daher auf einen viel niedrigeren Anpassungszeitraum von zwischen 13 und 20 Jahren. 13 Von anderer Seite halten sich Zweifel an der Dauerhaftigkeit des (Investitions-) Wachstumsprozesses in Ostdeutschland. Erstens, so wird argumentiert, könne 13

Als Maßstab für Anpassung wird vom Erreichen einer 80 % - Schwelle des wirtschaftlichen Standards von Westdeutsch land ausgegangen.

Synopse der bisherigen Entwicklung

37

die Investitionsentwicklung der vergangenen Jahre nicht in die Zukunft projiziert werden, da es sich um eine "schließlich doch abebbende Investitionswelle" handle. Statt eine sich auf Dauer selbst tragende Entwicklung einzuleiten, münde diese durch die Privatisierungen angeregte Politik doch nur in das Auffangnetz der Regionalförderung. Zweitens wird darauf verwiesen, daß ostdeutsche Industriebetriebe hauptsächlich Zweigbetriebe seien, die wenig über externe Skalenerträge zur Bildung von Wachstumskernen beisteuern könnten. Gerade die Entwicklung von Orten höchster Zentralität bilde aber einen Ausweg aus der regionalen Benachteiligung Ostdeutschlands (vgl. Mieth 1995). Drittens wird prophezeit, daß es sich erst noch zeigen müsse, ob ostdeutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb bestehen könnten. Wenn die eigene Nachfrage verstärkt durch Exporte finanziert werden müsse, werde deutlich, inwieweit die Anpassung geglückt sei (vgl. Klodt 1994). Außer der Dauer und der Qualität des Anpassungsprozesses steht aber auch dessen wirtschaftspolitische Akzentuierung zur Diskussion. Dabei zeigt sich, daß die bewußte Ausklammerung von Verteilungsfragen - bei gleichzeitig spürbarer impliziter Relevanz 14 - nicht ohne Risiken ist. Die einkommenspolitische Abstinenz der Wirtschaftspolitik, vor allem zu Beginn des Einigungsprozesses, illustriert darüber hinaus, daß die Politik nicht ausreichend am Beschäftigungsziel interessiert war (vgl. Kantzenbach 1992). Wenngleich die Belastungen, vor allem für die westdeutsche Bevölkerung, kurzfristig nicht besonders fühlbar waren, können sie auf längere Zeit doch zu einer Hypothek werden. Insgesamt gesehen hat sich die Wirtschaftspolitik - ungeachtet erheblicher Kompensationszahlungen - weder ausreichend um die Beschäftigungsfrage gekümmert, noch ist sie ihrer oft beschworenen Investitionslogik gerecht geworden, die im Austausch für gegenwärtige (Konsum-) Opfer spätere (Investitions-) Erträge verspricht. Denn sofort nach der wirtschaftlichen Vereinigung wurde mit sozialpolitischen Abfederungen nachgeholfen, ehe der proklamierte "heilsame" Schock sich richtig ausbreiten konnte. Der individuelle finanzielle Absturz hielt sich dadurch zwar in Grenzen, aber die Arbeitsplätze waren auch weg.

14

Abgesehen von der Frage, wie und von welchen Gruppen die ökonomischen und sozialen Kosten und Ertrage der Vereinigung (um)verteilt wurden, darf die besonders durch Unternehmensaufkaufe ostdeutscher durch westdeutsche Unternehmen herbeigeführte Vermögensumverteilung nicht unter den Tisch gekehrt werden.

4 Wiedervereinigung

38

Barbara Schaden und Gerhard Wiesner

Literatur

Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute (1990, 1991, 1995, 1996): Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 1990, im Herbst 1990, im Frühjahr 1991, im Frühjahr 1995, im Frühjahr 1996, in: ifo Wirtschaftskonjunktur (42)4, (42)10, (43)4, (47)4, (48)4, München. Akerlof, GA/Rose, A.K./Yellen, J.L.lHessenius, H. (1991): East Germany in From the Cold: The Economic Aftermath of Currency Union, in: Brookings Papers on Economic Activity 1/1991, S. 1-87. Bundesregierung (1990, 1991, 1996): Jahreswirtschaftsbericht 1990, 1991, 1996, Bonn. Burda, M.lFunke, M. (1995): Eastern Germany. Can't We Be More Optimistic?, in: ifo Studien. Zeitschrift für empirische Wirtschaftsforschung (42)3, München/Berlin, S.327-354. Gürtler, J.lRuppert, WNogler-Ludwig, K. (1990): Verdeckte Arbeitslosigkeit in der DDR, ifo Studien zur Arbeitsmarktforschung 5, München. Hickel, R./Priewe, J. (1994): Nach dem Fehlstart - Ökonomische Perspektiven der deutschen Einigung, Frankfurt/Main. Hoffmann, L. (1993): Warten auf den Aufschwung: Eine ostdeutsche Bilanz, Regensburg. Kantzenbach, E. (1992): Thesen zur deutschen Wirtschaftspolitik, in: Wirtschaftsdienst (72)5, HWWA Hamburg, S. 239-246. Klodt, H. (1994): WievielIndustrie braucht Ostdeutschland, in: Die Weltwirtschaft 3/1994, Institut für Weltwirtschaft Kiel, S. 320-333. Kronberger Kreis (1991): Wirtschaftspolitik für das geeinte Deutschland, Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung, Frankfurt/Main. Mieth, W. (1995): Die Wachstumsschwäche des verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutsch land - Ursachen und Folgen, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 214/1. Pohl, R. (1994): Langfristige Wachstumsperspektiven für Ostdeutschland, in: Institut für Wirtschaftsforschung Halle (Hrsg.): Wirtschaft im Systemschock, Berlin, S.199-213.

Synopse der bisherigen Entwicklung

39

SVR - Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1990a): Zur Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR: Voraussetzungen und Möglichkeiten, Sondergutachten vom 20. Januar 1990, Stuttgart. SVR - Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1990b): Brief des SVR an den Bundeskanzler vom 9.2. 1990, Stuttgart. SVR - Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1990c): Auf dem Wege zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, Jahresgutachten 1990/91, Stuttgart. SVR - Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1991a): Marktwirtschaftlichen Kurs halten. Zur Wirtschaftspolitik für die neuen Bundesländer, Sondergutachten vom 13. April 1991, Stuttgart. SVR - Sachverständigen rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1991b): Die wirtschaftliche Integration in Deutschland. Perspektiven - Wege - Risiken, Jahresgutachten 1991/92, Stuttgart. SVR - Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1995): Im Standortwettbewerb, Jahresgutachten 1995/96, Stuttgart. Schiller, K. (1994): Der schwierige Weg in die offene Gesellschaft. Kritische Anmerkungen zur deutschen Vereinigung, Berlin. Siebert, H. (1990): Lang- und kurzfristige Perspektiven der deutschen Integration, in: Die Weltwirtschaft 1/1990, InstitutfürWeltwirtschaft Kiel, S. 49-59. Siebert, H. (1991): German Unification: The Economics of Transition, in: Economic Policy 13, S. 289-340. Sinn, H.-W.lSinn, G. (1992): Kaltstart: Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen. Spahn, H.-P. (1991): Das erste und das zweite deutsche Wirtschaftswunder, in: Wirtschaftsdienst (71)2, HWWA Hamburg, S. 73-79. Thanner, B. (1990): Privatisierung im Widerstreit der Interessen und Meinungen, in: ifo Schnelldienst (44)16-17, München, S. 24-28. Wilhelm, M. (1994): Kapitalbildung in der gewerblichen Wirtschaft Sachsens: Bedarf, bisheriger Stand, Probleme und Perspektiven, ifo Dresden Studien 2, München/Dresden.

4'

Ostdeutsche Wirtschaft 1996/97: Abschied von den hohen Wachstumsraten Von Wolfgang Nierhaus

Sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion kommt der Aufholprozeß in Ostdeutsch land nur noch mühsam voran. Im ersten Halbjahr 1996 stieg die gesamtwirtschaftliche Produktion - wie in Westdeutschland - nur um 0,7 %; 1995 hatte die Zuwachsrate noch 5,3 % betragen, 1994 lag sie sogar bei nahezu 10 %. Pro Einwohner wird das Bruttoinlandsprodukt in den neuen Bundesländern im Vergleich zu Westdeutschland im Jahr 1996 mit 54 % nur um knapp 1 1/2 Prozentpunkte höher als 1995 sein - und dies bei öffentlichen Transferzahlungen, die brutto, und ebenfalls pro Kopf gerechnet, zur Zeit jährlich 11.910 DM betragen (vgl. Tab. 1).' In den enttäuschenden Ergebnissen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für die neuen Bundesländer schlagen sich zwar auch. die konjunkturellen Rückwirkungen der langen Wachstumspause in Westdeutschland sowie die außergewöhnlich schlechte Witterung zu Jahresanfang 1996 nieder, gleichwohl sind es aber spezifische strukturelle Faktoren, die primär zur ungünstigen Entwicklung beitragen: So ist zur Zeit der Wachstumsbeitrag des verarbeitenden Gewerbes, das in Ostdeutsch land mit einem Anteil von 19 % an der Bruttowertschöpfung ein deutlich geringeres Gewicht als in Westdeutschland (27 %) hat, nicht imstande, die Effekte der sich auf hohem Niveau abschwächenden Bautätigkeit (Wertschöpfungsanteil im Osten 17 %, im Westen 5 %) auf die gesamtwirtschaftliche Produktion zu kompensieren. Auch hat sich die anfänglich hohe Investitionsdynamik in den neuen Bundesländern inzwischen deutlich verlangsamt. Mittlerweile sind viele der im Zusammenhang mit der

Nach Abzug von Sleuer- und Verwallungsmehreinnahmen durch den Bund belaufen sich die öffentlichen Transfers nach Ostdeutschland pro Einwohner netto auf 8.675 DM.

16.694 5.092 29.450 21.064 1.128 9.663 7.311

8.737 6.662

1992

12 Q 48 3.138 21.475 16.420 831

1991 1993 1994 1995 Ostdeutsch la nd (in DM) 20066 22.777 24.553 8.494 6.440 9.361 34.052 36.135 38.375 24.365 25.323 26.555 1.358 1.526 1.615

Ost- und Westdeutschland im Vergleich

25.671 9087 40.218 28.726 1.717

1996 26.617 8.717 41.529 29.479

1997

Quelle: Statistisches Bundesamt, Verband Deutscher Rentenversicherungstrager, Bundesministerium der Finanzen, Berechnungen des ifo Instituts.

10.736 10.794 11.932 11.909 11.558 8.673 8.244 8.031 9.029 8.442 Westdeutschland (in DM) 46.507 BruUoinlandsproduktb 43.367 43.400 45.034 47.427 48.661 41.321 4,989 5.182 4,895 darunter: Bauinvestitionen b 4.671 5.049 5.152 4.824 48.354 49.288 50.795 51.770 44.430 47.000 52.557 Bruttolohn- und -gehaltsummeC 31,334 32.278 32.256 32.235 33.202 33.376 Nettolohn- und -gehaltsummeC 29.978 Eckrented 1.927 1.833 1.900 1.937 1.709 1.775 Westdeutschland= 100 31,3 46,2 50,6 52,8 54,1 54,7 38,5 Bruttoinlandsproduktb 164,9 180,6 darunter: Bauinvestitionen b 67,2 100,8 129,1 185,6 180,7 73,3 Bruttolohn- und -gehaltsummeC 48,3 62,7 70,4 75,5 77,7 79,0 78,5 82,4 Nettolohn- und -gehaltsummeC 54,8 67,2 75,5 86,5 88,3 Eckrented 75,2 78,0 48,6 59,5 69,4 82,2 a) Vorausschätzung des ifo Instituts. - b) In jeweiligen Preisen je Einwohner. - c) Je Beschaftigten im Inland. - d) Monatliche Rente eines Durchschnittsverdieners nach 45 Versicherungsjahren (unter Berücksichtigung des Beitragssatzes zur Krankenversicherung der Rentner und zur Pflegeversicherung). - e) Finanztransfers für Ostdeutschland (einschließlich Sozialversicherungen) je Einwohner. f) AbzOglich Steuermehreinnahmen und Verwaltungsmehreinnahmen durch den Bund.

Bruttoinlandsprodukt b darunter' Bauinvestitionen b Br~ttoloiln- und -gehaltsumme C Netio:')hn- und -gt;;haltsumf71e< Eckrentt,d nachrichtlich: Öffentliche Finanztransfers brutto· Öffentliche Finanztransfers netto·'!

Tabelle 1

C C/l

111

3-

ib'

Z

::J IC

111

~ ~

N

.".

Ostdeutsche Wirtschaft 1996/97

43

Privatisierung zugesagten Investitionen umgesetzt, neue kommen nur noch sporadisch hinzu. Viele Großprojekte im Bereich Verkehr und Nachrichtenübermittlung sind abgeschlossen. Neue Investitionsdynamik, auch durch weitere Zuwanderung und Gründung von Unternehmen, zeichnet sich bei hohem Kostenniveau und geringen Rentabilitätserwartungen zur Zeit nicht ab. Das hohe Wachstum der ostdeutschen Wirtschaft der Jahre 1992 bis 1994 mit durchschnittlich 8,9 % p. a. wird sich in naher Zukunft wohl nicht wiederholen. Von daher wird sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt auch nicht bessern: Das geringe reale Wirtschaftswachstum von rund 2 % im Durchschnitt der Jahre 1996/97 bewirkt sogar eine wieder rückläufige Nachfrage nach Arbeitskräften. Das gilt in erster Linie für das Baugewerbe, ein Bereich, der von einer jahrelangen sehr dynamischen Aufwärtsentwicklung nun von einem außerordentlich hohen Niveau in eine Abwärtsbewegung umschwenkt. Der Beschäftigungsrückgang in der Gesamtwirtschaft wird sich 1996 im Jahresdurchschnitt wenigstens auf 6.000 Personen belaufen. Für die Arbeitslosenzahl bedeutet das einen Anstieg um 110.000 auf insgesamt 1,16 Mill., was 15,5 % der Erwerbspersonen entspricht. Anders als in Westdeutsch land sind in den neuen Bundesländern immer noch Maßnahmen zur Arbeitsmarktförderung von besonderer Bedeutung: Etwa 290.000 Personen befinden sich derzeit in allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung bzw. in Beschäftigungsverhältnissen, die durch einen "Produktiven Lohnkostenzuschuß" gefördert werden (vgl. Tab. 2). Bezogen auf die Zahl der Arbeitslosen sind dies 26 %, in Relation zu den Beschäftigten immerhin noch 5 %. Viel geringer sind dagegen die Förderquoten in Westdeutschland, nämlich 0,3 % der Beschäftigten oder 3 % der Arbeitslosen. Hinzu kommen 230.000 (Ostdeutschland) und 290.000 (Westdeutschland) Teilnehmer an beruflichen Vollzeit-Weiterbildungsmaßnahmen. Die Relation zwischen Geförderten und Beschäftigten liegt insgesamt in den neuen Bundesländern bei 9 %, im Westen bei 1,5 %; bezogen auf die Arbeitslosenzahlen betragen die Quoten 46,7 % bzw. 13,9 %. Ein besonderer Standortnachteil der neuen Bundesländer sind immer noch die unangemessen hohen Lohnsteigerungen. Die Lohnpolitik in Ostdeutschland verfolgte von Anfang an das Ziel, im Rahmen einer angestrebten "Tarifunion" mit Westdeutschland die Arbeitseinkommen möglichst rasch an das Niveau in den alten Bundesländern heranzuführen. Zwar konnte die Produktivität durch die Modernisierung der Produktionsanlagen und die Umstrukturierung der Produktionsprozesse in den vergangenen Jahren erheblich gesteigert werden; hier und da gibt es inzwischen "Hochproduktivitätsinseln" . Die Erfolge wurden aber

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Wolfgang Nierhaus

Tabelle 2

Maßnahmen zur Arbeitsmarktförderung in den neuen Bundesländern Arbeitslose

Bundesland

ABM und LKZa

Bestand an VolizeitFuU b

in 1.000 Personen

ABM und LKZ sowie Volizeit-FuU je 100 Arbeitslose (Förderquote) in%

MecklenburgVorpommern

1993 1994 1995 1996
V ist zwar nicht die Wachstumsrate, wohl aber das Niveau des Sozialproduktes zu niedrig. Auch hier waren Subventionen vorteilhaft; vgl. KlodtlPaque (1993), S. 10.

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Karl Lichtblau

und ist dieses Wissen ortsgebunden, diffundiert also nicht über Landesgrenzen, kann sich das Land auf die Produktion dieser innovativen Güter beschränken. Ein Land mit einer niedrigeren Ausstattung spezialisiert sich auf weniger humankapitalintensive Produktionen, und Handel bringt zunächst beiden Volkswirtschaften Vorteile. Da aber nur die Produktion der technologieintensiven Güter die Akkumulation von Wissen zuläßt, wird das Wachstum in diesen Regionen dauerhaft höher sein. Dynamische Lemeffekte "Learning by Doing" als Quelle für Wachstum führte als erster Arrow (1962) systematisch in die Wachstumstheorie ein. Je mehr Erfahrung eine Volkswirtschft mit dem Umgang einer Technologie hat, desto effizienter kann sie eingesetzt werden, um so leichter sind beispielsweise Prozeßinnovationen möglich. Arrow unterstellt, daß die Erfahrung wächst, je mehr investiert, d. h. je höher der Kapitalstock einer Volkswirtschaft ist. Solche Erfahrungskosteneffekte spielen heute anscheinend vor allem in der mikroelektronischen Industrie eine große Rolle. Die Durchschnittskosten bei der Produktion von Chips sollen je Stück bis zu einem Drittel fallen, wenn der Output sich verdoppelt (vgl. Bletschacher/Klodt 1992). Das würde heißen, daß die Unternehmen (oder im übertragenen Sinn Regionen), die zuerst im Markt sind, einen kaum aufholbaren Vorsprung haben. Ressourcenpooling Konzentrationen von Unternehmen derselben Branche oder Technologie führen zur Herausbildung spezifischer Arbeitsmärkte und Qualifikationen. Unternehmen können auf diese Fähigkeiten zurückgreifen und sparen Qualifizierungskosten, die in anderen Regionen zu tragen wären, weil dort diese für die spezifische Industrie notwendigen Grundfähigkeiten nicht vorhanden sind. Netzwerkeffekte Ballungszentren und entwickelte Regionen sind oft nachfragestarke Märkte, die weitere Unternehmen anziehen, weil Kundennähe entscheidend ist. Die Notwendigkeit von Kundennähe wirkt deshalb wie der Entfernungsparameter in den traditionellen Transportkostenmodellen. Je wichtiger das Argument wird, desto näher muß die Produktion am Ort des Absatzes sein. Ebenfalls wie von einem Schwamm angezogen werden Vorlieferindustrien, die dann mit den ansässigen Produktionsunternehmen ein spezialisiertes Netzwerk bilden.

Industrielle Kerne und neue Wachstumstheorie

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Sunk Gasts

Oft behindern auch sogenannte sunk costs in ihrer Eigenschaft als Markteintrittsbarrieren für Newcomer und Marktaustrittsbarrieren für etablierte Unternehmen eine gleichmäßige Verteilung der Wirtschaft im Raum. Sunk costs sind Kosten spezialisierter Produktionsfaktoren, die in jeder anderen Verwendung einen Opportunitätsertrag von null haben. Beispielsweise können große Industrieanlagen räumlich nur schwer verlagert werden, weil sie an die alten Standorte angepaßt sind und eine Verlagerung sie entwerten würde. Für die neuen Länder bedeutet das, daß viele Produktionsanlagen nicht wandern werden, obwohl in einer Vollkostenrechnung, in der hypothetisch betrachtet noch alle Kosten entscheidungsrelevant wären, sich durchaus Vorteile für eine Standortverlagerung ergeben könnten. Der Wettbewerb der Regionen um Unternehmen beschränkt sich dann faktisch auf Errichtungs- und Erweiterungsinvestitionen, die nicht in vorhandene Anlagen integriert sind.

5. Pfadabhängigkeit als entscheidende Determinante Die neue Wachstumstheorie hat die Erklärung von Wachtstum auf eine breitere Basis gestellt und die Bedeutung von Humankapital, Bildung, Innovation, Forschung und Entwicklung sowie Infrastruktur betont. Es ist klar, daß die Regionen die besten Wachstumsperspektiven haben, die am effizientesten in die Verbesserung dieser Faktoren investieren. Alle oben genannten "kernbildenden" Faktoren entwickeln sich aber dort am dynamischsten, wo die Anfangsausstattung am größten ist: Masse zieht Masse an. Die Entwicklung ist offensichtlich pfadabhängig. Die bestehenden Zentren leben von der Ressourcenakkumulation der Vergangenheit und behalten ihre Vorteile, selbst wenn andere Regionen heute die gleichen Fähigkeiten haben. Dies wird als Hysteresis bezeichnet, also als "Fortdauer einer Wirkung bei Aufhören der Ursache" definiert. Vor allem Krugman (1991) hat auf die Möglichkeiten solcher pfadabhängigen Entwicklungen aufmerksam gemacht. Er stellte fest, daß in den USA die räumliche Ballung von Industrien anhält, obwohl die Ursachen, welche die ursprüngliche Standortwahl begründet haben, weggefallen sind ("history matters"). Brakman/Garretsen (1993) zeigen basierend auf einem Hysterese-Modell der neuen Wachstumstheorie in einer Simulationsrechnung mit verschiedenen Parameterkonstellationen, daß aufgrund der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Angleichungsprozeß

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Karl Lichtblau

in Deutschland wesentlich langsamer verlaufen wird als es nach traditioneller neoklassischer Sicht zu erwarten wäre. Liegen solche pfadabhängigen Entwicklungen vor, könnte mit einer einmaligen staatlichen Intervention eine permanente Wirkung erzielt werden. Die v-Erträge bräuchten durch eine Anstoßsubvention nur einmal ausgeglichen zu werden, danach wäre die betreffende Region dauerhaft wettbewerbsfähig.

6. Zweifel an der Existenz regionaler Externalitäten Die Relevanz dieser Argumente kann nicht theoretisch, sondern letztendlich nur empirisch überprüft werden. Eine entscheidende Frage scheint dabei zu sein, ob die von Forschung und Entwicklung ausgelösten positiven Externalitäten regional begrenzt sind oder überregional diffundieren. Wäre das Letztere der Fall, müßten die industriepolitischen Hilfen zur Ansiedlung moderner Mikroelektronik in Dresden viel kritischer beurteilt werden. Das dort sich bildende branchenspezifische Wissen bliebe nicht auf die Region beschränkt; Folgeinvestitionen aufgrund der vorhandenen Kapazitäten wären nicht zu erwarten. Neuere empirische Untersuchungen scheinen eher darauf hinzudeuten, daß technologisches Wissen weltweit diffundiert und Hysterese-Phänomene nicht zu erwarten sind: Irwin/Klenow (1994) untersuchten "Iearning-by-doing spillovers" bei Halbleiterproduzenten in den Jahren 1974 bis 1992. Sie fanden heraus, daß es Erfahrungskurvenvorteile in Höhe von 20 % gibt, von denen alle Unternehmen der Branche profitieren. Allerdings sind die stückkostensenkenden Effekte in den Ursprungsunternehmen etwa dreimal höher als die externen Erträge. Diese Externalitäten bleiben aber nicht auf das Land der Entstehung beschränkt. Nicht festgestellt werden konnten spillovers bei Technologiesprüngen im Zusammenhang mit der Einführung neuer Chipgenerationen. Alle fangen hier mehr oder weniger von vorne an. Stolpe (1994) fand für 12 OECD-Länder in 17lndustriebranchen keine Bestätigung für eine pfadabhängige Entwicklung. Startvorteile bei FuE-Tätigkeiten in

Industrielle Kerne und neue Wachstumstheorie

371

einer bestimmten Branche bringen also keine dauerhafte Spezialisierung bei der Produktion dieser Güter. Die Entwicklung des sektoralen Spezialisierungsgrades der Wertschöpfung dieser Länder ist stärker ausgeprägt als die Veränderung des Spezialisierungsprofils der FuE-Tätigkeiten (gemessen in Patenten). Das spricht für eine international breite Diffundierung von FuE und gegen Hysterese-Phänomene. Im Lichte dieser Ergebnisse müssen die Erfolgsaussichten der Schaffung eines Kernes für moderne Mikroelektronik in Dresden eher zurückhaltend beurteilt werden. 1o Spillovers aus der Forschung allein werden sicher keine dauerhaft "kernbildende Kraft" entfalten können. Natürlich wirken aber dort gebundene spezifische Faktoren (sunk costs) in die Richtung, daß Folgeinvestitionen in dieser Region vorgenommen werden. Auch werden die Chipfabriken eine Reihe von Vorlieferern und Anwendern anziehen und so zum Aufbau eines Netzwerkes beitragen. Allerdings gilt das für jede Industrie, die wettbewerbsfähig produziert. Das heißt nicht, daß es keine rationalen Gründe für die Ansiedlung von Mikroelektronik 11 gibt - nur sollte die Sogwirkung dieser Ansiedlungen nicht überbewertet werden. Es gibt eine Reihe anderer Gründe, die die Nutzung der neuen Wachstumstheorie für die Regionalpolitik stark einschränken, sogar praktische Handlungsanleitungen unmöglich erscheinen lassen. Keine eindeutigen Handlungsempfehlungen

Zunächst ist festzuhalten, daß aus den Modellen keine eindeutigen Politikempfehlungen zu ziehen sind. Kleine Änderungen in der Modellspezifikation können zu völlig anderen Politikimplikationen führen. Die neue Wachstumstheorie bietet kein geschlossenes Theoriekonzept, sondern immer nur Lösungen für sehr spezifische Parameterkonstellationen. Auch rät sie nicht generell zu selektiven Interventio10

Ähnlich skeptisch in bezug auf die Rolle von Externalitaten öffentlicher Investitionen und von Agglomerationsvorteilen zur Erklarung des Angleichungsprozesses des Outputs je Beschaftigten der Industrie zwischen den südlichen und nördlichen Bundesstaaten der USA von 1951 bis 1986 sind Hulten/Schwab (1993). Insgesamt sind es nicht die von der neuen Wachstumstheorie herausgestellten Faktoren, sondern die Zuwanderung von Kapital und Arbeit, die die Konvergenz erklaren.

11

Es ist darauf hinzuweisen, daß die Beihilfeintensitaten der Ansiedlungsvorhaben in Dresden bezogen auf das Investitionsvolumen etwa bei einem Drittel, d. h. innerhalb der üblichen Beihilfehöchstgrenzen der Regionalförderung liegen.

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nen, sondern auch zur Aufhebung bestehender Allokationsverzerrungen. Im Rebelo-Modell führt jede Erhöhung der Einkommensteuern zur Finanzierung von privatem Konsum zu einer Verringerung der langfristigen Wachstumsraten, weil dadurch die Nettoerträge der Investition und damit der Anreiz zur Kapitalakkumulation reduziert wird (vgl. Stolpe 1993, S. 373). Das Instrument zur Wachstumsforcierung ist also klassische Steuerpolitik. Die Modelle fordern niemals einen unbegrenzten Ausbau der Infrastruktur und des Aufbaus von Humankapital. Immer müssen diese positiven Effekte den wachstumshemmenden Auswirkungen der (Steuer-)Finanzierungsseite gegenübergestellt werden (vgl. Seitz 1994, S. 54).

Informations- und Dosierungsproblem Die Methoden der empirischen Wirtschaftsforschung erlauben es nicht, externe Effekte in einer Volkswirtschaft zu identifizieren. Daran scheitern alle Versuche von "picking the winner"-Strategien. Mit Hilfe der Auswertung von Patentstatistiken ist es vielleicht noch bedingt möglich, technologische Netzwerke zu identifizieren, die sich gegenseitig befruchten. Es ist aber noch nicht gelungen, solche im technologischen Raum erkennbaren Netze auf den geographischen Raum zu übertragen (vgl. KlodtlPaque 1993, S. 9). Im Falle der Ansiedlung von Halbleiterfabriken mag die Entscheidung noch relativ leicht gewesen sein, denn dieser Branche wird allgemein eine große Zukunftsbedeutung beigemessen. Wenn sich aber bei knapper werdenden Kassen der Staat zwischen der Förderung eines Maschinenbau- oder eines Fahrzeugbauvorhabens entscheiden muß, kann die neue Wachstumstheorie keine praktische Handlungsanleitung geben.

Gefahr der Fehlinterpretation und des Mißbrauchs Da Verfahren zur Identifizierung der richtigen Branchen, Technologien und Unternehmen nicht existieren, die im Sinne der neuen Wachstumstheorie positive Impulse für eine Region auslösen können, laufen solche Versuche in der Praxis auf die Stützung der vorhandenen Unternehmen als "vermeintliche industrielle Kerne" hinaus. Genau das passiert in den neuen Ländern. Es sollen Unternehmen in Problemregionen erhalten werden, deren Ausscheiden aus dem Markt aus sozialund arbeitsmarktpolitischen Gründen als nicht vertretbar gilt. Das ist klassische sozialorientierte Strukturpolitik und hat nichts mit dem theoretischen Ansatz eines industriellen Kerns im Sinne der neuen Wachstumstheorie zu tun.

