Vom Geschehen zur Geschichte: Sechs Kapitel zur Historiographie der Wiedervereinigung Deutschlands [1 ed.] 9783428586905, 9783428186907

Als ›Geschichte‹ erwarten wir eine verlässliche Wiedergabe eines historischen Geschehens. Doch zwischen den früheren Ere

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Vom Geschehen zur Geschichte: Sechs Kapitel zur Historiographie der Wiedervereinigung Deutschlands [1 ed.]
 9783428586905, 9783428186907

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Zeitgeschichtliche Forschungen 63

Vom Geschehen zur Geschichte Sechs Kapitel zur Historiographie der Wiedervereinigung Deutschlands

Von Tilo Schabert

Duncker & Humblot · Berlin

TILO SCHABERT

Vom Geschehen zur Geschichte

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 63

Vom Geschehen zur Geschichte Sechs Kapitel zur Historiographie der Wiedervereinigung Deutschlands

Von

Tilo Schabert

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlag: Mauerfall 1989 / Menschen auf der Mauerkrone am Brandenburger Tor (© BArch, Bild 00010497) Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-18690-7 (Print) ISBN 978-3-428-58690-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Danksagung Am Ende meiner Arbeit an diesem Buch darf ich Worte des Dankes denen gegenüber ausdrücken, die zu dessen Entstehung, Ausformung und Veröffentlichung beigetragen haben. Dr. Florian R. Simon (LL. M.) schulde ich Dank für seine liebenswürdige Aufnahme des von mir skizzierten Buchprojekts in das Programm von Duncker & Humblot und für die Anteilnahme, mit der er dessen Ausarbeitung verfolgt und unterstützt hat. Ein Wort des Dankes gilt Frau Diana Güssow für die zügige vertragliche und organisatorische Betreuung des Projekts im Namen des Verlags. Bernd Henningsen, Gernot Sittner und meine Frau Ina Schabert haben mich während der ganzen Zeit meines Schreibens begleitet, mit ihrer kritisch-produktiven, kapitelweisen Lektüre des entstehenden Buches, die mich das, was ich jeweils geschrieben hatte, überdenken und nicht selten korrigieren ließ. Ich danke Ihnen für ein vortreffliches wissenschaftliches Geleit. Für die gute Zusammenarbeit bei der Herstellung des Buches darf ich mich bei Frau Heike Frank bedanken. Paris, im Oktober 2022

Tilo Schabert

Inhaltsverzeichnis Vom Geschehen zur Geschichte: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Verzeichnis der Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Kapitel 1

Geschichten vor der Geschichte

16

Es geht um Geschichtsschreibung, und es herrscht Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Gekappte Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Verfälschte Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Kapitel 2

Das Ereignis Staatskunst: Mit politischen Gestaltungen Geschichte gestalten

42

Gestalt und Gestaltender von Macht – Der französische Präsident François Mitterrand . 42 Die Werkstatt der Weltpolitik – Gestaltung schöpferischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Élysée und Bundeskanzleramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Kohl und Mitterrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Mitterrand und Bush . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Das Mitgehen von Margaret Thatcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Die Achse Dumas und Genscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Charakterstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Charakterstudien I: Mitterrand, Cheysson, Bush, Kohl und Kissinger zu Margaret Thatcher… und Thatcher und Waldegrave zu Mitterrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Charakterstudien II: Thatcher und Mitterrand zu Michael Gorbatschow . . . . . . . . . . 68 Charakterstudien III: Mitterrand und Thatcher zu Helmut Kohl . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

8

Inhaltsverzeichnis Kapitel 3



Re-Konstruktion und De-Konstruktion: Die Konstruktion von Geschichte I

74

Von drei Arten von Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Zeitzeugen – das Problem ist die Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Zeitdokumente – das Problem ist die Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Archivalische Dokumente – das Problem ist die Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 „Notes pour Monsieur le Président“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Handschriftliche, kurze Notizen [neben den getippten förmlichen Notes] . . . . . . . . . 85 Texte aus der Diplomatie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Exkurs nach Downing Street 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Kapitel 4

Re-Konstruktion und De-Konstruktion: Die Konstruktion von Geschichte II

91

Erste Betrachtung: die unterhaltsame Seite der Gesprächsprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . 92 Zweite Betrachtung: die Produzenten der Protokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Dritte Betrachtung: von den Notizen zur Ausarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Vierte Betrachtung: Genehmigung der Protokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Fünfte Betrachtung: die mentalen Notizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Sechste Betrachtung: die sprachliche Fassung der Protokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Siebte Betrachtung: die Protokolle, die Protagonisten und deren Werke . . . . . . . . . . . . . 99 Achte Betrachtung: dasselbe Gespräch und zwei unterschiedliche Protokolle. Ein Beispiel für zahlreiche andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Neunte Betrachtung: auch parallel gefasste Notizen von einem Gespräch divergieren schon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Zehnte Betrachtung: die Kunst der Historiographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Kapitel 5

Wessen Geschichte?

108

Aus dem Tagebuch Anatoli Tschernajews: Komplott und Kabale . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Die Donquichotterien des Jean-Pierre Chevènement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Jean-Louis Bianco und Pierre Joxe: Emotion und Befangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Inhaltsverzeichnis

9

Valéry Giscard d’Estaing und Margaret Thatcher in London: Kein „machtvolles“ Deutschland, aber was dann? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Mitterrands „zweite Tür“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Attali betreibt Außenpolitik auf eigene Faust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Powell und Attali machen gemeinsame Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Thatcher und Powell: Mitten im Geschehen in geschichtsnarrativer Gefangenschaft . . . 128 Wird im historischen Wissen das Geschehen aufgeraut, wird das Narrativ davon geschärft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Kapitel 6

Geschichten in der Geschichte

137

Was bringt die Wiedervereinigung: die Bombe oder den Porsche? . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Performative Information: Interview mit Hans-Dietrich Genscher . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Die Spektatorin und die geheimnisvolle „Eve“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Die Macht im Verborgenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Der appellierende Gorbatschow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die „Macht des Kalten Krieges“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Vom Geschehen zur Geschichte: Einleitung Von einer Geschichte erwarten wir eine verlässliche Wiedergabe eines histo­ rischen Geschehens. Doch zwischen dem, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, und einer nachzeitigen Darstellung der Ereignisse vollzieht sich ein langer Prozess. Denn solches Geschehen ist nurmehr über mehrere Vermittlungsinstanzen hinweg wieder zu erreichen, über mehr oder weniger zuverlässige Dokumente und über Zeitzeugnisse persönlicher Art und, wenn das Geschehen etwas länger zurückliegt, auch schon über frühere historische Darstellungen zu denselben Vorgängen. Bevor aus diesem heterogenen Material Geschichte wird, muss ausgewählt, abgeglichen und gedeutet werden; es müssen Zusammenhänge konstruiert und Erklärungen beigebracht werden. Geschichtsschreibung ist ein konstruktives Unternehmen, das auf ebenfalls bereits sprachlich konstruierten Dokumentationen des ursprünglichen Geschehens basiert. Unvermeidlich geht in einem solchen Vorgang viel an unmittelbarer Realität verloren. Die kanonisierte Geschichtsversion verdrängt mit ihrer konstruierten Schlüssigkeit alternative Möglichkeiten des Erzählens und sie lässt in ihrer autoritativen Auswertung der Dokumente deren oft problematische Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen vergessen. Mir wurde dies sehr bewusst, als ich mich selbst auf das Abenteuer einließ, ein bestimmtes Stück der politischen Vergangenheit zu rekonstruieren, nämlich den Prozess, der 1990 zur deutschen Wiedervereinigung führte, und in diesem insbesondere die Beteiligung daran von Frankreich. Als ich die Quellen aus Dokumentensammlungen und Archiven zusammentrug, die diffuse Menge der verfügbaren offiziellen und inoffiziellen Dokumente auswertete und Gespräche mit Zeitzeugen führte, kam ich nicht nur zu dem Schluss, dass eine Revision der bis dahin gängigen Geschichtsversion der Wiedervereinigung angebracht sei.1 Immer wieder stieß ich auch auf Material, das mir überraschende Einblicke in den Raum zwischen Geschehen und Geschichte bot – Einblicke, die die Stromlinienförmigkeit einer autoritativen Geschichte stören mögen, die aber, 1 Siehe dazu die folgenden und in diesem Buch nicht stets neu angeführten Veröffentlichungen: Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart: KlettCotta, 2002; Mitterrand et la réunification allemande. Une histoire secrète (1981–1995), Paris: Grasset, 2005 (überarbeitete und erweiterte französische Ausgabe von „Wie Weltgeschichte gemacht wird“); France and the Reunification of Germany. Leadership in the Workshop of World Politics, Cham: Springer Nature / Palgrave Macmillan, 2021 (neu revidierte und wesentlich ausgebaute Fassung der englischen Übersetzung der französischen Ausgabe); „France and the Baltic States during the Presidency of François Mitterrand (1988–1995)“, in: Baltic Worlds, Juni 2011, Vol. IV:2, 8–14; „‚The German Question is a European Question‘. France and the Reunification of Germany. A critical assessment“, in: Michael Gehler / Maximilian Graf (Hg.), Europa und die deutsche Einheit, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, 161–202.

12

Vom Geschehen zur Geschichte: Einleitung

indem sie die Komplexität der Geschehnisse und die Widersprüche in ihrer Wahrnehmung und Überlieferung aufzeigen, dazu verhelfen, den Stellenwert historiographischer Werke zutreffender einzuschätzen. Einige dieser Einblicke werden in den Kapiteln dieses Buchs dargelegt und erläutert. Kapitel 1 „Geschichten vor der Geschichte“ beschreibt, wie sich besondere Vorgaben auf die Geschichtsschreibung der Wiedervereinigung verzerrend ausgewirkt haben. Ich verweise auf den Historikerstreit um Mitterrand und die deutsche Einheit, in dem nationale Vorurteile auf das Material projiziert wurden; die Asymmetrie der Informationslage, welche die Erforschung der französischen und russischen Ansichten auf das Geschehen behindert hat, und nicht zuletzt auf die Verführungskraft, die angesichts der institutionellen französischen Informationsenthaltsamkeit eine gefälschte französische Quellensammlung für die Geschichtsschreibung in Deutschland und gleichfalls in anderen Ländern entfalten konnte. Das zweite Kapitel, „Das Ereignis Staatskunst“ greift hinter die Berichterstattung über die politischen Beschlüsse und Vereinbarungen zurück, an denen sich die Geschichtsschreibung bevorzugt orientiert und zeichnet deren Entstehungsprozess nach. Es gibt Aufschluss über die schöpferische Politik, in der sich der Wille zur Konsensfindung aufseiten der Regierenden manifestiert hat, über deren gegenseitige Sensibilität für die Persönlichkeit des jeweiligen Gegenübers in den Verhandlungen, und über den Umgang der Regierungschefs mit ihren Mitarbeiterstäben. In Netzwerkanalysen wird ein Bild gezeichnet von der Dynamik der Zusammenarbeit innerhalb dieser Teams und ihrer bilateralen Beziehungen. Auch hier wird die prägende Kraft von bestimmten Persönlichkeiten, von einzelnen Beratern oder Ministern, herausgestellt. Die beiden nachfolgenden Teile, jeweils mit „Re-Konstruktion und De-Konstruktion“ überschrieben, führen die Problematik historischer Quellen vor Augen. Es wird hier besonders deutlich, dass Geschichtsschreibung, indem sie aus diesen Quellen schöpft, schon von ihrem Ursprung her kein einfaches Wiedergeben von Sachverhalten sein kann. Die auf verschiedene Weisen verstellenden Entstehungsund Überlieferungsbedingungen der Quellen müssen in Betracht gezogen werden; ihre Aussagekraft ist entsprechend einzuschätzen. Besonders augenfällig wird die Konkurrenz von Faktizität und subjektiver Überfremdung im Vergleich der Aufzeichnungen, die verschiedene Protokollanten von demselben Ereignis angefertigt haben. Und in den ‚Memoiren‘ der politischen Akteure schließlich findet sich nicht nur die individuelle subjektive Sicht durch die Nachzeitigkeit verstärkt, sondern sie wird zudem ironischerweise verfälscht durch die (zumeist unmarkierte) Übernahme von Zitaten aus Protokolltexten oder bereits veröffentlichten historischen Studien. Dass in der Zeit des Geschehens bei den Akteuren gegensätzliche Visionen der zukünftigen Geschichte Deutschlands konkurrierten, macht Kapitel V, „Wessen Geschichte?“, bewusst. Dokumentierte Versionen des „was wäre, wenn …“-Geschichtsspiels zeigen auf, wie in England und ebenfalls in Frankreich bestimmte

Vom Geschehen zur Geschichte: Einleitung

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Akteure auch einen ganz anderen Ausgang des Geschehens, nämlich ein Scheitern der Wiedervereinigung gewärtigten und wie von ihnen, zum Teil in offener oder weniger offener Weise, aktiv auf diese Alternative hingearbeitet wurde. Das Kapitel „Geschichten in der Geschichte“ schließlich handelt von Erlebnissen im Forschungsraum zwischen Geschehen und angestrebter Geschichte, die sich zu eigenen kleinen Geschichten verselbständigt haben. Sie werden nacheinander vorgestellt: eine Anekdote über die kontroversen Möglichkeiten, ein Dokument zu entziffern; ein Protokoll über die schauspielerische Vorführung von Erinnerungen an politische Akteure durch einen wichtigen Augenzeugen; ein Bericht davon, wie das detektivische Verfolgen von Textspuren eine bislang verkannte Einflussnahme im Hintergrund des politischen Geschehens offenbart, und die Erzählung von diskreten Hilfsersuchen auf oberster politischer Ebene, die erst in der jetzt beobachteten Häufung ihre volle Dringlichkeit offenbaren. Die letzte dieser Geschichten, die nur scheinbar Digressionen sind, ist der „Macht des Kalten Krieges“ gewidmet. Sie findet ihre Fortsetzung im Geschehen der Gegenwart.

Verzeichnis der Protagonisten Die wichtigsten handelnden Personen, von denen im Buch gesprochen wird, sind: Ministerpräsident Italiens Berater Präsident Mitterrands Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika Generalsekretär des Élysée Diplomatischer Berater im Bundeskanzleramt Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Französischer Verteidigungsminister Politischer Direktor im französischen Außenministerium Außenminister Frankreichs Außenminister der Bundesrepublik Deutschland ehem. Präsident Frankreichs, Abgeordneter im Europäischen Parlament Ministerpräsident Spaniens Felipe González Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, StaatspräsiMichail Gorbatschow dent der Sowjetunion Beraterin Mitterrands für wirtschaftliche, finanzielle, europaElisabeth Guigou politische Angelegenheiten Diplomatischer Berater im Élysée Loïc Hennekinne Außenminister Großbritanniens Douglas Hurd Präsident von Polen Wojciech Jaruzelski Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Helmut Kohl Jacques Lanxade, Admiral Chef des Militärstabs im Élysée Stellvertretende Generalsekretärin des Élysée, WirtschaftsberaAnne Lauvergeon terin Präsident Mitterrands Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik Lothar de Maizière Diplomatische Beraterin im Élysée Caroline de Margerie Polnischer Premierminister Tadeusz Mazowiecki Präsident Frankreichs François Mitterrand Diplomatischer Berater im Élysée Pierre Morel Premierminister von Kanada Brian Mulroney Diplomatischer Berater im Élysée, Pressesprecher Mitterrands Jean Musitelli Berater Margaret Thatchers für diplomatische und sicherheitsCharles Powell politische Angelegenheiten Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Ronald Reagan Außenminister der Sowjetunion Eduard Schewardnadse Berater im Weißen Haus für sicherheitspolitische AngelegenheiBrent Scowcroft ten Außenminister Polens Krzysztof Skubiszewski Berater von Gorbatschow Anatoli Tschernajew Giulio Andreotti Jacques Attali James A. Baker Jean-Louis Bianco Joachim Bitterlich George H. W. Bush Jean-Pierre Chevènement Bertrand Dufourcq Roland Dumas Hans-Dietrich Genscher Valéry Giscard d’Estaing

Verzeichnis der Protagonisten Horst Teltschik Margaret Thatcher Hubert Védrine

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Diplomatischer Berater im Bundeskanzleramt Premierministerin Großbritanniens Berater Mitterrands für diplomatische und sicherheitspolitische Angelegenheiten, Generalsekretär des Élysée

Kapitel 1

Geschichten vor der Geschichte Es geht um Geschichtsschreibung, und es herrscht Streit Geschichtsschreibung nimmt ihre Gestalt, wie es scheint, in der Form des Streites an. Und dies schon bei ihrem Beginn,1 als, um das hervorstechendste Beispiel zu nennen, Herodot von Cicero zum „Vater der Geschichtsschreibung“2 erhoben wurde und Plutarch ihn dagegen einen „Lügner“ zieh.3 Bei Gegensätzen im Auffassen von Geschichte ist es seitdem geblieben. Bezeichnenderweise enthält der Eintrag in der Encyclopaedia Britannica zum Thema „Geschichtsschreibung“ die Bemerkung: „Der Zwist unter den Historikern der Diplomatiegeschichte zeigt, dass politische und nationale Leidenschaften in ihrer Interpretation dieser Geschichte eine ungewöhnliche Rolle einnehmen.“4

1

Der Begriff „Geschichtsschreibung“ bezieht sich hier auf historische Werke in der europäisch-atlantischen Welt. – Dieses Kapitel beruht auf einem früheren, auf Englisch erschienenen Text des Verfassers, siehe: „‚The German Question is a European Question‘. France and the Reunification of Germany. A critical assessment“, in: Michael Gehler / Maximilian Graf (Hg.), Europa und die deutsche Einheit, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, S. 161–202. Für den Einschluss in dieses Buch ist der Text vom Verfasser ins Deutsche übertragen, dabei überarbeitet und erweitert worden. 2 M. Tullius Cicero, De Legibus. Paradoxa Stoicorum. Über die Gesetze. Stoische Paradoxien, Lt.-dt., Hg., übs. Rainer Nickel, Zürich: Artemis & Winkler, 1994, I, 1; hier: S. 11. – Gleich nachdem er Herodot den Titel „Vater der Geschichtsschreibung“ (pater historiae) verliehen hat, erklärt Cicero allerdings auch, dass es bei ihm „unzählige phantastische Geschichten“ (innumerabiles fabulae) gäbe. 3 Plutarch, On the Malice of Herodotus [Über die Böswilligkeit von Herodot], 1: „Und das ist, was Herodot tut, nämlich einige Leute in der niederträchtigsten Art zu schmeicheln, während er andere verleumdet und schlechtmacht. Bislang hat niemand gewagt, ihn als Lügner bloßzustellen.“ Zitiert nach: Plutarch, Moralia, Vol. XI, On the Malice of Herodotus. Causes of Natural Phenomena, Übs. Lionel Pearson, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1965 (= Loeb Classical Library). – Übersetzung aus dem Englischen hier wie im Folgenden durch TS. 4 Encyclopaedia Britannica Online, s.v. „historiography“ (http://www.britannica.com/topic/ historiography, aufgerufen am 17. Mai 2022). – Siehe des weiteren: John Keegan, The Battle for History: Re-Fighting World War Two, New York: Vintage Books, 1996; Daniel Little, Philosophy of History, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2012 Edition: http:// plato.stanford.edu / archives / win2012/entries / history, aufgerufen am 17.  Mai 2022); A Companion to the Philosophy of History and Historiography, Hg. Aviezer Tucker, Walden, MA: Wiley-Blackwell, 2009, Introduction; Jeremy M. Black, Clio’s Battles: Historiography in Practice, Bloomington: Indiana University Press, 2015.

Es geht um Geschichtsschreibung, und es herrscht Streit

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Für das Streiten um das Festlegen „historisch“ gewordenen Geschehens in der Form der ihm angemessenen „Geschichte“ ist gegenwärtig kaum etwas so exemplarisch wie die fortdauernde und gewiss auch von „politischen und nationalen Leidenschaften“ beeinflusste Auseinandersetzung, die sich an der Frage entzündet hat: Was tat Frankreich in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung, im Vergleich mit den anderen hier vorrangig zu nennenden Mächten, den USA, der Sowjetunion, Großbritannien? Darlegungen dazu gibt es,5 doch kennzeichnet sie häufig eine negative Tendenz – was lässt sich nicht alles aufzählen, das die Vorstellung eines missgünstigen und nicht die eines wohlgesinnten Frankreichs nahelegt? Nichts dergleichen kann man, zieht man den naheliegenden Vergleich, zu den Deutungen des damaligen Handelns der Vereinigten Staaten sagen. Dieses wird durchwegs wohlwollend, ja auf emphatische Weise positiv und maßgeblich dargestellt.6 Was indes für die Vereinigten Staaten gilt, gilt anscheinend nicht für 5 Bevor Forschern Akten zur Präsidentschaft von François Mitterrand in den Archives Nationales, wo sie seit Mai 1995 deponiert sind, nach und nach zugänglich gemacht werden, erhielten drei Autoren schon vorher für ihre Studien einen autorisierten Zugang zu dem präsidentiellen Archiv noch im Élysée selbst. Diese Autoren und ihre Werke sind: Pierre Favier /  Michel Martin-Roland, La Décennie Mitterrand, 4 Bde., Paris: Seuil 1990–1999; das Thema der deutschen Wiedervereinigung wird in Bd. 3, Les défis, 1996, auf den Seiten 159–262 behandelt; und Tilo Schabert, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit (Stuttgart: Klett-Cotta, 2002), franz. Ausgabe, überarbeitet und erweitert: Mitterrand et la réunification allemande. Une histoire secrète. 1981–1995, Paris: Grasset 2005; amerikanische Ausgabe: How World Politics is Made. France and the Reunification of Germany, ColumbiaLondon: University of Missouri Press, 2009, erweiterte und neu bearbeitete zweite Ausgabe unter dem Titel France and the Reunification of Germany. Leadership in the Workshop of World Politics bei Springer / Palgrave-Macmillan, Cham 2021. – Kurz nach der französischen Ausgabe meiner Studie erschien die von Frédéric Bozo: Mitterrand, la fin de la guerre froide et l’unification allemande (Paris: Odile Jacob, 2005). Bozo folgte bei seiner Arbeit, unter Kenntnis meines deutschen Originals, einer Vorgehensweise, die, für den Bereich der Literatur, von Harold Bloom in seiner Studie „The Anxiety of Influence“ (New York: Oxford University Press, 1973) beschrieben wurde. Es geht, Bloom zufolge, um ein kreatives Falschlesen und Imitieren der Vorgänger, um sich selbst Raum für das eigene Schreiben zu schaffen. – Weitere Darstellungen folgten: Marion Gaillard, La politique allemande de François Mitterrand (1981–1995), Thèse de doctorat, Paris: Institut d’Études Politiques, 2007; Georges Saunier, France, the East European revolutions, and the reunification of Germany, in: Wolfgang Mueller / Michael Gehler /  Arnold Suppan (Hg.), The revolutions of 1989. A handbook, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2014, 385–401. – Zu erwähnen sind hier des Weiteren die folgenden, von Akteuren aus der Zeit geschriebenen Darstellungen: Hubert Védrine, Les mondes de François Mitterrand, Paris: Fayard, 1996, insbes. 423–457; Bertrand Dufourcq, 2+4 ou la négociation atypique, in: Politique étrangère, Année 2000, vol. 65, no. 2, 467–484; ders., Pour Mitterrand tout s’articule autour de l’idée de la construction européenne, in: Toute l’Europe, 10. Okt. 2010 (http://www.touteleurope.eu/actualite/bertrand-dufourcq-pour-mitterrand-touts-articule-autour-de-l-idee-de-laconstruction-europ.htm, aufgerufen am 10. Oktober 2021). 6 Siehe zum Beispiel: Philip D.  Zelikow, A Diplomatic History of German Unification, 1989–1990, Ph.D. thesis, Ann Arbor: UMI 1995, insbes. den Abschnitt „Who Gets the Credit?“, 681–687. So erklärt dort Zelikow unter anderem: „Fast alle ernstzunehmenden Forschungsexperten zur deutschen Vereinigung – wie die meisten westdeutschen Amtsträger – hoben besonders stark die amerikanische Rolle hervor.“ (S. 681). – „Gorbatschows historische Rolle war

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Kap. 1: Geschichten vor der Geschichte 

Frankreich. Es heißt von ihm nicht, es habe wie jene in der Epoche von Deutschlands Wiedervereinigung konstruktiv gehandelt. Vielmehr wird Frankreich für die Haltung, die es damals eingenommen haben soll, mit heftiger Kritik überzogen, und zwar gleichermaßen von Historikern und politischen Akteuren aus der Zeit. Frankreich, das heißt sein Präsident, François Mitterrand, wird zur Rede gestellt, anklägerisch, so als müsste er sich für sein Verhalten rechtfertigen. Der französische Präsident, so versicherte beispielsweise der britische Histo­riker Timothy Garton Ash, habe „Ende 1989 versucht, die deutsche Vereinigung zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen.“7 Sein Kollege Tony Judt behauptete, dass die „erste Reaktion in Paris [im Herbst 1989] der Versuch [war], jeden weiteren Schritt in Richtung deutsche Einheit abzublocken … [Mitterrand] versuchte, die sowjetische Führung davon zu überzeugen, dass Frankreich und Russland, seit jeher verbündet, ein gemeinsames Interesse hätten, den deutschen Ambitionen einen Riegel vorzuschieben.“8 Vorhaltungen gleicher Art führte der französische Historiker Georges-Henri Soutou an – „Selbst als er [Mitterrand] gezwungen war, entscheidend dafür, dass die allgemeinen Kräfte in Bewegung kamen. Aber er wollte die Vereinigung nicht.“ (S. 682). – „Kaum jemand wird bestreiten, dass Kohls Politik ein wesentlicher Teil in der Geschichte der deutschen Vereinigung war.“ (S. 683). Die Studie [Zelikows] beweist auch, über jeden Zweifel hinaus, die Bedeutung der amerikanischen Rolle. Es gab keine Sowjet-Deutschen faits accomplis. Als Kohl im Juli 1990 nach Moskau reiste, hatte sich Gorbatschow schon dafür entschieden, sich von harten Positionen wegzubewegen. Und Kohl übernahm in wesentlichen Punkten Positionen, die schon vorher, ausnahmslos, mit der amerikanischen Regierung abgestimmt, und, in einigen Fällen, in Washington entworfen worden waren (S. 683). – „Das Ergebnis [des Prozesses der deutschen Wiedervereingung] kann am besten erfasst werden, wenn man die Interaktion zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der UdSSR, und den Vereinigten Staaten untersucht.“ (S. 687). – Typisch für Zelikows US-zentrierte Darstellung unter gänzlicher Nichtbeachtung der französischen Rolle bei der Wiedervereinigung ist auch die Bibliographie am Ende seiner Studie. Sie beläuft sich auf 31 Buchseiten, mit ca. 22 Publikationen pro Seite, sodass die Bibliographie ca 682 Veröffentlichungen umfasst. Eine entsprechende Durchsicht ergibt, dass gerade vier davon sich auf die Thematik „Deutschland – Frankreich“ beziehen, und nur eine vom Thema „Frankreich und Deuschlands Wiedervereinigung“ handelt. – Vgl. ebenfalls die Aussage Gerhard A. Ritters in seinem Beitrag „The Politics of German Unification. Social, Economic, Financial, Constitutional and International Issues“: „Die Vereinigten Staaten waren darauf eingestellt, den internen Vereinigungsprozess gegenüber Verhinderungen von außen zu sichern, und übten so ihren Einfluss auf Mitgliedsstaaten der NATO aus, wie sie die Unterstützung von Premierministerin Thatcher und Präsident Mitterrand gewannen.“ (in: Manfred Schmidt / Gerhard A. Ritter, The Rise and Fall of a Socialist Welfare State. The German Democratic Republic (1949–1990) and German Unification (1989–1994), Übs. David R. Antakl, Ben Veghte, Berlin / Heidelberg: Springer, 2013, 167–287, hier: 183). – Das englischsprachige Buch ist aus verschiedenen deutschen Texten entstanden, die zu unterschiedlichen Anlässen verfasst wurden und an unterschiedlichen Orten erschienen. Es liegt zu ihm denn kein einheitliches deutsches Buch als Original vor. Deswegen wurden hier auch die hier gebrachten Zitate von mir ins Deutsche (rück-)übersetzt. 7 Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München: Hanser, 1993, 572. – Ash führt zu seiner Versicherung keinerlei Evidenz an, die sie unterstützte. 8 Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München: Hanser, 2006, 734. – Judt führt zu seiner Versicherung keinerlei Evidenz an, die sie unterstützte.

Es geht um Geschichtsschreibung, und es herrscht Streit

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sich dem Unvermeidlichen zu beugen, versuchte er, die Dinge zu verlangsamen“.9 – Ähnlich schrieb der deutsche Historiker Gerhard A. Ritter: „[Mitterrand] hatte zur deutschen Vereinigung eine skeptische Auffassung und versuchte am Anfang, den Prozess zu verlangsamen.“10 Ein anderer deutscher Historiker, Hans-Peter Schwarz, zieh Mitterrand des „Gegenkurses“, den dieser bezüglich der Wiedervereinigung eingeschlagen habe, und er ordnete ihn entsprechend ein: „Mitterrand, Thatcher, Andreotti und alle anderen Bremser in der Wiedervereinigungsfrage“.11 Gerhard Ritter, seines Wissens über das Streben Mitterrands wider die deutsche Vereinigung sehr gewiss, unterstellte dem französischen Präsidenten „Versuche“, sich mit Margaret Thatcher „auf eine gemeinsame Politik zur Eindämmung der deutschen Gefahr zu einigen“ und mit ihr „die Entente cordiale der Zeit vor 1914 wiederzubeleben“. Er wusste ebenfalls, so muss man aus seinen Ausführungen schließen, dass „beide Präsidenten“, nämlich Gorbatschow und Mitterrand, „eine schnelle Vereinigung Deutschlands ablehnten, aber letztlich keine Mittel sahen, sie zu verhindern“.12 Klaus Hildebrand, wie Schwarz und Ritter namhafter Historiker in Deutschland, sah in Mitterrand einen Strategen antideutscher Allianzen, der von dem, was ihm vorschwebte, schließlich nur aus Not abließ. „Als die Russen davon [von ihrem Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung] abrückten und schwach wurden,“ so führt er aus, „fühlten die Franzosen sich ihrerseits nicht stark genug, um – gegen den Willen der Amerikaner zumal – allein mit den Briten gegen Deutschland Front zu machen. Aus Furcht davor, am Ende isoliert dazustehen und mit den nach wie vor gefürchteten Deutschen allein gelassen zu werden, willigte François Mitterrand in das Unvermeidliche ein.“13 Eine ähnliche, wenn nicht sogar schärfere Kritik wurde bei ihrer Rückschau von politischen Akteuren formuliert. So bestehen die Äußerungen Helmut Kohls, die er in seinen „Erinnerungen 1982–1990“ zu dem Verhalten des französischen Präsidenten angesichts einer sich abzeichnenden Wiedervereinigung Deutschlands vorbringt (welche allerdings, wie wir noch sehen werden, von einer bestimmten „Quelle“ her beeinflusst sind), in einem einzigen, schlimmen Vorwurf: „Mitterrand wollte keinerlei Bewegung in der deutschen Frage sehen.“ – „Manche seiner Äußerungen oder Reaktionen waren für mich befremdlich und nicht akzeptabel.“ – „Dass Mitterrand den Status Deutschlands nicht verändert wissen wollte,

9 Georges-Henri Soutou, The German Question as Seen From Paris, in: Imposing, Maintaining, and Tearing Open the Iron Curtain. The Cold War and East-Central Europe, 1945–1989, Hg. Mark Kramer / Vit Smetana, Lanham: Lexington Books, 2014, 235. 10 Manfred Schmidt / Gerhard A. Ritter, The Rise and Fall of a Socialist Welfare State, 172. 11 Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2012 = Pantheon Ausgabe 2014, 558 und 560. 12 Gerhard A. Ritter, Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung, München: C. H.Beck 2013, 78 und 134. 13 Klaus Hildebrand, Wiedervereinigung und Staatenwelt. Probleme und Perspektiven der Forschung zur deutschen Einheit 1989/90, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 52 (2004), Heft 2, 206.

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bevor nicht die Einheit Europas sehr viel weiter fortgeschritten sei, sagte er mir nie geradeheraus ins Gesicht.“ – „Die Rolle von François Mitterrand war zumindest undurchsichtig.“  – „Selbst auf meinen Freund François Mitterrand schien kein Verlass zu sein.“ – „Mitterrand spielte im Lauf der folgenden Wochen14 eine Art Doppelspiel.“15 Demgegenüber fasste der damalige Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt, Claus J.  Duisberg, seinen Rückblick in lapidare, wenngleich nicht weniger deutliche Worte: „Sowohl Frankreich als auch Großbritannien … suchten nach Wegen, Einfluss auf die Entwicklung [zu einer Wiedervereinigung hin] zu behalten, um sie zunächst zu verzögern.“16 Erst der Zwang, der von „Unvermeidlichem“ (gleichfalls Soutous und Hildebrands Begriff) ausging, so berichtet Duisberg von seinen „Einblicken in die Wiedervereinigung 1989/1990“ weiter, brachte Frankreich zu einer anderen Haltung. „Als sich zeigte, dass die deutsche Einheit unvermeidlich kommen und jeder Widerstand dagegen nur zu einer nachhaltigen Belastung der deutsch-französischen Beziehungen führen würde, stellte die französische Regierung alle Vorbehalte zurück und schloss sich der Bewegung an.“17 Es gibt indes andere Urteile als die soeben angeführten. Und sie stehen diesen scharf entgegen. Im Streit über die wahrheitsgetreue Darstellung der Politik, die Mitterrand 1989 und 1990 bezüglich der Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands einschlug, widerspricht eine Seite der anderen. So versicherte Hans-Dietrich Genscher am 16. Oktober 2009 bei einem „Zeitzeugen-Seminar“ in London kurz und knapp: „Mitterrand hatte nichts gegen die deutsche Vereinigung.“18 Bertrand Dufourcq, Politischer Direktor im französischen Außenministerium und Leiter der französischen Delegation bei den „Zwei-plus-Vier Verhandlungen“, erklärte bei derselben Gelegenheit: „Er [Mitterrand] versuchte ganz gewiss zu keinem Zeitpunkt, sich der Vereinigung in den Weg zu stellen. … Nach allem, was ich weiß, und ich konnte sehr, sehr oft hören, was Mitterrand bei persönlichen Gesprächen sagte, hatte er niemals etwas gegen die deutsche Wiedervereinigung.“19 Ähnliche Urteile wie diese haben auch Historiker außerhalb Deutschlands formuliert. Der russische Experte für internationale Beziehungen Mikhail Narinskiy begann seinen Artikel über „Gorbatschow, Mitterrand und die Wiedervereinigung Deutschlands“ mit der klaren Feststellung: „Michael Gorbatschow und François 14 „der folgenden Wochen“: damit meint Helmut Kohl die Wochen nach dem deutsch-französischen Gipfel in Bonn am 2. und 3. November 1989. 15 Helmut Kohl, Erinnerungen. [2. Band] 1982–1990, München: Droemer 2005, 581, 1014, 1033, 988, 956. 16 Claus J.  Duisberg, Das deutsche Jahr. Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990, Berlin: Wolf Jobst Siedler, 2005, 105. 17 Ebd., 105 f. 18 German Embassy, London, Witness Seminar. Berlin in the Cold War, 1948–1990. German Unification, 1989–1990, London: Lancaster House, Friday 16 October 2009, 94. Im Folgenden: „Wit. Sem.“. – Siehe auch Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin: Siedler 1995, 691 f. 19 Wit. Sem., 102 und 104.

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Mitterrand spielten eine Schlüsselrolle bei der Wiedervereinigung Deutschlands.“20 Der polnische Historiker Marek Mikołajczyk kam bei der Zusammenfassung am Ende seines Buchs über Mitterrands Europapolitik zu dem Ergebnis: „Mitterrand war auf die deutsche Wiedervereinigung vorbereitet, das heißt er war sich der Unvermeidlichkeit dieses Prozesses bewusst.“21

Gekappte Geschichtsschreibung Was tat Frankreich in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung? Darüber gibt es einen Streit, einen öffentlich ausgetragenen und, wie wir gesehen haben, mitunter heftigen, mit Einlassungen vieler, aus der „bezeugenden“ Welt von Politik wie aus der zu kritischer Abwägung berufenen von Wissenschaft. Was könnten die Gründe für ihn sein? Eine wesentliche Ursache ist sicherlich die unzulängliche Kenntnis und Auswertung von archivalischen Quellen. Diese Asymmetrie konnte – obwohl dies keineswegs notwendigerweise hätte geschehen müssen – sich ergeben, weil die folgende Sachlage vorliegt. Einschlägige Dokumente aus deutschen, britischen, amerikanischen und russischen Archivbeständen sind mittlerweile in großem Umfang in gedruckter Form veröffentlicht oder in elektronischer Form öffentlich zugänglich.22 Dadurch liegen für das Erfassen der Regierungsprozesse 20

Mikhail Narinskiy, Gorbatchev, Mitterrand et la Réunification de l’Allemagne: La Fin de la Guerre Froide, in: Guerres mondiales et conflits contemporains, Nr. 258, 2015, 27–55. – Übersetzung aus dem Französischen hier wie im Weiteren durch T. S. 21 Marek Mikołajczyk, François Mitterrand. Europa w latach 1981–1995, Poznań: Wydawnictwo Nauka i Innowacje, 2014, S. 326; siehe im Weiteren insbes. die Kapitel 5 „Zjednoczenie Niemiec a zjednoczenie Europy“ (Die Vereinigung Deutschlands und die Vereinigung Europas), und 6 „Batalia o Maastricht“ (Der Kampf um Maastricht). 22 Siehe: Auswärtiges Amt, „2+4“. Die Verhandlungen über die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit. Eine Dokumentation, Bonn 1991; Hanns Jürgen Küsters / Daniel Hofmann (Hg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München: Oldenbourg, 1998, im Weiteren: Dok. Dt. Einheit; Berlin Allied Museum (Hg.), „Let Berlin be Next.“ George Bush and German Unification. The Telephone Conversations of U. S. President George Bush and Chancellor Helmut Kohl (October 23, 1989 – October 3, 1990), publication to accompany the exhibition, 10 November 1999 to 13 February 2000, Berlin: Allied Museum, 2000; Aleksandr Galkin / Anatolii Chernyaev (Hg.), Mikhail Gorbachev i Germanskii vopros: sbornik dokumentov 1986–1991, Moscow: Ves’ mir, 2006; Deutsche Ausgabe: Helmut Altrichter et al. (Hg., übs. Joachim Glaubitz), Michael Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991, München: Oldenbourg 2011, im Weiteren: Sow. Dok.; Foreign and Commonwealth Office, Documents on British Policy Overseas, Series III, Vol. VII, German Unification, 1989–1990, Patrick Salmon et al. (Hg.), London: Taylor & Francis, 2009/London / New York: Routledge 2010, im Weiteren: DBPO; Svetlana Savranskaya et al. (Hg.), Masterpieces of History. The Peaceful End of the Cold War in Europe, 1989, Budapest: Central European University Press 2010; Diplomatie für die deutsche Einheit: Dokumente des Auswärtigen Amts zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90, Andreas Hilger (Hg.), München: Oldenbourg 2011, im Weiteren: Dipl. Dt. Einheit; Horst Möller et al. (Hg.), Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, im Weiteren: Die Einheit.

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in den betreffenden Ländern in der Epoche der deutschen Wiedervereinigung günstigste Voraussetzungen vor. Dies trifft für Frankreich indes nicht zu. Hier sind nur wenige der entsprechenden Dokumente öffentlich einsehbar. Es liegt zwar ein gedruckter Band mit Akten aus dem französischen Außenministerium vor. Aber er ist im Vergleich mit den anderen Aktenbänden aus Deutschland, Großbritannien, Russland recht schmal,23 wie auch die Zahl der Dokumente, die das Ministerium elektronisch zugänglich gemacht hat, sehr beschränkt ist.24 Und was ist zu den Akten – Abertausende – vom entscheidenden Ort des Regierens in Frankreich zu sagen, dem Élysée, in dem Mitterrand seine Macht nicht nur alleinherrscherlich, sondern mit einer großen Vorliebe für Schriftstücke ausübte?25 Sie können allein im Gebäude der Archives Nationales im Pariser Vorort Pierrefitte eingesehen werden, wo sie nach Ende der Präsidentschaft Mitterrands deponiert wurden und jetzt nach und nach archivalisch aufgearbeitet werden. Bevor es zu einer Einsicht im dortigen Lesesaal unter aufwendigen Kontrollen und bei ziemlich begrenzten Öffnungszeiten kommen kann, muss allerdings erst um eine Sondererlaubnis nachgesucht werden, die über einen nicht ganz einfachen Antragsweg erhalten werden kann und meistens nicht alle die Aktenbestände umfasst, für welche die Einsicht beantragt wurde.26 Schließlich machen die örtlichen Umstände die Forschungsarbeit im Archiv in Pierrefitte zeitraubend und für auswärtige Forscher kostspielig. Wer den wesentlichen Bestand französischer Quellen zu unserem Thema auswerten will, hat es denn mit weitaus eingeschränkteren Bedingungen zu tun, als es bei deutschen, britischen, amerikanischen und russischen Quellen zu dem Thema der Fall ist. Aus der soeben beschriebenen Sachlage folgt – und es sei nochmals betont: nicht notwendigerweise – die besagte Asymmetrie in der Ausführung historiographi 23

Maurice Vaïsse / Christian Wenkel (Hg.), La diplomatie française face à l’unification allemande, Paris: Éditions Tallandier, 2011, im weiteren: Vaïsse / Wenkel. 24 http://www.diplomatie.gouv.fr/fr/archives-diplomatiques/ (aufgerufen am 2. November 2021). 25 Die Kommunikation im Élysée zwischen Präsident Mitterrand und den Mitgliedern seines dortigen Stabs erfolgte nicht per Telefon, und nur gelegentlich mündlich, dahingegen generell schriftlich, mit sogenannten „notes“, Schriftsätzen von ein bis drei Seiten (selten mehr), die ihm über den Generalsekretär des Élysée zugingen, und die er meistens innerhalb desselben Tages bearbeitete. Auf diese Weise kam für den Präsidenten täglich ein Lektürepensum von an die 250 Seiten Aktenstücke zusammen. Ebensolche Schriftsätze erhielt er auch von Ministern. Zu dieser „notes“-Produktion kamen natürlich Botschafterberichte, diplomatische Telegramme, Denkschriften aus den Ministerien etc. hinzu, die in den Geschäftsablauf im Élysée eingingen. Die Präferenz des Präsidenten für Schriftstücke machten den Élysée zum Ort einer Anhäufung von Dokumenten. – Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Arbeitsweise in der Epoche von E-Mails und Mobiltelefonen eine Sache der Vergangenheit ist und damit aber auch der mit ihr verbundene Reichtum an schriftlich vorhandenen Quellen für die wissenschaftliche Forschung. 26 Eine Reihe von Mitarbeitern Mitterrands behielt für sich Dokumente, im Original und in der Form von Kopien, als sie aus dem Élysée ausschieden. Einzelne von ihnen machten später solche Dokumente anderen zugänglich, die sie für ihre einschlägigen Veröffentlichungen auswerteten, und zur Verortung der Dokumente gewöhnlich den Verweis „Privatarchiv“ angaben.

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scher Arbeit. Sie liegt bei zahlreichen Studien vor. In ihrer extremen Form ergibt sich dann, wie bei der Studie „A Diplomatic History of German Unification“ von Philip D. Zelikow, eine „Geschichte der deutschen Vereinigung“, in der Frankreich in seiner Rolle als eine der Mächte, die das Geschehen der Vereinigung bestimmt haben, schlicht nicht vorkommt.27 Die allgemeinere Form der Asymmetrie soll am Beispiel von zwei markanten Werken aufgezeigt werden. Für sein Buch „Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung“ (2013) hat Gerhard A. Ritter eine Reihe verschiedener archivalischer Quellen benützt. Einige Abschnitte des Buches gelten der Politik Mitterrands bezüglich der deutschen Wiedervereinigung; sie entwerfen davon durchwegs ein negatives Bild.28 Schaut man die Anmerkungen zu diesen Abschnitten durch, fällt auf, dass dort zwar viele deutsche, britische, und russische archivalische Dokumente angeführt werden, jedoch nur ein einziges französisches, das in dem vom französischen Außenministerium bereitgestellten Dokumentenband veröffentlicht ist.29 Der reiche Quellenschatz in den Archives Nationales wurde indes von Ritter nicht berücksichtigt, so als ob ein Befassen mit der Politik Mitterrands auch ohne ihn zu legitimieren sei. Eine Menge von Archiven benennt Mary Elise Sarotte als Orte der Forschung für ihr Buch „1989. The struggle to create post-cold war Europe“, das 2009 veröffentlicht wurde.30 Auf der Liste stehen auch die französischen Archives Nationales. Indes erklärt Sarotte in ihrem Buch: „Mein eigener Antrag (oder dérogation) auf eine vorzeitige Einsicht in die Dokumente [in den Archives Nationales] war erfolgreich, wenngleich dies weitgehend zu spät für eine Nutzbarmachung für dieses Buch geschah, er wird bei zukünftigen Schriften berücksichtigt werden.“31 Die Auskunft könnte einen perplex machen. Waren die französischen Dokumente für Sarotte letztendlich nicht wichtig, oder hatte die Veröffentlichung ihres Buches eine höhere Priorität als die noch auszuführende Forschung? Wie dem auch sei, in der dritten, 2014 veröffentlichten Ausgabe ihres Buchs sind unter den überaus vielen Anmerkungen gerade einmal vier Angaben zu Quellen in den Archives Nationales zu finden.32 Leser von Sarottes Buch, die mit dem literarischen und dokumentarischen Erbe von Mitterrand etwas vertraut sind, wird im Übrigen die Bemerkung im Vorwort verwundern, wonach „es auch eine begrenzte Auswahl von 27

Siehe Anm. 5. Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung, 41–51, 77–79. 29 Ebd., 208. 30 Mary Elise Sarotte, 1989. The struggle to create post-cold war Europe, Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 2009. 31 Anmerkung 11, S. 238 (Paperback Ausgabe von 2014). – Ich habe das Zitat etwas freier übersetzt, um ihm im Deutschen eine angemessene grammatikalische und inhaltliche Form zu geben. Zum Vergleich hier das englische Originalzitat: „My own petition (or dérogation) for an early viewing of the documents succeeded well, although mostly too late for incorporation into this book, and will be the subject of future writing.“ 32 Auf der Seite 285, Anmerkung 8, und auf der Seite 304, Anmerkungen 24–26. 28

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Primärdokumenten gibt, die von François Mitterrand veröffentlicht wurden“.33 Von einer Edition von „Primärdokumenten“ durch Mitterrand ist jedoch nichts bekannt. Man könnte raten, aber das führte nur zu noch mehr Verwirrung.34

Verfälschte Geschichtsschreibung Die Historiker, die Mitterrand mit Kritik überziehen, machen sich wahrscheinlich nicht bewusst, dass sie mit einer asymmetrischen Kenntnis und Auswertung archivalischer Quellen vorgehen. Und viele glauben, dass es neben den Archiven eine einzigartige, ganz leicht zugängliche und dazuhin außerordentlich ergiebige Quelle gibt: die drei Bände „Verbatim“, die ein früheres Mitglied des Stabs von Mitterrand im Élysée, Jacques Attali, veröffentlicht hat.35 Jeder Überblick über die Historiographie zu unserem Thema zeigt, dass aus dieser „Quelle“ ausgiebig geschöpft wird. Sie ist es, auf die vornehmlich verwiesen wird, will man die vorgebrachten Ansichten zu Mitterrands Politik in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung herleiten und belegen. Und der Glaube an „Verbatim“ ist so stark, dass er es – schon ein erstaunliches historiographisches Phänomen – ganz logisch erscheinen lässt, auf eigene Nachprüfungen, sei es durch eine Verarbeitung der vorhandenen Studien aufgrund authentischer französischer Quellen, sei es durch eigene Quellenforschung, mehr oder weniger verzichten zu können.36 33

Paperback Ausgabe, XIII. Es ist möglich, dass Sarotte an Mitterrand’s Essay „De l’Allemagne, De la France“, Paris: Odile Jacob 1996, dachte. In diesem spricht Mitterrand hauptsächlich von der Wiedervereinigung Deutschlands, und dann, in kleinerem Umfang, von den „Reaktionen“ auf seine Wahl 1981 aus dem Ausland. Ein dritter Teil enthält unter der Überschrift „Pièces à l’appui“ (Dokumente zum Nachweis) tatsächlich bestimmte dokumentarische Stücke: neun Exzerpte (!) aus Pressekonferenzen, sowie Interviews und Redetexte, aus den Jahren 1988, 1989, 1990, 1994, und 1995. Wie Sarotte den Essay in einer Anmerkung zitiert, bezieht sie sich auf ihn als – Mitterrand’s „Erinnerungen (memoirs)“ (Sarotte, 1989 (2009), 240, Anmerkung 25, meine Hervorhebung, T. S.). 35 Jacques Attali, Verbatim I Chronique des années 1981–1986, Paris: Fayard, 1993; II Chronique des années 1986–1988 (1995), III Chronique des années 1988–1991 (1995). – Zu der „störenden“ und realen Rolle Attalis im Élysée s. Jacques Fournier, Itinéraire d’un fonctionnaire engagé, Paris: Dalloz, 2008, 238–241. 36 Ein sprechendes Beispiel sei hier aus der von Hans-Peter Schwarz vorgelegten Biographie Helmut Kohls angeführt. Nicht weil es ein Buch von mir betrifft, sondern weil es so vielsagend ist. Auf S. 983, Anm. 25 und S. 998, Anm. 27, schreibt Schwarz mir zu, dass ich meine Studie „Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit“ aufgrund von „verschiedenen Aufzeichnungen“ bzw. „ausgewählten Dokumenten“ aus dem „Quai d’Orsay“ verfasst hätte. Er kann in das Buch keinen Blick geworfen haben, sonst hätte er gleich zu Beginn erfahren können, dass es aus einer umfangreichen Einsicht in die Aktenbestände hervorgegangen ist, die im Élysée, im dortigen präsidentiellen Archiv, gesammelt vorlagen. Den Ertrag des Buches für die Forschung (auch die seinige …) nimmt Schwarz folglich auch nicht wahr. Viel genauer scheint es Schwarz zu nehmen, wenn es um seine eigenen Veröffentlichungen geht. Er sieht hin und weist zurecht, nachdrücklich und nichts an Information auslassend, wie zum Beispiel auf S. 976, Anm. 20. Dort schreibt er zu Ulrich Lappenküpers Buch „Mitterrand und 34

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Zum Unglück aber ist „Verbatim“ für alle Historiographie die denkbar ungeeignetste Quelle. Eine Darlegung all der dokumentarischen Verstöße, die mit „Verbatim“ begangen wurden, würde ein ganzes Buch von einigem Umfang erfordern. Es würde eine größere Forschungsarbeit voraussetzen, müssten doch die Eintragungen in „Verbatim“ überprüft werden, fast Seite für Seite, damit man sieht, inwieweit hier Originaldokumente – die nicht von Attali stammen – verarbeitet wurden, und, wenn ja, in welcher Weise. Dazu müssten natürlich diese Originaldokumente gleichzeitig archivalisch bekannt sein. So ist, in textkritischer Hinsicht, eine Sachlage gegeben, die für die drei Bände von „Verbatim“ wie eine schützende Barriere wirkt; diese lässt eine Kritik von deren angeblich dokumentarischer Natur kaum, oder allenfalls unter großen Mühen, zu. Sollte dem eine strategische Überlegung zugrunde gelegen haben, um für „Verbatim“ den Charakter eben eines Verbatim, einer unmittelbaren wörtlichen Evidenz, vorzugeben, so war sie zweifellos geschickt. Gegen Attalis Werk wurden gleich nach dem Erscheinen des ersten Bandes im Mai 1993 schwere Einwände vorgebracht. Dem Autor wurden Plagiate vorgeworfen, frühere Minister in französischen Regierungen verwahrten sich gegen falsche Behauptungen, die sie selber betrafen.37 Die Tageszeitung Le Figaro fasste die Kritik in dem Satz zusammen: „Jacques Attali hat die Geschichte manipuliert.“38 Mit einer dokumentarischen Notiz vom 19. Mai 1993 hielt der Generalsekretär des ­Élysée, Hubert Védrine, die Reaktion von Mitterrand fest. Der Präsident, so erklärte Védrine, hatte dem Plan zugestimmt, dass Attali eigene Tagebuchaufzeichnungen veröffentlichen, und dem, was er notierte, Kommentare und persönliche Bemerkungen hinzufügen werde. Als Mitterrand jedoch die Druckfahnen sah, fand er die persönlichen Aufzeichnungen Attalis mit Archivdokumenten verdie enträtselte Sphinx“ (München: Oldenbourg 2011): „Lappenküper hat die Überschrift einem skeptischen Essay entlehnt, in dem ich selbst entgegen der in Deutschland eher unkritischen Verehrung des ‚Europäers‘ Mitterrand die durchgehende Ambivalenz seiner Politik auch gegenüber der Bundesrepublik zu beleuchten suche“ (Hans-Peter Schwarz, ‚Die enträtselte Sphinx‘, in: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter, Mediokritäten, erweiterte Neuauflage, München 2010 (1998), 683 bis 692). 37 Jean Bothorel, Le dernier livre d’Attali: accusation de plagiat, in: Le Figaro, 19. Mai 1993, 22; Joseph Macé Scaron, Les libertés prises par „l’historien“. Divers épisodes du récit de l’ancien collaborateur [Robert Badinter] de Mitterrand semblent bien éloignés des faits reels, in: Le Figaro, 19. Mai 1993; Roger Cohen, Literary Piracy is charged in France, in: NYT, 19. Mai 1993; Elisabeth Schelma, „Verbatim“: les fausses confidences, in: Le Nouvel Observateur, 20. Mai 1993; Jacques Cordy, D’anciens ministers se plaignent, l’éditeur attaque Jacques Attali accusé de plagiat, in: Le Soir, 21.Mai 1993; Jacques Attali accusé de plagiat, in: L’Humanité, 22. Mai 1993; Roger Cohen, Verbatim or Verboten, in: NYT, 23. Mai 1993; „Verbatim“: la vérité maltraitée, in: Le Figaro, 26. Mai 1993. – Die Plagiate, von denen in diesen Artikeln gesprochen wird, beziehen sich auf ein von Elie Wiesel herausgegebenes Buch, das aus Gesprächen zwischen Mitterrand und ihm hervorgegangen war. Wiesel und sein Verlag in Paris hatten entdeckt, dass beträchtliche Teile des Buches in „Verbatim“ eingebracht worden waren. – Die früheren Minister in französischen Regierungen waren Robert Badinter, Laurent Fabius, Pierre Mauroy, und Jack Lang. 38 Le Figaro, 19. Mai 1993, 22. 

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mengt. Mitterrand forderte Védrine deswegen auf, allgemein bekannt zu machen, dass „ich nicht ein Komma in dem Werk geändert habe, sonst wäre ich dessen Mitverfasser geworden. Das ist ein Text von Jacques Attali, veröffentlicht von Attali.“ Den Worten Mitterrands fügte Védrine seine Erläuterungen dessen, was geschehen war, hinzu: „Attali hat die Tatsache ausgenützt, dass er die Druckfahnen dem Präsidenten im letzten Augenblick zu sehen gab. In einem Reflex von Klugheit sagte letzterer: Ich rühre nichts an. Attali hat dies als Billigung dargestellt.“39 Im Gespräch mit mir am 24. Juni 1994 kommentierte der Pressesprecher Mitterands, Jean Musitelli, den Fall „Verbatim“. Dem Präsidenten, so erklärte er, „sei von Attali gesagt worden, er wolle seine [d. h. Attalis] „Notizbücher (carnets)“ veröffentlichen. Unter dieser Voraussetzung, dass es Notizbücher „ganz im Sinne des Wortes (proprement dit)“ sein würden, „aber nicht mehr“, habe Mitterrand eingewilligt. Es sei keineswegs die Rede davon gewesen, „Geschichte darstellend aufzuarbeiten (reconstruire l’histoire),40 oder gar Regierungsdokumente zu veröffentlichen“. Es sei auch nichts davon wahr, wie es Attali behaupte, „dass Mitterrand einige Tage vor Veröffentlichung des ersten Bandes von „Verbatim“ die Druckfahnen des Buches gelesen habe.41 Dazu hat der Präsident schon einmal gar nicht die Zeit.“ Zu dem Vorwurf, dass Attali Texte anderer in „Verbatim“ eingebaut habe, bemerkte Musitelli diplomatisch, dieser verfüge über „ein großes Können in Sachen Anverwandlung (capacité à metabolisme)“.42 Laurence Soudet, eine langjährige Mitarbeiterin und Vertraute Mitterrands, äußerte sich zu Attali bei einem Gespräch am 28. Februar 1994 im Élysée sehr direkt: „Er lügt.“ Und sie benützte, um ihn zu charakterisieren, das Wort „scribe“, das „Schreiber“, aber auch „Kopist“, „Spicker“, „Plagiator“ bedeutet.43

39 Dokumentarische Notiz von Hubert Védrine, Sur le livre de Jacques Attali, „Verbatim“, 19. Mai 1993; – Nach dem Erscheinen 1995 von Band III von „Verbatim“ gab Mitterrand eine Verlautbarung heraus, mit der er sich aufs ausdrücklichste von dem Buch distanzierte. Siehe: François Mitterrand exprime ses „réserves“ sur „Verbatim“ in: Libération, 7. Okt. 1995. Libération nahm im Übrigen an, dass Mitterrand besonders dadurch irritiert war, wie er in „Verbatim“ hinsichtlich seiner Haltung zur deutschen Wiedervereinigung erschien. 40 Jean-Louis Bianco zufolge, wie er bei einem Forschungsgespräch am 3. Juni 1996 sagte, behaupte Attali, dass Mitterrand ihn gleich zu Beginn seiner Amtszeit aufgefordert habe, der „Geschichtsschreiber seiner [Mitterrands] Epoche“ zu sein. Das, so Biancos Kommentar, „kann nun niemand nachprüfen.“ Jean-Louis Bianco war vor Hubert Védrine Generalsekretär des Élysée und so einer der engsten Mitarbeiter Mitterrands. 41 Pierre Favier, zusammen mit Michel Martin-Roland Autor von „La Décennie Mitterrand“ (s. Anm. 47), erklärte seinerseits bei einem Forschungsgespräch am 24. Juni 1993: „Die Korrekturfahnen von Verbatim beliefen sich auf 2000 Seiten. Mitterrand kann sie gar nicht alle gelesen haben. Er hat sie höchstens durchgeblättert. Doch Attali behauptet weiterhin, der Präsident habe Verbatim ‚gelesen‘.“ Attali habe, so sagte Favier weiter, auch gar kein „Notizbuch“ (carnet)“ geführt. Er habe vielmehr ein solches nachträglich „komponiert“. 42 Forschungsgespräch mit Jean Musitelli, 24. Juni 1993. 43 Forschungsgespräch mit Laurence Soudet, 28. Februar 1994.