Industrielle Kerne und neue Wachstumstheorie

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Gerade die Politik der "Erhaltung industrieller Kerne" im Rahmen der Tätigkeit der Treuhandanstalt fragte nicht nach der Wirkung von Externalitäten, sondern entschied nach der Stellung des Unternehmens in der bisherigen Wirtschaftsstruktur. Als strukturbestimmend wurden die Unternehmen oder Branchen bezeichnet, die eine starke Bedeutung als regionale Arbeitgeber hatten. Vor allem deshalb wurden in stark monostrukturierten Regionen (Werften in Mecklenburg-Vorpommern, Chemie in Sachsen-Anhalt, Optik in Thüringen, Maschinenbau und Textilindustrie in Sachsen, Stahlindustrie in Brandenburg) die bestehenden Industrien als Kern identifiziert und erhalten. Es gibt keine überzeugende Begründung, warum gerade die vorhandenen, im Sinne ihrer bisherigen Stellung als Arbeitgeber regional bedeutsamen Unternehmen eine bessere Zukunftschance haben sollen als andere. Auch das Netzwerkargument kann hier nicht überzeugen. Ist nämlich das Kernunternehmen international nicht wettbewerbsfähig, können auch keine dauerhaft sich selbst tragenden Arbeitsplätze bei regionalen Zulieferern und Abnehmern entstehen. Im Gegenteil, jede marktwidrige Erhaltung eines Kerns bindet Ressourcen in einer nicht-wettbewerbsfähigen Verwendung und behindert damit den Strukturwandel des gesamten Netzwerkes. Solchen Entwicklungen kann durch die Errichtung von Industrieparks entgegen gewirkt werden. So ist es beispielsweise gelungen, auf nicht benötigten Flächen alter Standorte in Leuna, Wolfen, Bitterfeld, Zeitz und Schwarza insgesamt 629 Investoren anzusiedeln, die 22.370 Arbeitsplätze geschaffen haben, von denen aber nur 7.300 auf die Chemie entfallen (vgl. Landesverband 1995, S. 29). Damit ist ein sektoraler Strukturwandel angestoßen, der allerdings erforderte, vorher die nicht-wettbewerbsfähigen Unternehmen - die alten Kerne - stillzulegen. Diese Gefahr massiver Fehlalloaktionen droht vor allem bei dem Versuch der Erhaltung der Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt. Subventionen in der vorne dargelegten Größenordnung an Dow Chemical sind ein sicheres Anzeichen dafür, daß in einem Marktkalkül diese Strukturen nicht wettbewerbsfähig wären. Die neue Wachstumstheorie kann hier nicht als Kronzeuge für die Vorteilhaftigkeit dieser Entscheidung angeführt werden. Hier ging es um ein politisch formuliertes Erhaltungsziel, was allenfalls unter sozialpolitischen Aspekten zu rechtfertigen ist. Bei der Begründung der hohen Subventionen im Zusammenhang mit dem Verkauf der Buna- und Leuna Werke GmbH einschließlich der SOW GmbH an Dow Chemical hat die EU-Kommission mehrfach auf die technologischen Verbundeffekte aufmerksam gemacht, die noch über die Unternehmensgruppe hinausgehen. Hier gibt es offensichtlich eine Pfadabhängigkeit in die falsche Richtung: Um 25 Wiedervereinigung

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ein eigentlich nicht-wettbewerbsfähiges Unternehmen zu erhalten, müssen weitere, mit diesem Betrieb produktionstechnisch verflochtene Unternehmen subventioniert werden, die ebenfalls ohne massive Hilfen im Wettbewerb nicht bestehen können. Am Ende kann ein insgesamt nicht-wettbewerbsfähiges Netzwerk stehen. Auch besteht heute die Gefahr, daß die Strategie der "Erhaltung industrieller Kerne" zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Die Maßnahmen können Erfolg haben, nicht weil diese Unternehmen besondere "Kerneigenschaften" aufweisen, sondern weil sie höher als der Durchschnitt subventioniert wurden und ihr Mangel an Wettbewerbsfähigkeit für eine gewisse Zeit überdeckt wird. Allerdings ist es heute für eine abschließende Beurteilung zu früh, ob aus den besonders stark geförderten Unternehmen wirklich wettbewerbsfähige Strukturen erwachsen. Der Schiffbau ist derzeit durch eine gute Kapazitätsauslastung gekennzeichnet und durch die Staatshilfen konnte eine moderne Werftindustrie geschaffen werden. Auch konnten bisher die Beschäftigungszusagen erfüllt werden, aber ein Abbau wird nach Ablauf der Garantiefristen für wahrscheinlich gehalten. Auch kann die Krise bei der Vulkan-Gruppe Rückwirkungen auf die ostdeutschen Standorte haben. Hier zeigt es sich, daß es gefährlich ist, massiv Branchen zu subventionieren, die sich seit vielen Jahren in einem strukturellen Anpassungsprozeß befinden. Auch die Unternehmen der Zeiss-Gruppe haben die Gewinnschwelle noch nicht erreicht und leben immer noch aus der Substanz der Starthilfe. Natürlich können Strategien zur Erhaltung bestimmter Industrien aus sozialpolitischen Gründen gerechtfertigt werden. Der Staat zahlt Subventionen, um zumindest kurz- bis mittelfristig alternativ anfallende Sozialausgaben zu vermeiden, die durch die Liquidation dieser Unternehmen entstehen würden. Zwei Probleme stellen sich dabei: Wie hoch darf die Starthilfe sein? Wie wird sichergestellt, daß daraus keine Dauerengagements werden? Dauersubventionen können um so leichter verhindert werden, je weniger der Staat unternehmerisch tätig wird. Die Vorgehensweise der Treuhandanstalt, Un-

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ternehmen zu negativen Preisen an private Investoren zu verkaufen und damit mit einer "Einmalzahlung" die strukturpolitische Verantwortung des Staates abzugelten, war der grundsätzlich richtige Weg. Die Beihilfenregelungen der Europäischen Union, wonach Rettungs- und Sanierungsbeihilfen nur einmalig vergeben werden, müßte vor Dauersubventionen schützen. Allerdings bestehen in der Beihilfepolitik so große Entscheidungsspielräume, daß bei hinreichend starkem politischen Druck ein Nachlegen nie ausgeschlossen werden kann. Viel schwieriger ist die Verhinderung mehrmaliger Sanierungshilfen, wenn der Staat selbst ganz oder teilweise Anteilseigner der betreffenden Unternehmung ist. Das Modell der Privatisierung bei Zeiss-Jena ist hier ein Beispiel. Dort ist das Land Thüringen alleiniger Eigentümer der JENOPTIK und damit eines wesentlichen Teiles der Carl-Zeiss-Stiftung. Weitere Sanierungshilfen sind bei einer Beteiligung des Staates schwer als Subventionen zu identifizieren, weil im Einzelfall nicht feststeht, ob der Staat als industriepolitisch oder in seiner Eigentümerfunktion als rational handelnder Marktakteur eingreift. Auch dürfte es bei einem Unternehmen im Staatsbesitz schwerer fallen, öffentlichen Druck auf weitere Sanierungshilfen abzulehnen. Deshalb sollten sich der Bund und die Länder möglichst schnell von ihren Beteiligungen lösen. Auch sollte auf die Schaffung von Nachfolgeeinrichtungen für Initiativen wie ATLAS verzichtet werden. Der vollständige Verzicht auf Staatsbeteiligungen verhindert natürlich keine erhaltende Strukturpolitik; lediglich die Möglichkeiten dafür werden erschwert. Erhaltungspolitik droht derzeit in den neuen Ländern im Zusammenhang mit der Forderung der Länderwirtschaftsminister in Ostdeutschland, den Konsolidierungsfonds zur Unterstützung notleidender ehemaliger Treuhandunternehmen wiederaufzufüllen. Die neuen Länder planen hier 500 Mill. DM zu investieren und fordern den Bund auf, diesen Betrag zu verdoppeln. Das würde das Tor zu einer erneuten Runde einer Politik zur Erhaltung industrieller Kerne - im Klartext der vorhandenen Strukturen - öffnen. Das Starthilfekonzept der Treuhandanstalt könnte Zug um Zug nachträglich zu Dauersubventionen umgewidmet werden. Die Frage nach der Angemessenheit der Höhe der Starthilfen ist wesentlich schwieriger zu beantworten. Es ist nicht bekannt, nach welchen Kriterien die Treuhandanstalt und die Länder Sanierungs- und Fördermittel vergeben haben. Die Verfahren waren nicht regelgebunden oder wettbewerblieh organisiert. In jedem Einzelfall haben Treuhandanstalt und Politik meistens in zähen Verhandlungen gegeneinander mit den Investoren die Höhe der Staatshilfen festgelegt. 25·

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Es kann heute nicht mehr "nachgerechnet" werden, ob die Höhe der zur Verfügung gestellten Sanierungsbudgets sachgerecht war. Das Fehlen wettbewerblicher Konzepte und damit einer klaren Entscheidungsregel ermöglichte sicher im Einzelfall ein Nachgeben gegenüber dem öffentlichen Druck auf Erhaltung bestimmter Unternehmen.

7. Fazit: Neoklassische Wachstumstheorie nicht voreilig verwerfen Es ist weder theoretisch noch empirisch gesichert, ob die traditionelle Wachstumstheorie wirklich verworfen oder nur modifiziert werden muß. Wäre dem so, könnte man sich eher auf marktgesteuerte Anpassungsprozesse verlassen; gezielte Maßnahmen zum Erhalt und Aufbau von industriellen Kernen wären entbehrlich. Eine allgemein angelegte, regional und sektoral wenig differenzierende Wirtschaftsförderpolitik würde dann eher zum gewünschten Konvergenzziel führen (vgl. Lichtblau 1995). Für diese Sicht gibt es eine Reihe von Hinweisen. Der Bestand an Humankapital ist unbestritten eine entscheidende Größe zur Erklärung des Wachstums einer Volkswirtschaft. Mankiw und andere (1992) haben die neoklassische Produktionsfunktion explizit um Humankapital in Form von Ausbildungsinvestitionen erweitert und dabei die traditionelle Annahme einer Skalenelastizität von eins nicht aufgegeben. Für dieses um die Investitionen in Humankapital korrigierte Wachstumsmodell stellt sich das theoretisch erwartete Ergebnis ein. In den untersuchten 98 Ländern ist es zur Konvergenz gekommen. Die immer noch bestehenden Unterschiede in den Wachstumsraten scheinen durch eine ungenügende Humankapitalakkumulation in den armen Ländern erklärt werden zu können. Als Umkehrschluß folgt daraus, daß es für Humankapital offensichtlich keinen vollständig funktionierenden Weltmarkt zu geben scheint. Dieser Faktor ist offensichtlich immobiler als noch in der klassischen Wachstumstheorie postuliert. Genauso wie es Faktoren gibt, die eine Ballung begünstigen, arbeiten in einer Marktwirtschaft auch Gegenkräfte. In Ballungsräumen kommt es zu steigenden Faktorkosten, Flächenengpässen, Übernutzungen von öffentlicher Infrastruktur und sogar zur Behinderung des Strukturwandels durch Spezialisierung der vorhandenen Arbeitskräfte und Unternehmen. Diese führen zu Faktorwanderungen weg von den vorhandenen Zentren.

Industrielle Kerne und neue Wachstumstheorie

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Empirische Untersuchungen bestätigen einen engen Zusammenhang zwischen Investitionen und Wirtschaftswachstum. Levine/Renelt (1992) fanden in einer Untersuchung von 101 Ländern im Zeitraum von 1960 bis 1989 heraus, daß eine um einen Prozentpunkt höhere volkswirtschaftliche Investitionsquote ein um 0,17 Prozentpunkte höheres Pro-Kopf-Wachstum zur Folge hat. Können die neuen Länder in den nächsten Jahren eine ähnlich hohe Investitionsquote wie zur Zeit erreichen, könnte schon allein daraus ein Wachstumsvorsprung gegenüber Westdeutschland von 3,5 Prozentpunkten resultieren. Das würde die Konvergenzdauer entscheidend verringern. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Young (1995) in einer empirischen Untersuchung zur Erklärung des Wirtschaftswunders in den südostasiatischen Tigerstaaten, den "newly industrializing countries (NICs)". Nicht externe Effekte haben die Entwicklung vorangetrieben, sondern "normale Faktoren", wie höhere Bildungsstandards, hohe Investitionsquoten, höhere Erwerbsbeteiligungsraten sowie der in diesen Regionen noch möglich gewesene Strukturwandei vom Agrar- in den produktiveren Industriesektor. Young (1995, S. 675) stellt fest, "Neoclassical growth theory ... can explain most of the difference between the performance of the NICs and that of other postwar economies". Die Modelle der neuen Wachstumstheorie unterstellen alle eine Entlohnung der Produktionsfaktoren nach ihrem Grenzprodukt. Diese Bedingung ist in den neuen Ländern aber durch die überzogenen Lohnabschlüsse fundamental verletzt. Der neoklassischen Markttheorie kann kein Versagen vorgeworfen werden, wenn grundlegende Allokationsmechanismen außer Kraft gesetzt sind. Die daraus resultierenden kontraproduktiven Effekte übersteigen sicher in der Wirkung kaum nachweisbare Externalitäten. Die Lohnstückkosten in der Industrie lagen noch 1995 um rund ein Drittel über dem westdeutschen Niveau. Gerade die den Produktivitäten weit vorauseilenden Löhne haben einen Teil des Kapitalstocks vernichtet, dessen weiterer Abbau wenig später durch Subventionierung industrieller Kerne gestoppt werden sollte. Noch heute könnte eine Verlangsamung der OstWest-Lohnangleichung die Restrukturierung der Industrie der neuen Länder erleichtern. Lohnzurückhaltung muß nicht zur Spezialisierung auf arbeitsintensive und damit vielleicht weniger zukunftsfähige Branchen führen. Neuere empirische und theoretische Arbeiten zeigen, daß sich Basisinnovationen in den Ländern durchsetzen, in denen sich die bislang herrschende Technologie noch nicht verfestigt hatte und deshalb ein relativ geringes Lohnniveau vorlag (vgl. Brezis/KrugmanlTsiddon 1993). Diese als Bocksprung-Theorie bekannte These konnte histo-

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risch an der Ablösung der Niederlande in der Vormachtstellung durch England im 19. Jahrhundert und der Englands durch die USA im 20. Jahrhundert nachgezeichnet werden. Immer war ein ausreichend großes Lohndifferential eine der Bedingungen für eine erfolgreiche Überholstrategie. Das gleiche Entwicklungsmuster prägte in den ersten Jahren den Aufstieg Japans und anderer ostasiatischer Länder. Die neuen Länder haben durch die enge Verflechtung mit Unternehmen, Märkten und Forschungseinrichtungen aus Westdeutschland und Europa einen guten Zugriff zu moderner Technologie. Zusammen mit einem stabilen Lohnkostenvorteil über eine mittlere Frist könnte sich ein entscheidender Standortvorteil entwickeln.

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Teil VI Systemwechsel treibt Strukturwandel: Eine Analyse nach Branchen

Landwirtschaft: Großbetriebe prägen den ländlichen Raum Von Rüdiger Meimberg

Mit der Auflösung der ehemaligen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und der Reprivatisierung ihrer Flächen und ihrer Betriebseinrichtungen ist eine grundlegende Umstrukturierung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern eingeleitet worden. Das bisherige Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses zeigt, daß ein Angleichen der ostdeutschen Strukturen an westdeutsche Verhältnisse nur in einem geringen Ausmaß stattgefunden hat, was bedeutet, daß die ostdeutsche Landwirtschaft sich auch zukünftig in wesentlichen Punkten von der Westdeutschlands unterscheiden wird. Der Prozeß der Etablierung und vor allem der Konsolidierung eigenständiger und gewinnorientierter landwirtschaftlicher Unternehmen kann noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Es sind weitere Veränderungen der speziellen Betriebsstrukturen - Betriebsgröße, Rechtsform, Produktionszusammensetzung, Tierbestandsgrößen u. a. - zu erwarten, von denen wiederum maßgebliche Einflüsse auf die großräumigen allgemeinen Agrarstrukturen bzw. auf die Gestaltung und die Entwicklung der ländlichen Räume ausgehen.

1. Die Bedeutung großer Unternehmen Es wird zwar weiterhin zahlreiche Neugründungen von landwirtschaftlichen Betrieben geben, indem Einzelbetriebe von Wiedereinrichtern und Neueinrichtern entstehen und Unternehmen juristischer Personen in eine andere Rechtsform umgewandelt werden oder in Liquidation gehen. Allerdings zeichnet sich bereits jetzt ab, daß die Agrarwirtschaft in den neuen Bundesländern auch in Zukunft von Großbetrieben geprägt bleiben wird (vgl. Tab. 1). Die Bedeutung der etwa 24.600 Einzelunternehmen, begrifflich vergleichbar dem Familien-

Rüdiger Meimberg

384 Tabelle 1

Struktur der landwirtschaftlichen Betriebe" in den neuen und alten Bundesländern, 1995 Neue Bundesländer Betriebe 1.000 Insgesamt

30,2

I

Alte Bundesländer

Flache Mill.ha 5,5

Betriebe 1.000 523,0

1

Fläche Mill.ha 11,7

%-Verteilung auf Größenklassen von ... bis unter ... ha < 10 10 20 50 20 100 50 100 200 500 200 500 - 1.000 1.000 und mehr

-

45,1 11,1 10,8 7,2 7,8 7,9 4,3 5,8

0,9 0,9 1,9 2,9 6,2 13,5 17,1 56,7

44,9 18,6 24,8 9,4 2,3 b

8,3 12,2 35,5 28,6 15,4b

25,8 42,5 7,9 8,6 5,0 2,7 7,5

29,8 50,8 7,4 2,4 6,2 0,6 2,9

%-Verteilung auf Betriebsformen c Marktfrucht Futlerbau Veredlung Dauerkultur Gemischt Gartenbau Sonstige

38,8 35,4 3,4 1,5 6,3 7,1 7,8

55,8 29,9 1,0 0,4 11,7 0,2 1,1

a) Ab 1 ha. - b) 100 ha und mehr. - c) 1993. Quelle:

BMELF (1996), Berechnungen des ifo Instituts.

betrieb westdeutscher Prägung, ist mit einem Anteil von ca. 21 % an der landwirtschaftlich genutzten Fläche (LF) vergleichsweise gering geblieben (vgl. Tab. 2). Dabei ist zu berücksichtigen, daß darin zahlreiche Rückübereignungen enthalten sind, die wegen ihres geringen Flächenumfangs nicht als bewirtschaftete Betriebe im eigentlichen Sinne angesehen werden können. Etwa 60 % der Einzelunternehmen sind Nebenerwerbsbetriebe und sehr häufig mit nur wenig Fläche ausgestattet. Die ungefähr 8.500 im Haupterwerb bewirtschafteten Familienbetriebe in den neuen Ländern haben im Durchschnitt eine Größe von etwa 150 ha, die in Westdeutschland dagegen nur eine von etwa 36 ha. Weitere ca. 22 % der LF werden von Personengesellschaften bewirtschaftet, in denen mehrere Wieder- oder Neueinrichter Kooperationen eingegangen sind, wobei die Form der Gesellschaft bürgerlichen Rechts vorherrscht, aber auch die Form der Kommanditgesellschaft Bedeutung hat. Im Durchschnitt haben die Personengeseilschaften eine Unternehmensgröße von etwa 450 ha.

11

0,3

100,0

87

30.248

5.521

0,2 100,0

Quelle:

BMELF (1996), Berechnungen des ifo Instituts.

a) Betriebe mit 1 ha LF und mehr. - b) Einschließlich LPG in Liquidation.

Betriebe insgesamt

183

132

-1,5 5,9 -7,8 27,6

34,2 21,6 1,4 0,1

1.435 843 1.344 73

1.887 1.194 79 8

4,3 4,7 0,2 0,4

2,8

1.092

57,4

1.315 1.417 59 111

3.169

9,6

2.902

8,4

10,1

13,3

21

0,1

4

0,6

170

13,7 0,0 0,9

373 42 1.164

9,1

14,6 0,0 7,1

805 0 390

7,1 0,0 1,1

2.157 9 335

1Fläche 10 Größe

1,6

-25,5

-3,0 1,5 -2,8 -30,8

-1,4

-5,3

-6,2

-31,6

-1,5 -4,1 5,4 -45,5

-4,0

-16,0

-0,3 5,0 -4,0

-4,2 -4,1

5,1 7,4 13,5 0,0 -3,2

-2,3

6,3

Veränderung 1995 gegen 1994 in %

8,8 11,9

20,7 21,7

1.141 1.199

81,3 8,8

24.588 2.671

86

ha

o Größe Betriebe

46 449

42,4

2.341

90,1

%

27.259

Anzahl

1.000 ha

I

Fläche

%

I

Betriebe

36,7

-27,7

-5,1 11,0 1,6 70,5

3,2

43,3

-2,1

-59,1

-8,7 -6,0 -10,4 -44,5

-8,0

-24,0

-43,7

-3,8 -15,4 -11,8 -67,4

-10,8

-35,7

75,1 -75,0 3,6 -7,5

-5,9 -80,9 -14,4

38,3 35,9

41,1 67,4 86,4 44,4 21,0

-2,2 -18,9

37,1

42,9

-4,5

0 Größe

Veränderung 1993 gegen 1992 in %

Betriebel Fläche I

Landwirtschaftliche Betriebe" nach Rechtsformen in den neuen Bundesländern, 1995

NatOrliche Personen davon: Einzelunternehmen Personengesellschaften davon: Gesell.bOrgerl. Rechts OHG KG sonst. Personengesellschaften Juristische Personen des privaten Rechts davon: eingetragene Genossenschaften GmbH Aktiengesellschaften sonst. jur. Personen b Juristische Personen des öffentlichen Rechts

Rechtsform

Tabelle 2

w

01

CI)

;:::,

11)

:::T

;i C/I o

a. :E

~

11)

r

386

Rüdiger Meimberg

Dominierend sind nach wie vor die rund 2.900 Unternehmen der juristischen Personen des privaten Rechts, die etwa 57 % der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche bewirtschaften und rund 80 % der tierischen Produktion auf sich vereinigen. Gemessen am Flächenumfang haben die eingetragenen Genossenschaften die größte Bedeutung mit einer Durchnittsgröße von 1.435 ha, gemessen an der Zahl der Unternehmen ist die GmbH die am häufigsten vertretene Rechtsform mit einer Durchschnittsgröße von 843 ha, Aktiengesellschaften stellen vergleichsweise eine Ausnahme dar. Das Tempo der Strukturveränderung hat sich in den vergangenen Jahren deutlich vermindert (vgl. Tab. 2). Hatte die Anzahl der Einzelunternehmen 1993 gegenüber dem Vorjahr noch um 41 % und die auf sie entfallende Fläche um 38 % zugenommen, waren es 1995 nur noch ca. 9 % bei den Betrieben und ca. 17 % bei der Fläche. Auffallend ist der nach wie vor vergleichsweise hohe Zuwachs von Kooperationen in Form von Personengesellschaften, der 1995 gegenüber dem Vorjahr ca. 12 % bei den Betrieben und ca. 7 % bei der Fläche betrug.

2. Produktionsstruktur Die landwirtschaftliche Produktionsstruktur unterscheidet sich im Durchschnitt der neuen Länder deutlich von der in den alten Ländern (vgl. Tab. 3), auf die jeweils bestehenden regionalen Besonderheiten kann hier nicht eingegangen werden. Die Produktionsstruktur in den neuen Ländern ist gekennzeichnet durch einen mit 80 % sehr hohen Anteil des Ackerlandes an der Bodennutzung, dabei haben im Vergleich zum alten Bundesgebiet Ölfrüchte einen deutlich höheren und Getreide und Futterpflanzen einen niedrigeren Stellenwert. Etwa 15 % des Ackerlandes sind im Rahmen von agrarpolitischen Programmen als Brache aus der Produktion genommen worden und stillgelegt. Auffällig ist der niedrige Anteil der Futterflächen in den neuen Ländern. Dauergrünland und Futterpflanzen stellen zusammen nur ca. 30 % der LF gegenüber ca. 46 % im alten Bundesgebiet. Die Viehbestände sind in den neuen Ländern nach der Wiedervereinigung drastisch reduziert worden, da die Unternehmen liquide Mittel benötigten, aber auch weil damals Schwierigkeiten bei der Vermarktung ostdeutscher Agrarprodukte bestanden. Die Abnahme der Zahl der Milchkühe war mit 30 % am höchsten im Jahr 1991, mittlerweile hat sich der Bestand bei etwa 1 Mill. Tiere stabilisiert. Die Zahl der Mastschweine und der Zuchtsauen

387

Landwirtschaft Tabelle 3

Landwirtschaftliche Produktionsstruktur in den neuen Bundesländern, 1994 Neue Lander

Anzahl

I

%-Aufteilung der Flachen

% der BRD insgesamt

Neue Lander

Alte

I

Lander

LF= 100 %

1.000 ha: Landw. genutzte Flache (LF) Dauergrünland Wiesen Mahweiden Ackerland

5.456 1.040 308 473 4.388

31,5 19,7 13,4 26,7 37,2

Getreide Weizen Roggen Gerste Mais Hülsenfrüchte Hackfrüchte Kartoffeln Zuckerrüben Gemüse und Gartenbau Ölfrüchte Raps und Rüben Sonnenblumen Futterpflanzen Silomais Klee, Gras Brache c

2.041 863 380 622 38 56 198 60 133 15 801 621 149 569 334 204 688

32,7 35,5 52,6 30,1 11,0 58,7 24,0 20,6 26,7 16,0 62,2 58,7 78,9 32,1 27,7 39,6 47,8

1.000 Tiere: Rinder insgesamt Milchkühe Mastschweine Zuchtsauen Schafe

2.784 1.006 1.174 399 636

17,6 19,2 12,4 15,4 28,0

Milchanlieferung (1.000 t)

5.160

20,0

100,0· 100,0 19,1 35,7 b 29,6 469 b b 45,5 30:7 b 80,4 62,6 Ackerland = 100 % 46,5 19,7 8,7 14,2 0,9 1,3 4,5 1,4 3,0 0,3 18,3 14,2 3,4 13,0 7,6 4,7 15,7

56,5 21,2 4,6 19,5 4,1 0,5 8,4 3,1 4,9 1,1 6,6 5,9 0,5 16,2 11,7 4,2 10,1

a) 11,852 Mill. ha. - b) % des Dauergrünlandes. - c) Einschließlich Flachenstillegung. Quelle: BMELF, Berechnungen des ifo Instituts.

hatte 1991 um ca. 50 % bzw. ca. 27 % abgenommen, auch 1994 wurden noch erhebliche Rückgänge von 14 und 21 % verzeichnet, 1995 verminderten sich die Bestandszahlen gegenüber dem Vorjahr weiterhin um 6 % und 4 % (vgl. BMELF 1995). Schlechte Erzeugerpreise, Umweltauflagen, aber auch der hohe Kapitalbedarf beim Bau von Ställen sind u. a. Ursachen für die nach unten gerichtete Entwicklung der Tierbestände.

388

Rüdiger Meimberg

Entsprechend der Produktionsstruktur, die weitgehend auch von natürlichen Bedingungen bestimmt wird, haben in den neuen Bundesländern Marktfruchtbetriebe, in denen mehr als die Hälfte des Einkommens aus dem Anbau von Getreide, Ölsaaten, Kartoffeln u. ä. erwirtschaftet wird, deutlich höhere Bedeutung als Futterbaubetriebe, deren Einkommenspotential überwiegend die Rinder- oder Schafhaltung bildet, im alten Bundesgebiet sind die Verhältnisse umgekehrt (vgl. Tab. 1). Die Anzahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist im Zuge des Umstrukturierungsprozesses drastisch reduziert worden. Im Jahr 1995 waren in den Unternehmen der juristischen Personen mit ungefähr 90.000 voll beschäftigten Arbeitskräften 68 % weniger angestellt als 1991. In den Unternehmen der natürlichen Personen waren 1995 etwa 46.000 Familienangehörige vorwiegend als Teilbeschäftigte tätig (vgl. BMELF 1996). In den alten Ländern werden 100 ha LF durchschnittlich von etwa 4,8 Arbeitskräften bewirtschaftet, wobei die im Unterschied gegenüber Ostdeutsch land völlig andere Betriebs- und Produktionsstruktur mit hohen Anteilen an tierischer Veredlung den vergleichsweise hohen Wert erklärt. In den neuen Ländern lauten die Durchschnittszahlen bei den Unternehmen juristischer Personen 3,1 und in den Einzelunternehmen 2,3 Arbeitskräfte. Zwischen 1991 und 1995 wurde im früheren Bundesgebiet die betriebliche Arbeitsleistung in der Landwirtschaft um etwa 20 % vermindert, in den neuen Bundesländern dagegen um fast 60 %, allerdings hat sich dort die Abnahmerate erheblich abgeflacht und betrug 1995 gegenüber dem Vorjahr nur noch 2,4 % und war damit erstmals geringer als in den alten Ländern mit 7,1 % (vgl. BMELF 1996). Dennoch stellt unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten die hohe Gesamtbeschäftigung wegen des hohen Lohnaufwandes in den Unternehmen der juristischen Personen nach wie vor ein Problem dar. Ein wesentliches Merkmal der landwirtschaftlichen Unternehmen in den neuen Ländern ist der hohe Anteil an Pachtflächen von ca. 90 %, im alten Bundesgebiet beträgt dieser Anteil nur 45 %. Die Vorläufigkeit von Eigentumsrückübertragungen sowie die Tatsache, daß zahlreiche an die Eigentümer zurückgegebene Flächen nicht selbst bewirtschaftet werden, sondern an die Rechtsnachfolgeunternehmen der früheren LPGen verpachtet sind, sind Ursachen dafür. Dazu kommt, daß 1,3 Mill. ha ehemals volkseigene Flächen verfügbar sind, die von der Treuhand bzw. der Bodenverwertungs- und -verwaltungsgesellschaft (BWG) zu etwa 80 % langfristig verpachtet worden sind (vgl. BMELF 1995).

Landwirtschaft

389

3. Wirtschaftsergebnisse der Unternehmen Die im Agrarbericht der Bundesregierung ausgewerteten Betriebsergebnisse der landwirtschaftlichen Unternehmen in den neuen Bundesländern können nur als Orientierungsgrößen dienen (vgl. BMELF 1996). Sie lassen noch keine gesicherten Aussagen über die nachhaltige wirtschaftliche Lage der Betriebe in den verschiedenen Rechtsformen zu, insbesondere können sie nicht als repräsentativ angesehen werden, weil die Stichprobe noch nicht ausreichend groß ist. Da sich die Anzahl und die Struktur der Testbetriebe jährlich weiterhin stark ändert sind auch Vergleiche mit Vorjahren eingeschränkt. Die in der Aufbauphase der Unternehmen bestehenden besonderen Bedingungen bei der Vermögensbewertung, bei der Erfassung von Erlösen und Aufwendungen, des Arbeitseinsatzes u. a. beeinträchtigen den Aussagewert der betriebswirtschaftlichen Ergebnisse. Nicht nur aus diesen Gründen ist ein Vergleich mit den Wirtschaftsergebnissen der für Westdeutschland ausgewerteten Betriebe unzulässig. Insbesondere aus den erheblichen Unterschieden in den Betriebsgrößen, im Arbeitseinsatz, in Erträgen, Preisen und Aufwendungen sowie in der Produktionsstruktur vor allem bei der Tierhaltung u. a. resultieren Vorbehalte und Bedenken gegen eine direkte Gegenüberstellung. Eine Bewertung der ost- und westdeutschen Vollerwerbsbetriebe (Familienbetriebe) in Richtung "besser" oder "schlechter" ergibt daher wenig Sinn. Die Durchschnittsgewinne der Einzelunternehmen mit Schwerpunkt Futterbau (Milcherzeugung) waren 1994/95 mit 46.600 DM um 51 % deutlich niedriger als die der Betriebe mit Schwerpunkt Marktfrucht (Getreide, Ölsaaten u. a.) mit 91.300 DM (vgl. Tab. 4). Letztere erreichen aufgrund ihrer Betriebsgröße und ihres niedrigeren Arbeitskräfteeinsatzes eine sehr viel bessere Einkommenssituation. Allerdings waren die auf den ha LF bezogenen Durchschnittsgewinne der Futterbaubetriebe um 24 % höher, denn ihren höheren Aufwendungen je ha stehen auch bessere Erträge gegenüber (vgl. Abb. 1). Die Unternehmen der juristischen Personen sind in der Umstrukturierungsphase mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, die sich in den betriebswirtschaftlichen Ergebnissen niederschlagen. Sie erwirtschafteten 1994/95 im Durchschnitt Verluste (vgl. Tab. 4), die in nicht wenigen Unternehmen recht hoch sind. Marktfruchtbetriebe schnitten etwas besser ab als Futterbaubetriebe. In Unternehmen mit Gewinnen sind diese sehr oft nur bescheiden. Der Begriff "Gewinn" hat bei den Unternehmensformen einen unterschiedlichen 26 Wiedervereinigung

390

Rüdiger Meimberg

Tabelle 4

Wirtschaftliche Situation der Unternehmens- und Produktionsformen, 1994/95 (neue Bundesländer)

Position

Betriebsgröße Wirtschaftsgröße (StBE)' Arbeitskräfte (AK) Arbeitskräftebesatz Bilanzvermögen Anlagevermögen o. Vieh Viehvermögen Umlaufvermögen o. Vieh Unternehmensertrag Bodenerzeugnisse Tierische Erzeugnisse Unternehmensaufwand Spezialaufwand g Abschreibung sonst. Sachaufwand Löhne und Sozialabgab. Pachten Zinsen Bruttoinvestitionen Nettoinvestitionen Eigenkapital Fremdkapital langfristig kurzfristig Eigenkapitalveränderung (Bilanz) Verschuldung" Betriebseinkommen' Gewinn je Unternehmen Gewinn je ha LF Gewinn je AK Gewinn + Fremdlöhne je Unternehmen Gewinn + Fremdlöhne je ha LF Gewinn + Fremdlöhne jeAK Erwerbseinkommen' Gesamteinkommen k

Einheit

Juristische Personen

Personengesellschaften

EinzeIunternehmen

Markt- ,1 FutterMarkt- ,11 FutterMarkt- ,11 Futterfruchtbaufruchtbaufruchtbaubetriebe" betriebe" betriebe" betriebe" betriebe" betriebe"

ha LF 1.000 DM AK-Einheiten AK/100 ha 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 DM· 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 DM" 1.000 OMa 1.000 DM" 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 OMa 1.000 DM" 1.000 OMa 1.000 OMa

2.041 2.101 40,29 1,97 10.407 5.558 782 3.551 5.711 2.759 1.339 5.707 1.441 641 1.550 1.557 396 84 1.357 314 6.035 2.953 865 1.635

1.490 1.582 49,58 3,3 10.123 5.406 1.511 2.929 5.638 1.235 2.770 5.699 1.635 581 1.412 1.798 192 60 1.505 389 6.051 2.996 884 1.608

594 462 5,6 0,94 2.064 1.132 87 827 1.288 953 111 1.022 311 127 273 154 125 32 379 175 1.066 934 493 302

264 256 4,34 1,64 1.755 1.055 348 334 817 190 482 725 261 85 210 88 40 40 264 130 564 1.158 479 323

220 148 2,23 1,01 988 662 42 277 444 312 42 353 105 58 102 29 43 16 161 66 589 390 153 125

91 75 1,97 2,17 800 542 145 109 256 38 165 209 74 36 64 15 9 11 106 43 486 307 178 60

1.000 OMa % 1.000DM b 1.000DM b DM/ha 1.000DM c

231 28,4 1.937 3 2 0

298 29,6 1.883 -62 -41 -1

109 45,2 569 266 448 48

26 66,0 257 91 346 21

37 39,4 176 91 416 41

21 38,3 80 47 514 24

1.000 DM"

1.487

1.692

400

172

114

59

DM/ha

729

1.135

672

650

517

648

1.000DM c 1.000DM d 1.000DM d

37

34

71

40

51 94 110

30 48 57

a) Je Unternehmen. - b) Je Betrieb. - c) Je Arbeitskraft. - d) Je Inhaberehepaar. - e) Mehr als 50 % des Einkommenspotentials werden durch Ackerbauprodukte bzw. Produkte der Rinderhaltung bestimmt. f) Standardbetriebseinkommen (StBE) als Maßstab für die Wirtschaftsgröße bzw. für das Einkommenspotential, als Entgelt für den Einsatz von Kapital und Arbeit sowie für Betriebsleitertätigkeit berechnet mit standardisierten Beträgen für Bruttoleistungen und Spezialkosten. - g) Düngemittel, Pflanzenschutz, Viehzukauf, Futtermittel u. ä. - h) Fremdkapital in % des Bilanzvermögens ohne Rückstellungen bei juristischen Personen von 1.284 bzw. 1.045 Tsd. DM. - i) Betriebseinkommen Betriebsertrag minus Sachaufwand, jeweils ohne Zinsen und Pachten. - j) Gewinn plus Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit + Einkünfte aus Gewerbebetrieb. - k) Erwerbseinkommen plus Einkünfte aus Privatvermögen, Vermietung und Verpachtung plus Übertragungen (Kindergeld u. ä.) und Altersrenten.

=

Quelle: BMELF (1996), Berechnungen des ifo Instituts.

391

Landwirtschaft

Abbildung 1 Wirtschaftliche Situation der Unternehmens- und Produktionsformen 1994/95

t

1000 DM/ha LF

4,: 3,5

Marktfruchtbetriebe

+

3 2,5

2 1,5

+-L

0,: ~,",- -~ I ,,-,

j

JOl

J

j

j

I

-cJ

I

Ertrag Lohnaufwand Gewinn plus Löhne Fremdkapital Aufwand ohne Löhne Gewinn Nettoinvestitionen Eigenkapitalverander.

1_

Juristische Persone;;--- 0

L ]

Einzelunternehmen

Futterbaubetriebe

1000 DMlha LF 4,5

Personengesellschaften

T

4i

:n

-

1,5

0,5

o

--

-0,5 t---;.-==-::-- + - - ----.-t== 'c=':.-- -,.;-:=±"=-::-::-;:-:=-;----;k-::_:_ Ertrag Lohnaufwand Gewinn plus Lohne FremdkaPffti Aufwand ohne Löhne Gewinn Nettoinvestitionen Eigenkapitalverander.



Urlstiscne Personen

Quelle: BMELF (1996), 26'

Personengesellschaften

D

Einzelunternehmen

Rüdiger Meimberg

392

Inhalt, denn im Einzelunternehmen sind daraus noch die Familienarbeitskräfte zu entlohnen, während in den Unternehmen juristischer Personen die Lohnaufwendungen bereits abgezogen sind. Der Gewinn zuzüglich Fremdlöhne als Maßstab für das Entgelt für Kapital und Arbeit ist daher das geeignetere Vergleichskriterium. Zwar ist der auf den ha LF bezogene Aufwand ohne Lohnkosten im Durchschnitt der Unternehmen juristischer Personen höher als bei den anderen Unternehmensformen, dem stehen jedoch auch deutlich bessere Erträge gegenüber. Der Gewinn plus Fremdlöhne je ha LF erreicht daher bessere Durchschnittswerte als in den anderen Unternehmensgruppen. Durch die große Belastung mit Lohnaufwand wegen des etwa doppelt so hohen Arbeitskräftebesatzes verändert sich das Bild und der "Gewinn" wird negativ (vgl. Abb. 2, Tab. 4). Abbildung 2

Wirtschaftliche Situation der Unternehmensformen 1994/95 100 DM/ha. 10.000 DMIAK

1.000 DM/ha 4

10

I

9 1

3.5

B '

:1

2.5

!

2

5 I I

4 i

1.5

I

3 ,

1 I I 0 '

J

Gewinn + Löhne je ha LF

• Juristische Personen Einzeluntemehmen

j

0,: Gewinn + LOhne je AK • Personengesellschallenl

Investitionen je ha

I_ 'I

Fremdkap~al

Juristische Personen I E,nzeluntemehmen

je ha

_ Personengesellschallen

Quelle: BMELF (1996).

Im Laufe des Wirtschaftsjahres 1994/95 wurden in den Unternehmen der juristischen Personen durch Tilgung lang- und mittelfristiger Kredite und durch Treuhandentschuldung sowie bilanzielie Entlastungen Verbindlichkeiten abgebaut. Im Durchschnitt der im Agrarbericht ausgewerteten Unternehmen war die Aufnahme neuer Verbindlichkeiten zwar höher als die Tilgung, dennoch konnte im Durchschnitt Eigenkapitalbildung ausgewiesen werden. Die Verschuldung

Landwirtschaft

393

(Fremd kapital in % des Bilanzvermögens) der Unternehmen juristischer Personen ist mit durchschnittlich 29 % deutlich niedriger als bei den anderen Unterformen, allerdings sind dabei Rückstellungen nicht berücksichtigt. Etwa die Hälfte der Unternehmen nimmt für Altkredite die bilanzielle Entlastung in Anspruch. Die bilanzielle Entlastung stellt einen Zahlungsaufschub durch eine Rangrücktrittsvereinbarung (Besserungsschein) dar, indem nur im Falle der Erzielung eines Gewinns die Altschulden mit einem Teil dieses Gewinns bedient werden müssen (vgl. Tholen 1994). Die Entlastung ist an ein Entwicklungskonzept gebunden, aus dem eine angemessene Eigenkapitalbildung erkennbar ist, außerdem sind zur Aufrechterhaltung des Betriebs nicht notwendige Vermögenswerte, wie z. B. Wohnungseigentum, zu veräußern. Der aus der bilanziellen Verminderung des Fremdkapitals resultierende Eigenkapitalzuwachs ist nicht frei verfügbar, sondern ist in eine Sonderrücklage zu stellen, die nur zum Verlustausgleich oder zur Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln verwenden werden kann. Dennoch belasten die Altkredite die Unternehmen. Werden Gewinnanteile zur Altschuldentilgung verwendet, wird die Eigenkapitalbildung vermindert und für eine Neukreditaufnahme stehen weniger Mittel für den Kapitaldienst zur Verfügung. Andererseits wird die Kreditfähigkeit dann geschmälert, wenn zur Vermeidung von Rückzahlungen die Bilanzen niedrige oder keine Gewinne ausweisen. Ungefähr 1.400 Betriebe, d. h. etwa die Hälfte der Unternehmen juristischer Personen, erfüllen die Voraussetzung zur bilanziellen Entlastung von Altschulden in einer durchschnittlichen Höhe von 2,4 Mill. DM (1.300 DM je ha LF). Dabei besteht allerdings eine große Streubreite. Ein Drittel der Unternehmen ist nur sehr gering belastet, bei einem Drittel gelten die Altschulden als betriebswirtschaftlich verkraftbar, etwa ein Drittel der Unternehmen ist allerdings derart stark verschuldet, daß ihr langfristiges Bestehen fraglich ist. Neben den Altkreditbelastungen gelten häufig ungeklärte Eigentumsverhältnisse wegen zu geringer Sicherheit der Produktionsgrundlagen und in Verbindung damit eingeschränkter Kreditfähigkeit als Entwicklungshemmnis der Unternehmen juristischer Personen. Allerdings gibt es keine umfassenden Informationen über das allgemeine Ausmaß dieses Problems und über seine reale Bedeutung für die Unternehmen. Die Unternehmen der verschiedenen Rechtsformen weisen eine recht unterschiedliche Investitionstätigkeit auf, dies wird deutlich, wenn die Werte auf den ha LF bezogen werden (vgl. Tab. 5). Die Einzelunternehmen und Personenge-

Rüdiger Meimberg

394

Tabelle 5

Bruttoinvestitionen in Gebäude und Maschinen, nach Rechts- und Betriebsformen Investitionen DM/ha LF 1991/ 1992

1992/ 1993

Einzelunternehmen Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

1.267 229 719 64

764 238 414 33

Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

2.600 875 1.074 434

1.757 740 660 223

Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

1.607 393 812 61

1.024 370 479 82

Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

1.380 215 887 90

606 187 320 58

Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

2.628 1.365 722 418

Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

Veränderung gegen Vorjahr in% 1993/ 1994/ 1992/ 1993/ 1994/ 1994 1995 1993 1994 1995 Marktfruchtbetriebe 773 734 -39,7 1,2 -5,0 208 253 3,9 -12,6 21,6 419 -42,4 1,2 -6,9 390 23 18 -48,4 -30,3 -21,7 Futterbaubetriebe 1.166 -32,4 1.444 495 -15,4 632 456 -38,5 577 111 151 -48,6

-17,8 -14,6 -12,6 -50,2

-19,3 -21,7 -21,0 36,0

-7,3 -14,7 -3,8 -43,9

-10,9 -0,6 -11,3 13,0

-56,1 -13,0 -63,9 -35,6

-22,4 -30,5 2,5 -67,2

35,7 15,4 14,6 10,5

1.763 881 593 222

Futterbaubetriebe 1.453 1.001 -32,9 671 418 -35,5 -17,9 526 389 104 -46,9 124

-17,6 -23,8 -11,3 -44,1

-31,1 -37,7 -26,0 -16,1

1.619 462 822 150

862 340 382 92

Betriebe insgesamt 761 -46,8 819 -26,4 332 238 400 383 -53,5 -38,7 53 50

-5,0 -2,4 4,7 -42,4

-7,1 -28,3 -4,3 -5,7

Juristische Personen Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

396 171 325 -42

376 161 243 -17

Marktfruchtbetriebe -5,1 535 665 157 279 -5,8 281 254 -25,2 -10 -4

42,3 -2,5 15,6

24,3 77,7 -9,6

Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

477 296 322 -183

548 181 318 -18

37,6 19,3 12,6

34,0 109,3 -0,6 88,5

Investitionen insgesamt Wirtschaftsgebäude Maschinen, Geräte Vieh"

461 240 329 -112

465 169 280 -16

38,7 14,8 10,7

34,3 94,3 0,3

Personengesellschaften

Betriebe 949 317 461 46

insgesamt 846 -36,3 315 -5,9 409 -41,0 52 34,4

Marktfruchtbetriebe 470 130 328 19

638 150 376 21

Futterbaubetriebe 14,9 754 1.010 216 452 -38,9 -1,2 358 356 26 49 Betriebe insgesamt 0,9 645 866 194 377 -29,6 310 311 -14,9 1 26

a) Zukauf abzüglich Abgänge.

Quelle: BMELF (1996), Berechnungen des ifo Instituts.

Landwirtschaft

395

seilschaften haben auch 1994/95 im Durchschnitt erhebliche Investitionen vorgenommen, allerdings erneut etwas weniger als im Vorjahr. Die Unternehmen der juristischen Personen haben ihre Investitionen erhöht, die Durchschnittswerte erreichten ertsmals ein den beiden anderen Unternehmensformen vergleichbares Niveau. Auffällig sind die nach wie vor vergleichsweise niedrigen Gebäudeinvestitionen bei den Futterbaubetrieben der juristischen Personen. Während bei den Einzelunternehmen und den Personengesellschaften die Investitionsintensität im Durchschnitt der Betriebe nachzulassen scheint, steigt sie bei den Unternehmen der juristischen Personen an, dennoch dürfte hier nach wie vor ein erheblicher Nachholbedarf bestehen.

4. Finanzielle Förderung des ländlichen Raums Die neuen Bundesländer sind von der EU als besonders strukturschwache Regionen anerkannt, die nach Ziel 1 der Strukturfonds der Europäischen Union "Entwicklung und strukturelle Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand" gefördert werden, wobei die EU-Fördersätze bis zu 75 % der Gesamtkosten betragen können und mindestens 50 % der öffentlichen Ausgaben betragen müssen. Für den sechsjährigen Zeitraum 1994 bis 1999 werden aus dem EU-Ausrichtungs- und Garantiefonds, Abt. Ausrichtung (EAGFL-A) sowie dem EU-Regional- (EFRE) und dem EU-Sozialfonds (ESF) insgesamt ca. 6,3 Mrd. DM für die Landwirtschaft und die ländlichen Räume in den neuen Ländern zur Verfügung gestellt, die durch entsprechende nationale Mittel zu ergänzen sind (vgl. BMELF 1995). Diese werden überwiegend über die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" (GAK) und über zusätzliche Landesmittel in Höhe von zusammen 3,2 Mrd. DM bereitgestellt. Bei Beanspruchung der Fördermittel sind von privater Seite etwa 11,2 Mrd. DM aufzubringen, so daß innerhalb des sechsjährigen Zeitraums ein Investitionsvolumen von ungefähr 21 Mrd. DM entsteht. Von den EU-Mitteln entfallen auf Brandenburg 1,4 Mrd. DM, auf Mecklenburg-Vorpommern 1,3 Mrd. DM, auf Sachsen 1,2 Mrd. DM, auf Sachsen-Anhalt 1,1 Mrd. DM und auf Thüringen 1,0 Mrd. DM. Die zusätzlichen Mittel werden überwiegend für Maßnahmen eingesetzt, die bereits Gegenstand der Förderung durch die GAK sind. Dabei soll allerdings mit 42 % der Anteil für ländliche Infrastruktur, Entwicklung ländlicher Räume,

396

Rüdiger Meimberg

Agrartourismus, Flurneuordnung, Wegebau und Dorferneuerung etwas höher veranschlagt werden (vgl. BMELF 1995). Die Ausgabenstruktur der GAK zeigt deutlich unterschiedliche Schwerpunkte zwischen den neuen und den alten Bundesländern (vgl. Tab. 6). Zwar sind auch in den neuen Ländern die Finanzhilfen im Bereich der landwirtschaftlichen Einzelbetriebe umfangreich, beanspruchten jedoch 1994 mit etwa 37 % einen geringeren Anteil an den GAKMitteln als in den alten Ländern mit 51 %. Demgegenüber haben wasserwirtschaftliche und kulturbautechnische Maßnahmen mit etwa 29 % und insbesondere die Dorferneuerung mit etwa 13 % der GAK-Mittel sehr viel mehr Bedeutung als im früheren Bundesgebiet mit 19 % und 5 %. Zusätzlich sind für den ländlichen Raum in den neuen Bundesländern bis 1999 aus der EU-Initiative LEADER (Aktion zur ländlichen Entwicklung) 154 Mill. DM und aus der EU-Initiative INTERREG (Entwicklung von Grenzregionen, grenzübergreifende Zusammenarbeit und ausgewählte Energienetze) 82 Mill. DM vorgesehen (vgl. BMELF 1995).

5. Fazit: Die Entwicklung der ländlichen Räume ist noch unbefriedigend Es ist schwierig, einen genauen Überblick über Tempo, Richtung und Ergebnisse der Entwicklung der Landwirtschaft in den neuen Ländern zu vermitteln, dies sowohl in bezug auf die landwirtschaftlichen Betriebe im einzelnen als auch in bezug auf die ländlichen Räume - Dörfer, Infrastruktur, Landschaftsgestaltung, ökologische Werte u. ä. - im allgemeinen. Die Probleme sind zu zahlreich und zu vielschichtig, da die jeweiligen Zustände in den einzelnen Unternehmen und die jeweiligen Bedingungen in den ländlichen Gebieten eine sehr große Spannweite haben. Die Ausprägung der Agrarstruktur hängt ganz entscheidend davon ab, welche Rechtsformen, Betriebsgrößen und Produktionstypen sich auf der Ebene der landwirtschaftlichen Betriebe herausbilden und sich weiterhin bewähren werden. Nach Analysen betriebswirtschaftlicher Kriterien und nach der langjährigen Praxis der Agrarpolitik nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in der Europäischen Union insgesamt, gilt vielfach der bäuerliche Familienbetrieb mit

37,3 30,8 6,4 0,1 8,2 0,0 16,0 1,7 14,3

27,9 24,8 2,9 0,3 7,8

3,8 11,5 1,8 9,6

262,4 5,3 0,0 31,3 3,1 4,9 5,0 2,3 0,2 0,7 15,1 2,0

I

1,4 1,8 39,8 2,1 11,0 2,8 3,3 0,2 0,3 20,1 5,9

296,3

I

0,0 8,9 1,8 7,1

43,3 41,8 1,2 0,2 5,1

0,3 1,3 36,9 2,8 10,8 3,7 2,6 0,7 0,6 15,6 4,4

188,7

I

3,7 30,3 2,2 28,1

8,9 8,9 0,0 0,0 8,5

5,9 0,6 38,2 3,4 19,5 4,4 1,9 0,3 0,2 8,5 3,9

192,2

I

%

0,3 9,5 1,7 7,8

22,2 17,3 2,8 2,2 17,5

6,0 0,5 39,8 2,5 12,8 3,3 2,5 0,6 0,9 17,3 4,1

168,1

Mill. DM = 100

Mecklen-I Sachsen I Sachsen- I Thüringen Branden- I burg-Vorburg pommern Anhalt

1,7 15,0 1,8 13,2

28,5 25,1 2,9 0,5 9,2

3,6 0,9 36,9 2,7 11,2 3,8 2,6 0,4 0,5 15,7 4,1

1.110,5

neue Länder

I

I

0,8 4,9 0,2 4,6

18,7 17,6 0,7 0,4 3,4

14,8 0,1 50,9 5,6 6,0 6,6 0,0 0,0 0,6 32,1 6,4

1245,4

I

alte I Länder insgesamt

1,3 9,7 1,0 8,6

23,3 21,2 1,7 0,4 6,1

9,5 0,5 44,3 4,2 8,5 5,3 1,2 0,2 0,6 24,4 5,3

2.355,9

BRD

Quelle:

BMELF (1996), Berechnungen des ifo Instituts.

a) Istausgaben nur Anteil des Bundes in Höhe von 60 %, die Länder tragen die verbleibenden 40 %. - b) Ohne Küstenschutz in Höhe von 144 Mill. DM insgesamt. - c) Dazu kommen noch Mittel aus dem Sonderrahmenplan für Stillegung von Ackerflächen, zur Extensivierung und Prämien der Mutlerkuhhaltung in Höhe von insgesamt 82 Mill. DM in den neuen Ländern und 227 Mill. DM in den alten Ländern, als Maßnahmen zur Anpassung an die Marktentwicklung. - d) An Einzelunternehmen, in den neuen Ländern an Wiedereinrichter. - e) Hilfen zur Umstrukturierung von landwirtschaftlichen Unternehmen juristischer Personen. - f) Ausgleichszulage an die Landwirtschaft in benachteiligten Gebieten.

Flurbereinigung Agrarstrukturelle Vorplanung Einzelbetriebliche Maßnahmen Zinsverbilligungend Förderdarlehen d Zuweisungen Investitionend UmstrukturierungO Energieeinsparungen Agrarkreditprogramm Ausgleichszulage' Rationalisierung im Erzeugungsbereich Wasserwirtschaftliche und kulturbautechnische Maßnahmen Wasserwirtschaft Wirtschaftswege Forstwegebau Verbesserung der Marktstruktur Markt- und standortangepaßte Landwirtschaft Sonstige Maßnahmen Umstellungs- und Anpassungshilfe Dorferneuerung

Gemeinschaftsaufgabe insgesamt·· e

Zweckbestimmung

Tabelle 6 Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"8, 1994

Q)

co .....,

(,.)

==

Q)

~

;i In o

:E

::J Co

r

398

Rüdiger Meimberg

einer an der Arbeitskapazität einer Familie orientierten Größe und technischen Ausstattung als die Unternehmensform, die für die Landbewirtschaftung am effizientesten ist. Andererseits belegen, wie eigentlich nicht anders zu erwarten, zahlreiche Betriebsergebnisse, daß Landwirtschaft auch in Großbetrieben erfolgreich betrieben werden kann. Allerdings müssen die meist sehr großen Genossenschaften und Kapitalgesellschaften die landwirtschaftlichen Produktionsbereiche nach Umfang und Art neu kombinieren, so daß überschaubare Einheiten entstehen, in denen Effekte der Kostendegression noch genutzt werden können. Die Suche nach der "optimalen" Betriebsgröße und Arbeitsverfassung in der Landwirtschaft erhält einen neuen Stellenwert, sowohl aus agrarpolitischer als auch aus agrarwissenschaftlicher Sicht, und kann generell als nicht abgeschlossen angesehen werden. Im Hinblick auf die Qualität der ländlichen Räume kommt es darauf an, ob es gelingt, die Wohn-, Arbeits-, Sozial- und Kulturfunktionen der Dörfer und der ländlichen Kleinstädte derart zu gestalten, daß die infrastrukturellen und die ökologischen Grundlagen der ländlichen Räume tragfähig erhalten und weiter entwickelt werden können (vgl. BMBau 1994). Die ehemaligen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften hatten früher wesentliche Aufgaben in sämtlichen Bereichen der ländlichen Gemeinden wahrgenommen. Ihre Umstrukturierung und die Beschränkung der landwirtschaftlichen Betriebe auf ihre eigentliche Funktion der Agrarproduktion hatte erhebliche Auswirkungen auf die Dorfstrukturen, insbesondere war sie verbunden mit der Freisetzung einer großen Zahl von Arbeitskräften, was wiederum die Abwanderung ländlicher Bevölkerung zur Folge hatte. Unzureichende Infrastrukturausstattung, Umweltbelastungen und weiter verfallende Bausubstanz kennzeichnen die Standortqualität im ländlichen Raum. Ausgeräumte Landschaften und die Auflösung traditioneller Siedlungsstrukturen weisen in den neuen Bundesländern auf eine fortgeschrittene Verarmung der landeskulturellen Prägung hin. Andererseits sind jedoch auch noch Landschafts- und Siedlungsbilder vorhanden, deren seit Jahren unverändertes Gefüge ("Idylle") als erhaltenswert angesehen werden muß. Eine Wiederbelebung der ländlichen Räume unter dem Synonym "Land Wirtschaft" wird für eine dringliche Aufgabe gehalten, um den Verfall in eine neue Entwicklung umzukehren (vgl. RiedellSchulz 1995). Dabei hat der Aufbau einer mittelständischen Wirtschaft einen hohen Stellenwert.

Landwirtschaft

399

Dem Instrument der Dorferneuerung kommt in diesem gesamten Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu (vgl. Lenk 1994). Zunächst einmal unabhängig von der konkreten Ausgestaltung und von dem Wert einer einzelnen Maßnahme für die Betroffenen stellt sie grundsätzlich eine notwendige Ergänzung zur Förderung eigenständiger gewinnorientierter landwirtschaftlicher Unternehmen dar. Denn sowohl die Landbewirtschaftung als auch die übrige Besiedlung mit ihren unterschiedlichen Funktionen bestimmen im wesentlichen die Qualität der ländlichen Räume. Die der Dorferneuerung beigemessene Bedeutung wird auch in ihrem hohen Anteil der Ausgaben im Rahmen der GAK und der Verwendung der EU-Mittel dokumentiert. Die Landwirtschaft und die ländlichen Räume der neuen Bundesländer sind in einem tiefgreifenden und sich sehr schnell vollziehenden Strukturwandel begriffen. Er wird von einer beeindruckenden Vielzahl von Programmen, Konzepten, Maßnahmen, Richtlinien, Gesetzen u. a. auf EU-, Bundes- und Länderebene sowie von privatwirtschaftlichen Initiativen begleitet, die sich nicht auf den Agrarbereich speziell beschränken. Allerdings benötigen die eingeleiteten Entwicklungsprozesse weiterhin ein hohes Maß von Engagement und Geduld.

Literatur BMBau - Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (1994): Raumordnungsbericht 1993, Bonn. BMELF - Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (1995): Die Agrarwirtschaft in den neuen Ländern, in: AGRA-EUROPE 36/95, Dokumentation vom 4. September 1995. BMELF - Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (1996): Agrarbericht 1996 - Agrar- und Ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung, Bonn. BMELF - Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Statistischer Monatsbericht, versch. Hefte.

400

Rüdiger Meimberg

Lenk, E. (1994): Lösungswege einer sinnvollen Dorferneuerung in den neuen Ländern, in: AID-Informationen für die Agrarberatung (2)11. Riedei, J.lSchulz,K.J. (1995): Auterwitz: Dorf und Landschaft im Umbruch, Stuttgart. Tholen, K.-H. (1994): Altschuldenregelung für landwirtschaftliche Unternehmen des Beitrittgebiets - eine Zwischenbilanz, in: AID-Informationen für die Agrarberatung (2)11.

Industrie: Rasche Angleichung an die westdeutsche Beschäftigtenstruktur Von Bernhard Pieper

Die Erinnerung an die überwältigenden Erfolge der westdeutschen Wirtschaftsreform vom Juni 1948 war noch gut präsent, als sich die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung abzeichnete. Sie prägte bei vielen die optimistischen Erwartungen über eine rasche Angleichung der Lebensverhältnisse und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf Westniveau. Sollte die ostdeutsche Wirtschaft mit der Einführung werthaItigen Geldes und der Beseitigung planwirtschaftlicher Zwänge nicht genauso aufblühen wie seinerzeit die Wirtschaft im Westen?1 In der zweiten Jahreshälfte 1948 stieg in der Bizone die Industrieproduktion mit einer Jahresrate von 137 %. Die Investitionen boomten. Der Kapitalstock wuchs im gleichen Zeitraum mit einer Jahresrate von 5,6 %. Auch der Arbeitsmarkt kam in Bewegung. Schrumpfende Branchen, die vom administrierten Preissystem und anderen verzerrenden Regelungen der Bewirtschaftung profitiert hatten, bauten allein in den ersten sechs Monaten nach der Währungsreform ca. 370.000 Stellen ab. Dieser Verlust wurde allerdings durch 600.000 neue Arbeitsplätze in wachsenden Industriezweigen weit überkompensiert (vgl. Schmieding 1990). Vor dem Hintergrund der hochgesteckten Erwartungen war die tatsächliche Entwicklung in Ostdeutschland umso enttäuschender. Mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 setzte ein zwei Jahre anhaltender dramatischer industrieller Schrumpfungsprozeß ein. Die Industrieproduktion sank bis Mitte 1991 auf ein Drittel des Niveaus von 1989. Gleichzeitig ging die Es gab auch warnende Stimmen wie z. B. Hoffmann (1990), Siebert (1990), Sinn/Sinn (1991).

402

Bernhard Pieper

Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe um 50 % zurück mit weiter fallender Tendenz. Sechs Jahre nach der Vereinigung ist die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern erneut über das Vorjahresniveau gestiegen auf nunmehr 15,5 %, und das trotz des seit der zweiten Jahreshälfte 1991 anhaltenden Aufschwungs in der Industrie, einer boomenden Bauwirtschaft, die allerdings deutliche Ermüdungserscheinungen zeigt, und kräftiger Beschäftigungszuwächse bei den Dienstleistungen. Gegenüber 1989 fand in den neuen Ländern ein Rückgang der Erwerbstätigen um 35 % statt. Gleichsam als Kehrseite der gravierenden Transformationsprobleme wurden aus Westdeutsch land umfangreiche Transferzahlungen in die neuen Länder veranlaßt. Mittels einer umfangreichen Palette von Fördermaßnahmen sollte die Umstrukturierung beschleunigt und die einhergehenden sozialen Härten gelindert werden. 2 Von 1991 bis 1996 flossen öffentliche Mittel in Höhe von knapp 1 Billion DM (brutto) nach Ostdeutschland. Dies entspricht einem Betrag von etwa 64.000 DM für jeden Einwohner der Förderregion. 3 Die Ursachen für die Probleme bei der industriellen Umstrukturierung sind bereits ausführlich behandelt worden (vgl. Akerlof et al. 1991, Sinn/Sinn 1991). Die beiden entscheidenden Ursachen bestehen erstens in den zu hohen Löhnen im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit des durch neue Preisrelationen und veränderte Produktanforderungen weitgehend entwerteten Kapitalstocks bzw. zur Qualität der Produktion. Zweitens machte zumindest zu Reformbeginn das Fehlen adäquater Vertriebssysteme den Unternehmen schwer zu schaffen. 4 Auch an wirtschaftspolitischen Empfehlungen und Aktivitäten zur Überwindung

Ausführlich dazu die Beiträge von Schaden/Schreiber und RiedellWiesner im vorliegenden Band. Nach Abzug von Steuer- und Verwaltungsmehreinnahmen beim Bund summieren sich die öffentlichen Finanztransfers für Ostdeutschland zwischen 1991 und 1996 auf 749 Mrd. DM bzw. ca. 48.000 DM je Einwohner der Förderregion. Die meisten der übrigen Mufig genannten Erklärungsfaktoren, wie z. B. Probleme bei der Finanzierung von Investitionen, Konkurrenz durch westliche Anbieter und der Zusammenbruch des RGW-Handels im Verlauf des Jahres 1991, lassen sich letztlich auf diese beiden Faktoren zurückführen. Während die Exporte aus den neuen Ländern nach Mittel- und Osteuropa (inkl. Sowjetunion) von 1990 bis 1992 auf ein Viertel ihres Ausgangswertes sanken, nahmen die Ausfuhren Westdeutschlands in diese Region um knapp 30 % zu. Die Absatzbemühungen ostdeutscher Unternehmen scheiterten also nicht primär an der fehlenden Zahlungsfähigkeit der ehemaligen RGW-Partner (Devisenknappheit), sondern an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte.