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Am 1. Juli 1993 führte ich ein Telefongespräch über „Verbatim“ mit Joachim Bitterlich, diplomatischer Berater von Helmut Kohl im Bundeskanzleramt.44 Bitterlich nannte den Kommentar des Kanzlers zu Attalis Werk „gepfeffert“. Und was war dafür der Grund? Im Kanzleramt hatte man bei der Lektüre des ersten Bandes von „Verbatim“ entdeckt, dass das Buch eine „manipulative Auswahl“ von Gesprächen zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand enthielt und diese außerdem unvollständig wiedergegeben wurden; ferner hatte man festgestellt, dass an acht oder neun Stellen Kohl mit „ausgeprägten Anti-Amerikanismen“ zitiert wurde, während die anderen, „ausbalancierenden Äußerungen“ Kohls über die USA fehlten. Als man im Kanzleramt die Wiedergabe der Gespräche durch Attali mit den eigenen Protokollen jener Gespräche verglich, stellte man ein „willkürliches Umgehen mit den Gesprächsinhalten“ fest. Der „Eindruck“ sei entstanden, dass Attali bei Gesprächen, bei denen er auf französischer Seite der Protokollant war, nur das mitschrieb, „was er wollte“. Im Übrigen, so Bitterlich, hatten sie aus dem Élysée gehört, dass der Autor von „Verbatim“ für sein Werk „geklaut“ habe, und von Besprechungen, an denen er nicht teilgenommen habe, so berichtete, als sei er bei diesen dabei gewesen. Die Art von Attali, nach seinem eigenem Gutdünken Protokoll zu führen, war auch von Horst Teltschik, Kanzler Kohls engstem diplomatischen Berater, beobachtet worden. Bei einem Gespräch am 18. Juli 1994 erklärte er mir: „Attali hat immer nur Stichworte aufgeschrieben.“ Und was „Verbatim“ anbelange, so werde er, Teltschik, darin von Attali „falsch“ zitiert.45 Mit dem Buch, so resümierte Bertrand Dufourcq am 7. November 2009 anlässlich einer Konferenz in Suresnes, „kann man nicht arbeiten. Das ist keine Quelle.“46 Eine Sammlung von Belegen für die zweifelhafte historiographische Qualität von „Verbatim“ stellte ich kurz nach Erscheinen des ersten Bandes für drei Zeitungsartikel zusammen. Der erste erschien im August 1993 in der französischen Wochenzeitschrift Le Point (mit einem Echo sowohl in Deutschland wie in den USA), der zweite im November 1993 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ein dritter Artikel folgte im März 1996, wieder in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.47

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Telefongespräch mit Joachim Bitterlich, 1. Juli 1993. Forschungsgespräch mit Horst Teltschik, 18. Juli 1994. 46 Gespräch mit Bertrand Dufourcq, 7. November 2009. Die Konferenz in Suresnes galt dem Thema „9 novembre 1989, le big-bang européen?“ Siehe http://monsuresnes.blogspot. de/2010/12/bref-apercu-9-novembre-1989-le-big-bang.html (aufgerufen am 10. April 2022). 47 Tilo Schabert, Affaire „Verbatim“. De nouveaux éléments à charge, in: Le Point, Nr. 1093, 28. August 1993, 26–27. Einige von Bitterlichs Aussagen wurden in diesen Artikel eingearbeitet. Über sie wie über den Artikel selbst wurde am 30. August 1993 in The New York Times und der International Herald Tribune unter der Überschrift „Kohl Upset Over French Leak“ berichtet. – Jacques Attali schrieb zu dem Artikel einen Leserbrief, der am 4. September in Le Point (Nr. 1094) veröffentlicht wurde. – In Deutschland führte der Le Point-Artikel ebenfalls zu Zeitungsberichten. Siehe: Emil Bölte, Aus dem Élysée frisch auf den Markt. Jacques Attalis Buch 45

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Später schlossen andere Forscher ihre entschieden scharfe Kritik von „Verbatim“ unmittelbar in ihre einschlägigen Arbeiten ein.48 In den wissenschaftlichen Darstellungen zur Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende des Kalten Krieges blieb „Verbatim“ indes eine bevorzugte „Quelle“. Einige Autoren, wie Wilfried Loth, Michael Sutton oder Georges-Henri Soutou, wiesen die Einwendungen gegen „Verbatim“ schlicht und einfach zurück. Nach Loth ist Attalis Werk, wie er 2013 in einem Beitrag für die Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte sagte, weiterhin eine „Dokumentenpublikation“, und „Zweifel“ an deren „Zuverlässigkeit“ seien „nicht berechtigt“.49 Michael Sutton schrieb in seinem 2007 veröffentlichten Buch „France and the Construction of Europe, 1944– 2007“: „Attalis Zuverlässigkeit als Zeuge ist oft in Frage gestellt worden. Aber das bedeutet keineswegs, dass Attalis umfangreiches Zeugendokument systematisch als unecht oder nicht glaubhaft angesehen werden sollte.“50 Und in einem – hier schon angeführten – Buchbeitrag aus dem Jahr 2014 erklärte Georges-Henri Soutou das Werk von Attali zu „einer sehr wichtigen Quelle, auch wenn deren Wahrhaftigkeit häufig in unberechtigter Weise angezweifelt wurde.“ Soutou selbst hatte ganz offensichtlich keine Zweifel: „Die Wiedergabe von Mitterrands Gesprächen und Äußerungen ist ein wesentliches Dokument, so lange jedenfalls als Lesern nicht gestattet ist, die Originaldokumente in den Archives Nationales einzusehen“ (was, siehe oben, möglich, aber beschwerlich ist).51 Soutou stützte denn auch seinen Text auf „Verbatim“,52 wie gleichfalls Wilfried Loth bei bestimmten Abschnitten seiner Bücher „Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte“

verärgert den Kanzler, in: Generalanzeiger (Bonn), 31. August 1993, 3; ders., Kohl protestiert bei Mitterrand, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 31. August 1993. – Der zweite Artikel war: Im Reich der Fiktion. Jacques Attalis „Verbatim“, in: FAZ, Nr. 272, 23. November 1993, 12; ihm folgte: Ein Anti-Mitterrand. Attalis groteske Verzerrungen im Mantel der Authentizität, in: FAZ, Nr. 62, 13. März 1996, 10.  48 Pierre Favier / Michel Martin-Roland, La Décennie Mitterrand, Bd. 3, Les défis: 1988– 1991, 37–38 (auf S. 38 wird der Begriff „Hochstapelei“ (imposture) benützt, um zu charakterisieren, was „Verbatim“ darstelle); Pierre Hassner im Abschnitt „Épilogue à plusieurs voix“ in Samy Cohen (Hg.), Mitterrand et la sortie de la guerre froide, Paris: Presses Universitaires de France, 1998, 455 („Das Problem ‚Attali‘ wird irritierend. Wenn man diese drei Bände nicht benutzen kann, wenn sie voll von Lügen und Falschheiten sind, sollte sich jemand die Mühe machen, und das Korn vom Weizen trennen.“); Frédéric Bozo, Mitterrand, la fin de la guerre froide et l’unification allemande, 11–12, 380–381. – Und die harsche Kritik in den Medien wurde auch fortgesetzt. Siehe: Mathias Reymond, (Grosses) approximations et (vastes) emprunts. Quelques rappels sur le cas Attali in: Les Mots sont Importants. Net, 21. Nov. 2009, http:// lmsi.net/Grosses-approximations-et-vastes (aufgerufen am 10. April 2022). 49 Wilfried Loth, Helmut Kohl und die Währungsunion, in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 61, 4, 2013, 455–480, hier S. 460 f., Anmerkung 12.  50 Michael Sutton, France and the Construction of Europe, 1944–2007, New York / Oxford: Berghahn Books, 2007, 275 f. 51 Georges-Henri Soutou, The German Question as Seen From Paris, 233. 52 Siehe ebd., 245, Anm. 19–23, 39–42; 73, 77; 246, Anm. 44, 47, 49 f., 52, 57–60, 66, 73, 77.

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und „Building Europe. A History of European Unification“53. Auch Hans Jürgen ­Küsters,54 Hans-Peter Schwarz55 (der Attali den „Intimus“ von Mitterrand nannte),56 Alexander von Plato (der Attalis Text als „Tagebuch (diary)“ betrachtet),57 ­Lothar Kettenacker,58 und Gerhard A. Ritter59 nutzen „Verbatim“ in ihren Schriften. Unverfroren geradezu ist das Reinwaschen Attalis durch Kristina Spohr in ihrem 2005 erschienenen Buch „Germany and the Baltic Problem after the Cold War“60. Sie bezeichnet dort „Verbatim“ als „Attali’s Tagebücher“. Wenn sie auch nur einen Blick in das Buch geworfen hätte, müsste sie gesehen haben, dass große Teile davon aus abgedruckten Dokumenten bestehen. Aber hat sie das Buch überhaupt angeschaut? Man mag es nicht vermuten, wenn man bei ihr liest, „Verbatim“ „offenbare französische Befürchtungen und [ein] Unbehagen bezüglich der deutschen Wiedervereinigung“. Das kann man nur sagen, wenn man die entsprechende 53

Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt: Campus, 2014, 454, Anm. 75; 456, Anm. 30, 38 f., 41 f., 45–48, 50 f., 53; 457, Anm. 58 f., 65 f., 68–70, 78. – Wilfried Loth, Building Europe. A History of European Unification, Berlin: De Gruyter, 2015, 293, Anm. 30; 298, Anm. 38; 299, Anm. 39; 300, Anm. 41 f.; 301, Anm. 45; 302, Anm. 46–48; 310, Anm. 70; 314, Anm. 78. 54 Hans Jürgen Küsters, La Controverse entre le Chancelier Helmut Kohl et le Président François Mitterrand à propos de la réforme constitutionelle de la Communauté Européenne (1989/1990), in: Thérèse Bitsch (Hg.), Le couple France-Allemagne dans les institutions européenes. Une posterité pour le plan Schumann?, Bruxelles: Établissement Émile Bruylant, 2001, 487–516, mit Verweisen auf „Verbatim“ auf den Seiten 490, 492, Anm. 9, 494, Anm. 16, 505, Anm. 16, 514, Anm. 85. – Vgl. auch die Einführung von Hans Jürgen Küsters zu der Sonderedition „Dokumente zur Deutschlandpolitik“, in der er zu der Reaktion von Margaret Thatcher und François Mitterrand auf Kanzler Kohls Verkündung seines Zehn-Punkte-Plans schreibt: „Thatcher und Mitterrand sind äußerst verstimmt über das einseitige Vorpreschen Kohls.“ (S. 65 f.) – und als Quelle dafür „Verbatim“ anführt. Auf S. 31 führt Küsters Attali – ganz nach dessen Selbststilisierung – mit der Bezeichnung ein: „der außenpolitische Berater von Präsident Mitterrand“. Indes gehörte es zur Regierungspraxis Mitterrands, sich stets mehrfach, also von verschiedenen Personen beraten zu lassen, und das Tableau seiner Berater ebenso stets fluide zu halten, also Berater in Unsicherheit darüber zu lassen, in welcher Position sie zu ihm standen. „Den“ Berater für dies und das gab es für ihn nicht. Aber Küsters hält Attali für das, als was sich dieser ausgab, und kann so einen sehr wohl wichtigen außenpolitischen Berater Mitterrands in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung, nämlich Loïc Hennekinne, gerade soweit wahrnehmen, dass er im Personenregister der Edition nur einmal und dann mit falsch geschriebenem Nach- und ohne Vornamen erwähnt wird: „Hennekenne“ (S. 1586). 55 Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl, mit Verweisen auf „Verbatim“ auf den Seiten 976, 983–984, 997. 56 Ebd., 559. 57 Alexander von Plato, The end of the Cold War? Bush, Kohl, Gorbachev and the reunification of Germany, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2015, 92. 58 Lothar Kettenacker, Britain and German Unification 1989/1990, in: Klaus Larres / Elizabeth Meehan (Hg.), Uneasy Allies. British German Relations and European Integration since 1945, Oxford: Oxford University Press 2000, 99–126; hier S. 103 f. und Anm. 16, mit der „Verbatim“, S. 241 zitiert wird. 59 The Rise and Fall of a Socialist Welfare State, 172. – Auf S. 277 führt Gerhard A. Ritter unter „Printed Sources and References“ auch Bd. 3 von „Verbatim“ auf. 60 Kristina Spohr, Germany and the Baltic Problem after the Cold War. The Development of a New Ostpolitik 1989–2000, London: Routledge, 2005.

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anti-deutsche Färbung übersehen hat oder übersehen will, die Attali den drei Bänden von „Verbatim“ durch seine textlichen Manipulationen (von denen ich gleich spreche) gegeben hat, und die man sehr wohl erkennt, überprüft man „Verbatim“ gegenüber den archivalischen Quellen. Rundweg falsch ist Spohrs Behauptung, Mitterrand habe „seine Memoiren dazu benutzt, auf Attali zu antworten“. Erstens hat Mitterrand keine Memoiren verfasst. Was Spohr wohl meint, ist die posthum erschienene Schrift Mitterrands „De l’Allemagne, De la France“. Darin aber, zweitens, hat sich Mitterrand keineswegs mit Attali auseinandergesetzt. Und tatsächlich: Sich aufplusternd tut Spohr so, als hätte sie „Verbatim“ einem überprüfenden Vergleich mit den archivalischen Quellen unterzogen. Ein „Faktencheck“, also eine Überprüfung von „Verbatim“ mit den Quellen, so erklärt sie, sei „möglich“. Man kann von dieser Aussage her nur schließen, dass Spohr selbst eine solche Überprüfung vorgenommen hat  – und man darf dabei an die Schwierigkeiten nicht denken, wirklich an die französischen Archivmaterialien heranzukommen, von denen im Übrigen nicht wenige auf lange Zeit hin prinzipiell unzugänglich sind. Aber, nein, Spohr hat alles geprüft und stellt Attali dieses Zeugnis aus: „Attalis Aufzeichnungen sind im Wesentlichen richtig.“61 Ganz schien Spohr der Quelle „Attali“ aber nicht zu trauen, ohne indes von ihr ablassen zu wollen. In ihrem gerade zitierten späteren Buch „Post Wall. Post Square. Rebuilding the World after 1989“ (2019) benützt sie zwar an einer für ihre Darstellung nicht unwichtigen Stelle (Seite 175) ein Zitat aus „Verbatim“, verdeckt dies jedoch methodisch. Auf Französisch und in englischer Übersetzung führt sie eine Aussage an, die François Mitterrand „im September“ [es handelt sich um den 1. September 1989] Margaret Thatcher gegenüber angeblich gemacht habe: „Beunruhigen wir uns denn nicht, sagen wir, dass sie [die Wiedervereinigung Deutschlands] sich ereignen wird, wenn die Deutschen sich dafür entscheiden, wohl wissend, dass die beiden Großen uns davor bewahren werden.“62 Sie fügt dem – im Übrigen nicht korrekt ins Englische übersetzten – Zitat eine Endnote an. Diese verweist als Beleg für das Zitat auf Fußnote „3“ zu dem Dokument „26“ in dem britischen Dokumentenband zur deutschen Wiedervereinigung, unter Angabe der genauen Seitenzahl in dem Band (79)63. Man würde also denken, dass den Kriterien für einen Beleg Genüge getan worden ist. Warum sollte man auch nach dem britischen Dokumentenband greifen (so er zur Hand ist) und dort die angegebene Seite aufschlagen? Tut man es indes, wird man auf der betreffenden Seite in der Tat auf eine lange Fußnote unter der Ziffer „3“ stoßen. Es handelt sich um eine editorische Notiz, die der unterschiedlichen Berichterstattung, auf britischer wie auf französischer Seite, zu dem Gespräch zwischen Mitterrand und Thatcher am 1. September 1989 gilt. Die britischen Berichte verfasste Charles Powell, Thatchers „Private Secretary“ und vornehmlich auch diplomatischer Berater. Ihnen zufolge 61

Für alle Zitate ebd., 203–204. Kristina Spohr, Post Wall. Post Square. Rebuilding the World after 1989, London: William Collins, 2019, 175. 63 Siehe DBPO. 62

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zeigte sich Mitterrand bei dem Gespräch angesichts der Entwicklungen in Deutschland sogleich „alarmiert“. Nach der Erinnerung von Elisabeth Guigou, die für die französische Seite das Gespräch protokolliert hatte,64 war es hingegen die britische Premierministerin, die als Erste von der deutschen Frage sprach, und hörte von Mitterrand daraufhin, dass er selber keineswegs wegen dieser so „alarmiert“ sei wie sie. Diesen eher entgegengesetzten Schilderungen ist zum Schluss der editorischen Fußnote der „Bericht“ durch Attali hinzugefügt, wie er sich bei diesem auf Seite „297“ finde (dass es sich dabei um den dritten Band von „Verbatim“ handelt, wird nicht erwähnt). Und hier, am Ende der Fußnote, steht dann, auf Französisch, das von Spohr für ihren Text benützte Zitat. Nichts in Spohrs Text aber erinnert an Attali, nichts im erbrachten Beleg für das Zitat, und nichts wird von Spohr von dem doch als entscheidend zu sehenden Unterschied der Berichte zu dem MitterrandGespräch gesagt. Schlicht Attali ist für Spohr die Wahrheitsquelle – verdeckt. Ein Jacques Attali, der im Übrigen an dem Austausch zwischen Thatcher und Mitterrand gar nicht beteiligt war. Von französischer Seite war allein Elisabeth Guigou gegenwärtig, wie es Charles Powell in seinem Bericht an Stephen Wall im „Foreign and Commonwealth Office“ festhielt.65 Wer auf die Kontamination der Geschichtsschreibung durch „Verbatim“ hinweist, und diese durchaus faktisch erklärt, kann Gefahr laufen, seinerseits, auch wenn der betreffende französische Kollege wahrlich ein eiserner Empiriker ist, dafür zurückgewiesen zu werden, über etwas gesprochen zu haben, „was klingt wie eine Verschwörungstheorie“. Auch Frederike Schotters, die dieses freihändige Urteil in ihrem 2019 erschienenen Buch „Frankreich und das Ende des Kalten Krieges. Gefühlsstrategien der équipe Mitterrand (1981–1990)“ anbietet,66 wollte von „Verbatim“ nicht lassen, wischt also alle Evidenz zu Attalis Machwerk hinweg und betitelt dieses abwechselnd als „Selbstzeugnis“, „Tagebücher“, „Dokumente“ (was nun ist es, möchte man unvermittelt fragen), dem man „von vornherein“ nicht seine „Authentizität“ absprechen solle. Was sind dann die Texte anderer, die Attali, ihrer habhaft geworden, in „Verbatim“ hineinversetzt hat, und die amtlichen Dokumente, die er dorthin eingefügt und zuvor korrumpiert hat? Etwa nicht das wahre Authentische? Oder bloß frei verfügbares Material, bei dem man sich bedienen kann? Schotters drückt sich um solche Fragen, sie sieht in der Bloßlegung von „Verbatim“ allein „Rivalitäten und Konflikte“, aus denen sie sich nobel heraushalten will. Dafür kündigt sie am Anfang ihres Buches für ihre späteren Rekurse auf „Verbatim“ an, dass dabei „quellenkritische Standards angesetzt“ würden. Nur hat Schotters diesen Vorsatz bei ihrem ersten Verweis auf „Verbatim“ schon wieder vergessen, und bei dem Vergessen der Quellenkritik bleibt es. Warum auch soll man das nun kritisieren? Ein Machwerk ist doch noch immer als ein solches „authentisch“.67 64

Siehe „The German Question is a European Question“, 198–199. Charles Powell, Prime Minister’s Meeting with President Mitterrand, 1. Sept. 1989 (PREM 19–3348). 66 Ebd., 39. 67 Vgl. ebd., 39–40. 65

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Mary Elise Sarotte beschäftigte sich ebenfalls mit der Frage der „Wahrhaftigkeit“ von Attalis „Erinnerungen“. Ihre Lösung der Frage ist von ausgeklügelter Art. Für Sarotte sind Attalis „Erinnerungen“ sehr wohl von einem dokumentarischen Nutzen, allerdings nicht auf der Ebene von Fakten, sondern auf der von „Gefühlen“. „Die Wahrhaftigkeit von Attalis Erinnerungen wurde in Frage gestellt […], und auch Kohls Erinnerungen weichen teilweise von den Primärquellen ab, und so ist keine der beiden Quellen zuverlässig, aber sie bieten mehr Einzelheiten zu den Gefühlen bei dem Ereignis [dem informellen europäischen Gipfel am 18. November 1989] als die britische Zusammenfassung.“68 Neben der empirisch-historischen Realität scheint es also eine andere, in „Verbatim“ enthaltene, zu geben, die in mancher Geschichtsschreibung die erstere verdrängt. Nur so kann man die willkürliche, emotional aufgeladene Darstellung von Helmut Kohl und François Mitterrand in einer dem deutschen Bundeskanzler gewidmeten Biographie erklären: „Kohl ist in ‚Verbatim‘ als jemand porträtiert, der kalt und kalkulierend ist und seine Absichten verbirgt, bis er plötzlich rücksichtslos wird. Mitterrand indes tritt als pompöser Pedant hervor, der denkt, er könne die Deutschen austricksen, jedoch von ihnen überlistet wird. Fast bis zum Ende hin glaubt er nicht daran, dass die Vereinigung geschehen wird.“69 Hier ist die Verdrängung der empirisch-historischen Realität krass offensichtlich. In einem anderen Fall zeigt sich die fälschende Wirkung nicht so deutlich, sie ist aber, in historiographischer Hinsicht, umso schwerwiegender. Dies betrifft den zweiten Band der „Erinnerungen“ von Helmut Kohl, in dem dieser ausführlich die Geschichte der Wiedervereinigung behandelt. Einige Zitate aus dem Band wurden oben angeführt. Sie zeichnen von der Haltung Mitterrands gegenüber der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands ein negatives Bild. Wieso? Man wird „Erinnerungen“ eines Politikers gemeinhin die Qualität einer Originalquelle zuschreiben, die das von ihm geschilderte Geschehen – ein von ihm selbst wie von anderen gestaltetes Geschehen – wiedergibt, wie er es wahrnahm, und nun, im klärenden Akt der Erinnerung, versteht. Angesichts der harten Urteile in dem Bericht über die Haltung Mitterrands wird man annehmen, dass Kohl seines Wissens sehr sicher ist. Schließlich wirft man einem Freund nicht so einfach Tücke und Treubruch vor. Und teilt dies den vielen Lesern der eigenen „Erinnerungen“ mit, schreibt es in deren Geschichtsbild ein, wie in die Historiographie, die sich auf diese „Erinnerungen“ als Quelle beziehen wird.70 Indes haben sich Kohl und dessen ghostwriter Heribert Schwan, was Mitterrands Haltung zur Frage der deutschen Wiedervereinigung anbelangt, offensichtlich der Vorlage „Verbatim“ anvertraut. Und sie sind folglich den Manövern dieses Buches aufgesessen. Es fängt damit an, dass Attali seine Selbststilisierung abgenommen 68

Mary Elise Sarotte, 1989 (edition of 2014), 258, Anmerkung 54. Henrik Bering, Helmut Kohl, Washington: Regnery 1999, 131. 70 Vgl. auch meine Analyse zu Kohls „Erinnerungen“ in: Tilo Schabert, Von der Natur der Politik und ihren Formen. Kleine Schriften, Berlin: Duncker & Humblot 2020, 421–432. 69

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wird. Er wird als „Mitterrands langjähriger engster Mitarbeiter“ eingeführt und im Status eines „Mitterrand-Vertrauten“ vorgestellt.71 Dann folgen die Urteile, die über Mitterrand gefällt werden. Die angeführten Äußerungen von Mitterrand sind alle „Verbatim“ entnommen, ohne dass der Autor diesen Titel nennt. Vielmehr redet er von „Tagebuchaufzeichnungen“ (eines „engen Mitarbeiters“ Mitterands oder des besagten „Mitterrand-Vertrauten“), und übernimmt damit bereitwillig und unbesehen die Definition, die Attali seinem Werk gab.72 Die Erinnerungen Helmut Kohls werden geradezu blind mit „Verbatim“ vermischt, in handwerklicher Hinsicht ein schlechterdings fahrlässiges Vorgehen. An einer Stelle wird von dem – in der Geschichtsschreibung mittlerweile hervorgehobenen – Treffen François Mitterrands mit Margaret Thatcher am 1. September 1989 berichtet, bei dem der französische Präsident und die britische Premierministerin miteinander auch über die Frage der deutschen Wiedervereinigung sprachen.73 Beide werden dahingehend zitiert, dass sie sich zu dieser Frage „ablehnend“ (Thatcher) äußerten, beziehungsweise die Wiedervereinigung als „unmöglich“ (Mitterrand)  ansahen. Woher aber bezieht der Autor seine Kenntnis? Er bemerkt: „Wie wir heute aus den Protokollen [man achte auf den Plural] wissen“. Das ist bizarr. Das britische Protokoll zu dem besagten Treffen (wenn ein solches existiert) ist bis heute unter Verschluss. Das französische Protokoll, das von der Mitterrand-Beraterin Elisabeth Guigou erstellt wurde, ist nur in den Archives Nationales einzusehen, und dort allein in der Form der handschriftlichen Notizen Guigous erhalten, die kaum zu entziffern sind.74 Man darf annehmen, dass der Autor beides nicht einsah. Diese Annahme wird bestärkt, wenn man den Eintrag in „Verbatim“ zum 1. September 1989 konsultiert.75 Dieser und nichts anderes war offensichtlich die Vorlage für Helmut Kohls Erinnerungen. Der Glaube an die dokumentarische „Quelle“ „Verbatim“ hat sich also hartnäckig gehalten und eine beträchtliche Wirkung entfaltet. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand. Die von Attalis drei Bänden verursachten historiographischen Entstellungen müssen eindeutig sichtbar gemacht werden. Der dunkle Schatten, den sie über Frankreichs Rolle im Geschehen der Wiedervereinigung Deutschlands werfen, muss aufgelöst werden. Niemand ist auf Attali angewiesen, wenn die Vorstellungen und das Handeln Mitterrands bezüglich der deutschen Einheit angemessen dargestellt und verstanden werden sollen. Und niemand sollte sich auf „Verbatim“ verlassen, wenn gelten soll, worauf historiographische Einsicht bauen muss, nämlich die Empirie des Sichtens, Prüfens und vergleichenden Überprüfens der archivalischen Quellen. Nichts derlei liegt bei Attali vor. Die drei Bände von Attalis Werk sind mit fehlerhaften und fälschlichen Informationen übersät.76 Kalendarische Angaben sind durcheinandergebracht; von Ent 71

Helmut Kohl, Erinnerungen, 310, 1042. Ebd., 954, 956, 984, 1042. 73 Ebd., 957. 74 Siehe „The German Question is a European Question“, 198. 75 Verbatim, III, 297. 76 Siehe meine in Anm. 47 angeführten Rezensionen in Le Point und der FAZ. 72

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scheidungen wird gesagt, sie seien bei einer bestimmten Sitzung des Ministerrats getroffen worden, wohingegen sie bei einer anderen gefällt wurden; von Mitterrand wird berichtet, dass er auf einer Reise ist, obgleich er sich gerade nicht auf einer Reise befand; oder dass er eine Begegnung mit jemandem hat, obwohl sie zu der angegebenen Zeit nicht stattfand. Aussagen von Mitterrand werden angeführt, die vorgeblich aus einer Unterredung mit Attali stammen, in Wirklichkeit formulierte er sie bei einer öffentlichen Rede; Dinge, die er anscheinend in dem Arkanum einer Sitzung des Ministerrats sagte, wurden von ihm im Fernsehen vorgetragen; Mitterrand werden Bemerkungen in einer Sitzung des Ministerrats zugeschrieben, die er dort keineswegs machte. „Verbatim“ enthält eine große Anzahl von Dokumenten und Aufzeichnungen, die so arrangiert sind, dass nichtsahnende Leser sie für Texte von Attali halten müssen. Indes wurden sie von ihm für „Verbatim“ „gekapert“, ganz oder teilweise, wovon die wahren Autoren nichts erfuhren. Er beraubte sie einfach ihrer Autorschaft. Der erste Band seines Werks enthält mindestens 25 solcher „gekaperter“ Dokumente, im Einzelnen wie folgt: Hubert Védrine (= Autor) 20 (= Zahl von ihm verfasster Schriftstücke), Elisabeth Guigou 1, Quai d’Orsay (=Herkunft), 2, Französische Botschaft in Moskau, 2. Bei Band II ergibt sich diese Liste: JeanLouis Bianco 154, Hubert Védrine 4, Elisabeth Guigou 5, Jean Musitelli 1; und bei Band III die folgende: Jean-Louis Bianco 72, Loïc Hennekinne 19, Hubert Védrine 1, Jean Musitelli 1, Elisabeth Guigou 1, Pierre Morel 1, Admiral Lanxade, 1.77 Des Weiteren veränderte Attali diese Dokumente häufig, indem er sie eigenmächtig umformte, etwas aus ihnen strich, oder in sie eigene Sätze oder Abschnitte hineinschrieb. Er verdrehte damit ihren Inhalt und gab diesem meistens einen negativen Ton (anti-amerikanisch, anti-deutsch, wider die Wiedervereinigung). Diese Methode wandte er auch bei Dokumenten an, deren Herkunft er korrekt auswies. Im Falle der Notizen von Jean-Louis Bianco, die er als seine eigenen präsentierte, verwandelte sich das „Ich“ (je) von Bianco über „Verbatim“ oft in ein „Ich“ von Attali. Das Vorgehen Attalis soll im Folgenden anhand einiger Dokumente dargestellt werden. Am 26. Januar 1983 erhält Präsident Mitterrand von seinem amerikanischen Amtskollegen, Präsident Reagan, einen Brief, mit dem ihn „Ron“ für die Rede beglückwünscht, die er am 20. Januar im deutschen Bundestag gehalten hat.78 Der Brief besteht aus drei Abschnitten. In „Verbatim“ ist der erste Absatz gestrichen, und stattdessen ist ein neuer, von Attali verfasster Abschnitt dazugekommen.79 Er 77

Alle erwähnten Personen waren enge Mitarbeiter von Präsident Mitterrand: Jean-Louis Bianco als Generalsekretär des Élysée, Hubert Védrine, Loïc Hennekinne, Jean Musitelli, Pierre Morel als diplomatische Berater, Elisabeth Guigou als Beraterin für europäische und wirtschaftliche Angelegenheiten, Admiral Lanxade als Chef des Militärstabs des Präsidenten. 78 Brief von Ronald Reagan an François Mitterrand, Message reçu sur le télétype bleu, 26. Januar 1983. – Zum Kontext und der Bedeutung der Rede aus amerikanischer Sicht siehe: John Vinocour, Mitterrand Presses Nato To Be Firm, in: NYT, 15. Oktober 1983, http://www.nytimes. com/1983/10/15/world/mitterrand-presses-nato-to-be-firm.html (aufgerufen am 16. April 2022). 79 Verbatim I, 389.

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verändert den Sinn von Reagans Brief. Dazu kommt, dass die übernommenen Teile des Briefes nicht wortgetreu wiedergegeben sind. Am 3. April 1989 richtet Jean Musitelli an Mitterrand eine Aktennotiz zu der Planung eines Treffens zwischen diesem und Yasser Arafat.80 Teile dieser Notiz sind in „Verbatim“ übernommen und dort so eingearbeitet, dass sie als wört­ liche Aussagen von Mitterrand erscheinen.81 An einer Stelle seiner Notiz spricht ­Musitelli den Präsidenten direkt an: „Sie können zurecht von ihm [Arafat] erwarten … (vous êtes en droit d’attendre de lui …).“ Diese Stelle ist in „Verbatim“ so geändert, dass der Schein gewahrt bleibt, also Leser weiterhin annehmen müssen, es spräche hier Mitterrand. Es heißt hier: „Wir können zurecht von ihm erwarten … (nous sommes en droit d’attendre de lui …).“82 Bei der Sitzung des Ministerrats am 6. September 1989 spricht François Mitterrand über die Möglichkeit einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Dabei sollte, so bemerkt er, das Verlangen Österreichs nach einer Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft nicht außer Acht gelassen werden. Eine Mitgliedschaft Österreichs könnte nämlich, wirtschaftlich und demographisch gesehen, das Entstehen eines „mächtigen deutschen Blocks im Zentrum von Europa“ begünstigen. Das ist alles, was Mitterrand bei dieser Gelegenheit zu den beiden Themen einer Wiedervereinigung Deutschlands und eines Eintritts Österreichs in die EG sagt. Wie üblich hat Jean-Louis Bianco als Generalsekretär des Élysée an der Sitzung teilgenommen. Nach dieser diktierte er Georgette Elgey, Historikerin und Archivarin im Élysée, die Äußerungen Mitterrands. Elgey machte daraus eine schriftlich ausgearbeitete Notiz.83 Von dieser Notiz entnahm Attali die Worte Mitterrands, die gerade angeführt wurden, um sie in „Verbatim“ einzufügen, allerdings in veränderter Form. Dem ahnungslosen Leser wird vorgemacht, dass er eine Notiz von Attali und nicht von Bianco liest. Und nicht nur das: Attali fügte den Worten Mitterrands einen eigenen Satz hinzu, in der für wörtliche Zitate kennzeichnenden Kursivschrift, um zu suggerieren, es sei eben immer noch Mitterrand, der hier spricht. Während Mitterrand bei Bianco lediglich eine Hypothese vorbrachte – die Möglichkeit des Entstehens eines „mächtigen deutschen Blocks im Zentrum von Europa“, – lässt der französische Präsident nach den Worten, die 80 Jean Musitelli, Note pour le Président de la République, Objet: Rencontre avec Yasser Arafat, 3. April 1989. 81 Verbatim III, 204. 82 Ebd. 83 JLB, 7. September 1989, zum Ministerrat am 6. September 1989. – Wie schon bemerkt, hat sich Attali für „Verbatim“ massiv der Notizen Biancos bedient. In einem Forschungsgespräch am 23. Oktober 1996 teilte Bianco mir dazu mit, dass „Attali seine Notizen, die er Elgey diktiert habe, verwendet habe, ohne ihn darüber zu informieren. Attali habe ihm auszugsweise etwas zu lesen gegeben vor der Veröffentlichung von ‚Verbatim‘, aber ihm, Bianco, sei dabei nicht klar geworden, was da geschehe. Seine Diktate an Elgey seien als Rohnotizen gedacht gewesen, um die Lücken zwischen den trockenen offiziellen Dokumenten und den Mitschriften von Gesprächen abzudecken. Zur Verwendung später für Historiker. Nicht für Attali. Jedes Mal, wenn er mit Attali darüber spreche, reagiere dieser hysterisch. Man müsse nun die Historiker warnen.“

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ihm Attali in den Mund legt, aus seiner hypothetischen Bemerkung eine Schlussfolgerung und politische Zielsetzung folgen: „Und das [nämlich das Entstehen eines mächtigen deutschen Blocks im Zentrum von Europa] muss verhindert werden (Et il faut l’éviter)“.84 Am 17. November 1989 wird dem Élysée in Kopie der Brief übermittelt, den Margaret Thatcher an Michael Gorbatschow gesandt hat, in Reaktion auf die Nachricht, die sie vom diesem am 10. November, nach dem Fall der Mauer in Berlin, erhalten hat.85 Der Inhalt des Briefes (nach der im Élysée angefertigten Übersetzung) wird in „Verbatim“ referiert, aber nur teilweise und in umgeschriebener Form.86 Das verändert ihn beträchtlich. Während Thatcher ihren Brief mit der Aussage begonnen hat: „Ich stimme mit Ihnen [Gorbatschow] darin überein, dass das, was in Osteuropa geschieht, ermutigend ist“, sagt sie in „Verbatim“ nichts dergleichen. In einem zweiten Abschnitt ihres Briefes erwähnte sie, dass die Ereignisse in Berlin am vorangegangenen Wochenende eine starke Wirkung in der öffentlichen Meinung in Großbritannien und anderen westlichen Ländern hinterlassen hätten; sie selbst sei von der „Besonnenheit“ und der „Bereitschaft zur Zusammenarbeit“ beeindruckt, die sich auf allen Seiten gezeigt hatten. Von diesem Abschnitt findet sich ebenfalls nichts in „Verbatim“. Bei Attali wird erst wieder eine Beobachtung referiert, die Thatcher mit dem ersten Satz des dritten Abschnitts ihres Briefes gemacht hat: Die „Schnelligkeit“, mit der die Veränderungen in Osteuropa vor sich gegangen seien, brächten ein „Risiko der Instabilität“ mit sich. Alles, was die Premierministerin in diesem Abschnitt noch weiter gesagt hat, wird in „Verbatim“ wieder übergangen und so ein weiteres bedeutendes Ungleichgewicht in den wiedergegebenen Ansichten Thatchers hergestellt. Sie sah zwar die Gefahr einer Instabilität, aber es beschäftigte sie hauptsächlich das Gegenteil, nämlich die zu erzielende Stabilität. Sie hat denn in ihrem Brief auch ihre Vorstellungen darüber dargelegt, wie diese zu erreichen sei. Weitreichende Reformen in Ostdeutschland seien notwendig, insbesondere freie Wahlen innerhalb eines Mehrparteiensystems sowie eine vollständige Reisefreiheit, damit eine wahre Demokratie entstehe und ein Wirtschaftssystem, welches diese Demokratie stütze. Im letzten und langen Abschnitt ihres Briefes hat Thatcher schließlich erklärt, dass die britische Regierung am Viermächteabkommen von 1971 bezüglich Berlin weiter festhalte und der durch dieses den zuständigen vier Regierungen (der sowjetischen, amerikanischen, britischen, französischen) gegebenen Möglichkeit, einzuschreiten, um Spannungen und „eventuelle Komplikationen“ auszuschalten und zu verhindern, viel Bedeutung beimesse. Diese Botschaft an Gorbatschow lässt „Verbatim“ nicht aus, sie wird – fast – wörtlich referiert. Und sie wird von At 84

Verbatim III, 301. Brief von Margaret Thatcher an Michael Gorbatschow, in franz. Übs., Datum „17. 11. 89“ handschriftlich notiert, sowie mit kurzer, an Präsident Mitterrand gerichteter handschriftlicher Notiz von Jean-Louis Bianco („JLB“) und Mitterrands „vu“ in einem Kreis, mit dem er gewöhnlich vermerkte, dass er ein Dokument „gesehen“ hatte. 86 Verbatim III, 338. 85

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tali sogleich, mit einem unmittelbar angefügten Satz im Sinne einer Frontstellung gegenüber der Bundesrepublik umgedeuet: „Madame T.“, wie sie ihre Mitarbeiter nennen, „ist mehr und mehr bestrebt, eine Koalition der Vier zu schaffen, die den Ambitionen von Kohl entgegenwirken soll“.87 Am 29. Januar 1990 verfasst Hubert Védrine ein fünfseitiges Schriftstück zur Frage der Sicherheit Europas, genauer: der Zukunft der militärischen Allianzen (NATO und Warschauer Pakt), sowie zu weiteren Themen.88 Fragmente dieses Schriftstücks tauchen in „Verbatim“ auf.89 In einer zweifach falschen Darstellung. Zum einen hat Attali die Autorschaft Védrines ausgelöscht, und zum anderen gibt er vor, dass die Sätze, die er aus Védrines Schriftstück entnahm, von Mitterrand ausgesprochen worden seien. Folglich sagt ein „Mitterrand“ Attalis den Lesern von „Verbatim“, was tatsächlich aus Védrines Schriftstück stammt. Die Mitterrand zugeschriebenen Sätze scheinen miteinander zusammenzuhängen und eine in sich kohärente Aussage zu bilden. Doch wurden sie unterschiedlich aus Védrines Text herausgelöst und dann stilistisch aufeinander abgestimmt. Sein letzter Satz, der als Zitat angeboten wird, ist im Text Védrines überhaupt nicht enthalten; er wurde von Attali hinzugefügt, der hier denn selbst als „Mitterrand“ spricht. Am 14. Februar 1990 erhält Mitterrand eine Aktennotiz von Loïc Hennekinne, einem seiner diplomatischen Berater, mit dem Betreff: „Gespräche GorbatschowKohl“.90 Hennekinne war, wie er einleitend schrieb, vom politischen Botschaftsrat der Sowjetischen Botschaft in Paris über die Gespräche unterrichtet worden, die Michael Gorbatschow und Helmut Kohl miteinander in Moskau am 10. Februar 1990 geführt hatten.91 Mit seiner Aktennotiz gab er die erhaltenen Informationen an den Präsidenten weiter, geordnet nach drei thematischen Schwerpunkten: (1) Wiedervereinigung Deutschlands, (2) das wiedervereinigte Deutschland und die militärischen Bündnisse, (3) die Grenzen. Die Aktiennotiz findet sich in „Verbatim“ wiederum in einer keineswegs textgetreuen Gestalt wieder. Und mehr noch: Lesern von „Verbatim“ wird durch Attalis einleitenden Satz weisgemacht, dass die Informationen über die Gespräche zwischen Gorbatschow und Kohl vom sowjetischen Botschafter (in den sich der Botschaftsrat auf dem Weg von Loïc Henne­k innes Notiz zu „Verbatim“ verwandelt hat) übermittelt wurden und dass ihr Empfänger auf französischer Seite nicht Mitterrand, sondern Jacques Attali war. „Der sowjetische Botschafter hat mir einen Bericht von den Gesprächen 87

Ebd. Hubert Védrine, NOTE. A.s la sécurité en Europe: l’avenir des alliances; la C. S.C. E. et le Sommet à 35; la confédération, 29 janvier 1990 – Auf dem Dokument vermerkte Mitterrand handschriftlich: „Note à garder FM“; es sollte also, nachdem er es gelesen hatte, aufbewahrt werden. 89 Verbatim III, 403–404. 90 Loïc Hennekinne, Note pour le Président de la République, 14. Februar 1990. – Die Notiz trägt Mitterrands übliches „vu“. 91 Siehe für die deutschen Aufzeichnungen zu den Gesprächen: Dok. Dt. Einheit, 795–811; für die russischen Aufzeichnungen in deutscher Übs.: Sow. Dok., 317–337; für die russischen Aufzeichnungen: Aleksandr Galkin / Anatolii Chernyaev (Hg.), Mikhail Gorbachev i Germanskii vopros: sbornik dokumentov 1986–1991, 339–360. 88

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­ orbatschow-Kohl gegeben …“ (L’ambassadeur soviétique vient me faire un G compte rendu des entretiens Gorbatchev-Kohl …).92 Am 2. Juli 1990 richtet Admiral Lanxade, Chef des Militärstabs im Élysée, in der Form einer Aktennotiz einen Bericht an Präsident Mitterrand über die Gespräche, die er am 29. Juni in Washington mit General Scowcroft, dem Sicherheitsberater von Präsident Bush, sowie mit anderen Personen im Weißen Haus und im Pentagon geführt hatte. Bei diesen Gesprächen waren eine Reihe von Sicherheitsfragen, insbesondere die weitere militärische Präsenz Amerikas in Europa, die Haltung der Deutschen dazu und der demnächst stattfindende NATO-Gipfel in Paris behandelt worden.93 Dieser Bericht ist fast vollständig in „Verbatim“ eingefügt, aber keineswegs wortgetreu und sinngemäß; Textteile sind gegeneinander verschoben, und redaktionelle Eingriffe in den Text des Berichts wurden vorgenommen.94 Durch die Art der Präsentation entsteht aus dem Bericht von Admiral Lanxade ein Bericht von Attali. Wann immer der Admiral von sich in der ersten Person sprach, in Formulierungen wie „meine Gesprächspartner“, „erklärt mir“, „Ich habe das Gefühl“, sind diese Aussagen im neuen Kontext auf den Autor von „Verbatim“ zu beziehen, der sich offenkundig das Zuhörer- Ich des Schriftstücks angeeignet hat. Auf den folgenden Seiten erscheint der Bericht von Admiral Lanxade in voller Länge. Auf der hier abgebildeten Aktennotiz sieht man rechts oben, unter dem Datum, den handschriftlichen Vermerk „Pour mon dossier OTAN (Für mein Dossier NATO)“. Er stammt, wie die Handschrift und das „mein“ zeigt, von Mitterrand und dokumentiert, dass er den Bericht von Admiral Lanxade zur Kenntnis nahm. Unter der Angabe des Adressaten der note („à l’attention de Monsieur le Président de la République“) steht rechts der handschriftliche Vermerk „Signalé JLB“. Er stammt von dem damaligen Generalsekretär des Élysée, Jean-Louis ­Bianco, über dessen Schreibtisch alle an den Präsidenten gerichteten Aktennotizen gingen. Mit dem „signalé“ wies er den Präsidenten darauf hin, dass diese note besonders wichtig sei. Eingegangen ins präsidentielle Archiv ist die note mit diesen Vermerken. Sie fehlen indes bei ihrer „Wiedergabe“ in „Verbatim“ (Bd. III, S. 524–526). Es ist unwahrscheinlich, dass Attali die note vor Jean-Louis Bianco zu Gesicht bekam. Er muss an sie erst gekommen sein, nachdem sie sowohl den Vermerk von Bianco wie den des Präsidenten trug. Zu seiner „Wiedergabe“ passte das natürlich nicht.

92

Ebd., 417. Amiral Lanxade, Note à l’attention de Monsieur le Président de la République. 2 juillet 1990. 94 Verbatim III, 524–525. 93

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Kapitel 2

Das Ereignis Staatskunst: Mit politischen Gestaltungen Geschichte gestalten Gestalt und Gestaltender von Macht – Der französische Präsident François Mitterrand Die französische Verfassung  – die von Charles de Gaulle und Michel Debré 1958 geschaffene für Frankreichs „Fünfte Republik“1 – erlaubt der zentralen institutionellen Figur, dem Staatspräsidenten, ziemlich unumschränkt zu regieren, und dies insbesondere im Bereich der äußeren Angelegenheiten. Allerdings wirkt dieses große Machtgewand nicht für sich allein. Wer zum Staatspräsidenten gewählt wird, dem wird es übertragen. Aber das ist ein formeller Akt. Einiges politische Vermögen wird es seinem Träger immer verleihen, wie zum Beispiel den Oberbefehl über die Armee. Aber die ganze mit diesem Machtgewand gegebene politische Gestaltungskraft gewinnt sein Träger nur, wenn er es durch sich, das politische Können und die politische Statur seiner Person, auch ausfüllt, und dann die Macht ist, die es abzeichnet. Außer Charles de Gaulle griff kein anderer französischer Präsident seit 1958 so sehr wie François Mitterrand die ihm gegebene verfassungsmäßige Macht auf, ihrer selbst ganz bewusst wie der Gefahr ihrer missbräuchlichen Übersteigerung. Er nützte sie für ein Regieren, das sie durchgehend und allenthalben ins Spiel brachte. Er war der Präsident, und wurde durch die Art seines Regierens in diesem Amt auch die Macht im Zentrum der Regierungsprozesse, auf die hin sich diese orientierten. Andere regierten mit, doch sie taten dies bezogen auf sein Wort, seinen Willen, seine Strategien, seinen Widerstand. Und wenn es ihm beliebte, oder er es für angemessen fand, äußerte er sich klar und deutlich über seine Machtstellung. „Ich ersah, sobald ich [zum Präsidenten] gewählt war“, so erklärte er beispielsweise am 14. April 1988 bei einem Interview für die Zeitschrift Paris Match, „was ich vorausgeahnt hatte, dass alle Macht – die tatsächliche, denn die Verfassung zeigt das nicht – im Élysée liegt. Jedenfalls verfügt ein Präsident der Republik, der von einer parlamentarischen Mehrheit unterstützt wird, über eine große Macht. Im Höchstfalle, falsch genützt, könnte sie gefährlich sein.“2 1

Zu der Entstehung der Verfassung der V. Republik und den verfassungstheoretischen Überlegungen, die in sie eingingen, siehe: Tilo Schabert, „Wider die Allmacht des Parlaments. Die Verfassungstheorie von Michel Debré“, in: ders., Von der Natur der Politik und ihren Formen. Kleine Schriften, Berlin: Duncker & Humblot 2020, 45–59. 2 Interview mit François Mitterrand am 14. April 1988 in Paris Match (http://discours.viepublique.fr/notices/887012900.html, aufgerufen am 25. Mai 2022).

Der französische Präsident François Mitterrand

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Mitterrand hätte wohl nichts gegen die präsidentielle Selbstdefinition Charles de Gaulles vom 18. April 1962 einzuwenden gehabt, die Alain Peyrefitte zitiert: „Die Regierung hat außerhalb von mir keine Bedeutung. Sie existiert nur durch mich.“3 Jedenfalls wies er, einmal selbst ins Präsidentenamt angelangt, keineswegs die enorme Macht ab, die De Gaulle mit der konstitutionellen Vorgabe für das Amt und dann vor allem mit seiner Ausübung desselben ausgespannt hatte – und die Mitterrand zu der Zeit übrigens heftig kritisiert hatte.4 „In bestimmter Hinsicht“, so sagte er als Präsident am 24. Juni 1984 zu George Bush, damals Vizepräsident der Vereinigten Staaten, „kann man denken, dass die französischen Institutionen schockierend sind, und dass der Präsident der Republik zu viel Macht hat. Aber die Dinge sind, wie sie sind. Und diese Macht gedenke ich zu nützen. Also bin ich es, der unsere [französische] Politik in den von uns angesprochenen Bereichen bestimmt.“5 Ihm lag wohl viel daran, dass ihn der hohe Repräsentant der USA voll und ganz verstand, denn er sagte an dieser Stelle ihres Gesprächs zum zweiten Mal, und von sich redend („bin ich es“), was er zuvor schon zum Amt des Staatspräsidenten allgemein ausgeführt hatte: „In Frankreich wird die Außenpolitik vom Präsidenten der Republik bestimmt.“6 Und um alle Zweifel auszuschließen, die George Bush über seine Stellung noch haben mochte, bezüglich nicht nur der Außenpolitik, sondern der französischen Politik insgesamt, erklärte Mitterrand gegen Ende ihres Gesprächs kategorisch: „Ohnehin bin ich es, der die franzö­ sische Politik festlegt.“7 Für einen Regierenden ist jedoch das Wissen um die Macht, die er innehat, allein der bewusst ausgestaltete Teil dieser Macht. Ein anderer, der erste Teil von ihr, ist ihm, wie schon erwähnt, durch sein Amt von vornherein, ohne eigenes Zutun gegeben. Diesen muss er erst noch ausbauen, damit aus seiner formalen amtlichen Macht seine ihm eigene personale Macht zur wirklichen Ausübung jener Amtsmacht wird, und die er, also seine personale Macht, dann als die Macht, die er hat, bewusst festhält, zur Wahrnehmung anderer und zu seinem politischen Nutzen. Auf diese zwei Stationen bei seinem Weg in die Mächtigkeit seines Regierens, der personalen und der bewusst gefassten Macht, folgt eine dritte Station. Alle Macht für ein mächtiges Regieren ist zwar schon vorgegeben. Ein solches Regieren wirklich werden zu lassen, erfordert indes den entsprechenden Vorsatz. Jetzt muss der Regierende sich einsetzen: die Entschiedenheit, Entschlusskraft, Beharrlichkeit, ja Unnachgiebigkeit, zu denen er fähig sein sollte, als die sich durchsetzende, gestaltende Macht. François Mitterrand sprach des Öfteren darüber, wenn er sich zur Ausübung politischer Macht äußerte, und betonte dann stets den dafür un 3 Alain Peyrefitte, C’était de Gaulle, Bd. 1, La France redevient la France, Paris: Éditions de Fallois, 1994, 116. 4 Vgl. Mitterrands Schrift „Le Coup d’État permanent“, Paris: Plon, 1964. 5 Entretien entre le Président de la République et M. George Bush, Vice Président des ÉtatsUnis, 24. Juni 1984, AN-AG/5(4)/CD/74. 6 Ebd. 7 Ebd.

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abdingbaren „politischen Willen“. Denn „nichts“, so sagte er beispielsweise zu Hans-Dietrich Genscher bei einem ihrer Gespräche, „geschieht jemals ohne einen starken politischen Willen.“8 Er praktizierte diesen Lehrsatz musterhaft in der Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands. Zur Regierungsarbeit in Paris aus jener Zeit liegen zahlreiche einschlägige Dokumente vor.9 Werden sie auf die Arbeitsprozesse hin durchgesehen, die sie bezeugen, zeigen sie einen Präsidenten in der Mitte des französischen Regierungsapparats, auf den diese Prozesse zuliefen, und von dem die Entscheidungsmacht ausging, die sie in ein politisches Vorgehen formte. Die Dokumente lassen deutlich den „starken politischen Willen“ Mitterrands erkennen, seine Entschiedenheit, seine Beharrlichkeit, mit denen er im Prozess der deutschen Wiedervereinigung auf die zwei von ihm erstrebten Ergebnisse hinarbeitete: ein Geschehen der Wiedervereinigung im Verbund einer institutionell sich vertiefenden Europäischen Gemeinschaft und eine Zugehörigkeit des vereinigten Deutschlands zum westlichen Sicherheitssystem, also der NATO. Es wäre indes falsch, sich einen Präsidenten vorzustellen, der ständig zu allen um ihn herum sagte: „Ich will“, „Ich will“. Wie an der Konfrontation mit Helmut Kohl im Herbst 1989 zu sehen ist, konnte François Mitterrand unnachgiebig sein, und seinen Willen ebenso demonstrativ wie energisch gegen den eines anderen setzen.10 Doch selbst dort, wo er eine beherrschende Stellung innehatte, also im französischen Regierungsapparat, erfüllte sich im Allgemeinen sein politischer Wille nuanciert, in ausdifferenzierten Weisen, nicht ohne von ihm subtil vor anderen getestet wie argumentativ zurechtgelegt, und oft nur verhalten geäußert worden zu sein. Innerhalb einer mit anderen gebildeten Komposition für Verabredungen, Vorkehrungen, Entschließungen war er deren Regent, dessen Vorstellungen, Pläne, Zielsetzungen sich die anderen zuwandten. Drei bezeichnende Beispiele zu Abläufen in dieser Komposition sollen im Folgenden angeführt werden. (1) Ein „Verteidigungsrat“ (Conseil de Défense) trat im Élysée zusammen, wenn ihn Präsident Mitterrand einberief, um bei der Sitzung diese oder jene sicherheitspolitische Frage und diesen oder jenen militärischen Einsatz zu behandeln und Entscheidungen dazu vorzubereiten oder zu treffen. Wer jeweils teilnahm, bestimmte er, und folglich auch die jeweilige Zahl der Teilnehmer. Es konnte einen 8

Compte-rendu de l’entretien entre le Président de la République et M. Hans-Dietrich Genscher, Ministre des Affaires Étrangères de la RFA, 21. Mai 1986, AN-AG/5(4)/CD/73. 9 Die sehr hohe Zahl der Dokumente erklärt sich aus Mitterrands Arbeitsweise. Siehe dazu im Einzelnen Kap. 1, Anm. 26. Mitterrand waren im Übrigen Sitzungen und Zusammenkünfte mit Mitarbeitern zuwider, und er hielt solche nur ab, wenn es nicht zu umgehen war. Zur Regierungsarbeit in Paris in den Jahren 1989–1990 und einer umfangreichen Dokumentation dazu siehe meine neuere Studie „France and the Reunification of Germany. Leadership in the Workshop of World Politics“. 10 Siehe „France and the Reunification of Germany“, Chapter 13. 

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„erweiterten“ oder auch einen „eingeschränkten“ Verteidigungsrat geben. Für den 15. November 1989 hatte Mitterrand den Premierminister, Michel Rocard, den Verteidigungsminister, Jean-Pierre Chevènement, den Chef seines Militärstabs, Admiral Jacques Lanxade, den Chef des französischen Generalstabs, General Maurice Schmitt, und den Generalsekretär des Élysée, Jean-Louis Bianco, zu einem „eingeschränkten“ Verteidigungsrat zusammengerufen. Die Beratung galt vor allem den aktuellen Plänen für französische Atomschläge auf die Sowjetunion. Sie waren ausgearbeitet worden, und nun wurden sie dem Präsidenten in der Runde des Rats, wie es in einer nachträglichen Notiz zu diesem heißt, „unterbreitet“. Als Oberbefehlshaber der französischen Armee konnte und durfte nur er über die Pläne endgültig entscheiden.11 (2) Wiederum aufgrund der ihm von der Verfassung gegebenen Stellung oblag es Mitterrand, die wöchentlichen Sitzungen des Ministerrats (Conseil des Ministres) zu leiten. Doch verglichen mit dem Verteidigungsrat war er hier in seinem regierenden Verhalten viel freier, und er nützte diesen Spielraum mit Virtuosität, Raffinesse und merkbarem Vergnügen aus. Er führte den Vorsitz auf entschiedene Art, gewiss, aber er beteiligte sich am Ablauf solcher Sitzungen häufig auf andere Weisen, die nicht unmittelbar als bestimmend erkennbar waren. (3) Ein für Mitterrand kennzeichnendes Vorgehen wird durch eine Szene im Verlauf der Sitzung des Ministerrats am 7. Februar 1990 illustriert. Einen soeben gegebenen Lagebericht des Ministers für den Außenhandel (dieser war für Frankreich chronisch defizitär) kommentierte der Finanzminister, Pierre Bérégovoy, als Erster: „Eines der Probleme, die wir haben, besteht darin, dass wir einen Kapitalismus ohne Kapital haben.“ Der Verteidigungsminister, Jean-Pierre C ­ hevènement, sagte dann: „Der Handelsüberschuss in der Rüstungsindustrie wird sich in Zukunft beträchtlich verringern.“ Daraufhin setzte Mitterrand zu längeren Ausführungen an, in einer gewissermaßen pädagogischen Weise; er beginnt mit einer handfesten Kritik der Sinnesart französischer Unternehmer, lässt einen Einschub zu einem fälschlich unterlassenen Regierungsakt folgen, um am Ende, nach einem sarkas­ tischen Schlenker zum Verteidigungsminister hin, allen seinen Ministern die logische Schlussfolgerung nahezulegen. „Ein Kapitalismus ohne Kapital, wissen Sie, wenn es Geld zu gewinnen gibt, kommt das Geld immer. Wir haben besonders einen Kapitalismus ohne Phantasie und ohne Wagemut im Vorgehen, und mit vielen Unternehmern, die nichts unternehmen. Es gibt eine ganz kleine Minderheit von großen und mittleren Unternehmen, die alles Lob verdienen, aber der Rest geht hinterher. Die Medien kritisieren die Regierung, aber es ist nicht sie, die herstellt, es ist nicht sie, die verkauft. Es ist nicht sie, die den Kundendienst gewährleistet, und gerade hier sind wir am nachlässigsten. Das alles passiert im Kopf. Man bleibt zuhause, und man geht dorthin gerne zurück, um ein ruhiges Wochenende in Frankreich zu verbringen. Bitte, man wirft mir vor, dass ich viel verreise. Ach ja, jedes Mal langweile ich mich dabei. Aber schließlich bin ich kein Verkäufer, 11

JLB, 17. November 1989, zum Verteidigungsrat am 15. November 1989.

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Kap. 2: Das Ereignis Staatskunst

das ist nicht mein Beruf. Man muss die Jugend ausbilden, eine Hochschule für den Export hätte geschaffen werden müssen. Was den Rückgang bei unserem Waffenexport anbelangt, so ist der unvermeidlich, Herr Minister, man führt nicht genug Kriege. Sie haben nicht genug Kunden. Und jetzt ist Schluss mit dem Lamentieren. Exportieren wir in anderen Bereichen.“12 Mitterrands Wille zur gestaltenden Macht blieb seinen Ministern und Mitarbeitern nicht verborgen; sie kannten und erfuhren ihn alle Tage über ihre Nähe zum Präsidenten, und sie wären in diese Nähe auch nicht gekommen, hätten sie diesen Willen nicht anerkannt. Unter ihnen gab es zudem diejenigen, die wie er politisch gestalten wollten. Und sie nahmen sodann an Mitterrands Willen zur gestaltenden Macht teil, indem sie ihre Mittel und Möglichkeiten dazu nützten. Das konnte im Einzelnen ein einfacher Vorgang sein wie die handschriftliche Notiz, die Finanzminister Bérégovoy während der Sitzung des Ministerrats am 7. Februar 1990 für den Präsidenten schrieb und an diesen am Kopfende des Kabinettstischs durchreichen ließ. Pierre Bérégovoy hatte am Vortag in seinem Ministerium den für wirtschaftliche Angelegenheiten verantwortlichen stellvertretenden ungarischen Premierminister empfangen. Mit dieser Information leitete er nun seine Notiz ein, um dann zu berichten, dass er von seinem ungarischen Kollegen beauftragt worden sei, Präsident Mitterrand drei Dinge mitzuteilen. Es waren Warnungen, außenpolitisch relevante, und keinesfalls unerhebliche, veranlasst durch erstens die Not der Regierenden in Ungarn angesichts „extremistischer Entwicklungen“, zweitens die „Krise der sowjetischen Wirtschaft“, und drittens – „die deutsche Wiedervereinigung“. Diese „beunruhige“, selbst wenn er, der stellvertretende ungarische Premierminister, wisse, dass sie „unausweichlich“ sei.13 Mitterrand schien diese Information von Bérégovoy wichtig zu sein. Denn er wollte, dass dessen Notiz, archivalisch verwahrt werde. Er übergab die zwei Blätter der Notiz an Georgette Elgey, der Archivarin im Élysée, mit seinem handschriftlichen dokumentarischen Vermerk „G. Elgey. Cons. des Min. 7 février 1990“.14

Die Werkstatt der Weltpolitik – Gestaltung schöpferischer Politik Niemand regiert allein. Natürlich nicht. Auch der Despot bedarf seiner Helfer, die ihm zu Diensten sind. Empirisch erscheint, was wir „Regieren“ nennen, zuallererst in der Form einer bestimmten, von den Personen gebildeten Konfiguration, die dieses Regieren konkret jeweils ausmachen.15 Solche Konfigurationen gehen 12

JLB, 7. Februar 1990, zum Ministerrat am selben Tag. Handschriftliche Notiz von Pierre Bérégovoy an Präsident Mitterrand, 7. Februar 1990. 14 Ebd. 15 Ein hervorstechendes Beispiel sind die sogenannten „Koalitionsausschüsse“, die sich in der Praxis des Regierens in Deutschland zusätzlich zu den verfassungsgemäßen Regierungsorganen angesiedelt haben. 13

Die Werkstatt der Weltpolitik – Gestaltung schöpferischer Politik

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nicht aus institutionellen Verfahren, sondern aus Verbindungen zwischen Personen hervor. Grundlagen dafür können sein: (a) eine Verbundenheit schon vor dem gemeinsamen Aufnehmen eines Regierens, (b) ein gegenseitiges Wissen von dem politischen Können, über das je der eine und der andere verfügt, (c) eine Erfahrung vom jeweils anderen, die beiderseits Vertrauen geschaffen hat (d) eine Einschätzung der Zweckmäßigkeit der Konfiguration, (e) eine Komplizenschaft. In der Regel kommen mehrere dieser Faktoren zusammen. Die personalen Verbindungen im Regierungsbereich stellen ein Gebilde dar, das, institutionell gesehen, in allen Variationen zwischen förmlich (und nach außen bekannt) und nicht-förmlich (nach außen kaum oder gar nicht bekannt) bestehen kann.16 Es gibt in der Regierungswelt sehr verschiedenartige Konfigurationen dieser Art, je nach dem Typus der politischen Verfassung, die mit dem Regieren jeweils vollzogen wird (wobei dieser Vollzug nach und nach so unternommen werden kann, dass faktisch eine andere Verfassung entsteht). Will man das Ausüben von Regieren, also die Konfigurationen, über die es geschieht, in einem gegebenen Fall – wie dem unseren hier – erfassen und begreifen, muss man natürlich zuerst an die politische Verfassung denken, die dafür Voraussetzung, Einfassung, und Auftrag ist. Hier ist es die Verfassung von Frankreichs V. Republik. Sie gehört zur Gattung „Verfassungsstaat“, was heißt, dass sie alle politische Macht in die Schranken weist, die von ihr und den von ihr her abgeleiteten Gesetzen aufgerichtet sind. Die Macht Mitterrands zum Regieren war begrenzt. Er konnte sie nur innerhalb der vorgegebenen Verfassung entfalten, nach den von ihr gesetzten Regeln und im Zusammenspiel zwischen ihm als Präsident und den anderen Verfassungs-, Regierungs-, und Verwaltungsorganen. Allerdings war seine Amtsmacht schon durch die konstitutionellen Vorgaben beträchtlich ausgeweitet. Mit diversen Techniken, sie handzuhaben, dehnte er sie, wie zu sehen war, noch weiter aus. Das reichte indes noch nicht zu der Mächtigkeit eines wahrhaft gestaltenden Regierens aus, das in die politischen Formen Frankreichs hineinwirken sollte, und desgleichen in das Geschehen in der Welt. Zu der Kraft und den Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen, kam er über Personen, das heißt: über Konfigurationen von der Art, wie sie soeben beschrieben wurden. Darin war er jeweils eine gestaltende Figur, sei es als die bestimmende, sei es im Zusammenwirken mit anderen, als politischer Gefährte, Partner, Initiator, Ratgeber, Warner. Für unsere Thematik ist die Konfiguration im Bereich der internationalen Beziehungen erheblich, die ich anderen Orts die „Werkstatt der Weltpolitik“ genannt

16 Siehe Tilo Schabert, Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin: De Gruyter 1989, Kap. 2 und 4; ders, „Die reale Natur von Regierungen. Ausbildungen von Macht in konstitutionellem Gewand“, in: ders., Von der Natur der Politik und ihren Formen, 23–38; „Wie werden Städte regiert?“, in: a. a. O., 163–189; „Das Paradox der Macht. Anmerkungen zur Regierungspraxis in Washington, Paris, und Bonn“, in: a. a. O., 263–270.