Industrie

403

der Misere besteht kein Mangel (vgl. Sinn/Sinn 1991, Barth 1995). Eine erneute Darstellung dieser Thematik an dieser Stelle erübrigt sich deshalb. Stattdessen soll hier der Frage nach der Struktur der Beschäftigung in der ostdeutschen Industrie und deren Entwicklung seit der Wiedervereinigung nachgegangen werden. Welche Unterschiede bestehen zwischen Ost und West hinsichtlich des Gewichts einzelner Gütergruppen und Wirtschaftszweige? Zeichnet sich in den neuen Ländern seit 1989 eine Angleichung an westliche Relationen ab? Welche Branchen konnten ihr Beschäftigungsniveau im Zuge der Umstrukturierung am erfolgreichsten halten? Theoretische Überlegungen hätten erwarten lassen, daß bei funktionierenden Märkten zunächst arbeitsintensive Produktionsverfahren bzw. Wirtschaftszweige als Gewinner aus der Umstrukturierung hervorgehen. Zum einen erhielten die in der ostdeutschen Industrie Beschäftigten Mitte 1990 nur etwa ein Drittel der Westlöhne. Zudem erfuhr der Kapitalstock, der sich bereits Ende der 80er Jahre in einem maroden Zustand befand, durch die veränderten Rahmenbedingungen eine zusätzliche Entwertung. Der damit knapper werdende Produktionsfaktor Kapital hätte sich folglich im Verhältnis zur relativ reichlicher vorhandenen Arbeit verteuern müssen. Teures Kapital und relativ niedrige Arbeitskosten müßten Investitionen und Beschäftigung in eine Produktion mit geringer Kapitalintensität und entsprechend hohem Arbeitseinsatz lenken. Gegen ein solches Szenario sprechen zum einen die praktizierte Förderpolitik und zum anderen der tatsächliche Verlauf der Lohnentwicklung. Um einen raschen Aufbau wettbewerbsfähiger Produktionsanlagen anzuregen, wurden Investitionen in den neuen Ländern großzügig subventioniert (hohe Abschreibungsmöglichkeiten, Investitionszuschüsse und -zulagen). Die durch die künstliche Verbilligung von Kapital ausgelösten Anreize zu kapitalintensiven und damit arbeitssparenden Anlagen wurden durch die eingeschlagene Lohnpolitik noch verstärkt. Nachdem bereits vor der Währungsunion die Industrielöhne um durchschnittlich 17 % angehoben worden waren, beschlossen die Tarifparteien in der zweiten Jahreshälfte 1990 weitere Lohnsteigerungen in Höhe von 25 bis 60 %. Bis 1995 sollte nach Absicht der Gewerkschaften das Westniveau erreicht werden (vgl. Sinn/Sinn 1991, S. 66). In der Folge schnellten die Lohnstückkosten in die Höhe. Im ersten Halbjahr 1991 waren sie fast doppelt

404

Bernhard Pieper

so hoch wie im Westen. Die eingeschlagene Lohnpolitik stellte eine erhebliche Überforderung der ostdeutschen Wirtschaft dar, insbesondere der Industrie, die sich einem intensiven Wettbewerb durch westdeutsche und ausländische Anbieter ausgesetzt sah. Die Subventionierung des Faktors Kapital und die unangemessene Verteuerung des Faktors Arbeit ließen die Befürchtung aufkommen, daß in Ostdeutsch land extrem kapitalintensive Industriezweige und Produktionsanlagen - "Werkhallen für Roboter" - mit nur geringen Beschäftigungseftekten entstünden (vgl. Sinn/Sinn, S. 168ft.). Zwischen diesen beiden Extrempositionen liegt die Hypothese, daß sich in den neuen Ländern ohne große Umwege eine Produktions- bzw. Beschäftigtenstruktur einstellen wird, die im wesentlichen der Westdeutschlands entspricht. Demnach lassen sich Investoren bei ihren Anlageentscheidungen weniger von kurzfristigen Preisrelationen leiten, wie ein aller Voraussicht nach nur vorübergehend niedriges Lohnniveau oder zeitlich befristete Förderprogramme. Vielmehr bestimmen von Beginn der Umstrukturierung an langfristig zu erwartende Preisrelationen und Rahmenbedingungen über die Bereitschaft zum Aufbau neuer oder die Modernisierung vorhandener Produktionsstätten. Der Lenkungseftekt niedriger Löhne oder staatlicher Investitionsvergünstigungen bestünde demnach darin, daß Kapitalanlagen in die neuen Länder fließen, die andernfalls im Westen oder im Ausland erfolgt wären. 5 Bei zu erwartenden langfristig gleichen Preisrelationen und auch darüber hinaus ähnlichen Rahmenbedingungen in Ost- und Westdeutsch land müßte sich die Wirtschaft in den neuen Ländern ausgehend von einer durch Autarkiestreben (vgl. Hoftmann 1990) und durch ideologisch begründete Präferenzen geprägten Struktur in Richtung westlicher Relationen bewegen. Bei der Beantwortung der Frage, welche Entwicklung sich für die ostdeutsche Industrie tatsächlich abzeichnet, soll im folgenden der Schwerpunkt der Betrachtungen auf der Analyse der Beschäftigtenstruktur liegen. Der allgemeine Beschäftigungsrückgang wird auf diese Weise ausgeklammert. Zudem ist es so möglich, Zeitreihen über Ostdeutschland in 1989 beginnen zu lassen, ohne

Zugunsten dieser Vermutung laßt sich die Entwicklung der Bruttoanlageinvestitionen je Einwohner in den neuen Landern aufführen. Dieser Wert ist von 10.800 DM im Jahre 1991 auf 23.000 in 1994 gestiegen. Im gleichen Zeitraum ging die entsprechende Relation in den alten Landern von 18.400 auf 17.800 zurück.

Industrie

405

statistische Verzerrungen in Kauf nehmen zu müssen. 6 Zum besseren Verständnis des Strukturwandels in der ostdeutschen Industrie, soll deren Einordnung in die Beschäftigtenstruktur der Gesamtwirtschaft erfolgen. Dazu wird die Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes innerhalb des produzierenden Gewerbes, zunächst aber das Gewicht des letzteren innerhalb der übrigen Wirtschaftsbereiche kurz skizziert.

1. Beschäftigtenstruktur in den Wirtschaftsbereichen Abbildung 1 zeigt jeweils für Ost- und Westdeutschland, wie sich die Erwerbstätigen auf die einzelnen Wirtschaftsbereiche verteilen. Der Trend zur Tertiarisierung bzw. die Zunahme des Gewichts von Dienstleistungen und Staat ist für die alten Bundesländer deutlich zu erkennen. Der Anteil der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten stieg zwischen 1960 und 1995 von 9,1 % auf 22,1 %. Im Bereich Staat, private Haushalte und Organisationen ohne Erwerbscharakter war die Zunahme nur geringfügig kleiner; der Anteil erhöhte sich von 11 % auf 20,3 %. Der primäre und der sekundäre Sektor zusammen verzeichneten hingegen einen Rückgang von 61,6 % auf 38,6 %. 1995 waren in den alten Ländern nur noch 35,8 % der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe beschäftigt gegenüber 45 % in 1960. Die Beschäftigtenstruktur in der DDR von 1989 entsprach ungefähr der Westdeutschlands von 1970. Ideologische Vorgaben lenkten das Interesse der zentralen Wirtschaftsplaner und damit die Ressourcenzuteilung primär auf die Warenproduktion. Entsprechend hoch lag noch 1989 der Anteil der in der Land- und Forstwirtschaft sowie dem produzierenden Gewerbe Beschäftigten mit 55 % (in der BRD lag der Wert 1970 bei 57,4 %). Die meisten Dienstleistungen galten als unproduktiv. Die wichtigsten Ausnahmen bildeten Reparaturbetriebe, Verlage, Wäschereien und insbesondere Verkehr und Nachrich-

Dazu zahlen Änderungen von Definitionen, Aggregatsabgrenzungen und Gewichtungsschemata beim Übergang von planwirtschaftlicher zu marktwirtschaftlicher Statistik im Zuge der "statistischen Vereinigung". Nicht zuletzt löste das durch politische Vorgaben bestimmte administrierte Preissystem der Planwirtschaft entsprechende Anpassungen im Zuge der Liberalisierung aus, so daß sich aus Zeitreihen mit konstanten Preisen kaum sinnvolle Aussagen ableiten lassen. Durch die Überlagerung inflationarer Entwicklungen durch ausgepragte Struktureffekte sind aber auch nominale Zeitreihen nur eingeschrankt interpretierbar. 27 Wiedervereinigung

406

Bernhard Pieper

Abbildung 1 Beschäftigtenstruktur nach Wirtschaftsbereichen

Alte Bundesländer 100%

75%

50%

25%

0% 1960

1970

1980

1990

1993

1995

Neue Bundesländer

1989

I Land-

1990

u. Forstwirtschaft

1991

_

[ J Dienstleistungen

1992

1993

Prod. Gewerbe _

1994

_

1995

Handel, Verkehr

Staat., priv. Haushalte

Quelle: Statistisches Bundesamt.

tentechnik (vgl. DIW/lfW 1991, S. 12). Letztere erhielten aufgrund ihres unmittelbaren Bezugs zur Produktion sogar eine großzügige personelle Ausstat-

Industrie

407

tung, die gemessen an den Beschäftigten je Einwohner um über 60 % über dem Westniveau von 1989 lag. Interessanterweise haben sich die ostdeutschen Beschäftigtenrelationen nach Wirtschaftsbereichen bereits innerhalb weniger Jahre weitgehend denen des Westens angeglichen. In beiden Teilen Deutschlands lag 1995 der Beschäftigtenanteil des primären Sektors bei etwa 3 % und der des produzierenden Gewerbes bei ca. 35 %. Die größte Diskrepanz zwischen Ost und West besteht weiterhin im verhältnismäßig großen Staatssektor. Dieser war zu DDR-Zeiten besonders aufgebläht. 7 Trotz eines Rückgangs der Beschäftigten um 30 % bzw. 674.000 Stellen gegenüber 1989, nahm der Anteil der Beschäftigten im Staatssektor an den Beschäftigten insgesamt sogar noch etwas zu auf 24,6 % (20,3 % in Westdeutschland). Die Anteilsausweitung ist auf den größeren Stellenabbau in den übrigen Wirtschaftsbereichen zurückzuführen. Als einziger Wirtschaftsbereich erfuhren die Dienstleistungen gegenüber 1989 einen Zuwachs, nicht nur hinsichtlich ihres Anteils an den Beschäftigten, sondern auch in absoluten Werten. Mit knapp 1,3 Mill. Erwerbstätigen wurden hier 1995 über doppelt so viele Menschen beschäftigt wie 1989. Am ausgeprägtesten war das Wachstum bei Banken und Versicherungen mit 68 % und den freien Berufen mit knapp 95 %. Diese Entwicklung verdeutlicht ganz anschaulich die unterschiedliche Funktionsweise von zentraler und dezentraler Wirtschaftslenkung. Die wesentlichen volkswirtschaftlichen Aufgaben der genannten Dienstleister bestehen in der Allokation von Kapital, der Übernahme bzw. Streuung wirtschaftlichen Risikos sowie in Beratung und Information. Diese Funktionen erfüllte in der Planwirtschaft die zentrale Planbehörde, so daß bei deren Abschaffung eine Lücke entsteht, die im Zuge eines Übergangs zur Marktwirtschaft aufzufüllen ist. Das produzierende Gewerbe verzeichnete im gleichen Zeitraum zwar einen Rückgang in absoluten Zahlen um fast die Hälfte, doch nimmt die Zahl der Beschäftigten seit dem Tiefpunkt von 1993 wieder zu. Aus dem folgenden Abschnitt wird ersichtlich, daß die Angleichung des produzierenden Gewerbes an

Die Zahl der Beschaftigten je Einwohner lag 1989 in diesem Bereich um 68 % über dem Westniveau. 27·

Bernhard Pieper

408

westliche Relationen nur auf das Aggregat insgesamt zutrifft, aber nicht auf seine Komponenten.

2. Beschäftigtenstruktur im produzierenden Gewerbe Im früheren Bundesgebiet ist die Zahl der im produzierenden Gewerbe Beschäftigten seit Beginn der 60er Jahre um fast ein Fünftel gesunken, die Be-

schäftigtenstruktur hat sich dabei aber kaum verändert (vgl. Abb. 2). Über drei Viertel der Erwerbstätigen arbeiten im verarbeitenden Gewerbe. Im Verlauf der vergangenen 30 Jahre ist der Anteil des Bergbaus von 6 % auf 1 % gesunken zugunsten der Bereiche Wasser und Energie sowie des Baugewerbes, die ihre Anteile auf etwa 3 % bzw. 19 % ausbauen konnten. Ganz ähnliche Beschäftigtenrelationen bestanden unmittelbar vor der deutschen Vereinigung im produzierenden Gewerbe der DDR. Das Baugewerbe war personell etwas schwächer ausgestattet, dafür fanden mehr Erwerbstätige im Bergbau Arbeit. Darin kommt zum einen die Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur und des Wohnungsbaus sowie zum anderen das Autarkiestreben der DDR hinsichtlich ihrer Energieversorgung zum Ausdruck. Der Anteil der in der Industrie Beschäftigten entsprach jedoch genau dem Wert im Westen. Mit Beginn der Wiedervereinigung setzte im produzierenden Gewerbe ein dramatischer Umstrukturierungsprozeß ein. Innerhalb von fünf Jahren sank die Zahl der Erwerbstätigen um über 50 %. Besonders stark war die Industrie betroffen. Hier gingen zwei Drittel der Stellen verloren. In den Bereichen Bergbau und Energie lag der Arbeitsplatzverlust bei immerhin 50 %. Begünstigt durch den enormen Bedarf an einer Verbesserung der Infrastruktur und des Wohnungsbestandes sowie des u. a. durch die Investitionsförderung florierenden Gewerbebaus in den neuen Bundesländern, boomte hingegen das Baugewerbe. Von 1989 bis 1994 legte die Zahl der Beschäftigten um über 60 % auf gut 1 Mill. zu, so daß dem Baugewerbe 1994 hinsichtlich der Beschäftigung im produzierenden Gewerbe mit 46 % fast das gleiche Gewicht zukam wie dem verarbeitenden Gewerbe (48 %). In den alten Ländern steht das entsprechende Verhältnis bei 4: 1 zugunsten der Industrie. Das Wort von der Deindustrialisierung Ostdeutsch lands machte die Runde.

409

Industrie

Abbildung 2 Beschäftigtenstruktur im produzierenden Gewerbe

Alte Bundesländer

1960

al

1970

1980

1990

1993

1994

al

Neue Bundesländer

1989 a)

1990

1991

1992

1993

1994

a) Ein Wert für Bergbau, Wasser und Energie zusammen.

_ _

Verarb. Gewerbe Wasser u. Energie

Quelle: Statistisches Bundesamt.

t=l Bergbau

D

Baugewerbe

410

Bernhard Pieper

3. Beschäftigtenstruktur im verarbeitenden Gewerbe Die Stärke der westdeutschen Industrie liegt traditionell im Bereich der Produktion von Investitionsgütern. Im Rahmen der Einbindung in die internationale Arbeitsteilung fand sie hier - insbesondere beim Maschinen- und Fahrzeugbau sowie in der Elektrotechnik - ihre Spezialisierungsvorteile. Entsprechend hoch ist die Exportquote dieser Gütergruppe (etwa 40 %). Nur die chemische Industrie erreicht in dieser Hinsicht vergleichbare Werte. Im Zuge der zunehmenden außenwirtschaftlichen Verflechtung Westdeutschlands wuchs im Laufe der vergangenen 30 Jahre damit auch die Bedeutung der Hersteller von Investitionsgütern für die Arbeitsplätze in der Industrie insgesamt. Während das Gewicht an der Gesamtbeschäftigung 1960 noch bei 43 % lag, ist es in der Folgezeit kontinuierlich angestiegen bis auf gut 54 % im Jahre 1994. Diese Ausweitung erfolgte zu Lasten der Produzenten von Grundstoffen und Verbrauchsgütern. Die Nahrungs- und Genußmittelindustrie ist, sofern sie regionale Märkte bedient, geringerem internationalem Wettbewerbsdruck ausgesetzt und konnte ihren Anteil im wesentlichen halten (vgl. Abb. 3). Ein Jahr vor der Wiedervereinigung entsprach die industrielle Beschäftigtenstruktur in der DDR in etwa der der BRD im Jahre 1970. Die jeweiligen Gewichte von Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien wichen nur geringfügig voneinander ab; im Westen kam den Herstellern von Verbrauchsgütern und im Osten denen von Nahrungs- und Genußmitteln ein etwas größeres Gewicht zu. Diese Diskrepanz hat sich im Verlauf der Umstellung auf marktwirtschaftliche Verhältnisse noch ausgeweitet, wohingegen im Grundstoff- und Investitionsgüterbereich bis 1994 die ohnehin geringe Anpassungslücke an westliche Relationen geschlossen wurde. Angesichts der Tatsache, daß die Zahl der Industriebeschäftigten in Ostdeutschland in den Jahren 1989 bis 1994 um fast 80 % abgenommen hat, ist die Beschäftigtenstruktur zumindest hinsichtlich der vier dargestellten Gütergruppen bemerkenswert konstant geblieben. Die Vermutung hätte nahe gelegen, daß Branchen mit hohen Exportquoten zu DDR-Zeiten sich als relativ stark erweisen und vom Einbruch verschont bleiben oder zumindest weniger stark in Mitleidenschaft gezogen würden. Demnach hätte der Investitionsgüterbereich, aus dem Ende der 80er Jahre über 60 % der DDR-Exporte stamm-

Industrie

411

Abbildung 3

Beschäftigtenstruktur im verarbeitenden Gewerbe

Alte Bundesländer 100%

~

75% -1

50%

I

25% j

0% -

1960

1980

1970

1990

1993

1994

1993

1994

Neue Bundesländer

1989

_ _

1990

1991

Grundstoffe

Verbrauchsgüter

D

1992

D

Investitionsgüter

Nahrungs- u. GenuBmittelgewerbe

Quelle: Statistisches Bundesamt.

ten und dessen Industriezweige Exportquoten von bis zu 30 % aufwiesen, seinen Anteil an den Industriebeschäftigten ausweiten müssen. Daß dies nicht

Bernhard Pieper

412

geschah ist ein Indiz dafür, daß die planwirtschaftliche Außenhandelsstruktur nicht primär auf tatsächlichen komparativen Kostenvorteilen beruhte, sondern auf planerischen Vorgaben. So gingen die Ausfuhren aus den neuen Ländern mit der Außenhandelsliberalisierung und vollständigen Marktöffnung für Konkurrenten aus Westdeutschland und der EU fast völlig parallel mit der industriellen Produktion insgesamt zurück. Von 1989 bis 1992 sanken die Ausfuhren auf ein Drittel. Im innerdeutschen Handel, der in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einen Saldo von durchschnittlich 600 Mill. DM zugunsten Westdeutschlands aufwies, schnellten die Lieferungen aus dem Westen nach der Vereinigung in die Höhe. Der Überschuß betrug 1990 ca. 13 Mrd. DM und 1991 sogar knapp 38 Mrd. DM. 8 Die Wettbewerbsschwäche der ostdeutschen Industrie betraf sämtliche Wirtschaftszweige. Das planwirtschaftliche System vermochte nicht genügend Anreize zu effizientem Ressourceneinsatz zu setzen. Nicht Gewinnerwirtschaftung sondern Planerfüllung lautete die Maxime aus einzelwirtschaftlicher Perspektive. Entsprechend strebten die Unternehmen danach, leicht erfüllbare Planvorgaben zu erhalten, d. h. goßzügig mit Vorleistungen und Personal versorgt zu werden (vgl. Kornai 1980, Winiecki 1991, Pieper 1995). Gemessen an der Bruttowertschöpfung je Beschäftigten lag die Arbeitsproduktivität 1989 in der DDR bei ungefähr einem Drittel des westdeutschen Niveaus. Nach einem vorübergehenden Rückgang auf unter 20 % Anfang 1991 ist dieser Wert bis Ende 1994 auf 50 % gestiegen. Diese Verbesserung läßt sich für die vier Gütergruppen in gleichem Maße feststellen. Hinsichtlich der eingangs gestellten Fragen, wieweit einzelne Wirtschaftszweige ihren Beschäftigtenanteil im Vergleich zu 1989 halten konnten und ob sich eine Anpassung an westliche Beschäftigtenrelationen abzeichnet, lassen sich allerdings erhebliche Unterschiede ausmachen. In Tabelle 1 sind die einzelnen Branchen des verarbeitenden Gewerbes hinsichtlich der ersten Frage geordnet. Die zweite Spalte verdeutlicht noch einmal den dramatischen Stellenabbau in der ostdeutschen Industrie. Insgesamt sind fast 80 % der 1989 vorhandenen Arbeitsplätze entfallen. Die Branche Büromaschinen und EDV-Anlagen ist praktisch nicht mehr existent. Sieben Bran-

Vgl. dazu den Beitrag von Münstermann im vorliegenden Band.

413

Industrie

Tabelle 1 Beschäftigte nach Wirtschaftszweigen in den neuen Bundesländern

Wirtschaftszweig

Stahl und Leichtmetallbau, Schienenfahrzeuge Kunststoffwaren Steine und Erden

Beschaftigtenstand 1994 in % von 1989

Kapitalintensitat 1 =niedrig, 5 =hoch

79,4 47,6 38,5

1 2 3/4

35,5 25,8

Beschaftigtenanteile in der Industrie 1994 in % neue Lander

alte Lander

12,5 2,7 6,0 2,1

2,9 4,4 2,5 2,8

1,9 0,9

0,5 1,7

Druckerei, Vervielfaltigung Schiffbau Papier-, Pappeverarbeitung

22,5

2 2/3 2

Straßenfahrzeugbau und Reparatur von Kfz usw. Gießerei EBM-Waren Chemie Feinkeramik Ernahrung

22,5 22,3 22,3 21,5 21,1 20,1

2 2 2 4 2 3

5,8 1,4

12,0 1,2

2,8 6,2 1,1 11,2

4,8 8,5 0,6 7,4

19,3 18,5

2 5

1,9 0,2

18,0 17,4

3 1

0,6 3,9

2,0 0,2 0,6 3,3

17,3 15,6 15,0

3 2 2

1,3 13,7 11,8

2,0 14,1 14,0

13,1

1

0,6

13,0 12,7

2 2

0,8 0,5

0,7 1,3 0,7

12,7

5

1,6

2,0

8,7 8,6

2 5 3

0,8 0,8 0,6 1,7

0,8 0,4 1,0

Feinmechanik, Optik, Herstellung von Uhren Tabakverarbeitung Holzbearbeitung Holzverarbeitung Herstellung u. Verarbeitung von Glas Maschinenbau Elektrotechnik Zellstoff-, Holzschliff, Papieru. Pappeerzeugung Gummiverarbeitung Ziehereien Eisenschaffende Industrie Herst. von Musikinstrumenten und Spielwaren Mineralölverarbeitung NE-Metallerzeugung

8,3

Bekleidungsgewerbe Textilgewerbe

7,5 7,4

Ledererzeugung u. -verarb.

3,7

3 2

BOromaschinen u. EDV

1,6

4

a) Schatzung. Quelle: Statistisches Bundesamt.

1

2,7 0,5 0,2"

1,8 2,4 0,5 0,3"

Bernhard Pieper

414

chen beschäftigen mittlerweile weniger als 10 % der zu DDR-Zeiten eingesetzten Mitarbeiter. 9 Die mit Abstand erfolgreichste Branche ist der Stahl- und Leichtmetallbau, mit großem Abstand folgen die Hersteller von Kunststoffwaren. Von den ursprünglichen Arbeitsplätzen blieben hier immerhin fast 80 % bzw. knapp 50 % erhalten. Betrachtet man die 12 Branchen, die 1994 noch mehr als ein Fünftel der Mitarbeiter von 1989 beschäftigten, läßt sich kaum eine Korrelation mit der Kapitalintensität des Wirtschaftszweiges ausmachen (vgl. 3. Spalte in Tab.

1).10

De-

ren durchschnittlicher Intensitätswert beträgt 2,3 und liegt damit nahe bei dem der sieben Branchen mit dem größten Stellenabbau mit 2,9. 11 Die Hypothese der "Werkhallen-für-Roboter" läßt sich aus diesen Zahlen nicht bestätigen, eher das Gegenteil. Den kapitalintensiven Branchen gelang es trotz großzügiger Kapitalsubventionierung nicht, ihre Beschäftigtenanteile im Zuge der Umstrukturierung besser zu halten als die übrigen Industrien. Das heißt nicht, daß beim Bau neuer Anlagen in Ostdeutsch land nicht besonders moderne und damit auch arbeitssparende Produktionsverfahren gewählt wurden. Angesichts der hohen Arbeitskosten in Deutschland (mittelfristig auch im Osten) wäre dies mit Sicherheit auch ohne Kapitalsubventionierung und auch bei vorübergehendem Lohnverzicht der Arbeitnehmer in den neuen Ländern erfolgt, da moderne Anlagen nicht nur unter dem Gesichtpunkt von Kostenrelationen (Arbeit zu Kapital), sondern auch dem der technischen Leistungsfähigkeit erworben werden (Präzision, Flexibilität, Integrierbarkeit in komplexe logistische Systeme). Eine tragfähigere Erklärung für den Erfolg einzelner Branchen findet sich zum einen in gezielter Subventionierung bestimmer Industrien und zum anderen in deren Begünstigung durch den Bauboom in den neuen Ländern. Immerhin Einschrankend ist allerdings anzumerken, daß die amtliche Industriestatistik wegen der Beschrankung aut Betriebe ab 20 Mitarbeiter den tatsachlichen Stellenverlust in der Industrie Oberzeichnet. Viele der zahlreichen UnternehmensgrOndungen - von Januar 1992 bis Juni 1995 lag der Saldo der Gewerbeanmeldungen und -abmeldungen insgesamt tor Industrieunternehmen bei 21.000 und tor Handwerksbetriebe bei 30.700 bleiben zunachst unerfaßt. So war die Zahl der Beschaftigten im verarbeitenden Gewerbe nach Abgrenzung der VGR 1994 um ca. zwei Drittel höher als die in der Industriestatistik angegebene. 10

Die Werte fOr die Kapitalintensitat (Bruttoanlagevermögen pro Beschaftigten) wurden ermittelt an hand von Daten des DIW (1995).

11

Dieselben Werte ergeben sich beim Vergleich der zehn besten mit den zehn schlechtesten Branchen.

Industrie

415

flossen über zwei Drittel der ostdeutschen Anlageinvestitionen von ca. 740 Mrd. DM zwischen 1991 und 1995 in Baumaßnahmen. So wundert es nicht, daß die drei erfolgreichsten Branchen von Tabelle 1 stark vom Bau getragen werden. Steine und Erden sowie Stahl- und Leichtmetallbau liefern traditionell einen Großteil ihrer Produktion an das Baugewerbe. Aber auch die Kunststoffverarbeiter in den neuen Ländern sind stark bauabhängig. Während westliche Anbieter nur etwa 12 % ihrer Produktion unmittelbar an den Bau liefern, liegt diese Relation im Osten bei knapp 50 %. Unter Einbeziehung mittelbarer Effekte aus brancheninterner Zulieferung dürfte der Wert gute 10 Prozentpunkte darüber liegen. Neben dem Schiffbau und dem Schienenfahrzeug bau (besondere Bedeutung haben hier Hermes Bürgschaften) profitiert inbesondere die Chemische Industrie in den neuen Ländern von großzügiger Unterstützung durch die öffentliche Hand. Den Erhalt der Chemiezentren in Bitterfeld, Leuna, Buna und Schwarzheide ließ sich die Treuhandanstalt und deren Nachfolgerin, die BvS, zweistellige Milliardenbeträge kosten. Der US-Konzern Dow Chemical allein machte für sein Engagement in der Region Subventionen in Höhe von 9,5 Mrd. DM zur Voraussetzung. Ende 1995 ging die BvS davon aus, daß für die restlichen noch zu privatisierenden Chemieunternehmen noch 5 bis 6 Mrd. DM an Hilfen fließen müssen. So nimmt es nicht Wunder, daß die Chemie Ostdeutschlands trotz aller Unkenrufe zu Beginn der neunziger Jahre heute zu den erfolgreichen Branchen zählt. Man geht davon aus, daß bereits 1997/98 die gleiche oder gar eine bessere Beschäftigtenproduktivität erreicht wird als im Westen. Hinsichtlich der Frage einer Anpassung an westdeutsche Beschäftigtenrelationen - und damit einer Bestätigung der dritten eingangs formulierten Hyothese - ist zunächst festzustellen, daß sich unter den zehn Branchen mit den größten Beschäftigtenverlusten sechs befinden, die auch im Westen seit 1970 zu den Verlierern zählten. Ihr Anteil an den Industriebeschäftigten sank um über 20 % teils gar um über 50 %.12 Gleichzeitig befinden sich unter den zehn in Ostdeutschland erfolgreichsten Branchen immerhin vier der fünf Industrien, denen im Verlauf der vergangenen 30 Jahre im früheren Bundesgebiet eine

12

Es handelt sich um: Gummiverarbeitung, Mineralölverarbeitung, Bekleidungs-, Textilgewerbe und Büromaschinen, EDV.

416

Bernhard Pieper

Anteilsausweitung um über 20 % gelang. 13 In ungefähr der Hälfte aller Industriezweige finden sich in Ost und West ähnliche Beschäftigtengewichte (vgl. rechte Spalten in Tab. 1). Die sich hierin abzeichnende Angleichung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Teilbereichen weiterhin erhebliche Unterschiede bestehen. Aus westlicher Perspektive sind, wie zu erwarten, insbesondere Branchen mit hoher Abhängigkeit vom Bau noch überdimensioniert. Der Stahl- und Leichtmetallbau (inkl. des stark geförderten Schienenfahrzeugbaus) hat in den neuen Ländern ein vierfach größeres Gewicht als im Westen. Steine und Erden haben einen Beschäftigtenanteil von immerhin dem 2,4-fachen des westlichen Wertes. Darüber hinaus sind in den neuen Ländern die geförderten Branchen, wie der Schiffbau, überdimensioniert. In diesen Bereichen ist mittelfristig mit weiteren Anpassungskrisen zu rechnen. Die übrigen auffallend starken Branchen wie Feinkeramik-, Glas- und Ernährungsindustrie erhielten zwar auch überdurchschnittliche Unterstützung aus der Regionalförderung. Da hier eine Reihe moderner Anlagen entstanden ist, und die Branchen zum Teil nur geringem Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, da sie regionale Märkte bedienen bzw. von engen Lieferanten-Zulieferer-Beziehungen profitieren, ist dennoch davon auszugehen, daß deren Gewicht innerhalb der ostdeutschen Industrie auf absehbare Zeit relativ stark bleiben wird. Bei umgekehrter Blickrichtung, d. h. der Frage eines West-Ost-Gefälles, bestehen bezüglich mancher Wirtschaftszweige ebenfalls gewichtige Abweichungen zwischen den alten und neuen Ländern. Neben Papier- und Pappeverarbeitung betrifft dies die Hersteller von Kunststoff- und Gummiwaren, die NE-Metallerzeugung und die Chemie, deren Gewicht in Westdeutschland 30 bis 90 % größer war als im Osten. Am stärksten ist die Abweichung bei der Beschäftigung im Straßenfahrzeugbau. Hier ist der Gewichtsanteil in den alten Ländern mehr als doppelt so hoch wie im Osten. Angesichts der gerade erst fertiggestellten modernen Produktionsanlagen in Ostdeutschland und einer sich gleichzeitig bei den deutschen Automobilbauern abzeichnenden Tendenz zur Produktionsverlagerung ins Ausland, wird in dieser Branche wohl eher eine

13

Es handelt sich um: Stahl-, Leichtmetall- und Schienenfahrzeugbau, Kunststoffwaren, Straßenfahrzeugbau und EBM-Waren.