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Kap. 2: Das Ereignis Staatskunst

und sie aus Gesprächen zwischen Hauptpersonen erschlossen habe.17 Im Folgenden wird die Rekonstruktion fortgeführt und vertieft durch ein Heranziehen weiterer Materialien und durch eine Ausweitung auf bestimmte Arbeitsverhältnisse. Élysée und Bundeskanzleramt Der Élysée war, sieht man es von der dokumentarischen Seite her, mit François Mitterrand und einem Kreis seiner Mitarbeiter wesentliches Element in der Werkstatt der Weltpolitik, allgemein wie insbesondere über eine enge Verbindung mit Helmut Kohl und dessen diplomatischen Beratern; und diese waren ihrerseits mit der Werkstatt (vornehmlich mit ihren Teilen in Washington, Moskau und London) verflochten. In einem Gespräch erklärte mir Hubert Védrine, Generalsekretär des Élysée und zuvor, in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung, Berater Mitterrands für Sicherheits- und Außenpolitik: „Die Vereinigung Deutschlands ist so gut verlaufen, weil Kohl und Mitterrand schon so viele Jahre hinter sich hatten, in denen sie es wie in einem Lernprozess (apprentissage) einübten, sich abzustimmen und zusammenzuarbeiten. Und dann gab es eine ganz außergewöhnliche Konfiguration mit mir, Elisabeth Guigou [Beraterin für europäische und ökonomische Fragen] und Caroline de Margerie [diplomatische Beraterin] im Élysée und Horst Teltschik, Joachim Bitterlich und Peter Hartmann [den wichtigsten Beratern Helmut Kohls für Außenpolitik] im Bundeskanzleramt. Ohne diese Konstellation wäre der Vereinigungsprozess bestimmt nicht so von statten gegangen, wie es dann geschah. Es hätte viel mehr Schwierigkeiten bei dem Prozess gegeben, wenn nicht sogar Entgleisungen.“18 In der Zeit zwischen November 1989 und Januar 1990, so erläuterte Védrine später, in einem weiteren Gespräch, „war der Élysée der Drehpunkt für Frankreichs Deutschlandpolitik.“ Danach, „bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen“, seien es „die USA, sowie Genscher und Dumas“ gewesen, die „in erster Linie die Akteure waren.“19 Unter „Dumas“ muss hier allerdings, so wäre nach der effektiven Präsenz und Mitwirkung Frankreichs bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen zu sagen, die ganze französische Delegation verstanden werden, und insbesondere ihr zugkräftiger Leiter Bertrand Dufourcq.20 17

Siehe Schabert, Wie Weltgeschichte gemacht wird, 63–88; ders., Mitterrand et la réunification allemande, 67–93; ders., France and the Reunification of Germany, 21–46; vgl. ferner: Jean Musitelli, „Dans l’atelier de la politique mondiale“, in: Karl-Heinz Nusser et al. (Hg.), Politikos – Vom Element des Persönlichen in der Politik (Berlin: Duncker & Humblot 2008), 17–21. 18 Forschungsgespräch mit Hubert Védrine, 21. April 1995. 19 Forschungsgespräch mit Hubert Védrine, 21. Oktober 1996. 20 Bei einem Gespräch am 7. November 2009 in Suresnes berichtete mir Dufourcq, dass Dumas der französischen Delegation bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen keine Anweisungen („instructions“) gegeben hätte. Die Aktennotizen über den Verlauf der Verhandlungen, die sie von der Delegation an Dumas gerichtet hätten, seien an sie ohne jeden Vermerk, nicht einmal mit einer Abzeichnung, zurückgekommen (Gespräch mit Bertrand Dufourcq). – Vgl. auch die Beobachtung des britischen Botschafters in Paris, Sir Ewen Fergusson, die dieser in einem Schreiben vom 5. Februar 1990 an den britischen Außenminister Douglas Hurd vermerkte: „Selbst Dumas ist nicht in einem perfekten Kontakt mit seinen eigenen Leuten im Quai [d’Orsay].“ (DBPO, 257).

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Hubert Védrine führte bei dem zuerst zitierten Gespräch nicht alle Personen aus Mitterrands Stab im Élysée an, die sich dort mit der „deutschen Frage“ beziehungsweise, als diese akut wurde, mit der Wiedervereinigung Deutschlands beschäftigten und in der Werkstatt der Weltpolitik die französische Politik dazu im Namen des Präsidenten und entsprechend seines Auftrags vertraten und verfolgten. Zu nennen sind insbesondere auch der damalige Generalsekretär des Élysée, JeanLouis Bianco, die diplomatischen Berater Loïc Hennekinne und Jean Musitelli, sowie Admiral Lanxade. Zwar holte Mitterrand darüber hinaus Auskunft und Rat ein von wem es ihm gefiel und beriet sich mit wem er wollte.21 Wenn man sich indes an die dokumentarische Evidenz hält, erscheint die Werkstatt der Weltpolitik im Élysée, was die Wiedervereinigung anbetrifft, neben Mitterrand hauptsächlich durch die hier erfassten Personen vertreten.22 Wie müssen wir uns ihre Tätigkeit vorstellen? Sie arbeiteten, allgemein gesagt, dem Präsidenten zu, mittels Ideen, Informationen, Politikentwürfen, Ratschlägen. Sie sichteten die Schriftstücke und Meldungen, die im Élysée zu den Themen Deutschland und Wiedervereinigung eingingen, kommentierten sie für den Präsidenten, erstellten für diesen daraus Übersichten und Entscheidungshilfen, und gaben sich gegenseitig ihre Niederschriften und Aktennotizen weiter (allerdings in unterschiedlicher Weise).23 Sie führten aus, was der Präsident entschieden oder wozu er sie beauftragt hatte. Sie verhandelten mit dem Bundeskanzleramt, sowie anderen Regierungskanzleien, vornehmlich mit dem Weißen Haus in Washington, weniger mit dem Foreign Office und dem Amt der Premierministerin in London.24 Die Kommunikation und Abstimmung zwischen Élysée und Bundeskanzleramt war eng; Schriftstücke gingen zügig hin und her, viele Male wurde telefoniert, und wiederholt fanden Arbeitstreffen statt, entweder in Paris oder Bonn, einmal auch am Sitz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia am Comer See. Dieses Mitwirken in der Werkstatt der Weltpolitik, im Élysée und aus diesem heraus, hat sich auf umfangreiche Weise dokumentarisch niedergeschlagen. Vieles 21 Vgl. „Des règles et des méthodes du Président“ in: Michel Schifres / Michel Sarazin, L’Élysée de Mitterrand, Paris: Éditions Alain Moreau, 1985, 109–124; Pierre Favier / Michel Martin-Roland, La Décennie Mitterrand, Bd. 1, Les ruptures, Kap. 3, 529–542; Tilo Schabert, „Ein klassischer Fürst. François Mitterrand im Spiegel einer vergleichenden Regierungslehre“, in: Von der Natur der Politik und ihren Formen, 345–378. 22 In dem oben zitierten Schreiben (Fn. 20) analysierte Botschafter Fergusson die „French machine“, also die Entscheidungsstruktur in der französischen Regierung. Dabei stellte er fest: „Die Hauptakteure unterhalb von Mitterrand sind vermutlich Dumas, Bianco and Védrine.“ (DBPO, 257). – Es ist unverständlich, wie Georges-Henri Soutou zu dem Urteil kommt, dass der „Élysée-Stab nicht sehr hilfreich darin war, den Präsidenten bezüglich der deutschen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten“ und Mitterrand „nicht den bestmöglichen Rat erhielt“, Georges-Henri Soutou, The German Question as Seen From Paris, 233 f. Soutou weist für sein Urteil keinen einzigen Beleg aus. 23 Jacques Attali jedoch nahm an dieser gegenseitigen Weitergabe von Schriftstücken nicht teil. 24 Vgl. die Distanz, die aus Botschafter Fergussons Schreiben vom 5. Februar 1990 spricht (DBPO, 257).

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davon wird im weiteren Verlauf dieser Studie aufgewiesen. Einige Aspekte sollen indes hier schon angeführt werden. So berichtete Joachim Bitterlich, dass er und Caroline de Margerie die jeweiligen Protokolle – also das deutsche auf der einen und das französische auf der anderen Seite – von Gesprächen zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand auf die in diesen behandelten Punkte hin miteinander abgestimmt hätten.25 Hubert Védrine seinerseits zeigte Joachim Bitterlich die Berichte des französischen Botschafters in Bonn, Serge Boidevaix; damit hätte er, so sagte Bitterlich, „immer gesehen, was noch zu tun sei“.26 Jean-Louis Bianco betonte die gute Zusammenarbeit mit Joachim Bitterlich; auf Horst Teltschik hin angesprochen, sagte er indes, dass sich dieser immer mit Jacques Attali getroffen habe.27 Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass Teltschik – der in seinem Buch „329 Tage“ über seine Arbeit mit Attali und anderen Kollegen im Élysée berichtet28 – nicht Französisch sprach, also auf Englisch kommunizierte. Bitterlichs gute Französischkenntnisse – die er selbstbewusst einbrachte – verhalfen ihm zu einer unmittelbaren Verbindung mit Védrine, Guigou und de Margerie, die, wie alle Franzosen, es schätzten und bevorzugten, sich auf Französisch zu verständigen. In der Sprache seiner Partner im Élysée unterhielt sich ebenfalls Peter Hartmann, diplomatischer Berater im Kanzleramt; die wichtigsten zur Zeit der Wiedervereinigung waren Védrine und Guigou; später kommunizierte er hauptsächlich mit Pierre Morel, der dann diplomatischer Berater Mitterrands war. Morel, Übersetzer von Rilke, konnte sich mit Hartmann im Übrigen auch auf Deutsch unterhalten.29 Horst Teltschik formte sich von Attali im Zuge ihrer häufigen Kontakte ein Charakterbild. Neben der Sprache konnte auch der praktische Umgangsstil eine Rolle spielen. In Paris sei es auf Veranlassung Attalis immer gleich in die Kantine des Élysée gegangen.30 Die Kantine „Le Mess“, befindet sich im ersten Stock eines Gebäudes in der rue de l’Élysée, gegenüber dem Élysée, ist wie ein eleganter Salon eingerichtet, mit einem großzügigem Tischarrangement, das eine ruhige Atmosphäre erlaubt, in der man eine gute Küche genießen kann. Attali, so erklärte Teltschik, hätte „gesprüht mit Ideen“. Er hätte ständig neue Ideen unterbreitet. Teilweise seien diese aber abwegig gewesen. Wie zum Beispiel der Vorschlag, nach einer Überschwemmungskatastrophe in Bangladesch alle dortigen Wasserwege und Flüsse einzudämmen. Da hätten sie sich im Kanzleramt gedacht, wir haben andere Probleme. Im Übrigen sei dies bei den vielen Wasserläufen, die außerhalb von Bangladesch begannen, schon allein von den Gegebenheiten her eine widersin 25

Forschungsgespräch mit Joachim Bitterlich, 30. September 2003. Forschungsgespräch mit Joachim Bitterlich, 17. August 1998. 27 Forschungsgespräch mit Jean-Louis Bianco, 8. November 2015. 28 Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin: Siedler, 1991. Zu seiner Zusammenarbeit mit Mitterrands Beratern und insbesondere mit Attali siehe 36, 60, 96, 118, 175, 250. 29 Forschungsgespräch mit Peter Hartmann, 29. Mai 1995. 30 Forschungsgespräch mit Horst Teltschik, 23. Juni 2017. 26

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nige Idee gewesen. Gegenüber dem überbordenden Ideenausstoß von Attali hätte er, so Teltschik, eine Strategie ersonnen. Sie bestand darin, Attali vorzuschlagen, zu einer von ihm aufgebrachten Idee erst einmal etwas zu Papier zu bringen. Und das hätte in der Tat „eine bändigende Wirkung erbracht“.31 Als Sicherheitsberater von Kanzler Kohl war Teltschik auch an den Bemühungen des Kanzlers beteiligt, die dem möglichen Einsatz der französischen Atomwaffen auf deutschem Boden im Falle eines Krieges galten. Sie zogen sich über Jahre bis in die Zeit der Wiedervereinigung hin. Die Deutschen wollten ein Mitspracherecht, nicht nur was das Gebiet der Bundesrepublik, sondern auch das der DDR betraf. Deutschland war hier für Kohl und seine Regierung eins. Doch die Franzosen verweigerten sich hartnäckig. So gerieten Deutsche und Franzosen miteinander in einen harten Konflikt, der sich gerade in der Zeit 1988–89 zuspitzte, und in dem Mitterrand, der kraft seines Amtes allein über den Einsatz der französischen Atomwaffe entscheiden konnte, in der Form verbindlich, in der Sache aber unnachgiebig war.32 Doch einmal seien er und seine Mitarbeiter, so Teltschik, mit dem französischen Generalstabschef und dem Generalinspekteur der Bundeswehr soweit gewesen, eine Vereinbarung zu einer verpflichtenden Konsultation der Deutschen durch die Franzosen vor einem Einsatz ihrer Atomwaffen auf deutschem Boden treffen zu können. Die Militärs beider Seiten hätten jeweils zugesagt. Dann aber sei der Chef der Bundeswehr zum deutschen Verteidigungsminister gegangen, um von diesem zu hören, was er dazu dachte. Der Verteidigungsminister ließ sich aber Zeit. Und der entscheidende Moment sei darüber verstrichen. Nun hätten die Franzosen nicht mehr gewollt.33 Dem entspricht eine Auskunft Joachim Bitterlichs. Noch kurz vor der Wiedervereinigung habe im Élysée eine Besprechung zwischen Teltschik und ihm einerseits und Admiral Lanxade und anderen Mitgliedern von Mitterrands Militärstab andererseits stattgefunden. Ihr Thema: der Einsatz französischer Atomwaffen auf deutschem Boden. Die französischen Gesprächspartner seien dabei „steinhart“ gewesen. Das französische Militär habe „einfach nicht gewollt“.34 Doch auch wenn die Zusammenarbeit zwischen den regierenden Personen in Bonn und Paris nicht frei von Konflikten und Enttäuschungen war  – naturgemäß, denn jede Seite vertrat und verfolgte die Interessen des eigenen Landes –, so geschah sie in der Zeit Kohls und Mitterrands in der Form eines gemeinsamen politischen Werkraums. Jean Vidal, diplomatischer Berater von Mitterrand nach der Zeit der Wiedervereinigung, konnte deswegen sogar sagen, dass er bei seiner Kooperation mit seinen Kollegen im Kanzleramt nicht mehr an „Ausland“ oder „Außenpolitik“ dächte.35 Bei dem „Zeitzeugen-Seminar“ zur deutschen Wieder 31

Forschungsgespräch mit Horst Teltschik, 9. Januar 2017. Vgl. dazu Wie Weltgeschichte gemacht wird, Kap. 6, Die Frage des nuklearen Kriegs, 224–275. 33 Forschungsgespräch mit Horst Teltschik, 9. Januar 2017. 34 Forschungsgespräch mit Joachim Bitterlich, 17. August 1998. 35 Forschungsgespräch mit Jean Vidal, 18. Februar 1993. 32

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vereinigung in London im Oktober 2009 unterstrich Bertrand Dufourcq den „ununterbrochenen Dialog zwischen François Mitterrand und Kanzler Kohl, zwischen Roland Dumas und Hans-Dietrich Genscher, zwischen ihren Mitarbeitern in Paris und Bonn. Ein Dialog, bei dem es nicht nur um die Wiedervereinigung, sondern auch um das zu erzielende Vorankommen im Bau von Europa ging.“ Von diesem Dialog, so fügte Dufourcq an, finde sich „aus gutem Grund“ nichts in den vom Londoner Foreign and Commonwealth Office veröffentlichten Dokumenten zur Wiedervereinigung.36 Dagegen erklärte Charles Powell, Thatchers Büroleiter und Chefberater, bei demselben Seminar: „Im Großen und Ganzen, trotz der Spannungen in dem Verhältnis, wurde zu dieser Zeit [der Wiedervereinigung] viel erreicht, zum einen hauptsächlich zwischen ihr [Thatcher] und Kanzler Kohl, und zum anderen auch weil wir ein sehr gutes, solides Arbeitsverhältnis zwischen Downing Street 10 und dem Bundekanzleramt hatten, besonders mit Horst Teltschik, Peter Hartmann. Es gab viele Kommunikationswege zwischen Margaret Thatcher und Helmut Kohl.“37 Man mag von dieser Aussage überrascht sein, wenn man an die Abneigung Thatchers gegenüber Kohl denkt, und an die steten Schwierigkeiten Kohls, mit der Premierministerin klarzukommen. Und an die negative Tendenz der Papiere, die Powell im Herbst 1989 zur Frage der Wiedervereinigung verfasste.38 Schauen Beteiligte auf die gemeinsame Zeit im deutsch-französischen Teil der Werkstatt der Weltpolitik zurück, stellen sie fest, wie außerordentlich diese war, aufgrund der so schöpferischen Arbeit, die ihnen damals gelang. Die entsprechende Beobachtung von Hubert Védrine wurde schon angeführt. Bei einem Forschungsgespräch äußerte sich Horst Teltschik ebenfalls dazu. Er habe vor kurzem Elisabeth Guigou getroffen, so berichtete er, und sie habe ihm gesagt, dass es doch eine „wunderbare Zeit“ war, die sie damals zusammen erfahren hatten. Ja, so fügte Teltschik seinerseits an, schließlich haben wir „Geschichte gemacht“. Nachdem er dieser Aussage, nicht ohne ein leises Lachen vorausgeschickt hatte: „Wir haben prophetisch gedacht.“39 Aber fragen wir doch: War die Werkstatt-Konstellation zwischen Beratern von Mitterrand und Beratern von Kohl zu der Zeit, mit der wir uns hier befassen, tatsächlich so bemerkenswert? Bezüglich einer Antwort sei zunächst festgehalten: Die Struktur „Werkstatt“ ist, als eine Konfiguration im beschriebenen Sinne, naturgemäß unbeständig. Solange es die Verbindungen zwischen Personen zu einer solchen Konfiguration gibt, existiert die Werkstatt. Verschwinden diese Verbindungen, löst sich auch die Struktur „Werkstatt“ auf. Soll es sie erneut geben, müssen Personen sich wieder zu ihr als Konfiguration verbinden. Sie ist für sich selbst schon eine 36

Wit. Sem., 102. Ebd., 76. – Powell geht hier etwas verschwenderisch mit der Wahrheit um. Siehe unten Kapitel 5, Anmerkung 4.  38 Vgl. die Dokumente 48, 51, 70 in DBPO. 39 Forschungsgespräch mit Horst Teltschik, 9. Januar 2017. 37

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Manifestation schöpferisch gestaltender Politik. Und wird sie für eine solche Politik eingesetzt, ist sie für diese ein ausgezeichneter Mechanismus. Dies ist die Vorüberlegung zu meiner faktischen Überprüfung, die ex negativo erfolgen soll. In den Jahren 2013 und 2014 führte ich Gespräche im Bundeskanzleramt und im Élysée. Ich wollte dabei auch etwas über die Existenz einer Werkstatt-Konstellation zwischen Élysée und Bundeskanzleramt auf der Ebene der Berater erfahren und stellte entsprechende Fragen. Nachfragen schlossen sich an. Die Auskunft, die ich erhielt, war jedes Mal eindeutig. Eine wirkliche WerkstattKonstellation zwischen Élysée und Bundeskanzleramt gab es zu dieser Zeit nicht. Mit François Hollande, dem neugewählten französischen Präsidenten, so ist zu berichten, waren im Mai 2012 auch der diplomatische Berater des Präsidenten, Paul Jean-Ortiz, und dessen Mitarbeiter in den Élysée eingezogen. Fast elf Monate waren seitdem vergangen, als ich am 23. Februar 2013 Nikolaus Meyer-Landrut, den Leiter der Europa-Abteilung im Bundeskanzleramt, bei einem Gespräch nach seinen Arbeitskontakten zum Élysée fragte. Als Antwort erfolgte zuerst ein Moment des Schweigens und dann die Auskunft, er wisse derzeit nicht wirklich, wer für ihn im Élysée wichtig sei, dort sei noch nicht „geschüttelt“ worden.40 Zwei Monate später, am 13. Mai 2013, führte ich mit Christoph Heusgen, dem außen-und sicherheitspolitischen Berater von Bundeskanzlerin Merkel, ein weiteres Gespräch. Dabei sprach ich ihn auf sein Gegenüber im Élysée, Paul Jean-Ortiz, an. Und sofort brach es ihm heraus: „Mit dem läuft gar nichts. Der ruft mich nicht einmal an.“41 Paul Jean-Ortiz sah mich erstaunt an, als ich ihm bei einem Gespräch am 22. November 2013 von den Äußerungen Meyer-Landruts und Heusgens berichtete. Er protestierte nicht, wies die Beschreibungen seiner Gegenüber im Bundeskanzleramt nicht energisch zurück. Er sagte nur: „Aber gerade ist doch ein Mitarbeiter von mir in Berlin gewesen, und ich und meine Kollegen im Bundeskanzleramt sind schon ein- bis zweimal in der Woche in Kontakt.“ Und er wollte wissen, wann ich mit Heusgen und Meyer-Landrut gesprochen hätte. Ich berichtete es. Er antwortete mit Schweigen.42 Meine eigenen Eindrücke bestätigte Joachim Bitterlich bei einem Gespräch am 10. Juni 2013. Bitterlich war mittlerweile in der Privatwirtschaft in Paris tätig, verfolgte aber über rege Kontakte in seinem alten politischen Arbeitsfeld das Geschehen im Innern der deutschen und französischen Regierungen. Ja, so erklärte er, zwischen Élysée und Bundeskanzleramt sei nichts mehr so, wie es zu seiner Zeit im Kanzleramt gewesen war.43

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Forschungsgespräch mit Nikolaus Meyer-Landrut, 23. März 2013. Forschungsgespräch mit Christoph Heusgen, 13. Mai 2013. 42 Forschungsgespräch mit Paul Jean-Ortiz, 22. November 2013. 43 Forschungsgespräch mit Joachim Bitterlich, 10. Juni 2013. 41

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Kohl und Mitterrand Wenn zwei Menschen in ihrer Kommunikation miteinander und im Umgang mit Angelegenheiten, die sie beide angehen, sich auch ohne viele Worte verstehen, auf einen Blick, wie man sagt, dann wird im Französischen für diese Art der Wechselbeziehung gerne der Begriff „complicité“ gebraucht. Um die Qualität der Interaktion zwischen Präsident Mitterrand und Kanzler Kohl zu beschreiben, benützten Berater Mitterrands dieses Wort.44 Joachim Bitterlich verdeutlichte beispielhaft was gemeint war. Bei den europäischen Gipfeln, so führte er aus, habe Mitterrand oft Postkarten geschrieben, und den Eindruck vermittelt, er sei ganz abwesend. Aber welche „complicité“ (hier Bitterlichs Wort) habe zwischen ihm und Kohl geherrscht! Der habe die Augen nach oben gewandt und, wie durch ein Wunder, sei Mitterrand aus seiner anscheinenden Abwesenheit aufgewacht und habe eine fulminante, vernichtende Rede zu der im Gange befindlichen Beratung gehalten. Oder Kohl und Mitterrand hätten plötzlich miteinander Blicke ausgetauscht und dann habe Kohl in präziser Weise für sie beide rednerisch ausgeholt.45 Der deutsche Kanzler und der französische Präsident hatten offensichtlich eine persönliche „complicité“, die sie politisch einsetzten, in den deutsch-französischen und europäischen Werkräumen, wie in denen der Weltpolitik. Aus ihr erwuchs ihnen eine besondere politische Kraft. Und sie waren sich ihrer bewusst, kannten das still-verlässliche Einverständnis, auf das sie für ihr politisches Handeln bauen konnten. Helmut Kohl sprach davon, als er sich mit Michael Gorbatschow am 12. Juni 1989 in Bonn unter vier Augen unterredete. In diesem Gespräch entwarf der deutsche Kanzler ausführlich ein persönliches und politisches Porträt des neuen amerikanischen Präsidenten George Bush. Gorbatschow sollte sich in seiner „Orientierung darauf einstellen“ können, „dass sich die Dinge mit den USA entfalten werden“. Und dann teilte der Kanzler Gorbatschow mit: „An zweiter Stelle sollte man den Élysée-Palast und uns [Kohl und seine Regierung] im Auge haben. Ich habe mich nicht versprochen, als ich ‚Élysée-Palast‘ erwähnte. Zwischen Mitterrand und mir gibt es keinerlei Divergenzen in Bezug darauf, was wir gemeinsam tun wollen.“46 Anderen, wie zum Beispiel dem amerikanischen Präsidenten, blieb die besondere „complicité“ zwischen dem deutschen Kanzler und dem französischen Präsidenten nicht verborgen. Er wisse, so sagte dieser zu Kohl am 3. Dezember 1989, dass „der Bundeskanzler ausgezeichnete Beziehungen zu Mitterrand habe“.47 44

So der diplomatische Berater Jean Vidal am 18. Februar 1993 und die stellvertretende Generalsekretärin des Élysée Anne Lauvergeon am 17. März 1994, jeweils bei einem Forschungsgespräch. 45 Forschungsgespräch mit Joachim Bitterlich, 17. August 1998. 46 Sow. Dok., S. 147. 47 Dok. Dt. Einheit, Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Präsident Bush, Laeken bei Brüssel, 3. Dez. 1989, hier: 607. – Im amerikanischen Protokoll des Gesprächs kommt diese Aussage von Bush nicht vor.

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Kennzeichnend für diese Beziehungen ist eine Szene am Anfang ihrer Begegnung in Frankfurt am 27. Oktober 1986. Sie zeigt Kohl und Mitterrand in einer fürsorglichen Geradheit, von Person zu Person. Und doch sind es der Kanzler Deutschlands und der Präsident Frankreichs, die sich im Raum ihres politischen Wirkens so einander zuwenden: „Am Anfang wünscht der Kanzler dem Präsidenten alles Gute zum Geburtstag. Er überreicht ihm als Geschenk eine alte Ausgabe der Fleurs du Mal.48 Der Präsident dankt ihm für diese sehr freundschaftliche Geste, ein Zeichen hoher Kultur, und sagt, dass dieses Geschenk sehr passend sei. Er blättert in dem Buch, während er aus dem Gedächtnis einige der Verse von Baudelaire zitiert.49 Brigitte Stoffaes [die Übersetzerin auf französischer Seite] fährt fort, indem sie die nachfolgenden Verse zitiert. Der Präsident dankt Helmut Kohl noch einmal, indem er ihm seine Hand auf die Schulter legt.“50 Bei einem Gespräch im März 1994 schränkte Mitterrand indes ein. Gewiss, Kohl und er seien Freunde. Aber er habe im außenpolitischen Bereich ebenso weitere Freunde, wie Gonzalez51 oder Soares52, den er jedes Jahr in seinem Ferienhaus besuche. Auch wenn man sehr eng zusammenarbeite, so erklärte er bestimmt, blieben die französischen Interessen die französischen, und die deutschen Interessen die deutschen.53 Mitterrand und Bush Die Werkstatt der Weltpolitik, die es zur Zeit der Wiedervereinigung gab, war ein entscheidender Faktor in deren Geschehen. Die maßgeblichen Akteure in Bonn, Paris, Washington, London und Moskau – Präsidenten, Regierungschefs, Minister, und deren Berater – kannten sich gut oder lernten sich gut kennen, hatten unter sich produktive Arbeitsbeziehungen aufgebaut, oder taten dies zunehmend, und kamen sich dabei auch persönlich näher. Ihr Verhältnis zueinander war gekennzeichnet von kollegialer Offenheit und Neugier, Teilhabe an einem gemeinsamen Informationsfluss, professionelle Kreativität und, ganz wesentlich, Vertrauen. Ein systematisch angelegtes Eintauchen in die Quellen – die deutschen, französischen, amerikani 48 Baudelaires Gedichtband „Les Fleurs du Mal“ (dt. Die Blumen des Bösen) gehörte zu den von Mitterrand besonders geschätzten literarischen Werken. Und er sammelte von Büchern alte Ausgaben. Ihm eine solche von Baudelaires Werk zu schenken, musste ihm als eine besonders einfühlsame Aufmerksamkeit erscheinen. 49 Es sind die ersten Verse von „L’invitation au voyage“ (Fleurs du Mal, LIII): „Mon enfant, ma soeur / Songe à la douceur / D’aller là-bas vivre ensemble!/Aimer à loisir,/Aimer et mourir / Au pays qui te ressemble!“ 50 Compte-rendu des entretiens entre le Président de la République et le Chancelier Kohl, 27. Oktober 1986, AN-AG/5(4)/CD/73, Dossier 1.  51 Felipe González, spanischer Ministerpräsident von 1982 bis 1996. 52 Mário Soares, portugiesischer Politiker, von 1986 bis 1996 Präsident Portugals. 53 Forschungsgespräch mit François Mitterrand, 17. März 1994.

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schen, britischen, russischen – macht diesen intrapersonalen Verband desto mehr sichtbar, je intensiver dieses Unternehmen verfolgt wird. Mit einem solchen Verfahren – in der Sprache der empirischen Sozialwissenschaften hieße es „Netzwerkanalyse“ – kann die Werkstatt der Weltpolitik erfasst werden. Dabei zeigt es sich zudem, dass François Mitterrand in der Zeit des Geschehens der Wiedervereinigung gänzlich in die Werkstatt der Weltpolitik eingebunden war und seine Rolle bei jenem Geschehen ohne eine Kenntnis seiner Stellung und seines Handelns in diesem Werkraum nicht angemessen wahrgenommen werden kann. Diesbezüglich bemerkenswert sind nicht nur seine Konsultationen mit Helmut Kohl, sondern auch seine Treffen, telefonischen Unterredungen, und schriftlichen Verständigungen mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush. Am 27. Januar 1990 beispielsweise erhielt Mitterrand einen Anruf von Bush und es entwickelte sich ein Gespräch, in dem sie sich gemeinsam zu Deutschland beratschlagten und dabei auch über Helmut Kohl und Margaret Thatcher nachdachten: „Der Präsident [George Bush]: Es ist liebenswürdig von Ihnen, an einem Wochenende meinen Anruf entgegenzunehmen – Präsident Mitterrand: Aber nein, ich bin auch bei der Arbeit. … Der Präsident: Sagen Sie mir, beunruhigt Sie die [militärische] Neutralisierung Deutschlands jetzt mehr wie das letzte Mal als wir miteinander sprachen? Präsident Mitterrand: Wir können die Neutralisierung Deutschlands nicht zulassen. … Der Präsident: Ich benötige Ihren Rat und Ihren beratenden Beistand. … Präsident Mitterrand: Ich habe meine Anliegen erwähnt. Der Enthusiasmus Kohls ist nicht voll und ganz beruhigend. Der Präsident: Es könnte gut für Sie sein, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben, Ihre Anliegen direkt gegenüber Kohl zu äußern. … Präsident Mitterrand: Ja, das ist eine gute Idee. … Der Präsident: Und was, meinen Sie, wird Thatchers Ansicht sein? Sie kennen sie besser als ich. Präsident Mitterrand: Sie wird nicht glücklich sein.“54 Am 19. April 1990 trafen sich der französische und der amerikanische Präsident in Key Largo, Florida. Wieder unterredeten sie sich dort über das „deutsche Problem“. Andere Themen waren die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO und die Haltung der Sowjetunion dazu, sowie die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft und der NATO. Beide legten ihre Vorstellungen zu dem jeweils behandelten Thema dar. Ihre Unterredung dauerte etwas mehr als dreieinhalb Stunden. Wie sie ihrem Ende zuging, sagte Mitterrand zu Bush: „Von dem was Sie ausgeführt haben, gibt es nichts, mit dem ich nicht übereinstimme. Sie waren präzise und ich anerkenne das zutiefst.“55 54

Siehe: https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1990-01-27--Mitterrand.pdf (aufgerufen am 10. März 2022). 55 Die Äußerung Mitterrands wird hier nach der amerikanischen Aufzeichnung zitiert. Siehe: https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1990-04-19--Mitterrand%20[2].pdf (aufgerufen am 10. März 2022). Die französische Aufzeichnung gibt die Worte Mitterrands folgendermaßen wieder: „Ich habe von nichts von dem abzurücken, was Sie gesagt haben, dafür haben Sie Präzisionen hinzugereiht.“ (Déjeuner François Mitterrand – George Bush à Key Largo, 19. April 1990, AN-AG/5(4)/CD/68).

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Als drittes Beispiel wird hier der Satz angeführt, mit dem George Bush sein Schreiben vom 12. Juni 1990 an Mitterrand abschloss: „Unsere häufige Konsultation wird sehr wichtig bleiben, da die deutsche Vereinigung und die Zwei plus Vier [Verhandlungen] ihrem Ende zu gehen.“56 Netzwerke Die Hauptakteure in der Werkstatt der Weltpolitik verflochten sich in bestimmten Momenten besonders eng. Für Bush, Kohl, Mitterrand, Thatcher waren ihre jeweiligen Treffen mit Gorbatschow solche Momente. Dann organisierten sie sich, um den Austausch erheblich zu intensivieren. Ein Abschnitt des Telefongesprächs, das Präsident Bush und Kanzler Kohl am 17. November 1989 miteinander führten, zeigt dies deutlich. Bush dachte an sein bevorstehendes Treffen mit Gorbatschow am 2. und 3. Dezember bei Malta. Und sagte zu Kohl: „Ich möchte auf jeden Fall Ihren Rat und Ihre Vorschläge hören, bevor ich Gorbatschow treffe. Dies ist sehr wichtig wegen der deutschen Frage. Ich schlage vor, dass wir uns, Sie und ich, nachdem Genscher hier war, am Wochenende eine Stunde oder mehr Zeit nehmen, um ausführlich telefonisch zu konferieren, Vielleicht sollten wir auch eine gesicherte Kommunikationsverbindung herstellen, damit ich jede Nuance der deutschen Frage kenne. Ich nehme mir so viel Zeit wie nötig. Es ist wichtiger als jemals zuvor, dass Gorbatschow die deutsche Haltung und insbesondere die Haltung von Bundeskanzler Kohl übermittelt bekommt.“ Kohl erwiderte: „So sollten wir es arrangieren. Vielleicht können wir am Montag länger miteinander reden.“ Bush fuhr dann fort: „Das wäre gut, wenn es nicht anders geht. … Ich wünsche mir umfassende Beratungen. … Wörner [Generalsekretär der NATO] hat uns eingeladen, nach Brüssel zu kommen. Dies werde ich tun.“57 Am 28. November 1989 sandte der Kanzler dem amerikanischen Präsidenten außerdem auf dessen Aufforderung hin einen siebenseitigen Brief, mit dem er Bush detaillierte Empfehlungen für sein Treffen mit Gorbatschow gab, unter anderem auch ausführlich zum Thema der von den USA „positiv aufgenommenen“ Wiedervereinigung.58

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White House to Elysee Palace, Secret Via Blue Channels, 12. Juni 1990. https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1989-11-17--Kohl.pdf (aufgerufen am 10. März 2022). Die deutsche Übersetzung ist entnommen aus: Alliierten Museum Berlin, „Let Berlin be next“. George Bush und die deutsche Einheit. Die Telefongespräche zwischen US-Präsident Bush und Bundeskanzler Kohl 25. Oktober 1989 – 3. Oktober 1990, Berlin 2000, 22 und 24. Die Gespräche sind auf Englisch und Deutsch wiedergegeben. – Wenige Tage später, am 21. November 1989 unterredete sich Präsident Bush mit dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Diesem sagte er, ähnlich wie zu Kohl: „Wir möchten wissen was Sie denken. Ich möchte verstehen, was Gorbatschow jetzt für seine Grenzen hält. Ich möchte wissen, was er bezüglich der deutschen Wiedervereinigung meint.“ (https://bush41library.tamu. edu/files/memcons-telcons/1989-11-21--Genscher.pdf (aufgerufen am 12. März 2022)). 58 Für den Text des Briefs (auf Englisch) siehe: https://nsarchive2.gwu.edu//dc.html?doc= 2755710-Document-10 (aufgerufen am 12. März 2022). 57

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Am 5. Februar 1990 besprach sich Helmut Kohl am Telefon mit François Mitterrand. Nun stand für Kohl ein Treffen mit Gorbatschow bevor, für den 10. Februar. Auch ihm lag es am regen und entsprechend zu organisierenden Austausch. „Er werde nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion“, so vermerkt das deutsche Protokoll dieses Telefongesprächs, „Präsident Mitterrand sofort anrufen. Es sei äußerst wichtig, dass er mit dem Präsidenten jetzt engsten Kontakt halte. Es sei dies auch wichtig für Präsident Bush, der keine Dissonanzen möchte.“59 Bush wie der amerikanische Außenminister Baker assistierten Kohl mit für ihn zweckdienlichen Informationen für seine Begegnung mit Gorbatschow. Bush schrieb ihm hierzu einen Brief, Baker unterrichtete ihn unmittelbar über seine eigenen Gespräche mit Gorbatschow, die ein Tag zuvor stattgefunden hatten.60 Margaret Thatcher ihrerseits konnte zur Vorbereitung ihres Treffens mit Gorbatschow am 8. Juni 1990 mit einem Bericht arbeiten, den ihr Mitterrand zu seinem Treffen mit Gorbatschow am 25. Mai zugesandt hatte. Am 13. Juni bedankte sie sich dafür in einem Schreiben an Mitterrand. Sein Bericht sei für sie „sehr nützlich“ gewesen, um sich auf ihre eigenen Unterredungen mit Gorbatschow vorzubereiten.61 Das Mitgehen von Margaret Thatcher Wie der letzte Absatz zeigt, war die britische Premierministerin ebenfalls eine mithaltende Akteurin in der damaligen Werkstatt der Weltpolitik. Im Allgemeinen wird gesagt, dass sie sich der Idee einer Wiedervereinigung Deutschlands widersetzte. Aufgrund der dokumentarischen Evidenz kann man das bestätigen: sie widersetzte sich wahrlich, in Wort und Tat. So sagte sie beispielsweise am 23. September 1989 in Moskau zu Gorbatschow: „Wir [d. h. der Westen] wollen keine Vereinigung Deutschlands.“62 Und sie zog unter betroffenen Staats- und Re 59 Telefongespräch des Bundekanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 5. Febr. 1990, Dok. Dt. Einheit, hier: 758. 60 Siehe: https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1990-02-24--Kohl.pdf (aufgerufen am 14. März 2022). 61 Lettre de Mme. Thatcher, 13. Juni 1990. 62 „Großbritannien und Westeuropa“, so Thatchers weitere Ausführung, „sind nicht an einer Vereinigung von Deutschland interessiert. Was in dem Kommuniqué der NATO steht, klingt zwar anders, aber ignorieren Sie es.“ Am Ende seiner Sitzung in Brüssel am 29.–30. Mai 1989 verabschiedete der NATO-Ministerrat ein Kommuniqué, das unter Abs. 26 festhält: „Wir streben einen Zustand des Friedens in Europa an, in welchem das deutsche Volk durch freie Selbstbestimmung seine Einheit wiedererhält.“ Siehe: https://www.nato.int/docu/comm/49-95/c890530a.htm (aufgerufen am 14. März 2022). Siehe: The Thatcher-Gorbachev Conversations. Agreement against German Unification. Encouragement on Economic Reform. Argument over Nuclear Abolition. National Security Archive Elec­tronic Briefing Book No. 422, Posted April 12, 2013, Edited by Svetlana Savranskaya and Tom Blanton, https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB422/docs/ ­ Doc%207%201989-09-23%20Gorbachev%20Thatcher.pdf (aufgerufen am 16. März 2022), oder http://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/120816 (aufgerufen am 16. März 2022).

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gierungschefs umher, um für ihren Widerstand jene Verbündete zu gewinnen, auf die sie hoffte: Mitterrand, Gorbatschow, Andreotti, Lubbers, Schlüter …63 Doch in ihrem soeben angeführten Brief vom 13. Juni 1990 an Mitterrand teilte sie diesem mit, dass der größte Teil ihres Gesprächs mit Gorbatschow der Sicherheit in Europa, dem Problem Deutschland und dessen Mitgliedschaft, einmal vereinigt, in der NATO galt. Aus ihren Worten geht klar hervor, dass sie zu diesen Themen als Mitwirkende in der Werkstatt sprach, also mit Kohl, Bush und Mitterrand eine Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in der NATO anstrebte. Sie widersetzte sich, und sie hielt mit, so scheint es. Kann man das verstehen, und wenn ja, wie? Hält man sich an die dokumentarischen Zeugnisse, wie beispielsweise die über die Margaret Thatcher Foundation zugänglichen, fällt auf, dass Margaret ­Thatcher im Laufe des Februars 1990 damit begann, von der Wiedervereinigung so zu sprechen als rechne sie mit ihr und akzeptiere sie auch. So erklärte sie am 8. Februar 1990 im House of Commons bei einer Fragestunde, daß die bevorstehenden Wahlen in der DDR (ihr Begriff war „East Germany“) „wahrscheinlich sehr entscheidend sein werden und wahrscheinlich zu der Vereinigung von Deutschland führen werden.“64 Am 13. Februar bekundete sie bei einer Tischrede zu Ehren des polnischen Premierministers Tadeusz Mazowiecki: „Selbstverständlich akzeptieren wir das Recht des Volkes in den zwei deutschen Staaten, über die eigene Zukunft in Freiheit zu entscheiden.“65 Am 18. Februar 1990 befand sie in einer Rede vor Vertretern der Juden in Großbritannien: „Es gibt keinen Zweifel darüber, dass dieses Zusammenkommen der beiden Teile von Deutschland geschehen wird.“66 Man kann vermuten, dass eine Äußerung Thatchers wie die letztere mit dem Beschluss zusammenhängt, den die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Frankreichs, Großbritanniens, der UdSSR und der USA am 13. Februar 1990 bei einem KSZE-Treffen in Ottawa fassten. Sie waren übereingekommen, Gespräche über die „äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit“ aufzunehmen. Bekanntlich führte ihr Beschluss zu den dann so genannten „Zwei-PlusVier-Verhandlungen“, an deren Ende mit einem formalen Vertrag – dem „Zwei 63

Vom Europäischen Gipfel in Straßburg am 8. und 9. Dezember 1989 berichtete Elisabeth Guigou, die als Europaberaterin von Mitterrand an ihm teilnahm, Thatcher habe sich unter den Teilnehmern allseits darüber beklagt, dass man überhaupt über eine Wiedervereinigung Deutschlands spreche. Sie sei „herumgegangen“ und hätte deswegen „mit jedem gesprochen“ (Forschungsgespräch mit Elisabeth Guigou, 8. Oktober 2003). Gorbatschow war natürlich kein Teilnehmer des Gipfels. 64 Siehe: https://www.margaretthatcher.org/document/108009 (aufgerufen am 30. März 2022).  – Thatchers Aussage wurde sogleich in Bonn von Horst Teltschik wahrgenommen. Siehe: 329 Tage, 134. 65 Siehe: https://www.margaretthatcher.org/document/108014 (aufgerufen am 30. März 2022). 66 Siehe: https://www.margaretthatcher.org/document/108017 (aufgerufen am 30. März 2022). – Die Rede ist in Auszügen (mit der Passage zur Wiedervereinigung) abgedruckt in: Lawrence Freedman (Hg.), Europe Transformed. Documents on the end of the Cold War, New York: St. Martin’s Press, 1990, 485–487.

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Plus-Vier-Vertrag“ – die Vereinigung Deutschlands geregelt und realisiert wurde. Das in Ottawa bewerkstelligte Zwei-Plus-Vier-Format dürfte Thatcher den gewichtigsten Grund ihres Widerstands gegen die Wiedervereinigung Deutschlands entzogen haben. Noch am 25. Januar hatte sie auf eine entsprechende Frage hin im House of Commons die Bedingungen formuliert, unter denen allein für sie eine Wiedervereinigung – für sie offenbar eher ein hypothetisches Ereignis – erfolgen könnte: „Die Wiedervereinigung könnte nur vor dem Hintergrund von Stabilität und Sicherheit stattfinden, und unter Berücksichtigung der NATO.“67 Bei ihrer Tischrede für Tadeusz Mazowiecki am 13. Februar nannte sie wieder solche Bedingungen: „Es ist unabdingbar, dass Deutschlands Vereinigung die Stabilität und Sicherheit Europas aufrechterhalten und nicht schwächen wird.“ Aber jetzt klang es so, als setze sie der absehbaren Wiedervereinigung nur noch etwas voraus. Und tatsächlich fuhr Thatcher mit dem pragmatischen Satz fort: „Und deswegen müssen diese Angelegenheiten sehr sorgfältig einer Lösung zugeführt werden, ganz in Absprache mit Deutschlands Verbündeten und Nachbarn.“68 Die Lösung wurde mit dem Ottawa-Beschluss der Außenminister der sechs genannten Länder angebahnt. Mit ihr entfiel, was Thatcher in ihrem Widerstand angeführt hatte. Zwei Tage nach dem Ottawa-Beschluss, am 15. Februar, tat Thatcher diesen „Erfolg“ im House of Commons kund: „Unsere Besorgnis war, über einen angemessenen Rahmen zu verfügen, in dem wir die Sicherheit und Stabilität in Europa gewährleisten können, und es gelang uns, dies bei der Konferenz in Ottawa, die gerade geendet hat, zu erreichen. Wir verfügen mit den vier Berlin Mächten [sic] plus den beiden Deutschlands über einen Rahmen.“69 Das Wort „Erfolg“ wurde von mir hier in Anführungszeichen gesetzt. Denn man mag fragen: Wessen Erfolg? Das Foreign and Commonwealth Office in London veröffentlichte 2009 Dokumente des Office zur britischen Deutschlandpolitik in der Periode der Wiedervereinigung. Aus diesen Dokumenten kann zum einen geschlossen werden, dass Thatchers „Feindseligkeit“ in Sachen deutsche Wiedervereinigung, nach den Worten Patrick Salmons, der „britischen Diplomatie in den entscheidenden Monaten zwischen November 1989 und Februar 1990 eine Paralyse zufügte.“70 Zum anderen wurde „Thatchers Einfluss“, wieder in den Worten Salmons, nach und nach durch das Foreign and Commonwealth Office, von Douglas Hurd geleitet, „neutralisiert“. Vom März 1990 an war, nach diesem Befund, „Thatchers Widerstand überwunden“.71 67

Siehe: https://www.margaretthatcher.org/document/107997 (aufgerufen am 30. März 2022). Siehe: https://www.margaretthatcher.org/document/108014 (aufgerufen am 30. März 2022). 69 Siehe: https://www.margaretthatcher.org/document/108015 (aufgerufen am 30. März 2022). 70 Patrick Salmon, „The United Kingdom: Divided Counsels, Global Concerns“, in: Frédéric Bozo / Andreas Rödder / Mary Elise Sarotte (Hg.), German Reunification. A multinational history, New York: Routledge, 2017, 153–176. 71 Ebd., die Abschnitte „How effective was British policy?“ und „The Foreign Office and the ‚German Question‘“. – Bei dem Witness Seminar in London äußerte sich Bertrand Dufourcq ebenfalls dahingehend, dass der entschiedene Widerstand Thatchers gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands bis zum März 1990 anhielt (Wit. Sem., 102). 68

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Britische Diplomaten mit Douglas Hurd als Außenminister an ihrer Spitze beteiligten sich entschlossen und vollauf an den Vier-Plus-Vier-Verhandlungen. Und Margaret Thatcher, mit diesem von den britischen Diplomaten mitgeschaffenen „Rahmen“ augenscheinlich zufrieden, hielt in der Werkstatt der Weltpolitik mit. Die Achse Dumas und Genscher Wie schon erklärt wurde, gab es für Helmut Kohl und François Mitterrand im Herbst 1989 und auch noch im Winter Spannungen in ihrem Verhältnis. Demgegenüber dauerte die freundschaftliche Beziehung, die zwischen den beiden Außenministern, Roland Dumas und Hans-Dietrich Genscher, seit langem bestand, ungeschmälert an und bewährte sich gerade in dieser schwierigen Zeit. Dank der „hervorragenden Qualität ihrer Beziehungen“, die Mitterrands Berater Jean ­Musitelli schon 1986 in einer Aktennotiz festhielt,72 bildeten Dumas und Genscher zwischen Frankreich und der Bundesrepublik eine politische Achse. Entlang dieser Achse konnten Angelegenheiten, bei denen es im Arbeitsprozess zwischen Paris und Bonn zu Beeinträchtigungen oder Missverständnissen gekommen war, produktiv aufgegriffen und zu einer Klärung hingelenkt werden. Genscher, so hielt Dumas am 2. Mai 1989 nach einem Treffen mit dem deutschen Außenminister in Paris für Mitterrand fest, „ist bereit, zu jedem Augenblick wieder nach Paris zu kommen, um mich zu treffen. Er lädt mich fortlaufend nach Bonn ein, um die Arbeit, die wir begonnen haben, weiterzuführen.“73 Nach dem Urteil von Bertrand Dufourcq spielte der deutsche Außenminister eine „Schlüsselrolle, als sich Mitterrand und Kohl nicht einig waren und ziemlich schroffe Worte zwischen ihnen hin und her gingen.“74 Dabei nützte Genscher vor allem seine über Dumas verlaufende Achse nach Paris. Sie war, wie Horst Teltschik Jahre später bestätigte, „hilfreich“.75 Die Achse war ein politisches Instrument. Und als solche wurde sie auf der französischen Seite sehr wohl geschätzt. Sie gestattete es, vom Élysée her gesehen, Schwierigkeiten mit Kohl begegnen und über das Innenleben der Bonner Regierung mehr erfahren zu können. So richtete Elisabeth Guigou am 4. Dezember 1989 eine Aktennotiz an Mitterrand bezüglich des Sitzungsprogramms für den bevorstehenden europäischen Gipfel in Straßburg. Im Élysée erwartete man, dass das Verhandeln mit dem Kanzler Kohl dabei mühevoll sein würde. Das erklärt den Vorschlag, den Guigou dem französischen Präsidenten machte: „Beim Mittag 72

Jean Musitelli, Note pour le Président de la République, Objet: Votre entretien avec M. Genscher, 21. Mai 1986. 73 Roland Dumas, Note à l’attention de Monsieur le Président de la République, 2. Mai 1989, AN-AG/5(4)/CDM/33. 74 Wit. Sem., 103. 75 Forschungsgespräch mit Horst Teltschik, 9. Jan. 2017. – In einer Aktennotiz vom 23. März 1990 für Mitterrand zu dessen „Deutschlandpolitik seit dem Herbst [1989]“ hob Hubert Védrine unter anderem die „sehr zahlreichen Unterredungen DUMAS-GENSCHER“ hervor (Note pour le Président de la République, 23. März 1989).

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essen werden Sie das Thema der Wirtschafts- und Währungsunion anschneiden. Wünschen Sie, dass dann die Außenminister anwesend sein werden? Der hauptsächliche Vorteil dabei wird sein, dass Herr Genscher auch hören wird, was Kanzler Kohl sagt.“76 Über die Achse Genscher – Dumas liefen im Herbst 1989 ebenfalls Nachrichten aus Bonn über eine starke Verstimmung zwischen dem Kanzler und dem Außenminister. Am Morgen des 9. Dezember, also bei dem Straßburger Gipfel, trafen sich, gleich nach dem gemeinsamen Frühstück von Mitterrand und Kohl, in einem Gang Roland Dumas, Elisabeth Guigou, Hubert Védrine, Jacques Attali, und Mitterrand. Sie sprachen für einen Augenblick miteinander, unter sich. Dumas hatte dabei eine Neuigkeit zu übermitteln: „Genscher hat mir von einem sehr unerfreulichen Gespräch mit dem Kanzler am 4. November erzählt, das drei Stunden lang dauerte. ‚Unsere Wege [so gab Dumas seinen deutschen Kollegen wieder] werden sich trennen. Die Verbindung ist seitdem abgebrochen‘.“77

Charakterstudien Ein Durcharbeiten der dokumentarischen Quellen zu unserem Thema ist nicht zuletzt ein hermeneutisches Unterfangen. Es führt, ist man ihnen einmal auf der Spur, zu Erkenntnissen über die Charaktere der uns hier interessierenden Regierungsakteure. Einerseits offenbarten diese während ihres Regierungshandelns in der Form ihrer Gespräche, zumeist unabsichtlich, eigene Charakterzüge. Andererseits konnten sie selbst sehr bewusst über den jeweiligen Charakter abwesender Akteure sinnieren und über diesen befinden. Sie brachten so eine politische Charakterologie sowohl ihrer selbst wie von anderen hervor.78 Über das Medium entsprechender Dokumente eröffneten sie denn vorzügliche Zugänge zu dem zugrundeliegenden Denken wie dem Verhalten und Vorgehen im Verfolgen der damaligen Politik. Mitterrand hatte eine Vorliebe dafür, den Charakter anderer zu studieren. Er sah in ihnen einen Weg zum Verständnis von Geschichte. Auf die Frage in einem Zeitungsinterview, „Ist die Persönlichkeit derer, mit denen sie beim Leiten der Geschicke der Welt in Verbindung sind, für Sie wichtig?“, gab er zur Antwort: „Ja, sicher, die Geschichte wird von ihren Akteuren gemacht.“79 76 Elisabeth Guigou, Note pour le Président de la République. Objet: Ordre du jour du Conseil Européen, 4. Dezember 1989, AN-AG/5(4)/4133. 77 Conversation François Mitterrand, Roland Dumas, Jacques Attali, Elisabeth Guigou, Hubert Védrine, après le petit déjeuner avec Kohl et avant reprises des séances, AN-AG/5(4)/CD/73. 78 Zum Begriff „politische Charakterologie“ und dessen Anwendung siehe: Amanda Anderson, The Way We Argue Now: A Study in the Cultures of Theory, Princeton: Princeton University Press 2006, 129–135; Hans-Jörg Sigwart, Political Characterology: On the Method of Theorizing in Hannah Arendt’s Origins of Totalitarianism, in: American Political Science Review, Bd. 110, Nr. 2, Mai 2016, 265–277. 79 Interview de Monsieur François Mitterrand, Président de la République Française, accordée au Times, 24. Oktober 1984.

Charakterstudien

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Er selber stellte als Präsident Frankreichs reichlich Material zur Verfügung für eine politisch-historische Charakterologie seiner Person bei der Führung der Geschäfte seines Landes. Denn er trat dabei in einer Vielfalt von Rollen auf. Während er zum Beispiel im Ministerrat sprach, oder sich mit einem anderen Regierungsakteur unterredete, entwickelte er nicht selten Überlegungen, die ihn im Reden ganz zu absorbieren schienen, und in denen er, nachdenklich wie einer, der mit sich zurate geht, unterschiedliche Gesichtspunkte zu einer Sache gegeneinander abwog.80 Oder er äußerte sich gleich einem routinierten Kommentator mit beißender Ironie zu den Wirren im östlichen Europa während des Winters 1989–90: „Jalta, immerhin, war ganz bequem. Man weiß von Gefangenen in ihrer Zelle, die ganz durcheinander sind, wenn sie sich vorstellen, sie wären draußen.“81 Leidenschaftlich hingegen stimmte er den Gesang eines Rebellen gegen „Jalta“ an, und vorausschauend ermahnte er die Akteure im Prozess der dramatischen Ereignisse von 1989–90, sie möchten diese doch in eine stabile Ordnung überführen und so einer Situation wie der von „1913“ zuvorkommen.82 Seine ‚Persona‘ war dann wieder ganz und gar der unerbittliche französische Präsident, als er wegen der Oder-Neisse-Grenze mit dem taktierenden deutschen Kanzler im Streit lag.83 Und er handelte nach eigener Darstellung in der Rolle eines kühl kalkulierenden Unterhändlers, der weiß, dass die „Eiserne Lady“ letztlich nachgeben wird, wenn die von ihr bevorzugt eingesetzte Waffe, pure Willenskraft, gegen sie selber gerichtet wird: „Man sollte sich darüber klar werden, dass es einen Willen nicht nur auf der anderen Seite des Kanals gibt“, erklärte Mitterrand. „Die so entschlossene Madame Thatcher,“ fuhr er fort, „musste [1984] in Fontainebleau kapitulieren, mit Tränen in ihren Augen, und ein Abkommen unterschreiben, gegen das sie seit vier Monaten gekämpft hatte.“84

80 Siehe zum Beispiel die amerikanischen und französischen Protokolle von den beiden Unterredungen zwischen Mitterrand und Bush am 19. April 1990 auf Key Largo, Florida: Memorandum of Conversation, 19. 04. 1990, subject: Meeting With President Mitterrand of France (https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1990-04-19--Mitterrand[1].pdf und https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1990-04-19--Mitterrand[2].pdf (aufgerufen am 23. März 2022) sowie AN-AG/5(4)/CD/68). 81 JLB, 31. Januar 1990, zum Ministerrat am selben Tag. 82 Siehe unten Kapitel 5 den Abschnitt „Mitterrands zweite Tür“. 83 Ein gemeinsames Essen von Mitterrand und Kohl am. 15. Februar 1990 im Élysée war der Höhepunkt des Streits. Das französische Protokoll davon, von Elisabeth Guigou verfasst, beschreibt anschaulich Kohls Erregheit; an einer Stelle fügte Guigou hinter Kohls Namen die Bemerkung bei: „sehr rot“. (Dîner F. Mitterrand / H. Kohl 15 février 1990 à l’Élysée, ANAG/5(4)CD/73, Dossier 1). – Das deutsche Protokoll, ganz in Amtsdeutsch verfasst, vermittelt demgegenüber den Eindruck von einem weitaus gelasseneren Gespräch. Vgl. Dok. Dt. Einheit, S. 842–852, insbesondere 847–848. 84 JLB, 2. März 1989, zum Ministerrat am 15. Februar 1989. Mitterrand bezog sich hier auf den Europäischen Gipfel am 25. und 26. Juni 1984 in Fontainebleau. Nach vielem Schachern hin und her bekam Thatcher nicht den vollen Rabatt auf den britischen Beitrag zum europäischen Haushalt, den sie gefordert hatte. Am Ende musste sie einen Rabatt von gerade 66 % akzeptieren – und das war der Grund für die Tränen, die Mitterrand in ihren Augen sah.

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Charakterstudien I: Mitterrand, Cheysson, Bush, Kohl und Kissinger zu Margaret Thatcher … und Thatcher und Waldegrave zu Mitterrand Eine bestimmte Vorstellung von Margaret Thatcher setzte sich in der Mitterrand-Regierung schon frühzeitig fest. Nachdem er Thatcher bei einem Treffen in Brüssel erlebt hatte, skizzierte Claude Cheysson, der erste Außenminister in den französischen Regierungen unter Mitterrand, seine Einschätzung der britischen Premierministerin auf einem Blatt Papier (siehe nächste Seite) und übergab es Mitterrand. Dieser las es offensichtlich, denn er ließ es mit seinem Vermerk „G. Elgey. Ch. Cheysson à Bruxelles. c / o Mme Thatcher“ an Georgette Elgey weiterreichen, für sein präsidentielles Archiv. Cheysson hatte geschrieben: „Diese Frau ist seltsam, oder es mangelt ihr vielmehr an Intelligenz. Wenn sie auf eine Mauer stößt, weicht sie zurück, sobald sich eine Öffnung bietet, glaubt sie von ihr, dass diese weit und unbeschränkt ist, und sie nimmt wieder voll massiv ihren Angriff auf. Um mit ihr einen Kompromiss eingehen zu können, ist es notwendig, sich ständig zu bewegen, was sich widerspricht.“85 Cheyssons Einschätzung mochte Mitterrand als eine Objektivierung seiner eigenen auffassen. Nach dem Beispiel seiner oben angeführten Beobachtung vom Europäischen Gipfel in Fontainebleau hatte er bei Margaret Thatcher denselben Grundzug entdeckt, den auch Cheysson beschrieben hatte. Die britische Premierministerin wich vor entschiedenem Widerstand zurück, attackierte wieder und zog sich erneut zurück, und fand sich schließlich in der bloßen Illusion, sie habe sich durchgesetzt. Thatcher, so sagte Mitterrand am 13. Juli 1988 im Ministerrat, ist „eine Person, die sehr resolut ist, aber sie ist nicht immer resolut.“86 Vor seinen Augen galt für Thatchers Charakter: „Wenn sie nachgegeben hat, sagt sie: Ich habe gewonnen! Sie hat Charakter, aber sie weicht zurück, und sie liebt die Propaganda.“87 Was schloss Mitterrand aus dem, was er sah? Zum einen befand er, Margaret Thatcher deute in Erfolge um, was ihr nicht gelungen war, und verbreite dann Meldungen solcher „Erfolge“. Ein Bericht der französischen Botschaft vom 4. Juli 1989 illustriert dies beispielhaft. Am 26. und 27. Juni hatte eine Sitzung des Europäischen Rates stattgefunden, bei dem Entscheidungen zur Verwirklichung der geplanten Wirtschafts- und Währungsunion getroffen worden waren.88 Wenig später, am 29. Juni, gab Thatcher im britischen Unterhaus eine Erklärung zu den Beschlüssen des Gipfels ab. Dem erwähnten Bericht zufolge  – den Mitterrand 85 Die Skizze ist handgeschrieben, ohne eine Angabe eines Datums. In einer anderen Handschrift wie der von Cheysson ist vermerkt: „1983 ou 84? mars“. 86 JLB, 18. Juli 1988, zum Ministerrat am 13. Juli 1988. 87 Conseil Européen de Madrid, Petit déjeuner FM [= Mitterrand]/HK [= Kohl], 27. Juni 1989, AN-AG/5(4)/CD/73. 88 Siehe: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/1980-1989/1989/69-89_-_1. html (aufgerufen am 4. April 2022).