Industrie

417

Angleichung dadurch erfolgen, daß westliche Betriebstätten an Gewicht verlieren. In fast der Hälfte der Industriezweige bestehen hinsichtlich des Beschäftigtengewichts noch Abweichungen von über 30 %. Nimmt man die westlichen Relationen zum Maßstab, ist der Anpassungsprozeß somit noch längst nicht abgeschlossen. Dies gilt umso mehr, als sich die Ost-West-Differenzen zum Großteil aus gezielter Branchenförderung oder aus der überdimensionierten Bautätigkeit erklären. Mit Auslaufen der Branchenförderung und insbesondere einem Rückgang der Bautätigkeit im Zuge einer Schließung der Versorgungslücke mit Infrastruktur, Anlagen und Wohnraum zeichnen sich weitere spürbare Anpassungsprozesse in der ostdeutschen Industrie und auf dem Arbeitsmarkt ab.

Literatur

Akerlof, GA/Rose, A.K./Yellen, J.L.lHessenius, H. (1991): East Germany in from the Cold: The Economic Aftermath of Currency Union, in: Srookings Papers on Economic Activity 1, S. 1-87. Barth, U. (1995): Alternative Lohn- und Investitionssubventionen in der regionalen Wirtschaftsförderung, in: ifo Dresden berichtet (2)3, Dresden. DIW (1995): Produktionsvolumen und -potential, Produktionsfaktoren des Bergbaus und des verarbeitenden Gewerbes, Statistische Kennziffern, 37. Folge, Berl.in. DIW/lfW (1991): Gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsprozesse in Ostdeutschland, Erster Bericht, in: Kieler Diskussionsbeiträge Nr. 168, Institut für Weltwirtschaft Kiel. Hoffmann, L. (1990): Wider die ökonomische Vernunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.2.1990, S. 15. Kornai, J. (1980): Economics of Shortage, Amsterdam. Pieper, B. (1995): Währung in der Transformation, Baden-Baden.

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Sauwirtschaft: Die "Lokomotive" des Aufschwungs zeigt deutliche Ermüdungserscheinungen Von Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

Der Zusammenbruch des DDR-Regimes und der Beitritt der neuen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland führten auch im Bausektor zu einem radikalen Umbruch, der nachfolgend anhand ausgewählter Variablen skizziert wird. Anders als in vielen Fachzweigen des verarbeitenden Gewerbes setzte jedoch relativ bald eine rasch steigende Nachfrage nach Bauleistungen ein, die den Betrieben des Baugewerbes und der Zulieferindustrien Aufträge und Beschäftigung brachten. Die Bauinvestitionen wurden zur "Lokomotive" des Aufschwungs, aber inzwischen flacht die Dynamik auf dem beachtlich hohen Niveau doch deutlich ab; die langfristigen Perspektiven erscheinen alles andere als "rosig". Ursächlich hierfür waren - neben dem großen und dringenden Baubedarf - insbesondere hohe Transferzahlungen, speziell umfangreiche Programme zur Erhaltung und Modernisierung sowie zur Erweiterung der Infrastruktur und des Wohnungsbestandes. Aber auch der Unternehmenssektor, mit an der Spitze viele Dienstleistungsbetriebe, nutzte früh~eitig die sich durch neue Standorte und erweiterte Märkte bietenden Chancen. Von dieser Entwicklung der Nachfrage nach Bauleistungen profitierten nicht nur ostdeutsche Betriebe und Arbeitskräfte, vielmehr ergaben sich auch vielfältige direkte und indirekte Rückwirkungen auf das Baugewerbe und andere Wirtschaftsbereiche in Westdeutschland. Der nachfolgende Beitrag beschreibt in einem ersten Schritt die Situation des Bausektors in der ehemaligen DDR und geht dann in einem zweiten Schritt auf den Strukturwandel im ostdeutschen Baugewerbe nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ein. In einem dritten Schritt wird die aktuelle Situation analysiert und es werden Perspektiven aufgezeigt.

420

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

1. Ausgangslage, Stellenwert und Besonderheiten des Bausektors in der ehemaligen DDR Die Mehrzahl der DDR-Betriebe, die Leistungen zur Errichtung, Modernisierung bzw. Rekonstruktion und Erhaltung von Bauwerken (Gebäude und Tiefbauten) erbrachten, war eng in das dort herrschende Wirtschaftssystem eingebunden und an dessen Zielvorgaben und Organisationsprinzipien ausgerichtet. Direkte Quervergleiche zu Umfang und Struktur des Bausektors in Westdeutschland lassen sich daher kaum ziehen. Es erleichtert indessen die Analyse des 1990 einsetzenden tiefgreifenden Umstrukturierungsprozesses, wenn man sich kurz wichtige Charakteristika und Besonderheiten des DDR-Bausektors in Erinnerung ruft (vgl. Rußig et al. 1996). Im Gegensatz zur westdeutschen Statistik gab es in der ehemaligen DDR "amtlicherseits" den Begriff "Ba uwirtschaft ". Dieser umfaßte zwar auch nicht die gesamte "Baukette" - vom Bauherren über Planung und Genehmigung, die Bereitstellung von Baumaterial, -geräten und -maschinen bis zur eigentlichen Bauproduktion und den fertigen Gebäuden und Tiefbauten, einschließlich deren Finanzierung, und bis hin zur Nutzung der Bauwerke, - er war aber funktional ziemlich breit abgegrenzt (vgl. Abb. 1). Bindeglied zum eher institutionell verstandenen "Bauwesen" war die Bauindustrie, in der 1989 rund drei Viertel der Beschäftigten sowohl des Sektors Bauwirtschaft als auch der Institutionen und Organisationen des Bauwesens beschäftigt waren. Zur funktional abgegrenzten Bauwirtschaft gehörten folglich auch die privaten Handwerksbetriebe sowie die Baubetriebe der Landwirtschaft, unabhängig von ihrer organisatorischen Unterstellung. Diese beiden Betriebskategorien waren im Bauwesen nicht enthalten, dafür umfaßte dieser Bereich aber auch die Baumaterialienindustrie sowie Projektierungsbetriebe und andere Einrichtungen, die - nach dem westdeutschen Begriffssystem - für den Bausektor Vorleistungen erbrachten oder Nachunternehmertätigkeiten ausführten. Der Bausektor besaß in der ehemaligen DDR einen hohen Stellenwert. Das Image der Branche war - anders als im Westen - überdurchschnittlich gut. Dies resultierte aus den ehrgeizig formulierten Zielen zur Ausweitung des Produktionspotentials und zur Verbesserung der Wohnungsversorgung bzw. sogar zur "Lösung der Wohnungsfrage". Bei den Zielgrößen wurde dabei weniger die Wohnungsversorgung in den RGW-Partnerstaaten, sondern diejenige in den westlichen Industrieländern (vor allem in der Bundesrepublik Deutschland) als

Sauwirtschaft

421

Maßstab gesetzt (vgl. Krehl 1990, Zimmermann 1990). Die DDR-Bauproduktion war daher stark auf quantitative Ziele ausgerichtet und führte schließlich zur Massenfertigung ("Plattenbauten") und zu einer extremen Bevorzugung industrieller Fertigungsmethoden bei der Errichtung neuer Bauwerke. Die privaten Handwerksbetriebe wurden durch die Entwicklung, aber auch aus politisch ideologischen Gründen, immer mehr an den Rand gedrängt. Abbildung 1

Gliederung des Bausektors in der ehemaligen DDR mit Angaben zum Beschäftigtenstand 1989"

J

Bauwesen (546,1) Baubetriebe der Landwirtschaft

Bauhandwerk b

Bauindustrie

Baumaterialienindustrie

(56,2)

(95,9)

(424,0)

(106,2)

I

übrige Einrichtungen des Bauwesens c (15,9)

Bauwirtschaft (576,0) a) Angaben in 1.000 Berufstätige (ohne Lehrlinge). b) Produktionsgenossenschaften und private Bauhandwerksbetriebe. c) Z. B. Baumechanisierung, Baumaterialienhandel, Bauakademie, Projektierungsbetriebe und wirtschaftsleitende Organe des Bauwesens.

Quelle: Statistisches Amt der DDR (1990).

Die übertriebene Neubauorientierung bedeutete gleichzeitig eine Vernachlässigung von Substanzerhaltung und Modernisierung der Gebäude und Tiefbauten in allen Wirtschaftssektoren. Schon Jahre vor dem Ende der "DDR-Geschichte" sank der Wert der Bauwerksbestände nach internen Berechnungen, speziell der Bauakademie, infolge unterlassener Altbauerneuerung so rasch ab, daß selbst der ausgeweitete Bestandszuwachs durch Neubauten keinen vollen Ausgleich mehr schaffen konnte.

2. Organisation der Bauproduktion sowie Niveau und Struktur der Beschäftigten und der Kapitalausstattung im DDR-Bausektor Die für den westdeutschen Bausektor charakteristische Unterteilung und statistische Zuordnung der Betriebe und Beschäftigten zum Bauhaupt- und Aus28 Wiedervereinigung

422

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

baugewerbe kannte man in der DDR nicht. 1 Allerdings läßt sich das Bauhandwerk, das zuletzt immerhin noch rund 12 % zur gesamten DDR-Bauleistung beitrug, weitgehend dem Ausbaugewerbe zuordnen, weil es überwiegend auf diesbezügliche Gewerke und dabei wiederum vor allem auf Reparaturarbeiten ausgerichtet war. Die Bedeutung der Bauinstallation und der übrigen Ausbauleistungen würde jedoch unterschätzt, wenn man nur die Beiträge der Handwerksbetriebe betrachtet, weil auch von den für den ganzen Sektor dominanten Kombinaten und Großbetrieben der Bauindustrie in nennenswertem Umfang derartige Leistungen erbracht wurden. Wegen der hohen politischen Bedeutung des Wohnungsneubaus für die Erreichung der ehrgeizigen Versorgungsziele wurden ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verstärkt Großsiedlungen errichtet. Da diese Wohngebäude meist sehr rasch hochgezogen worden sind, nahm schon nach kurzer Zeit der Verschleiß an diesen Gebäuden rapide zu. Aus diesem Grund wurden in den achtziger Jahren vermehrt Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten erforderlich; der Anteil des Bauhandwerks an der Bauproduktion war deshalb in diesem Zeitraum wieder angestiegen. Die industriellen Baubetriebe erwiesen sich als unwillig oder ungeeignet, diese Leistungen in angemessener Qualität und termingerecht bereitzustellen. Für die Bauindustrie, die zuletzt etwa 60 % der Bauproduktion in der ehemaligen DDR erbrachte, war die Konzentration der Aktivitäten auf mehrere Fertigungsstufen des Bauprozesses, aber auch auf die Durchführung vor- und nebengelagerter Arbeiten, in (häufig noch zu Kombinaten zusammengeschlossenen) Großbetrieben die Regel. Der Grad der vertikalen Integration innerhalb der Betriebe des Bausektors nahm in den achtziger Jahren sogar noch zu. Wegen gravierender Mängel bei den planwirtschaftlichen Produktionsverflechtungen waren die Betriebe zunehmend gezwungen, im Interesse des eigenen Überlebens neben den "regulären" Roh- und Ausbauleistungen auch Planung, Vorleistungen, Materialbereitstellung sowie Maschinen- und Gerätewartung selbst zu übernehmen. In den dem Ministerium für Bauwesen direkt unterstellten Kombinaten und Betrieben entfielen 1989 nur noch knapp zwei Drittel des gesamten Outputs auf Bauleistungen, die restliche Produktion erstreckte sich auf Planungstätigkeiten, die Produktion von Vorleistungen und Baumaterialien

Nach der neuen, EU-einheitlichen Wirtschaftszweigsystematik 1993 (NACE Rev.1) entfällt diese Untergliederung in Zukunft auch in (West-)Deutschland.

Bauwirtschaft

423

sowie auch hier zunehmend auf Reparaturarbeiten an Fahrzeugen, Maschinen und Geräten. Ein immer größer werdender Teil der Bauproduktion (1989 rund 20 %) wurde von Kapazitäten außerhalb der Bauwirtschaft erbracht. So unterhielten beispielsweise die kommunalen Wohnungsverwaltungen eigene Betriebshöfe, um die anfallenden Reparaturen sowie An- und Umbauten an den Wohngebäuden selbst vornehmen zu können. Die genannten Planungsmängel führten aber auch dazu, daß Betriebe anderer Wirtschaftszweige in steigendem Umfang die benötigten Bauleistungen selbst erbringen mußten, weil es der Bauwirtschaft an Leistungsfähigkeit und Termintreue fehlte. Als Leitbild für die DDR-Bauwirtschaft kann der "integrierte Baukonzern" mit industriellen Fertigungsmethoden gelten. Die volkseigenen Betriebe der Bauindustrie waren zu diesem Zweck in Baukombinaten zusammengefaßt. Diese Kombinate wurden entweder zentral geleitet (z. B. die Bau- und Montagekombinate und die Spezialbaukombinate), oder sie unterstanden dem jeweiligen örtlichen Bezirks- oder Kreisbauamt (z. B. die Wohnungs- und Gesellschaftsbaukombinate). Da die Betriebsgrößen durch das immer breiter werdende Aufgabenfeld bestimmt waren und das Prinzip der zentralen Lenkung so (scheinbar) leichter durchzusetzen war, herrschten in den Kombinaten Großbetriebe mit vergleichsweise hoher Beschäftigtenzahl vor. Obwohl nur 3 % aller Betriebe der Bauwirtschaft zur Bauindustrie zählten, waren dort 73 % der Beschäftigten tätig (vgl. Tab. 1). Betriebe mit über 3.500 Beschäftigten waren keine Seltenheit; in den Kombinaten waren häufig 10.000 und mehr Beschäftigte tätig. Im Gegensatz dazu standen insbesondere die zuletzt noch knapp 15.000 Betriebe des privaten Bauhandwerks. Nach staatlichen Vorgaben durften sie maximal zehn Beschäftigte aufweisen, und auch darüber hinaus wurden sie stark "gegängelt". Zumeist waren in den Handwerksbetrieben nur der Betriebsinhaber und mithelfende Familienangehörige tätig, so daß die Durchschnittsgröße bei lediglich drei Berufstätigen lag. Insgesamt waren 1989 in der DDR-Bauwirtschaft knapp 580.000 Personen beschäftigt. Dies entsprach etwa 6 1/2 % der Gesamtzahl der Erwerbstätigen. Wegen der unterschiedlichen sektoralen Abgrenzung sowie wegen der wesentlich stärkeren vertikalen Integration ist ein Vergleich mit dem Anteilswert etwa des Baugewerbes in Westdeutschland jedoch nicht statthaft. 28'

424

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

Tabelle 1

Kombinate und Betriebe sowie Berufstätige der DDR-Bauwirtschaft 1989 Anzahl der wirtschaftlichen Einheiten

Berufstätige

durchschnittliche Betriebsgröße

zentralgeleitete Bau- und Montagekombinate

7 Kombinate (=42 Betriebe)

91.401

2.176

(2)

zentralgeleitete Spezialbaukombinate

6 Kombinate (=47 Betriebe)

52.282

1.112

(3)

örtlich geleitete Wohnungsbaukombinate

15 Kombinate (=27 Betriebe)

94.867

3.514

(4)

örtlich geleitete Tiefbaukombinate

15 Kombinate (=16 Betriebe)

49.542

3.096

(5)

sonst. örtl. Baubetriebe

354 Betriebe

135.954

384

(6)

Produktionsgenossenschaften des Bauhandwerks

1.055 Betriebe

50.570

48

(7)

privates Bauhandwerk

14.528 Betriebe

45.321

3

(8)

zwischengenossenschaftliche Bauorganisationen der Landwirtschaft

216 Betriebe

40.531

188

(9)

Meliorationsgenossenschaften

160 Betriebe

15.619

98

485 Betriebe

424.046

1.068

16.356 Betriebe

576.087

35

(1 )

(1 )-(5)

Bauindustrie gesamt

(1 )-(9)

Bauwirtschaft gesamt

Quelle: Statistisches Amt der DDR (1990).

Was die Qualifikation der Beschäftigten im Bausektor betrifft, so standen die Betriebe der ehemaligen DDR den westdeutschen Baufirmen zumindest formal keineswegs nach (vgl. Abb. 2): Fast 90 % der Beschäftigten in der DDR-Bauindustrie hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung, 13 % konnten sogar einen Hoch- oder Fachschulabschluß vorweisen (vgl. Spiliner/Rußig 1996a). Der Anteil der Angestellten war für westliche Verhältnisse ungewöhnlich hoch.

425

Bauwirtschaft Abbildung 2 Qualifikationsstruktur der Beschäftigten in der Bauindustrie der DDR 1989

Hochschulabsolventen Angelernte! (13,0%) ohne Beruf

Meister u. Poliere (7,0%)

(8,0%) Lehrlinge

(59,0%) Facharbeiter

Quelle: Statistisches Amt der DDR 1990.

Da der Betrieb auch im Bausektor nicht nur Arbeitsstätte war, sondern auch über die reine Arbeit hinaus für das Wohl der Beschäftigten und ihrer Angehörigen sorgen mußte, fiel neben den Aufgaben der Projektierung und Bauüberwachung auch die soziale Betreuung der Belegschaften (z. B. Kindergärten, Krankenhäuser) in die Zuständigkeit der jeweiligen Betriebsverwaltungen. Kann in der Aufblähung der Aufgaben und des hohen Anteils an - bezogen auf die Erbringung von Bauleistungen - "unproduktivem" Personal ein Ursachenkomplex für die geringe Effizienz der Erstellung und Erhaltung von Bauwerken gesehen werden, so kommen durch die mangelhafte Ausstattung mit Kapitalgütern weitere gravierende Gründe hinzu: Maschinen- und Fuhrpark sowie Baugeräte waren - insbesondere in der "End phase" der DDR - überwiegend veraltet und deshalb derart störanfällig, daß nicht selten mehrere Stunden pro Arbeitstag allein auf die (notdürftige) Reparatur bzw. beim Warten auf Ersatzteile vergeudet wurden. Als dritte Komponente kommt hinzu, daß auch bei Baumaterialien in steigendem Umfang Qualitäts- und Lieferprobleme auftraten.

426

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

3. Strukturanpassung des ostdeutschen Baugewerbes (Betriebe und Beschäftigte) durch Dekonzentration und Privatisierung

Vor dem Hintergrund der hier nur in einem knappen Überblick eher exemplarisch aufgezeigten Lage und Entwicklung der DDR-Bauwirlschaft mit ihren immer größer werdenden Strukturproblemen bedeuteten der plötzliche Systemwechsel 1989 und die Wiedervereinigung 1990 vor allem für die Kombinate der Bauindustrie, aber auf für andere "staatsnahe" Betriebe einen Wegfall ihrer Existenzgrundlage. Die Baukombinate, die aus westlicher Sicht die Rolle von überdimensionierten "Gemischtwarenläden" zu erfüllen hatten, mußten zunächst in kleinere Einheiten aufgespalten und "entschlackt" werden. Einigen der Betriebe, vor allem aus dem Bereich der Bauvorbereitung, gelang unter der Führung der ehemaligen Brigadeleiter oder anderer Mitarbeiter rasch der Sprung in die Selbständigkeit; diese waren danach und sind häufig bis heute zum Beispiel als Architekturoder Planungsbüros tätig. Der Großteil der Kombinatsbetriebe kam jedoch zunächst unter Treuhandverwaltung und wurde im Laufe der Jahre privatisiert. Auch die Baukombinate wurden zunächst als Ganzes unter einer Holding zusammengefaßt, anschließend wurden einzelne Teilbetriebe z. B. an die früheren Geschäftsführer oder an - meist westdeutsche - Bauunternehmen verkauft. Vielfach wurde allerdings der Weg über die Schließung und ausschließlich Neugründung von Zweigbetrieben vorgezogen, weil auf diesem Weg das Problem der "Altlasten" bei Personal und Sachkapital leichter gelöst werden konnte. Die Privatisierung der "industriellen" Baubetriebe bereitete der Treuhandanstalt - im Vergleich zum Verkauf von Unternehmen anderer Wirtschaftszweige nur wenig Schwierigkeiten, denn die Nachfrage war angesichts der immens großen Bauaufgaben in Ostdeutschland sehr groß. In aller Regel wurden allerdings nach der Übernahme in erheblichem Umfang dispositive und Baustellenleitungsfunktionen zunächst mit erfahrenen Fachkräften aus Westdeutschland besetzt. Trotz guter Formalqualifikation der Baubeschäftigten zeigten sich gerade bei den hier gefragten Leistungsprofilen doch deutliche Defizite. Die zahlreichen Kleinstbetriebe des Bauhandwerks wurden von ihren ostdeutschen Besitzern in der Mehrzahl weitergeführt. Vielfach wurden auch Altbesitzer oder deren Nachkommen wieder in ihre Eigentumsrechte eingesetzt, so

Sauwirtschaft

427

daß die Privatisierung auch auf diesem Wege vorangetrieben wurde. Soweit es sich dabei um Betriebe des Ausbaugewerbes handelt, ist deren Erfassung in der Zusatzerhebung für diesen Wirtschaftszweig wegen der Abschneidegrenze (10 und mehr Beschäftigte) selbst nach der Umstellung der Baustatistik nur schwer möglich; Betriebe des Bauhauptgewerbes dürften ebenfalls noch vielfach durch die "Statistikmaschen" geschlüpft sein. Die Einführung der bundesdeutschen Baustatistiken in den neuen Ländern benötigte eine gewisse Anlaufzeit, da teilweise die zuständigen Behörden erst eingerichtet und die Mitarbeiter mit den neuen Arbeitsinhalten vertraut gemacht werden mußten. Hinzu kommt, daß für die gerade neu gegründeten oder durch Ausgliederung entstandenen baugewerblichen Unternehmen die Meldung ihrer Betriebsdaten verständlicherweise nicht die erste Priorität hatte. Für die Jahre 1990 und 1991 ist die Erfassung des Baugeschehens also vielfach unvollständig (vgl. Manzel 1991). Die Wachstumsraten, die die Baube-

richterstattung im Jahre 1991 für Betriebe und Beschäftigte ausweist, beruhen daher zu einem gewissen Teil auf Nachmeldungen. Ähnliches gilt für die Bautätigkeitsstatistik, bei der z. B. die Anzahl der fertiggestellten Wohnungen in den Jahren 1990 und 1991 sicherlich nicht vollständig erfaßt wurde. Ausgehend von der Zahl der Baubetriebe, die als "Grundstock" noch aus DDR-Zeiten vorhanden waren, kam es in den Jahren nach der Wiedervereinigung in allen Bereichen des ostdeutschen Bauhaupt- und des Ausbaugewerbes zu einer kräftigen Nettozunahme an Betrieben (vgl. Tab. 2): Zwischen 1991 und 1994 hat die Zahl der von der Statistik erfaßten Betriebe im gesamten Baugewerbe von knapp 9.000 auf fast 19.000 Produktionseinheiten, also um über 110 %, zugenommen. 2 Dieser kräftige Anstieg der Zahl der Baubetriebe resultiert einerseits aus Ausgliederungen und Neugründungen; andererseits überzeichnet die Statistik aber auch hier das Tempo der Entwicklung, weil etliche Betriebe, die bereits 1991 existiert haben, erst in den Folgejahren erstmals erfaßt worden sind. Im Bauhauptgewerbe Ostdeutschlands hat sich die Zahl der Betriebe im genannten Zeitraum nahezu verdoppelt, die Zahl der Beschäftigten stieg um fast ein Viertel. Die Unterschiede zur westdeutschen Struktur der Fachzweige sind

Vgl. hierzu und zu den folgenden Angaben Statistisches Bundesamt, Fachserie 4, Reihe 5.1.

428

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

jedoch beachtlich: Während in den alten Bundesländern nur etwa die Hälfte der Betriebe im Hoch-fTiefbau tätig ist, beträgt dieser Anteil in Ostdeutsch land nahezu 70 %. Eine spürbar geringere Bedeutung weist hingegen das Stukkateur-/Gipserei-Nerputzereigewerbe in Ostdeutsch land auf; hier lag der Anteil der Betriebe in Deutschland 1994 insgesamt mit rund 12 % etwa sechsmal so hoch wie in Ostdeutschland. Tabelle 2 Anzahl der Betriebe im deutschen Baugewerbe 1991 bis 1994 1991

1992

1993

1994

neue Deutsch- neue Deutsch- neue Deutsch- neue DeutschLander land Lander land Lander land Lander land Hoch-! Tiefbau Spezial bau Stukkateure! Gipserei! Verputzerei

4.721

39.563

6.016

40.753

7.554

42.013

9.472

44.261

448

8.654

634

9.522

1.002

10.625

1.478

12.267

87

7.412

123

7.714

198

7.871

310

8.321

Zimmerei! Dachdeckerei

1.739

16.201

1.970

16.457

2.289

16.810

2.654

17.377

Bauhauptgewerbe insgesamt"

6.995

71.830 8.743

74.446

11.043

77.319 13.914

82.226

Ausbaugewerbe insgesamtb

1.982

16.026

2.745

16.909

3.841

Baugewerbe insgesamt

8.977

87.856 11.488

91.355

14.884

18.021

5.029

19.325

95.340 18943 101.551

a) Alle Betriebe. - b) Betriebe ab 10 Beschaftigte. Quelle: Statistisches Bundesamt (Bau berichterstattung).

Die isolierte Betrachtung der Betriebszahlen liefert jedoch ein etwas einseitiges Bild. Beim Vergleich zwischen ost- und westdeutschen Baubetrieben einzelner Fachzweige werden die teilweise noch stark differierenden Betriebsgrößenunterschiede vernachlässigt. Betrachtet man deshalb die jeweils eingesetzte Menge des Produktionsfaktors "Arbeit" (z. B. anhand der Beschäftigtenzahlen) in den einzelnen Fachzweigen des Bauhauptgewerbes, so erscheinen die Strukturunterschiede - obwohl noch erkennbar - schon deutlich geringer. So gemessen rücken beispielsweise die Strukturanteile des Hoch- und Tiefbaus

Bauwirtschaft

429

in Ost- und Westdeutschland ebenso wie im Stukkateur-/Gipserei-Nerputzereigewerbe näher aneinander heran als dies beim Vergleich anhand von Betriebszahlen der Fall ist (vgl. Abb. 3). Abbildung 3 Struktur der Fachzweige im ost- und westdeutschen Bauhauptgewerbe 1994

(1

(22%) (11%)

(51%)

(68%)

Ostdeutschlandlnach Betrieben

(9%)

Westdeutschlandlnach Betrieben

(1%)

(76%) (86%)

Ostdeutschlandlnach Beschäftigten

Westdeutschlandlnach Beschäftigten

Hoch-lTiefbau

Spezialbau

Zimmerei/Dachdeckerei

StukkateurgewerbelGipsereiNerputzerei

Quelle: Statistisches Bundesamt (Bauberichterstattung).

Insgesamt war und ist das ostdeutsche Bauhauptgewerbe hinsichtlich der Entwicklung in den einzelnen Fachzweigen durch eine starke Strukturdynamik gekennzeichnet. Dies läßt sich auch an hand der unterschiedlichen Expansion

430

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

bei den Betriebs- und Beschäftigtenzahlen nachvollziehen. So stieg die Zahl der Betriebe bei den Stukkateuren, Gipsern und Verputzern zwischen 1991 und 1994 mit über 250 % am stärksten an, während bei den Zimmerern/Dachdeckern in diesem Zeitraum "nur" Zuwächse von etwas über 50 % zu verzeichnen waren. Noch erheblich größer und auch deutlich abweichend von den Entwicklungen der Betriebsanzahl ist die Spanne beim Anstieg der Beschäftigtenzahlen, die in diesem Zeitraum von +330 % bei Stukkateuren/GipsernNerputzern bis +23 % im Hoch-lTiefbau reicht. Hier erscheint nun auch der bei der Zunahme der Betriebe zurückgebliebene Zweig der ZimmereilDachdeckerei mit einem Beschäftigtenzuwachs um mehr als 130 % in einem ganz anderen Licht. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu diesen Verschiebungen dürften allein schon die nicht zeitgenaue Erfassung und die wohl häufigen Ausgliederungen, Verlagerungen in den Tätigkeitsschwerpunkten oder Spezialisierungen einzelner Betriebe geleistet haben. Hierfür spricht beispielsweise auch, daß im Bereich des Hoch-lTiefbaus ohne ausgeprägten Schwerpunkt (einer Untergruppe im Hoch-lTiefbau) trotz der hohen Wachstumsdynamik die Beschäftigtenzahlen in den neuen Ländern zwischen 1991 und 1994 sogar um etwa 8 % abgesunken sind. Im Ausbaugewerbe, das sich, wie bereits erwähnt, in den neuen Ländern (statistisch) erst "etablieren" mußte, hat sich die Zahl der erfaßten Betriebe zwischen 1991 und 1994 insgesamt fast verdreifacht. Dabei sind die vielen Betriebe mit unter zehn Beschäftigten, die in Ostdeutsch land eine zumindest ebenso große Bedeutung haben dürften wie in Westdeutschland, noch gar nicht berücksichtigt. Eine Vorstellung von der tatsächlichen Größenordnung des Ausbaugewerbes liefern die Ergebnisse der Handwerkszählung vom März 1995. Stellt man die dort erfaßten Gesamtzahlen für das Baugewerbe den Angaben aus den Jahreserhebungen im Bauhaupt- und Ausbaugewerbe gegenüber, so ergibt sich für das ostdeutsche Ausbaugewerbe überschlägig eine Zahl von etwa 30.000 Betrieben. Die Gesamtzahl der im deutschen Baugewerbe tätigen Betriebe einschließlich derer, die in den Jahreserhebungen durch die Maschen des statistischen Netzes gefallen sind - liegt nach der Handwerkszählung 1995

Bauwirtschaft

431

abweichend von den laufenden Erhebungen zur Bauberichterstattung in der Größenordnung von mehr als einer viertel Million. 3 Ein wesentlicher Grund für die rasche Zunahme und die daraus resultierenden Größenordnungen in diesem Segment des Bauleistungsmarktes liegt neben der Notwendigkeit umfangreicher Neubaumaßnahmen mit anspruchsvoller Innenausstattung sicherlich auch im anhaltend hohen Modemisierungs- und Sanierungsbedarfan und in den vorhandenen ostdeutschen Bauwerken, wobei ein größerer Anteil auf Ausbauleistungen entfällt. Trotz vielfältiger Aufspaltungen, Rückübereignungen und Ausgliederungen schlägt die ehemals extreme Polarisierung in der DDR-Bauwirtschaft in einerseits Großbetriebe und Kombinate sowie andererseits handwerkliche Kleinstbetriebe auch heute noch auf die Besetzung der Beschäftigtengrößenklassen der Baubetriebe durch. Die Größenstruktur der ostdeutschen Baubetriebe gleicht sich also nur langsam an die westdeutschen Klassenbesetzungen an. Die kleineren Betriebe schneiden in der Entwicklung, z. B. beim Umsatz je Beschäftigten, in Relation zu Westdeutschland dabei offenbar besser ab (vgl. Loose 1995). Zwar haben sich im Zuge der Aufspaltung der großen Kombinate und Betriebe die durchschnittlichen Beschäftigtenzahlen je Betrieb des Bauhauptgewerbes verringert, doch war in Ostdeutschland der Anteil der Betriebe mit 200 und mehr Beschäftigten 1994 immer noch doppelt so hoch wie im Westen (vgl. Tab. 3). Die "verkleinerten" Betriebe befinden sich heute in den Betriebsgrößenklassen mit 50 bis 99 und mit 100 bis 199 Beschäftigten, die in Ostdeutschland ebenfalls deutlich stärker besetzt sind als im Westen. Mehr als 50 Beschäftigte haben in den neuen Ländern 16 %, im alten Bundesgebiet nur 7 % der Betriebe des Bauhauptgewerbes. Dieser strukturelle Unterschied ist

Diese Zahlen unterliegen jedoch einigen Verzerrungen aufgrund der unterschiedlichen Abgrenzungen und Erhebungszeitpunkte: Die Handwerkszahlung 1995 erfaßte nur die Handwerksbetriebe und ordnete diese den Wirtschaftsbereichen in der Klassifikation der Wirtschaftszweige (Ausgabe 1993) zu, wahrend die letzte Jahreserhebung im Juni 1994 im Bauhauptgewerbe alle Betriebe, im Ausbaugewerbe alle Betriebe mit 10 und mehr Beschaftigten erfaßte und die Zuordnung noch an hand der leicht abweichenden Klassifikation der Wirtschaftszweige (Ausgabe 1979) vornahm. Ein Teil der "neuen" Ausbaubetriebe ist hierbei allein durch den weiteren Erfassungskreis der Klassifikation von 1993 "entstanden". Dennoch dürften die hieraus ermittelbaren Größenordnungen eine gute Groborientierung für die tatsachlichen Verhaltnisse liefern, da man davon ausgehen kann, daß die hohe Differenz zu den bisher verfügbaren Daten zumindest zu großen Teilen durch die lückenhafte Erfassung bei Kleinbetrieben bedingt war.