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nachweislich las – stellte Thatcher jene Beschlüsse, bei denen sie einen Kompromiss eingegangen war, so dar, dass sie ganz nach einem eigenen Erfolg aussahen: „Frau Thatcher wollte zeigen, dass sie in Madrid sehr wenig nachgegeben hat.“89

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TD Londres 1145, 4 juillet 1989, Objet: Suites du Conseil Européen de Madrid: Déclaration de Mme Thatcher aux Communes (Londres, 23 juin 1989), [dieses Datum ist unrichtig, das richtige ist der 29. Juni 1989], AN-AG/5(4)EG/57. Wie sein üblicher Vermerk „vu“ zeigt, las Mitterrand den Bericht. – Thatchers Erklärung ist zugänglich über: https://www.margaretthatcher. org/document/107716 (aufgerufen am 4. April 2022). Am Ende derselben hielt die Premierministerin fest: „Das hauptsächliche Ergebnis des Rates – eine Vereinbarung zur Ausführung eines

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Zum anderen erkannte Mitterrand, dass ihm Thatcher nicht gewachsen war und sie sein eigenes Machtverhalten nicht durchschauen würde. Er sah, wie sie, nach dem Bild Cheyssons, gegen die Mauer rannte, und wusste, dass ihr schon das Anrennen wie ein Durchbruch schien, und sie schließlich beigab. „Sie hat in Fontainebleau weniger erhalten, als man ihr vorher in Brüssel angeboten hat.“90 Mit Thatchers Hang zur Selbstillusion konnte er arbeiten, und er tat es. Im Europäischen Rat, bei anderen internationalen Treffen, bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands. Und in Gesprächen mit ihr. Will man diese richtig verstehen, beziehungsweise zutreffend deuten, muss sein Verständnis ihres Charakters und seines daraus folgenden Verhalten ihr gegenüber vorausgesetzt werden. Mit Margaret Thatcher, so erklärte Jean-Louis Bianco, habe Mitterrand über Deutschland auf eine andere Weise gesprochen als mit Helmut Kohl. Ihm, Bianco, sei hier eine „Doppelzüngigkeit“ (double langage) Mitterrands aufgefallen.91 Bei dem Witness Seminar an der deutschen Botschaft im Oktober 2009 äußerte sich William A. Waldegrave, in den Jahren 1988–90 britischer Staatsminister für Äußere und Commonwealth Angelegenheiten, aus englischer Perspektive ganz ähnlich und holte dabei aus: „Ich glaube nicht, dass François Mitterrand ein bisschen von dem glaubte, was er ihr sagte. Er hetzte sie auf. Ich las diese Dokumente [die vom britischen Foreign and Commonwealth Office veröffentlichten], in der großen Hoffnung, dass sie meine Erinnerung an ihn belegen würden, wie er herkam und sagte: ‚Das ist der Herbst 1913, Margaret‘, und da steht es so. Voller Begeisterung darüber ging sie dann weg, und das [ihr von Mitterrand aufgereizter Gemütszustand] rief einen weiteren Ausfall [von ihr] in der Öffentlichkeit hervor. Er [Mitterrand] war ein sarkastischer Mensch, jedenfalls, und er hatte Spaß dabei, aber er schob Großbritannien auch zur Seite, was der französischen Politik nie ferne liegt.“92 Margaret Thatcher hat, wie schon erwähnt, das Machtverhalten Mitterrands ihr gegenüber, das sich aus seinen Deutungen ihres Charakters herleitete, nicht begriffen. Das lag an der Starre ihrer Vorstellungen von den Charakteren anderer. Für ihr Regieren übte sie sich zwar sehr wohl in Charakterzeichnungen. Aber diese fielen nicht oder kaum anders aus als das Charakterbild, das sie schon immer im Kopf hatte. Zutiefst voreingenommen, beobachtete sie bei einem anderen Regierungsakteur – oder einer anderen Nation, wie zum Beispiel der deutschen – nur, was ihre vorgefasste Meinung bestätigte. Deswegen begriff sie nicht, wie gut Mitterrand sie begriff. Dafür projizierte sie ihrerseits auf Mitterrand ihr vorgegebenes Bild von ersten Schritts zu einer Wirtschafts-und Währungsunion – liegt sehr im Interesse der britischen Industrie und der City von London, während die Rechte dieses Hauses voll gewahrt bleiben. Keineswegs isoliert, wie manche behaupteten, konnte das Vereinigte Königreich eine wichtige Rolle dabei spielen, den Rat zu diesen vernünftigen und praktischen Beschlüssen zu bringen.“ 90 Entretien entre Monsieur le Président de la République et Monsieur Henry Kissinger, 28. Juni 1984, AN-AG/5(4)/CD/74. 91 Forschungsgespräch mit Jean-Louis Bianco, 3. Juni 1996. 92 Wit. Sem., 62.

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seiner Person. Bezüglich der Wiedervereinigung Deutschlands wusste sie folglich, wie sie in ihren Memoiren schrieb, von seinen „heimlichen Befürchtungen“, und sein provokativ übertriebenes Murren über „1913“ – wie damals könne jetzt wieder über Europa eine Katastrophe hereinbrechen – nahm sie für bare Münze. Also glaubte sie, dass sie beide, Mitterrand und sie, „offenbar den Willen dazu“ hatten, „den deutschen Moloch in die Schranken“ zu weisen. Doch dann musste sie erkennen, dass der französische Präsident bezüglich der Wiedervereinigung öffentlich anderes sagte und anders handelte als es ihrer Auffassung von seinen Vorstellungen zu Deutschland entsprach. Die Empirie von Mitterrands Politik floss indes an ihr vorbei, und sie glaubte stattdessen, einen Bruch in Mitterrands Charakter wahrnehmen zu können, dessen „Hang zur Schizophrenie“.93 Ihre Vorstellung von seinen Vorstellungen musste stimmten, also stimmte etwas mit diesen nicht. Derlei Charakterologisches wäre nur wunderlich, ginge es um Geschehen und Personen im Alltag. Aber wir sind bei Staats-und Regierungschefs und in deren Welt großer politischer Macht. Werden hier Charaktere eingeschätzt, wird Macht bemessen, und, wenn es Zeit dafür ist, entsprechend des konstruierten Kräftebilds gehandelt. Persönlichkeitsbilder haben erhebliche Konsequenzen. Wunderlich mögen die Urteile zwar sein, vielleicht auch misogyn, aber sie sind dann umso brisanter. Henry Kissinger mag übertrieben haben, als er am 28. Juni 1984 zu Mitterrand sagte: „Frau Thatcher schlingert zwischen Ideologie und Psychiatrie.“94 Aber so wie sie Thatchers Charakter wahrnahmen, schauten führende Akteure in der Zeit der Wiedervereinigung mit Betroffenheit und Sorge auf sie. Beispielhaft dafür ist ein Gedankenaustausch zwischen François Mitterrand und George Bush am 21. Mai 1989 im Sommerhaus von Bush in Kennebunkport, Maine. Das übergeordnete Thema war Deutschland. Und in dem Gespräch fragen sich die beiden Präsidenten: Wie stellt sich die britische Premierministerin dazu? Deren Haltung sei „rein ideologisch“, befindet Bush. Und Thatcher „verachte Kohl“. Mitterrand stimmt bei, indem er auf die „tiefe Feindseligkeit zwischen Kohl und Thatcher“ verweist, und hervorhebt, die letztere könne sich mit der deutsch-französischen Partnerschaft nicht abfinden, sie „ertrage sie nicht“. Überdies sei bei Thatcher eine „Verkrampfung“ bemerkbar.95 Betroffenheit und Sorge kennzeichnen ebenfalls die Sätze zu Thatcher im Gespräch zwischen George Bush und Helmut Kohl am 24. Februar 1990. „Ich bin, was sie [Thatcher] betrifft, hilflos“, klagt Kohl. „Ich verstehe sie nicht.“ Der deutsche 93

Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf: Econ, 1993, 1101–1103. 94 Entretien entre Monsieur le Président de la République et Monsieur Henry Kissinger, 28. Juni 1984, AN-AG/5(4)/CD/74. 95 Entretien avec George Bush à Kennebunkport (Maine), 21. Mai 1989, AN-AG/5(4)CD/74. – Mitterrand aber schonte auch den amerikanischen Präsidenten nicht. Bei einem privaten Abendessen am 5. Juli 1989 mit Michael Gorbatschow in Paris sagte er zu diesem: „Bei Bush als Präsidenten gibt es ein sehr großes Manko – ihm fehlt jedes eigenständige Denken.“ (https:// digitalarchive.wilsoncenter.org/document/120812 (aufgerufen am 10. April 2022)).

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Kanzler bekennt indes, wie ihm geschieht, wenn ihn die britische Premierministerin trifft: „Frau Thatcher spricht mit mir in einer Art, die ich mir von niemandem sonst gefallen ließe.“ Bushs Worte andererseits sind voll der Fürsorge, er spricht von der britischen Premierministerin wie ein Therapeut: „Wir [die USA] fürchten nicht die Gespenster der Vergangenheit; Margaret tut es. Ich rief Margaret heute an, allein um ihr zuzuhören, was ich eine Stunde lang tat.“96 „Haben Sie die Memoiren von Thatcher gelesen?“, wurde François Mitterrand von Helmut Kohl am 13. Oktober 1993 gefragt. Offensichtlich war dies der Fall. „Was die Wiedervereinigung angeht“, antwortete der französische Präsident, sind sie „sehr aufschlussreich.“ Wenn nämlich das, was Thatcher sage, wahr sei, dann sei das der „Beweis, dass es ihr an Mut gefehlt hat, da sie am Ende immer nachgegeben hat. Wenn sie so ablehnend gegenüber der deutschen Wiedervereinigung eingestellt war, warum hat sie diese am Ende akzeptiert?“97 Mitterrand findet sich durch Thatchers Memoiren in seiner eigenen Einschätzung voll bestätigt.98 Charakterstudien II: Thatcher und Mitterrand zu Michael Gorbatschow Westliche Regierungsakteure waren Michael Gorbatschow während seiner ganzen Zeit an der Spitze der Sowjetunion gut Freund. Das hatte zwei Gründe: zum einen ihr Bild von seiner Person und zum anderen ihr Wunsch, dass er in seinen führenden Positionen, bliebe, als Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, was er seit März 1985, und als Staatspräsident der Sowjetunion, was er seit März 1990 war. Die beiden Gründe bezogen sich aufeinander; der Wunsch nach einem Verbleib Gorbatschows in seinen Ämtern entsprang dem positiven Bild, das sich die westlichen Regierungsakteure von dem Charakter Gorbatschows gemacht hatten. Mit dieser Führungsfigur im Kreml schien der Westen im Osten einen echten Partner anzutreffen, jemanden, der sich in vielem, was Sprache, Denken, Auftreten anging, verwandt zeigte. Sollte, so konnte man sich im Westen hoffnungsvoll fra 96

Siehe: https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1990-02-24--Kohl.pdf (aufgerufen am 10. April 2022).  – Im deutschen Protokoll dieses Gesprächs (Dok. Dt. Einheit, S. 860–873, hier: 866) werden keine direkten Bemerkungen Helmut Kohls zu Margaret Thatcher zitiert, und in einer Anmerkung zu dem Protokoll wird erklärt: „Ein Satz nicht freigegeben.“ Auf die Bemerkung von Bush, er habe vor dem Besuch des Bundeskanzlers mit Thatcher eine Stunde lang telefoniert, wird indirekt verwiesen. 97 Entretien du Président de la République et du Chancelier Fédéral, 13. Oktober 1993. 98 Mitterrand begann schon früh in seiner Regierungszeit mit anderen über Margaret Thatcher zu spotten, wie der kurze Wortwechsel zu ihr zwischen ihm und Helmut Schmidt von Anfang Oktober 1981 zeigt: „DER PRÄSIDENT: Mir scheint, Frau THATCHER ist eine enge Freundin von Deutschland; jedenfalls ist sie eine gute Anwältin Ihrer Interessen. – DER KANZLER: Wenn Frau THATCHER für mich eintritt, fange ich an, mich zu beunruhigen.“ Entretien entre le Président de la République et la [sic] Chancelier Helmut Schmidt, Latche, 8. Oktober 1981. AN-AG/5(4)/CD/72.

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gen, der Sowjetunion mit Gorbatschow ein Repräsentant vorstehen, durch den sie in der Weltpolitik möglicherweise ganz anders handeln würde als zuvor? Am Anfang wurden Eindrücke gesammelt. Aufseiten von Mitterrand und Thatcher. Sie tasteten sich an die Person Gorbatschows heran. Diese faszinierte sie. Sie wollten sie aufdecken, wollten die Impulse ausmachen, denen der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU bei der Ausübung seiner Macht folgte. Sie gedachten, Gorbatschows Charakter in Gorbatschows politischem Handeln erkennen und von daher die Ausübung seiner politischen Macht abschätzen zu können. Mitterrand horchte natürlich auf, als er bei einem Diner im Kreml am 21. Juni 1984 Worte von Gorbatschow hörte, aus denen ein Realitätssinn und ein Freimut sprach, die er inmitten der versteinerten Riege der Kremlherrscher gewiss nicht erwartet hatte. Konstantin Tschernenko, zu der Zeit Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, hatte sich bei der Unterhaltung am Tisch an Gorbatschow gewandt, und diesen in dessen Eigenschaft als ZK-Sekretär für Landwirtschaft gefragt: „Was macht die Ernte?“ Gorbatschow antwortete: „Sie fällt sehr schlecht aus.“ Tschernenko fragte zurück: „Warum?“ Gorbatschow erwiderte: „Es liegt am staatlichen Planungswesen, es ist viel zu viel zentralisiert, man bräuchte mehr Initiative.“ Und nun wollte Tchernenko wissen: „Seit wann denn läuft es schlecht?“ Die Antwort, die Gorbatschow darauf gab, hatte es in sich: „Seit 1917!“ Also seit der russischen Revolution oder, mit anderen Worten, seit der Umwandlung Russlands in ein kommunistisches Land.99 Mit seiner Person erzielte Gorbatschow auch eine Wirkung auf Margaret Thatcher, als er sie am 16. Dezember 1984 auf dem Landsitz der britischen Premierminister in Chequers besuchte. Ihre Unterredung dort dauerte mehr als fünf Stunden. Thatcher nahm sich also Zeit dafür, ihn kennenzulernen. Ihre Begegnung mit Gorbatschow sei, so erklärten Vertreter der britischen Regierung hinterher, auf eine „sehr freundliche“, „sehr konstruktive“ Weise verlaufen.100 Thatchers eigene Beschreibung ihres Kennenlernens von Gorbatschow fiel emphatisch aus. Sie zeigte sich geradezu hochgestimmt, als sie am nächsten Tag in einem Fernsehinterview von Gorbatschow sprach: „I like Mr. Gorbachev. We can do business together. – Mir gefällt Herr Gorbatschow. Wir können miteinander Geschäfte machen.“101 Aber sie schränkte indes gleich wieder ein. „Wir glauben beide an unsere eigenen politischen Systeme. Er glaubt fest an seines, ich glaube fest an meines.“102 Bei solchen Einschränkungen blieb sie in ihren Aussagen über Gorbatschow, im Unterschied zu Mitterrand, den der Eindruck des so erstaunlichen Auftretens

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Mitterrand erzählte es so Hans-Jochen Vogel. Siehe: Entretien avec M. Vogel, 20. Okt. 1987. Siehe: http://news.bbc.co.uk/onthisday/hi/dates/stories/december/16/newsid_2560000/256 0125.stm und https://www.nytimes.com/1984/12/17/world/thatcher-and-russian-discuss-arms. html (aufgerufen am 10. April 2022). 101 Siehe: https://www.margaretthatcher.org/document/105592 (aufgerufen am 10. April 2022). 102 Ebd. 100

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Kap. 2: Das Ereignis Staatskunst

Gorbatschows bei dem Diner im Kreml Überraschungen erwarten ließ. Seine Deutung von Gorbatschow war offener. Wenige Tage nach jenem Diner stellte er ihn im Gespräch mit Henry Kissinger als eine durchaus „westliche“ Person dar, auch wenn er hinzufügte, es könne durchaus sein, dass Gorbatschow nicht glaube, was er sage. Aber es sei eben bemerkenswert, so hob Mitterrand hervor, dass Gorbatschow es sage.103 Derlei Freimut gab Gorbatschow jedenfalls den Status einer singulären Person, verglichen mit den anderen Führungsmännern im Kreml. Dazuhin schien die Person Erwartungsmustern zu entsprechen, die sie im Osten zwar singulär machte, im Westen indes zur Erscheinung eines guten Bekannten. Von daher gesehen verwundert an der Charakterisierung Gorbatschows durch Mitterrand in einem Gespräch am 14. Oktober 1985 mit José Sarney, dem Präsidenten von Brasilien, nichts mehr, außer dass sie eben dem seit März 1985 führenden Repräsentanten der Sowjetunion gilt. „Er gehört einer neuen Generation an“, so sagte Mitterrand. „Er hat seine Blicke mehr nach außen gerichtet. Er ist mit einem wendigen Geist begabt. Er ist dem Dialog nicht verschlossen.“ An dem gefassten Bild störte Mitterrand nur eines: „Seine Analysen zum Thema Marxismus-Leninismus kommen aus einem sehr orthodoxen Kolleg.“104 Diese Seite seines Auftretens trübte weiterhin Thatchers Bild von Gorbatschow. „Er ist noch sehr, sehr kommunistisch“, bemerkte sie am 18. November 1985 gegenüber Mitterrand. Wobei das „noch“ in ihrer Aussage auffallend ist. Und in der Tat stellte sie sich und Mitterrand die Frage: „Wie könnte er sich wandeln?“ Nachdem sie einen Weg dazu schon aufgezeigt hatte: „Man muss Gorbatschow etwas geben.“ Umso mehr, weil dieser „seiner selbst sehr sicher“ sei, „sehr verschieden von einem westlichen führenden Politiker“. Aber „Gorbatschow ist jung“, er „fühlt sich wohl“, (und Mitterrand verwies seinerseits an dieser Stelle des Gesprächs auf das erfrischende Benehmen Gorbatschows bei jenem Dinner im Kreml).105 Mit anderen Worten: Man konnte auf eine Veränderung in der Person Gorbatschows hoffen, die diese dem Westen akzeptabler machte. Wenn man Gorbatschow „etwas gab“. Mitterrand und Thatcher beobachteten Gorbatschow weiter. Ihr Bild verfestigte sich. Aber es blieb janushaft. Einerseits schilderte ihn Mitterrand dem in dieser Hinsicht ganz wissbegierigen Hans-Dietrich Genscher als jemanden, „der in der Form und in der Erscheinung von seinen Vorgängern sehr verschieden ist“. Andererseits gelte das „nicht in der Sache“. Einerseits stelle sich Gorbatschow „wie ein westlicher Politiker dar, ganz nach der Art seiner Kleidung, seiner Sprache, seinem Arbeitsstil, seinem Auftreten“. Andererseits ginge er „die Probleme an, indem er zeigt, dass er sie auf andere Weise versteht“. Einerseits habe ihm Gorbatschow

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Entretien entre Monsieur le Président de la République et Monsieur Henry Kissinger, 28. Juni 1984, AN-AG/5(4)/CD/74. 104 14 octobre 1985: – M. SARNEY (Brasilia). 105 MmeThatcher – 18 novembre 1985. Das Gespräch fand in 10 Downing Street statt.

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gesagt: Ich muss alles verändern. Zuerst die Menschen. Dann die UdSSR ökonomisch, moralisch, im Denken. Gorbatschow habe ihm sogar gesagt: Die UdSSR braucht wahrhaft Demokratie. Andererseits, so der Kommentar Mitterrands, könnten diese Aussagen, so vertraulich sie zu sein schienen, „wahr oder falsch“ sein.106 Wie auch immer es sich mit Gorbatschow verhielt, man sollte, so die Schlussfolgerung Mitterrands, die Chance wahrnehmen, die sich mit den, vom Westen her gesehen, willkommenen Seiten seines Charakters bot. In diesem Sinne äußerte sich Mitterrand in einem Brief, den er am 31. Juli 1986 an Thatcher schrieb. Er hatte sich Anfang des Monats, während eines Staatsbesuchs in Moskau, insgesamt ungefähr sieben Stunden mit Gorbatschow unterhalten. „Diese Begegnungen“, so teilte er nun Thatcher mit, „bestätigen meine Eindrücke von Herrn Gorbatschow. Seine Intelligenz ist weitreichend, flink, geschmeidig. Er begreift die Probleme in ihrem Ganzen. Er verfügt über einen ausgeprägten Sinn für die Realitäten, was sein Land wie den Rest der Welt anbelangt.“ In den Augen Mitterrands stellte die Person Gorbatschows dem Westen „psychologisch und politisch“ etwas bereit, was dieser sich nicht entgehen lassen sollte: „Ich denke, dass er [Gorbatschow] sich darauf verstehen wird, während er durchaus seine Interessen unnachgiebig vertritt, auf dem einen oder anderen Gebiet Kompromisse vorzuhaben. Die westlichen Partner der UdSSR sollten sich psychologisch und politisch in einer Lage befinden, die es ihnen gestattet, diese günstigen Gelegenheiten zu ergreifen, ohne von ihrer Wachsamkeit abzuweichen.“107 Margaret Thatcher beantwortete den Brief mit einem Schreiben ihrerseits vom 21. August 1986. Darin stellte sie fest: „Ihre Einschätzung von Herrn Gorbatschow und seinen Zielen ist meiner ganz ähnlich.“108 Das von Mitterrand und Thatcher erstellte Bild von Gorbatschow glich dem, das sich auch bei George Bush, James Baker, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen von der Person des Generalsekretärs des ZK der KPdSU sodann ausbildete. Er war der Repräsentant der Sowjetunion und sie sahen, wie er für diese kämpfte. Und sie wollten ihn, den Mann mit diesem ihnen zugänglichen Charakter an der Spitze der Sowjetunion, nicht verlieren. Gerade und vor allem auch nicht in der Zeit, als es um die Wiedervereinigung Deutschlands ging.

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Compte-rendu de l’entretien entre le Président de la République et Monsieur Genscher, 18. Juli 1986, AN-AG/5(4)/CD/73. 107 Schreiben von Mitterrand an Thatcher, 31. Juli 1986. 108 Schreiben von Thatcher an Mitterrand, 21. August 1986.

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Charakterstudien III: Mitterrand und Thatcher zu Helmut Kohl Der Kontrast könnte nicht größer sein. François Mitterrand lernte in Helmut Kohl einen politischen Freund im Amt des deutschen Kanzlers kennen. Margaret Thatcher hielt diesen Kanzler auf Distanz, seine Person bewirkte bei ihr nur Abwehr. Im Umgang mit Helmut Kohl als Person sammelte Mitterrand Erfahrungen, die ihn mit Deutschland vertraut und auf weitere Erfahrungen von dem Land neugierig machten. Wenn Margaret Thatcher auf Kohl traf, übersah sie dessen Person und erblickte in ihm dagegen eine Personifikation dessen, was sie als „deutsch“ anschaute, und dieses war ihr zuwider. Mitterrand und Kohl sprachen miteinander über Persönliches, fanden im anderen einen Vertrauten, mit dem man Sorgen, Pläne, Geschichten teilt. Das einzig Persönliche, das sich zwischen Thatcher und Kohl einstellte, waren die Klagen, die sie übereinander gegenüber Dritten äußerten, und diese wurden die Zeugen davon, wie Thatchers und Kohls Verhältnis zueinander fortlaufend missriet. „Kohl ist ein guter Mensch“, sagte François Mitterrand zu Henry Kissinger im Juni 1984.109 Der deutsche Kanzler und der französische Präsident kannten sich noch nicht sehr lange, aber es hatte sich rasch zwischen ihnen eine politische Freundschaft ausgebildet. Beide verfolgten in ihrer politischen Arbeit das Ziel einer Einigung Europas, traten für diese leidenschaftlich ein. Das war für das Bild, das sich Mitterrand von Kohl machte, maßgeblich. „Er ist zutiefst europäisch“, bemerkte Mitterrand zu Kissinger weiter. Und führte eine Beobachtung an, die er in Kohls Büro gemacht, und welche ihn offenbar beeindruckt hatte. „Bei ihm finden sich Porträts, Statuen von Adenauer.“ Kohl, so schloss Mitterrand aus seinen Wahrnehmungen von dessen Person, „möchte, dass man in ihm denjenigen sieht, der das Werk Adenauers fortführt“.110 Für einen französischen Präsidenten, der seinerseits außenpolitisch als Erbe von Charles de Gaulle handelte, zeichneten die Person Helmut Kohls damit Qualitäten aus, die er sich besser nicht hätte wünschen können. Demgegenüber verbiss sich Thatcher in einen Begriff von der Person Kohls, der nur Unheil anzeigt. Wie berichtet wurde, bereitete ihre Reaktion anderen in der Werkstatt der Weltpolitik Sorge. Das gilt ebenfalls für Mitglieder ihrer eigenen Regierung außerhalb von Downing Street 10. Die Premierministerin scheute sich nicht, den Kanzler in Gegenwart anderer Staats-und Regierungschefs herabzusetzen. Es schien so, nach einer von Mitterrand geschilderten Szene zu urteilen, als erfahre sie die Person Helmut Kohls nur antagonistisch und als sei ihr daran gelegen, diesen Antagonismus in bitteren Worten zu bekunden. Am 17. Mai 1989

109 Entretien entre Monsieur le Président de la République et Monsieur Henry Kissinger, 28. Juni 1984, AN-AG/5(4)/CD/74. 110 Ebd.

Charakterstudien

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berichtete Mitterrand im Ministerrat von dem NATO-Gipfel, der kurz zuvor in Brüssel stattgefunden hatte. Er hatte dabei dies beobachtet: „Es herrscht seitens Frau Thatcher eine sehr große persönliche Feindseligkeit gegenüber Kanzler Kohl. Bei dem Diner sagte Frau Thatcher zu ihren Tischnachbarn, während der Kanzler sprach: ‚Er ist eine Niete, was für ein konfuser Kopf‘.“111 Eine solche Bemerkung stellt den Status der Aussagen von Politikern über Kollegen, mit denen sie zusammentreffen und zusammenarbeiten, noch einmal sehr klar heraus. Ist es grundsätzlich schwierig, den Charakter einer Person zu erfassen, so können daraus in einer spannungsgeladenen Situation und unter besonders selbstbewussten Führungspersönlichkeiten besonders problematische Ergebnisse folgen. Doch nicht der Wahrheitsgehalt solcher Charakterbilder ist von ausschlaggebender Bedeutung, sondern die politischen Konsequenzen sind es, die von diesen Charakterbildern ausgehen, wie immer sie beschaffen sein mögen.

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JLB, 13. Juni 1989, zum Ministerrat am 17. Mai 1989.

Kapitel 3

Re-Konstruktion und De-Konstruktion: Die Konstruktion von Geschichte I Jede Studie zu einem Geschehen in der politischen Welt ist ein offenes Unterfangen. Alle Wirklichkeit in der menschlichen Welt ist eine fließende, dem entspricht die fließende Beschaffenheit von Politik. Denn die sie, die Politik, machen, und die, denen sie gilt, die Menschen, sind unbeständig.1 Wie aber soll man Fließendes fassen können? Von Moment zu Moment ein Geschehen verfolgen, das sich, kaum dass man damit begonnen hat, es zu begreifen, schon wieder über den Zugriff des Verstehens hinaus weiter entwickelt hat? Einem Geschehen nachgehen, das zwar gerade abgelaufen ist, aber das, will man es als Geschichte fassen, gewiss erst noch auszudeuten ist? Und das sich, geht man es denn historiographisch an, in jene dokumentarische Weite verflüchtigt, in welcher zwar Materialien für eine Geschichte von ihm gesucht werden können, es aber eher unwahrscheinlich ist, dabei schon zu finden, was für eine tatsächlich angemessene Darstellung reichen würde? Historiographisch am offensten – und dann am ehesten revisionsbedürftig – sind Darstellungen des unmittelbaren Geschehens. Sie sind zwar beliebt, treffen sie doch die Neugier derer, die es gerade selber miterleben. Wenn ein Mitglied einer amtierenden Regierung Details von Konflikten innerhalb dieser Regierung ausplaudert und sie über journalistische Wege weitergegeben werden, wer will nicht von ihnen hören? Wenn schwere soziale Unruhen ein Nachbarland erschüttern und in Reportagen darüber berichtet wird, wen interessiert dies nicht? Aber weiß man dann, weiß es wirklich, was im Innern jener Regierung gerade geschieht, oder wie jene Unruhen, die sich im Nachbarland gerade zutragen, aufzufassen sind? Sicherlich, einiges lässt sich in Erfahrung bringen, durch Gespräche, Befragungen, Beobachtungen, vielleicht auch durch Einsicht in das eine oder andere vertrauliche Dokument. Aber es reicht nicht dazu aus, bei weitem nicht, in das betreffende Geschehen wirklich hineinzusehen. Nichtsdestotrotz wird gerne auf solches Material zurückgegriffen für Bücher über Geschehen, die in neuerer Zeit abgelaufen sind. Als eine „Geschichte von …“ werden sie zumeist angekündigt, und so erhebt man einen historiographischen 1 Zu der Unbeständigkeit menschlicher Existenz und ihrer politischen Bedeutung vgl. Tilo Schabert, Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz, Freiburg / München: Alber, 2009, 52 f., 77 ff., 134 f.

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Anspruch. In Wahrheit aber handelt es sich um weitgehend offene Abhandlungen, was sich an dem auffällig häufigen Bezug auf neuere Zeitungsberichte als Quellen zeigt. Das mag dem Zweck solcher Arbeiten nicht zuwiderlaufen. Sie belegen die Aktualität des Themas. Und machen nachdenklichen Lesern bewusst, wie sehr eine Beschäftigung mit dem in neuerer Zeit Geschehenen, von dem sie sprechen, ein historiographisches Anliegen ist. Was sie bringen, ist allerdings vorläufig und gemeinhin ungesichert. Bleiben Studien zu Geschehen in der politischen Welt nun insgemein offene Unterfangen? Ist keine davon jemals „definitiv“? Absolut gesehen, heißt die Antwort: Nein! Endgültiges lässt sich hier nicht erreichen. Würde dergleichen geltend gemacht, setzte man eine andere Wirklichkeit als die menschliche und damit eine andere als die von Menschen gemachte und von ihnen aufgenommene Geschichte voraus. Von sich selbst und ihrer Geschichte entdecken diejenigen, die sich damit befassen, immer wieder etwas, an das sie nicht gedacht, oder das sie nicht beachtet, oder das sie vergessen (oder zu vergessen versucht) haben, oder das sie bedrängt und ihnen in ihre Gegenwart Früheres zurückbringt, dem sie sich nicht stellen wollen. Jedoch sind solche Studien weniger offene Unterfangen, wenn das Geschehen, denen sie gelten sollen, zu einem Ende gekommen ist, oder zumindest von ihm gedacht werden kann, es sei nun, erst einmal, ein Stück zurückliegende Geschichte. In der Dimension der Zeit ist im Fluss der menschlichen Wirklichkeit ein Bild in Konturen zurückgeblieben, so ließe sich beschreiben, das als „historisch“ wahrgenommen wird. Diese Szene kann man überblicken und sie entzieht sich nicht. Man sieht Geschehenes, und dieses Geschehen bleibt sich gleich. Es bietet, was man braucht, will man ein Geschehen in der politischen Welt verstehen und deuten: ein empirisch erfassbares Untersuchungsfeld. Jetzt kann man mit Studien zu jenem Geschehen beginnen. Was ist geschehen, und wann, und warum, und durch wen, und wie? So mag man fragen, um das nun vorliegende Untersuchungsfeld zu erschließen. Und ein dokumentarisch belegtes Wissen erheben, das zu diesen Fragen Aufschluss gibt. Das Kriterium dokumentarisch belegt sei betont. Denn „Quellen“ für unsere Thematik  – die Historiographie der Wiedervereinigung Deutschlands  – gibt es zuhauf, und solche verschiedenster Art, von Reportagen und Kommentaren aus der revolutionären Zeit 1989–1990 selbst, über Erinnerungen und Schilderungen von Akteuren, archivalische Materialien, bis zu den unaufhörlichen öffentlichen Auslassungen von „Zeitzeugen“. Davon ist indes nichts so wahrhaftig, in seiner Objektivität gewissermaßen unbestechlich, wie beispielsweise ein für das Thema „deutsche Wiedervereinigung“ relevantes Aktenstück, das in Washington im Weißen Haus sagen wir im Februar 1990 verfertigt wurde, und nun, archiviert, in der George Bush Presidential Library in College Station, Texas liegt. Es ist ein unmittelbar gültiges Dokument. Nachdem es archiviert worden ist, ist das, was mit ihm niedergelegt wurde, ein unveränderliches Konstrukt. Jedes Wort, jeder Satz,

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jede graphische Aufteilung des Textes, von Seite zu Seite, bleibt. Was einmal erzeugt wurde, gilt für immer. Man kann das Aktenstück interpretieren, aber man kann aus ihm beispielsweise nicht diese oder jene Aussage wegdenken, die einen stört, und von der man lieber hätte, dass sie in ihm nicht festgehalten worden sei. Noch weniger kann man es ignorieren, auch wenn man sehen sollte, dass es die Studie, an der man arbeitet, unerwartet und vielleicht unerwünscht in diese oder jene Richtung lenkt. Als Quelle kommt diesem Aktenstück keine andere Quelle gleich. Ist es doch selber von der untersuchten Geschichte ein Segment. Das gibt ihm seinen soeben hervorgehobenen hohen Wert  – und ist zugleich ein Anlass dafür, auch und gerade seine Konstruktion zu prüfen und zu begutachten. Denn selbst sein Wert, der vorweg als absolut erscheint, gilt nur eingeschränkt, wie es im nächsten Kapitel erläutert wird. Es liegt auf der Hand, dass zwischen Quellen der vorgestellten konstruktiven Qualität und den anderen Arten von Quellen – Reportagen, Erinnerungen, Zeitzeugenaussagen – scharf zu unterscheiden ist. Archivdokumente, die mit ihrer Archivierung aus dem Fluss der Wirkungen und Handlungen, in dem sie entstanden sind, herausgenommen wurden, werden so, wie sie einmal niedergelegt worden sind, fortan gehütet. Sie bleiben in ihrer Konstruktion unverändert, im Unterschied zu dem Wandelbaren und Anverwandelten von Erinnerungen, Reportagen, Zeitzeugenaussagen. Diese Härte macht sie zu dem Maß, an dem sich historiographische Studien ausrichten und gegenüber dem sie gerecht werden müssen. Obgleich sie selbst Segmente der jeweils untersuchten Geschichte sind, und eben auch deswegen allein eingeschränkt gelten, sind sie für diese Geschichte ihr primärer Stoff. Ich ziehe folglich für meine Studien hier – wie ich es für meine einschlägigen vorangegangenen Studien tat2 – neben anderen Quellen vornehmlich archiva­lische Quellen heran, und messe ihnen die maßgebliche Aussagekraft zu. Eben deswegen sollen hier im Weiteren die Entstehung, Abfassung und Ausfertigung archivalischer Dokumente – vor allem französischer – vorgestellt und erläutert werden. Zum einen ist dies, dem gerade erklärten Vorhaben gemäß, eine empirische Untersuchung. Zum anderen erlaubt uns dieser Arbeitsschritt, also die Durchsicht der archivalischen wie die Wertung anderer Dokumente, als Weiteres eine hermeneutische Erschließung, denn von dem Geschehen, das „Politik“ genannt wird, liegt vor uns sodann ein zu überschauendes Stück. Können wir es deuten? Wir können es, einerseits, weil es uns dargetan vorliegt: eben als dokumentierte Politik. Wessen wir uns indes, andererseits, noch vergewissern müssen, ist die allgemeine wie spezifische Problematik, die sich in dem Begriff „dokumentiert“ verbirgt. Dazu dient die folgende empirisch-hermeneutische Auseinandersetzung mit den „Quellen“. Wir werden sehen, dass Geschichtsschreibung von ihren dokumentarischen Anfängen her ein konstruierendes Unternehmen ist. Dies ist unvermeidlich, da die herangezogenen Dokumente selbst schon Konstrukte sind – Rekonstruktionen von

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Siehe: Einleitung, Fußnote 1, oben, S. 11.

Zeitzeugen – das Problem ist die Erinnerung

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Gesagtem und Getanem, dem betrachteten und mitgeteilten Geschehen. Will sie denn empirisch sein – damit einhergehen mag eine Vorstellung von „wahr“ –, wird Geschichtsschreibung die Rekonstruktionen, von denen sie ausgeht und mit denen sie arbeitet, wieder dekonstruieren müssen. Ist ein „historisches“ Dokument, so wird beispielsweise zu fragen sein, kontaminiert? Oder: Gibt es zu dem gegebenen Bericht einen zweiten und unterscheidet sich dieser? Müssen dann beide Berichte nicht nebeneinander stehen, oder Aussagen aus dem einen mit Aussagen aus dem anderen korrigiert werden? Mit diesem Dualismus von historiographischer Rekonstruktion und Dekonstruktion hat sich diese Studie, wie zu sehen war, von ihrem Beginn an auseinandergesetzt, und sie führt die Auseinandersetzung weiter fort.

Von drei Arten von Quellen Für unsere Thematik – die Geschichtsschreibung zur Wiedervereinigung Deutschlands  – kann auf drei verschiedene Arten von Quellen zurückgegriffen werden. Da sind (1) die Aussagen der „Zeitzeugen“, sowie (2) Zeitdokumente wie die Erinnerungen oder Aufzeichnungen und Auslegungen von Akteuren im Prozess der deutschen Vereinigung, und (3) die archivalischen Dokumente. Jede dieser drei Arten von Quelle „dokumentiert“. Aber was wird dokumentiert? Und wie wird dokumentiert? Wer dokumentiert? Und wofür wird dokumentiert? Diese Fragen stellen sich wie von allein, werden die Quellen geprüft. Sie selber bezeigen die Fragen, von ihrer Anlage her. Mit den Fragen, welche sie durch sich selber bezeigen, geben die Quellen aber auch etwas preis. Etwas nicht Geringes. Nämlich ihre dokumentarische Qualität. Sie legen sich auf ihre Komposition hin offen, und wer sich in diese vertieft, wird das dokumentarisch Eingefangene entdecken. Es lässt sich folglich jeweils sagen, dies sei ganz verlässlich eine Quelle, oder eine von nur eingeschränkter Qualität, oder gar eine, der zu misstrauen ist. Man wird daraufhin, besonders wenn Zweifel entstanden sind, nach dem Hergang des Dokumentierens fragen. Für meine folgende empirisch-hermeneutische Auseinandersetzung mit den Quellen ist das die mich anleitende Frage. Ihr nachgehend werde ich zu allgemeinen wie zu einzelnen exemplarischen Feststellungen kommen. Und aufgrund dieser wird es möglich sein, die dokumentarische Qualität der geprüften Quelle(n) zu beurteilen.

Zeitzeugen – das Problem ist die Erinnerung Unter „Zeitzeugen“ versteht man gemeinhin Personen, die zurückblickend auf ein historisches Geschehen von diesem berichten können, weil sie, so die einen, an ihm beteiligt oder, so die anderen, es einfach miterlebt haben.3 Werden die ersteren 3 Vgl. zum allgemeinen Verständnis des Begriffs wie zur Problematik von Zeitzeugen: https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/zeitzeugen/ (aufgerufen am 10. Februar 2022).

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Kap. 3: Die Konstruktion von Geschichte I 

gemeint, wird auch von „Akteuren“ gesprochen. Deren Zeugnis wird bevorzugt, will man wissen: Wie ging das betreffende Geschehen genau vor sich? Was wurde mit ihm beabsichtigt? Wer tat was in ihm? Welche Episoden sind herauszuheben? Wie ist es zu deuten, wird es erzählt? Und wie, so erfasst, ist es in die Geschichte allgemein einzuordnen? Für Studien wie die vorliegenden werden naturgemäß bevorzugt die Aussagen der Akteure herangezogen. Aber es gibt, so begann ich im Zuge meiner eigenen zahlreichen Forschungsgespräche mit Akteuren zu begreifen, bezüglich ihrer Selbstdarstellungen, ihrer nicht immer uneigennützigen Erzählungen, ihrer keineswegs stets hinreichenden Kenntnisse und ihrer Irrtümer auch einiges zu bedenken. Das Problem ist die Erinnerung. Mit der Zeit ist sie nicht mehr unverfälscht. Eine Überfremdung durch anderes Wissen und andere Deutungsmuster – so meine Erfahrung – ist dann festzustellen. Die Erinnerung der Zeitzeugen unterliegt einer Verfallszeit von zwei Jahren. Danach hat sich die momentane Erinnerung, wie sie beispielsweise in einem „Zeitzeugengespräch“ geäußert wird, von dem zu Erinnernden abgelöst. Woran sich der Zeitzeuge nun erinnert, hat sich zu einer Erzählung verfestigt, die in seiner Erinnerung parat liegt, und das zu Erinnernde ihr gemäß formt. Wie bei etwas, das sein Eigenleben hat, bleibt sich die Erzählung gleich und ersetzt die unmittelbare, keineswegs stets homogene Erinnerung. Dies, wie auch das Phänomen der Verfallszeit, zeigen sich am deutlichsten dann, wenn ein Zeitzeuge nicht nur ein einziges Mal, sondern in zeitlichen Abständen weitere Male befragt wird. Dann kann einem widerfahren, dass er in seine Erzählung etwas eingebaut hat, das man selbst zuvor ihm mitgeteilt hat, und von dem er jetzt offensichtlich meint, er sei es, der dies einem kundtut. Oder der Zeitzeuge berichtet etwas, indem er sich anscheinend zurückerinnert, während das, was er tatsächlich vorträgt, nur ein Selbstzitat aus seinen längst veröffentlichen Erinnerungen ist. Zeitzeugen schotten sich so in ihrer Zeitzeugenschaft einerseits ab, andererseits nehmen sie gleichfalls an der Aufarbeitung von zurückliegendem Geschehenem teil – eben in jenem Prozess, in dem sie als Zeitzeugen befragt werden. Sie haben ihre Erzählungen parat und passen diese auch an, wenn ihnen etwas bekannt wird, das ihre Erzählung plausibler und eindrucksvoller macht. Von daher erklärt sich ihr Interesse für Erkenntnisse, die ihnen aus der Wissenschaft zukommen. Denn erwiesen diese vielleicht nicht, so finden sie, dass die Erzählung, die sie, zugegeben mit der Schwäche von bloß Erinnertem, wiedergeben, mit der Härte bestätigt werden kann, die man mit Wissenschaft assoziiert? Können, so wäre denn zu fragen, die Mitteilungen von Zeitzeugen als Quelle gelten? Sie können es, sicherlich, ja. Wenn man dazu, so wäre aber einzuschränken, einige Kriterien aufstellt und diese beachtet. Die Gespräche mit Zeitzeugen bedingen, damit sie sich erkenntnisfest auftun, eine bestimmte Frage- und Forschungsstrategie. (1) Werden Zeitzeugen befragt, wenn das Geschehen, um das es geht, zeitlich noch recht nahe ist, ist die Gefahr am geringsten, dass das, was sie berichten, ver-

Zeitdokumente – das Problem ist die Komposition

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fälscht ist. Die momentane Erinnerung weicht wenig vom zu erinnernden Geschehen ab. Die Verfallszeit hat kaum eingesetzt. Nichtsdestotrotz ist ein Abgleich des von ihnen Mitgeteilten mit Archivdokumenten angebracht. (2) Mit der Zunahme der Verfallszeit übernimmt indes das Erzählen den Vorgang des Erinnerns. Was und wie erzählt wird, ist zwar für sich erhellend, vernimmt man doch jetzt den Zeitzeugen nicht nur als Informanten, sondern auch als Interpreten. Aus seiner deutenden Erzählung sind indes die Sachverhalte herauszufiltern, die empirisch zu dem Geschehen gehören, dessentwegen man ihn zuallererst befragt. Ein Unterbrechen beim Zuhören ist nötig, um sich durch Nachfragen zu versichern, dass der Sachverhalt, um den es geht, auch als solcher berichtet wird. (3) Andererseits wird man über andere Quellen von Sachverhalten wissen, die man mithilfe eines oder mehrerer Zeitzeugen überprüfen möchte. Gezielte Fragen werden dann im Gespräch zu stellen sein. Bei der Beantwortung wird der Zeitzeuge sicherlich auch abschweifen, die Erzählung schlägt immer durch. Dann hört man zu, und erfährt womöglich Neues. Das Forschungsfeld, zunächst eingegrenzt durch Zeitzeugnisse, wird durch solche mitunter auch wieder ausgeweitet. Mit dem ausschweifenden Erinnern der Zeitzeugen stellt sich somit nicht nur ein Problem. Es ist auch ein Anreiz dazu, das Forschungsprojekt breiter anzulegen. Eine Quelle also für noch mehr Quellensuche.

Zeitdokumente – das Problem ist die Komposition Zu dem Geschehen der deutschen Wiedervereinigung haben sich nicht wenige, die Akteure darin waren, selbst schriftlich geäußert, in ihren Memoiren oder allgemeinen Berichten. Sie schufen damit Zeitdokumente, die fortan Quellen für Untersuchungen zur Wiedervereinigung sind. So werden diese Schriften jedenfalls angesehen. Sie entsprechen dem, was geschah. Dieser Anspruch ist ihnen unterlegt. Die Frage ist: Wird er erfüllt? Welche dokumentarische Qualität ist diesen Zeitdokumenten beizumessen? Während bei den Zeitzeugen das Problem die Erinnerung ist, ist bei den Berichten der Akteure das Problem die Komposition. Sie gründen sich zwar auf dem Wissen von dem behandelten Geschehen, an dem die Autoren teilhatten. Für die Erstellung ihrer Schriften stützen diese sich jedoch darüber hinaus, in verschiedenem Ausmaß, auf dokumentarische Vorlagen Dabei können sie ein Privileg nutzen: Sie hatten ja im jeweiligen Regierungsamt Zugang zu den Dokumenten und konnten sie, sogleich oder später, für ihre Zwecke nützen (indem sie, wie es beispielsweise deutsche Bundeskanzler und Bundesminister taten, Kopien von Dokumenten oder solche selber mit nach Hause nahmen). Das ist im Allgemeinen den Schriften nicht anzusehen. Das einbezogene dokumentarische Material wird im Einzelnen nicht kenntlich gemacht, oder nur selten, und dann ohne dokumentarischen Beleg. So entsteht beim ersten Lesen der Eindruck, dass in die Komposition dieser Schriften nur eingegangen ist, was ihre Verfasser selbst miterlebt und mitgestaltet haben.

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Was indes wirklich geschehen ist, ist ein Verwischen der dokumentarischen Herkunft dessen, was berichtet wird. Im Einzelnen kann es tatsächlich der Verfasser sein, der hier spricht. Aber es kann ebenso gut einem bereits vorliegenden Text – beispielsweise einem Aktenvermerk, einem Protokoll, einer diplomatischen Depesche – entnommen sein. Was man scheinbar in den Worten des Verfassers liest, sind mehr oder weniger genau zitierte, oder mehr oder weniger gewandt paraphrasierte Textübernahmen. Zeitdokumente sind demnach keine reinen, sondern gemischte Quellen. Um sie richtig einzuschätzen, wird man sie auf ihre Komposition hin prüfen müssen. So man dieses kann. Die Schreibwerkstatt ihrer Autoren ist gewöhnlich verschlossen, und nur selten wird man deren Ausleihaktionen unmittelbar gewahr. Aber das ändert nichts an der Dringlichkeit, die Aufgabe anzugehen, sich über die Komposition eines Zeitdokuments Klarheit zu verschaffen. Was sich dann zeigt, veranschaulichen die folgenden zwei Beispiele. Auf das erste wurde ich durch Joachim Bitterlich aufmerksam, der mir bei einem Gespräch am 28. Mai 1995 erklärte, sein früherer Kollege im Bundeskanzleramt, Horst ­Teltschik, habe von ihm „abgeschrieben“.4 Bitterlich bezog sich dabei auf ­Teltschiks Buch „329 Tage. Innenansichten der Einigung“, einem Bericht, wie es im Vorwort zu dem Buch heißt, „über die tägliche Arbeit im Bundeskanzleramt“ zwischen dem 9. November 1989 (dem Tag des Mauerfalls) und dem 3. Oktober 1990 (dem Tag der deutschen Einheit).5 Wie ein Tagebuch angelegt, enthält „329 Tage“ chronologisch aufeinanderfolgende Einträge zu bestimmten Daten. Bei einem Gespräch am 18. Juli 1994 versicherte mir Teltschik, dass „329 Tage“ „wirklich ein Tagebuch“ sei. Er habe sich immer „nachts um 1 Uhr hingesetzt und noch Sachen notiert“. Das „erfordert eine große Disziplin. Denn in zwei bis drei Tagen ist alles weg und man kann sich an nichts Genaues mehr erinnern“.6 Was konnte dann Bitterlich bewogen haben, zu sagen, Teltschik habe von ihm „abgeschrieben“? Bei dem Gespräch mit ihm im Mai 1995 ging es unter anderem um die Begegnung Mitterrands mit Gorbatschow in Kiew Anfang Dezember und um die DDR-Reise Mitterrands im selben Monat. Und im Zusammenhang damit äußerte Bitterlich seine Behauptung bezüglich Teltschiks Buch. Er ließ es allerdings bei dieser bewenden, erwähnte keine Details, und sprach weiter über die Themen „Kiew“ und „DDR-Reise“. Nach Teltschiks Aussage zur Entstehung seines Buchs war Bitterlichs Behauptung eigentlich haltlos. Aber standen darin wirklich nur „Sachen“, die er unmittelbar nach dem Erleben notierte? So die Frage, die durch die Aussage Bitterlichs aufgeworfen wurde. Sie blieb unbeantwortet, bis mir beim Lesen in dem Band mit Dokumenten zur deutschen Einheit ein Einfall kam, ein einfacher, aber, wie sich 4

Forschungsgespräch mit Joachim Bitterlich, 28. Mai 1995. Teltschik, 329 Tage, 7.  6 Forschungsgespräch mit Horst Teltschik, 18. Juli 1994. 5

Zeitdokumente – das Problem ist die Komposition

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herausstellte, sehr förderlicher. Der Dokumentenband erschien 1998, Teltschiks Buch schon 1991. Er konnte damals nicht wissen, dass es wenige Jahre danach möglich sein würde, einen Eintrag in „329 Tage“ mit einem amtlichen Dokument zu vergleichen, das von derselben Angelegenheit wie sein Eintrag handelt. Dieses Dokument (Nr. 117) betrifft das „Arbeitsfrühstück des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Straßburg, 9. Dezember 1989“.7 Es wurde, wie am Schluss vermerkt ist, von Joachim Bitterlich verfasst, als ausgearbeitetes Protokoll des Gesprächs zwischen Kohl und Mitterrand am Morgen des 9. Dezember 1989. Am Anfang sind alle Teilnehmer auf der französischen wie der deutschen Seite angeführt, neben Mitterrand und Kohl namentlich genannte Mitarbeiter derselben, sowie jeweils namenlos die „Dolmetscherin“. Unter den deutschen Teilnehmern nicht aufgeführt ist Horst Teltschik, er war also bei jenem Gespräch zwischen Kohl und Mitterrand in Straßburg nicht anwesend. Ganz den gegenteiligen Eindruck vermittelt indes der unter dem Datum „Samstag, 9. Dezember 1989“ stehende Eintrag in „329 Tage“. Er beginnt so: „Arbeitsfrühstück [Kursivsetzung durch TS] mit Präsident Mitterrand, das traditionell am zweiten Tag eines Europäischen Gipfels stattfindet. Mitterrand unterrichtet den Bundeskanzler über sein Gespräch mit Gorbatschow in Kiew. Erstaunlich sei“, so der Wortlaut, „die innere Ruhe gewesen, die der sowjetische Präsident ausgestrahlt habe. Er habe auf das Thema deutsche Einheit nicht scharf reagiert, doch sei noch nicht zu erkennen, wie Gorbatschow reagieren werde, wenn die Entwicklung in Richtung Einheit rasch voranschreite … wesentlich seien für ihn die Grenzen.“8 Alles an diesen Eingangssätzen des Eintrags führt deren Autor als Beteiligten ein, der selber gehört hat, was Mitterrand zu Kohl sagte. Aber er hat es nicht gehört, sondern nachträglich dem Protokoll von Bitterlich entnommen. Dieses sagt: „Der Staatspräsident hebt hervor, dass er dann den Bundeskanzler eingehend über sein Gespräch mit Gorbatschow unterrichten werde. … Erstaunlich sei für ihn die innere Ruhe Gorbatschows gewesen … Auf die Frage der deutschen Einheit habe Gorbatschow nicht scharf reagiert … wesentlich seien für ihn die Grenzen. Was er, Mitterrand, noch nicht absehen könne und begreife, sei die Frage, wie Gorbatschow bei einer sehr raschen Entwicklung zur Einheit hin reagieren würde.“9 Die hier vorgenommenen Kursivsetzungen machen die Übereinstimmungen deutlich. Aus Bitterlichs Protokoll kommen die Worte, die sich in 329 Tage so anhören, als hätte Teltschik sie selber vernommen. Bei jenem Arbeitsfrühstück unterredeten sich Kohl und Mitterrand auch über die Ereignisse in der DDR. In Bitterlichs Protokoll wird Mitterrand dazu wie folgt wiedergegeben: „Es sei eine echte Revolution, die vom Volk ausgehe – im Gegensatz zu der russischen Revolution 1917. Das gleiche wie in der DDR spiele sich

7

Dok. Dt. Einheit, 628–631. 329 Tage, 71. 9 Dok. Dt. Einheit, 629 f. 8

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jetzt in Prag ab.“10 In „329 Tage“ lesen wir: „Mitterrand spricht von einer echten Revolution, die vom Volk ausgehe. Das sei der Unterschied zur Revolution von 1917 in Russland. Das gleiche wie in der DDR geschehe jetzt auch in Prag.“11 Bis auf geringe Abwandlungen sind diese Sätze mit dem identisch, was Bitterlich gehört und protokolliert hat. Indes suggeriert das benützte Präsens – Mitterrand spricht – ein von Teltschik unmittelbar miterlebtes Gespräch. Es kommt seinen Lesern so vor, als lasse er sie es mithören.12 Mein zweites Beispiel für eine Mischung in der Komposition eines Zeitdokuments schälte sich wie von alleine heraus, ganz unvermutet. Ich las „De L’Allemagne, De La France“ von François Mitterrand, eine durch die Verlegerin Odile Jacob posthum herausgebrachte Schrift.13 Im Laufe der Lektüre kam nach und nach eine Ahnung auf. Denn ich stieß auf Stellen, die mir bekannt erschienen. Hatte ich sie nicht zuvor woanders gelesen? In einem mir vertrauten Dokument? Bei den auffälligen Stellen ging es um Ereignisse in den beiden deutschen Staaten im Herbst und Winter 1989, und sie deuteten durch gewisse Details – die implizite Voraussetzung einer mit der deutschen Situation nicht so vertrauten Leserschaft, die offenbare Nähe des Autors zu Regierungsstellen in Bonn, bestimmte Zitate – auf ein Dokument hin, welches ich gut kannte. Ich holte das Dokument her und schaute es durch, jenen längeren Text, den im Juli 1991 der damalige Botschafter Frankreichs in Bonn, Serge Boidevaix, verfasste, und in dem dieser das Geschehen, das zur deutschen Wiedervereinigung führte, die Wiedervereinigung selbst und das Deutschland beschrieb, das nun in seinen Augen am Entstehen war.14 Sofern Stellen in „De L’Allemagne, De La France“ mit Sätzen oder Satzteilen in dem Boidevaix’schen Dokument übereinstimmten, wären sie aus diesem heraus in Mitterrands „De L’Allemagne, De La France“ eingearbeitet worden. Ob dies 10

Ebd., 628. 329 Tage, 72. 12 Ein Beispiel: In seinem Buch „Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung“ (2. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2013) schreibt Wichard Woyke zu der Begegnung von Mitterrand und Kohl am 4. Januar 1990 in Latche: „Für einen Teilnehmer des Gesprächs, den Kanzleramtsberater Horst Teltschik, war diese Unterredung ein ‚Schlüsselgespräch‘ zur Festigung der deutsch-französischen Freundschaft (vgl. Teltschik, 1992, 98ff).“ Woyke muss aus der Art und Weise des Eintrags, der in „329 Tage“ jenem Treffen in Latche gilt, geschlossen haben, dass Teltschik an ihm teilnahm. In der Tat ist der Eintrag – wieder – so verfasst, dass sich eine solche Schlussfolgerung wie von selbst ergibt. Indes nahm Teltschik an der Unterredung von Kohl und Mitterrand am 4. Januar 1990 in Latche nicht teil. Woyke hätte natürlich, der sauberen empirischen Arbeit wegen, einen Blick in den Dokumentenband mit Akten aus dem deutschen Bundeskanzleramt werfen können. Dieser enthält ein amtliches Protokoll zu dem Gespräch von Kohl und Mitterrand am 4. Januar (Dok. Dt. Einheit, 682–690). Zu dessen Anfang ist gleich festgehalten, wer auf deutscher Seite an dem Gespräch teilnahm. Es waren allein der Mitarbeiter Helmut Kohls und hier auch Protokollant, Walter Neuer, und der deutsche Dolmetscher. 13 Mitterrand starb am 8. Januar 1996, die Schrift wurde im April 1996 veröffentlicht. 14 L’Ambassadeur de France en République Fédérale d’Allemagne, Dokument von 16 Seiten, ohne Titel, datiert auf den 29. Juli 1991. 11

Archivalische Dokumente – das Problem ist die Form

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der Fall war, war im Einzelnen zu überprüfen. Wie exakt waren Textelemente aus dem Boidevaix’schen Dokument in „De L’Allemagne, De La France“ übernommen worden, und in welchem Ausmaß? Die Vergleichsarbeit verlief in einer Art von Pendel-Lektüre zwischen „De L’Allemagne, De La France“ und dem Boidevaix’schen Dokument. So blieb der Wortlaut der Texte im Gedächtnis und löste jeweils eine Resonanz aus, von „De L’Allemagne, De La France“ bei der Lektüre des Boidevaix’schen Dokuments und umgekehrt. Mit den Resonanzen bildete sich schließlich ein klarer, wenn auch komplexer Befund zu den Einmischungen von Teilen des Boidevaix’schen Dokuments in „De L’Allemagne, De La France“ aus. Sie sind in dem Buch weit verteilt auf sechs verschiedenen Seiten zu finden,15 in der Weise von Textteilen, die aus dem Boidevaix’schen Dokument herausgenommen und nun in Sätze von „De L’Allemagne, De La France“ eingelassen sind, und dies oft bei verändertem Wortlaut, so als hätte man sie untermengen und somit auf ihre Herkunft hin unkenntlich machen wollen. Merkwürdig ist, dass dreimal unverbindlich auf Serge Boidevaix hingewiesen wird.16 Doch wird an keiner der Stellen, an denen aus dem Text von Boidevaix entlehnt wird, gesagt, dass dieser es sei, den man hier zitiert. Wer immer die Einmischungen von Teilen des Boidevaix’schen Dokuments in „De L’Allemagne, De La France“ vornahm, wusste offenbar nicht so recht, ob die Anleihen kenntlich gemacht werden sollten. Aber im Grunde war dies von vornherein unmöglich: Der Sprecher für „De L’Allemagne, De La France“ hieß François Mitterrand.17

Archivalische Dokumente – das Problem ist die Form „Notes pour Monsieur le Président“ François Mitterrand bevorzugte es, mit seinen Mitarbeitern im Élysée schriftlich zu kommunizieren. Ihn anzurufen war unerwünscht, und nur ausnahmsweise rief er von sich aus bei einem seiner Mitarbeiter oder einer seiner Mitarbeiterinnen – zum Stab von Mitterrand gehörte eine größere Zahl von Frauen – an. Mündlich 15 S. 35, 36–37, 61, 66, 68. – Die entsprechenden Stellen in dem Dokument von Boidevaix finden sich auf den Seiten 3–5, 7–9. 16 Siehe die Seiten 35, 37 und 61. 17 Odile Jacob bedankt sich am Ende ihrer editorischen Notiz zu „De L’Allemagne, De La France“ bei Dominique Bertinotti und Brigitte Sauzay-Stoffaës für deren Mitwirkung am Entstehen der Schrift. Die letztere erklärte mir bei einem Forschungsgespräch am 25. Oktober 1996, dass sie Mitterrand bei seinem „Deutschland-Buch geholfen“ habe. Dasselbe sagte mir Bernard Latarjet bei einem Forschungsgespräch am 15. Januar 1996. Er gehörte, wie Dominique Bertinotti, zu dem kleinen Stab Mitterrands in der Wohnung in der Avenue Frédéric Le Play, in die Mitterrand nach dem Ablauf seiner Amtszeit zog, und in der er starb. – Bei all dieser Zuarbeit blieb nicht aus (aber vielleicht gerade deswegen), dass auf S. 43 das historiographisch vielbeachtete Gespräch zwischen François Mitterrand und Margaret Thatcher am 20. Januar 1990 von Paris nach „London“ verlegt wurde.

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besprach er sich bei der täglichen Regierungsarbeit, von vereinzelten Gruppentreffen abgesehen, nur mit dem Generalsekretär des Élysée, oder dessen Stellvertreter, und fallweise mit einigen ausgewählten Beratern. Aber für alle galt, wenn sie etwas mitzuteilen hatten: an den Präsidenten ist dazu eine schriftliche Vorlage zu richten, eine „Note pour Monsieur le Président“. So wurden im Élysée in den vierzehn Jahren der Präsidentschaft Mitterrands tausende von Schriftstücken verfasst (eine nur schwer übersehbare Menge), die nunmehr insgesamt archivalische Dokumente sind. Und dies von erstrangiger Bedeutung, sind sie doch unmittelbar Zeugnisse der Regierungsarbeit Mitterrands und seiner Mitarbeiter. Sie erlauben direkte Einblicke in die politische Werkstatt „Élysée“. Man kann mit ihnen zusehen, wie in dieser Werkstatt politisches Handeln vorgedacht, auf seine Zielsetzungen und Konsequenzen hin abgewogen, in Entscheidungsform gesetzt und schließlich in die Struktur einer Strategie zum Vorgehen gebracht wurde. Man muss eine Sukzession entsprechender Notes lesen (und sie erst einmal zusammengestellt haben), um zu erfassen, dass hier ein Prozess schöpferischer Politik stofflich festgehalten ist. Das Regieren, das stattfand, lebendig, ist mit Händen zu greifen. Man bekommt die Kunstfertigkeit mit, die dabei eingesetzt wurde und sich in ihm beweist. Man hat denn allen Grund, diesen Notes genau nachzugehen. In der Regel, so könnte man ansetzen, umfasst eine Note zwei bis drei Schreibmaschinenseiten, gilt einem bestimmten Thema, und wurde von einem Berater bzw. einer Beraterin verfasst, manchmal auch von zwei Autoren. Im Aufbau der Notes spiegelt sich ihr vielfältiger Zweck. Zu Beginn erhält der Präsident Informationen zu dem angeschnittenen Thema, diese werden anschließend analysiert und kommentiert, den Schluss bilden Vorschläge für Entscheidungen bzw. Vorgehensweisen. Notes zur Vorbereitung eines Gesprächs von Mitterrand mit einem anderen Staats- bzw. Regierungschef, wie zum Beispiel mit Bundeskanzler Kohl, enthalten meistens Angaben darüber, mit welchen Vorstellungen und Erwartungen zu den anstehenden Themen der Präsident seitens seines Gesprächspartners vermutlich zu rechnen hat. Der Präsident soll durch die vorbereitende Note gewappnet, also mit dem Vorteil ausgerüstet werden, Entgegnungen auf das, was ihm sein Gesprächspartner wohl sagen wird, schon parat zu haben. Die Informationen der Note können aus Ministerien und Verwaltungen („administrations“) stammen, aber auch über persönliche Kontakte eben dorthin oder zu Regierungskanzleien außerhalb Frankreichs (wie zum Beispiel dem deutschen Bundeskanzleramt) gewonnen worden sein. Die Notes zeigen die Qualität einzelner Berater und Beraterinnen an, ihren persönlichen Einsatz und das ihnen nützliche persönliche Netzwerk. Mitterrand schätzte diese Art der Selbstqualifizierung seiner Mitarbeiter, sie besorgten durch sich selbst eine von ihm durchaus gewünschte Auslese. In Einzelfällen, wie bei seinem Berater Michel Charasse, konnte die Selbstempfehlung zwingend werden. Charasse verfügte über so viele Informationsquellen (im Französischen: „antennes“) im Land, dass er darob dem Präsidenten unentbehrlich wurde und in dessen Machtkonfiguration eine einzigartige Stellung hatte. Bezeichnend ist, dass Charasse, wie er bei einem Gespräch vermerkte, seine Notes für den Präsidenten diesem selber überbrachte

Archivalische Dokumente – das Problem ist die Form

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und sie von ihm auch wieder abholte, nachdem ihm das Sekretariat Mitterrands signalisiert hatte, er könne dies tun.18 Eine ebenfalls starke Position hatte Jean Kahn inne, der Mitterrand zu juristischen Fragen beriet, aber dazuhin das Ohr und die Verbindung des Präsidenten in die Welt des Sports hinein war. Dort, so erklärte Kahn in einem Gespräch einmal, seien „viele Haie unterwegs“. Dass er von ihnen wusste und sie beobachtete, hielt Mitterrand für unentbehrlich.19 Das alles ersieht man aus den Notes, wie auch den Fleiß und die Arbeitsweise Mitterrands. Der Weg der Notes im Élysée war klar geregelt. Sie hatten zuerst an den Generalsekretär zu gehen, der sie durchsah und sie mit Kommentaren für den Präsidenten versah. Vom Generalsekretär gingen die Notes an Mitterrand. Dieser reichte diejenigen, die er als „gelesen“ („vu“) abzeichnete, meistens innerhalb des Tages zurück, an dem er sie erhalten hatte. Geschätzt nach den Daten und der Zahl der Notes mit diesen Abzeichnungen bewältigte Mitterrand oft eine Lektüre von 200 bis 250 Seiten Notes am Tag. Viele der von ihm gelesenen Notes reichte er mit Vermerken zurück, mit denen er seine Zustimmung zu einem Entscheidungsvorschlag gab oder einen solchen ablehnte, um weitere Informationen bat, zu bestimmten Maßnahmen aufforderte, eine zu verfolgende politische Linie skizzierte, Vorstellungen, die in einer Note geäußert waren, oder auch ihm nicht gefällige sprachliche Wendungen in einer solchen kritisierte. Mitterrand führte so sein Regieren aus und schuf zugleich dessen dokumentarische Gegenwart. Wir haben sein Regieren über die archivierten Notes präsent. Handschriftliche, kurze Notizen [neben den getippten förmlichen Notes] Mitterrand erhielt von Mitarbeitern oder Mitgliedern der Regierung mitunter auch ein Blatt Papier mit einer kurzen, handschriftlichen Notiz. Wenn er in der Nähe war, steckten sie ihm das Blatt zu, ansonsten gaben sie es einer Sekretärin oder einem Amtsdiener (huissier), zur direkten Weitergabe an den Präsidenten. Sie schrieben eine solche Notiz, oft in Eile verfasst, während einer Sitzung des Ministerrats, im Flugzeug oder im Zug bei einer Reise, vor einem internationalen Treffen, im Hotel oder schon im Sitzungssaal, spät abends oder am Wochenende von ihrem Büro oder ihrer Wohnung aus. Sie umgingen damit das vom Generalsekretär kontrollierte System der Kommunikation mit dem Präsidenten, was ihnen eine besondere Stellung gegenüber diesem gestattete. Manche nahmen eine solche auch von sich aus für sich an. Die Motive für derlei Notizen waren verschieden. Es konnte um eine neue Information gehen, die der Präsident unbedingt sogleich erhalten sollte. Oder um eine Beobachtung, die man erst einmal mit Mitterrand allein teilen wollte. Oder um einen Vorschlag, für den man den Präsidenten gewinnen 18 19

Forschungsgespräch mit Michel Charasse am 5. Juni 1996. Forschungsgespräch mit Jean Kahn am 19. Oktober 1992.

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wollte; mit einer persönlichen, spontanen Notiz an ihn erhöhte sich die Chance, seine Aufmerksamkeit dafür zu erregen. Da es sich bei diesen Notizen um keine formellen Notes pour Monsieur le Président, also für das Archiv des Präsidenten abzulegenden Dokumente handelte, wurden die meisten davon nicht aufbewahrt. Nur wenige sind noch archivalisch existent. Umso bedeutsamer sind die übrig gebliebenen (und auf einige von diesen, die ich noch im Élysée selbst und vor einer Übergabe an die Archives Nationales einsehen konnte, stütze ich mich hier). Sie lassen das politische Schaffen Mitterrands, seiner Mitarbeiter und seiner Regierung im Augenblick seines Ablaufs erkennen, so wie es gerade geschah, fast so, als wäre man dabei gewesen. Nichts ist vermittelt, alles unmittelbar. Wir sehen Regierungshandeln ganz authentisch, rein, wahrlich, in seinem Vorangehen schlechthin. Diese Notizen waren nicht dafür gedacht, dass sie jemals „übrig“ blieben. Sie waren allein für den Moment der Mitteilung bestimmt, der sie dienten.20 Und genau deswegen sind sie Quellen vorzüglichster Art.  Texte aus der Diplomatie Zu dem Fundus der Dokumente, an die hier zu denken ist, gehören unter anderem Papiere aus dem diplomatischen Raum des französischen Außenministeriums (dem „Quai d’Orsay“), Berichte französischer Botschafter, diplomatische Depeschen. Am Quai d’Orsay selber wurden zur deutschen Frage regelrechte, gewissermaßen „gelehrte“ Abhandlungen verfasst, mit historischen Abrissen, juristischen Darlegungen und Beurteilungen, ausführlichen Analysen, ausgeprägten Prognosen. Auch die Berichte der Botschafter sind oftmals lang. Die Depeschen sind zwar kürzer gefasst, aber manchmal haben auch sie einen größeren Umfang, insofern eine spätere eine frühere fortsetzt. Der Élysée erhielt natürlich diese Texte aus der Diplomatie, oder sie wurden vom Mitarbeiterstab Mitterrands angefordert. Bei denjenigen, die sich nun im Archiv zu Mitterrands Präsidentschaft befinden, im Original, oder als Kopie, fällt etwas auf: es fehlen großenteils Spuren von einer Beschäftigung mit ihnen. Manche erscheinen geradezu unberührt. Bei anderen sind ein paar Unterstreichungen zu sehen, oder ein Ausrufezeichen am Rand. Sonst nichts, das eine Aneignung oder eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Dokuments verriete. Lediglich einige der diplomatischen Depeschen tragen kommentierende Vermerke. Die Texte aus der Diplomatie konnten freilich für diejenigen, die sie im Élysée erhielten, dennoch Quelle von Information oder Inspiration gewesen sein, ohne dass dies an ihnen zu

20 Es gibt allerdings Notizen, auf denen François Mitterrand, der auf sein Fortleben in der Historiographie sehr bedacht war, vermerkte: „À garder“ (Aufzubewahren), und die dementsprechend in sein Archiv kamen.

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erkennen ist. Das mag man mutmaßen, und in dem einen oder anderen Kontext mag die Mutmaßung auch zutreffen. Aber halten wir uns an die überprüfbare Evidenz und diese sagt uns, dass der Élysée in der umwälzenden Epoche 1889–1990 offenbar mehr denn je das Entscheidungszentrum französischer Politik war. Man dachte hier eigenständig nach über den Umsturz der bisherigen geopolitischen Konstellation in Europa und eine neue politische Architektur für den europäischen Raum. Und definierte das entsprechende Handeln Frankreichs. Im Élysée eben, und nicht am Quai d’Orsay. In den Dokumenten von dort, so sagte Bertrand Dufourcq, selber hoher Diplomat, bei einem Gespräch, käme für Erkenntnisse zur französischen Außenpolitik bezüglich der revolutionären Ereignisse in der Zeit 1989–1990 „nicht viel heraus“. Da wäre „nicht viel zu finden“.21 Wie wahr, könnte man sagen, wenn man die Berichte liest, welche die französische Botschafterin in Ost-Berlin, Joëlle Timsit, nach Paris sandte.22 Sie sind beeindruckend wirklichkeitsfremd. Während die DDR zerfiel, sprach Timsit von dieser wie von einem mit einer voll handlungsfähigen Regierung versehenen staatlichen Subjekt, das unvermindert für Frankreichs Außenpolitik zählt. Es scheint so, als habe Joëlle Timsit ihr Botschaftsgebäude nie verlassen.23 Dagegen beobachteten einige von den Mitarbeitern Mitterrands im Élysée aufmerksam die Lage in der DDR. Darunter war Caroline de Margerie. Sie reiste Anfang Dezember 1989 in die DDR, um sich dort an verschiedenen Orten einen Eindruck vom Zustand der DDR zu verschaffen.24 Caroline de Margerie machte Feldforschung, Joëlle Timsit hingegen schrieb Fiktion. „Bis zum Ende“, so erklärte de Margerie, habe Timsit an die DDR „geglaubt“.25 Und bei einem Gespräch im August 1998 erinnerte sich auch Kohls Berater Joachim Bitterlich daran, wie „schlimm die französische Botschafterin in der DDR“ gewesen sei. Sie habe „bis zum Schluss an deren Existenz festgehalten und unbedingt das französische Kulturinstitut in Ostberlin für eine immer imaginärer werdende DDR retten wollen“.26

21

Forschungsgespräch mit Bertrand Dufourcq, 7. November 2009. Siehe zum Beispiel die Telegramme vom 26. Dezember 1989 und 17. Januar 1990, die Joëlle Timsit aus Ost-Berlin an das französische Außenministerium sandte (Vaïsse / Wenkel, 180–187, 199–212). 23 Von ganz anderer empirischer und hellsichtiger Qualität sind demgegenüber die Berichte, die der britische Botschafter in Ost-Berlin, Nigel H. R.A.  Broomfield, nach London sandte. Broomfield ging ins Feld, also aus der Botschaft heraus und sprach mit Leuten. Schon am 20. April 1989 konnte er denn in einem Bericht von einem Begehren in der DDR nach einer Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik sprechen. „Since my arrival I have conducted  a one-man survey on attitudes towards reunification. My sample is tiny and unrepresentative. But the unanimous view expressed was for unity with the FRG.“ Und seinen Erkenntnissen nach kam dieses Begehren nach Einheit von politischen – also nicht wirtschaftlichen – Motiven her: „Closer questioning revealed that the desire for unity was mainly based on a profound distrust of their leaders and the system they represent.“ (DBPO, 11). 24 Siehe „Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit“, 453–454. 25 Forschungsgespräch mit Caroline de Margerie, am 22. Oktober 1998. 26 Forschungsgespräch mit Joachim Bitterlich, 17. August 1998. 22

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Kap. 3: Die Konstruktion von Geschichte I 

Was die Dokumente aus dem Bereich des Quai d’Orsay anbetrifft, ist indes eine wesentliche Ausnahme herauszuheben. Die Mitwirkung Frankreichs an den „Zweiplus-Vier-Verhandlungen“ wurde weitgehend von Diplomaten des Quai d’Orsay erbracht. Und als Leiter der französischen Delegation gestaltete sie ­Bertrand ­Dufourcq führend mit. Er wie die anderen Mitglieder der Delegation verfassten auf diese Verhandlungen hin und in deren Verlauf eine ganze Reihe von Schriftsätzen. Mit diesen liegen die Quellen vor, die zuallererst zu konsultieren sind, will man Frankreichs Mitwirkung und mitunter entscheidenden Einfluß bei den „Zweiplus-Vier-Verhandlungen“ nachvollziehen.27 Eine weitere Besonderheit in Bezug auf Schriftstücke aus der französischen Diplomatie führte Bitterlich in dem gerade erwähnten Gespräch an. Sein Kollege Hubert Védrine im Élysée hätte ihm in den Jahren 1989–90 immer wieder die Berichte des französischen Botschafters in Bonn, Serge Boidevaix vorgelegt. Daraus hätten sie im Kanzleramt unmittelbar ersehen können, was an Einschätzungen zur Frage der Wiedervereinigung in der französischen Diplomatie umlief, beziehungsweise in den Umlauf gebracht wurde. Wie sich ihnen bei den Berichten von Boidevaix zeigte, seien darunter erklatante Mißverständnisse und beunruhigende Fehlschlüsse gewesen. Und so sei ihnen klar geworden, dank Védrines Mithilfe, was nach Paris hin, über den Élysée hinaus, hinsichtlich der Frage der Wiedervereinigung noch zu tun sei.28

Exkurs nach Downing Street 10 Insoweit die britischen National Archives in Richmond Dokumente aus dem Amtssitz des britischen Premierministers bzw. der Premierministerin zugänglich gemacht haben, kann auch die Regierungsarbeit in Downing Street 10 genauer nachverfolgt werden. Zu der uns hier beschäftigenden Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands gibt es vor allem den umfangreichen Dokumentenband, den das Foreign and Commonwealth Office herausgebracht hat.29 Doch die in ihm enthaltenden Dokumente sind offizieller Natur, also diplomatische Berichte, Positionspapiere, Stellungnahmen, die förmlich ausgeschrieben sind. Hingegen finden sich in den Beständen der National Archives aus Downing Street 10 auch Dokumente, die das dortige Regieren – also Beraten, Unterrichten, Deuten, Entscheiden – unmittelbar wiedergeben. Darunter sind handschriftliche Notizen knapper Art, offensichtlich rasch hingeschrieben. Oder formal verfasste Texte, auf denen indes in Handschrift kommentierende oder weiter informierende oder Rat gebende Vermerke

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Siehe Kap. 16 „France in the Two-Plus-Four Negotiatons“, in: France and the Reunification of Germany, 383–407. 28 Forschungsgespräch mit Joachim Bitterlich, 17. August 1998. 29 Siehe: DBPO.

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aufgetragen sind.30 Geht man diese Dokumente, die sich in die förmlichen eingestreut finden, entlang, schaut man den hier regierenden Personen geradewegs zu. Und man entdeckt, noch mehr als über die förmlichen Dokumente, die überragende Position, die eine bestimmten Person zur Zeit von Margaret Thatcher in Downing Street 10 innehatte: Charles Powell, Thatchers „Private Secretary“. In dieser Eigenschaft, die er von 1983 bis 1991 ausübte, leitete Powell das Büro der Premierministerin und stand dem Stab der dortigen Beamten vor. Gleichzeitig übte er die Funktion des Beraters von Thatcher für auswärtige Angelegenheiten und Fragen der Verteidigung aus. Über den Schreibtisch von Powell ging alles, was mit foreign policy und defence zu tun hatte, von Thatcher zu anderen Personen, und von anderen Personen zu Thatcher. Er wurde als derjenige „Vertraute in ihrem inneren Kreis“ beschrieben, auf den sie „am meisten baute“.31 Und politisch gesehen, sei er „mehr Thatcherite als Thatcher [selbst]“ gewesen.32 Was Thatchers Politik bezüglich der Wiedervereinigung Deutschlands anbelangt, so übte Powell auf diese einen maßgeblichen Einfluss aus. Die britischen Dokumente zeigen, und hier vor allem seine in den National Archives zu findenden handschriftlichen Notizen sowie die von ihm annotierten Schriftstücke, dass Powell eine Wiedervereinigung noch mehr als Thatcher widerstrebte. Er bestärkte, ja schürte ihre eigene Aversion. Die von ihm verfassten Notizen und Schriftstücke, wie eben auch seine Vermerke auf Schriftstücken anderer, sind entsprechend gefärbt. Das Geschehen zur Wiedervereinigung Deutschlands aus Downing Street 10 heraus wurde dort in und mit Dokumenten vor-konstruiert. Diese sind demnach eben mehr als einzig Dokumente. Sie sind gleichfalls Mittel, in jene Geschichte hinein zu wirken, die aus einem Geschehen – Wiedervereinigung oder auch nicht – hervorgehen und diesem Gestalt geben wird. Veranschaulichen wir uns das gerade Gesagte anhand von zwei Beispielen. Am 2. Oktober 1990, also einen Tag vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, richtete Bernard Ingham, der Pressesprecher von Margaret Thatcher, an diese ein Schriftstück zu dem Thema „Statement on the Re-Unification of Germany“. Sie hätte zugestimmt, so schrieb er, am „Mittwoch“ – eben dem Tag der Wiedervereinigung – bei einem Fototermin mit dem westdeutschen Botschafter „einige Worte zur Wieder-Vereinigung von Deutschland“ zu sagen. Ein Entwurf sei beigefügt, auf den sie, so sie wolle, zurückgreifen könne. Bevor die Premierministerin Inghams Schriftstück erhielt, bekam es Charles Powell. Und dieser merkte auf ihm handschriftlich einiges an. Margaret Thatcher solle dieses tun, und jenes lassen. Sonst 30 Gelegentlich sind in dem britischen Dokumentenband bei einem Dokument Vermerke, die auf dieses aufgetragen wurden, mit abgedruckt. Vgl. Dokument Nr. 118, 248, Dokument Nr. 133, 272. 31 Siehe: The Times, 7. Februar 2016 (https://www.thetimes.co.uk/article/the-civil-servantthatcher-adored-f08zh3xfn, aufgerufen am 25. Februar 2022). 32 Siehe: The Guardian, 7. Juni 2007 (https://www.theguardian.com/world/2007/jun/07/ bae20, aufgerufen am 25. Februar 2022).

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Kap. 3: Die Konstruktion von Geschichte I 

würde der Sinn der ganzen Veranstaltung verfehlt. Powell leitete die Premierministerin an, folgte sie ihm, handelte sie richtig. Er wusste, was zu sagen ihr widerstrebte, setzte dieses in Anführungszeichen, und konnte ihr so zu der Performance raten, die sie wohl besser ausführen sollte: „Prime Minister. The way is to get in the words ‚friend, ally, a partner‘ (if you can bear it). Otherwise a message risks being judged negatively, which undermines the only purpose of the exercise.“33 Ja, als „Freund, Alliierten, als Partner“ sollte das wiedervereinigte Deutschland von der Premierministerin Großbritanniens angesprochen werden – wenn diese solches denn über sich brächte, so ganz einfühlsam ihr ergebener Berater. Am 12. Dezember 1989 hielt der amerikanische Außenminister James Baker im Steigenberger Hotel in Berlin vor dem Berliner Presse Club eine Grundsatzrede über „A New Europe, A New Atlanticism: Architecture for a New Era“.34 Gleich danach leitete Powell der Premierministerin den Redetext zu. Zusammen mit einer handschriftlichen Notiz, auf welcher steht: „Prime Minister. Jim Baker’s speech in Berlin. It’s admirably full of substance a[nd] generally should give us no trouble – indeed it provides a lot of useful material for discussion.“35 Ein Berater berät, gewiss. Powells Urteils-Vorgabe an Thatcher ist indes entschieden, nachdrücklich. Die Möglichkeit einer anderen Interpretation von Bakers Rede oder kritische Gesichtspunkte zur ihr werden überhaupt nicht erwähnt. Es wird rundweg empfohlen, und mit der klaren Empfehlung zugleich dirigiert.

33

PREM-19–3002. Der englische Text der Rede ist zugänglich über: http://aei.pitt.edu/101501/ (aufgerufen am 2. März 2022). Auf Deutsch ist die Rede greifbar in: Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika (https://elibrary.duncker-humblot.com/publikation/b/id/31847/, aufgerufen am 2. März 2022). 35 PREM-19–2696. 34

Kapitel 4

Re-Konstruktion und De-Konstruktion: Die Konstruktion von Geschichte II Ich setze hier meine Diskussion der archivalischen Dokumente und ihrer Bedeutung für die historiographische Arbeit fort. Ich wende mich dafür den Protokollen der Gespräche zwischen Staats-und Regierungschefs sowie den Unterredungen zu, welche diese mit Botschaftern, Ministern auswärtiger Regierungen und anderen hohen Besuchern führten. Mit der Lektüre dieser Gesprächsprotokolle treten wir in die Werkstatt der Weltpolitik ein, und hören die Unterredungen darin gleichsam mit. Die hier reden, sind unter sich und können sich so offen äußern, wie sie es wünschen oder für notwendig erachten. Sie tauschen sich aus, lassen sich informieren, erörtern gemeinsam, verhandeln, und ringen mitunter verbal miteinander. Und sie entscheiden. Der weltpolitische diplomatische Prozess – die gestaltende Bemühung um ein Formen der Staatenwelt – erscheint hier in seiner Grundfassung. Man kann ersehen, wie er sich ursächlich zuträgt, auf Ziele hin ausgerichtet, strategisch angelegt, im Einzelnen gesteuert, und, nicht zuletzt, durch Personen und auf Personen hin (man denke an die „Charakterstudien“) vollzogen wird. Die Gesprächsprotokolle legen all dies offen. Politik ist, wie ich andernorts herausgestellt habe, ihrem Wesen nach Schöpfung.1 Das lassen die Protokolle auf paradigmatische Weise erkennen, da sie in den verschiedenen Versionen die Offenheit und Vorläufigkeit von „politics in the making“, und die Widersprüchlichkeit von Motivzuschreibungen und Ausdeutungen aufseiten von Akteuren und unmittelbaren Beobachtern festgehalten haben. Ich widme ihnen deswegen ein eigenes Kapitel. Wie bei den anderen archivalischen Dokumenten stellt sich bei den Gesprächsprotokollen das Problem der Form. Es stellt sich hier sogar besonders herausfordernd. Natürlich hängt die Gestalt, in der die Protokolle am Schluss archivalisch vorliegen, von dem Anfang ab, von dem her sie entstehen. Doch zwischen Anfangsform und Schlussform durchlaufen sie gewöhnlich einen Prozess der Ausarbeitung, der mehrstufig sein kann, aber es nicht immer ist. Manchmal findet er auch gar nicht statt, sodass die Schlussform nichts anderes ist als die Anfangsform. Oder es besteht mit der Schlussform eine sorgfältig ausgearbeitete Gestalt des Protokolls, dessen archivalischer Status sich jedoch von dem eines anderen, vergleichbaren Protokolls desselben Gesprächs sichtlich unterscheidet. 1

Siehe meine schon zitierten Schriften „Boston Politics“ und „Ein Klassischer Fürst“. – Der Satz gilt, in negativem Sinne, auch für Tyrannen, Diktatoren. Ihre Politik in entarteter Form „schafft“ auch – mit Niedermachen bis hin zum Vernichten.

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Kap. 4: Die Konstruktion von Geschichte II

Erste Betrachtung: die unterhaltsame Seite der Gesprächsprotokolle Bevor ich denn die Diskussion der Gesprächsprotokolle im Einzelnen durchführe, sei zuerst etwas eher Unvermutetes herausgestrichen, denkt man an die Tätigkeit „Archivstudien“: Diese Gesprächsprotokolle sind unterhaltsam. Nach der landläufigen Vorstellung sind Archivstudien eine recht prosaische Angelegenheit. Man schaut stundenlang unter nicht unbedingt stimulierenden Bedingungen papierne Unterlagen durch, aus denen das Leben, von dem sie bezeugen, verschwunden zu sein scheint. Das ist eine Fehlannahme. Insbesondere, wenn man die Protokolle der Gespräche, um die es hier geht, hernimmt. Denn diese sind anregend, kurzweilig, unterhaltend, ob des Schauspiels, das in ihnen eingefangen ist. Politische Akteure unterreden sich und sie führen dabei sich selber auf, ihren Part, ihr Bestreben, ihr Vorgehen. Sie sprechen nur, doch in Wahrheit treten sie auf und agieren mit ihren Worten. Sie bezeugen durch diese Texte Leidenschaft, Raffinesse, Phantasie, Kreativität, Ironie, Satire, Ungeduld, Wunschdenken, Selbsttäuschung, Berechnung, Indifferenz, Unlust, Verstimmung, Verbohrtheit, die besonderen Eigenheiten ihres Charakters. Wir haben im Nachhinein scheinbar nichts als mitgeschriebene Worte. Und doch blicken wir durch sie auf ein Opus von Inszenierungen, auf ein Schauspiel politischen Handelns mit allen Komponenten der comédie humaine. Hubert Védrine beispielsweise wartete, wenn er an einem der politischen Gespräche als Berater Mitterrands und als Protokollant („preneur des notes“) teilnahm, gelegentlich mit seinen Zeichenkünsten auf. Mitten in das, was er von dem zu protokollierenden Gespräch notierte, fügte er kleine Skizzen ein. Da sieht man dann inmitten des Texts oder am Rande ein Porträt von Mitterrand (siehe nächste Seite) oder von Mitterrands Gesprächspartner, oder Blumen, oder auch das Design eines Kleids.2 Hohe Politik wird beraten, und es wird zu ihr zeichnerisch Abstand genommen. Die Person, mit der Mitterrand spricht, oder die Sache, um dies es geht, kann noch so wichtig sein, man kann sich von ihr lösen, indem man spielerisch vor sich hinzeichnet. Das ist vergnüglich und zugleich methodisch. Als ich von Hubert Védrine erfahren wollte, was das Motiv für seine in Gesprächsprotokolle eingezeichneten Skizzen gewesen sei, schrieb er mir: „Das war eine Art, dem Denken zu erlauben, seinen Weg zu finden. Die Hand beschäftigt zu haben, befreit den Geist. Oder [es geschah] aus Freude an der Karikatur.“3 2 Siehe das handschriftliche „Verbatim“ von Védrine vom französisch-britischen Treffen am 4.–5. November 1982 mit der Skizze eines Kopfes (AN-AG/5(4)/CD/75, Dossier 2); das handschriftliche „Verbatim“ von Védrine des Gesprächs zwischen Mitterrand und Thatcher am 18. November 1985 mit der Skizze einer Art von chinesischem Kleid (AN-AG/5(4)/CD/75, Dossier 2); Védrines Porträtskizze von Mitterrand auf seinem „Verbatim“ des Gesprächs zwischen Mitterrand und dem Ersten Stellvertretenden Außenminister der UdSSR, Georgi Markowitsch Kornijenko, am 21. November 1985 (AN-AG/5/(4)/CD/75, Dossier 3); das handschriftliche „Verbatim“ von Védrine des Gesprächs zwischen Mitterrand und Eberhard Diepgen am 5. November 1986 mit Blumenblättern (AN-AG/5(4)/CD/66). 3 Mitteilung am 29. März 2019 durch eine elektronische Nachricht.

Erste Betrachtung: die unterhaltsame Seite der Gesprächsprotokolle

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Védrine liebte es auch, die Sprache derer, die er protokollierte, authentisch einzufangen, Witziges oder Drastisches oder Spöttisches wortgenau zu erhalten und mit seiner Gesprächsaufzeichnung weiterzugeben. Was er so notierte, ist unzweifelhaft aufschlussreich, muss aber als „Protokoll“ im Lichte dieser Sprachvorliebe gesehen werden. Ich komme darauf später zurück.

Védrines Porträtskizze von Mitterrand auf seinem Protokoll des Gesprächs zwischen Mitterrand und dem Ersten Stellvertretenden Außenminister der UdSSR, Georgi Markowitsch Kornijenko, am 21. Nov. 1985.

Eine unterhaltsame Seite der Gesprächsaufzeichnungen sind außerdem die Momente des Spottens, die in ihnen festgehalten sind. Man scherzte, witzelte, lästerte auch gerne einmal bei jenen Unterredungen, in die wir durch die Aufzeichnungen hineinhören können. Der Spott galt dann natürlich Abwesenden. Willy Brandt zum Beispiel, als sich Helmut Kohl am 10. Februar 1990 mit Michael G ­ orbatschow unterhielt und dabei über die bevorstehenden Wahlen in der DDR sprach. Er erinnerte an die dortigen Geschichten der kommunistischen und der sozialdemokratischen Partei, wobei sich die SPD ja 1945 mit den Kommunisten hätte zusammenschließen müssen. „Jetzt hat sich diese Partei neu gebildet“, so sagte er Gorbatschow. Und zur Illustration fügte Kohl spöttisch an: „Willy Brandt, den Sie

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gut kennen, reist jetzt wie ein Bischof oder Metropolit durch das Land und erteilt allen seinen Segen.“ Gorbatschow, nicht verlegen, spottete zurück: „Sie sitzen auch nicht nur zu Hause.“4 Was die Selbstinszenierung im Gespräch mit anderen anbelangt, fällt Mitterrand ganz besonders unter den politischen Akteuren auf, mit denen wir uns hier beschäftigen. Er betrieb sie konsequent und kunstvoll.5 Wir treffen in den Gesprächsprotokollen einen vollendeten Darsteller seiner selbst an. Ganz der Rolle bewusst, in der er gesehen werden wollte, von den Zeitgenossen wie von der Nachwelt. Wie die Mitschrift seines Gesprächs am 4. Mai 1983 mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Hú Yàobāng, zeigt, konnte er dabei auf erstaunliche Weise erfinderisch und freigiebig mit Ausführungen zu seiner Person sein. Im Laufe jenes Gesprächs drückte Hú Yàobāng seine Bewunderung für Charles de Gaulle aus, insbesondere für dessen historische Tat, in der Zeit des Zweiten Weltkriegs die Selbständigkeit Frankreichs zu behaupten. Dem schloss sich Mitterrand an, indem er die Bewunderung, die De Gaulle galt, auch auf sich lenkte und geradewegs fabulierte. Er habe, so sagte er, „in London und Algier an der Seite des Generals de Gaulle (aux côtés du Général de Gaulle)“ gestanden. So ist es im handschriftlichen Original der französischen Aufzeichnung der Unterredung vermerkt. Im Zuge der maschinenschriftlichen Ausarbeitung des Protokolls wurde indes Mitterrands Ausführung verändert. Dort heißt es nun: „Ich bin in London und in Algier gewesen, wo ich den General de Gaulle getroffen habe (où j’ai rencontré le Général de Gaulle).“ Es muss sich jemand an Mitterrands phantasievoller Selbstinszenierung gestoßen und folglich diese Veränderung vorgenommen haben. Denn Mitterrand stand in jener Zeit mitnichten „an der Seite“ Charles de Gaulles. Dessen Aufforderung, seine Widerstandsgruppe der Führung De Gaulles unterzustellen, fügte er sich nicht, und er und De Gaulle gingen nach ihrem persönlichen Treffen in Algier im Dezember 1943 – dem keineswegs ein persönliches Treffen in London vorausgegangen war, noch später eines folgte – in gegenseitiger Abneigung auseinander.6 Aber auch wenn Mitterrands Selbstdarstellung historisch gesehen unzutreffend war, sie war als Performance real im Moment jener Unterredung mit Hú Yàobāng und konnte ihre Wirkung entfalten. Zu Recht also korrigierte jemand die verfälschte Selbstdarstellung des Präsidenten in der maschinenschriftlichen Ausarbeitung der Gesprächsaufzeichnung. Die getippten Zeilen mit der sachlichen Korrektur sind dort durchgestrichen und handschriftlich ist darüber geschrieben,

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Sow. Dok., 325; für das deutsche Protokoll siehe Dok. Dt. Einheit, 801. Siehe „Ein klassischer Fürst“. 6 Mitterrand war in London im November 1943 und im Januar und Februar 1944. Er traf dort indes nur Mitarbeiter von De Gaulle, nicht diesen selbst. Siehe die Einzelheiten dazu und zu dem Treffen mit De Gaulle in Algier kurz nach Mitterrands Ankunft dort am 3. Dezember 1943: Philip Short, Mitterrand. A Study in Ambiguity, London: The Bodley Head, 2013, 89–97. 5

Zweite Betrachtung: die Produzenten der Protokolle

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was Mitterrand zu Hú Yàobāng wirklich gesagt hatte: Er sei damals „an der Seite des Generals de Gaulle“ gewesen.7

Zweite Betrachtung: die Produzenten der Protokolle Wenn es sich nicht um einen erweiterten Kreis von Teilnehmern handelte, nahmen gewöhnlich an den Gesprächen, auf die wir hier schauen, sechs Personen teil: Die beiden Protagonisten, also beispielsweise zwei Regierungschefs, sowie von jeder Seite – wie es meistens notwendig war – eine Übersetzerin oder ein Übersetzer, und je ein Berater oder eine Beraterin. Da nicht mitgeschnitten wurde, aber protokolliert werden sollte, nahmen die beiden Berater auch die Rolle der Protokollanten ein, jeweils für die eine der beiden Seiten. So entstanden von dem, was gesagt wurde, zweierlei handschriftliche Notizen, angebracht manchmal auf den Briefbögen eines Hotels, eines Kongresszentrums, oder der Rückseite einer Menükarte. Die Protokollanten glichen ihre Notizen nach dem Gespräch nicht ab. Solches versagten sie sich schon wegen des sprachlichen Unterschieds ihrer Aufzeichnungen, etwa zwischen Englisch und Französisch, oder Deutsch und Italienisch. Die Protagonisten sprachen zueinander in ihrer je eigenen Sprache, also musste jeder Redeteil des einen in die Sprache des anderen übersetzt werden. Aus einer anderen Sprache übersetzten immer Dolmetscher der eigenen Seite. So brachten die Protagonisten für Gespräche in einem anderen als dem eigenen Land dorthin ihre eigenen Dolmetscher mit; manchmal sprang auch ein der Sprache des anderen Landes kundiger Berater als Übersetzer ein. Für Dolmetscher – und, wie sich gleich zeigt, auch eine andere Person – konnte es kritisch werden, wenn ein Mitglied der eigenen Delegation die andere Sprache ebenfalls verstand. Dann konnte geschehen, was Joachim Bitterlich einmal berichtete. „Ein einziges Mal“, so sagte er bei einem Interview, habe er „es gewagt, im Élysée die manchmal unsäglichen Übersetzungen von Madame Sauzay (Mitterrands Übersetzerin für Deutsch) zu unterbrechen. Da hat mich Mitterrand nur böse angestarrt, und Kohl hat eingreifen müssen und gesagt: ‚François, wenn der Bitterlich uns unterbricht und korrigiert, dann ist da was dran.‘“8 Diese Anekdote ist mehr als amüsant. Sie erhellt ein wesentliches und, ja, folgenschweres Element in der Unterredung der Protagonisten wie, im weiteren, in der Produktion der Gesprächsprotokolle. Die Protagonisten politischen Geschehens, so kann verallgemeinert werden, verstehen von ihrem Gegenüber nicht das, 7

Compte-rendu de l’Entretien entre le Président de la République et M. Hu Yaobang, Secrétaire Général du Parti Communiste Chinois, à Pekin, Le Mercredi 4 Mai 1983 (AN-AG/5(4)/ CD/66, Dossier 28). 8 Forschungsgespräch, 17. August 1998, in Bonn.

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was dieser gesagt hat, sondern das, was ihr Dolmetscher ihnen von dem, was ihr Gegenüber gesagt hat, sagt. Und sie verstehen dies in der Art, in der es ihnen ihr Dolmetscher sagt. Wenn ein Dolmetscher es so will, kann er Boshaftes mildern oder auch steigern, manches nur verkürzt oder summarisch übersetzen, politisch durchaus bedeutsame Wortspiele verflachen und damit um ihre Wirkung bringen. Solche Sprachmacht, die nicht zuletzt auch eine politische Macht ist, modelliert sowohl die Unterredung der Protagonisten wie die im Anschluss verfassten Gesprächsprotokolle. Eine weitere, auch amüsante und doch sinnfällige Anekdote sei hierzu eingeflochten. Nach der Erinnerung von Charles Powell gab es in der europäischen Politik zwischen England und Frankreich immer wieder „heftige Zusammenstöße“. Bei einem von diesen habe der französische Präsident Jacques Chirac ein „ungezogenes Wort über Margaret Thatcher“ ausgesprochen. Doch „glücklicherweise verstand sie es nicht und die Dolmetscher waren zu schockiert, um es zu übersetzen“.9

Dritte Betrachtung: von den Notizen zur Ausarbeitung Naturgemäß obliegt es den Protokollanten, ihre handschriftlichen Aufzeichnungen zu einem förmlichen Protokoll auszuarbeiten, allein oder mithilfe einer Schreibkraft. Wenn sie allerdings dieser Aufgabe überhaupt nachkommen … und davon spreche ich noch gleich. Arbeiten sie indes ihre Aufzeichnungen aus, betätigen sie sich als die ersten Geschichtsschreiber, die federführend für alle Nachfolger sind. Sie haben, der Umstände halber, ihre Aufzeichnungen hastig vorgenommen, nur Unvollständiges notiert, Stichworte, Halbsätze, Wendungen, Begriffsgebilde. Jetzt schreiben sie das Unvollständige aus, machen daraus korrekte Sätze, zusammenhängende Aussagen, kompakte Ausführungen, nachgebildete Diskussionsabläufe, logische Verkettungen. Sie fügen Wortfetzen  – wie notiert  – zu einem wahrlichen Gespräch  – wie nun protokollarisch konstruiert  – zusammen. Wenn sie mit ihrer Ausarbeitung eines Protokolls allerdings zu lange warten, kann ihnen geschehen, was Joachim Bitterlich, wie er einmal berichtete, unterlaufen ist: Er konnte seine eigenen Notizen nicht mehr „dechiffrieren“.10 Aus dem Geschehen eines Gesprächs schaffen die Protokollanten, wenn sie ihre Aufzeichnungen zu einem förmlichen Protokoll ausarbeiten, einen geschichtsträchtigen Erweis, der fortan als Dokument für alle Geschichtsschreibung gilt. Selbst wenn ihre Notizen für ein Protokoll noch den Worten der Protagonisten gleich sind, so ist das verfasste Protokoll ihr Werk. Sie schreiben damit „Geschichte“, und auf diese Geschichte baut in der Folgezeit die Historiographie. 9

„From the archives: Why England and France will never be best friends“, in: The Spectator, 17. Februar 2012 (https://www.spectator.co.uk/article/from-the-archives-why-englandand-france-will-never-be-best-friends, aufgerufen am 14. März 2022). 10 Forschungsgespräch, 17. März 2004, in Paris.

Vierte Betrachtung: Genehmigung der Protokolle

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Die Namen der Protokollanten erfährt man durch die Protokolle nicht immer. Sind diese nur in ihrem ursprünglichen, nicht ausgearbeiteten Zustand erhalten, ist auf diesen ohnedies nicht vermerkt, wer hier protokolliert hat. Bei den ausgearbeiteten Protokollen verhält es sich anders. Im Falle der deutschen, die gedruckt vorliegen, werden Protokollanten genannt11, nicht so bei den russischen, die der entsprechende Dokumentenband enthält12; und nur gelegentlich kann man bei dem einschlägigen britischen Dokumentenband13 erkennen, wer über ein Gespräch ein Protokoll verfasst hat; das trifft gleichermaßen für die digital zugänglichen amerikanischen Protokollaufzeichnungen wie für die archivierten französischen Protokolle zu. Man kann dann nur aus der namentlichen Anführung von Beratern, die an dem betreffenden Gespräch teilgenommen haben, auf den vermutlichen Protokollanten schließen. Es kann allerdings auch ein(e) Dolmetscher(in) Protokoll geführt haben, und wiederum wird der betreffende Name einmal angeführt und einmal nicht. Die Angaben zu den Protokollanten sind gleichfalls unterschiedlich bei den Gesprächen, die am Telefon – und das nicht selten – geführt werden. Auf diese Gespräche kann übertragen werden, was hier von den Gesprächen bei persönlicher Begegnung gesagt wird.

Vierte Betrachtung: Genehmigung der Protokolle Die gerade beschriebene protokollarische Überlieferung gibt, von einzelnen Fällen abgesehen, keinen Aufschluss darüber, ob diejenigen, deren Gespräche protokolliert wurden, die nachträglich angefertigten Protokolle auch ansahen oder sogar genehmigten.14 Realistischerweise wird man annehmen müssen, dass beispielsweise amerikanische Präsidenten oder deutsche Bundeskanzler kaum Zeit 11 Siehe Dok. Dt. Einheit, Dipl. Dt. Einheit.  – Bei dem Forschungsgespräch mit mir am 17. August 1998 im Bundeskanzleramt äußerte sich Kanzlerberater Joachim Bitterlich ausführlich zur Entstehungsgeschichte des hier zuerst genannten Dokumentenbands, einer Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramts zur „Deutschen Einheit“. Er – schließlich sei man noch Beamter – sei „dagegen gewesen, diese Akten herauszugeben“. Sechs Monate sei es hin und her gegangen, aber dann sei eben zugunsten einer Herausgabe entschieden worden, und „es gebe halt die Hierarchie“. Sie – also das Kanzleramt – seien „reingelegt worden“. Es sei verabredet gewesen, dass ihnen alle diejenigen Akten vorher gezeigt würden, an die für die geplante Edition gedacht würde. Aber es seien dann von „mehreren“ Personen gleich ganze 12 Aktenbestände herausgesucht worden, und „sie“ (also die Beamten im Kanzleramt) „hätten das gar nicht alles kontrollieren können“. Er, Bitterlich, hätte wenigstens verhindern können, dass das Suchteam an die Europa-Akten gegangen sei, die es „furchtbar gerne gehabt hätte“. 12 Siehe Sow. Dok. 13 Siehe DBPO. 14 In dem Dokumentenband „Diplomatie für die deutsche Einheit“ (Dipl. Dt. Einheit) ersieht man indes – hier als Einzelbeispiel angeführt – bei dem als „Dokument 13“ auf den Seiten 73–81 abgedruckten „Vermerk des D 2, Kastrup, vom 6. Dezember 1989 über das Gespräch von Bundesaußenminister Genscher mit Generalsekretär Gorbačev am 5. Dezember 1989 in Moskau“, dass dieser zwei Tage nach dem protokollierten Gespräch, am 7. Dezember, von Außenminister Genscher abgezeichnet wurde (was immer „abzeichnen“ bedeuten mag).

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dafür haben, mitunter seitenlange Protokolltexte durchzusehen und diese daraufhin zu prüfen, ob sie wahrlich das Gespräch schildern, das sie angeblich wiedergeben. Ihre eigene Erinnerung daran – nach der mittlerweile verstrichenen Zeit und bei der ständigen intensiven und stets variierenden Beanspruchung ihrer Aufmerksamkeit – dürfte schon etwas verblasst sein, an den genauen Wortlaut jedenfalls, dessen Wiedergabe das Protokoll suggeriert. Was genau sollen sie kontrollieren? Die Protokollkunst ihrer Berater? Deren Fleiß? Die Kraft und Verlässlichkeit ihres eigenen Erinnerungsvermögens? Fünfte Betrachtung: die mentalen Notizen Indes: die Gesprächspartner haben sich in der Regel bestimmte Inhalte von Gesprächen – Informationen, Absprachen, Urteile, Pläne, Absichtserklärungen, Versprechungen, persönliche Verletzungen, Enttäuschungen, entdeckte Tricks – sehr wohl gemerkt, und haben darin einige Übung, sind die betreffenden Gespräche doch elementare Mittel und erstrangige Ausführungen ihrer Regierungsarbeit. Diese Inhalte – alle, oder Teile davon – werden ebenfalls ihre Berater und gegebenenfalls andere Regierungsmitglieder, die an dem Gespräch teilnahmen, im Kopf behalten haben. Es handelt sich also um mentale Notizen, die ins Bewusstsein der Gesprächsteilnehmer eingegangen sind und dort haften bleiben, in der Art einer gemeinsam verfügbaren und je nach Anlass abrufbaren Erinnerung. Je nach Bedarf, bei späteren Gesprächen oder bei Besprechungen, können diese Notizen aus dem Gedächtnis hervorgeholt und strategisch eingesetzt werden, beispielsweise zur Klärung eines Sachverhalts, oder zum Zweck eines Mitwissens anderer, oder auch dafür, ein Einvernehmen (wieder-) herzustellen, Vorstellungen anderer zu korrigieren und womöglich sogar in der Absicht, sie zu warnen. Ihrer Natur nach gibt es von den mentalen Notizen nur sporadisch Spuren, auch wenn es im Zuge des hermeneutischen Bemühens mit der Zeit möglich ist, ein Sensorium für sie zu entwickeln, und sie so gezielt zu suchen und ihren Spuren zu folgen. Ansonsten sind die mentalen Notizen für die Historiographie verloren, es sei denn, sie werden von den Akteuren selbst bei der Gelegenheit historiographisch angelegter Interviews wiedergegeben, wofür allerdings dann wiederum die Einschränkungen gelten, die schon bei dem Thema „Zeitzeugenschaft“ ausformuliert worden sind. Daran denken die Akteure selber natürlich nicht, sie nehmen ihre mentalen Notizen ernst und arbeiten mit diesen. Sie sollten folglich historiographisch erschlossen werden, so gut es geht. Die Methoden dafür sind die gerade erwähnte Spurensuche und eben Interviews – am besten Interviews von einer besonderen Art jedoch, die ich „Tiefen-Interviews“ nennen würde. Diese ereignen sich, wenn das gegenwärtige oder frühere Regierungsmitglied, das interviewt wird, sich im Fluss des Gesprächs „frei“ geredet hat und die Anwesenheit der Person, die es interviewt, nur noch als ein Gegenüber bemerkt, das gänzlich geduldig, aufmerksam und anteilnehmend zuhört, und allenfalls seinerseits spricht, um zum Weiterreden zu ermuntern.

Siebte Betrachtung: die Protokolle, die Protagonisten und deren Werke

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Sechste Betrachtung: die sprachliche Fassung der Protokolle Die Geschichtsschreibung der Protokollanten – denn eine solche findet ja, wie schon betont, mit der schriftlichen Ausarbeitung der Gesprächsnotizen statt – kann, einerseits, weitgehend unverstellt oder andererseits auch ausdeutend und ergänzend ausfallen, mit verschiedenen Zwischenstufen der sprachlichen Ausformung. So hängt denn sehr viel von der Art ab, in welcher die Protokolle abgefasst werden. Je nach der gewählten Art erscheint das festgehaltene Gespräch in dieser oder jener Weise. Ist ein Gespräch weitgehend unverstellt wiedergegeben, „hört“ man gewissermaßen alles mit, auch Nebensächliches, wie es scheint, oder zögerliche, zu einer Aussage herantastende Worte, oder nur auflockernd gemeinte Zwischenbemerkungen. Man wird dann möglicherweise nicht gleich das Wesentliche des Besprochenen mitbekommen, wird dafür jedoch, sofern man das Protokoll verschiedene Male liest, es sich mehrmals an-„hört“, lernen, sich in der Sprach- und Denkwelt des Protokollierten auszukennen. Im Unterschied dazu kann ein Protokollant aus dem, was er bei dem Gespräch notiert hat, auch einen durch und durch von ihm selbst überformten Bericht verfertigen, der allein dem aus seiner Sicht festzuhaltenden Inhalt des Gesprächs dient. Dann ist außer solchen Routine-Einschüben wie „Nach der Ansicht des Präsidenten …“, „Die Premierministerin hielt fest …“, von einem „Gespräch“ nichts mehr übriggeblieben. Dafür hat sich umso mehr die sprachliche Hoheit des Protokollanten in die dokumentarische Überlieferung – also die Historiographie – eingeschrieben. Siebte Betrachtung: die Protokolle, die Protagonisten und deren Werke Regierungschefs und Minister, deren Berater, und andere Akteure in Regierungen sorgen, wenn ihre Zeit in der Regierung zu Ende geht, dafür, sie in ihrer Erinnerung präsent zu halten. Sie scheiden aus ihren Ämtern nicht aus, ohne dokumentarisches Material zu sichern, mit dem sie anschließend arbeiten können, sei es zum Zwecke ihrer Memoiren, ihrer eigenen Darstellungen des politischen Handelns und Geschehens, bei dem sie mitgewirkt haben, ihrer Ausarbeitungen der von ihnen beanspruchten Zeitzeugenschaft – die später gern als „Tagebücher“ ausgegeben werden. Unter diesem dokumentarischen Material, auf das sie – oder bei Memoiren oft ihre ghost writer – dabei zurückgreifen, befinden sich auch die Gesprächsprotokolle, über die ich hier spreche. Diese sind für sie natürlich Quellen ersten Ranges. Im Falle von Regierungschefs und Ministern – den uns hier am meisten interessierenden Personen – sind sie es ja selber, deren Worte hier protokollarisch niedergelegt und für immer verbürgt sind. Sie können sich durch die Protokolle in den Werken, die sie nun verfassen (lassen), selber zu Wort kommen lassen. ‚Ich habe zu … gesagt‘, ‚Meine Einschätzung teilte ich folgendermaßen mit‘, heißt es dann zum Beispiel. Nur: Was sie so wiedergeben und als authentisch gelten lassen

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wollen, sind nicht ihre Worte. Es sind die Aussagen, die Protokollanten aus ihren Worten gemacht haben. Ihrem historiographischen Zeugnis, handelnd von sich selber und dem eigenen Tun im angesprochenen Geschehen, liegen schon Akte der Historiographie durch andere voraus, und diese sind in es eingegangen. Was erhalten wir zur Lektüre? Memoiren, Tagebücher, Darstellungen der Akteure, ja. Aber seien oder werden wir uns ihnen gegenüber bewusst, dass vor ihrer Abfassung schon einiges von dem, was in ihnen steht, durch andere „vorgeschrieben“ wurde.

Achte Betrachtung: dasselbe Gespräch und zwei unterschiedliche Protokolle. Ein Beispiel für zahlreiche andere Am 20. Januar 1990 führten Präsident Mitterrand und Premierministerin Thatcher im Élysée miteinander ein langes Gespräch. Dabei ging es fast gänzlich um die Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands. Was bei dieser Unterredung gesagt wurde, und, vor allem, wie, ist für eine Einschätzung der französischen beziehungsweise britischen Haltung dazu in jenem Monat von erheblicher Bedeutung. Zu dem Gespräch gibt es zwei protokollarische Aufzeichnungen, eine von Loïc Hennekinne, einem diplomatischen Berater Mitterrands, und eine von Charles Powell, dem hier schon vorgestellten Private Secretary von Thatcher. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Wie üblich, wurde von jeder Seite in der eigenen Sprache protokolliert. Überaus auffallend hingegen ist die Verschiedenheit der beiden Aufzeichnungen. Im Folgenden soll sie über einen formalen wie inhaltlichen Vergleich aufgezeigt werden. Man wird zum einen am konkreten Beispiel ersehen können, was schon hervorgehoben wurde: vom selben Gespräch gibt es zwei auseinanderfallende Protokolle, und folglich eine unterschiedliche dokumentarische Überlieferung, die sich wiederum verschiedenartig auf die Geschichtsschreibung auswirken kann, wenn für diese nicht beide Protokolle herangezogen werden (so dies möglich ist). Man wird zum anderen erkennen müssen, dass Gesprächsprotokolle, je nach den politischen Vorstellungen und Absichten des Protokollanten, in einer bestimmten Weise lenken können, und dies vermutlich auch tun sollen: erst einmal beeinflusst die Lektüre die unmittelbaren Adressaten und Akteure, und dann im Weiteren – die Protokolle werden ja archiviert – die historiographische Rezeption. Das von Loïc Hennekinne erstellte neunseitige französische Protokoll gibt die Unterredung konsequent gemäß ihrer Natur eines Gesprächs wieder.15 François Mitterrand beginnt es, dann redet Margaret Thatcher, Mitterrand folgt ihr, und so fort. Der Wechsel des Gesprächs ist voll erhalten, und so dessen Lebendigkeit und Spontaneität. Auch noch so kurze Zwischenfragen oder Einschübe sind notiert. An einer Stelle beklagt sich Mitterrand über die „Beschimpfungen“ gegen ihn in der 15

Loïc Hennekinne, Entretien François Mitterrand – Mme Thatcher, 20. Januar 1990 (ANAG/5(4)/CD/68).

Achte Betrachtung: dasselbe Gespräch und zwei unterschiedliche Protokolle

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bundesdeutschen Presse bezüglich Äußerungen von ihm zur Wiedervereinigung. Daraufhin spricht ihm Thatcher tröstend zu: „Oh don’t worry about it!“ (so auf Englisch wiedergegeben). Gewiss, Hennekinne hat sein Protokoll auf Französisch verfasst. Aber offensichtlich wollte er es derartig verfassen, dass Mitterrand und Thatcher so zu „hören“ sind wie sie sprachen, in ihren Worten, wenngleich natürlich, bei Thatcher, ins Französische übersetzt. Und Hennekinne beachtete skrupulös auch dies: Sätze werden in einem Gespräch anders formuliert als im Niederschreiben eines Texts. Die von ihm protokollierten Sätze sind ganz deutlich Sätze direkt aus einer Unterredung. Charles Powell verfasste sein Protokoll in der Form eines Briefes an Stephen Wall, den Private Secretary des britischen Außenministers Douglas Hurd.16 Demgemäß sind die viereinhalb eng beschriebenen Seiten des Briefes schon von dem Gespräch, über das berichtet wird, abgelöst. Alles ist rapportierend durchformuliert, die Sprechweise derer, die sich unterredet hatten, dem Schreibduktus des Protokollanten gewichen. Dieser verleiht dem Gespräch zwischen Mitterrand und Thatcher die Textur eines Traktats, in dem sich logische Schritte, Feststellungen von Prinzipien und Positionen, Schlussfolgerungen aneinanderreihen. Das ist allein Powells Werk. Alles ist in eine schlüssige Form gebracht, und aus dieser Form spricht, was man sich nach Powell offensichtlich als die von Thatcher und Mitterrand einzuschlagende Politik gegenüber der deutschen Frage am besten vorzustellen hatte. Sein Gesprächsprotokoll ist eine politische Flugschrift – mit der entsprechend möglichen und wahrscheinlich beabsichtigten Wirkung. Beide Texte, die Gesprächsaufzeichnung von Loïc Hennekinne wie der Brief von Charles Powell, stimmen bei der Anführung all der Punkte überein, die Mitterrand und Thatcher bei ihrer Unterredung behandelt hatten. Allerdings übergeht Powell den kurzen Bericht Mitterrands zu seiner gerade stattgefundenen Ungarn-Reise, mit dem, nach Hennekinne (dessen Namen Powell beharrlich falsch als „Henikine“ wiedergibt), das Gespräch begann. Powell hingegen erklärt, dass Thatcher die Unterredung eröffnet habe. Diese tritt in seinem Brief als diejenige auf, die fortwährend zu programmatischen Formulierungen greift, die sie dreimal zu der strategischen Anleitung, die Wiedervereinigung „abzubremsen (slow down)“, zusammenfasst. Dem stehen, nach Hennekinne, die Äußerungen Mitterrands gegenüber: „Ich sage nicht Nein zu der Wiedervereinigung: das wäre dumm und irreal“, „Ich habe Kohl gesagt: Ich möchte von Ihnen nicht verlangen, auf das Ideal der Wiedervereinigung zu verzichten.“ Indes stimmt Mitterrand mit Thatcher darin überein, dass die Deutschen – die Deutschen in der Bundesrepublik und dort insbesondere Kanzler Kohl – es einem derzeit schwermachen würden, mit ihrer augenscheinlichen Eile, die Wiedervereinigung zu erreichen, und mit einigen Verhaltensweisen im politischen Verkehr, die man als rücksichtslos, arrogant, expansionslüstern verstehen könnte. Mitterrand führt jene Klagepunkte an, die er zur gleichen Zeit

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Siehe PREM 19–3346 und DBPO, 215–219.

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ebenfalls im Gespräch mit anderen vorbringt.17 Doch kann Powell nicht umhin, das ansonsten so Fragende, Zögernde in den Äußerungen Mitterrands, das Hennekinne sorgfältig eingefangen hat, gleich nach der Feststellung, „Er [Mitterrand] stimmte der Analyse der Premierministerin zu“, in den seiner Feststellung widersprechenden, knappen Satz zu bringen: „Er war wahrlich ratlos, bezüglich dessen, was wir tun könnten.“ Das auf diese Weisen wiedergegebene Gespräch am 20. Januar 1990 hatte nicht die Folgen, die man sich in Downing Street 10 gewünscht hätte. Die Entwicklung zur Wiedervereinigung hin verlangsamte sich nicht, und mit dem Beschluss zu den Zwei-Plus-Vier Verhandlungen Anfang Februar in Ottawa wurde sie in eine Form gebracht, die sie beschleunigte. Hingegen ist jenes Gespräch in historiographischer Hinsicht bedeutend. Einmal wegen des großen Unterschieds zwischen der französischen und der britischen Protokollierung und den daraus erschließbaren unterschiedlichen Standpunkten der Regierenden. Und dann wegen des – von Inszenierungen nicht freien – politischen Spiels zwischen Mitterrand und Thatcher, das, wie mein Textteil zu den „Charakterstudien“ gezeigt hat, für den französischen Präsidenten ein Mittel seiner Politik und für die Premierministerin ein Absturz aus Vorurteilen und Illusionen war.18

Neunte Betrachtung: auch parallel gefasste Notizen von einem Gespräch divergieren schon Es kommt eher selten vor, dass bei einem der hier betrachteten „Gipfelgespräche“ auf derselben Seite zwei Protokollanten tätig sind, also parallel zueinander mitschreiben, um, wie an sich vorgesehen, anschließend ihre Notizen zu einem förmlichen Protokoll auszuarbeiten. Was immer der Grund für ein solches Vorgehen am 19. Mai 1989 gewesen sein mag, als sich Präsident Mitterrand in Ottawa – genauer: im dortigen Gästehaus der kanadischen Regierung, Rideau Gate genannt – mit dem kanadischen Premierminister Brian Mulroney unterredete, es liegen jedenfalls von dieser Unterredung auf der französischen Seite zwei Gesprächsaufzeichnungen vor. Die eine stammt von Mitterrands diplomatischem Berater Jean Musitelli, die andere von Hubert Védrine, Mitterrands damaligem Pressesprecher.19 Beide Aufzeichnungen wurden nicht zu einem förmlichen Protokoll ausgearbeitet. Was allein erhalten ist, sind die handschriftlich, naturgemäß hastig aufs Papier geworfenen Notizen, bestehend aus halben oder nur kurzen Sätzen, mit zahlreichen 17 Klageworte unter den Chiffren „1913“ und „Schengen“, siehe: France and the Reunification of Germany. Leadership in the Workshop of World Politics, 301–305, und 336–338. 18 Siehe ferner den Abschnitt „Allying with Margaret Thatcher“, in: „The German Question is a European Question. France and the Reunification of Germany. A critical assessment“, 197–199, France and the Reunification of Germany, 418. 19 19 mai 1989 – Ottawa. Entretien avec Brian Mulroney (Notes manuscrites de Jean Musitelli). – FM-Mulroney – Ottawa – 19 mai 1989 (Notizen von Védrine, s. AN-AG/5(4)/CD/67).

Neunte Betrachtung: auch parallel gefasste Notizen divergieren schon

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Abkürzungen und Bemerkungen, die vor ihrer vollen Ausführung abbrechen. Auf archivalischer Seite wurden diese Notizen in eine maschinenschriftliche Form gebracht, ohne jede weitere Ausarbeitung, mit der Ausnahme lediglich, dass die eine oder andere Abkürzung ausgeschrieben wurde. Die beiden Gesprächsaufzeichnungen sind denn in einer Art von Zwischenstatus gegeben: zwischen dem Rohzustand der unmittelbar hingeworfenen Notizen und dem Zustand einer zur Lesbarkeit hin gebrachten Form, in welcher indes der Rohzustand gänzlich weiter zu erkennen ist. Die beiden Aufzeichnungen stechen beträchtlich voneinander ab. Dies macht die folgende graphische Darstellung (siehe die nächste Seite) jeweils paralleler Teile von ihnen deutlich. Der betreffende Gesprächsteil wurde ausgewählt, weil er Deutschland und die deutsche Frage im Kontext der neueren europäischen Geschichte betrifft. Der französische Präsident äußert sich dazu gegenüber dem kanadischen Premierminister und lässt dabei seinen historischen Assoziationen freien Lauf. Verwunderlichen Assoziationen, könnte man sagen. Und vielleicht wären sie auch nicht so roh, wie sie hier stehen, in ein förmliches, nicht zuletzt auf die historiographische Überlieferung und die Wirkung auf die Nachwelt hin ausgearbeitetes Protokoll hinüber geschrieben worden. Umso mehr wird man es zu schätzen wissen, dass diese Rohnotizen erhalten geblieben sind, und sich mit ihnen zeigt, wie verschieden voneinander sein kann, was zwei Mitarbeiter von ihrem Präsidenten im Gespräch mit einem anderen Regierungschef gleichzeitig gehört haben. Der von Védrine wiedergegebene Mitterrand hört sich, die Deutschen betreffend, um einiges kritischer an als der von Musitelli wiedergegebene. Das deutsche Volk, sagt der erstere, sei eines der „Expansion“, der Makel (faute) an ihm sei, „nach Böhmen, dann nach Polen, und weiter nach den fruchtbaren Ebenen der Ukraine und von Belarus auszugreifen“. Passend dazu führt Mitterrand in Védrines Version die in Frankreich bei solchen Auslassungen gebräuchliche – und deswegen bei all der in ihr angelegten Spitze zuletzt banalen – Redewendung vom deutschen „Drang nach Osten“ an. Keineswegs originell ist es denn weiter, wenn Mitterrand, wie Védrine in Klammer gesetzt vermerkt, den berüchtigt gewordenen und in Frankreich gerne nachgebetenen Ausspruch des französischen Schriftstellers François Mauriac zitiert: „Ich liebe Deutschland. Ich liebe es dermaßen, dass ich entzückt darüber bin, dass es zwei davon gibt.“20 Und doch sei, so sagt, Védrine zufolge, der französische Präsident dem kanadischen Premierminister, der „Traum“ 20 Eine verlässliche Belegstelle für diesen Ausspruch von Mauriac, wenngleich überaus häufig angeführt, lässt sich nicht finden. Nach Jean Mondot ist er apokryph. Siehe: Bernhard Gotto / Horst Möller / Jean Mondot (Hg.), Krisen und Krisenbewusstsein in Deutschland und Frankreich in den 1960er Jahren, München: Oldenbourg 2012, 206. – Angesichts von dessen ablehnender Einstellung zur Wiedervereinigung ist es stimmig, dass Jean-Pierre Chévènement in einem Interview mit Le Télégramme am 25. Mai 2000 gleich den Ausspruch Mauriacs anführt, in einer eigenen Variante allerdings, sowohl zum Wortlaut des Ausspruchs wie zu dessen Ursprung (Mauriac gegenüber einem deutschen Diplomaten in Paris). Siehe: https:// www.letelegramme.fr/ar/viewarticle1024.php?aaaammjj=20000525&article=1158011&type=ar (aufgerufen am 11. Mai 2022).