432

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

auch im erfaßten Teil des Ausbaugewerbes zu beobachten, die Abweichungen fallen dort jedoch etwas kleiner aus. 4 Tabelle 3 Betriebe im deutschen Baugewerbe nach Beschäftigtengrößenklassen 1994 - Anteile in % Betriebe mit ... Beschaftigten 1-19

20-49

50-99

100-199

über 200

Anzahl der Betriebe insgesamt

Bauhauptgewerbe:

Deutschland

79

13

5

2

1

Neue Bundesländer

59

25

9

5

2

13.914

Alte Bundesländer

83

11

4

1

1

68.312

Deutschland

56

34

7

2

1

19.325

Neue Bundesländer

51

36

10

3

1

5.029

Alte Bundesländer

58

34

6

2

1

14.296

82.226

Ausbaugewerbe:

.-

Quelle: Statistisches Bundesamt (1994).

Die Betriebe mit bis zu 19 Beschäftigten sind im Baugewerbe der neuen Bundesländer entsprechend weniger stark vertreten, wobei - wie bereits angesprochen - die größtenteils noch aus DDR-Zeiten stammenden und weitergeführten Kleinstbetriebe, vor allem des Ausbaugewerbes, hier gar nicht erfaßt sind. Letztere dürften in Ostdeutschland immer noch den größten Teil der Betriebe dieses Fachzweiges stellen und anteilsmäßig die Bedeutung der Kleinstbetriebe in den alten Bundesländern sogar übertreffen. Da es sich bei der Organisation des Bausektors in den alten Ländern in Produktionsstätten unterschiedlicher Größe ebenfalls um historisch gewachsene Strukturen handelt, für die es auch hier keine zwingenden "sachlogischen" Begründungen gibt, bleibt erst einmal abzuwarten, ob der Angleichungsprozeß in den neuen Ländern innerhalb der nächsten Jahre überhaupt zu einer (noch) weitergehenden Annäherung der Betriebsgrößenstruktur führen wird. Gegen Allerdings ist in beiden Bereichen zu berücksichtigen, daß gerade bei den kleineren Betrieben die Erfassungsdichte in Westdeutschland immer noch höher sein dürfte als in den neuen Ländern.

Sauwirtschaft

433

eine derartige Entwicklung könnte beispielsweise die relativ starke Position von Zweig betrieben westdeutscher Baukonzerne sprechen. Auch kann aus heutiger Sicht nur schwer abgeschätzt werden, inwieweit sich die verstärkte Internationalisierung der Bauwirtschaft (Kapitalverflechtungen und ausländische Beschäftigte) auf die Leistungspalette und damit auch auf die Größenstruktur der ost- und auch der westdeutschen Bauwirtschaft auswirken kann. Angesichts des zunehmenden Drucks durch ausländische und meist deutlich kostengünstiger produzierende Konkurrenten dürften künftig vor allem zwei Entwicklungsrichtungen - eine Ausrichtung auf umfassende Leistungspakete, die sowohl Projektentwicklung, Erstellung und vielleicht auch Finanzierungsund Betreiberaufgaben "aus einer Hand" umfassen, oder eine noch stärkere Spezialisierung auf technisch anspruchsvolle und qualitativ hochwertige Verfahren - die Unternehmenslandschaft der (ost-)deutschen Bauwirtschaft prägen (vgl. Spiliner/Rußig 1996b). Bei einer zunehmenden Konzentration auf Komplettlösungen rund um das Bauwerk (Errichtung, Erhaltung und Nutzung) wäre langfristig auch eine Entwicklung hin zu größeren Unternehmenseinheiten denkbar, was aus heutiger Sicht also eher einer Annäherung der westan die ostdeutschen Größenstrukturen gleichkäme. Wegen der bereits angesprochenen Abgrenzungs- und Zuordnungsunterschiede und den anschließenden Ausgliederungen sowie umfangreichen Entlassungen war es zunächst nur schwer möglich, fundierte und vergleichbare Angaben zur Zahl der ostdeutschen Bauarbeitskräfte zu bekommen. Stützt man sich auf die Angaben der Bauberichterstattung (Totalerhebung im Bauhauptgewerbe sowie Zusatzerhebung im Ausbaugewerbe), so waren im ostdeutschen Baugewerbe 1994 rund 500.000 Beschäftigte tätig. Einige Hinweise aus anderen statistischen Berichtssystemen (z. B. Zählungen der Bundesanstalt für Arbeit oder die oben erwähnte Handwerkszählung) legen jedoch die Annahme nahe, daß sich diese Zahl eher an der unteren Grenze der tatsächlichen Beschäftigungshöhe im Baubereich bewegt. Damit verzeichnete das Baugewerbe in den neuen Ländern nach der radikalen Strukturbereinigung mit einem Plus von rund 16 % gegenüber 1992 den wohl stärksten Beschäftigungsanstieg aller Wirtschaftsbereiche. Zwar dürfte dieser ebenfalls zum Teil auf Nacherfassungen zurückzuführen sein, es ist aber unstrittig, daß der Bausektor ganz wesentlich zur Stabilisierung der lange Zeit steil abwärts gerichteten Gesamtbeschäftigung in Ostdeutschland beigetragen hat bzw. immer noch beiträgt. Er hat auch eine hohe Zahl an Arbeitskräften

434

Volker Rußig. Susanne Deutsch und Andreas Spillner

aus anderen Wirtschaftszweigen aufgenommen. Zudem dürfte durch die hierbei realisierten starken Zugänge bei den Auszubildenden auch der Grundstein zur Sicherung eines langfristig hohen Qualifikationsniveaus gelegt worden sein.

4. Entwicklung des Baubedarfs und der Bauinvestitionen in Ostdeutschland bis 1994/95 Angesichts dieser Entwicklungen bei Betrieben und Beschäftigten im Baugewerbe muß jedoch nachdrücklich darauf hingewiesen werden. daß eine vergleichbar rasche Expansion der Bautätigkeit in Ostdeutschland wie in den letzten Jahren künftig nicht mehr erwartet werden kann. Mittlerweile liegen die ProKopf-Bauinvestitionen in den neuen Ländern im Wohnungsbau etwas über, im Nichtwohnbau für Unternehmen und Staat sogar mehr als doppelt so hoch wie im Westen. Auf lange Sicht signalisieren diese hohen Werte ein beträchtliches Rückschlagspotential (vgl. Rußig 1996). Die Aufnahmefähigkeit für Kräfte aus anderen Wirtschaftszweigen ist inzwischen wohl weitgehend ausgeschöpft. Zwar kann bis zum Ende dieses Jahrzehnts bei Betrachtung der geglätteten Durchschnitte bzw. der Trendverläufe noch eine Ausdehnung der ostdeutschen Bauinvestitionen erwartet werden, jedoch werden sich die Zuwächse in weit gemäßigteren Bahnen als bisher bewegen (vgl. Gluch 1996). Zusammen mit den noch zu erwartenden Steigerungen bei der Arbeitsproduktivität ist langfristig und abseits konjunktureller Nachfrage- und Beschäftigungsschwankungen folglich nicht zu erwarten, daß das hohe Beschäftigungsniveau in der ostdeutschen Bauwirtschaft noch wesentlich über das heutige Maß hinaus ausgedehnt werden kann, eher muß auf die Abbaurisiken durch den Produktivitätsdruck und die Niedriglohnkonkurrenz verwiesen werden. Dem oben angesprochenen angebotsseitigen Strukturwandel im Bausektor der neuen Länder stand allerdings VOn Anfang an ein enorm hoher Baubedarf und schon ziemlich bald auch eine große, "extern" gestützte kaufkräftige Nachfrage nach Bauleistungen gegenüber. Das ifo Institut hat frühzeitig differenzierte Untersuchungen darüber vorgelegt, wieviele und welche Baumaßnahmen ausgehend vom Jahre 1991 - durchgeführt werden müßten, wenn das (politisch anvisierte) Ziel einer weitgehenden Angleichung der baulichen Versor-

Sauwirtschaft

435

gungs- und Ausstattungsniveaus bis 2005 erreicht werden sollte (vgl. Gluch 1996). Die Aufsummierung der getrennt für zehn Teilbereiche sowie jeweils separat für den Erhaltungs- und den Erweiterungsbaubedarf durchgeführten Berechnungen und Schätzungen ergab einen aggregierlen Baubedarfvon insgesamt 2,4 Bill. DM (in Preisen von 1990) bis zum Jahr 2005. Verteilt man diesen kaum vorstellbar großen Betrag auf die ganze Analyseperiode von 15 Jahren, so ergibt sich ein durchschnittlicher Jahreswert von rund 158 Mrd. DM. Demgegenüber betrugen die ostdeutschen Bauinvestitionen im Ausgangsjahr 1991 erst 43 Mrd. DM. Es war klar, daß dieser immens hohe Baubedarf - wenn überhaupt - nur mit größter Anstrengung und schon gar nicht allein aus eigenen Mitteln von Bevölkerung, Unternehmen und Staat der neuen Länder befriedigt werden könnte. Es waren also in beträchtlichem Umfang "externe" Finanzmittel erforderlich, die denn auch rasch aus unterschiedlichen staatlichen und privaten Quellen flossen. Diese zunächst "geborgte" Kaufkraft brachte die Sauwirtschaft in den neuen Ländern in Schwung. Sie sorgte für Multiplikatoreffekte in der ostdeutschen Wirtschaft, aber auch für Zusatznachfrage und -beschäftigung im westdeutschen Bausektor und indirekt weit über diesen hinaus, so daß von einem hohen "Recycling der Transfermilliarden" gesprochen werden kann. Neben den rasch spürbaren direkten sowie den Multiplikatoreffekten bei Einkommen und Beschäftigung in den neuen Ländern selbst sowie in Westdeutschland und im benachbarten Ausland gab es für die starke Konzentration der Transferzahlungen auf die Bauwirtschaft noch weitere gute Gründe: Zunächst mußte dem drohenden Verfall großer Teile der Sausubstanz rasch und entschlossen begegnet werden. Sodann ergaben sich hieraus direkte Wirkungen für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der dort lebenden Menschen, insbesondere bei der Versorgung mit Wohnraum. Schließlich handelt es sich um Zukunftsinvestitionen in den "Standort Deutschland", wenn Altlasten beseitigt und Infrastruktureinrichtungen modernisiert oder neu geschaffen wurden. Zu tief saß der Schock des Systemzusammenbruchs und zu gravierend waren die Umstrukturierungserfordernisse, als daß mit einer nahtlosen Fortführung oder gar mit einem sofortigen Niveausprung der Sauleistungen in den neuen

436

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

Bundesländern - etwa auf das vom Baubedarf signalisierte Niveau - hätte gerechnet werden können. Zudem mußten einige Grundvoraussetzungen für das zügige Anspringen der Baukonjunkturerst geschaffen werden. Dies waren vor allem Abklärung von Eigentumsverhältnissen und Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen, speziell: Klärung von Restitutionsansprüchen an Grundstücken, Wohngebäuden und Betrieben, Aufbau von Planungs-, Genehmigungs- und Vergabebehörden. Um so beachtlicher ist, daß es nach der "Wende" im Wirtschaftsbau - nach den vorliegenden Schätzungen - gar nicht zu einem Einbruch, sondern zu einem sofortigen Anstieg kam (vgl. die Index-Darstellung in Abb. 4), und daß auch der öffentliche Bau im Jahr 1990 das Vorjahresniveau vermutlich halten konnte. Demgegenüber mußte der Wohnungsbau 1990/91 zunächst einen Rückgang verkraften; diese Bausparte stellte aber - nach dem Anspringen auch der Neubautätigkeit - seit 1992 die entscheidende Triebfeder der dynamischen Ausweitung der Bauinvestitionen dar (vgl. Gluch 1995). Mit rund 106 Mrd. DM Bauinvestitionen (in Preisen von 1991) bzw. mit einem Beitrag von gut 40 % zum realen Bruttoinlandsprodukt der neuen Länder war die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Bauwirtschaft 1994 außergewöhnlich hoch; selbst bezogen auf die gesamte Inlandsnachfrage dürfte sich der "investive Bauanteil" seinerzeit noch auf deutlich über 20 % belaufen haben. Es ist klar, daß ein Konsumverzicht in dieser Größenordnung allein für die Neuerrichtung und Modernisierung von Gebäuden und Tiefbauten derzeit nicht "freiwillig" durch Ersparnisbildung aus den laufenden Einkommen, Erträgen oder Steuereinnahmen finanziert werden kann. Hierfür waren - und sind auch noch in Zukunft - vielmehr in hohem Maße Kapitalimporte und Transferzahlungen notwendig, denen dann natürlich entsprechende Vermögenspositionen dieser "Ausländer" oder Gebietsfremden gegenüberstehen. Bezieht man die gesamten realen Bauinvestitionen für Vergleichszwecke auf die jeweiligen Bevölkerungszahlen, so hatte Ostdeutschland 1994 mit rund

Sauwirtschaft

437

Abbildung 4 Bauinvestitionen nach Sparten in den neuen Ländern 1990 bis 1999 - in Preisen von 1991; Index 1992 = 100 -

1992 = 100 250.-------------------------------------------,

200

...

150

100

..

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------

,

,0

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- - --

_.... "".

50

oL-----------------------------------------~

1990

-

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

Wohnungsbau ... Gewerblicher Bau -- Öffentlicher Bau

Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Vorausschatzung des ifo Instituts (Stand: Marz 1996).

6.800 DM je Einwohner die alten Bundesländer (lediglich etwa 4.900 DM/Einwohner) schon längst weit hinter sich gelassen. Der Abstand zwischen den Pro-Kopf-Werlen stieg auch 1995 mit knapp 7.500 DM je Einwohner (Ost) bzw. 4.700 DM je Einwohner (West) nochmals an. Durch die in Westdeutschland wesentlich höheren Anteile des Wohnungsbaus an den gesamten Bauinvestitionen fallen in einem spartenweisen Vergleich die Unterschiede im gewerblichen und öffentlichen Bau jedoch deutlich größer aus (vgl. Abb. 5). Während der Pro-Kopf-Wert der Bauinvestitionen in den neuen Ländern nach konjunkturellen Rückschlägen tendenziell weiter klettern und 1999 bei deutlich über 8.000 DM je Einwohner liegen dürfte, wird der westdeutsche Wert in den nächsten Jahren kaum über das derzeitige Niveau hinaus ansteigen. Der Grund für die lediglich geringfügige Veränderung in Westdeutschland liegt in

29 Wiedervereinigung

438

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

Abbildung 5

Bauinvestitionen je Einwohner in Deutschland 1991 bis 1999 - in Preisen von 1991, Index 1992 = 1001.000 DM

Wohnungsbau

1.000 DM

Wirtschaftsbau

3,5

2,5

1,5

0,5

o

1999

3,5,-------------------------------------------------------~

2,5

1,5

0,5

o

1999

1991

Öffentlicher Bau

1.000 DM 1,6 ' , - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - ,

1,4 1,2

0,8 0,6 0,4 0,2 1991

1992

1993

I_

1994

alte Länder

0

1995

neue Länder

1999

I

Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen und Schatzungen des ifo Instituts (Stand: Marz 1996),

Sauwirtschaft

439

den geringeren Zuwachsraten der Bauinvestitionen, aber auch an der weiter steigenden Einwohnerzahl. In diesem Zeitraum wird sich auch die Verteilung zwischen den Sparten in Ostdeutschland weiter zugunsten des Wohnungsbaus verschieben, der bis zur Jahrtausendwende voraussichtlich deutlich über 40 % (1994: rund 38 %) der ostdeutschen Bauinvestitionen auf sich vereinigen wird.

5. Resümee und Ausblick für den ostdeutschen Bausektor: Der Wachstumsmotor zeigt deutliche Ermüdungserscheinungen Wie in allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft, so bedeuteten der Systemwechsel nach dem abrupten Zusammenbruch des DDR-Regimes und der "Überstülpung" eines hochgradig andersartigen Rechts-, Planungs- und Organisationssystems auch für die Betriebe und Beschäftigten der ostdeutschen Bauwirtschaft einen tiefen Einschnitt. Die Schlüsselstellung dieses Wirtschaftsbereiches für die Erhaltung der vielfach maroden Bausubstanz, für die Verbesserung der Versorgungslage und der Lebensumstände der Bevölkerung sowie für rasch wirkende Einkommensund Beschäftigungseffekte wurde frühzeitig erkannt. Die daraufhin ergriffenen staatlichen und privaten Maßnahmen beschleunigten und "glätteten" die gleichwohl tiefgreifenden Umstrukturierungsprozesse. Sie bewirkten bei Betrieben und Beschäftigten eine baldige Stabilisierung des Bausektors. Hierzu war außer freigesetzter Eigeninitiative auch in beträchtlichem Umfang direkte Hilfe von westdeutschen Unternehmen und von staatlichen Institutionen erforderlich, die von ersteren natürlich auch im eigenen Interesse und aus egoistischen Motiven zur Sicherung von Marktpositionen und zum Aufbau moderner Produktionsstätten gewährt wurde. Obwohl Anfang der neunziger Jahre auch die westdeutsche Baunachfrage konjunkturell steil aufwärts gerichtet war, reichten die Planungs- und Führungskapazitäten westlicher - überwiegend aber wohl doch westdeutscher - Bauunternehmen aus, um diese Umstrukturierungs- und Aufbauhilfe leisten zu können. Daß nicht alle "Blütenträume" gereift sind und noch die eine oder andere unangenehme "Überraschung" ins Haus steht, bestätigt nur, daß es zumeist kein völlig risikoloser Weg war. Manch einer aus der Baubranche, eher aber noch aus der Gilde der Grundstücksaufkäufer bzw. Developer, der Bauplaner sowie von einzelnen "Absahnern" unter den Unternehmensberatern (vgl. Ru29·

440

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

ßig/Dullinger 1994, Rußig et al. 1994), hat jedoch versucht, - zumal in der Anfangszeit -, unter Vermeidung eigener "Leistungen" und jeglichen Risikos die Unerfahrenheit von Personen und Institutionen in den neuen Ländern auszunutzen. Hier wird vielfach ein fader Nachgeschmack bleiben. Die rasche Umstrukturierung und das Hineinwachsen des Bausektors in die Rolle des ostdeutschen Wachstumsmotors mußte fast zwangsläufig zu Pannen und Problemen führen: Überzogene Preissteigerungen bei Bauland sowie Baumaterialien und -leistungen; "Verschwendung" von Steuergeldern; Schaffung von Überkapazitäten bei Gewerbehöfen und Einkaufszentren sowie Förderung der "falschen", weil für die unterversorgte Bevölkerung viel zu teuren Wohnungen. In einigen Marktsegmenten wurde die Aufnahmefähigkeit der Bauund Immobilienmärkte unter dem Eindruck einer (verständlichen) Planungsund Realisierungseuphorie und angesichts ergiebiger Finanzquellen wohl doch beträchtlich überschätzt. Schon mit diesen exemplarischen Hinweisen wird deutlich, daß die Risiken im Bausektor Ostdeutschlands gewachsen sind und weiter zunehmen werden, auch wenn bis vor kurzem noch von einer tendenziell weiter nach oben gerichteten, weitgehend "störungsfreien" Entwicklung ausgegangen wurde. Das Auslaufen bzw. die Reduzierung wichtiger Förderprogramme und -maßnahmen wird nach neueren Vorausschätzungen zumindest für eine Zwischenphase sogar zu konjunkturell rückläufigen Bauinvestitionen führen (vgl. Söffner 1996). Betrachtet man das heute erreichte, schon beachtlich hohe Niveau der jährlich erbrachten Bauleistungen, so ist klar, daß eine langfristig anhaltende Expansion im bisherigen Ausmaß nicht erwartet werden kann. Zwar besteht in den neuen Bundesländern immer noch und auf Jahre hinaus ein großer Baubedarf, jedoch ist eine Stabilisierung der Pro-Kopf-Bauleistung auf der bisher erreichten Höhe langfristig weder aus eigener Kraft finanzierbar noch können die heutigen Transferleistungen dauerhaft aufrechterhalten werden. Auch darf nicht verkannt werden, daß durch die bereits erbrachten und in nächster Zeit noch zu erwartenden Bauleistungen eine zunehmende Deckung des vorhandenen Bedarfs durch vergleichsweise neue oder moderne Bauwerke schon realisiert ist oder in nächster Zeit erreicht wird. Somit werden sich auf lange Sicht in der ostdeutschen Bauwirtschaft eine deutlich weniger expansive Entwicklung und sogar fallende Trendkurven ein-

Sauwirtschaft

441

stellen. Wegen dieser aufgelaufenen, sich zunächst noch weiter erhöhenden Niveauanpassungserfordernisse sind die längerfristigen Perspektiven für die Bautätigkeit in den neuen Ländern weit ungünstiger zu beurteilen als es die Entwicklung der letzten Jahre für viele Akteure nahezulegen scheint. Die sich weiter verschärfende Auslandskonkurrenz wird - mit oder ohne Entsenderegelung und Mindestlohnvereinbarung - zu einer Normalisierung und zu raschen Kapazitätsbereinigungen ganz wesentlich beitragen.

Literatur Gluch, E. (1995): Entwicklung der Baumärkte in den neuen Ländern bis 1999, München (nicht veröffentlicht). Gluch, E. (1996): Nur noch geringe Erhöhung der ostdeutschen Bauinvestitionen bis 1999, in: ifo Schnelldienst (49)6, München. Krehl, H.-J. (Hrsg.) (1990): Wohnbausubstanz und Wohnbaubedarf in der DDR, Bremerhaven. Loose, B. (1995): Ostdeutsches Baugewerbe: Wachstum mit Differenzierung zwischen den Sparten, in: Wirtschaft im Wandel 3, Institut für Wirtschaftsforschung Halle. Manzel, K.-H. (1991): Stand von Bautätigkeitsstatistik und Bauberichterstattung in den neuen Bundesländern, in: ifo Schnelldienst (44)25-26, München. Rußig, V. (1996): Bauwirtschaft in Deutschland: Beschleunigter Strukturwandei, in: ifo Schnelldienst (49)25-26, München. Rußig, V.lDullinger, P. (1994): Unternehmensberatung im Bausektor: Hoher Qualitätsstandard aber viele "schwarze Schafe", in: ifo Schnelldienst (47)6, München. Rußig, V.lMenkhoff, H.lDullinger, P.lRuss, H. et al. (1994): Unternehmensberatung in der mittelständischen Bauwirtschaft, Untersuchung für die Rationalisierungsgemeinschaft "Bauwesen" im RKW, Eschborn. Rußig, V.lDeutsch, S.lSpiliner, A. et al. (1996): Branchenbild Bauwirtschaft Entwicklung und Lage des Baugewerbes sowie Einflußgrößen und Perspektiven der Bautätigkeit in Deutschland, Schriftenreihe des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung Nr. 141, Berlin/München.

442

Volker Rußig, Susanne Deutsch und Andreas Spillner

Söffner, F. (1996): Baurezession erreicht die neuen Bundesländer, in: ifo Wirtschaftskonjunktur (48)8, München. Spillner, A./Rußig, V. (1996a): Bauarbeitsmarkt 2004 - Entwicklung und Prognose von Arbeitskräftebedarf und Arbeitskräfteangebot im deutschen Bauhauptgewerbe bis 2004, ifo Studien zur Bauwirtschaft 19, München. Spillner, A./Rußig, V. (1996b): Baugewerbe unter verstärktem Anpassungsdruck, in: ifo Schnelldienst (49)22, München. Statistisches Amt der DDR (Hrsg.) (1990): Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (Ifd. Jahrgänge): Beschäftigung, Umsatz und Gerätebestand der Betriebe im Bauhauptgewerbe, Fachserie 4, Reihe 5.1. Zimmermann, J. (1990): Wohnungsmarkt und Städtebau in der DDR: Ausgangslage - Probleme - Konzepte, in: ifo Schnelldienst (43)15, München.

Handwerk: Ein Motor des Wirtschaftswachstums Von Max Eli und Carola Vögtle

Im Handwerk 1 vollzog sich der Reformprozeß wesentlich schneller als in anderen Wirtschaftsbereichen, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen expandierte es kräftig. Von 1989 bis 1995 stieg die Zahl der ostdeutschen Handwerksbetriebe von nahezu 80.000 auf rund 130.600 an 2 , was einer Zunahme um 63 % entspricht. Gleichzeitig nahm die Zahl der Beschäftigten um fast das Dreifache auf rund 1.250.000 zu. Unter anderem aufgrund der schwierigen Entwicklung der ostdeutschen Industrie, die durch Betriebsstillegungen und einen dramatischen Beschäftigtenabbau geprägt war, fiel dem Handwerk die Rolle des Wachstumsträgers zu. Die Basis dafür ist in der Expansion der öffentlichen und privaten Investitionen sowie der allgemeinen Einkommensentwicklung zu sehen. Insbesondere die Bauinvestitionen, aber auch die sprunghaft steigende Nachfrage der privaten Haushalte nach bestimmten Ausstattungsgütern, allen voran Personenkraftfahrzeuge, eröffneten vielen Handwerkern ausgezeichnete Betätigungsmöglichkeiten und Wachstumschancen. Noch 1990 war diese Entwicklung keinesfalls abzusehen.

1. Produktionsgenossenschaften des Handwerks Der Handwerksstatistik der ehemaligen DDR zufolge waren 1989 insgesamt 79.887 Handwerksbetriebe - private Handwerker sowie ProduktionsgenossenBehandelt wird die Entwicklung des Voll handwerks (= die Handwerksbetriebe, die in der Anlage A zum Gesetz zur Ordnung des Handwerks verzeichnet sind). Lt. Umfrage des Deutschen Handwerkskammertages in den neuen Bundeslandern.

444

Max Eli und Carola Vögtle

schatten des Handwerks (PGH) - registriert, in denen 432.216 Personen beschäftigt waren; sie erwirtschafteten einen Jahresumsatz von umgerechnet 21.800,5 Mill. DM. 3 Im Jahr 1960 existierten in der DDR mehr als doppelt so viele Betriebe. Dieser Abschmelzungsprozeß war politisch gewollt und durch die sozialistische Gesellschaftsordnung, in der die Entstehung von Produktionsgenossenschaften des Handwerks gefördert werden sollte, begründet. Eine systematische Verschlechterung der Rahmenbedingungen für das private Handwerk und entsprechend günstigere Bedingungen für die Produktionsgenossenschaften des Handwerks förderten den Zusammenschluß rechtlich und wirtschaftlich selbständiger Betriebe des Handwerks und der Kleinindustrie zu PGH's. 1989 gab es im Beitrittsgebiet 2.718 PGH's. Dennoch blieben zahlreiche Handwerksbetriebe in Privatbesitz. Nach der Wende wurde schnell deutlich, daß die Produktionsgenossenschaften des Handwerks weder unter den neuen rechtlichen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten weiter bestehen konnten. 4 Sie wurden z. T. aufgelöst, z. T. in andere Rechtsformen umgewandelt. Diejenigen Handwerksmeister, die bereits zu DDR-Zeiten ein Handwerk selbständig führten, behielten nach der Wende das Recht, ihr Handwerk weiter zu betreiben. Die Branchenstruktur des ostdeutschen Handwerks unterschied sich deutlich von der in den alten Bundesländern. In Ostdeutschland lag 1989 der Anteil des Bau- und Ausbaugewerbes an der Gesamtzahl der Handwerksbetriebe mit 15,9 % weit unter dem Anteil in Westdeutschland (21,6 %), dagegen waren das Bekleidungs-, Textil- und Ledergewerbe sowie das Holzgewerbe anteilsmäßig wesentlich stärker repräsentiert (vgl. Abb. 1). Die Handwerksdichte (Betriebe je 1.000 Einwohner) war 1989 in der Ex-DDR mit 4,8 erheblich geringer als in Westdeutschland (8,6). Auch die Zahl der Beschäftigten je Betrieb war niedriger. Im Beitrittsgebiet beschäftigte 1989 ein

Die Datenbestande wurden nach den in der Anlage Azur Handwerksordnung der Bundesrepublik Deutschland festgelegten dem Handwerk zuzurechnenden Gewerbezweigen umgeschlüsselt und abgegrenzt. Die Produktionsgenossenschaften des Handwerks durften It. Verordnung über die Gründung, Tatigkeit und Umwandlung von Produktionsgenossenschaften des Handwerks GBI. Teil I, Nr. 18 vom 19. 03.1990 nicht so weiterbestehen.

445

Handwerk

Abbildung 1

Anteil der Gewerbegruppen im Handwerk 1989 an der Gesamtzahl der Handwerksbetriebe" Neue Bundesländer Glas-, Papier-, keramische und sonstige Gewerbe (6,1 %) Gewerbe für Gesundheitsund Körperpflege sowie (7,4%) Reinigungsgewerbe

Bau- und Ausbaugewerbe (15,9%)

Nahrungsmittel- (10,2%) gewerbe

Bekleidungs-, (14,5%) Textil- und Ledergewerbe

(33,5%) Elektro- und Metaligewerbe

Holzgewerbe (12,5%)

Alte Bundesländer Glas-, Papier-, keramische und sonstige Gewerbe (3,3%) Gewerbe für Gesundheits-(13 1%) und Körperpflege sowie ' Reinigungsgewerbe

Bau- und Ausbaugewerbe (21,6%)

Nahrungsmittel- (11,3%) gewerbe

Bekleidungs-, (6,3%) Textil- und Ledergewerbe (8,2%) Holzgewerbe

Quelle: Statistisches Bundesamt.

(36,2%) Elektro- und Metallgewerbe

Max Eli und Carola Vögtle

446

Handwerksbetrieb durchschnittlich 5,4 Personen, in Westdeutsch land dagegen 6,9 Personen.

2. Tiefgreifender Wandel und starkes Wachstum Von 1989 bis 1995 vollzog sich ein rascher Strukturwandel im ostdeutschen Handwerk, der von einem starken Wirtschaftswachstum begleitet und verursacht war. Sowohl die Zahl der Betriebe als auch die der Beschäftigten nahm erheblich zu (vgl. Tab. 1 und 2). Dabei ist zu berücksichtigen, daß viele Betriebe, die seit 1989 dem Handwerk zugerechnet werden, bereits vorher in anderen Wirtschaftsbereichen (z. B. Industrie, Baugewerbe, Dienstleistungsbereich) existierten. Infolge der Privatisierung von Betrieben entstanden viele Handwerksbetriebe durch Ausgründung einzelner Bereiche oder ganzer Abteilungen aus Industrieunternehmen. Unterstützt wurde das Wachstum durch eine flexible Umsetzung der Handwerksordnung. 5 Durch diese Politik erhielten viele Tabelle 1 Zahl der Betriebe im Handwerk" (1989 -1995) nach Bundesländern Jahr (jeweils 31. 12.) Land Berlin-Ost

1989

1991

1992

1993

1994

1995

4.381

5.535

6.062

6.655

6.982

7.153

Brandenburg

12.354

18059

19.680

20.843

21.833

22.217

MecklenburgVorpommern

6.620

11.506

12.369

13.152

13.640

13.967

Sachsen.

30.144

35.790

37.693

39.767

41.276

41.831

Sachsen-Anhalt

12.065

18.559

20.244

21.248

21.895

22.297

Thüringen

14.323

19.325

20.892

22.031

22.830

23.176

Neue Bundesländer

79.887

108.774

116.940

123.696

128.456

130.641

Alte Bundesländer

533.669

533.460

533.712

534.872

538.337

541.972

Gesamt

613.556

642.234

650.652

658.568

666.793

672.613

a) Vollhandwerk. Quelle: lentralverband des Deutschen Handwerks (lOH).

Die Handwerksordnung und die hierzu erlassenen Rechtsverordnungen traten in den neuen Bundesländern am 3. Oktober 1990 in Kraft.

Handwerk

447

Personen die Möglichkeit, bei nachweislicher Qualifikation und Befähigung einen Handwerksbetrieb zu gründen. Ein breit gefächertes Angebot finanzieller Förderhilfen von Bund und Ländern trug zur Erleichterung des Existenzaufbaus bei. Dazu zählten Liquiditätsdarlehen, Eigenkapitalhilfeprogramme und Messeförderung, zugeschnitten besonders auf kleine und mittlere Betriebe. Die Zahl der Betriebe stieg vor allem in den ersten Jahren nach der Wende. Die jährlichen Zuwachsraten fielen danach von Jahr zu Jahr geringer aus. Kamen im Jahr 1992 noch 8.166 Unternehmen hinzu, so waren es 1993 mit 6.756, 1994 mit 4.760 und 1995 mit 2.185 bereits wesentlich weniger. Die Handwerksdichte war im Jahr 1995 mit 8,4 Betrieben je 1.000 Einwohner6 ähnlich hoch wie in den alten Bundesländern (8,2 Betriebe je 1.000 Einwohner), wobei die Betriebsdichte in Thüringen und Sachsen mit 9,2 bzw. 9,1 Betrieben je 1.000 Einwohner deutlich über dem Durchschnitt lag. Tabelle 2

Zahl der Beschäftigten im Handwerk" (1989 bis 1995) nach Bundesländern - in 1.000 Jahr (jeweils 31.12.) Land

1989

1992

1993

Berlin-Ost

31

47

Brandenburg

64

138

170

Mecklenburg-Vorpommern

39

92

102

Sachsen

1994 b

1995 c

52

160

300

361

Sachsen-Anhalt

69

143

148

Thüringen

69

129

182

432

849

1.015

1.167

1.250

Neue Bundeslander Alte Bundeslander

3.668

3.872

3.865

3.835

4.270

Gesamt

4.100

4.721

4.880

5.002

5.520

a) Vollhandwerk. - b) Aufgliederung nach Bundeslandern nicht verfügbar. - c) Schatzung des ZDH. Quelle: Umfrage des Deutschen Handwerkskammertages (DHKT) in den neuen Bundeslandern, Statistisches Bundesamt, ZDH.

Stand der Einwohnerzahl: Jahresdurchschnitt 1994.

448

Max Eli und Carola Vögtle

Bei den Beschäftigten läßt sich die Entwicklung wegen einer lückenhaften Datenbasis nicht kontinuierlich darstellen. Im Zeitraum von 1989 bis 1995 7 zeigt sich ein deutlicher Zuwachs, die Zahl der Beschäftigten stieg von 432.200 um 817.800 auf 1.250.000 an (1994: 1.167.000). Die durchschnittliche Betriebsgröße der ostdeutschen Handwerksbetriebe näherte sich im Betrachtungszeitraum dem Niveau der alten Bundesländer rasch an, sie liegt seit 1993 sogar höher als in Westdeutschland. Ein ostdeutscher Handwerksbetrieb beschäftigte 1995 im Schnitt 9,6 Mitarbeiter, im westdeutschen Handwerk waren es durchschnittlich 7,9. Im Jahr 1989 lag die durchschnittliche Betriebsgröße ostdeutscher Handwerksbetriebe noch bei 5,4 Beschäftigten je Betrieb (alte Bundesländer: 6,9). Bei der Bereitstellung von Lehrstellen kommt dem ostdeutschen Handwerk eine herausragende Rolle zu. Im Jahr 1995 wurden 85.689 Lehrlinge mehr ausgebildet als 1991 8 , insgesamt standen 152.922 Lehrlinge in Ausbildung, 16 % mehr als 1994. In den neuen Bundesländern entfielen 44 % aller neu abgeschlossenen Lehrverträge im Jahre 1995 auf das Handwerk, in Westdeutschland waren es 38 %. Nach den Ergebnissen der 1995 durchgeführten Handwerkszählung, der ersten seit 18 Jahren und der ersten in den neuen Bundesländern überhaupt, lag abweichend von den Angaben des ZOH, die auf Meldungen aus den Handwerkskammern beruhen, die Zahl der Handwerksbetriebe bei 108.9009 , die Zahl der Beschäftigten bei 1,2 Mil1. 10 Die Differenz bezüglich der Zahl der Betriebe ergibt sich zum einen aus den unterschiedlichen Stichtagen, zum anderen werden von den Handwerkskammern neben den produktiv tätigen Handwerksbetrie.ben auch die ruhenden Betriebe sowie die in Umwandlung (Rechtsform) begriffenen Betriebe mitgezählt. Bei der Zahl der Beschäftigten sind im Unterschied zu den Meldungen der Handwerkskammern auch die Inhaber, Lehrlinge und Umschüler enthalten. Den Zahlen der Handwerkszählung ist zu entnehmen, daß 1994 immerhin etwa ein Fünftel (19,5 %) aller Erwerbstätigen

Schätzungen des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH). Lehrlingsbestand jeweils am 31.12. Stichtag 31. 03. 1995. 10

Stichtag 30. 09. 1994.

Handwerk

449

in den neuen Bundesländern im Handwerk beschäftigt waren, in den alten Bundesländern waren es mit 16,9 % deutlich weniger.

3. Branchenstruktur des ostdeutschen Handwerks Die Branchenstruktur des ostdeutschen Handwerks hat sich zwischen 1989 und 1995 weitgehend der des westdeutschen Handwerks angeglichen (vgl. Abb. 2). Zu den stärksten Handwerkszweigen zählten 1995 das Metall- und Elektrohandwerk sowie das Bau- und Ausbauhandwerk; fast 68 % aller Handwerksbetriebe gehörten diesen Sparten an, in Westdeutschland waren es 61 %. Die Handwerke des Bau- und Ausbaugewerbes und die anderen baunahen Gewerke konnten sowohl von der gestiegenen Nachfrage im öffentlichen Bau als auch von dem starken Neubau- und Sanierungsbedarf profitieren. 11 Die gesamtwirtschaftlichen Bauinvestitionen stiegen von 1991 bis 1995 um mehr als das Doppelte von 50 Mrd. DM auf rund 119 Mrd. DM an. 12 Eine Ursache für die starke Nachfrage nach konsumorientierten Handwerksleistungen ist in den steigenden Einkommen zu suchen, durch die auch die Ansprüche an die Ausstattung der Haushalte sowie an bestimmte Dienstleistungen höher wurden. Das anfangs noch mangelhafte Angebot in den neuen Bundesländern führte zwar zunächst zur Hinwendung an westdeutsche Produkte und Märkte, doch das änderte sich rasch. Die Flexibilität des Handwerks führte zur Verbesserung der Qualität der ostdeutschen Produkte und Dienstleistungen und zieht mehr und mehr Kunden an. Einige der traditionellen Handwerke, z. B. Spielzeugmacher und Porzellanmaler, stoßen zunehmend lokal und teilweise auch überregional auf Interesse, und es gelingt ihnen, Marktnischen zu besetzen. Die Zahl der Handwerksbetriebe im Bau- und Ausbaugewerbe stieg im Zeitraum 1989 bis 1995 um mehr als das Doppelte auf 31.020. Von dieser Entwicklung gingen auch auf die baunahen Gewerke wie Elektroinstallateure, Gas- und Wasserinstallateure sowie Zentral heizungs- und Lüftungsbauer positive Impulse aus (vgl. Abb. 3). Die starke Bautätigkeit schlug sich auch hier in 11

Ausführlich dazu der Beitrag von Rußig et al. im vorliegenden Band.

12

Ergebnisse der VGR, in Preisen von 1991.

450

Max Eli und Carola Vögtle

Abbildung 2

Anteile der Gewerbegruppen im Handwerk 1995 an der Gesamtzahl der Handwerksbetriebe" Neue Bundesländer Glas-, Papier-, keramische und sonstige Gewerbe Gewerbe für Gesundheitsund Körperpflege sowie (3,9%) Reinigungsgewerbe (9,7%) Nahrungsmittelgewerbe

Bau-und Ausbaugewerbe (23,7%)

(6,8%)

Bekleidungs-, Textil- und (4,3%) Ledergewerbe Holzgewerbe

(7,5%)

Elektro- und Metallgewerbe

Alte Bundesländer Glas-, Papier-, keramische und sonstige Gewerbe Gewerbe für Gesundheits(3,1%) und Körperpflege sowie Reinigungsgewerbe (14,0%) /'

Nahrungsl1littelgewerbe (9,1%) Bekleidungs-, Textil- und Ledergewerbe (4,5%) Holzgewerbe

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Bau-und Ausbaugewerbe (22,9%)

Handwerk

451

der Neugründung zahlreicher Handwerksbetriebe nieder. Eine ähnliche Wirkung löste die mit der Wende einsetzende Automobilflut aus. Der steigende Absatz von Neu- und Gebrauchtwagen und der damit einhergehende Reparaturbedarf führten zu einer schnellen Zunahme von Betrieben des Kfz-Mechaniker-Handwerks. Im Bekleidungs-, Textil- und Ledergewerbe war dagegen ein deutlicher Rückgang der Zahl der Betriebe zu verzeichnen. Abbildung 3

Entwicklung der Zahl der Betriebe in den 12 größten Handwerkszweigen (1989 - 1995)

Elektroinstallateure

• • •_ . . . . . . . . . . 12 .017

13.536

. . . . . . . ._ . _ ._ _ _.11875

Maurer ~

..J ,! 1.830 i,

Metallbauer Tischler

10.495

I 3.044

Kraftfa hrzeug mechan iker



8 .577 . 6.135 _ _ _ _ _.. 7.630 ~

, 6.996

Friseure

_ _ J4 .039

Maler und Lackierer

13.950

Gas- und Wasserinstallateure Bäcker

3.211

6.145

4.993 4.381

5.158 _ _ _ 3.883

Zentralheizungs- u. Lüftungsbauer

617

Fleischer

--,.1 2.227

Dachdecker

1.634

o

C

7.337

3.754 3.188 I

••

1

t

2000 4000 6000 8000 10000 12000 14000

Zahl der Betriebe 1989. 1995

Stand am 31.12.

Quelle: Statistisches Bundesamt, Betriebsstatistik des DHKT.

452

Max Eli und Carola Vögtle 4. Probleme der ostdeutschen Handwerksbetriebe

Der Tätigkeitsradius der meisten Handwerksbetriebe beschränkt sich vorwiegend auf lokale Märkte und dort auf eine angestammte Kundschaft. Die überregionale Konkurrenz spielt noch keine große Rolle, sie nimmt aber zu. Einige Handwerksbetriebe, vor allem im Baugewerbe, waren so der Konkurrenz nicht gewachsen, 1995 betrug die Zahl der Insolvenzen im Handwerk 551 (+107 % gegenüber 1994). Etwa zwei Drittel der Konkurse (66 %) betrafen Betriebe des Baugewerbes. Trotz der Finanzierungshilfen von Bund und Land bezeichnen viele Handwerksbetriebe ihre Eigenkapitalausstattung als zu schwach, ihr Finanzierungsbedarf ist nach wie vor erheblich. Verschärft wird die Lage des Handwerks durch den Umstand, daß bei einigen Förderprogrammen 1995 die tilgungsfreien Fristen abgelaufen sind und Probleme bei der Rückzahlung der aufgenommenen Kredite auftauchen. Die Stabilität vieler Betriebe steht damit auf dem Spiel. Aus der schwachen Eigenkapitalausstattung sowie der mangelnden Zahlungsmoral der Auftraggeber, in manchen Fällen sogar der öffentlichen Hand, erwachsen Liquiditätsengpässe, und zu wenig Investitionen erschweren vielen Handwerkern das Leben (vgl. o.V. 1994). Hinzu treten aber häufig Defizite in der betriebswirtschaftlichen Führung der Handwerksbetriebe. Hohe Gewerberaummieten, ein nicht selten restriktives Kreditvergabeverhalten der Banken sowie zunehmende Schwarzarbeit beeinträchtigen den Handlungsspielraum der Handwerker ebenso wie hohe Steuer- und Abgabelasten.

5. Fazit: Existenzsicherung hat Vorrang Flexibilität: Anpassungsfähigkeit und Bereitschaft zu unternehmerischem Risiko haben dazu beigetragen, daß das ostdeutsche Handwerk die beschriebene expansive Entwicklung nehmen konnte. Dennoch steht dieser Wirtschaftsbereich vor beachtlichen Problemen, insbesondere auch die Handwerke, die von der Bauwirtschaft abhängig sind. Angesichts des erreichten hohen Niveaus und des schärfer werdenden Wettbewerbs verläuft die Entwicklung seit 1994 langsamer als in den Jahren 1990 bis 1993. Konsolidierung und Existenzsicherung haben nun Vorrang. Die Ergebnisse des ifo Konjunkturtests im ostdeutschen Handwerk deuten nach einem besonders günstigen Verlauf im Jahr 1994, verstärkt aber seit Ende 1995, auf eine Verschlechterung der Ge-

Handwerk

453

schäftssituation hin. Im zweiten Quartal 1996 hielten sich bei der Beurteilung der aktuellen Geschäftslage positive und negative Stimmen nur mehr die Waage; die Geschäftserwartungen der Handwerker ließen eher Pessimismus erkennen. Dennoch wird die besser werdende Entwicklung der ostdeutschen Industrie voraussichtlich positive Impulse auslösen, insbesondere für das Zuliefer-Handwerk. Weitere Neugründungen treten jetzt jedoch in den Hintergrund, die bestehenden Handwerksbetriebe versuchen ihre Marktposition abzusichern. Viele müssen versuchen, ihre Innovationsfähigkeit zu stärken, ihr Leistungsangebot zu erweitern, zu qualifizieren und zu komplettieren.

Literatur Beer, S. (1995): Das ostdeutsche Handwerk hat seine Leistungsfähigkeit bedeutend erhöht, in: Wirtschaft im Wandel 3, Institut für Wirtschaftsforschung Halle. OY (1994): Übergang zum Markt geschafft, in: iwd vom 6. Okt. 1994. Zentralverband des Deutschen Handwerks (Hrsg.) (1992): Gesetz zur Ordnung des Handwerks und ergänzende gesetzliche Vorschriften, Bergisch Gladbach.

30 Wiedervereinigung

Handel: Hohe Wettbewerbsintensität fördert Anpassungsprozesse Von Josef Lachner, Thomas Nassua und Uwe ehr. Täger

Seit dem Ende des Jahres 1989 hat die empirische Handelsforschung im ifo Institut die vehementen strukturellen Umbrüche im damaligen DDR-Versorgungshandel zum Anlaß genommen, in mehreren Forschungsprojekten die Entwicklungsphasen des Aufbaus eines wettbewerbskonformen Distributionssystems in den neuen Bundesländern darzustellen und auf wichtige Einflußfaktoren hin zu analysieren (vgl. Lachner et al. 1995). In enger Kooperation mit der Forschungsstelle für den Handel Berlin (FfH), mit Kolleginnen und Kollegen der (ehemaligen) Handelshochschule Leipzig sowie der neu gegründeten ifo Niederlassung Dresden wurden in mehreren Studien die Entwicklungen des ostdeutschen Groß- und Einzelhandels sowie der Handelsvermittlung erörtert. Darüber hinaus wurden in zahlreichen Arbeitssitzungen dieser Forschungskooperation mit ostdeutschen Handelsunternehmen und -verbänden spezielle Fragestellungen (wie z. B. Raumwirkungen von großflächigen Einzelhandelsobjekten) diskutiert, um auf diese Weise einen wechselseitigen Informationstransfer zwischen der empirischen Handelsforschung, den Verbänden, Unternehmen sowie der Politik und der Handelspraxis in Gang zu setzen. Im Rahmen dieses Beitrags soll der Versuch einer Standortbestimmung dieser Forschungsaktivitäten unternommen werden - mit Blick auf künftige Entwicklungslinien in der ostdeutschen Warendistribution.

1. Handel: Wegbereiter von marktwirtschaftlichen Aktivitäten Wohl von keinem anderen Wirtschaftssektor in den neuen Bundesländern sind für die breite Implementierung marktwirtschaftlicher Aktivitäten so nachhaltige Impulse und Anstöße ausgegangen wie vom Handel. Die schnelle Auflösung des alten DDR-Versorgungshandels und das rasante Vordringen moderner 30·

456

Josef Lachner, Thomas Nassua und Uwe ehr. Täger

Handelssysteme mit einer hohen Kundenaffinität haben wesentlich dazu beigetragen, daß grundlegende Leitbilder des Leistungswettbewerbs in der Bevölkerung in den neuen Bundesländern mehr und mehr Akzeptanz gefunden haben. Die große Angebotsvielfalt an Gütern in einem wettbewerbsgesteuerten Handelssystem und der intensive horizontale Wettkampf zwischen den verschiedenen Verkaufsstellen- bzw. Betriebstypen im Einzelhandel mit seinen positiven Wirkungen auf das Preisniveau im Einzelhandel sind ein anschauliches Beispiel für das Funktionieren einer freiheitlichen Wettbewerbsordnung. Die schnelle Privatisierung des volkseigenen Großhandels sowie der Betriebe der HO und die damit verbundene Übernahme von "Paketen" größerer Betriebsteile und Verkaufsstellen durch westdeutsche Handelsunternehmen und -gruppen haben den Markteintritt dieser Unternehmen erheblich erleichtert und ihnen in einigen Absatzregionen in den Jahren 1991 und 1992 zu spürbaren Vorsprüngen verholfen. Die hohe Intensität des nachstoßenden Wettbewerbs, so vor allem durch die in den letzten zwei Jahren vorgenommenen StandortNeugründungen, hat diese Vorsprünge innerhalb kurzer Zeit zusammenschmelzen lassen. Im Gegenteil: Einige Unternehmen, die auf Übernahmen verzichtet haben, sind den Wettbewerbern, die Teile des staatlichen Handels übernommen haben, inzwischen schon überlegen. Zwar mischen sich in diese Anerkennung und Akzeptanz der modernen Distributionssysteme z. T. erhebliche Klagen und kritische Äußerungen, z. B. über die Diskriminierung von ostdeutschen Konsumgütern durch die "neuen" Handeisunternehmen aus Westdeutschland, insgesamt aber wird mehr und mehr die "Abstimmung" durch die Konsumenten bei ihren Wahlentscheidungen über die Einkaufsstätten und ost- und westdeutsche Produkte respektiert. Aus dieser Entwicklung heraus kann die oft formulierte These bestätigt werden, daß in der Transformation einer Volkswirtschaft von einem Plan- zu einem Marktwirtschaftssystem der Handel häufig die Funktion des Wegbereiters für den Wettbewerb übernimmt und damit entscheidende Impulse für die übrigen Wirtschaftssektoren im schwierigen Prozeß der Transformation auslöst. Die in den neuen Bundesländern entstandene neue Arbeitsteilung im Handel mit Konsum- und Produktionsgütern hat bei den am Distributionsprozeß beteiligten Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, des Groß- und Einzelhandels sowie der Handelsvermittlung, des Speditionsgewerbes und anderer Dienstleistungsbereiche eine völlig neue Ausrichtung ihrer betrieblichen und marktbezogenen Funktionen ausgelöst. Viele ostdeutsche Produktionsunter-

Handel

457

nehmen mußten ihre beschaffungs- und absatzwirtschaftlichen Organisationsund Entscheidungsstrukturen neu ausbilden, da viele ihrer bisherigen Aufgaben durch die Waren- und Dienstleistungsaktivitäten von Handelsunternehmen kostengünstiger wahrgenommen werden können. Die mit der Einführung der Marktwirtschaft verbundene Ausweitung der unternehmerischen Handlungsfreiheiten hat die ostdeutschen Unternehmen und Konsumenten zu einer radikalen Neubewertung der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Stellung des Handels veranlaßt. Dies hat auch zu einem intensiven Prozeß der Leistungs- und Angebotsdifferenzierung von größeren und kleineren Unternehmen des Groß- und Einzelhandels beigetragen. Als Leitbilder für diese Anpassungsprozesse wurden die Wettbewerbsstrukturen im westdeutschen Groß- und Einzelhandel herangezogen, deren distributionswirtschaftliche Leistungsfähigkeit in den übrigen westeuropäischen Industrieländern eine hohe Anerkennung erfährt. Der Markteintritt und das vehemente Vordringen der großen westdeutschen Handelsunternehmen und -gruppen mit ihren zahlreichen Filialgeschäften und ihren stark werbegestützten Absatzaktivitäten wurden vor allem dadurch ausgelöst, daß die im Beitrittsgebiet ansässigen Handelsunternehmen nicht über die marketingtechnischen, personellen und finanziellen Voraussetzungen für die Entwicklung moderner Distributionssysteme verfügten. Nach bisherigen Berechnungen und Schätzungen werden sowohl im Groß- als auch im Einzelhandel rund 60 % der in den neuen Bundesländern getätigten Umsätze von Filialen westdeutscher Unternehmen abgewickelt. Die weitgehende Übertragung des westdeutschen Distributions- und Wettbewerbssystems auf die neuen Bundesländer hat praktisch zu einer völligen Auflösung der alten Handelsstrukturen und damit auch zu einer neuen Marktpositionierung der bisherigen Handelsunternehmen geführt. Der Großteil dieser Handelsunternehmen hat zwar den "Markteintritt" in die wettbewerbsgesteuerte Distribution geschafft, sie kämpfen aber aufgrund unzureichender betrieblicher und finanzieller Voraussetzungen immer noch mit Anpassungsproblemen, um die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit vergleichbarer Handeisunternehmen westdeutscher Herkunft zu erreichen. Dieser notwendige Anpassungsprozeß ostdeutscher Handelsunternehmen an die Herausforderungen des intensiven Distributionswettbewerbs kann weniger

458

Josef Lachner, Thomas Nassua und Uwe ehr. Täger

durch flankierende schutzrelevante Regulierungen, sondern sollte vor allem durch die Förderung der absatzwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der kleinen und mittleren Unternehmen unterstützt werden. Die Auseinandersetzung der ostdeutschen Unternehmen mit den speziellen regionalen und lokalen Angebots- und Nachfragestrukturen bildet eine wesentlich bessere Plattform für die Verbesserung der betrieblichen Leistungsfähigkeit als Regulierungen zum Schutz von ostdeutschen Handelsunternehmen. Die intensive Inanspruchnahme von Förderprogrammen zur Stärkung der Eigenkapitalbasis und zur Modernisierung der Leistungsangebote führen in der Regel zu einem besseren Marktergebnis. Vor diesem Hintergrund werden im folgenden die strukturellen Entwicklungen in den einzelnen Bereichen des ostdeutschen Handels skizziert.

2. Großhandel: Nach wie vor ho her Lieferanteil westdeutscher Firmen Die Handels- und Gaststättenzählung 1993 weist für die neuen Bundesländer rund 10.000 Unternehmen aus, die im Schwergewicht ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit Großhandel betreiben (vgl. Tab. 1). Diese Unternehmen erzielten 1992 einen Jahresumsatz in Höhe von etwa 33 Mrd. DM (ohne MwSt). Im Zuge der Umstrukturierung der Wirtschaft erfolgte im Großhandel der neuen Bundesländer eine deutliche Umsatzabschwächung. In der Zwischenzeit dürfte aber die Talsohle weitgehend erreicht sein. Der Beschäftigtenrückgang wird jedoch noch weiter anhalten. Die verschiedenen Fachzweige befinden sich allerdings in recht unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Ausschlaggebend dafür sind zum einen die horizontalen Wettbewerbsstrukturen innerhalb der einzelnen Großhandelszweige, wie sie sich nach der Privatisierung von ehemals staatlichen Betrieben bzw. Betriebsteilen, der Errichtung von Niederlassungen meist westdeutscher Unternehmen sowie Neugründungen ergeben haben. Zum anderen sind die Entwicklungsstufen auch durch die Bedingungen der jeweiligen Beschaffungs- und Absatzseite beeinflußt. So ist der Konsumgüterbereich durch das Vordringen von meist westdeutschen Filial- und Franchise-Systemen sowie Kooperationen geprägt. Diese sind in der Regel sowohl auf der Großhandels- als auch auf der Einzelhandelsstufe aktiv. Oftmals erfüllen diese Unternehmen die Großhandelsaufgaben für ihre Mitgliedsfirmen auf der Einzelhandelsstufe vollständig. Dementsprechend neh-

23.830

21.066

Rohstoffen, Halbwaren, Altmaterial, Reststoffen

Maschinen, AusrOstungen und Zubehör

108.162

I

100

2,6

19,5

22,0

32,4

15,2

8,3

100

%

1.067.009

65.239

116.771

345.549

243.716

227.181

68.554

15.884

100

6,1

10,9

32,4

22,8

21,3

6,4

100

Mill.DM 1%

1.367.347

73.843

219.327

358.203

402.776

253.680

59.518

59.468

Anzahl

Quelle: Handels- und Gaststättenzählung 1993, Berechnungen des ifo Instituts.

I

100

5,4

16,0

26,2

29,5

18,6

4,4

100

%

9.988

121

2.289

2.894

2.405

1.867

412

5.869

Anzahl

I

100

1,2

22,9

29,0

24,1

18,7

4,1

100

%

Unternehmen

32.765

553

4.010

11.239

4.662

8.819

3.482

386

Mill.DM

I

5.410

5.410

Anzahl

100

89.888

1.369

12,2 15.156

34,3 29.981

14,2 16.650

1,7

I

100

1,5

16,9

33,4

18,5

23,7

6,0

100

%

Beschäftigte

26,9 21.295

10,6

100

%

UmsatzC

Beschäftigte

UmsatzC

a) Einschließlich Berlin. - b) Ohne Berlin. - c) Umsatz bezogen auf 1992.

Großhandel insgesamt

2.831

34.991

Gebrauchs- und VerbrauchsgOtern

Sonst. Großhandel

16.455

Nahrungsmitteln, Getränken und Tabakwaren

landwirtschaftlichen Grundstoffen und lebenden Tieren

8.988

54.285

Handelsvermittlung

Großhandel mit. ..

Anzahl

Warengruppe

Unternehmen

Neue Länderb

FrOheres Bundesgebieta

Unternehmen, Umsätze und Beschäftigte im Großhandel und in der Handelsvermittlung 1993

Tabelle 1

111

co

.,.. 01

!!.

a.

:::l

:::I:

460

Josef Lachner, Thomas Nassua und Uwe Chr. Täger

men sie die Leistungen selbständiger Großhandelsunternehmen allenfalls in Teilbereichen in Anspruch. Insgesamt hat sich das potentielle Betätigungsfeld für den selbständigen Großhandel trotz der günstigen Entwicklung des privaten Verbrauchs und der Umsatzzuwächse im Einzelhandel beträchtlich verringert. Für die Großhandelsunternehmen bestehen in dieser Phase, in der die Einzelhandelslandschaft von Massendistribution geprägt wird, Entwicklungschancen im wesentlichen darin, spezielle Leistungen z. B. durch die Verrichtung bestimmter Funktionen (im Falle des "Iean selling" für Hersteller) zu erbringen. Darüber hinaus werden sich die Großhandelsunternehmen im Konsumgüterbereich aber auch je nach Sparten mehr oder weniger stark Kundengruppen außerhalb des Einzelhandels zuwenden (z. B. Gastronomiebetrieben). Mit einer kontinuierlichen Differenzierung des Warenangebots auf der Einzelhandelsstufe, der Entwicklung einer Vielfalt von Angebotstypen und Betriebsformen im Einzelhandel ergeben sich für den Fachgroßhandel durchaus auch Chancen vor allem in der Belieferung ungebundener Einzelhandelsunternehmen. Von der Entwicklung des Konsumgütergroßhandels in den neuen Bundesländern unterscheidet sich die des Produktionsverbindungshandels erheblich. Dabei verlief die Absatztätigkeit innerhalb des Produktionsverbindungshandels allerdings nach Sparten recht inhomogen. Von der allgemein eher ungünstigen Geschäftsentwicklung, die vor allem auf die schlechte Lage des verarbeitenden Gewerbes zurückzuführen ist, haben sich die bauabhängigen Bereiche abgehoben, die eine recht lebhafte Absatztätigkeit registrierten. In jüngster Zeit dürften aber auch die übrigen Sparten des Produktionsverbindungshandels von der steigenden Nachfrage des Handwerks sowie der Industrieunternehmen Impulse erhalten. Während sich die großen, meist westdeutschen Unternehmen auf bestimmte gewerbliche Abnehmergruppen konzentriert haben, ist es einem erheblichen Teil der mittelständischen Unternehmen bisher nicht gelungen, sich ausschließlich auf der Großhandelsstufe zu positionieren. Das Gros dieser Firmen ist derzeit oftmals auch aufgrund schwindender Zahlungsmoral und nachlassender Zahlungsfähigkeit gewerblicher Abnehmer wie öffentlicher Institutionen gezwungen, zusätzlich zu ihrem Großhandelsgeschäft "Bar"-Geschäfte mit Letztverbrauchern zu tätigen. Gerade kleinere Großhandelsunternehmen geraten im Falle häufiger Inanspruchnahme der Zahlungsziele durch ihre Abnehmer in Liquiditätsschwierigkeiten. Ein Teil der Unternehmen ist allerdings auch

Handel

461

vom Umsatz her gesehen zu klein, um voll funktionsfähigen Großhandel betreiben zu können. Man kann heute davon ausgehen, daß die Mehrzahl der Firmen des Produktionsverbindungshandels hinsichtlich ihrer Positionierung im Markt noch keineswegs festgelegt sind. So dürften auch weiterhin Eintrittsmöglichkeiten für neue Unternehmen und Diversifikationsmöglichkeiten für bereits existierende Firmen bestehen. Aber auch die Gefahr des Ausscheidens aus dem Markt wird weiter hoch bleiben. Deshalb versuchen die Unternehmen ihre Kunden mehr und mehr an sich zu binden, in dem sie ihre Leistungen auf deren Bedarf abstimmen und ihre Funktionsprofile insbesondere um Service und Beratung ergänzen.