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der Deutschen von einer Wiedervereinigung ein „konstantes Problem“ – also auch im Mai 1989, da das Gespräch zwischen den beiden Regierungschefs stattfindet. Eine Wiedervereinigung indes bedeute, so erklärt Mitterrand, im Ergebnis eine „deutsche Zentralmacht“ – was eine Zentralmacht in Europa heißen soll –, und diese stellt er als „bedrohlich (menaçante)“ hin. Sie ist deswegen „nicht unbedingt wünschenswert (pas forcément souhaitable). Sie „hängt von 1. den Sowjets und 2. den Alliierten [zusätzlich zur Sowjetunion auch Frankreich, die USA und Großbritannien] ab.“ Aber: „Insoweit als es darum geht, Deutsche zu vereinen, wird niemand die Macht dazu haben, sich entgegenzustellen“. Version Jean Musitelli

Version Hubert Védrine

La réunification, c’est le rêve de tous les Alle­ Sur la réunification allemande: mands. Kohl va souvent à Berlin et en Alle­ FM: c’est leur rêve; c’est un problème permagne de l’Est. Ayant ce souhait comme manent. patriote, il n’est pas sûr qu’il l’ait comme resLa solution de ce problème, qui n’est pas ponsable politique. forcément souhaitable, dépend: 1. des SoviéLa solution du problème dépend des Sovié­ tiques; 2. des alliés. tiques, c’est le gage principal dont ils disUne puissance centrale allemande est meposent face à un problème séculaire. naçante; le peuple allemand en expansion. Je ne considère pas que ce soit une menace. Drang nad ostern [nach Osten] … (FM cite Je ne vois pas les Russes … Mauriac) La France ça lui posait un problème. Guerres franco-allemandes, Bismarck après avoir vaincu les Autrichiens à Sadowa en [18]66 avait eut la sagesse de ne pas le [l’Empire d’Autriche] détruire: ce sont des Allemands, ils savent traiter la SI  d SUD, laissons les. Hitler, revanche de l’Allemagne du Sud contre la Prusse. Démantèle l’encadrement prussien de l’armée. La Prusse était la partie la moins nazifiée de l’Allemagne. Mais occasion pour les vainqueurs de détruire les pays forts. Je ne vois pas dans la démarche de Hitler la volonté d’envahir la France. Il a tout fait pour l’éviter. Il voulait conquérir les terres vierges de l’Est. Quant à la guerre de 1914, c’est un jeu de dominos, Autriche-Hongrie dans ses relations avec les Slaves. Les autres ont été entrainés par le jeu des alliances. L’ennemi héréditaire c’était l’Angleterre.

Bismark [sic] avait eu la sagesse de ne pas détruire l’Z[A]utriche – Hongrie après 1918. La France n’était pas visée en 1870, mais elle se mettait en travers des … de Bismark [sic]. Le roi Guillaume ne voulait pas devenir empereur; il voulait rester roi de Prusse. Hitler rejetait Frédéric II et la Prusse. …la Prusse était le pays le moins nazi. Les nazis s’appuyaient sur les Allemands du Sud, mais c’était une occasion pour le vainqueur [en 1945] de détruire la Prusse. Tant qu’il s’agit de rassembler des Allemands, personne n’a la force de s’y opposer. La faute: déborder vers la Bohême, puis vers la Pologne, puis vers les riches plaines d’Ukraine et de Biélorussie [Hitler?] Voulait éviter un conflit avec l’Ouest. Conquérir la France n’était pas un objectif, mais une nécessité. En [19]14–18 cela a été un jeu de dominos.

Zehnte Betrachtung: die Kunst der Historiographie  

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Wie anders dagegen ist das, was Musitelli von Mitterrand im Gespräch mit Mulroney gehört hat! Eine „Bedrohung“, die von einem vereinten Deutschland ausgehe? Nichts davon vernahm Musitelli. Im Gegenteil. Zu der „Lösung des Problems“, d. h. des „Traums“ der Deutschen von einer Wiedervereinigung, bemerkt ihm zufolge Mitterrand: „Ich finde nicht, dass dies eine Bedrohung sei.“ Und fügt, nur als Halbsatz notiert, hinzu: „Ich sehe nicht, dass die Russen …“, was natürlich Verschiedenes bedeuten kann, aber am ehesten vermuten lässt, dass die Sowjet­ union nach Mitterrand einer Wiedervereinigung nicht wirklich im Wege steht oder im Wege stehen kann. Und allein von dieser hänge sie ab, meint Mitterrand nach Musitelli, recht merkwürdigerweise, denn natürlich hatten die anderen drei Siegermächte von 1945 bei jedem Entscheid über die deutsche Einheit mitzureden. Doch die Geschichtskenntnisse und insbesondere die Geschichtsdeutung Mitterrands, die Musitellis und Védrines Notizen dokumentieren, erscheinen überhaupt als verwunderlich. Védrine verfährt unbarmherzig und belässt es dabei – entsprechend dem, was er gehört zu haben scheint –, dass Mitterrand den Sieg der Preußen bei der Schlacht von Königgrätz (für Franzosen: von Sadowa) statt in das richtige Jahr 1866 in das Jahr 1918 versetzt. Musitelli hörte indes anderes und notierte: 1866. Auf Frankreich hatte es Bismarck 1870 nicht abgesehen, meint wiederum eigenwillig der Mitterrand von Védrine, und nach beiden Zeugnissen schreibt der französische Präsident den Süddeutschen bzw. Süddeutschland eine Vorliebe für den Nationalsozialismus zu, und spricht Preußen von einer solchen frei.21 Hitler erkläre sich, so der Mitterrand von Musitelli, als eine „Revanche“ Süddeutschlands gegen Preußen. Der Geschichtsdeuter Mitterrand weiß: Hitler wollte nicht in Frankreich „einfallen“ (Version Musitelli), er wollte es nicht „erobern“ (Version Védrine). Und mit einem Sprung zurück zum ersten Weltkrieg beschließt der französische Präsident seine historiographischen Einlassungen im Gespräch mit dem kanadischen Premierminister. „Das war“, wie es Musitelli und Védrine in gleicher Weise hörten, ein „Dominoeffekt“ (jeu de dominos).

Zehnte Betrachtung: die Kunst der Historiographie  Bei den hier unternommenen kritischen Ausführungen zu den dokumentarischen Grundlagen von Geschichtsschreibung sind wir an einem Punkt angelangt, da sich uns die Frage stellt: Was bleibt? Wir schauten uns in einem empirischen Vorgehen 21

Diese Ansicht könnte Mitterrand durch seine Übersetzerin für Deutsch, Brigitte Sauzay, vermittelt worden sein, die solcher Ansicht war, und sie vehement vertrat. Sauzay beschäftigte sich intensiv mit Deutschland, seiner Literatur und Geschichte, und schrieb auch über das Land. Mitterrand fragte sie gelegentlich, welche deutschen Schriftsteller sie gerade lese. Und sie gab ihm dann Empfehlungen (u. a. Ernst Jünger, Theodor Fontane), verbunden mit Kontext-Erläuterungen: Preußen aufklärerisch, Bayern ominös. Sie habe Mitterrand Preußen nahegebracht, so sagte sie in einem Forschungsgespräch am 7. Juni 1996. Sie und er „hätten viel miteinander geredet, während offizieller Gelegenheiten, wenn sie eben als Dolmetscherin dicht bei ihm saß, und ihn das, was äußerlich vor sich ging, langweilte“.

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die verschiedenen Arten von Quellen auf den Prozess der Entstehung und Komposition hin an, und es zeigte sich, an der Empirie hinzugezogener Dokumente, dass Geschichtsschreibung, so wurde deutlich, schon von ihren dokumentarischen Anfängen her ein konstruierendes Unternehmen ist. Es erwies sich des Weiteren: Die Konstruktion beginnt mit den Anfängen. Und von dort aus geht diese fort, über alle Gebilde historiographischer Erzeugnisse hinweg. Was also bleibt? so werden wir uns unweigerlich fragen, ob dessen betroffen, was uns die Empirie des dokumentarischen Materials mitteilt. Was ist für eine Historiographie wahrlich verlässlich, wenn es schon nicht die Zeugnisse sind, die für sie nachweislich vorliegen, und auf welche folglich sie sich stützen möchte, um mit ihnen zu arbeiten? So aber fragen wir falsch. Das wäre die erste Folgerung aus den gewonnenen Einsichten. Das dokumentarische Material ist dokumentarisch, gewiss, aber die Weisen, in denen es dokumentarisch ist, sind sehr unterschiedlich – ungleichmäßig, gegensätzlich, verschiedenartig, mehrdeutig, spärlich, ausgefallen, routinehaft, sachlich, faktenreich, berechnend (um nur einige dieser Weisen anzuführen). Eine Geschichtsschreibung ist denn, so meine zweite Folgerung, zweifach gefordert. Sie hat sich selbstverständlich um ihre dokumentarischen Grundlagen zu bemühen. Doch dann hat sie sich einer zweiten Aufgabe zu stellen. Sie hat zudem die hermeneutische Kunstfertigkeit aufzubieten, durch die allein sich wirklich erschließt, was die Quellen alles bergen und, vor allem auch, wie sie es bergen. Inwieweit kommt dem Erinnern eines Zeitzeugen eine dokumentarische Qualität zu? Man muss es, so sprach ich darüber im vorigen Kapitel, entsprechend handhaben, mit einer bestimmten Fertigkeit, um den Zeitzeugen in die Tiefe seines Erinnerns zu führen, und ihn wegzubringen von den Erinnerungsschablonen, die er sich angewöhnt hat. Was ist von Werken der Akteure zu halten, die sie als Zeugnisse zu dem Geschehen vorlegen, in dem sie einmal wirkten? Man muss diese Texte gewissermaßen röntgen, um im vorgeblich durch und durch wahrheitsgetreu Berichteten wahrzunehmen, was diesem, oft mit Geschick und nicht immer absichtlich, assimiliert wurde, was mit dem Authentischen vermengt, was eliminiert oder uminterpretiert wurde. Wie ist die anscheinend härteste, verlässlichste Art von Dokument, ein Aktenstück, zu lesen? Mit den Augen eines Detektivs, so kann nicht genug betont werden, der auf alle Umstände der Produktion des Aktenstücks kommt und diese in Betracht zieht. Das sind, um die erheblichsten zu nennen, die Identität und die Motive dessen, der es verfasst hat, die Stadien der Herstellung des Dokuments wie ein Abgleichen des jeweiligen Wortlauts von Stadium zu Stadium, das intentionale Mitschreiben des Verfassers in das Ausarbeiten des Dokuments, die in diesem angeführten Fakten und die Weisen ihres Einbau. Und keinesfalls darf dabei, wenn möglich, die so offenbarende Technik eines Vergleichs des Aktenstücks mit einem parallelen von anderer Herkunft unterlassen werden. Historiographisch tätig zu sein, so mögen diese Beispiele nach meinen eingehenden Ausführungen zuvor noch einmal gezeigt haben, ist eine Kunst. Ich habe im vorangegangenen und in diesem Kapitel versucht aufzuweisen, wie sich diese

Zehnte Betrachtung: die Kunst der Historiographie  

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Kunstfertigkeit im Eingehen auf vorliegendes Material entfalten und wie sie zu gültigen historiographischen Erkenntnissen führen kann. Dabei geht es, so wollte ich gleichfalls verdeutlichen, um eine Disziplin, die einzuüben ist. Sie verlangt Beharrlichkeit, Findigkeit, Wissbegier. Die Quellen „verraten“ das, was alles in ihnen steckt, nicht auf einmal. Die Kunst ihnen gegenüber besteht darin, auf sie Techniken anzuwenden, die sie in den unterschiedlichen Weisen erschließen, in denen sie dies oder jenes bezeugen. Ich schlage hier denn eine Kunstfertigkeit zur Geschichtsschreibung als eigene Disziplin vor. Das historiographische Material lehrt sie uns. Sie hebt sich von diesem ab, begreifen wir in der Auseinandersetzung mit diesem nach und nach, wie wir es uns erschließen müssen. Wir erwerben Techniken. Und damit eben diese Kunst der Historiographie.

Kapitel 5

Wessen Geschichte? Es ist uns allen heute bekannt, wie die europäische Revolution von 1989–1990 ablief, und mit ihr die Wiedervereinigung Deutschlands. Wir wissen auch, dass diese Revolution anfänglich und immer wieder einem Sturz von Ereignissen glich, der alles mitzureißen schien. Geläufig ist uns gleichfalls, dass es in der europäischen und amerikanischen politischen Welt höchst unterschiedliche Vorstellungen darüber gab, wie zu reagieren sei auf das, was geschah, der Zusammenbruch des Komplexes „Kalter Krieg“ beziehungsweise der Sturm auf – in Mitterrands Worten – die „Ordnung“ von „Jalta“. Es lag dafür keinerlei Szenario vor. Die Aussage meines letzten Satzes gehört schon weniger zum historischen Allgemeinwissen. In dieses sind vielmehr mit der Zeit jene Narrative zu den Geschehnissen in den Jahren 1989–1990 eingegangen, die von politischer wie wissenschaftlicher Seite nachträglich aufgestellt wurden. Im Rückblick, so lesen wir dann oft, war der Vorblick der Akteure jener Zeit nicht schlecht. Ein geschichtlicher Ablauf wird angesetzt, der, was Deutschland betraf, eine Geschichte hin zu dessen Wiedervereinigung war, und, hinsichtlich Europas und der weiteren Welt, ein Ende des „Kalten Krieges“ zur Folge hatte. Dieses narrative Dispositiv lenkt und bestimmt nun unsere historische Erinnerung. Seine erzählerische Kraft bezieht es natürlich aus dem gesehenen Geschehen: Wiedervereinigung, Ende des „Kalten Krieges“. Akteure aus der damaligen Zeit haben sich mit ihren Diarien in es eingereiht, man trägt den Lorbeerkranz gerne mit. Margaret Thatcher ist mit entsprechenden Passagen in ihren Memoiren die Ausnahme.1 Dabei gerät in Vergessenheit, dass es auch ganz anders hätte ausgehen können. Eine Anzahl von keineswegs unwichtigen Akteuren, die andere Vorstellungen von der Entwicklung des Geschehens hatten, wird dabei übersehen, obgleich sie durchaus ihre Pläne durchzusetzen versuchten. Margaret Thatcher war die wichtigste Vertreterin dieser Gruppe. Ihr schwebte eine andere Geschichte für die Zeit der europäischen Revolution von 1989–1990 vor, und nicht die, welche aus heutiger Sicht folgerecht war. Sie setzte sich damit nicht durch, sie legte sich schließlich auch nicht quer bezüglich der Wiedervereinigung, dem emblematischen Ausgang der europäischen Revolution. Aber was geschah, war nicht „ihre“ Geschichte. Es entsprach nicht der historischen Gestalt, die sie ihrerseits sich ausdachte. Dabei hatte sie bestimmte Koordinaten im Sinn. Ausschlaggebend waren vor allem ihr 1 Vgl. Margaret Thatcher, Downing Street 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf: Econ, 1993, 1094–1106, 1124–1127.

Kap.  5: Wessen Geschichte?

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konstantes Misstrauen gegenüber allem Deutschen, ihre volle Identifikation mit den Freiheitsbestrebungen im östlichen Europa, und ihr Vorsatz, alles dafür zu tun, dass Michail Gorbatschow in seinem Amt an der Spitze der Sowjetunion bliebe.2 Daraus entstand, bei Thatcher wie auch bei anderen Gleichgesinnten kein historiogenes Szenario, aber es bildete sich nichtsdestoweniger mitten im Geschehen von 1989–1990 und angesichts dessen ein ihm gegenläufiger politischer Gestaltungswillen aus. Wenn man aus den entsprechenden Aufzeichnungen die Grundgedanken herausschält, so fällt vor allem deren kategorischer Ton auf: So könnte etwas sein, auch wenn es wohl nicht so sein wird. Bestimmten Phantomen widerstehen wir nicht, weil sie in unserem Kopf sind, und sie uns zupass kommen. So wäre zu entscheiden, auch wenn, wie zu befürchten ist, nicht so entschieden wird. Dies könnte der Gegenentwurf sein, wenn der gefasste Plan womöglich preisgegeben wird. Auch das wäre mitzudenken, wenn dieser oder jener Vorgang, diese oder jene bedeutsame Aussage überdacht und beurteilt wird. Geboten ist ein Vorbringen der eigenen Sicht, auch wenn sie mattgesetzt wird.

Wir müssen uns vorstellen, dass regierende oder regierungsnahe Akteure im Geschehen von 1989–1990 sich durchaus im Wirkungsfeld solcher Gedanken befanden. Nur wurden sie von anderen nicht oder nur selten so offen ausgesprochen, wie Thatcher es tat, weder damals, noch später. Allein aus dem nun zugänglichen dokumentarischen Material erschließt sich jetzt das Vorhandensein und die Ausdehnung dieses Wirkungsfelds. Ich möchte mich im Folgenden mit ihm befassen, geleitet von der naheliegenden Frage: Wessen Geschichte? Eine „andere“ Geschichte als jene, die dann eintraf, sollte sich ereignen, das war das augenblickliche, zeitweilige oder durchgängige Gutdünken. Je nach dem einzelnen Akteur entfaltete sich das entsprechende Ansuchen bei voller Überlegung oder mehr intuitiv (und dann Vorurteile offenbarend) oder im Zuge einer kühlen Kalkulation. Doch immer wirkte ein historiogener Wille: „Meine“ Geschichte soll geschehen. Die Spuren davon können im dokumentarischen Material aufgefunden werden, wenn man einmal auf diesen Willen und dem sinnverwandten Wirkungsfeld von entsprechenden Gedanken aufmerksam geworden ist und nach den Spuren dann sucht und diesen nachgeht. Als Ergebnis meiner eigenen Spurensuche zeige ich einige davon auf, in einer Auswahl. Mit dieser möchte ich auch die Breite des Spektrums von politischem Gutdünken und Ansuchen sichtbar machen, in dem sich jener historiogene Wille äußerte. Und es sei noch einmal betont: Die Äußerungen erfolgten spontan, oder kalkulierend, oder eher beiläufig, oder auch ganz planvoll.

2 Vgl. Charles Moore, Margaret Thatcher. The Authorized Biography. Volume Three: Herself Alone, London: Allen Lane, 2019, die Abschnitte zur Wiedervereinigung, 478–541.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

Aus dem Tagebuch Anatoli Tschernajews: Komplott und Kabale Unter dem Datum vom 9. Oktober 1989 trug Anatoli Tschernajew in sein Tagebuch, das er in seiner Zeit als enger Berater von Michail Gorbatschow führte, eine Passage zu der Frankreichreise ein, die Wadim Sagladin, ebenfalls Berater von Gorbatschow, kürzlich gemacht hatte.3 Sagladin habe, so schreibt er, Moskau nach seiner Rückkehr mit Berichten über die Gespräche, die er geführt hatte, geradezu überschüttet. Alle, „von Mitterrand bis zu Bürgermeistern“, hätten Sagladin „einstimmig“ versichert, dass „niemand ein wiedervereinigtes Deutschland wünsche“. Aus diesen Stimmen ragt, nach Tschernajews Zeugnis, die von Jacques Attali besonders hervor. Denn dieser habe über das hinaus, was alle Sagladin zur Wiedervereinigung sagten, „die Möglichkeit angesprochen, eine ernstgemeinte Sowjetisch-Französische Allianz wiederherzustellen.“ Darin eingeschlossen wäre eine „militärische Verflechtung“, allerdings „getarnt als gemeinsamer Einsatz der Armeen zum Kampf gegen Naturkatastrophen“. Ob Attali überhaupt befugt war, solche Pläne einem offiziellen Vertreter der Sowjetunion vorzutragen, können wir bezweifeln. Doch er tat es, als, wie Tschernajew notierte, „Mitterrands Berater“. Anhand weiterer, im Folgenden angeführten Beispielen, können wir ersehen, dass dieser eine Mitarbeiter des französischen Präsidenten unter anderen, in Sachen Wiedervereinigung seine private Außenpolitik, nebenher zu der des Präsidenten und dieser widersprechend, zu betreiben suchte. Tschernajew setzte seiner Passage zu Sagladins Frankreichreise den Satz voraus: „Alle in Europa flüstern in unser Ohr: Es ist gut, dass die UdSSR subtil ihre ablehnende Haltung zur deutschen Wiedervereinigung ausgedrückt hat“. Darum geht es Tschernajew hauptsächlich an dieser Stelle seines Tagebuchs: auch wenn von ihr geredet werden mag, so notiert in Moskau dieser Berater von Gorbatschow, eine Wiedervereinigung Deutschlands ist in Europa nicht willkommen. Doch laut möchte man das nicht sagen. Und man zählt auf die Sowjetunion – heimlich. Nach Tschernajew lieferte die britische Premierministerin einen Beleg dafür. Sie hatte sich mit Gorbatschow am 23. September 1989 in Moskau unterredet. An einer Stelle dieses Gesprächs verlangte sie, dass ihre nachfolgenden Äußerungen nicht protokolliert würden. Danach, so Tschernajew weiter, drückte Thatcher „auf entschiedene Weise ihre Ansichten gegen Deutschlands Wiedervereinigung aus.“ Dabei aber blieb es nicht. Die britische Premierministerin veranstaltete ein Doppelspiel. Sie sprach als Regierungschefin ihres Landes – eines Landes, das ein bedeutendes Mitglied der NATO war. Doch, jetzt in Moskau, vertraute sie dem Chef der Sowjetunion eben etwas an, das sie „nicht zuhause oder bei der NATO offen

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The Diary of Anatoly S. Chernyaev. 1989; Übs. Anna Melyakova, Hg. Svetlana Savranskya, The National Security Archive, May 26, 2009, 38–39 (https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/ NSAEBB275/index.htm, aufgerufen am 30. Juni 2022).

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sagen“ könne. Man wolle im Westen keine Wiedervereinigung Deutschlands, man verschweige diesen Wunsch nur.4 Tschernajew, so lässt er erkennen, verstand das Doppelspiel. „Kurzum“, so kommentierte er knapp, „sie wollen dies [die Wiedervereinigung] mit unseren Händen verhindern“.5

Die Donquichotterien des Jean-Pierre Chevènement Am 4. Mai 1990 fand im Schloss Waddesdon in Buckinghamshire, England, ein britisch-französisches Regierungstreffen statt. Bei der Vorbereitung dafür wurden auf britischer Seite kurze biographische Informationen – „Personality Notes“ – zu einigen Mitgliedern der französischen Delegation zusammengestellt.6 Darunter ist eine Notiz, die den französischen Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement betrifft, und diesen so charakterisiert: „Chevènement gehört in der PS [der Sozialistischen Partei Frankreichs] zum linken Lager und hat seine Differenzen mit Mitterrand gehabt. Er legt großen Wert auf republikanische Werte und ist ein überzeugter Nationalist, standfest in Fragen der Verteidigung und skeptisch bezüglich des europäischen Zusammenschlusses. Er ist misstrauisch (leery), was die deutsche Wiedervereinigung anbelangt.“

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Ebd., 39. – Am 24. September 1989, zurück in Downing Street 10, verfasste Charles Powell einen protokollarischen Bericht von dem Gespräch zwischen Thatcher und Gorbatschow. Die uns hier interessierenden Sätze Thatchers lauten nach diesem Bericht: „Although NATO traditionally made statements supporting Germany’s aspiration to be reunited, in practice we would not welcome it at all. She was not speaking for herself alone. She had discussed the matter with at least one other western leader.“ (PREM 19–3175). – Ein Protokoll des Thatcher-GorbatschowGesprächs, das sich im Archiv der Gorbatschow-Stiftung befindet (Fond 1, Opis 1), gibt Thatchers Aussage auf diese Weise wieder: „Britain and Western Europe are not interested in the unification of Germany. The words written in the NATO communiqué may sound different, but disregard them. We do not want the unification of Germany.“ (Siehe: https://nsarchive2.gwu. edu/NSAEBB/NSAEBB422/, Dokument 7, aufgerufen am 30. Juni 2022). – Am 13. Oktober 1989 traf sich Charles Powell in Bonn zu einer Unterredung mit Peter Hartmann, diplomatischer Berater von Helmut Kohl im Kanzleramt. Hartmann sprach Powell bei dieser Gelegenheit auf das Gespräch zwischen Margaret Thatcher und Michail Gorbatschow in Moskau am 23. September an. Man kann nicht sagen, dass Powells Reaktion darauf eine redliche war. Hätte es eine solche sein sollen, hätte er von der brutalen Aussage seiner Premierministerin dem Anführer der Sowjetunion gegenüber sprechen müssen. Das aber tat er nicht. Er verhehlte Thatchers Bescheid, und Hartmann konnte denn in seinem Vermerk zu dem Gespräch mit Powell nur dies festhalten: „Meiner Frage, ob in Moskau über deutsche Probleme gesprochen worden sei, wich Powell aus.“ Doch er konnte auch Folgendes hinzufügen: „Ein Bericht unserer Botschaft in Moskau kommt demgegenüber zu dem Schluss, dass sehr wohl von den Gefahren für die Stabilität in Europa gesprochen worden sei, die von der Entwicklung in Deutschland ausgingen (Dok. Dt. Einheit, 450 f.). 5 The Diary of Anatoly S. Chernyaev. 1989, 39. 6 Anglo-French Summit, 4 May: Personality Notes (PREM 19–3348).

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

In unserem Zusammenhang ist einiges an dieser Charakterisierung bemerkenswert: die Differenzen mit Mitterrand, der Nationalismus, die Skepsis gegenüber der europäischen Einigung und, natürlich, das Misstrauen hinsichtlich einer Wiedervereinigung Deutschlands. Alles bei diesem politischen Charakterbild, so könnte man sagen, passt zusammen. Was indes nicht miteinander übereinstimmt, ist der aktuelle historische Prozess im Mai 1990 und ein so charakterisierter Minister in der französischen Regierung. Mit dem Europäischen Gipfel in Straßburg Anfang Dezember 1989 hatte die europäische Einigung einen entscheidenden Schub erhalten, und eine Parallelisierung dieser Einigung mit der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten geht im ersten Halbjahr 1990 vonstatten. Gleichfalls gehen die am 14. März 1990 begonnenen Zwei-Plus-Vier Verhandlungen voran, mit denen auf einem sorgfältig bereiteten diplomatischen Weg die Wiedervereinigung Deutschlands herbeigeführt werden soll. Was sucht hier noch Chevènement? Er wirkt mit seiner in London Anfang Mai 1990 vermerkten Haltung zur Wiedervereinigung wie aus dem Rahmen gefallen. Doch schon seit einiger Zeit hat er sich in Sachen Wiedervereinigung auf eine extravagante Weise verhalten. Er hegt, wie entsprechende Dokumente zeigen, ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Deutschland. Und dieses führt ihn dazu, mit Schreiben an Mitterrand ausdrücklich und wiederholt gegen die Idee einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu agitieren, wohl wissend, dass dieser seine eigenen Vorstellungen zur Möglichkeit einer Wiedervereinigung Deutschlands hat und konsequent verfolgt. Chevènement konnte bei den Sitzungen des Ministerrats, denen er als Verteidigungsminister beiwohnte, schwerlich die entsprechenden häufigen Äußerungen Mitterrands überhört haben. Aber diese hielten ihn zum Beispiel nicht davon ab, am 23. Februar 1990 eine ausführliche quichoteske „Note à l’attention de Monsieur le Président de la République“ zu richten.7 Pathetisch beschwört er in ihr das Gespenst eines vereinigten Deutschlands herauf, das, würde man es nicht vorsorglich daran hindern, „in zwanzig Jahren nach dem Status einer Atommacht streben könnte“ und „wieder zu einer Militärmacht ersten Ranges wird und Europa von neuem in ein Ungleichgewicht bringen wird“. Und weiter: Könne man dann für immer die Versuchung Deutschlands ausschließen, „die verlorenen Gebiete zurückzubekommen“? Chevènement verfasste diese Note nach einem Treffen mit seinem britischen Amtskollegen Tom King am 11. Februar 1990. Durchwegs in dem Schreiben erklärt er, dass die Ansichten, die er hier vorträgt, auch die des britischen Verteidigungsministers seien. „Tom King erscheint es wie mir“, so sagt er, oder „Es scheint mir, wie meinem britischen Kollegen“. Präsident Mitterrand soll offenbar erkennen, dass es sich hier, was das Thema eines vereinigten Deutschlands anbelangt, um ein britisch-französisches Einver 7 Le Ministre de la Défense, Note à l’attention de Monsieur le Président de la République, Paris, le 23 février 1990.

Die Donquichotterien des Jean-Pierre Chevènement 

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ständnis handelt. So auch die gemeinsame Vision eines Deutschlands, das, wenn es denn vereinigt sei, unter militärischer Kontrolle gehalten werden müsse. Denn ein „einseitiger Abzug unserer Truppen“, der französischen wie der britischen, würde das Risiko mit sich bringen, eine „Verselbständigung Deutschlands zu beschleunigen“. Nein, das darf nicht geschehen. Chevènement holt nun vollends aus und stellt Deutschland qua Deutschland als Gefahr für die Sicherheit Europas hin. Für eine „Gewährleistung (garantie)“ dieser Sicherheit kann es deshalb nur eines geben: französische und britische Truppen müssen „dauerhaft auf deutschem Boden stationiert bleiben“. Welches Phantom! Und Chevènement behauptet an dieser Stelle wieder, dass es auch die Einbildung seines britischen Amtskollegen sei. Bei dem archivierten Original dieser Note sind auf der ersten Seite in der Ecke oben rechts in Handschrift zwei Kürzel angebracht: „Cl“ und „GB“. Das erste Kürzel steht für „classer“, gleich „ad acta legen“. Präsident Mitterrand brachte es gewöhnlich als Zeichen dafür an, dass ein Schriftstück über seinen Schreibtisch gegangen war und es nun als Nächstes ins Archiv gehen könne. Das geschah mit Chevènements Note vom 23. Februar 1990, und dafür steht das zweite Kürzel: Niederlegung im Archivbestand zu Großbritannien. François Mitterrand ließ sich ebenso wenig von einem anderen, handschriftlich verfassten, also persönlichen Brief beeindrucken, den ihm Chevènement am 5. Dezember 1989 schrieb. Für den folgenden Tag, den 6. Dezember, war ein Treffen des französischen Präsidenten mit dem Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, in Kiew geplant. Es war anzunehmen, dass dabei auch über die Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands gesprochen werden würde. Also intervenierte Chevènement. Unter Anlegung einer eigenwilligen, wenngleich eindeutigen – und zu seinem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Deutschland passenden – Auffassung des Völkerrechts und des darin verankerten Rechts von Nationen auf Selbstbestimmung, ermahnte er den französischen Präsidenten, er habe sich in Kiew an folgendes Prinzip zu halten: „Europas Recht auf Sicherheit und Frieden herrscht dem Recht Deutschlands vor, sich zu vereinigen.“8 Mit anderen Worten: Eine Wiedervereinigung darf nicht erfolgen, denn sie wird Europa in Gefahr bringen. Im Gespräch mit Gorbatschow in Kiew ignorierte Mitterrand jedoch das Kommando Chevènements. Wenn die notwendigen Voraussetzungen dafür gegeben seien, so erklärte er, könne die Wiedervereinigung Deutschlands sehr wohl stattfinden.

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Brief von Chevènement an Mitterrand vom 5. Dezember 1989.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

Jean-Louis Bianco und Pierre Joxe: Emotion und Befangenheit Im Vergleich zu den Einlassungen von Chevènement wirken andere Äußerungen aus dem französischen Regierungsmilieu vom Anlass her harmloser. Aber sie zeigen ein durchaus eigentümliches Befinden an, mit dem Nachrichten zu Deutschland und zur Frage der Wiedervereinigung aufgenommen wurden. Es könnte mit dem Begriff „umgetrieben“ beschrieben werden. So wurden diffuse Ängste darüber empfunden, was nun Deutschland, da sich die Tür zu seiner Einheit zu öffnen schien, wohl machen würde, und aus alten Erinnerungen wurden aktuelle Befürchtungen herausgelesen. Das Thema „Deutschland“ scheuchte offenbar Emotionen auf und rüttelte Vorstellungen wach, die erstorben zu sein schienen. Der Anlass dafür konnte irgendein Schriftstück mit Bezug zu Deutschland sein oder ein Meinungsaustausch im kleinen Kreis um Mitterrand oder eine Aussprache im Ministerrat. Es kam einfach hoch, kam an die sprachliche Oberfläche, was in den Köpfen anhaltend kursierte: die akute Sorge mit dem Namen „Deutschland“.9 So versetzte Jean-Louis Bianco, der Generalsekretär des Élysée, im Dezember 1989 ein diplomatisches Schreiben aus Bonn mit alarmierenden Worten, bevor er es an Präsident Mitterrand weiterreichte. Unter dem Datum des 19. Dezember hatte der französische Botschafter in der Bundesrepublik, Serge Boidevaix, einen Bericht zur „Lage in der Bundesrepublik“ an das Außenministerium in Paris gesandt.10 Eine Kopie dieses Berichts kam sodann auf den Schreibtisch von Bianco, den der Text offensichtlich in einen Zustand der Erregung versetzte. Und was er dabei erkannte, das sollte auch der Präsident erkennen. In kräftiger schwarzer Tinte annotierte Bianco den Bericht und schrieb auf dessen ersten Seite rechts oben das ihn Alarmierende auf, dies ausdrücklich hervorhebend: Herr Präsident. + Sehr avisiert.

+ Das Fieber steigt, bei denen, die wollen, dass „Deutschland sich selber schafft“.

Doch es gab, wie Bianco es sah, auch Hoffnung, denn er schrieb als dritten Punkt auf:

+ Aber die Bewegung ist nicht allgemein, die Jungen sind zurückhaltender, vernünftiger, europäischer.

So annotiert, kam der Bericht von Biancos Schreibtisch auf den des Präsidenten. Dieser befasste sich mit ihm und trug darauf, in blauer Tinte, ebenfalls auf der ersten Seite oben rechts, seinen nach der Kenntnisnahme eines Schriftstücks üblichen Vermerk ein: ein kreisförmig umrandetes „Vu (Gesehen)“.11 9

Vgl. das Kapitel 2: Sorge um Deutschland in: Wie Weltgeschichte gemacht wird, 37–62. TD Bonn 2674, 19 décembre 1989, Objet. Situation en République Fédérale (AN-AG/5(4)/ EG/212). 11 Ebd. 10

Jean-Louis Bianco und Pierre Joxe: Emotion und Befangenheit 

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Am besten war es, Deutschland so einzuhegen, dass es sich eben nicht selber „schaffen“, also eine Wiedervereinigung im Alleingang, und womöglich zudem in einer isolierten Verständigung mit der Sowjetunion, bewerkstelligen könnte. Weit weg war dann auch nicht der Gedanke, dass die Deutschen dazu ansetzen könnten, ihre „Wiedervereinigung“ auszudehnen – nach Österreich. Eine Befangenheit in diesem Sinne sprach Pierre Joxe, Innenminister in der französischen Regierung, am 10. Juli 1990 im Élysée bei einem Arbeitsfrühstück der „Elefantenrunde“, einem Kreis von führenden Politikern der Sozialistischen Partei Frankreichs aus.12 „Deutschland wird sich nach Österreich hin erweitern. Was den wirtschaftlichen Raum anbelangt, so trifft dies in etwa zu. Aber von da aus von einer Art Anschluss [Joxe benützte im Französischen diesen deutschen Begriff] zu sprechen, das ist nicht evident. Österreich hat den Ehrgeiz, seine eigene Rolle zu spielen.“13 Auch hier wieder, wie schon bei Chevènement, fällt der Anachronismus der Bemerkung auf. Joxe scheint nicht wahrgenommen zu haben, oder nicht wahrnehmen zu wollen, was draußen in der diplomatischen Welt gerade geschah: ein sich nähernder erfolgreicher Abschluss der Zwei-Plus-Vier Verhandlungen – unter aktiver Mitwirkung der französischen Delegation! – betreffs der wieder herzustellenden Einheit Deutschlands, die, wie früh zu Beginn dieser Verhandlungen klar festgestellt worden war, eine Einheit aus diesen drei Teilen sein würde: Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik, Berlin. Von einer „Erweiterung“ Deutschlands auf Österreich war nie die Rede. Darauf ging Jean-Louis Bianco in dieser „Elephantenrunde“ nicht ein, als er Pierre Joxe, das Gespräch fortsetzend, auf das gegebene historisch-diploma­ tische Geschehen bezüglich Deutschlands hinwies. „Was kann man Deutschland gegenüber machen? Zuerst eine Verpflichtung erhalten, was den Bestand der Oder-Neiße-Grenze anbelangt. Wir haben sie. Zweitens, Deutschland mit unserer Freundschaft umfangen (embrasser), innerhalb Europas und der NATO. Das ist getan. Von Deutschland einen Verzicht auf die Atomwaffe erhalten, zugunsten einer Aufrichtung europäischer Verteidigung.“14 Man könnte vermuten, dass Bianco bei seiner Äußerung das Wort „embrasser“ wohlweislich verwendet hat, aus einer vermittelnden Intuition heraus. Denn es kann neben „umarmen“ auch „umfassen“, „umgreifen“, „umspannen“ bedeuten. Mit einer solchen Variationsbreite seiner Bedeutung wirkt das Wort beruhigend. Man hat nur gute Absichten, und vergewissert sich ihrer. Doch weiß man dazuhin, dass diese Absichten auch nützlich sind, im Sinne von Vorsorge und Abwehr.

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Zur Geschichte, Entstehung und Zusammensetzung der „Elefantenrunde“ siehe: http:// www.politique.net/les-elephants-du-parti-socialiste.htm (aufgerufen am 23. Juni 2022). 13 JLB, 11. Juli 1990. 14 Ebd.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

Valéry Giscard d’Estaing und Margaret Thatcher in London: Kein „machtvolles“ Deutschland, aber was dann? Am Nachmittag des 19. Februar 1990 führte der frühere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing in Downing Street 10 ein längeres Gespräch mit Premierministerin Thatcher. Anwesend bei dem Gespräch war Charles Powell, der anschließend zu dessen Verlauf und Inhalt einen ausführlichen protokollarischen Bericht in Form eines zusammenhängenden Briefes an Stephen Wall im Foreign and Commonwealth Office schrieb.15 Wie das Gespräch tatsächlich ablief, lässt sich aus dem Bericht nicht erschließen, die Worte, in denen er abgefasst ist, sind die von Powell, Thatcher und Giscard d’Estaing „sprechen“ durch ihn. Die Gesichtspunkte der Premierministerin und ihres Besuchers unterschieden sich offenbar stark, und dies wird ganz deutlich durch die sprachlich ausgefeilte Kohärenz der von Giscard und Thatcher jeweils vorgetragenen Argumentation. Indes ist diese Kohärenz das nachträgliche Werk Powells. Er „schärfte“ mit ihr sichtlich die Worte Giscards und Thatchers. Jedenfalls sind sich die Premierministerin und der frühere Präsident Frankreichs, der nun Mitglied des Europäischen Parlaments und dort Vorsitzender der Fraktion der Liberalen ist, bei ihrer Unterredung in einem durch und durch einig: die Dinge laufen auf eine Wiedervereinigung Deutschlands zu,16 und nun sei zu befürchten, dass ein geeintes Deutschland über Europa dominieren werde. So sagen sie sich, dass dem entgegenzutreten sei, mit einer entsprechend ausgedachten Strategie. Schließlich könne ein geeintes Deutschland, so bemerkt Giscard, „in einigen Jahren“ seine Grenze zu Polen, die ja nur 50 Kilometer von Berlin aus entfernt sei, „zurücksetzen (move back)“ wollen. Er könne daher „mit Recht sagen, beunruhigt“ zu sein.17 Gewiss, wenn man ein solches Phantom heraufbeschwört!18 15

PREM 19–3344. Am 18. Februar 1990, also am Vortag ihrer Unterredung mit Giscard d’Estaing, hatte Margaret Thatcher zum ersten Mal öffentlich, bei einer Rede vor Repräsentanten der Juden in Großbritannien, von einer zu erwartenden Wiedervereinigung Deutschlands gesprochen. Sie sagte: „There is no doubt that this coming together of the two parts of Germany (German unification) is going to happen. The Western allies have always supported the principle of unification, provided that it comes about as the result of the freely-expressed choice of the people of the two German states.“ (Speech to Board of Deputies of British Jews, in: Lawrence Freedman (Hg.), Europe Transformed. Documents on the End of the Cold War, New York: Palgrave Macmillan, 1990, 485–487). – Giscard verweist in der Unterredung, nach Powells Bericht, auf diese Rede und die betreffende Aussage Thatchers. 17 PREM 19–3344 (wie für alle weiteren Zitate aus dem Bericht von Charles Powell). 18 Giscard warnte vom September 1989 an vor einer Wiedervereinigung Deutschlands und brachte gegen sie vielerlei Vorbehalte vor, die ihren Widerhall in deutschen und französischen Medien fanden. Siehe FAZ, 14. September 1989, S. 4: „Giscard: Wiedervereinigung nicht zu erwarten“; „Le Grand Jury“, RTL und Le Monde, 12. November 1989, 18 Uhr 30; Generalanzeiger (Bonn), 14. November 1989, S. 12: „Giscard will Europa mit einem ‚Abwehrplan‘ retten“, der Artikel beginnt mit dem Satz: „Gegen eine deutsche Wiedervereinigung hat sich der liberale frühere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing ausgesprochen.“ L’Express, 17. Novem 16

Valéry Giscard d’Estaing und Margaret Thatcher  

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Welche Strategie soll man also einschlagen? Man müsse wählen, sagt dazu Giscard, in Powells Worten. Entweder stelle man Allianzen für ein Gegengewicht gegenüber Deutschland auf, oder man binde die Deutschen in eine Struktur ein, die sie zwinge, sich zu benehmen (the choice lay between establishing alliances to counter-balance Germany, and tying the Germans into a framework in which they were compelled to behave). Er, Giscard, würde gerne wissen, ob die Premierministerin hierzu einen Entschluss gefasst hätte. Oder würde sie nur abwarten und zusehen? Zögern war indes die Sache Thatchers nicht, zumindest wusste sie, was sie wollte und was nicht. Auf ein enger verfasstes Europa hinzuarbeiten, sei nicht der richtige Weg, so beschied sie Giscard. Ihr schwebe eine „lockere konföderale Struktur in einem größeren Europa“ vor. Eine solche würde indes die zweite von den beiden von Giscard vorgeschlagenen Vorgehensweisen gegenüber Deutschland ausschließen: das für ihr „Benehmen“ sorgende Einbinden der Deutschen. Das sah Giscard sofort und so kam seine Widerrede. Er sehe die „Notwendigkeit zu einer festeren Struktur in Westeuropa“. Die Premierministerin möge das nicht, er wisse es. Aber „wir sind an einer Wegkreuzung“. Doch es war, als spräche Giscard gegen eine Wand. Margaret Thatcher zog sie gewissermaßen hoch, unerbittlich, mit der Anschauung, die sie von Deutschland hatte, dem „Deutschland“ in ihrem Kopf. Die Sichtweise Giscards, so erklärte die britische Premierministerin, enthalte eine „grundsätzliche Fehlkalkulation“. Denn die grundlegende Tatsache sei, dass Deutschland beständig stärker werde. Alle Versuche, eine engere europäische Gemeinschaft herzustellen, würde Deutschland nur noch größer machen. Deutschland – dieser Brocken unbändiger Macht, so haust dieses Land wohl in Thatchers Phantasie – lässt sich nicht in die europäische Gemeinschaft einbinden (It would not be a case of tying Germany into the ­Community). Was herauskäme, wäre vielmehr, dass die „Gemeinschaft an Deutschland gebunden werde“(that the Community was tied to Germany). Giscard, vor der Wand stehend, gab nach  – halb. „In der Tat“, so sagte er, „Europa käme Deutschland gleich“. Doch innerhalb eines engeren Europas, so fügte er an, nun schon auf dem Rückzug, an, seien Großbritannien und Frankreich immer noch stärker als Deutschland. Aber auch das ließ Thatcher nicht gelten. Im Unterschied zu der Zeit, als Giscard der Präsident Frankreichs und Helmut Schmidt der Bundeskanzler Deutschlands gewesen seien, sei jetzt im deutsch-französischen Verhältnis Deutschland der beherrschende Partner. Auch Giscards Defensivposition durchstößt Margaret Thatcher. Alles ist in ihrer Vorstellung gegen die Machtber 1989, S. 32: „L’un s’inquiète, l’autre moins. Face à la revolution de Berlin, Giscard craint pour l’Europe. Lucidité oui, pessimisme non, répond Mitterrand“; Le Monde, 15. Dezember 1989, S. 1–2, Valéry d’Estaing: „Un calendrier d’espoir“, mit diesem wollte Giscard zwar den zwei deutschen Staaten das Recht einräumen, eine „germanische Konföderation“ zu bilden, der aber keine Kompetenz für die Außenpolitik und die Verteidigung zukommen dürfe; Die Welt, 16. Dezember 1989, S. 6: „Giscard plädiert für Finnlandisierung“ [eines geeinten Deutschlands].

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

dynamik Deutschlands wirkungslos, sowohl die europäische Konstruktion als auch die deutsch-französische Partnerschaft.19 Und jetzt, so fuhr die Premierministerin fort, sei man mit dem „unmittelbaren Problem“ konfrontiert, Deutschland dazu zu bringen, die Folgen der Wiedervereinigung für das übrige Europa zu klären. Die Einrichtung der „Vier-Plus-Zwei Verhandlungsrunde“ sei ein Schritt nach vorne. Aber andere europäische Länder seien eben wirklich besorgt wegen Deutschlands Verhalten, und insbesondere über die Art, in der „Bonn die DDR in die Wiedervereinigung hineinzwinge (dragoon)“. Thatcher drückt auch ihr ganzes Verständnis für den Wunsch Polens aus, „seine Grenze“ (also die Oder-Neiße Grenze) durch einen Vertrag bestätigt zu haben. Wie es Powells Bericht darstellt, hat Margaret Thatcher im Verlauf der Unterredung mehr und mehr deren Führung übernommen. Giscard wirkt am Ende eher kleinlaut, wenn er nochmals meint, Frankreich würde ein enger verfasstes Europa vorziehen und wünschte deshalb, in einem solchen mit „Deutschland nicht allein gelassen“ (be left alone with Germany) zu werden. Thatcher lässt ihn zum wiederholten Mal mit der Aussage abblitzen, dass es keine weitere „Konzentration von Macht“ in der europäischen Konstruktion geben dürfe. Und sie erklärt dies, nicht ohne vorher gesagt zu haben, sie sei nicht überrascht zu hören, dass „Herr Giscard sich keineswegs über die Aussicht auf ein enger verfasstes Europa freue, in dem Deutschland dominiere (that Monsieur Giscard did not relish the prospect of a federal Europe in which Germany was dominant)“. Man darf vermuten, dass Giscard d’Estaing von dieser Unterredung mit Margaret Thatcher nicht gerade beflügelt geschieden ist. Die Premierministerin hatte ihm alle seine Argumente entwunden, und entbot ihm obendrein den Ausblick auf Frankreich in den Händen von Deutschland. Bemerkenswert ist, dass vom Aufstellen einer Allianz gegenüber Deutschland, wie sie Giscard als eine von zwei Vorgehensweisen auf ein wiedervereinigtes Deutschland hin vorgeschlagen hatte, während der ganzen Unterredung nicht mehr gesprochen wurde. Thatcher hatte sich für dieses Vorgehen den amtierenden Präsidenten Frankreichs, François Mitterrand, ausersehen – und hatte damit keinen Erfolg.20 19

Thatchers Sicht auf die europäische Gemeinschaft war nicht schon immer so negativ, wie sie sich in diesem Gespräch mit Giscard im Februar 1990 ausdrückt. Bei einer Unterredung mit Mitterrand in London am 10. September 1981, also einige Jahre früher, hatte sie noch erklärt: „Ich möchte noch einmal sagen, dass für mich die Gemeinschaft etwas sehr wichtiges ist. Sie schließt eine Gruppe von Ländern zusammen, die früher oft Kriege gegeneinander führten, etwas, das wir nie mehr haben wollen, und das ist sehr wichtig.“ (Entretien entre le Président de la République et Mme Thatcher. Sommet Franco-Britannique des 10 et 11 septmbre. Premier entretien – 10 Septembre). 20 Zur Frage einer von Thatcher und Mitterrand geschmiedeten „Allianz“, siehe den Abschnitt „Allying with Margaret Thatcher“ in: „The German Question is A European Question. France and the Reunification of Germany“, 197–199. – Eine hierzu bemerkenswerte Notiz machte schon am 14. November 1989 Sir John Fretwell im Foreign and Commonwealth Office: „The French would not stand against the tide [die Bewegung hin zur einer Wiedervereinigung Deutschlands] either, whatever they may say in private.“ (DBPO, 115).

Mitterrands „zweite Tür“ 

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Mitterrands „zweite Tür“ Indes: Mitterrand verwies einmal, am 30. November 1989, in drängenden Worten auf eine gegen Deutschland gerichtete Allianz. Er tat dies in einem Gespräch mit dem bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, zu dem ihn dieser in Paris aufgesucht hatte. Zwei Wochen zuvor, am 11. November, hatte der Generalsekretär des Élysée, Jean-Louis Bianco, schon vermerkt: „Der Präsident ist wegen der Haltung von Kohl gänzlich beunruhigt.“21 Was war der Grund dafür? Mitterrand fürchtete, dass sich der Bundeskanzler nicht mehr an den gemeinsam gefassten Plan halten wollte, das Projekt einer europäischen Wirtschafts-und Währungsunion jetzt, in diesem Herbst, mit entsprechenden Entscheidungen beim nächsten europäischen Gipfeltreffen in Straßburg Anfang Dezember voranzutreiben. In Mitterrands Augen hielt Helmut Kohl die Vorarbeiten dafür hartnäckig auf. Aus dem Verhalten des Bundeskanzlers las er eine für ihn niederschmetternde Annahme heraus: Helmut Kohl schwankte wohl in seinem Engagement für Europa, zog sich hier zurück. Da platzte am 28. November zusätzlich die Nachricht von dem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ herein, das der Bundeskanzler an diesem Tag für alle Welt überraschend im Bundestag verkündet hatte. Keine der Regierungen der wichtigsten Verbündeten der Bundesrepublik, weder die in Washington noch in London noch in Paris, war vorab unterrichtet worden. Musste man nun aus diesem Vorpreschen des Bundeskanzlers und seinem vermeintlichen Zögern bezüglich Europas schließen, dass er womöglich anstrebte, die deutsche Einheit im Alleingang zu erreichen? Im Élysée stellte man sich diese Frage. Und Mitterrand dachte über sie hinaus. Er erwog einen Gang zur „zweiten Tür“. Ich entnehme diesen Ausdruck einem Gespräch mit Roland Dumas, dem langjährigen Weggefährten Mitterrands, und in den Jahren 1988–1993, wie schon zuvor, von 1984–1986, dem Außenminister Frankreichs. Mitterrand, so Dumas, habe ihn immer wieder daran erinnert, wie klug es sei, bei seinem Tun auf eine „zweite Tür“ zu achten, also darauf, einen anderen Ausgang nehmen zu können, wenn an den, den man hätte gehen wollen, nicht mehr zu denken sei.22 Dass François Mitterrand gerade gegenüber Roland Dumas auf die „zweite Tür“ zu sprechen kam, war kein Zufall. Was Mitterrand meinte, verstand Dumas sofort. Denn beiden war die Erinnerung an all die Wachsamkeit und die Anstalten der Vorsicht gemeinsam, die sie als aktive Widerständler gegen die deutsche Besatzung hatten aufbringen müssen, um nicht in die Hände der Gestapo zu fallen. Wenn man sich überhaupt mit anderen résistants traf, war es geraten, außer der Tür, durch die man gekommen war, noch von einem anderen Ausgang zu wissen, über den man notfalls entweichen konnte. Oder man konnte möglicher Beschat-

21 22

JLB, 11. November 1989. Forschungsgespräch mit Roland Dumas am 27. März 2007.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

tung entgehen, indem man dorthin, wo man, räumlich gesehen, eingetreten war, anschließend nicht mehr zurückkehrte, sondern andernorts davonging. Mitterrand und Dumas vergaßen diese Gewohnheiten nicht, die sie sich im Widerstand angeeignet hatten. In einem Gespräch, bei dem er nach der Art und Weise befragt wurde, wie er seine Regierungsgeschäfte erledige, erwiderte Mitterrand, dass er diesbezüglich viel aus seinen persönlichen Erfahrungen gelernt habe.23 Und mitten in seiner Regierungsarbeit erregte es so seine Aufmerksamkeit, wenn bei einer Besprechung im Élysée die Sprache auf jemanden wie Paul Vergès kam. Dieser war ein Anwalt und französischen Politiker, der ebenfalls in der résistance aktiv gewesen war, und seitdem ein aufregendes Leben in der Öffentlichkeit, unter Ausübung seiner Berufe, und eines der zwielichtigen Agitation mit den Merkmalen von Verschleierung und Geheimnissen führte.24 Vergès pflegte bei seinem Kommen und Gehen sich so zu verhalten, wie Mitterrand es kannte. Das mussten Premierminister Jacques Chirac, Innenminister Charles Pasqua, Robert Pandraud, der Minister für Sicherheit, und Jean-Louis Bianco bei dieser Besprechung am 19. September 1986 nicht wissen. Aber dem Präsidenten war es aufgefallen. Dieses Detail der „anderen Tür“: „Der Präsident: Interessieren Sie sich für Vergès? Wir haben Anlass dazu gehabt, seinen Lebenslauf zu beleuchten. Er ist während 3 oder 4 Jahren verschwunden, und er ist bei Terrorismusschulen in der Tschechoslowakei verkehrt, vielleicht auch in Libyen. Wissen Sie übrigens, dass er weiterhin den Gewohnheiten des Lebens im Untergrund nachgeht? Wenn er ein Gebäude betritt, verlässt er es durch eine andere Tür.“25

Durch eine andere Tür zu gehen – dessen entsann sich also jetzt, im November 1989, der französische Präsident angesichts des ihn verstörenden Verhaltens des deutschen Kanzlers. Wenn die Deutschen ihre Wiedervereinigung allein und auf eigene Weise betrieben, fiel, um im Bild zu bleiben, die „erste Tür“ zu, nämlich der Zugang zur deutsche Einheit in den Raum einer sich weiter ausbildenden europäischen Einheit hinein. In dieser Tür standen die europäischen Partner Deutschlands, um es als geeintes unter sich aufzunehmen. Hinter der anderen, „zweiten“ Tür würden sich die europäischen Regierungen nur versammeln, wenn Deutschland nicht auf die erste zuging. Und sie würden sich dort gegen Deutschland aufstellen. Wollten die Deutschen das? Im Gespräch mit Genscher am 30. November warf Mitterrand diese Frage unverblümt auf. Er sei „dankbar, dass er Gelegenheit zu diesem Gespräch habe“, so erklärte er, dem deutschen Gesprächsprotokoll zufolge, zu Beginn seiner Ausführungen.26 Und er holte anschließend weit aus, Schlüsselcodes wie „Integration“, 23

Siehe „Gespräch mit Mitterrand am 15. Juni 1993“, in: Tilo Schabert, Von der Natur der Politik und ihren Formen. Kleine Schriften, 405. 24 Siehe zur Biographie von Paul Vergès: https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/675660 (aufgerufen am 10. Juli 2022). 25 JLB, 26. September 1986. 26 Andreas Hilger (Hg.), Diplomatie für die deutsche Einheit. Dipl. Dt. Einheit, 58–59.

Mitterrands „zweite Tür“ 

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„parallel“, „europäische Einigung“, „1913“, „Gegengewichte“, „bremsen“ „isolierte Wiedervereinigung“ gebrauchend, die seine Erläuterungen wirksam unterstrichen: Wenn wir in den Ost-West-Beziehungen ohne Risiko voranschreiten wollten, dann bedürfe es des parallelen Fortschritts der europäischen Integration. Wenn die West-Integration stehen bleibe, gehe sie zurück. Wenn sie zurückgehe, würden die Verhältnisse in Europa grund­ legende Änderungen erfahren und neue privilegierte Bündnisse entstehen. Es sei sogar nicht ausgeschlossen, dass man in die Vorstellungswelt von 1913 zurückfalle. Das Europa von 1913 sei aber voller Bedrohungen gewesen. Wenn die künftige deutsche Wiedervereinigung sich in einem Europa vollziehen würde, das sich strukturell nicht entscheidend weiterentwickelt habe, dann riskierten wir, in alte Wege zu geraten. Er sei der Meinung, dass die Wiedervereinigung, wenn sie eines Tages komme, von einer noch stärker gefestigten Europäischen Gemeinschaft aufgefangen werden müsse. Sonst würden die europäischen Partner, die sich „diesem neuen Körper von 80 Millionen Menschen gegenübersehen, nach neuen Gegen­ gewichten suchen“ [hier wird Mitterrand im deutschen Protokoll wörtlich zitiert]. Nun brauche man kein Psychologe zu sein, um zu erkennen, dass die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion zur Zeit bremse. Für ihn sei die Wiedervereinigung eine unaufhaltsame Sache … und man müsse diese unaufhaltsame Sache integrieren. Er wolle keine Hürden aufbauen. Aber die Vorsicht gebiete es, dass wir bei dieser Evolution nicht mit der Sowjetunion aneinandergeraten sollten. Erste Priorität habe dabei die europäische Einigung. Wenn die Deutschen im europäischen Zusammenhang bleiben, wird sich selbst die Sowjetunion eines Tages mit der Wiedervereinigung Deutschlands in der europäischen Gemeinschaft abfinden können. Die isolierte Wiedervereinigung wird die Sowjetunion bekämpfen. Wenn Deutschland sich, um die DDR vergrößert, im europäischen Gesamtverband bewegt, wird sie in der Europäischen Gemeinschaft Freunde haben, sonst nur Partner mit eigenen Reflexen. Die einzelnen Länder, auch Frankreich, werden sich dann wieder unmittelbar an die Sowjetunion wenden. Ich fürchte diese Entwicklung. Ich möchte Ihnen helfen. Aber nicht zu Lasten Europas. Die Deutschen stehen vor einer sehr wichtigen Wahl.

Die „Gegengewichte“, die „Partner mit eigenen Reflexen“, das bedeutete, in den Gedanken Mitterrands, die „zweite Tür“. Er sah sich veranlasst, von ihr zu reden, damit der deutsche Außenminister begreife, was eintreten könnte, wenn … Wenn, denn Mitterrand setzte sich ja gerade mit Kanzler Kohl wegen des gemeinsamen Weitergehens auf dem europäischen Weg, also auch, in seiner Sicht, dem richtigen Weg zur Wiedervereinigung auseinander. In der Frage der Oder-Neiße-Grenze legte sich der Kanzler ebenfalls nicht fest, was Mitterrand fernerhin besorgte.27

27 Drei Tage nach dem Mitterrand-Genscher-Gespräch, am 2. Dezember 1989, erschien in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Mitterrand enttäuscht über fehlende Absprache“ ein Artikel zu dem Gespräch, der offensichtlich auf der Grundlage einschlägiger Informationen

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

Seine Worte Genscher gegenüber an diesem 30. November sollten denn sehr wohl aufschrecken. Aber sie sollten auch eine Unterstützung für die Deutschen bekräftigen, gingen sie zur „ersten Tür“. Sie standen vor einer historischen Wahl. Was würden sie wählen? Hoffentlich nicht eine Provokation von „Gegengewichten“, sondern das Richtige, also die Wiedervereinigung im Verbund mit den europäischen Partnern? Genscher erwiderte darauf glasklar: „Man werde diese Gegengewichte nicht brauchen. Die Bundesrepublik Deutschland habe ihre Wahl getroffen.“28 Und er fügte eine Aussage hinzu, deren Emphase auch daran deutlich wird, dass Genscher sie schon bei der Pressekonferenz im Anschluss an das Gespräch mit Mitterrand und später zudem in seinen Memoiren wiederholte: „Er habe die Ehre gehabt, eine ganze Reihe von Gesprächen mit dem Staatspräsidenten zu führen, dieses Gespräch halte er für das wichtigste.“29 Mit dem Aufschrecken des bundesdeutschen Außenministers durch den französischen Präsidenten war es nach diesem Austausch zu Ende. Die beiden sich Unterredenden gingen dazu über, sich einander anerkennende Worte zu sagen. Genscher erklärte: „Zur Zeit sei die Bundesregierung im Entscheidungsprozess. In Straßburg [werde] eine Entscheidung getroffen werden können. Er habe dem Staatspräsidenten und Dumas noch nie etwas gesagt, was er nicht nachher unter Beweis gestellt habe. Unsere Zukunft liege in Europa. Sie liege nicht zwischen Ost und West. Sonst wären 40 Jahre Politik nutzlos gewesen.“ Und Mitterrand stimmte ein: „Auf längere Sicht wird auch der Osten dazugehören. Eine Einheit der Deutschen wird möglich sein. Dazu bedarf es indessen der Anziehungskraft der Europäischen Union.“ Der von Genscher angesprochene Entscheidungsprozess innerhalb der Bundesregierung hielt allerdings bis zum 6. Dezember an. Erst dann, zwei Tage vor dem Beginn des Europäischen Gipfels in Straßburg, kam im Élysée die Auskunft aus dem Bundeskanzleramt an, dass der Kanzler bereit sei, sich auf einen Fahrplan hin zur europäischen Wirtschafts-und Währungsunion einzulassen und dieser denn von ihm aus auf dem Gipfel verabschiedet werden könne. Der vornehmliche Anlass für Mitterrand, sich der „zweiten Tür“ zu entsinnen, war entfallen.

beruht. Es wird eine „schwere Verstimmung zwischen Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand“ konstatiert. Mitterrand „sei enttäuscht“, hieße es in informierten Kreisen, „weil Kohl die Entwicklung zur Wirtschafts-und Währungsunion bremse und Frankreich und andere Verbündete nicht vorab über den Stufenplan für den Weg zur Einheit der beiden deutschen Staaten informiert habe“. Es werde in Paris „jedenfalls gefragt, ob sich Frankreich neu orientieren müsse“. Auf „Unverständnis“ treffe auch „die Weigerung des Bundeskanzlers, die Oder-Neiße-Grenze zu garantieren“. Möglicherweise glaube Mitterrand, „einen Zusammenhang zwischen Kohls jüngster Zurückhaltung in Europafragen und seinem Vorstoß in Richtung ‚Wiedervereinigung‘, ohne dass die engsten Verbündeten vorgewarnt waren, erkennen zu können“. 28 Dipl. Dt. Einheit, 58. 29 Ebd., 59, und: Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin: Siedler, 1995, 679.