3. Handelsvertreter vorwiegend in Konsumgüterbereichen engagiert Von erheblicher Bedeutung für das Funktionieren der Warendistribution in Marktwirtschaften ist die Tätigkeit der Handelsvermittler. Sie sind in erster Linie im Namen und für Rechnung eines oder mehrerer Auftraggeber, vorwiegend Hersteller, tätig. Neben der Warenvermittlung sorgen die Handelsvertreter für den Informationsfluß und tragen auf diese Weise zur Verbesserung der Markttransparenz bei Auftraggebern und Kunden bei. In den neuen Bundesländern fördern die Handelsvertreter durch die Erfüllung dieser Aufgaben wesentlich die Entwicklung einzelner Märkte. In den neuen Bundesländern waren neben westdeutschen Vertreterfirmen 1993 knapp 6.000 einheimische Unternehmen tätig, davon etwa 2.800 auf der Großhandel:;stufe, die als voll funktionsfähige Handelsvermittlerunternehmen agieren. Das Schwergewicht der Tätigkeit von ost- und westdeutschen Handelsvertretern lag zunächst im Konsumgüterbereich. Die starke Fokussierung auf Waren, die für den Konsum bestimmt sind, war bedingt durch die vergleichsweise günstige Entwicklung des privaten Verbrauchs. Mehr und mehr ergeben sich auch im Produktionsverbindungshandel gute Marktchancen. Vor allem die Distribution bauaffiner Produkte, die aufgrund des erheblichen Neubau- und Renovierungsbedarfs bereits recht vielfältige Formen angenommen hat, erfordert vor allem des Engagements kompetenter und leistungsfähiger Handelsvertreter. Zu den Auftraggebern von Handelsvertretern zählen vor allem mittelständische Herstellerunternehmen. In der Auslagerung der Vertriebs-

462

Josef Lachner, Thomas Nassua und Uwe ehr. Täger

funktion sehen diese Betriebe die Möglichkeit, sich stärker auf ihre Fertigungstätigkeit zu konzentrieren. Mit zunehmendem Wettbewerb und einem erhöhten Differenzierungsbedarf der verschiedenen Anbieter wächst auch das Funktionsprofil der Handelsvertreter. Standen in der Start- und Orientierungsphase Aufgaben, die eng mit dem Vertrieb von Waren und ihrer Präsentation in Verbindung standen, im Vordergrund, so sind Handelsvertreter heute, vor allem auf Märkten mit hoher Wettbewerbsintensität, gezwungen, ihr Leistungsangebot durch Service- und Beratungskomponenten auszuweiten und sich gegenüber Wettbewerbern durch ein spezifisches Funktionenprofil abzuheben. So versuchen die Handelsvertreter, durch ein funktionsmäßiges Trading-up, z. B. durch Rack Jobbing, Lagerhaltung, Just-in-time-Belieferung, Organisation und Durchführung von Schulungsmaßnahmen ihre Stellung in der Warendistribution zu festigen bzw. auszubauen. Die Aussichten sind vor allem für Handelsvertreter im Bereich des Produktionsverbindungshandels durchaus als günstig einzuschätzen. Ein Teil der Unternehmen wird das Fremdgeschäft durch Geschäfte, die sie im eigenen Namen und für eigene Rechnung abschließen, ergänzen, um sich wettbewerblich besser positionieren zu können, aber auch mit dem Ziel, betriebswirtschaftiich günstigere Ergebnisse zu erzielen. Die Notwendigkeit der Funktionsausweitung einerseits und die beschränkte Verfügbarkeit von Mitteln bei den einzelnen Handelsvertretern andererseits veranlaßt sie vermehrt, horizontale Kooperationen einzugehen. Hinsichtlich des Umfangs und der Intensität der Zusammenarbeit bestehen eine Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten. Die bisher praktizierten Kooperationen erfüllen Aufgaben, die vom Erfahrungsaustausch, der Bildung von Werbegemeinschaften bis hin zu Büro- und Lagergemeinschaften reichen. Vor allem gemeinsame Musterschauen haben in den zurückliegenden Jahren an Bedeutung gewonnen. Ziel dieser gemeinschaftlichen Veranstaltungen ist es, dem Kunden einen Überblick über das gesamte Angebot zu ermöglichen. Mit Hilfe von Lagergemeinschaften versuchen Handelsvertreter, die Durchführung von Eigengeschäften in lukrativen Marktfeldern zu erleichtern.

Handel

463

4. Einzelhandel: Transformationsprozeß weit fortgeschritten Der Einzelhandel gehört wie die meisten anderen Dienstleistungssektoren Ostdeutschlands zu den Bereichen, die in der DDR strukturell zurückgeblieben waren und in denen sich der Transformationsprozeß in einem ausgesprochen hohen Tempo vollzogen hat. Hierfür waren sowohl angebots- als auch nachfrageseitige Faktoren verantwortlich. Auf der Nachfrageseite wurde der Umgestaltungsprozeß vor allem dadurch begünstigt, daß es sich um einen in weiten Bereichen ungesättigten Markt handelte, bei dem die Nachfrage durch einen günstigen Umtauschkurs bei der Umwandlung der Ersparnisse und durch erhebliche soziale Transferzahlungen gestützt wurde. Angebotsseitig wurde die Transformation durch den Markteintritt westdeutscher Einzelhandelsunternehmen und Verbundgruppen sowie durch die Vielzahl an Existenzgründungen vorangetrieben. Die HGZ erfaßte im Einzelhandel der neuen Bundesländer (einschließlich beider Teile Berlins) 59.685 Unternehmen, die (bezogen auf das Jahr 1992) für etwa 46,3 Mrd. DM Waren umsetzten und etwa 244.000 Mitarbeiter beschäftigten (vgl. Tab. 2). Unberücksichtigt blieben bei diesen Zahlen die Arbeitsstätten westdeutscher Unternehmen in den neuen Bundesländern. Legt man an Stelle der Zahlen der Unternehmenszählung die Zahlen der Arbeitsstättenzählung zugrunde, bei der die Umsätze aller im Beitrittsgebiet erfaßten Arbeitsstätten d. h. auch die Filialen westdeutscher Einzelhandelsunternehmen - erfaßt werden, so ergibt sich ein Umsatzvolumen des ostdeutschen Einzelhandels in Höhe von 69,5 Mrd. DM und ein Beschäftigungsvolumen in Höhe von 313.726 Beschäftigten. Bislang gibtes noch keine abschließende Untersuchung, wie hoch der Umsatzund Beschäftigtenanteil westdeutscher Arbeitsstätten am ostdeutschen Einzelhandel ist. Schätzt man diesen Anteil auf Grundlage der vorab veröffentlichten Zahlen aus Sachsen-Anhalt, so gehören etwa 12 % der Arbeitsstätten zu westdeutschen Unternehmen. Diese beschäftigen aber etwa 31 % des im Einzelhandel beschäftigten Personals und bestreiten ungefähr 42 % der Einzelhandelsumsätze. Westdeutsche Arbeitsstätten sind also überdurchschnittlich groß und auch weit überdurchschnittlich produktiv. Diese Zahlen unterstreichen die unterschiedliche Leistungsfähigkeit ost- und westdeutscher Arbeitsstätten im Einzelhandel.

23.109

166.171

71.485

Apotheken, Einzelhandel mit medizin., orthopM. u. kosmet. Artikeln

Sonstiger Facheinzelhandel

Einzelhandel nicht in Verkaufsraumen

Mil!.DM I

48.337

26.721

51.583

199.315

74.209

100 638.562

21,7

50,5 237.405

7,0

10,3

0,9

8,1

9,0 250.860

I % %

200.046

165.867

226.310

614.465

840.755

100

11,6 2.621.911

249.512

-

-

Quelle: Handels- und Gaststattenzahlung 1993, Berechnungen des ifo Instituts.

100

9,5

44,4

7,6

6,3

8,6

23,4

32,1

59.685

11.399

26.900

3.376

9.551

797

7.412

8.209

100

19,1

45,1

5,7

16,0

1,3

12,4

13,8

Anzahl I %

I

%

Anzahl

Unternehmen

BescMftigte

37,2 1.164.922

7,6

4,2

8,1

31,2

39,3

UmsatzC

a) Einschließlich Berlin. - b) Ohne Berlin. - c) Umsatz bezogen auf 1992.

328.730

33.972

Facheinzelhandel mit Nahrungsmitteln, Getranken, Tabakwaren

Einzelhandel insgesamt

2.821

26.691

darunter Hauptrichtung Nahrungsmittel

Hauptrichtung Nichtnahrungsmittel

29.519

Anzahl

Unternehmen

Früheres Bundesgebiet"

46.309

4.051

16.564

6.188

3.649

1.366

14.417

15.783

MiI!. DMI

100

8,7

35,7

13,4

8,0

3,0

31,1

34,1

%

UmsatzC

Neue Landerb

Unternehmen, Umsätze und Beschäftigte im Einzelhandel 1993

Einzelhandel mit Waren verschiedener Art

Warengruppe

Tabelle 2

244.052

25.332

105.102

24.042

25.604

6.936

57.036

63.972

Anzahl I

100

2,2

42,9

9,9

10,5

2,8

23,4

26,2

%

Beschaftigte

CD ...,

(Q

-I 11),

:-"

~

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a.

:::J

c:

11)

c:

CIl CIl

11)

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:::J CD

~

11)

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CD

CIl

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.,. .,.

Handel

465

Trotz der hohen Bedeutung westdeutscher Filialen in der Einzelhandelsdistribution entspricht der zahlen mäßige Anteil von ostdeutschen Einzelhandelsunternehmen an der gesamtdeutschen Zahl (17 %) in etwa dem Bevölkerungsanteil des Beitrittsgebiets. Diese - gemessen an der Wirtschaftskraft Ostdeutschlands - recht hohe Zahl von Einzelhandelsunternehmen ist in erster Linie auf Existenzgründungen zurückzuführen, bei denen neben dem Wunsch nach Selbständigkeit häufig auch die drohende bzw. bereits eingetretene Arbeitslosigkeit als Gründungsmotiv ausschlaggebend war (vgl. Hüfner et al. 1992, S. 20f.). Es zeichnet sich aber ab, daß vor allem kleinere, eigenkapitalschwache Betriebe dem Strukturwandel recht bald wieder zum Opfer fallen werden. Vergleicht man die Branchenverteilung der Unternehmen in Ost und West, so kann insbesondere der Einzelhandel mit Nahrungs- und Genußmitteln als überbesetzt angesehen werden. Hier liegt der Anteil der Unternehmen in Ostdeutschland fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Die verschiedenen ostdeutschen Einzelhandelsbranchen konnten sich umsatzmäßig bislang unterschiedlich gut behaupten. In einigen Sparten, wie z. B. dem Einzelhandel mit Kraftfahrzeugen oder mit Elektroartikeln, entwickelte sich unmittelbar nach der Währungs- und Wirtschaftsunion ein recht plötzlicher Nachfrageschub, der aber auch recht bald wieder abflaute. Andere Bereiche, wie z. B. der Einzelhandel mit Einrichtungsgegenständen, der von der lebhaften Bautätigkeit und den nachfolgenden Umzugsaktivitäten profitiert hat, kamen in den Genuß einer langfristigeren, kontinuierlichen Aufwärtsentwicklung (vgl. Abb. 1). Nach der Deckung der besonders ausgeprägten Nachholbedürfnisse und durch die Verstetigung der Einkommensentwicklung hat sich allerdings in allen Bereichen die Umsatzentwicklung mittlerweile stabilisiert. Aus binnenJ1andelspolitischer Sicht kann es als Erfolg angesehen werden, daß sich in den neuen Ländern in vergleichsweise kurzer Zeit eine leistungsfähige, wettbewerblich strukturierte Einzelhandelslandschaft entwickelt hat (vgl. Jörissen 1995, Täger 1995). Als Indizien für einen funktionierenden Wettbewerb können die schnelle Angleichung des Preisniveaus und der Inflationsraten in beiden Teilen Deutschlands herangezogen werden. Die Lebensmittelpreise, die nach der Einführung der D-Mark z. T. deutlich über dem westdeutschen Niveau lagen, sind inzwischen teilweise sogar schon niedriger als in Westdeutschland (vgl. Ströhl 1994) Diese positiven Ergebnisse des Transformationsprozesses dürfen jedoch den Blick auf die noch bestehenden Ungleichgewichte nicht verstellen. Als zentrale Problemfelder sind das Über-

466

Josef Lachner, Thomas Nassua und Uwe ehr. Täger

gewicht größerer westdeutscher Filialsysteme mit ihren preisorientierten Angebotstypen (Discountgeschäfte, SB-Warenhäuser und Verbrauchermärkte) und die unausgewogene Entwicklung des Handels in der Innenstadt und auf der "grünen Wiese" zu nennen. 1 Abbildung 1 Entwicklung des Einzelhandelsumsatzes in den neuen Bundesländern (Nominale Meßzahlen, 1991 100)

=

300

_._-----_._--------------~

275 250 225 200 175 150 125 100 75 50~--+__+-+_~-~~_+-+__+-~~_4-+__+-~

,-..;.:: EH mit Nahrungs- u. Genußm. ~ EH mit sonstigen Waren

___ EH mit Einrichtungsgegenständen

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Durch exogene administrative Eingriffe lassen sich diese strukturellen Eigenheiten der ostdeutschen Handelslandschaft, die ihre Ursache zweifellos auch im sehr preisbewußten Einkaufsverhalten der Ostdeutschen haben, sicherlich nicht beheben. Allerdings sprechen zwei endogene Entwicklungstrends dafür, daß sich die Einzelhandelsstruktur auf mittlere Sicht wieder etwas zugunsten der mittelständischen und der innerstädtischen Unternehmen verschieben

Zu den Ursachen der Einzelhandelsentwicklung an nicht integrierten Standorten vgl. Bunge/Spannagel (1995).

Handel

467

wird. Zum einen muß berücksichtigt werden, daß die ostdeutschen Konsumenten vor allem preisorientierte Angebotstypen bevorzugt haben. Mit der weiteren Ausdifferenzierung der Einkommen werden sich auch die Einkaufsansprüche stärker differenzieren. Zum anderen ist eine gewisse Asynchronität der inner- und außerstädtischen Entwicklung infolge der unterschiedlichen Planungs-, Genehmigungs- und Realisierungszeiten zu beachten. Während die Objekte auf der "grünen Wiese" vielfach schon in Betrieb gegangen sind, stecken nicht wenige der größeren Innenstadtprojekte noch in der Bauphase. Beides macht deutlich, daß zwar die Grundlinien der weiteren Entwicklung in der ersten Phase des Transformationsprozesses gelegt wurden, daß aber ein intensiver und funktionierender Wettbewerb dazu beitragen wird, eine permanente Anpassung der Einzelhandelsstrukturen an die sich ändernden Markterfordernisse in Ostdeutschland zu gewährleisten.

5. Zusammenfassung Auch in den nächsten Jahren werden die Wettbewerbsstrukturen im ostdeutschen Handel durch eine hohe Dynamik der Markteintritte und -austritte insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen gekennzeichnet sein. Infolge der zunehmenden Intensität des Preis- und Leistungswettbewerbs im Groß- und Einzelhandel wird sich der Ausleseprozeß verschärfen. Im Zuge dieses Prozesses werden hauptsächlich diejenigen Handelsunternehmen aus dem Wettbewerb ausscheiden, die es in den letzten Jahren versäumt haben, ihr betriebliches und finanzielles Leistungsvermögen entscheidend zu verbessern. Dabei wird der Strukturanpassungsprozeß verstärkt auch in jenen Branchen zu Marktaustritten führen, bei denen bisher die günstige Nachfrageentwicklung b~triebliche Schwachstellen überdeckt hat. Diese schon begonnene Phase der Konsolidierung wird begleitet von einem Prozeß der zunehmenden Differenzierung der Waren- und Leistungsangebote der wettbewerbsaktiven Unternehmen. Infolge ihres zentralisierten Systemmarketings sind die in der Massendistribution engagierten Großunternehmen nur eingeschränkt in der Lage, ihre Waren- und Leistungsangebote gezielt nach den regionalen und lokalen Nachfrage- und Bedarfsstrukturen auszurichten. Die kleinen und mittleren und meist inhabergeführten Unternehmen können aufgrund ihrer höheren Flexibilität diesen Prozeß der Angebotsdifferenzierung in ihren speziellen Waren- und Dienstleistungsprogrammen intensi-

468

Josef Lachner, Thomas Nassua und Uwe ehr. Täger

ver berücksichtigen als die Groß- und Filialunternehmen. Diese wettbewerbliche Herausforderung einer zunehmenden Segmentierung bzw. Differenzierung bietet für den mittelständischen Handel in den neuen Bundesländern eine gute Plattform, um sich mit einem spezifischen und betriebsindividuellen Leistungsprofil von den Handelsunternehmen der Massendistribution abzusetzen.

Literatur

Bunge, H.lSpannagel, R. (1995): Standorte im Wettbewerb - Revitalisierung und Auszehrung der Innenstädte, in: Lachner, J. et al. (Hrsg.), Entwicklung des Handels in den neuen Bundesländern - Stand und Probleme der Systemtransformation im Groß- und Einzelhandel sowie in der Handelsvermittlung, München, S. 35-56. Hüfner, P.lMay-Strobl, E.lPaulini, M. (1992): Mittelstand und Mittelstandspolitik in den neuen Bundesländern: Unternehmensgründungen, Stuttgart. Jörissen, H. (1995): Der Transformationsbeitrag des Handels in Ostdeutschland, in: Lachner, J. et al. (Hrsg.), Entwicklung des Handels in den neuen Bundesländern - Stand und Probleme der Systemtransformation im Groß- und Einzelhandel sowie in der Handelsvermittlung, München, S. 1-10. Lachner, J./Nassua, Th.lSpannagel, R. (Hrsg.) (1995): Entwicklung des Handels in den neuen Bundesländern - Stand und Probleme der Systemtransformation im Groß- und Einzelhandel sowie in der Handelsvermittlung, ifo Studien zu Handels- und Dienstleistungsfragen 47, München. Ströhl, G. (1994): Zwischenörtlicher Vergleich des Verbraucherpreisniveaus in 50 Städten, in: Wirtschaft und Statistik 6, S. 421-425. Täger, U. ehr. (1995): Handels- und wettbewerbspolitische Entwicklungen in der Warendistribution - Eine Zäsur-Betrachtung, in: Lachner, J. et al. (Hrsg.), Entwicklung des Handels in den neuen Bundesländern - Stand und Probleme der Systemtransformation im Groß- und Einzelhandel sowie in der Handeisvermittlung, München, S. 11-34.

Dienstleistu ngen: Dynamisches Wachstum verspricht Zukunftschancen Von Max Eli und Carola Vögtle

Zum Zeitpunkt der Vereinigung gab es in den neuen Bundesländern gerade 16.000 Freiberufler. Die Zahl der Praxen und Büros ist seither auf etwa 74.000 gestiegen. Eine genaue Angabe der in diesem Sektor tätigen Betriebe und beschäftigten Personen ist nicht möglich, da entsprechende Statistiken fehlen. Bekannt ist nur die Entwicklung der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Sie stieg im Zeitraum 1992 bis 1995 um 5,8 % auf rund 2,5 Mill. (ohne StaaUprivate Haushalte). Bezieht man die Dienstleistungen des Bereichs Staat/private Haushalte' mit ein, so ergibt sich insgesamt für 1995 eine Zahl von 3,3 Mill. sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Nach Berechnungen des ifo Instituts ist in den Jahren 1991 bis 1995 im ostdeutschen Dienstleistungssektor ausgesprochen lebhaft investiert worden (vgl. Gerstenberger/Neumann 1996). Diese Entwicklung ist allerdings nicht für alle Sparten repräsentativ. Der Dienstleistungssektor ist ein heterogener Bereich (vgl. Tab.

~),

in dem sich seit der wirtschaftlichen Vereinigung neben expansi-

ven Entwicklungen auch Schrumpfungsprozesse und funktionale Aus- und Angliederungen abgespielt haben. Die Erfassung dieser Vorgänge ist wegen der Komplexität und der großen Spannweite des Dienstleistungssektors kaum möglich. Dynamische strukturelle Veränderungen haben die bisherigen methodischen Ansätze der amtlichen Statistik (Handels- und Gaststättenzählung, Arbeitsstät-

Abgrenzungsbegriff der amtlichen Statistik. 31 Wiedervereinigung

470

Max Eli und Carola Vögtle

tenzählung, Umsatzsteuerstatistik) obsolet werden lassen. Die Empirie liefert in Ost- wie in Westdeutschland zunehmend Beispiele, in denen gleichzeitig mit der Ausbreitung und Umsetzung der "Lean-Philosophie" Industrieunternehmen durch Übernahme von bis dahin nicht wahrgenommenen Service-Aufgaben schwergewichtig zu Dienstleistern werden. Umgekehrt finden Funktionsverlagerungen auf Dienstleistungsunternehmen statt, die mit Fertigung, Wartung und Logistik zu tun haben. Angesichts der Vielfalt und Geschwindigkeit dieser Funktionsverlagerungen helfen die amtlichen Schwerpunktstatistiken immer weniger bei der Abbildung der Wirklichkeit (vgl. Eli 1994). Tabelle 1 Klassifizierung der Dienstleistungen Dienstleistungen Produktionsorientierte

Kredit, Versicherungen, Wäscherei, Reinigung, Rechtsberatung u. ä., Architektur-, Ingenieurbüros, Grundstücks-, Wohnungswesen, Werbung und Ausstellung, Vermietung, Leihhäuser, sonstige Dienstleistungen, Organisationen des Wirtschaftslebens

Distributive

Groß-, Einzel- und Versandhandel, Eisenbahnen, Telekom, Straßenverkehr. Schiffahrt, Spedition, Lagerhaltung, Luftfahrt, Reisen

Konsumbezogene

Gaststätten, Hotels, Friseure, Körperpflege, Kunst, Theater, Film, Medien, Verlags-, Pressewesen, Fotografie, private Haushalte

Soziale

Kinder-, Altenheime u. ä., Heime, Schulen, Hochschulen, sonstige Bildung, Sport, Gesundheit, Veterinärwesen, hygienische Einrichtungen, Wohlfahrtsverbände, Parteien, Kirchen, religiöse und weltanschauliche Vereinigungen

Staatliche

Öffentliche Verwaltung, Sicherheit, Ordnung, Verteidigung, Sozialversicherungen, Botschaften u. ä.

Quelle: Reissert et al. (1989).

1. Stand und Entwicklung des Dienstleistungssektors Trotz der Erfassungsschwierigkeiten läßt sich auch für die neuen Bundesländer ein genereller Trend zur Gewichtsverschiebung vom sekundären zum tertiären Sektor erkennen. Auch in Ostdeutschland führt die Entwicklung tendenziell zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, wobei das vergleichsweise niedrige Entwicklungsniveau den Zeithorizont ihrer Realisierung

Dienstleistungen

471

erweitern dürfte. Der Nachholbedarf für die Entwicklung und Organisation von Dienstleistungen ist sehr groß, was angesichts der Ausgangslage von 1989 nicht verwundern kann. Dienstleistungen wurden - wenn auch mit geringerer Wertschätzung als in den Altbundesländern - selbstverständlich auch in der Ex-DDR erstellt, im Unterschied zu Westdeutschland aber von großen Dienstleistungskombinaten, Industrieunternehmen und anderen, z. B. landwirtschaftlichen Kombinaten. Die Palette dieser Dienstleistungen war breit, sie reichte von produktionsbezogenen über soziale Dienste bis hin zur Kinderbetreuung und Freizeitgestaltung. Charakteristisch war jedoch, daß moderne Dienstleistungen, wie sie von Banken, Versicherungsgesellschaften, Rechts-, Steuer- und Wirtschaftsberatern erbracht werden, kaum erstellt wurden. Nach Einführung der Marktwirtschaft und dem Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie mußte der Dienstleistungsbereich völlig neu aufgebaut werden. Die Unternehmen wurden zu rationalem und marktorientiertem Handeln gezwungen, was konsequenterweise zu Umstrukturierungen und der Ausgliederung von Dienstleistungen führte. Bei Unternehmen, die "klassische" Dienstleistungen erstellten (Handel, Verkehr, Nachrichtenübermittlung), erfolgte zunächst ein massiver und schmerzlicher Arbeitsplatzabbau, während durch die Ausbreitung "moderner" Dienstleistungen (Wirtschafts- und Steuerberatung, Consulting, Rechtsberatung etc.) viele neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Bei dieser Entwicklung waren die Voraussetzungen für die Erstellung konsumorientierter Dienstleistungen günstiger als für produktionsorientierte Dienstleistungen, da hier die Effekte der Deindustrialisierung, aber auch die noch mangelnde. Marktorientierung der Unternehmer kontraproduktiv wirkten. Am Beispiel des Handels wird die differenzierte Entwicklung deutlich: der Einzelhandel faßte frühzeitig Tritt, während der Großhandel, insbesondere der Investitionsgütergroßhandel, lange Zeit auf der Stelle trat. 2 Expansive Entwicklungen waren vor allem in solchen Bereichen zu beobachten, in denen im Vergleich zu Westdeutschland ein besonders großer Nachholbedarf bestand. Dazu zählten vor allem die Dienstleistungen der Banken und

Ausführlich dazu der Beitrag von Lachner et al. im vorliegenden Band. 31"

472

Max Eli und Carola Vögtle

Versicherungen, der Freien Berufe und diejenigen des Gastgewerbes sowie des Dienstleistungshandwerks.

2. Anteil an der Bruttowertschöpfung Die wirtschaftliche Leistung (Bruttowertschöpfung) des ostdeutschen Dienstleistungssektors nahm im Zeitraum 1991 bis 1995 um 85,0 % auf 233,7 Mrd. DM zu. Das bedeutet eine Beteiligung von 63,1 % an der gesamten Wertschöpfung der ostdeutschen Wirtschaft. Die "reinen Dienstleistungsunternehmen" hielten 1995 einen Anteil von 29,3 %,1991 lag dieser erst bei 21,9 %. Dagegen gingen die Anteile von Handel und Verkehr sowie der Dienstleistungen des Staates/private Haushalte zurück (vgl. Tab. 2). Tabelle 2 Anteile der Sektoren an der Bruttowertschöpfung 1991 bis 1995 in jeweiligen Preisen - in %Jah;" 1991

1992

1993

1994

3,3

2,6

2,1

1,7

1,7

Sekundarer Sektor

36,0

33,9

33,7

35,4

35,2

Tertiarer Sektor, dar.:

60,7

63,5

64,2

62,9

63,1

Handel und Verkehr

14,0

12,9

12,5

12,0

11,7

Dienstleistungsunternehmen

21,9

25,5

27,7

28,7

29,3

Primarer Sektor

Staat/private Haushalte Gesamt

1995

24,7

25,2

24,0

22,2

22,2

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

a) 1991-1994 Berechnungsstand: Herbst 1995; 1995 Berechnungsstand: Marz 1996. Abweichungen in der Summe ergeben sich durch Runden. Quelle: Arbeitskreis "Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Lander" .

3. Beschäftigungsentwicklung Seit 1990 sind im ostdeutschen Dienstleistungssektor per saldo keine zusätzlichen Arbeitsplätze entstanden. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen

Dienstleistungen

473

Arbeitnehmer ist sogar zwischen 1992 und 1995 um 137.000 zurückgegangen. Diese Entwicklung ist insofern verständlich, als der Bereich StaaUprivate Haushalte nach westdeutschem Standard personell stark übersetzt war und ein großer Rationalisierungsbedarf bestand. Ein Beispiel steht für viele: Die ehemals Staatliche Versicherung der DDR beschäftigte 1990 rund 12.500 Personen, die eine Leistung erbrachten, die fünf Jahre später nach ihrer Privatisierung von nur 7.500 Personen bewältigt wurde. 3 Die Arbeitsproduktivität war generell im Dienstleistungsbereich der Ex-DDR sehr niedrig, die Bemühungen um Steigerung der Arbeitsleistung pro Person führten in der Verwaltung, aber auch in vielen Unternehmungen, zu zahlreichen Entlassungen. Bei differenzierter Betrachtung der Beschäftigtenentwicklung zeigt sich, daß im Zeitraum 1992 bis 1995 nur der Handel und die sog. "Sonstigen Dienstleistungen" einen nennenswerten Zuwachs an Arbeitsplätzen aufzuweisen hatten. Im Handel setzte unmittelbar nach der Wende infolge zahlreicher Geschäftsschließungen eine Entlassungswelle ein, die aber 1992 abgelöst wurde durch NeueinsteIlungen, wozu die großflächigen Betriebsformen des Einzelhandels aus Westdeutschland ebenso beitrugen wie ostdeutsche Neugründungen. Zwischen 1992 und 1995 stieg die Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich von 564.400 auf 591.200 an. Die Kreditinstitute und die Versicherungsgesellschaften, die vor allem in den ersten Jahren nach der Wende kräftig expandierten, schufen zunächst viele Arbeitsplätze, 1994 war die Entwicklung allerdings rückläufig, 1995 nahm die Zahl der so~ialversicherungspflichtig Beschäftigten wieder leicht zu. Mit einem Anteil von nur 3,1 % an allen im Dienstleistungssektor beschäftigten Personen sind Banken und Versicherungen in Ostdeutsch land weit weniger stark beteiligt als in den Altbundesländern (7,4 %, vgl. Abb. 1). In den Sparten der "Sonstigen Dienstleistungen" erfolgte insgesamt ein vergleichsweise kräftiger Anbau von Arbeitsplätzen: Die Beschäftigtenzahl nahm

Die Staatliche Versicherung der DDR wurde mit der Wahrungsumstellung privatisiert, sie ging in der Deutschen Versicherungs-AG auf, die zum Allianz Konzern gehört.

(41,9%)

Handel

(17,7%)

Neue Bundesländer

(3,1%)

(11,3%)

(43,1%) Sonstige Dienstleistungen

Verkehr! Nachrichtenübermittlung

Alte Bundesländer

Handel

(8,8%)

Verkehr! Nachrichtenübermittlung

- (25,0%)

Kreditinstitute! Versicherungsgewerbe

Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Dienstleistungsbereich, 1995 - Anteile in % -

Quelle: Bundesanstalt für Arbeit.

Sonstige Dienstleistungen

(26,1%)

Staat/private Haushalte

Abbildung 1