Attali betreibt Außenpolitik auf eigene Faust 

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Attali betreibt Außenpolitik auf eigene Faust Im November 2020 erschien in Frankreich unter dem Titel „Retour sur la fin de la guerre froide et la réunification allemande“ ein Sammelband, der aus aufgezeichneten Interviews mit Zeitzeugen aus der Epoche der Wiedervereinigung und des „Endes des Kalten Kriegs“ besteht.30 Man wird also, den Band aufschlagend, darauf gespannt sein, zu erfahren, woran sich, 30 Jahre später, die Zeitzeugen erinnern und was sie bei ihrer Erinnerung hervorheben. Vor allem das Letztere lockt unsere Neugier an, denn nach 30 Jahren mag einiges des damaligen miterlebten Geschehens anders als unmittelbar danach oder kurze Zeit später gesehen werden. Wer mit einer neuen Version besonders auffällt, ist Jacques Attali. Denn er hat in dem mit ihm am 27. März 2020 geführten Interview schlichtweg eine Mär erzählt. Hat er nicht im frühen Herbst 1989 Gorbatschows Berater Wadim Sagladin im bereits erwähnten Gespräch eine „ernstgemeinte Sowjetisch-Französische Allianz“ mit einer „militärischen Verflechtung“ vorgeschlagen, in der Absicht, eine Wiedervereinigung Deutschlands aufzuhalten? Doch jetzt sagt Attali, er habe im September 1989 gegenüber Horst Teltschik von einer „persönlichen Wette“ gesprochen, mit der er darauf tippe, dass die „Wiedervereinigung sich innerhalb von drei Jahren ereignen“ werde.31 Und seine Stimme, so lässt Attali in einer für ihn nicht ungewöhnlichen Selbsteinschätzung weiter erkennen, sei anscheinend damals vom deutschen Kanzler als die Stimme Frankreichs wahrgenommen worden. Er fährt nämlich mit diesem Satz fort: „Kohl hält das [Attalis wahrsagerische Worte] für ein grünes Licht Frankreichs, während es doch nur ein persönlicher Gedanke war.“32 Und es war ein Gedanke in einem Konstrukt, das Attali im Laufe des Interviews im März 2020 weiter entwickelte. Er mochte sich offensichtlich nicht mehr daran erinnern, wie er in der Umgebung von Mitterrand wegen seiner negativen Einstellung zu Deutschland auffiel,33 und dann als Einziger im französischen Regierungsapparat aktiv gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands agitierte, in keiner geringeren Form als im Betreiben einer Außenpolitik auf eigene Faust. „Nein“, befindet er im Interview, „absolut niemand im Élysée war antideutsch.“34 Ja, tatsächlich, wenn man unter „niemand“ nicht Jacques Attali einbezieht.35 Mit meinem ersten Kapitel habe ich gezeigt, wie eigenmächtig Attali beim Erstellen seiner drei Bände „Verbatim“ verfuhr. In paralleler Weise verquickte er schon zuvor, als er noch im Dienst von Präsident Mitterrand stand, ganz unver 30

Nicolas Dufourcq (Hg.), Retour sur la fin de la guerre froide et la réunification allemande, Paris: Odile Jacob 2020. Den Aufzeichnungen der Interviews sind zusätzlich verschiedene Dokumente beigefügt. 31 Ebd., 98. 32 Ebd. 33 Explizit dazu Elisabeth Guigou in einem Forschungsgespräch am 8. Oktober 2003. 34 Nicolas Dufourcq (Hg.), Retour sur la fin de la guerre froide et la réunification allemande, 100. 35 Siehe dazu Kap. 1.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

hohlen die ihm übertragene Rolle eines Beraters mit der eines Prinzipals. Als ein solcher trat er besonders in der Frage der deutschen Einheit auf. Er gab seine – durch und durch negative Einstellung – als diejenige Frankreichs aus. Ausgerechnet am 6. Dezember in Kiew ging er so vor. Mitterrand besprach sich dort mit Gorbatschow. Eines der Hauptthemen ihrer Unterredung war die Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands. Die sowjetische Führung hatte sich dazu noch kein Konzept zurechtgelegt, vielerorts wurde angenommen, dass sich die Sowjetunion gegen eine Wiedervereinigung stellen und Mitterrand nun in Kiew diese Abwehrhaltung teilen und in eine entsprechende sowjetisch-französische Allianz eintreten würde.36 Was der französische Präsident aber tat, war etwas anderes. Er legte seinem sowjetischen Gesprächspartner auf klare Weise dar: „Ich fürchte die Wiedervereinigung Deutschlands nicht. Aber sie muss demokratisch und friedlich ablaufen.“37 Keine Rede von jener „Allianz“ also oder der Abwehr eines, wenn vereinigt, bedrohlichen Deutschlands. Eine solche Rede hatte indes Jacques Attali im Kopf, und er äußerte sie in einem Gespräch, das er gleichfalls in Kiew am 6. Dezember mit Valentin Valentinovich Zagladin, einem Berater von Gorbatschow, führte, im Anschluss an die Gorbatschow-Mitterrand Unterredung. Mit dem, was Attali hier sagte, artikulierte er, die Wiedervereinigung betreffend, nicht die durch Mitterrand bestimmte Politik Frankreichs, sondern seine eigene. Er erweckte jedoch den Eindruck, als spreche er für die „französische Führung“. Diese habe die „klare Haltung der UdSSR zugunsten der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Bruderländern verblüfft“, auch wenn sie von ihr „aufrichtig begrüßt“ werde. Sicher, aber mit der Darlegung der „Verblüffung“ verband Attali auch das Äußern einer gravierenden Sorge, die er unterstellte. Nachdem die Aufkündigung der sogenannten „Breschnew-Doktrin“ auch schon bezüglich der „Ereignisse in der DDR zutage getreten“ sei, habe sich – Attali zufolge – die französische Führung „unwillkürlich die Frage gestellt“, ob die „UdSSR sich quasi schon mit einer Wiedervereinigung Deutschlands abgefunden“ habe und „nichts unternehmen“ werde, um sie „zu vermeiden“? Wie schrecklich, wenn sie stimmen sollte, wie schrecklich, eine solche Erkenntnis. Auf Seiten der französischen Regierung habe sie „Furcht hervorgerufen, nahezu Panik“, fuhr Attali fort. Und widersprach schlicht dem, was Mitterrand gerade in 36

Siehe dazu z. B. den Artikel „Les entretiens Mitterrand-Gorbatchev à Kiev“, in: Le Monde, 8. Dezember 1989 (https://www.lemonde.fr/archives/article/1989/12/08/les-entretiensmitterrand-gorbatchev-a-kiev_4165443_1819218.html); die am 8. 12. in Le Monde erschienene Karikatur: https://www.cvce.eu/de/obj/karikatur_von_pancho_zur_angst_francois_mitterrands_ vor_einer_deutschen_wiedervereinigung_8_dezember_1989-de-4d674587-8d31-4193-b1f4-b5 96a284963e.html, und des Weiteren: https://www.treffpunkteuropa.de/die-deutsche-wieder vereinigung-ein-missverstandnis-zwischen-kohl-und?lang=fr, (alle aufgerufen am 13. Juli 2022); Daniel Vernet, La Renaissance Allemande, Paris: Flammarion, 1992, Kap. 12. – Vgl. auch die Eintragungen vom 7., 8. und 9. Dezember 1989 in: Horst Teltschik, 329 Tage, 70–71. 37 Aleksandr Galkin / Anatolij Tschernjajew (Hg.), Michael Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1968–1991, Sow. Dok., 267.

Attali betreibt Außenpolitik auf eigene Faust 

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seinem Gespräch mit Gorbatschow, an dem er selbst teilnahm, gesagt hatte: „Ich fürchte die Wiedervereinigung Deutschlands nicht.“ Attali, so scheint er zu glauben, kannte das Denken Mitterrands offenbar besser als dieser es selbst. Und seine eigentliche Überzeugung musste der sowjetischen Führung übermittelt werden von ihm, Attali, der sie jetzt, am 6. Dezember 1989, in Kiew formulierte, und Zagladin zur Kenntnis der Sowjets übergab: „Frankreich wolle auf keinen Fall eine Wiedervereinigung Deutschlands.“ Einschränkend immerhin fügte Attali hinzu, dass sich Frankreich bewusst sei: „letzten Endes werde sie erfolgen“. Die Einschränkung nahm er indes sogleich wieder halb zurück, indem er das Gespenst eines bedrohlichen Deutschlands aufbrachte, gegen das sich Frankreich und die Sowjetunion als „traditionelle Verbündete“ zusammen wappnen müssten. Es seien möglichst rasch „Strukturen über die Blockgrenzen, über die Demarkationslinie Ost-West“ hinweg zu schaffen, die es Deutschland nicht erlauben würden, „im Alleingang zu handeln“, und es im Falle einer Wiedervereinigung daran hindere, „seine hegemonialen Ansprüche zu verwirklichen“. Für Attali war Deutschland einfach schon qua Deutschland eine „Bedrohung“. Ein „neuer Krieg“, so malte er es seinem sowjetischen Gesprächspartner aus, könne vom „Territorium Deutschlands“ ausgehen. Und er beschwor, sollte Zagladin ihm womöglich nicht folgen wollen, die „deutsche Aggression“, unter der, so sein einseitiges Verständnis (man denke an Polen), Frankreich und die Sowjetunion „am meisten gelitten hätten“.38 Attalis Versuche zu einer von seinen persönlichen Befürchtungen gespeisten eigenmächtigen Außenpolitik fruchteten nicht. Angesichts des Geschehens zur deutschen Einheit hin, wie es dann effektiv ablief, wird man wohl sagen dürfen: Zum Glück.39 38

Ebd., 272, für alle Zitate aus dem Gespräch Zagladin-Attali. Attali praktizierte seine Eigenmächtigkeit unverdrossen, und das bis in die außenpolitische Tätigkeit hinein, zu der ihn Mitterrand von Zeit zu Zeit beauftragte. So wurde er von diesem Anfang März 1990 nach Washington, D. C., gesandt, um dort mit dem Sicherheitsberater von Präsident Bush, Brent Scowcroft, zu sprechen. Ihre Unterredung fand am 8. März im Weißen Haus bei einem Mittagessen statt. Nach seiner Rückkehr nach Paris schrieb Attali am 9. März dazu für Mitterrand einen Bericht (Note pour Monsieur le Président. Objet: Sur mon déjeuner avec le Général Scowcroft à la Maison Blanche le Jeudi 8 Mars 1990). Auf amerikanischer Seite wurde von der Unterredung ebenfalls ein Protokoll angefertigt (From Adrian Basora to The File Re: General Scowcroft’s March 8 Lunch with Jacques Attali, registriert unter OA / CF01354005 in der George H. W. Bush Presidential Library). Die beiden Niederschriften (wobei bei der amerikanischen einige Stellen geschwärzt sind) unterscheiden sich erheblich. Nach der amerikanischen äußerte sich Scowcroft sehr kritisch bezüglich der französischen Europapolitik und Frankreichs Haltung zur NATO. Davon steht nichts in Attalis Bericht, dieser schreibt vielmehr, dass sich ihm ein „desorientiertes Amerika“ gezeigt habe. Davon ist dem amerikanischen Bericht nicht das Geringste anzumerken. Attali führt viele angeblich besprochene Themen an, von denen im amerikanischen Bericht nichts steht. Seiner Wiedergabe des Gesprächs ist nicht anzusehen, wer hier spricht: Scowcroft oder er. Der selbstsichere Ton des Schriftstücks lässt eher vermuten, dass es Attali ist. Scowcroft „spricht“ denn, wie ihn Attali sprechen lässt. Eine längere Passage zu Deutschland, von dem im amerikanischen Bericht wenig die Rede ist, kennzeichnet wieder das Phantasma (Attali’s?) von einem inhärent bedrohlichen Deutsch 39

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

Powell und Attali machen gemeinsame Sache Bei der Sitzung des französischen Ministerrats am 20. Dezember 1989 ließ Präsident Mitterrand wissen, dass bezüglich der deutschen Frage dieser Fortschritt gemacht worden sei: „Was die Wiedervereinigung Deutschlands und die Vorgaben anbelangt, die an sie anzulegen sind, so gibt es jetzt eine Doktrin der [westlichen] Allianz. Sollte diese Wiedervereinigung aus der Selbstbestimmung der zwei Teile des deutschen Volkes hervorgehen, so wird dies die Allianz positiv aufnehmen.“40 Es ging somit nicht mehr um die bislang kontroverse, prinzipielle Frage des ‚Ob‘, sondern, nach einem willkommenen Konsens darüber, um die praktische Frage des ‚Wie‘.41 Daran wurde in der Werkstatt der Weltpolitik jetzt gearbeitet, intensiv, mit klaren Vorstellungen in Paris und Washington, D. C., und mit vergleichsweise unausgereiften in Moskau. Die britische Diplomatie arbeitete mit – allerdings gegen Widerstände in Downing Street 10, bei der Premierministerin sowie bei ihrem Chefberater Charles Powell.42 Letzterer hatte bei seinem abweisenden Reflex in Jacques Attali einen Verbündeten in Paris. Beide waren gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands, konnten diese Einstellung aber nicht allein (auch wenn Attali, wie wir gesehen haben, so tat als ob) realisieren und Deutschlands Wiedervereinigung verhindern. Die Lage wäre eine andere, wenn sich ihre jeweiligen Prinzipale, also Premierministerin Thatcher und Präsident Mitterrand, und durch sie die britische und französische Regierung, zu dem gewünschten Widerstand entscheiden würden. Um die Wiedervereinigung Deutschlands war es insbesondere bei den Unterredungen gegangen, die Mitterrand und Thatcher miteinander anlässlich des europäischen Gipfels in Straßburg Anfang Dezember geführt hatten. Beide betonten dabei, wie sehr sie diese Frage beschäftige. Nur konnte der französische Präsident von dem Gipfel mit der beruhigenden Gewissheit scheiden, dass sich die bundesdeutsche Regierung, nach einem langen Zögern des Kanzlers, für einen weiteren, land. Es ist kaum zu glauben, dass Scowcroft das gesagt haben soll, was Mitterrand durch Attali vorgelegt bekam: „Der 4+2 Prozess ist vage, verschwommen und wird nicht funktionieren. Deutschland wird alles tun, alles allein, und wir haben keinerlei Möglichkeit, ihm was auch immer zu untersagen.“ – Mitterrand nahm Attalis Bericht zur Kenntnis, wie die von ihm handschriftlich angebrachten Kürzel „vu“ und „FM“ zeigen. Was er davon hielt, ist nicht zu erkennen. Was man indes erkennen kann, ist der Versuch Attalis, die Außenpolitik Mitterrands und hier besonders die bezüglich Deutschlands bis in eine Berichterstattung wie die hier angeführte hinein zu beeinflussen, wenn nicht zu lenken. – Zuletzt sei hervorgehoben, dass der 2+4 Prozess, der angeblich „nicht funktioniere“, am 14. März 1990 in Bonn aussichtsreich und zielführend begann. 40 CM, 20. Dezember 1989. 41 Mitterrand fügte deswegen seiner Aussage gleich hinzu: „Bei der Wiedervereinigung müssen aber die aktuellen Grenzen und die internationalen Vereinbarungen respektiert werden.“ (Ebd.). 42 Siehe Patrick Salmon, The United Kingdom: Divided Counsels, Global Concerns, und die Abschnitte oben: Das Mitgehen von Margaret Thatcher in Kap. 2 und Exkurs nach Downing Street 10 in Kap. 4.

Powell und Attali machen gemeinsame Sache 

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maßgeblichen Schritt zur europäischen Einigung hin verpflichtet und damit auch eine Einbettung der deutschen Einheit in das europäische Einheitswerk angebahnt hatte. Für ihn war damit die wichtigste Vorbedingung einer Zustimmung zu einer Wiedervereinigung Deutschlands erfüllt. Margaret Thatcher, ohnehin nicht glücklich über jeden Fortgang beim europäischen Einheitswerk, fand sich in Straßburg in keiner Weise bestätigt. Sie blieb vom Thema einer Wiedervereinigung Deutschlands umgetrieben, wollte dieser weiter widerstehen – und erkannte nicht, dass es den Verbündeten nicht gab, den sie in Mitterrand dafür sah. Das war für Powell und Attali indes kein Hindernis, sondern vielmehr der Einstieg, über den sie glaubten, auf Thatcher und doch noch auf Mitterrand einwirken zu können. Die Unterredungen, die Mitterrand und Thatcher in Straßburg miteinander geführt hatten, sollten, so ihr Bestreben, fortgesetzt werden, so als hätte der Straßburger Gipfel mit seinen formellen Ergebnissen zur Frage der deutschen Wiedervereinigung für den französischen Präsidenten keine neue Ausgangslage geschaffen, und danach sich in dessen Augen auch die „Doktrin der westlichen Allianz“ für die Wiedervereinigung ergeben. Gewiss, die praktischen Aspekte einer Wiedervereinigung, vor allem die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der militärische Status eines wiedervereinigten Deutschlands, beschäftigten Mitterrand und beunruhigten ihn. So konnten Powell und Attali darauf setzen, dass in Paris und London gleichermaßen die Sorgen ob Deutschland anhielten, wobei die sehr unterschiedliche Natur dieser Sorgen – bei Thatcher waren sie zum Widerstand gegen die Vereinigung zugespitzt, bei Mitterrand hingegen eingehegt in einen politischen Entwurf für die Umstände der Wiedervereinigung – verwischt wurde. Attali und Powell besprachen sich am 22. Dezember 1989, und gleich danach richtete Powell, unter dem Briefkopf der Premierministerin (!) – „The Prime Minister“ – die folgende Notiz an Stephen Wall im Foreign and Commonwealth Office: TREFFEN MIT PRÄSIDENT MITTERRAND Früher diesen Vormittag sprach ich mit Jacques Attali über die Möglichkeit eines weiteren Treffens zwischen der Premierministerin und Präsident Mitterrand. Ich sagte, die Premierministerin wäre bereit, einen Sprung herüber nach Paris für ein paar Stunden zu machen, an einem Wochenende oder einem Freitagabend irgendwann im Januar, um die Diskussion, die sie in Straßburg begonnen haben, fortzusetzen. Attali sagte, dass der Präsident dies sehr begrüßen würde, und er würde sich bei mir nächste Woche wieder melden, mit Terminvorschlägen. Er hielt es für sehr wichtig, zwischen Britannien und Frankreich in enger Verbindung zu bleiben. Er hätte den Präsidenten bei seinem Besuch gestern in Ostdeutschland begleitet, und sie hätten dabei eine einfache Tatsache mitbkommen: Deutschland ging sehr rasch auf eine Wiedervereinigung zu.43

Man musste handeln, bevor es zu spät war. Am 29. Dezember schrieb Attali denn an Mitterrand eine handgeschriebene note, mit der er diesem überbrachte, was Margaret Thatcher ihm (!) mitgeteilt habe: 43

PREM 19–3346.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

„Herr Präsident. Frau Thatcher hat mich [!], durch ihren Mitarbeiter Charles Powell, wissen lassen, dass sie im Januar in Frankreich die in Straßburg begonnene Unterredung fortzusetzen wünsche. Sie schlägt vor, an einem Freitagabend oder einem Samstagmorgen im Januar zu kommen, am 12. etwa oder am 19. – Was soll ich antworten?44

Mitterrand empfing und bearbeitete die note. Mit einem handschriftlich eingetragenen „Oui“ willigte er in das vorgeschlagene Treffen ein, mit einem „Non“ lehnte er die für das Treffen angeführten Tage ab, und mit einem „à voir quant à date“ forderte er zu einer Terminsuche auf. Das von Powell und Attali derart eingefädelte Treffen zwischen Mitterrand und Thatcher fand in Paris am 20. Januar statt. Es ging allerdings, wie im vorigen Kapitel berichtet, keineswegs in ihrem Sinne aus.

Thatcher und Powell: Mitten im Geschehen in geschichtsnarrativer Gefangenschaft Man kann, wenn sich bestimmte Gedanken im Kopf festsetzen, zu deren Gefangener werden. Man kennt sie, kennt sie allmählich sehr gut, weil sie sich breitgemacht haben und schlechterdings bestimmend für das eigene Erfahren und Verstehen geworden sind. Sie sind aus dem eigenen Bewusstsein und dessen Inhalten nicht mehr wegzudenken, machen sie doch einen Teil dieses Bewusstseins aus. Man sieht überhaupt nicht mehr ein, dass sich irgendwas an ihnen ändern oder warum gar man sie aufgeben müsste. Man hat sich ihnen übergeben: Soll etwas erfasst werden, das sie angeht, so wird dieses ihnen gemäß erfasst. Soll es beurteilt werden, so wird es ihnen gemäß beurteilt. Sie haben einem durch sich schon gesagt, was von einer Sache, wenn sie einem unterkommt, zu halten ist. Man erkennt dann einzig Vor-erkanntes, oder besser: Vor-bekanntes. Denn man hatte darüber ja schon so seine Gedanken, und weiß folglich sogleich: so werde ich befinden. Nur sind es diese Gedanken und nicht mehr man selber, die befinden. Man ist in ihnen eingefangen, ihr Gefangener. Margaret Thatcher und Charles Powell waren, was Deutschland – die Deutschen, die deutsche Geschichte – anbetraf, solche Gefangene. Nach all dem, was zu ihnen schon bisher gesagt wurde, dürfte diese Aussage nicht verwundern. Und es wird auch augenscheinlich geworden sein, wie sehr Powells und Thatchers Standpunkte, was Deutschland betraf, miteinander verknäuelt waren. Dieses Knäuel ihrer Standpunkte formte einige der hier angeführten und besprochenen Dokumente. Es schien, als hätten sich die Wahrnehmungen Thatchers und Powells in Bezug auf Deutschland ineinandergeschoben, und als spräche aus ihren Äußerungen – die einer britischen Premierministerin und ihres Beraters – eine und dieselbe Person. Wer also definierte in Downing Street 10 die zur Frage einer Wiedervereinigung 44

Notiz von Jacques Attali an Präsident Mitterrand, 29. Dezember 1989.

Thatcher und Powell 

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Deutschlands zu verfolgende britische Politik? Wessen Geschichte war es, auf die von dort aus abgezielt wurde? Wem, wahrlich, kam das regierende Wort zu, die Machtäußerung, die die Entscheidung bringt? Oder war es im Grunde einerlei, verknäuelt wie die Denkarten waren? Vermutlich werden es Charles Powell und Margaret Thatcher, gleichsam eine Stimme in Sachen Deutschland bildend, nicht als ein Problem angesehen haben, wie wir es als Analytiker von Regierungsmacht und Regierungshandeln tun. Vielmehr boten sie im Februar und März 1990 eine exemplarische Vorführung ihrer Einheit in den beiden Gestalten von Berater und Premierministerin. Das geschah anlässlich eines Kolloquiums zum Thema „Deutschland“ auf dem Landsitz der britischen Premierminister, dem Herrenhaus Chequers Court bei Ellesborough in der Grafschaft Buckinghamshire. Das Kolloquium fand am 24. März 1990 statt. Für unsere Betrachtung sind zusätzlich zu dem, was hier gesagt, beziehungsweise nicht gesagt wurde, dessen Vorgeschichte und Nachgeschichte bedeutsam. Der Anlass zu der Veranstaltung war der Wunsch von Downing Street 10, eine Gruppe von ausgewiesenen Historikern zusammenzubringen, mit denen Premierministerin Thatcher, unter Anwesenheit des britischen Außenministers Douglas Hurd, das Thema „Deutschland“ ausgiebig durchdiskutieren konnte. Mit den Planungen wurde Anfang Februar begonnen, sie wurden von Charles Powell besorgt, in steter Absprache mit der Premierministerin.45 Eine erste Liste von Teilnehmern umfasste folgende Personen: Alec Douglas-Home (ehemaliger britischer Premierminister), Hugh Trevor-Roper, Alan Bullock (Hitler-Biograph), Gordon Craig, Isaiah Berlin, Hartley Shawcross (britischer Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen), Norman Stone, Timothy Garton Ash und Gordon Smith. Bei einer späteren, schon verringerten Liste durchkreuzte Margaret Thatcher den Namen von Alan Bullock, diesen wünschte sie nicht unter den Teilnehmern. Die ausgewählte Gruppe von Deutschland-Experten setzte sich schließlich in Chequers aus folgenden sechs Personen zusammen: den britischen Historikern Timothy Garton Ash, Norman Stone und Hugh Trevor-Roper, den amerikanischen Historikern Gordon Craig und Fritz Stern, sowie dem ungarisch-britischen Journalisten George Urban. In dem von ihm erstellten Einladungsschreiben, beispielsweise im am 22. Februar an Timothy Garton Ash gerichteten Schreiben, erläuterte Charles Powell die Zielsetzung des Kolloquiums wie folgt: Die Premierministerin hat für den 24. März einen halben Tag vorgesehen, an dem sie mit einer kleinen Gruppe von herausragenden Historikern und Kommentatoren über Deutschland sprechen möchte. Sie fragt an, ob Sie daran teilnehmen können. Die Diskussion wird in Chequers stattfinden … Wir würden um 12 Uhr 30 mit einem Mittagessen beginnen und den Nachmittag über fortfahren, um nach dem Tee ungefähr zu enden. Ich bin mir noch nicht sicher, wie viele Personen teilnehmen werden: aber es werden weniger als zehn sein, die Premierministerin und der Außenminister mitgerechnet. 45

Siehe PREM 19–2999 und PREM 19–3000_1.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

Wonach die Premierministerin strebt, glaube ich, ist ein Verständnis der Lehren, die aus der Geschichte Deutschlands gezogen werden können – nicht nur der in diesem Jahrhundert –, um die deutsche Vereinigung zu bewältigen und das geeinte Deutschland, mit dem wir bald zu tun haben; und wie wir am besten sicherstellen können, dass die Vereinigung die Stabilität und Sicherheit Europas stärken kann. Sie denkt an eine allgemeine Diskussion, unter einem Zurückgreifen auf die Erfahrung und das Wissen eines jeden Teilnehmers. Wir möchten das Treffen selbst und natürlich den Inhalt der Gespräche gänzlich vertraulich behalten.46

Die im letzten Satz gewünschte Vertraulichkeit wurde nicht gewahrt.47 Das „Seminar von Chequers“ wurde kurz nachdem es abgehalten worden war, eine cause célèbre im Geschehen zur Wiedervereinigung hin, und blieb es in der Geschichtsschreibung in Bezug auf das damalige Verhalten zum Thema Deutschland in Downing Street 10.48 Wie es zu der cause célèbre kam, wird gleich noch geschildert. Doch es geht uns ja vorweg um das Thema einer geschichtsnarrativen Gefangenschaft und dafür müssen wir uns dem inhaltlichen Hergang des von Thatcher und Powell einberufenen Kolloquiums zuwenden. Dieser erfolgte in vier Stufen: (1) Eine Woche vor dem Kolloquium tauschten sich Charles Powell und Margaret Thatcher über das Programm aus. Powell schickte am 18. März 1990 an die Premierministerin ein dreiseitiges Papier zu dem Seminar on Germany, in dem er eine Reihe „spezifischer Fragen“ auflistete, zu denen das Seminar Antworten oder zumindest eine Orientierungshilfe geben könnte.49 Gleich die ersten beiden Frage benennen die Begriffe, die in allen Äußerungen Powells und Thatchers anlässlich des Seminars als Konstanten ihrer Vorstellung von Deutschland dominieren: „Was sagt uns die Geschichte über den Charakter und das Verhalten der deutschsprachigen Bevölkerung in Europa? Gibt es solche Dinge wie fortdauernde nationale Charakteristika?“ (Hervorhebungen von T. S.). Powell variierte bei der Formulierung seiner weiteren Fragen, doch sie kreisen um stets dasselbe: es geht um den „nationalen Charakter“ der Deutschen, ihren „Charakter und ihre Psyche“, den „deutschen Charakter“, die „deutschen nationalen Ambitionen“.

46

Siehe PREM 19–3000_1. Das Treffen wurde der Presse dann doch bekanntgemacht, indes löste die Ankündigung wenig mediales Echo aus. Siehe: Gordon A.  Craig, „Die Chequers-Affäre von 1990“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 39, 1991, Heft 4, 611-623. 48 Siehe: „Checkers affair – Checkers Affäre“ in: https://second.wiki/wiki/chequers-affc3a4re; sowie: https://historyatkingston.wordpress.com/2017/01/04/thatchers-germanophobia-newlyreleased-files-offer-more-clues/ (beide Quellen aufgerufen am 20. Juli 2022); Gordon A. Craig, Die Chequers-Affäre von 1990; Andrew Dodd, ‚Ihr wolltet den Rest Europas in Deutschland verankern‘. Margaret Thatcher and German Reunification, in: Patrick Bormann / Thomas Freiberger / Judith Michel (Hg.), Angst in den internationalen Beziehungen, Göttingen: V&R unipress, 2010, 115–130; Timothy Garton Ash, The Chequers Affair, in: Harold James / Maria Stone (Hg.), When the Wall Came Down, Reactions to German Unification, New York: Routledge 1992, 242–246 (der Artikel von Ash erschien zuerst am 27. September 1990 in der New York Review of Books, 20–23); die Passage zu Chequers in: Charles Moore, Margaret Thatcher, Vol. 3, 526–529. 49 PREM 19–3000_1 und DBPO, 502–503. 47

Thatcher und Powell 

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Thatcher versah Powells Papier mit handschriftlichen Kommentaren. Zu der Frage, ob sich die Deutschen in den letzten 40 Jahren geändert hätten, fügte sie nach der Zahl „40“ die Zahlen „80“, „150“ hinzu – und ließ so erkennen, dass sie für eine Untersuchung des „nationalen Charakters der Deutschen“ einen längeren Zeitraum für angebracht hielt. Ihre wichtigste Anmerkung indes trug sie ganz am Ende des Papiers ein. In der Vergangenheit, so schrieb sie, sei die „Geschichte weitgehend von den Persönlichkeiten und den Ambitionen der Herrscher des Volkes bestimmt worden, in der Zukunft wird sie viel mehr vom Volkscharakter bewirkt werden.“ Letzteres war die Kategorie, auf die sich Thatcher versteifte – und Deutschland war dafür ihr Vorzeigeland. „But I do believe in national character“, bekannte sie später demonstrativ in ihren Memoiren.50 (2) Verglichen mit dem an die Expertengruppe versandten Einladungsschreiben war Powells Papier gewiss nicht harmlos. Im Einladungsschreiben wurde noch in euphemistisch allgemeiner Form von den „Lehren“ gesprochen, welche die Experten im Gespräch mit der Premierministerin „aus der Geschichte Deutschlands ziehen“ könnten. Demgegenüber ist den von Powell in seinem Papier aufgestellten „spezifischen“ Fragen ein ebenso spezifischer Ansatz unterstellt: der Charakter der Deutschen. Und diesen Charakter glaubten Powell und Thatcher, hier offensichtlich gleichgesinnt, genau zu kennen. Damit war ein Prototyp von Wahrnehmung vorgegeben, kraft dessen nichts anderes mehr aufgenommen, sondern nur noch das in ihm schon Vorhandene ausgefächert werden kann. Im gegebenen Falle geschah dies in Vorstellungen wie der von der „deutschen Sendung im zentralen und östlichen Europa“, oder der „Tendenz eines geeinten Deutschlands hin zu einer geographischen und territorialen Dominanz“, oder der „instinktiven und historischen Ruhelosigkeit“ der Deutschen. Am 19. März wandte sich Powell an die eingeladenen Experten, um ihnen eine „vollständigere Vorstellung von den Themen“ zu geben, welche „die Premierministerin bei unserem Treffen in Chequers diskutieren möchte“.51 Und er reproduzierte dafür seine Fragenliste, etwas umgruppiert, und ergänzt durch die in Fragen umformulierten Kommentare Thatchers auf seinem vorherigen Papier, wobei Powell statt dieser Information am Schluss seines Texts hinzufügte, dass die Fragen „durch mich statt der Premierministerin formuliert“ worden seien. Ein weiteres Detail wäre sicherlich noch hervorzuheben. Bei der Frage: „Haben sich die Deutschen in den letzten 40 Jahren verändert?“, war jetzt die nachfolgende Zusatzfrage Powells, die in seinem ersten Papier stand, gestrichen: „Oder haben wir es tatsächlich mit den gleichen alten Hunnen zu tun?“

50 Engl. Ausgabe 791; dt. Ausgabe Downing Street 10. Die Erinnerungen, 1095: „Allerdings glaube ich an einen Nationalcharakter“ …, und es folgte für sie klar daraus, was sie einige Sätze weiter sagte: „Deutschland ist vom Wesen her eher eine destabilisierende als eine stabilisierende Kraft im europäischen Gefüge.“ (Ebd.). 51 PREM 19–3000_1 und DBPO, 503–504.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

(3) Das Kolloquium am 24. März 1990 verlief indes, nach dem ausführlichen Bericht eines der Teilnehmer, George Urban, nicht nach Powells Fahrplan.52 Oder, genauer gesagt: die einzige, die ihm mit ihren Einlassungen entsprach, war Margaret Thatcher. Sie machte, nachdem sie die Leitung der Diskussion übernommen und diese eröffnet hatte, „kein Geheimnis aus ihrer Überzeugung,“, so schreibt Urban, dass „Deutschland, historisch betrachtet, eine gefährliche Macht“ sei, wegen der „bloßen Größe der Bevölkerung, dem Fleiß und der Disziplin des Volkes, der Unzuverlässigkeit des deutschen Charakters, der Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland sich wieder einer ‚Sendung‘ in Europa verschreiben werde“. Nach Urbans Beobachtung war es von dem Augenblick an, da Thatcher zu sprechen begann, offensichtlich, dass ihre „instinktiven Eingebungen (gut reactions) anti-deutsch“ waren. Und sie hatte wohl erwartet, so fügt Urban hinzu, dass „unsere Gruppe ihren anti-teutonischen Vorurteilen beipflichten“ werde.53 Dem jedoch war nicht so. Ein „Erstaunen“ habe sich eingestellt, als „wir alle“ – also jeder der eingeladenen Experten zu Deutschland – mit „Analysen aufwarteten“, denen zufolge die „Bundesrepublik [Deutschland] in großartiger Weise ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt“ habe, ein „freiheitliches demokratisches System zu praktizieren“, und es sich nunmehr um ein Deutschland handle, dem Großbritannien „vertrauen“ könne, und mit dem es „eng zusammenarbeiten“ müsse.54 Unter Zustimmung der anderen Kollegen, erklärte Hugh Trevor-Roper, er sei davon „überzeugt, dass im deutschen Denken wirklich ein grundlegender Wandel (sea-change – [das Bild für eine wunderbare Verwandlung aus Shakespeares Tempest, T. S.]) stattgefunden habe“.55 Thatcher erwies sich jedoch als resistent. Nach der stundenlangen Diskussion bilanzierte sie so: „Sehr gut, sehr gut, ich bin hier am Tisch überstimmt. Ich verspreche Ihnen, dass ich nett zu den Deutschen sein werde, nett zu Helmut [Kohl], wenn er nächste Woche kommt, aber ich werde nicht besiegt sein. Ich werde nett zu ihm sein, aber ich werde an meinen Prinzipien festhalten.“56

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Siehe George R. Urban, Diplomacy and Disillusion at the Court of Margaret Thatcher, An Insider’s View, London: I. B.Tauris, 1996, 2, 120–150. 53 Ebd., 124 f. – Später schreibt Urban: Es sei „deprimierend“ gewesen, mitanzusehen, wie die Einstellung Thatchers zu der ganzen Fragestellung betreffs Deutschland „so sehr die einer Unerfahrenen war, bei all den gelehrten Büchern, die sie demonstrativ vor sich auf dem Seminartisch aufgestapelt hatte“. Und dabei „verbarg“ sie nicht „ihre tiefe Abneigung gegenüber allem Deutschen“ (ebd., 131). 54 Ebd., 125–126. 55 Ebd., 134. 56 Ebd. 128. – Als Norman Stone, Timothy Garton Ash und er nach Abschluss des Seminars zu ihren Autos gegangen seien, hätten sie, so berichtet Urban weiter, noch ihre „Köpfe zusammengesteckt“, und sich gesagt, dass sie alle, die Experten, obwohl sie sich nicht vorher besprochen hatten, noch in irgendeiner Weise enge Freunde waren, zu dem gleichen Rückschluss gekommen seien; die „Instinkte der Premierministerin griffen extrem weit daneben“.

Thatcher und Powell 

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(4) Schon am nächsten Tag, dem 25. März, sandte Powell an Stephen Wall im Foreign and Commonwealth Office eine „summarische Niederschrift (Summary Record)“ der stattgefundenen Diskussion, zusammen mit seiner für diese zuvor zusammengestellten Fragenliste.57 Er hob in seinem Begleitschreiben hervor, dass es „sehr peinlich und für unsere Interessen ernsthaft schädigend wäre, wenn der Inhalt einer so freimütigen Diskussion zu einem unserer engsten Verbündeten bekannt werden würde.“ Zur weiteren Information fügte er hinzu, dass er Kopien dieses Schreibens und die Anlagen dazu an vier namentlich genannte Personen im Regierungsapparat und an den britischen Botschafter in Bonn übermittle. Peinlich und Schaden zufügend  – gewiss. Dieses Dokument war, man kann es nicht anders sagen, Deutschland gegenüber eine einzige Verunglimpfung. Alles, was in Powells Papieren erwähnt worden war, ist auch hier festgehalten: der schreckliche Charakter der Deutschen, von „Angst, Aggressivität, Anmaßung, Drangsalieren, Egoismus, Minderwertigkeitskomplex, Gefühlsduselei“ gekennzeichnet, und das rohe und rücksichtslose Verhalten, das aus diesem folge und gerade von einem geeinten Deutschland besonders zu befürchten sei. Neu war dazuhin die Idee, der vorzusehenden „Sicherheitsarrangements“ wegen eine fortgesetzte Stationierung russischer Truppen in Ostdeutschland zu planen, zumindest für eine Übergangszeit. Man musste den Deutschen Schach bieten, und das, so Powells Protokoll, konnte nur die Sowjetunion, als „einzige europäische Macht, die fähig ist, Deutschland auszubalancieren“. An eine gleiche Logik, so Powells Protokoll, sei bezüglich der „Europäischen Gemeinschaft“ zu denken. Deren Struktur begünstige eine „deutsche Dominanz“, der aber abgeholfen werden könne. Je anmaßender das Land werde, desto leichter müsste es sein, „gegen Deutschland Allianzen aufzubauen“. Die geschichtsnarrative Gefangenschaft erwies sich als perfekt. Wie es seine Art war, hatte Powell kein wirkliches Gesprächsprotokoll hergestellt, anhand dessen zu erkennen gewesen wäre, wer was an diesem und jenem Punkt im Laufe des Gesprächs gesagt hatte. Er schrieb vielmehr auf, was ihm seine vorhandenen Vorstellungen diktierten und in die so gut wie nichts von den Ausführungen der in Chequers versammelten Deutschland-Experten eingedrungen war. Es entstand so ein exemplarisches Beispiel seiner Methode, für die Nachwelt im Einklang mit seiner Premierministerin deren Taten zu „dokumentieren“. George Urban kommentierte das Phänomen, nachdem er von Powells Niederschrift erfahren hatte, wie folgt: Näher betrachtet zeigt Powells Memorandum etwas Bemerkenswertes – es ist in auffallender Weise stimmig, aber nicht mit dem, was in Chequers herauskam, sondern mit den Themen, die uns Powell selbst unter seinem Namen als die Gesprächsgegenstände zugeleitet hatte, welche die Premierministerin zu diskutieren wünschte. Sie enthalten praktisch ihre eigenen Antworten. Die Premierministerin  – und Powell  – waren unzweifelhaft darauf aus, von

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PREM 19–3000_1 und DBPO, 504–508.

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

uns all das zu hören, was Powell in seine Frageliste eingebracht hatte, aber wir taten ihnen schlicht nicht diesen Gefallen.58

Am 15. Juli 1990 veröffentlichte die britische Zeitung The Independent on Sunday den vollständigen Text von Powells Niederschrift zu dem Seminar in Chequers, am 16. Juli tat dies in Deutschland Der Spiegel.59 Das angeblich vertrauliche Dokument wurde so allseits bekannt, und sorgte für einiges an Aufregung, in England wie in Deutschland.60 Doch schon im März und noch weit mehr im Juli 1990 zog das Geschehen hin zu einem geeinten Deutschland an Thatcher und Powell vorbei. Sie blieben in regressiver Weise zurück, protestierten und agitierten zwar weiterhin, aber meistenteils vergeblich. In einer Unterredung mit François Mitterrand am 4. Mai 1990 äußerte Margaret Thatcher so etwas wie ein Einsehen. Sie hatte in ihrem Widerstand gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands auf Michail Gorbatschow gesetzt. Doch dieser war, wie sie sich jetzt eingestehen musste, an ihr vorübergegangen. „Im September [1989]“, so sagte sie Mitterrand, „war er total gegen die Wiedervereinigung, aber dann hat er sich mit anderen Angelegenheiten befasst, und in Malta [bei den Unterredungen mit Präsident Bush am 2. und 3. Dezember 1998] hat er den Eindruck hinterlassen, dass die Wiedervereinigung die Angelegenheit der Deutschen sei. Er hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen!“ Mitterrand, ebenfalls nicht an ihrer Seite, wie sehr sie es auch gewünscht und ihn entsprechend gedrängt hatte, denn er hatte sich schon längst auf eine Wiedervereinigung Deutschlands eingestellt, erwiderte prononciert lakonisch: „Ja, aber das ist der Gang der Geschichte.“61 Sie hatte sich von dem, was zu Deutschland geschah, abgeschnitten, die britische Premierministerin.62 58 George R. Urban, Diplomacy and Disillusion at the Court of Margaret Thatcher, 157. – Gleich nach der Veröffentlichung von Powells Niederschrift stellte Urban diesen zur Rede. Zur Antwort erhielt er von Powell dies: „Ich habe seit langem Protokollnotizen gemacht, aber niemand hat mich bislang der Fälschung oder Unrichtigkeit beschuldigt.“ (Ebd., 153). 59 Siehe ‚What the Prime Minister learnt about the Germans‘, The Independent on Sunday, 15. Juli, 1990, 1; ‚Wer sind die Deutschen?‘, Der Spiegel, 16. Juli 1990, 109–12. 60 Zu Einzelheiten siehe Anmerkung 48 oben. 61 Entretien entre François Mitterrand et Mme Thatcher à Waddesdom Manor, 4. Mai 1990. 62 Es ist bemerkenswert, dass Thatcher in ihren Memoiren das Chequers-Seminar mit keinem Wort erwähnt. – Powell seinerseits teilte auch gegen Frankreich aus. Siehe seinen Artikel „Why England and France will never be best friends“, in: The Spectator, 3. September 1994, 8–10. Thatchers schrille Äußerungen zu den Deutschen und zu Deutschlands Übermacht in Europa eignen sich dazu, sie diesbezüglich zu einem Idol zu machen, das gewissermaßen durch sich selber weiterlebt. In einem amerikanischen Journal mit dem Namen The Philadelphia Trumpet Magazine erschien in dessen November-Dezember Ausgabe 2009 unter dem Titel „Britain’s Iron Lady was right. A voice of warning from 1989 is about to prove especially farsighted“ ein Artikel, der für diese Idolbildung exemplarisch ist. Man muss dazu wissen, dass „The Trumpet has a long history of using Bible prophecy to accurately forecast major global events and trends.“ Entsprechend fiel aus, was hier in idolatrisch-apokalyptischer Weise zu Thatcher und in der Nachfolge von ihr zu Deutschland gesagt wird: „You have not anchored Germany to

Wird im historischen Wissen Geschehen aufgeraut, wird das Narrativ geschärft  135

Wird im historischen Wissen das Geschehen aufgeraut, wird das Narrativ davon geschärft Wird im historischen Wissen Geschehen aufgeraut, wird das Narrativ geschärft

Ich bin im Verlauf dieser Schrift im Feld der Dokumente stetig einer Art von Tätigkeit  – der eines Archäologen nicht ungleich  – nachgegangen, die man mit Worten wie „ausheben“, „aufgraben“, „aufsammeln“ bezeichnen könnte. Es ging zu tieferen Schichten des dokumentarischen Felds hin, zu Rudimenten – ein handbeschriebener Zettel hier, ein persönlicher Brief dort und dergleichen –, die ohne ein solches Aufrauen der Oberfläche nicht sichtbar geworden wären. Auf diese Weise erweiterte sich dazuhin das Feld von der zuerst bekannten Oberflächenschicht zu einem beträchtlich größeren Bereich aufgedeckter und zusammengetragener dokumentarischen Befunde. Dank dieser erst konnte vieles auseinander gelegt werden, was sonst unbemerkt, gewissermaßen spurlos geblieben wäre. Mit diesem Aufrauen des historischen Wissens über das hier zur exempla­ rischen Vorlage wiederholt angesprochene Geschehen hin zur Wiedervereinigung Deutschlands gewannen wir denn an Einsicht in jenes Geschehen. Indes hatte das gleichsam archäologische Vorgehen auch in methodischer Hinsicht einen produktiven, nämlich schärfenden Effekt: die Konturen für das Narrativ zu dem Geschehen traten schärfer hervor. Auf entsprechende Folgerungen für die Historiographie allgemein wie speziell für die Geschichtsschreibung zur Wiedervereinigung wurde an entsprechenden Stellen hingewiesen. Das letzte Kapitel ist hierfür besonders aussagekräftig. So soll der schärfende Effekt unserer archäologischen Methode anhand von einigen Beispielen wie folgt verdeutlicht werden. Man wird zur Konturierung historiographischer Narrative auf die Zeitdifferenzen in den Wahrnehmungen der Akteure und dann, von diesen her, in deren Verhalten achten müssen. François Mitterrand stellte sich auf eine Wiedervereinigung ein, als Margaret Thatcher noch energisch dagegen ankämpfte und dabei die Einstellung Mitterrands nicht nur übersah, sondern auch fehldeutete. Sie dachten an ganz verschiedenen Zeitachsen entlang und folglich konnte Mitterrand mit ­Thatcher „spielen“, sie maliziös aufreizend, während sie, in ihren anachronistischen Phantasmen verfangen, zurückblieb. ­ urope,“ she warned America during a conference in Colorado Springs in October 1995. „You E have anchored Europe to a newly dominant, unified Germany. In the end, my friends, you’ll find it will not work.“ As the Trumpet has explained extensively in recent issues, the „end“ that Mrs. Thatcher mentioned is very nearly here. Germany is united and strong, and has cemented itself as the most powerful and dominant force, politically, economically and militarily, on the Continent. Soon, perhaps in a matter of months, Germany will impose its authority and power over Europe beyond what most people can readily imagine. Prophecies in Daniel chapters 8 and 11 reveal that, in addition to revolving around Germany, endtime events in Europe will be heavily dominated by a single individual, and a man of German descent. … Don’t be too quick to discount that forecast. It is rooted in historical fact and biblical prophecy. It will – together with Margaret Thatcher’s spirited warnings – be vindicated by the blood, sweat and tears caused by the soon-coming emergence of a German-led European empire.“ (https://www.thetrumpet. com/6588-britains-iron-lady-was-right, aufgerufen am 8. August 2022).

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Kap.  5: Wessen Geschichte?

Mit dem Konzept der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen, Anfang Februar 1990 verabschiedet, wurde in das Geschehen um die Frage einer deutschen Einheit eine diplomatische Zeitachse eingezogen, über welche die Ereignisse geordnet und der entlang sie zu einem Ergebnis hin kanalisiert werden konnten. Als Margaret Thatcher dies begriff, wetterte sie zwar weiterhin gegen die Idee eines vereinten Deutschlands, ging aber mit. Das Ordnen des Geschehens „Wiedervereinigung“, wie es unternommen wurde, gefiel bestimmten Personen nicht, die, dank ihrer Stellung meinten, entsprechend gegenhalten zu können oder gar zu müssen. Sowohl das Feld dieser Personen wie deren Wirken im Einzelnen wurden allein durch das „Aufrauen“ sichtbar. Es ist wahrlich bemerkenswert, wie weitgespannt das Feld war und wie hartnäckig hier agiert beziehungsweise agitiert wurde. Umso mehr wird man dazu gebracht, die schöpferische Politik – die leadership – derjenigen zu schätzen, und entsprechend herauszuheben, die das Problem der deutschen Einheit meisterten. Historisches Wissen von Vergangenem und das historiographische Narrativ über dieses kreuzen sich im gekonnten Ausschöpfen jenes Wissens, den „Quellen“, durch die Historiographen. Diese Überkreuzung darf als Sachverhalt aus dem Narrativ nicht verschwinden, vielmehr muss dieses ihr gemäß scharfgestellt werden, damit die hermeneutische Kunst, die es dem Geschehen allein angemessen macht, zutage treten kann. Ich konnte zum Beispiel auf die „ersten Geschichtsschreibern“ hinweisen, die, wie hervorzuheben war, federführend für alle weiteren sind. Sie und ihre denn elementare Rolle wurden erst richtig sichtbar beim Schürfen. Solches eben anzuerkennen, gehört in ein historiographisches Narrativ.

Kapitel 6

Geschichten in der Geschichte Wer forscht, ist auf Entdeckungen aus. Man reist ins Ungewisse, aus Abenteuerlust, oder voll des Begehrens nach Schätzen. Oder hat von einem mythischen Ort gehört, den es aufzufinden gilt. Oft möchte man Dinge entdecken, wovon man denkt, dass sie vorhanden sein müssten. Oder man erkundet und ermittelt, um dieses oder jenes, wovon eine Evidenz noch fehlt, aufzuspüren. Nicht selten will man erst recht wissen, wie es sich mit einer Sache verhält, wenn sie sich auf einmal in einem ganz anderen als dem Lichte zu zeigen beginnt, in dem man sie bislang gesehen hat. Die Motive zum Forschen sind vielfältig und sie können je allein oder in Verbindung miteinander wirken. Wer sich in ein Archiv begibt, wird nicht nur gezielt bestimmte Aktenbestände durcharbeiten wollen, sondern ebenfalls etwas von einem Aufbruch ins Ungewisse verspüren: Was könnte im Dokumentenhaufen zwischen den Aktendeckeln letztens nicht verborgen sein? Und wenn man ein Forschungsgespräch führt, wird man gewiss immer wieder auf die Themen lenken, wegen derer es vereinbart wurde, doch man wird dabei die ganze Person, die man interviewt, gewiss nicht übersehen wollen: zu entdecken, wie sie sich verhält, wie sie redet, was sie, abschweifend, alles so preisgibt. Man wird beim historischen Forschen somit ein offenes Erkennen pflegen wollen. Natürlich folgt man zuerst dem Forschungsprogramm, das man aufgestellt und sich zur Ausführung vorgenommen hat. Aber man wird, dem Forschen verschrieben, wie man es ist, zugleich neugierig bleiben und folglich empfänglich sein für das, was die Neugierde bringt: Befunde unerwarteter Art. Von diesen wird man sich weiterhin dazu veranlasst sehen, ihnen forschend nachzugehen, über das ursprüngliche Forschungsprogramm hinaus, sein eigenes historiographisches Forschen dabei auch überdenkend. Auf was ist man nun gekommen? Was ersieht man daraus? Wie ist es zu verstehen, wie aufzugreifen? Und gegebenenfalls als was? Solche Fragen bringen einen dazu, genauer in das hineinschauen wollen, was sich aufgetan hat, neugierig gegenüber den schon geschehenen Befunden unerwarteter Art und nun, von diesen angefacht, neugierig auf möglich weitere. Man beginnt damit, sich die Neugier zur Übung zu machen, und, zunächst kaum merklich und doch allmählich, entwickelt sich darüber eine bestimmte heuristische Eigenschaft. Ich würde sie als eine Art von historiographisch gepoltem sechsten Sinn beschreiben. Während man dokumentarisches Material durchgeht, es beharrlich durchforscht, oder bei Gesprächen bedacht und ergeben zuhört, oder wissenschaftliche Texte trotz ermüdender Ausuferungen sorgsam studiert, bringt dieser Sinn

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Kap. 6: Geschichten in der Geschichte

einen dazu, bei scheinbar Beiläufigem unversehens aufzumerken beziehungsweise aufzuhorchen, weil sich da ein fesselnder Einfall einstellt, oder etwas wie eine spannende Erkenntnis aufscheint. Das geschieht eher plötzlich, unvermittelt, hat aber umso mehr, oder gerade deswegen, eine merkliche Wirkung. Die Entdeckung prägt sich in die Erinnerung ein, und sie bleibt dort aufbewahrt, bis sie wieder abgerufen wird. In diesem Kapitel möchte ich derlei Entdeckungen wiedergeben, aus anderen ausgewählt, ob ihrer gemeinsamen anekdotischen Qualität. Sie stellten sich, wie die anderen, unversehens ein, und setzten sich nach und nach in der Erinnerung fest, in dieser gewissermaßen fortlebend. Es blieb nicht aus, dass ihrer gedacht wurde, an bestimmten Punkten der historiographischen Arbeit, in der Weise einer gedanklichen Assoziation, aber auch und immer mehr ihrer Bedeutung wegen. Ihr Fortleben in der Erinnerung nahm die Form von je einer im Gedächtnis erhaltenen Geschichte an. Diese entspann sich aus dem Vorgang des Entdeckens, entwickelte sich weiter hin zu einem Verstehen des Einfalls, und mündete, wenn möglich, schließlich in einer Aufhellung des Ganzen. An die übergreifende Geschichte, deren Zeichnung der Gegenstand dieses Buches ist, hefteten sich auf diese Weise kleinere, verdichtete Geschichten: sozusagen Geschichten in der Geschichte. Sie gehören, wie es aus ihnen selber hervorgehen wird, in das größere Bild. Dieses wird durch sie ebenso tiefgründiger wie konturenreicher. Seine Darstellung wäre ohne sie gewiss unvollständig. Es fehlte die Farbe, durch die es leuchtet.

Was bringt die Wiedervereinigung: die Bombe oder den Porsche? Das Durchsuchen des Aktenkartons mit der Signatur „AG/5(4)/JLB/87“ in den Archives Nationales in Pierrefitte erwies sich als unergiebig. Es war einer der Kartons, in denen das Archiv das dokumentarische Material aufbewahrt, das ihm JeanLouis Bianco, einer der engsten Mitarbeiter von Präsident Mitterrand, besonders in seiner Eigenschaft als Generalsekretär des Élysée, aus seiner Zeit mit Mitterrand dem Archiv übergeben hatte. Der Karton enthielt, wie ich zunehmend feststellen musste, hauptsächlich Presseausschnitte, Bulletins und Berichte aus der Regierung und von Nachrichtenagenturen. Sie stammten zwar vom Winter 1989–90, der mich interessierte. Aber das änderte nichts am Ungemach des Eindrucks, mit der Durchsicht dieses Kartons nur wertvolle Zeit zu verlieren (und „Zeit“ ist bei den Bedingungen für ein Forschen in den Archives Nationales eine enorm wichtige Ressource), denn das, was hier gesammelt war, brachte mir nichts Neues und irritierte obendrein ob der offensichtlichen Zufälligkeit, mit der es zusammengebracht war. Dementgegen hatte ich gehofft, auch in diesem Karton, wie in anderen des Archivs, dieses oder jenes Erhebliche zum französischen Regierungsprozess im Winter 1989–90 bezüglich der deutschen Frage zu finden.

Was bringt die Wiedervereinigung 

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Ich wollte den Karton schon enttäuscht zurückgeben. An der Ausgabe lagen noch andere für mich bereit, ebenfalls zur Durchsicht. Doch sollte das Durchsehen dieses Kartons wirklich ein Fehlschlag sein? Sollte ich ihm seine Unergiebigkeit tatsächlich zubilligen? Archivstudien sind auch ein Match, und als ich denn bei dem Gedanken angekommen war, aufzugeben, wirkte sich dieser zu seinem Gegenteil hin aus. Nein, ich würde dem Karton vielleicht doch noch etwas abringen – wenn ich ihn nochmals durchsehen würde. Ich tat dies, und siehe da, nicht umsonst. Unter all dem für meine Zwecke Unerheblichen fand ich nun eine Briefkarte, auf der etwas wahrlich Interessantes stand. Weil sie so nachlässig inmitten des anderen Materials lag, konnte man sie leicht übersehen. Jetzt aber stach sie mir ins Auge. Denn auf ihr war handschriftlich allein dies aufgetragen: „aujourd’hui la réunification, demain la bombe“

Also: „Heute die Wiedervereinigung, morgen die Bombe“. Zumindest las ich das so, auch wenn ich, ob des letzten Worts, „la bombe“, nicht ganz glauben konnte, was da aufnotiert zu sein schien. Zumal oben links auf der Karte aufgedruckt war: „Secrétaire Générale, Présidence de la République“, also anzunehmen war, dass Jean-Louis Bianco selbst diese Notiz verfasst hatte. Was? Eine so führende Figur in der französischen Regierung wie der Generalsekretär des Élysée schrieb den Deutschen zu, dass sie sich zuerst die Wiedervereinigung, und dann die „Bombe“, also die Atombombe, wünschten? Eine Zuschreibung, zu der sich Bianco ungefähr Anfang Januar 1990 verstiegen haben musste, wie sich aus den Datierungen der Dokumente, in der die Briefkarte eingelegt ist, schließen ließ. Ich mochte es nicht glauben. Doch da stand es, oder nicht? Die Karte lange musternd, die Züge der Handschrift darauf anhaltend prüfend, wurde ich ob des letzten und so aufregenden Worts „bombe“ unsicher. Die Unsicherheit, so wurde mir gleich klar, konnte an der so vermuteten Sensation liegen. Es erschien einfach zu ungeheuerlich, dass ausgerechnet dem Generalsekretär des Élysée im Januar 1990 solches durch den Kopf gegangen war und er es sich, wie wenn er sich eine grundlegende Erkenntnis merken wollte, vorsorglich aufnotiert hatte. Da ein Fotokopieren von Dokumenten in den Archives Nationales untersagt ist, war mir die Möglichkeit genommen, mittels einer Kopie Personen außerhalb des Archivs Biancos Notiz in dessen Handschrift zu zeigen, um zu erfahren, wie sie das Wort lasen. Aber ich wollte wissen, ob ich sie richtig las. Neben der Ausgabestelle für die Aktenkartons sitzt immer auf einem erhöhten Pult im Lesesaal des Archivs eine Archivarin oder ein Archivar, um die Ausgabe und Rückgabe der Kartons zu kontrollieren. Konnte mir der heute diensthabende Archivar vielleicht helfen? Ich ging zu ihm hin, und zeigte ihm die Briefkarte, mit der Bitte, mir zu sagen, was er las, ohne ihm zuvor zu sagen, was ich gelesen hatte. Die Überraschung war groß, als ich von ihm hörte: „aujourd’hui la réunification, demain la porsche“ – „heute die Wiedervereinigung, morgen der Porsche“. Auch das war nicht gerade gefällig,

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Kap. 6: Geschichten in der Geschichte

klang nach Zynismus, war aber natürlich keinesfalls so weittragend, wie die Aussage mit der „Bombe“. Ich sagte dem Archivar, dass ich nicht „Porsche“, sondern „Bombe“ gelesen hatte. Wie ich es zuvor getan hatte, musterte er die Notiz minutenlang, hielt zur besseren Sicht die Briefkarte unter seiner Tischlampe hierhin und dorthin. Schließlich beschied er mich: Er denke schon, es hieße „Porsche“, aber „Bombe“ sei auch möglich. Ich war so klug wie zuvor. Das gefiel mir nicht. Und ich verfiel auf die Idee, den mich seit längerem betreuenden leitenden Archivar hinzuziehen. Er war an der Zusammenstellung von Dokumenten für einzelne Aktenkartons beteiligt und er bereitete jeweils meine Konsultation von Aktenkartons vor (indem er mitunter aus ihnen auch einzelne Dokumente entfernte). Er kannte sich mit dem dokumentarischen Material bestens aus. Konnte er nicht die Autorität für eine zutreffende Lektüre von Biancos Notiz sein? Wie wäre es, wenn ihm eine Kopie der Briefkarte – sie einfach aus dem Aktenkarton zu entfernen, verbot sich – zugeleitet werden würde, zu seiner Ansicht, und mit der Bitte, zwischen „Bombe“ und „Porsche“ dank seiner archivalischen Kompetenz zu entscheiden? Der diensthabende Archivar auf dem Pult zögerte zuerst. Das Kopieren eines Dokuments unter Sperrfrist wie dieser Briefkarte war auch ihm untersagt. Schließlich gab er jedoch meinem Drängen nach, nicht zuletzt wohl auch angesichts meines Arguments, es sei ja, historiographisch gesehen, durchaus bedeutsam, ob in meiner zukünftigen Veröffentlichung von einer „Bombe“ oder einem „Porsche“ die Rede sei. Er versprach, wenn er abgelöst worden sei, den ganzen Aktenkarton mit ins Büro zu nehmen, die Briefkarte dort zu kopieren und die Kopie persönlich dem leitenden Archivar zu überbringen. Am nächsten Tag würde ich dessen Urteil erfahren. So war es dann auch. Es könne nicht anders sein, so wurde mir mitgeteilt, als dass es um eine „Bombe“ ginge. Ich hingegen war mir keineswegs mehr so sicher. Ich wusste von Biancos Befürchtungen, Deutschland betreffend, im Winter 1989–90. Und Anflüge von Zynismus passten zu seiner Person. Aber eine brutale Unterstellung? Nein. Es war der „Porsche“, nicht die „Bombe“, sagte mir meine Kenntnis von Biancos Person, in der ich mich täuschen konnte, aber es nicht zu tun glaubte. Indes, ich war auch kein archivalischer Experte, kompetent für das Entziffern von Niedergeschriebenem. Jedenfalls war das Match mit dem betreffenden Aktenkarton zu meinen Gunsten ausgegangen. Dieser hatte etwas Hintergründiges preisgegeben, den Kern einer Geschichte über eine deutsch-französische Zukunftsvision, die noch keineswegs ein Ende gefunden hat.

Performative Information: Interview mit Hans-Dietrich Genscher 

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Performative Information: Interview mit Hans-Dietrich Genscher Er war gesprächig, der frühere bundesdeutsche Außenminister. Hans-Dietrich Genscher hatte mich zu dem Interview, um das ich ihn gebeten hatte, für diesen Augusttag in sein Urlaubsquartier in der Nähe von Berchtesgaden eingeladen. Wir saßen auf der Terrasse des vornehmen Anwesens, in bequemen Sesseln unter großen Sonnenschirmen, mit guten Drinks auf dem Terrassentisch, die uns ein Diener serviert hatte. Wie so oft bei solchen Interviews zeigte sich auch bei diesem, dass ein offener Ablauf am ergiebigsten sein würde. Genscher war ganz offensichtlich in Redelaune. Nachdem das Gespräch begonnen hatte, sich gut zu entwickeln, steigerte sich diese noch. So geriet einiges von dem, was Genscher mir auf meine Fragen oder eingeworfene Stichworte hin sagte, zu kleinen farbig-illustrativen Schilderungen, mit denen er für mich berichten und erklären wollte, aber an denen er deutlich auch selber seine darstellerische Freude hatte. Ich erlebte zum einen eine gewissermaßen politisch-memorative Vorstellung – Szenen mit Hans-­ Dietrich Genscher. Und zum anderen wurde mir gegenwärtig, wie Genscher bei seinem Handeln in Regierungsverantwortung auf Menschenkenntnis gebaut hatte, in die Lebenswelt anderer, mit denen er zu tun hatte, hineinschauen wollte, mit dem menschlich-politischen Ziel, seine Handlungsmöglichkeiten erweitern und sie aufgrund des erlangten Wissens anpassen zu können. Ich erfuhr ihn dazu in Aktion, in einer performativen Szene nach der anderen. Eine erste hat die DDR als Schauplatz.1 Immer wieder, sagte Genscher, reiste er, zusammen mit seiner Frau, zurück in seine Heimatstadt Halle, auch als bundesdeutscher Außenminister. Er besuchte viel seinen Vetter dort, traf sich mit Amtsträgern (unter anderem auch wegen des Ausreiseantrags seines Vetters), und schaute sich um. Seit den 70er Jahren sei er überzeugt gewesen, dass die DDR als System nicht funktioniere, ein „Kartenhaus“ sei. Die Leute dort, so sein Eindruck, würden nicht zu ihr stehen. „Im August 1988“, erzählte Genscher weiter, „habe ich Schewardnadse gesagt, „in der DDR brodelt“ es. Ich habe ihn ausdrücklich vor einem neuen „17. Juni 1953“ gewarnt. Wenn wieder russische Panzer ausrücken würden, sei „das das Ende aller Beziehungen zwischen Ost und West, und weitere Folgen seien unabsehbar“. Doch Schewardnadse habe damals nichts von einer solchen Situationsanalyse zur DDR hören wollen. Vielmehr habe er die von Genscher vorgetragene so kommentiert: „Wenn er, Genscher, sage, dass es den Leuten in der DDR schlecht gehe, und diese ihrer Unzufriedenheit bald Ausdruck gäben, dann kenne er nicht die Situation in der UdSSR, das heißt die Bedingungen, unter denen die Leute dort leben“.

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Für diese und alle folgenden Ausführungen zu und aus dem Interview: Forschungsgespräch mit Hans-Dietrich Genscher, Berchtesgaden, 1. August 2006.

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Es kam der Herbst 1989, und mit diesem der Besuch von Michail Gorbatschow in der DDR, bei dem ihn Schewardnadse begleitete. Mit dem Freimut, der offenbar das persönliche Verhältnis zwischen ihnen kennzeichnete, beschrieb der sowjetische Außenminister seinem bundesdeutschen Kollegen die damalige Konfrontation zwischen Gorbatschow und Erich Honecker. Gorbatschow sei in einer Weise „ausgeflippt“ (Genschers Wort), wie er, Schewardnadse, es noch nie erlebt hätte. Auf die Vorhaltungen Gorbatschows ihm gegenüber konterte Honecker mit einem schonungslosen Verweis. Was der Chef der Sowjetunion denn mit seiner Kritik an der DDR wolle. „In Moskau können die Leute nicht einmal Salz kaufen.“ Ein anderes Szenenbild Genschers führte in die Moskauer Wohnung des damaligen sowjetischen Außenministers Andrei Gromyko. Anlass dazu gab die Frage, die wir gerade diskutierten: Ob es übergeordnete Strukturen des Regierens gebe, über Räume und Zeiten hinweg. Genscher bejahte das emphatisch und fügte dabei noch den Zusatz an: „Auch über Systeme hinweg“. In dem Moment, wie er diesen Gedanken ausgesprochen hatte, hielt er im Reden kurz an, und begann dann – zur Illustration seines Gedankens, wie mir klar wurde  – von seiner Erinnerung an eine Szene bei den Gromykos zu sprechen. Er erinnere sich gut an sie, so leitete er seine Beschreibung ein, „weil ich mich immer sehr dafür interessiert habe, wie andere im Regierungsgeschäft denn arbeiten und leben. Und deswegen habe ich mich häufig mit den Ehefrauen unterhalten.“ So tat er es auch am Schluss eines bei den Gromykos verbrachten Freitagabends. Er unterhielt sich noch mit Frau Gromyko allein, wissbegierig nach dem, was er von ihr erfahren könnte. „Was werden Sie und Ihr Mann morgen, Samstag, machen? so habe ich Frau Gromyko gefragt. Auf eine Datscha zur Erholung fahren? Oh, nein, erwiderte sie mir. Mein Mann wird zu Breschnew gehen müssen, gleich morgen früh, um ihm über sein Gespräch mit Ihnen Bericht zu erstatten.“ Diese Auskunft, durchaus von Belang, reichte Genscher aber nicht. Er wollte mehr in den nächsten Tag seines sowjetischen Kollegen hineinschauen. In seiner Szenenbeschreibung fuhr er also fort. „Ich habe daraufhin Frau Gromyko gefragt: Aber dann sehen Sie und Ihr Mann sich zum Mittagessen?“ Er erhielt eine weitere Auskunft, wieder keine uninteressante. Denn mit ihr erfuhr Genscher nicht nur etwas zum Arbeitsund Lebensablauf von Gromyko, sondern auch zu dem – in diesem Fall ein gemeinsames Mittagessen der Gromykos verhindernden – von Breschnew. „Nein, hat mir Frau Gromyko erwidert, das kann lange dauern, die Sitzung meines Mannes mit Breschnew, bei diesem weiß man nie vorher, wie lange so etwas dauert.“ Mittlerweile war Genscher von seinem Erzählen ganz eingenommen. Wie von ihm mitgerissen, gab er den Dialog mit Frau Gromyko mit Stimme und Gestik so wieder, als stünde er auf einer Bühne und sei ein Darsteller in zwei Rollen, seiner eigenen, und der von Frau Gromyko. Ich sah den Außenminister als zweifellos talentierten Schauspieler vor mir, der mit großem Vergnügen seine Kunst vorführte. Und davon hingerissen wie er war, holte er noch, vor dem unweigerlich gleichfalls vergnügten Gast, zu einer Parodie aus, deren Opfer Gromyko war, ein in seinem

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Auftreten „mürrisch und schroff“ wirkender Mann,2 der sich gerade deswegen wohl besonders für Genschers Vorführung eignete. Er stand auf und machte Gromyko, dessen Sprechweise imitierend, gekonnt nach, mit gerolltem „R“, und in einem russischen Tonfall, einige Brocken auf Russisch benützend. Sie war natürlich komisch, diese Aufführung, wie die beiden ähnlichen, später auf dieser Terrasse, bei denen Genscher in ihrer sonderlichen Sprechweise den Präsidenten der DDR-Volkskammer und den Beamten in Halle nachahmte, mit dem er wegen dem Ausreiseantrags seines Vetters sprach. Die Szenenfolge im Gespräch mit Hans-Dietrich Genscher, war, wie sich zeigt, abwechslungsreich. Das lag nicht nur an seinem komödiantischen Talent, sondern auch an seiner Bildersprache. So beschrieb er bei unserer Unterredung die diplomatische Stärke, welche der Westen im Kräftemessen mit dem Osten zu seinen Gunsten genutzt habe, mit einem dem Sport entlehnten Bild: das „Speerwerfen“. Wir waren an dieser Stelle dabei, die Frage zu diskutieren, wie die Geschichte der Wiedervereinigung zu deuten, wie es zu dieser gekommen sei. Es gebe hierzu „zwei Schulen“, erklärte Genscher. Für die eine sei „alles von Helmut Kohl vorangetrieben und gemeistert worden“. Für die andere, der er selbst offensichtlich angehöre, sei die Wiedervereinigung von „langfristigen Prozessen“ her zu verstehen, die mit einer bestimmten politischen Zwecksetzung zusammenhingen, und sich schließlich so auswirkten, dass die Wiedervereinigung geschehen konnte. Er meine damit die KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), präzisierte er.3 „Da hat man sich damals [in den frühen 1970er Jahren] gesagt: Im Militärischen zieht der Osten mit dem Westen gleich.“ Und angesichts dessen hätte man sich im Westen dann überlegt: „Ist man im Wettkampf, sucht man sich für diesen die Sportart aus, in der man überlegen ist. Zum Beispiel: das Speerwerfen. Also haben wir gegenüber dem Osten für das Speerwerfen plädiert.“ Für eine gemeinsame Verständigung bezüglich der „Grundwerte“ (Genscher meint damit die universell gültigen Menschen- und Bürgerrechte). Der Osten willigte in das Speerwerfen ein. Mit der in Helsinki am 1. August 1975 verabschiedeten Schlussakte der KSZE wurden am Ende auch vom Osten die „Grundwerte“ anerkannt. Und diese haben, so Genscher, eben „dort ihre Wirkung entfaltet“.4 2

Siehe: „Character Sketches: Andrei Gromyko by Brian Urquhart“, United Nations, UN News, Global perspective Human stories, s. d. (https://news.un.org/en/spotlight/character-sketchesandrei-gromyko-brian-urquhart, aufgerufen am 21. September 2022). 3 Zur KSZE vgl. z. B. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/210407/45-jahreschlussakte-von-helsinki/, (aufgerufen am 21. September 2022). 4 Siehe des Weiteren z. B. den Text „Schlussakte von Helsinki: Anfang vom Ende des Kalten Krieges“ von „Deutschlandfunk Nova“, mit dem Absatz: „Am Ende wird neben der gegenseitigen Garantie der europäischen Grenzen die universelle Gültigkeit der Menschen- und Bürgerrechte verbunden mit garantierten Freiheiten unterschrieben: Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit. Darauf berufen sich in den folgenden Jahren zahlreiche Menschenrechtsgruppen in der DDR, in Polen oder der ČSSR. So wurde das Schlussdokument von Helsinki zum Startschuss des Untergangs der sozialistischen Staatenwelt.“ (https://www. deutschlandfunknova.de/beitrag/schlussakte-von-helsinki-1975-anfang-vom-ende-des-kaltenkrieges, aufgerufen am 21. September 2022).

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Für einen Moment, wohl nachdenklich geworden, schwieg nun Genscher. Er schaute mich an, und dann sagte er nur diesen einen Satz: „Gorbatschow ist über Jelzin verbittert.“

Die Spektatorin und die geheimnisvolle „Eve“ Die Verhandlungen im Frühjahr und Sommer 1990 zur abschließenden Regelung der deutschen Frage, bekannt als die „Zwei-Plus-Vier Verhandlungen“, wurden von französischer Seite durch den Außenminister Roland Dumas und eine Delegation von Diplomaten aus dem Außenministerium unter Bertrand Dufourcq geführt, der im Ministerium eine leitende Stellung innehatte. Über den Gang und die nacheinander erzielten Ergebnisse der Verhandlungen schrieben die französischen Diplomaten fortlaufend ausführliche Berichte, die an ihr Ministerium gingen, und von diesem aus ebenfalls an den Élysée. Präsident Mitterrand und seine Berater konnten stets wissen, was bei den Verhandlungen gesagt, worüber beraten und entschieden wurde – insoweit sie sich auf die ihnen zugehenden diplomatischen Berichte verließen. Zu den Regierungsmethoden Mitterrands gehörte jedoch, sich möglichst nie von einer einzigen Informationsquelle abhängig zu machen, und sein Wissen vielmehr aus verschiedenen und voneinander unabhängigen Quellen zu beziehen. Diese Methode wandte er auch hinsichtlich seines Einblicks in die „Zwei-Plus-Vier Verhandlungen“ an. Er entsandte zu diesen Caroline de Margerie, die als Mitglied seines Beraterstabs hier schon oftmals erwähnt wurde. Sie sollte ihn über die Verhandlungen informieren, parallel zu der Berichterstattung seitens der Diplomaten vom Außenministerium. Caroline de Margerie kam dieser Aufgabe bestens nach. Sie verfolgte die Sitzungen der Verhandlungsrunde mit großer Sorgfalt, sammelte bis in kleinste Details Kenntnisse darüber, was bei der jeweiligen Sitzung gesagt worden war, wer wie argumentierte, worüber Dissens und Konsens herrschte. Über all dies setzte sie eine ausführliche Note nach der anderen an den Präsidenten auf. Mitterrand bekam seine zweite Quelle. Caroline de Margerie aber beobachtete zudem auch wachsam. Sie verschaffte so dem Präsidenten über die diplomatischen Berichte hinaus einen Einblick in das zähe, wendige, eiserne, verstohlene Verhandeln, das unter dem Titel der „ZweiPlus-Vier Verhandlungen“ zusätzlich ablief.5 Wie? Zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik fanden doch nicht etwa parallele Verhandlungen statt, zu Verständigungen unter ihnen allein? Doch, eben das war im Gange, schrieb de Margerie am 21. Juni 1990, in einer Note pour le

5 Vgl. France and the Reunification of Germany, S. 363, 376 f., 391, Anm. 33, 397, Anm. 42, 400, Anm. 47, 403, Anm. 57.

Die Spektatorin und die geheimnisvolle „Eve“ 

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­ résident de la République.6 Eine Woche nach ihren Gesprächen in Brest-Litowsk, P so eröffnete sie ihren Bericht, hätten sich Eduard Schewardnadse, der sowjetische Außenminister, und Hans-Dietrich Genscher7 erneut in Münster getroffen, nämlich am 18. Juni, und sie hätten vereinbart, so weiß es de Margerie präzise, nach dem „4+2 Außenministertreffen“, das „morgen in Berlin stattfinde“, wiederum zusammenzukommen. Den ersten Teil ihres nächsten Satzes unterstrich de Margerie. Denn das, was sie annahm, wahrgenommen zu haben, musste fürwahr hervorgehoben und zu der hier zweifellos angezeigten Aussage gebracht werden: „Diese Treffen 1+1 stellen in gewisser Weise ein Verhandeln parallel zu demjenigen dar, das mehr förmlich zu Sechst abläuft.“ An der von Mitterrand entsandten Beobachterin ging nicht vorbei, was man Mitte Juni 1990 – weit vor dem legendären Gorbatschow-Kohl Treffen Mitte Juli im Kaukasus – in Moskau und Bonn miteinander plante, getrennt von den anderen Regierungen in Paris, London und Washington. Sie suchte nach einem Grund für diese „parallelen“ Verhandlungen und gibt im zweiten Teil ihres soeben angeführten Satzes einen solchen an: „Vielleicht geschieht es damit, auf bilaterale Weise, dass das „Paket“ erarbeitet wird, welches der Sowjetunion ermöglichen wird, der deutschen Wiedervereinigung zuzustimmen.“ Mit dem „Paket“, darauf deuten die Anführungszeichen hin, musste es etwas Besonderes auf sich haben. Indes kommt de Margerie auf es erst gegen Ende ihrer Note wieder zurück, um dann die beiden Schlüsselelemente in ihm zu benennen. Zuvor führt sie auf den weiteren Seiten ihres Texts nacheinander die Inhalte des Gesprächs von Schewardnadse und Genscher an. Es ging, wie sie es schildert, um den militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands, die verschiedenen hierfür möglichen sicherheitspolitischen Arrangements, das Anpassen und Entwickeln von KSZE und NATO. Der sowjetische und der bundesdeutsche Außenminister suchten offenbar nach einer Klärung dieser Fragen, bei denen jedoch noch einiges offen und durch unterschiedliche Positionen gekennzeichnet blieb. Die beiden Minister strebten deutlich erst einmal eine Klärung unter sich allein – also zwischen der Sowjetunion und Deutschland – an, so lässt sich aus de Margeries Aufzeichnung schließen. Ihr Einblick reichte tief. Er reichte so tief, dass sie sich für das Abfassen ihrer Note die Rolle einer Teilnehmerin zulegt, die das Schewardnadse-Genscher-Gespräch mit angehört hatte. Und folglich danach Punkt für Punkt berichten konnte: „Herr Schewardnadse hat gegenüber seinem deutschen Kollegen keine neuen Vorschläge gemacht“, „Was die KSZE anbelangt, haben sich die beiden Minister bezüglich einer gewissen Institutionalisierung positiv ausgesprochen“, „Beim Thema der Beziehungen von Allianz zu Allianz zeigte sich Herr Genscher auf­ 6

Note pour le Président de la République, Objet: Négociations germano-soviétiques et prochains sommets (OTAN-CSCE), 21. Juni 1990 (AN-AG/5(4)/CDM/33). 7 De Margerie erwähnt nicht das genaue Datum des Treffens in Brest-Litowsk: Es fand am 11. Juni 1990 statt.

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geschlossen“, „Eine Erklärung der Atlantischen Allianz gegenüber den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes sei denkbar, hat er gesagt“. Beim Verfassen ihrer Note hat de Margerie diese säuberlich in sechs Punkte untergliedert. Bei ihrem letzten Punkt kommt sie zurück auf das „Paket“. „Zum Schluss muss betont werden“, schreibt sie, „dass die deutsch-sowjetischen Verhandlungen einen diskreteren Teil beinhalten.“ Ein sprachlicher Unterschied fällt hier auf. Am Anfang der Note sind die „deutsch-sowjetischen Verhandlungen“ sprachlich noch in einem Modus des Deutens gehalten, „in gewisser Weise“ gäbe es sie, jetzt wird ihnen eine faktische Qualität zugeschrieben. Sie „finden statt“ und sie enthalten einen „diskreteren Teil“, also einen, der nicht bekannt werden darf, weil er wohl einem sensiblen Thema gilt. De Margerie verklausuliert zuerst, wie sie ihn benennt. Er gelte der „wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Hervorhebung durch CdM).“ Das klingt unverfänglich. Die Leser der Note im Élysée (Mitterrand und der eine oder andere seiner Berater) verstanden indes aus ihren Erfahrungen heraus durchaus, was damit gemeint war: die Sowjetunion würde aus der Bundesrepublik zur Erleichterung der Wiedervereinigung Geld erhalten. Und dazu weiß nun de Margerie Genaueres zu berichten. Im Moment würde, was sie vornehm die „Angelegenheit“ nennt, „par deux biais – über zwei Umwege“ angegangen: eine Übernahme der Verpflichtungen, welche die DDR gegenüber der Sowjetunion habe, durch die Bundesrepublik, sowie eine Beteiligung der Bundesrepublik an den Kosten für die Stationierung der sowjetischen Truppen in der DDR. In Klammern fügt sie hinzu, offensichtlich bestens informiert: „… und warum nicht, später, an [den Kosten] ihrer Umsiedlung in ihr Land, am Bau von Wohnungen, Schulen usw …“8 Für ihre Observation holte Caroline de Margerie nicht nur selbst Kenntnisse ein. Es wurde ihr dabei auch geholfen. So konnte sie dank einer verdeckten persönlichen Verbindung in den Quai d’Orsay von manchem erfahren, woran die Diplomaten gerade arbeiteten. Sie kannte im Beraterstab (cabinet) des Außenministers Roland Dumas eine „Eve“, die ihr, immer allein unter diesem Vornamen, Informationen besorgte. So richtete „Eve“ beispielsweise am 10. September 1990 um 7 Uhr 30 eine handschriftliche Notiz an „Caroline“, bei der es um den Abschluss der „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ ging. Es hätte da ja, so erfuhr de Margerie, noch letzte Schwierigkeiten mit den Russen gegeben. Diese, schrieb „Eve“, seien aber dann für „einige Deutschmarks mehr“ ausgeräumt worden. Ihrer Notiz fügte 8

Am 22. Juni 1990, einen Tag, nachdem sie ihre Note verfasst hatte, nahm Caroline de Margerie an einer Unterredung, die sie auch protokollierte, zwischen Präsident Mitterrand und dem Ministerpräsidenten Ungarns, József Antall, teil. Das Thema deutscher Geldleistungen an die UdSSR kam dabei durch Antall auf, als er erwähnte: „Kohl hat mir von dem der UdSSR zu gewährenden Kredit berichtet, der dazu dienen soll, Gorbatschow durchzubringen.“ Das heißt: Damit die Wiedervereinigung geschehen kann, und dafür musste Gorbatschow an der Macht bleiben. Cf. Entretien du Président de la République avec M. Jozseph Antall, Premier Ministre de Hongrie, Vendredi 22 juin [1990] (Jahreszahl handschriftlich von archivarischer Seite eingefügt.)

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„Eve“ eine Kopie der förmlichen Aufzeichnung vom 9. September für Außenminister Dumas hinsichtlich dieses letzten Standes der „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ bei.9 Sie werde „Caroline“, schrieb sie weiter, auch von der NATO-Sitzung am Morgen des heutigen Tages berichten. Im Übrigen habe sie niemanden wissen lassen, dass sie „diese Aufzeichnungen“ nacheinander an „Caroline“ sende, und folglich hätte diese „sie auch nicht empfangen“.10 Anlässlich der gemeinsamen Teilnahme an einer Konferenz in Warschau am 13. November 2015 fragte ich Caroline de Margerie, ob sie mir denn etwas zu „Eve“ und deren Notizen sagen könne. De Margerie schaute mich erstaunt an, und erwiderte, an eine Person namens „Eve“ im Quai d’Orsay könne sie sich nicht erinnern.

Die Macht im Verborgenen Caroline de Margerie, sagte mir einmal Hubert Védrine, sei unter den Beratern im Élysée eine weit wichtigere Person gewesen, als es von ihrer dortigen offiziellen Stellung her anzunehmen sei.11 Er hatte sie in den Élysée geholt, berichtete er, und fügte an: „Sie ist einfach intelligent.“ Nach einem Durchforschen des dokumentarischen Niederschlags ihrer Tätigkeit als Mitterrand-Beraterin wird man tatsächlich zu dem Ergebnis kommen, in ihr einen strategischen Kopf zu erkennen. Sie äußerte sich zu grundlegenden Sachverhalten und tat dies ebenso selbstgewiss wie klarsichtig. „Deutschland strebt danach, seine Macht wiederzugewinnen – L’Allemagne cherche à retrouver sa puissance“, vermerkte sie im Frühjahr 1990.12 Mit einer handschriftlichen Notiz vom 12. Juli 1990 an Védrine kommentierte sie unter der Überschrift „Reaktionen der Europäer“ den NATO-Gipfel, der gerade am 4.und 6. Juli in London stattgefunden hatte, folgendermaßen: „Baker [der amerikanische Außenminister] hat nicht verhandelt. Er hat auf das gepfiffen, was Frankreich hätte denken können.“13 Am Anfang des Monats hatte sie ebenfalls an Védrine, den neuen Generalsekretär des Élysée, eine Note zur „deutschen Frage“ gerichtet, in der sie sehr selbstbewusst und in kritischen Worten (vor allem gegenüber den Deutschen) auf die Zwei-Plus-Verhandlungen zurückblickte, obwohl diese noch gar nicht ab­ 9

„Note pour le Ministre d’État: Dernières difficultés de la négociation „4+2“, 9. September 1990 (AN-AG/5(4)/CDM/36). 10 Siehe: AN-AG/5(4)/CDM/36. – Obwohl alles vertraulich bleiben sollte, benützte „Eve“ ein Kärtchen mit dem offiziellen Briefkopf „Ministère des Affaires Étrangères, Cabinet du Ministre, Le Conseiller Technique“. 11 Forschungsgespräch mit Hubert Védrine am 18. März 2013. 12 In der Handschrift von de Margerie geschriebene Notiz auf einem undatierten und ansonsten leeren Blatt. Die Notiz steht am Kopf des Blattes, und sie wurde wahrscheinlich im Mai 1990 verfasst. (Siehe: AG/5(4)/CDM/35). 13 AG/5(4)/CDM/35.

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geschlossen waren. Man müsse jetzt bei dem Thema einer „politischen Union“ Europas „antreiben“. Das ist, schrieb de Margerie, „unsere wirkliche Karte, solange die Deutschen noch die [Europäische] Gemeinschaft benötigen. In dieser Hinsicht erscheint es mir klug, wenn die Gemeinschaft die Hilfe an die Sowjetunion übernimmt. Ich habe jedoch ein Bedauern: sosehr die 4 + 2 eine gute Idee gewesen sind, so sehr wäre es hervorragend gewesen, wenn die Gemeinschaft, auf dem wirtschaftlichen und finanziellen Feld, die deutsche Vereinigung viel mehr gemanagt hätte, als sie es getan hat. Dann wäre die DDR nicht ein offenes Feld für die westdeutsche Begierde gewesen; dazuhin wäre das eine schöne Bestätigung ihrer politischen Existenz seitens der Gemeinschaft gewesen. Aber das lässt sich nachträglich leicht sagen.“14 Ihre strategische und durchdringende Urteilskraft konnte de Margerie daraus beziehen, dass sie für eine Tätigkeit in mehreren Themenbereichen betraut wurde und in diesen dann vielseitige Kenntnisse und Erfahrungen erwarb und miteinander in Beziehung setzen konnte. Dazu zählten die Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und England, sicherheitspolitische Fragen, internationale Beziehungen, deutsche Wiedervereinigung, die Europäische Gemeinschaft, Osteuropa und dort insbesondere Polen, und nicht zuletzt die Sowjetunion. Diese Vielfalt und insbesondere auch Breite ihrer Beschäftigung ist eben nicht aus der förmlichen Beschreibung ihrer Funktion im Beraterstab Mitterrands zu erschließen: Chargé de mission, und später Conseiller diplomatique. Sie zeigt sich erst in dem, was ich soeben ein Durchforschen des dokumentarischen Niederschlags ihrer Tätigkeit genannt habe. Ich wurde dazu veranlasst durch ihre Berichte zu den Zwei-Plus-Vier Verhandlungen, später mehr noch infolge der zitierten respektvollen Bemerkung von Hubert Védrine, und schließlich bestärkt durch das, was in der Tat nach und nach über einschlägige archivalische Dokumente herauszufinden war. De Margerie war Beraterin in Mitterrands Élysée, aber in dieser Rolle zugleich eine eigenhändig agierende Person, in den Augen vor allem Mitterrands und ­Védrines, die sie eben deshalb schätzten und für sich einsetzten. Allerdings ist gleichfalls zu vermerken, und das macht eben die Geschichte von de Margerie so auffallend und wissenswert: Nach außen barg diese ihre vielseitige und belangvolle Betätigung ganz im Gewand der Beraterin. Sehr erfolgreich offenbar, wenn wir uns an ein Beispiel halten, das nun doch überraschen mag. Horst Teltschik hatte de Margerie im Élysée durchaus bei bedeutsamen Besprechungen getroffen.15 Als ich ihn am 9. Januar 2017 auf sie ansprach, war sie für ihn kein Begriff. „War sie eine Dolmetscherin?“, fragte er.16 Diese überraschende Unsichtbarkeit ihrer Person macht es umso mehr angebracht, von den vielfach belegten dokumentarischen Spuren der Tätigkeit de Mar 14

Note pour le Secrétaire Général, Objet: Question allemande, 3. Juli 1990 (AN-AG/5(4)/ CDM/34). 15 Vgl. z. B. France and the Reunification of Germany, S. 376. 16 Forschungsgespräch mit Horst Teltschik am 9. Januar 2017.

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geries im Élysée hier einige nachzuzeichnen. Zu berücksichtigen ist, dass ich alle Dokumente, derer ich im Erschließen jener Spuren ansichtig wurde, bei der folgenden Darlegung, ihrer reinen Zahl wegen, nicht anführen kann. Doch dürften die ausgewählten für diese genügen. Als ersten dokumentarischen Fortlauf greife ich denjenigen zu dem Thema Osteuropa in den Jahren 1989–1990 auf. Eine besondere Konsistenz der Spur ist bezüglich Polen zu vermerken, was sich möglicherweise durch die familiäre Verbindung De Margeries zu diesem Land (ihr Vater war polnischer Herkunft) erklärt.17 Am 20. April 1989 schreibt De Margerie eine Note an Präsident Mitterrand, mit der sie ihm von dem Polen-Besuch von Außenminister Dumas am 17. und 18. April berichtet.18 Sie nahm daran selber als Mitglied der französischen Delegation teil, ihr Bericht ist entsprechend anschaulich. Wenige Zeit später stattet Mitterrand seinerseits Polen einen Staatsbesuch ab, vom 14. bis 18. Juni. An dessen Vorbereitung ist sie maßgeblich beteiligt. Im Herbst 1989 wird innerhalb der Europäischen Gemeinschaft über eine wirtschaftliche Hilfe für Polen diskutiert. Dazu legte Valéry Giscard d’Estaing am 14. September im europäischen Parlament als Präsident der Gruppe der Liberalen eine Erklärung vor, mit der er die Idee eines „Marshall Plans“ für das Land unterbreitet. Wenige Tage später, am 19. September, richtet De Margerie bezüglich der Proposition de M. Giscard d’Estaing eine Note an Jean-Louis Bianco, den Generalsekretär des Élysée. Mit ihr tritt sie als Fürsprecherin Polens auf, und als solche kann sie des Weiteren von „unserem“ Erfolg hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Brüssel und Polen berichten: „Polen“, so schreibt sie, „‚glaubt‘ noch nicht an die Gemeinschaft. Alle seine Hoffnungen sind auf die Vereinigten Staaten gerichtet, und, in geringerer Weise, auf Frankreich und die Bundesrepublik. Die Tatsache, dass die neue polnische Regierung und vorher Solidarność keinen Kontakt mit Brüssel aufgenommen haben, zeigt das gut. Das wird jetzt aber aufgrund unserer Anregung geschehen.“19 Aus der Angelegenheit wurde ein „Französischer Hilfsplan für Polen“. Zu ihm dann schreibt De Margerie am 20. November eine weitere Note an Bianco.20 De Margerie kümmerte sich gleichfalls um die Förderung beziehungsweise Ausbildung von leitenden Angestellten (cadres) in Osteuropa. Sie schreibt dazu am 24. Oktober 17

Siehe: https://gw.geneanet.org/wikifrat?lang=fr&n=tarnowski&oc=0&p=sophie+caroline. – Sie ist Mitglied des „Vereins der Tarnowski Familie“, siehe: https://members.tripod.com/rod_ tarnowski/Association_e.html (beide aufgerufen am 2. Oktober 2022). 18 Note pour le Président de la République. Objet: visite du Ministre d’Etat en Pologne (17–18 avril 1989), 20. April 1989. 19 Note pour Monsieur Bianco. Objet: Proposition de M. Giscard d’Estaing pour le règlement de la Pologne, 19. September 1989. Von der Europäischen Gemeinschaft wurde am 18. Dezember 1989 für Polen und Ungarn ein Programm wirtschaftlicher Hilfe beschlossen. Siehe: https://www.cvce.eu/obj/reglement_cee_n_3906_89_du_conseil_relatif_a_l_aide_ economique_en_faveur_de_la_hongrie_et_de_la_pologne_18_decembre_1989-fr-5409ca491000-4340-9c91-e682c6b797d0.html (aufgerufen am 2. Oktober 2022). 20 Note pour le Secrétaire Général, Objet: Plan français d’aide à la Pologne, 20. November 1989.

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und am 1., 6., und 8. Dezember 1989 verschiedene Notes an Präsident Mitterrand und den Generalsekretär des Élysée.21 Mitterand erhält von ihr ferner am 6. Dezember eine Note zu den „Beziehungen [der Europäischen Gemeinschaft] mit den Ländern im Osten“.22 In der Sache der deutschen Wiedervereinigung ist De Margerie nicht allein als Beobachterin bei den „Zwei-Plus-Vier Verhandlungen“ tätig. Sie nimmt an ihr in verschiedenen anderen Funktionen teil. Zum einen entwickelt sie ihre Expertise dafür, wie zum Beispiel die sorgfältigen Anmerkungen und Kommentare zeigen, die sie auf zwei Denkschriften anbringt, welche der Leiter des Centre d’Analyse et de Prévision des französischen Außenministeriums am 6. Februar 1990 zum Thema Wiedervereinigung verfasste.23 Zum anderen nimmt sie an den Besprechungen im Élysée zwischen der polnischen Regierung und Mitterrand zu den Anliegen Polens im Kontext der „Zwei-Plus-Vier Verhandlungen“ teil. Über eines – und ein besonders schwieriges – der besprochenen Themen, die Oder-Neisse-Grenze, legt sie Mitterrand am 8. März 1990, einen Tag vor der ersten dieser Besprechungen, eigens eine Note vor.24 Dem Gespräch am 9. März 1990 zwischen dem französischen Präsidenten, dem Präsidenten Polens, Wojciech Jaruzelski, dem polnischen Premierminister Tadeusz Mazowiecki, und dem polnischen Außenminister ­K rzysztof Skubiszewski wohnt De Margerie bei, es wird von ihr aufgezeichnet.25 Sie ist ebenfalls anwesende Beraterin und Protokollantin bei den folgenden Besprechungen zwischen Mitterrand und Mazowiecki am 18. Mai 1990,26 und Mitterrand und Skubiszewski am 18. Juli 1990.27 Die Themen, mit denen sie sich im Frühjahr 1990 beschäftigt, sind des Weiteren Mitterrands Projekt einer „Europäische Konföderation“28, worüber sie am 3. April

21 Note pour le Président de la République. Objet: Action de formation de cadres en Europe de l’Est, 24. Oktober 1989; Note pour le Secrétaire Général, Projet de fondation européenne pour la formation. Proposition de la Commission, 1. Dezember 1989; Note pour le Président de la République, Objet: Conseil Européen. Fondation Européenne pour la Formation, 6. Dezember 1989; Note pour le Président de la République, Objet: Action de formation en Europe de l’Est, 8. Dezember 1989. 22 Note pour le Président de la République, Relations avec les pays de l’Est, 6. Dezember 1989. 23 Siehe: AG/5(4)/JLB/87. 24 Note pour le Président de la République, Objet: La frontière ODER-NEISSE, 8. März 1990. 25 Entretien du Président de la République avec le Président Jaruzelski, le Premier Ministre Mazowiecki, le Ministre des Affaires Étrangères Skubiszewski, le 9 mars 1990 (AG/5/(4)/CD/68). 26 Compte-rendu de l’Entretien du Président de la République avec M. Mazowiecki, Premier Ministre de la République de Pologne, Lundi 28 Mai 1990 (AG/5(4)/CD/68). 27 Entretien du Président de la République avec M. Skubiszewski, Ministre Polonais des Affaires Étrangères (mercredi 18 juillet 1990), (AG/5(4)/CD/68). 28 Siehe dazu: Jean Musitelli, „François Mitterrand, architecte de la Grande Europe: Le projet de Confédération européenne (1990–1991)“, in: Revue internationale et stratégique, 2011/2, no. 82, S. 18–18 (https://www.cairn.info/revue-internationale-et-strategique-2011-2-page-18.htm).

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1990 eine Note verfasst,29 und bei einem langen Gespräch mit Zbigniew Brzeziński am 30. April 1990 in Washington, D. C., sind es die UdSSR, Zentraleuropa, das Europa der Europäischen Gemeinschaft, die amerikanische Diplomatie, über die sich De Margerie mit dem amerikanischen Experten für Sicherheits- und Außenpolitik austauscht.30 Wie sich Mitterrand mit dem Premierminister von Ungarn, József Antall, am 22. Juni bespricht, ist sie wieder als Beraterin und Protokollantin dabei.31 Ihre Orientierung nach Osten und ihre entsprechende Tätigkeit halten an; am 13. Dezember 1990 schreibt sie einen Bericht zu den „Maßnahmen Frankreichs zugunsten der Länder Zentraleuropas und der Sowjetunion“.32 Neben all den Tätigkeiten, die gerade angeführt wurden, beschäftigt sich De Margerie auch mit den Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen Frankreich und England, durchaus intensiv und in einer an Gewicht sich steigernden Rolle. Am 24. Februar 1989 richtet sie an Präsident Mitterrand eine Note zu dessen Vorbereitung seines bevorstehenden Gesprächs mit Premierministerin Thatcher, in der sie diese Themen behandelt: Internationale Fragen, der Nahe Osten, [Sicherheits-]strategische Fragen und Abrüstung.33 Sie hört sich am 27. Februar 1989 eine Rede des britischen Verteidigungsministers George Younger an, und verfasst über diese eine Note, in die sie „Auszüge (extraits)“ der Rede einfügt.34 Wieder zur Vorbereitung eines Gesprächs zwischen Mitterrand und Thatcher richtet sie am 31. August 1989 an den Präsidenten eine Note, mit der sie ihm anzeigt, worüber Frau Thatcher mit ihm sprechen möchte: Südafrika und Namibia, Hong Kong, die Konferenz in Paris zu Kambodscha, der Kampf gegen Drogen.35 Den französischbritischen Beziehungen in Fragen der Verteidigung gilt eine Note, die Mitterrand am 8. Juni 1990 von de Margerie erhält. Bei dieser fällt die Präzision der in ihr gemachten Angaben, selbst zur jeweiligen Nuklearbewaffnung, und der souveräne Umgang mit ihnen auf.36 Mitterrand und Thatcher unterreden sich am 27. Oktober 1990 in Rom, de Margerie nimmt an der Unterredung teil und zeichnet diese auf.37 Sie setzt ihre Beteiligung an den französisch-britischen Beziehungen bei That-

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Note pour le Président de la République, Objet: Confédération européenne, 3. April 1990. Compte-Rendu d’un Entretien avec Z. Brzezinski (Washington, lundi 30 avril 1990). 31 Compte-Rendu, Entretien du Président de la République avec M. Jozseph Antall, Premier Ministre de Hongrie, Vendredi 22 juin [1990]. 32 Note pour le Président de la République, Objet: Mesures prises par la France en faveur des pays de l’Europe centrale et de l’Union Soviétique (Récapitulatif), 13. Dezember 1990. 33 Note pour le Président de la République. Votre entretien avec Madame Thatcher lors du Sommet franco-britannique du lundi 27 fevrier, 24. Februar 1989. 34 Note, Compte-rendu de la Conférence prononcée par M. Younger, Ministre britannique de la Défense, le lundi 27 février 1989, 1. März 1989. 35 Note pour le Président de la République. Votre entretien avec Madame Thatcher. Projets internationaux, 31. August 1989. 36 Note pour le Président de la République, Les relations franco-britannique en matière de défense, 8. Juni 1990. 37 Compte-rendu de l’entretien du Président de la République avec Madame Thatcher, ­Samedi 27 octobre 1990. – Charles Powell schrieb am selben Tag seinerseits einen Bericht zu der Unter 30

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chers Nachfolger, Premierminister John Major, fort, wie es ihre Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Major und Mitterrand am 14. Dezember 1990 und ihre Note vom 14. Januar 1991 zur Vorbereitung einer Unterredung zwischen dem Premierminister und dem Präsidenten zeigen.38 Im November 1990 rückt de Margerie im Élysée von der Position einer chargée de mission pour les affaires étrangères et le désarmement zu der einer conseillière technique pour les affaires européennes, l’économie internationale, les sommets, le commerce extérieur auf. Bald wird von ihr umgangssprachlich von einer „diplomatischen Beraterin“ Mitterrands gesprochen, was in der Tat nicht verfehlt ist. Ihr Gewicht im Beraterstab Mitterrands hat zugenommen. Dies lässt sich exemplarisch an britischen Regierungsdokumenten ablesen. Nach der in ihnen geäußerten Einschätzung ist sie jetzt die herausragende Figur im Feld der Regierungskontakte zwischen London und Paris. Am 20. Februar 1991 schreibt Charles Powell eine längere Notiz an Richard Gozney, „Private Secretary“, des britischen Außenministers, zum Thema der „Englisch-Französischen Konsultationen“.39 Powell berichtet von einem Telefongespräch hierzu mit Pierre Morel, einem offiziellen diplomatischen Berater im Élysée. Morel habe ihm klargemacht, dass Präsident Mitterrand sich in den Beziehungen zwischen den Regierungen in Paris und London keineswegs auf die Kontakte zwischen den jeweiligen Ministern verlassen wolle. Er unterscheide deutlich zwischen seinen persönlichen Mitarbeitern und Ministern. So hielte es der Präsident für nützlich, in einem ersten Schritt gemäß dieser „neuen Aufstellungen“, dass Caroline de Margerie zu ihnen in London „herüber“ komme, um über die Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaft zu sprechen. „Ich sagte“, so Powell, „sie wäre sehr willkommen. Ich würde sie selbstverständlich gerne treffen, und wir könnten ein Programm zusammenstellen, das David Hadley im Cabinet Office und Michael Jay im Foreign Office einbeziehe“. Doch Morel habe daraufhin „ziemlich hastig“ gesagt, dass der Präsident „unerbittlich“ sei, miteinander in Gespräche eintreten sollten allein die jeweiligen persönlichen Mitarbeiter (also seine und die des britischen Premierministers). Eine dazu passende Beobachtung hatte schon die britische Botschaft am 25. Oktober 1990 in einem diplomatischen Telegramm nach London übermittelt: „Mitterrand und ein kleiner innerer Zirkel steuern die [französische] Politik zu Europa.“40

redung. Dieser beginnt folgendermaßen: „The Prime Minister had nearly two hours of conversation with President Mitterrand over lunch at the British Embassy in Rome. The President, who was accompanied by Madame Caroline de Margerie …“ (Siehe: PREM 19–2979). 38 Entretien du Président avec M. Major, Rome, le 14 décembre 1990 (Palais Montecittorio); Note pour le Président de la République. Objet: Votre entretien avec M. Major (lundi 14 ­janvier – 12h30), Questions européennes, 14. Januar 1991. 39 Siehe: PREM 19–3344. 40 FM Paris to Immediate FCO, Telno 1289, 25. Oktober 1990 (PREM 19–2979).

Der appellierende Gorbatschow 

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Die Erhebung Caroline de Margeries in den Stand der privilegierten Sachwalterin von Mitterrands Europapolitik reflektiert vortrefflich ein Austausch Anfang Februar 1991 zwischen den Außenministern Douglas Hurd und Roland Dumas, bei welchem Dumas der britischen Seite die „neue [personelle] Aufstellung“ beschrieb, die Präsident Mitterrand für die Konsultationen zwischen den Regierenden in Paris und London wünsche. Demnach sollten „Mitglieder seines Stabs“ von Zeit zu Zeit mit dem „Beauftragten des Premierministers“ sprechen, „zur Gewährleistung der übergreifenden Sichtweise“. Außenminister Dumas konnte nicht mitteilen, dass er dabei gefragt war. Nein, Mitterrand wollte sich, wie er seinem Kollegen Hurd sagen musste, entweder auf Anne Lauvergeon, die stellvertretende Generalsekretärin des Élysée, oder aber auf Caroline de Margerie verlassen.41 Ende Februar 1991 hat sich Caroline de Margerie in den Augen der Briten durchgesetzt, an ihrem Kollegen Pierre Morel vorbei, dem von ihnen nur noch Worte des Abgesangs gelten. Mit dem Schreiben, das Charles Powell am 26. Februar 1991 von Christopher Prentice, Assistant Private Secretary im Foreign Office, erhält, erfährt er, dass die Diplomaten des britischen Außenministeriums mittlerweile in engstem Kontakt mit de Margerie sind, sie zu ihnen nach London reist, und sie zu ihr nach Paris kommen. Sie befänden sich, so Prentice, mit de Margerie in einem arrangement, das dem Cabinet Office und uns (den Diplomaten im Foreign Office), bestens passe, „entgegen dem, was Morel sagt“.42

Der appellierende Gorbatschow Im Jahr 1990 machten sich die Regierenden in Bonn, Paris, Washington und London, zunehmend Sorgen um die wirtschaftliche Situation der Sowjetunion – und damit um Michail Gorbatschow. Würde er sich an der Spitze der Sowjetunion halten können? Daran hatte der Westen das größte Interesse. Unter Gorbatschow und bei einem Erfolg von dessen politischen und wirtschaftlichen Reformen könnten, so glaubte man, in der Sowjetunion demokratische und marktwirtschaftliche Strukturen entstehen und diese damit ein wahrer Partner des Westens werden, ökonomisch, gesellschaftlich, außen- und sicherheitspolitisch. Gerade jetzt, da das Thema der deutschen Wiedervereinigung und mit ihr die Ausbildung gesamt-

41

R. H. T. Gozney an Sir Charles Powell, 1. Februar 1991 (PREM 19–3344). C N R Prentice an Sir Charles Powell, 26. Februar 1991 (PREM 19–3344). – In dem Buch von Frederike Schotters, Frankreich und das Ende des Kalten Kriegs, das einer von der Verfasserin gesehenen „équipe Mitterrand“ gilt, kommt Caroline de Margerie erstaunlicherweise nicht vor. Schotters scheint diese schlicht übersehen zu haben. Kurios dabei ist, dass sie in ihrer Bibliographie drei Aktenkartons anführt, die in den französischen Archives Nationales unter der Signatur „CDM“( = Caroline de Margerie) gehalten werden (CDM 35, 47, 48). Hat sich Schotters nicht gefragt, so sie diese Aktenkartons konsultiert hat, wer die Person hinter dieser Signatur und diesem Namen ist, jene Person, von und zu welcher die Kartons dokumentarisches Material enthalten? 42

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europäischer, die Sowjetunion einschließender Strukturen anstand, kam es auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit einer dafür konstruktiv gesonnenen Führung in Moskau an. Doch die von Gorbatschow initiierten Reformen gingen keineswegs so voran, wie man gehofft hatte. Vielmehr erodierte die finanzielle und ökonomische Basis seiner Position immer mehr. Im Westen wurde das mit anwachsender Besorgnis wahrgenommen. Aussagekräftige Daten gab es reichlich, sie zeigten eindeutig: Gorbatschow war gefährdet. Die Schlussfolgerung daraus war ebenfalls klar: Er darf nicht stürzen oder gar gestürzt werden. Der Westen wurde deshalb, in gewisser Weise, ein wirtschaftlicher Akteur in der Sowjetunion. Denn wenn er dem Land durch finanzielle und andere sich wirtschaftlich auswirkende Hilfen beispringen würde, könnte er Gorbatschow beistehen und dessen Verbleib an der Spitze der Sowjetunion nützen. Zu solchen Hilfen war man bereit, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß: Bonn am meisten, Paris durchaus, Washington unter aufschiebenden Bedingungen, London widerstrebend. Doch das Prinzip stand und es wurde entsprechend geplant, verhandelt, und schließlich gezahlt. Gorbatschow seinerseits spielte vortrefflich mit. In der Rolle des Repräsentanten einer Sowjetunion kurz vor jenem vom Westen gefürchteten ökonomischen Kollaps rief er den Westen um Hilfe an oder forderte sie schlichtweg vor dem Hintergrund dieser Furcht. Seine Ansuchen im Jahr 1990 bilden eine besonders szenenreiche Geschichte. Der Ausgangspunkt dieser Szenenfolge wurde von Präsident Mitterrand bei einem Staatsbesuch in Ungarn im Januar 1990 klar formuliert. Wir dürfen „Gorbat­ schow nicht destabilisieren“, sagte er am 18. Januar zu dem ungarischen Politiker Rezső Nyers.43 Am Tag darauf erklärte er im Gespräch mit Imre Pozsgay, Minister in der ungarischen Regierung: „Wir müssen die Situation von Gorbatschow berücksichtigen. Unser Interesse ist es, dass er überlebt (survive).“44 Denn das war dem Westen in Bezug auf die Sowjetunion bewusst: „Die einzige Konstante [ihr bezüglich],“ so schrieb am 17. Januar J. S. Wall vom Foreign and Commonwealth Office in London an Charles Powell, „ist eine Wirtschaft in einer tiefgehenden Krise.“45 Am 30. Januar trafen sich Hubert Védrine und Caroline de Margerie in Paris mit den „wichtigsten Mitarbeitern“ des russischen Botschafters Yakov Ryabov. In der Note, mit der Védrine Mitterrand von dem Treffen berichtete, hielt er als wesentliche Erkenntnis fest: „Die wirtschaftliche und soziale Situation in der UdSSR ist absolut katastrophal.“46 So war es, wie Anne Lauvergeon, Wirtschaftsberaterin von Mitterrand, am 13. März 1990 mit einer weiteren Note an den Präsidenten anhand einer Fülle detaillierter Daten ausführte.47 Und gleichzeitig blieben Mar-

43

Entretien FM – R. Nyers (Président du PSH), 18. Januar 1990. Entretien FM – Imre Poszgay [sic] (Ministre d’Etat), 19. Januar 1990. 45 PREM 19–3346. 46 Note pour le Président de la République, 30. Januar 1990. 47 Note pour le Président de la République, Objet: Situation financière de l’U. R.S. S., 13. März 1990. 44

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garet Thatcher und François Mitterrand bei ihrer Unterredung am 4. Mai bei der Einsicht: „Wir müssen weiterhin auf die Permanenz von Gorbatschow setzen.“48 Wohl von diesem Interesse des Westens wissend, dass er als dessen Partner an der Spitze der Sowjetunion bleibt, veranstaltet Gorbatschow in den folgenden Wochen und Monaten nacheinander Szenen des Appells. Er bringt die Ansuchen zumeist verschlüsselt vor. So ist mit dem Vorschlag „wirtschaftliche Zusammenarbeit“ die Aufforderung zu einer Finanzhilfe gemeint; unter dem Stichwort „Nato“ wird, was Kanzler Kohl sofort begriff, das Thema, „Wirtschaft“, angesprochen.49 Verhält sich Gorbatschows Gegenüber in Reaktion auf sein Vordringen zurückhaltend, werden seine Worte fordernder, und er nennt dann auch genaue Zahlen zu den Finanzhilfen, die er sich vorstellt. Regelmäßig sucht er sich für das Vorbringen seines Ansuchens eine vertrauliche Situation aus, also ein Gespräch im kleinen Kreis, wenn nicht sogar nur mit dem ausgewählten Gegenüber, in einem Augenblick, in dem er diesen allein sprechen kann, oder er schreibt einen persönlichen Brief. Seine Adressaten sind hauptsächlich Bundeskanzler Kohl, Präsident Mitterrand, der amerikanische Präsident Bush, sein Außenminister James Baker, oder Premierministerin Thatcher, aber auch andere westliche Regierungschefs wie der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti oder der spanische Ministerpräsident Felipe González. Das offenste Ohr findet er bei Kohl und Mitterrand, wobei Kohl bei Finanzhilfen für die UdSSR an die deutsche Wiedervereinigung denkt und ihretwegen großzügig ist, während Mitterrand weniger eine finanzielle Unterstützung der UdSSR durch Frankreich als vielmehr vonseiten der Europä­ ischen Gemeinschaft und der Gruppe der G 7 Staaten beabsichtigt. Bush und Baker erweisen sich zuerst als zurückhaltend; aufgrund innenpolitischer Gegebenheiten in den USA wäre es nicht einfach, Finanzleistungen für die Sowjetunion aufzubringen. Thatcher und die zuständigen Mitglieder ihrer Regierung widerstreben den Ansuchen aus Moskau am meisten, ohne es jedoch kategorisch abzuweisen: man erwarte einen gewissen Erfolg der Gorbatschow Reformen, bevor der Westen auf dessen Appelle eingehe.50 Im Mai und Juni 1990 strengt sich Gorbatschow besonders an. Es steht ein längeres Treffen mit Präsident Bush in Washington bevor, für drei Tage, vom 31. Mai bis 2. Juni, und dies wäre die Gelegenheit, das Verhältnis der UdSSR und dem Westen gründlich zu diskutieren. Er führt darüber am 18. Mai ein Vorgespräch mit Außenminister Baker, der vom 16. bis zum 19. Mai in Moskau ist. Im Wesentlichen geht es ihm um Geld aus dem Westen, und deswegen betont er die Vertraulichkeit dieses Gesprächs im kleinen Kreis. Er erklärt nebstdem, dass er über das, wor 48

Entretien François Mitterrand – Mme Thatcher, 4. Mai 1990. Siehe „Delegationsgespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Präsident Bush, Washington, 17. Mai 1990: „Der Bundeskanzler sagt abschließend voraus, daß Präsident Bush bei seinen Gesprächen mit Gorbatschow merken werde, daß dieser, wenn er über die NATO rede, die Wirtschaft meine.“ (Dok. Dt. Einheit, 1131). 50 Für einen Überblick zu diesen unterschiedlichen Einstellungen vgl. einschlägige britische Regierungsdokumente in: PREM 19–2979, PREM 19–3175, PREM 19–3183. 49

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über er jetzt mit Baker spreche, auch und insbesondere demnächst mit Präsident Bush reden will. Baker versteht, dass Gorbatschow ihn als Boten nutzen will, und versichert ihm, er werde seine Ausführungen Präsident Bush übermitteln. Dieser erfasst Gorbatschows Vorgehensweise, wie er alles hört, sehr wohl. Auf sie später zurückschauend schreibt er: „Als Baker Gorbatschow traf, hob der sowjetische Präsident zu einem langen Vortrag über die Beziehungen zu den USA, Osteuropa, und die deutsche Wiedervereinigung an. Gorbatschow mag es unangenehm gewesen sein, diese Fragen direkt mit dem Präsidenten [also ihm] aufzuwerfen, besonders das Thema Finanzhilfe.“51 Den Appell, den Gorbatschow am 18. Mai über Baker an Bush richtet, leitet er geschickt ein. Er beginnt mit einem Bekenntnis, das sein Gegenüber gerne hört: „Mit der Durchführung der Perestroika und der Veränderung unserer Politik durch Neues Denken möchten wir uns zum Westen hin bewegen, zu den Vereinigten Staaten. Wir möchten unser Land zur Welt hin öffnen.“52 Man kann dieses Bekenntnis als ein solches auffassen, in ihm aber auch den Köder erkennen, den Gorbatschow auswirft. Denn er setzt nun zugleich zu einem Aufruf an, den er zunehmend deutlicher ausdrückt und damit zwingender vorbringt. „Wir haben“, so sagt er, „ein Anrecht auf das Verständnis und die Solidarität unserer Partner“. Übersetzt heißt das: auf eine erwünschte „Zusammenarbeit“, wozu der Westen wohl bereit sein soll, beziehungsweise, jetzt wird Gorbatschow konkreter: es geht um „einigen Sauerstoff, den wir benötigen“. Und über die Brücke dieses Sprachbilds hat er sich den Wünschen angenähert, die er schließlich präsentiert: „zweckgebundene Darlehen“, sowie zusätzlich „Handelskredite“. Nach der Schätzung in Moskau seien das, sagt er, „15 bis 20 Milliarden“. Das sei „nicht viel“, fügt er an. Und vergisst nicht, auf den eigentlichen Adressaten hinzuweisen: „Also diese Sache werde ich im Gespräch mit dem Präsidenten zur Sprache bringen.“53 Er tut es am Abend des 1. Juni 1990, auf dem Landsitz amerikanischer Präsidenten, Camp David. Und er tut es klammheimlich, niemand außer Präsident Bush sollte mitbekommen, was der Chef der Sowjetunion in deren Namen für diese verlangte. Bush hat die Szene festgehalten: „Nach dem Abendessen nahm mich Gorbatschow noch einmal zur Seite, dieses Mal, um mich zu fragen, ob Baker mit mir über seine Diskussionen mit Schewardnadse bezüglich finanzieller Fragen gesprochen habe. Er erklärte, dass er das Thema, von den Vereinigten Staaten Geld zu brauchen, nicht in Anwesenheit seines Teams anschneiden wolle. Ich sagte ihm, dass Jim [Baker] es erwähnt hätte, aber immer noch schwierige politische Probleme zu überwinden seien, Probleme, die ihm ja bewusst seien, wie die [sowjeti-

51 George Bush / Bent Scowcroft, A World Transformed, New York: Alfred A. Knopf, 1998, 271. 52 Record of Conversation between Gorbachev and Baker (with delegations), Moscow May 18, 1990 (https://nsarchive.gwu.edu/document/22563-document-16-gorbachev-baker-memconmay-18-1990, aufgerufen am 11. Oktober 1990). 53 Ebd.

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sche] Finanzhilfe für Kuba54 und ein Fortschritt bezüglich Deutschland [= dessen Wiedervereinigung].“55 Da es Gorbatschow nicht allein um Finanzhilfen durch die USA, sondern des Westens allgemein geht, und Frankreich sich zum Fürsprecher von Hilfen seitens übernationaler Instanzen gemacht hatte, erhält Mitterrand von Bush am 4. Juni Bescheid über das ihm „privat“ vorgetragene Ersuchen. „In einem privaten Augenblick in Camp David“, berichtet Bush, „warf Gorbatschow die Frage größerer wirtschaftlicher Unterstützungsleistungen an die Sowjetunion durch den Westen auf und sagte, er wünsche, dass die Vereinigten Staaten daran teilnehmen würden. Ich erwiderte, ich wollte ihm helfen, und wollte auch, dass seine Reformen erfolgreich seien. Ich würde die Probleme, denen er sich gegenübersah, verstehen. Aber da wären beträchtliche Probleme hier [d. h. in den Vereinigten Staaten], mit denen ich fertig werden müsste.“ Bush schloss den Bericht mit der Bemerkung ab, er habe Gorbatschow auf den bevorstehenden G 7 Gipfel in Houston verwiesen, bei dem dann diese ganze Frage diskutiert werden sollte.56 Es bleibt nicht aus, dass Gorbatschows hartnäckiges Insistieren nach allen Seiten hin im Westen als ein Zeichen von Schwäche gesehen wird. Offenbar benötigt er für die Sowjetunion offenbar so dringend Geld, dass man daran denken kann, seinen Forderungen eigene Forderungen entgegenzustellen. Das geschieht vor allem durch die bundesdeutsche Regierung – auf die Wiedervereinigung abzielend. Am 11. Juni 1990 sendet die britische Botschaft in Bonn ein diplomatisches Telegramm nach London (und zugleich an die britischen Botschaften in Moskau, Washington und Paris), mit dem davon berichtet wird, was „Teltschik in strengster Vertraulichkeit offenbart“ hätte. Die Sowjetunion hätte die Bundesrepublik um neue Kredite gebeten. Dieses Mal gehe es darum, dass die Sowjetunion nicht mehr ihre Schulden bei ausländischen Gläubigern bedienen könne. Sie geriete so in die Kategorie von Ländern, die um eine Umschuldung anhalten müssten. Das sei eine „Katastrophe für eine Weltmacht“ und für die Sowjetunion „außerordentlich erniedrigend“. Die Bundesrepublik, so Teltschik, zeige sich „aufgeschlossen (open minded)“. Aber man stelle eine Bedingung: die „Bereitstellung von frischem Geld“ müsse sich „hilfreich“ auf die Zwei-Plus-Vier Verhandlungen auswirken.57 Sieben Tage später, am 18. Juni, schreibt Kohl einen Brief an Mitterrand, mit dem er ihm unter anderem mitteilt, worauf er Gorbatschow gegenüber bestanden habe: die Sowjetunion müsse eine konstruktive Haltung in der Frage der deutschen Wiedervereinigung, und insbesondere hinsichtlich der Mitgliedschaft eines ver 54 Die UdSSR leistete jährlich eine beträchtliche Finanzhilfe an Kuba. Diese war keineswegs im Interesse der USA. Warum sollten sie auf die Finanzwünsche der UdSSR eingehen? Die Sowjetunion sollte doch erst einmal das Geld, mit dem sie Kuba unterstützte, für sich einsetzen, bevor sie nach Geld aus dem Westen verlangte. 55 A World Transformed, 287. 56 FM White House To Elysee Palace, 4 June 90, Secret, Via Blue Channels. 57 FM Bonn, Telno 723, 11 June 90 (PREM 19–3183).

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einigten Deutschlands in der NATO einnehmen.58 Am gleichen Tag befindet sich Thatchers außenpolitischer Berater, Percy Cradock, für Besprechungen in Bonn, unter anderem mit Horst Teltschik. Nach dem von Cradock am nächsten Tag verfassten Bericht sprach Teltschik dabei von „hohen Summen, Milliarden von Dollars“, welche die Sowjetunion benötige. Wenn man sie leiste, könne man zwei Dinge erreichen: man „kaufe“ eine sowjetische Zustimmung in „politisch-militärischen Angelegenheiten“, und man „behalte Gorbatschow bei und eine hinreichende Reform“.59 Und am 22. Juni erklärt auch der amerikanische Außenminister Baker seinem britischen Kollegen Hurd, worauf, wie er es sehe, die Schwierigkeiten hinausliefen, welche die „Russen“ bei den Zwei-Plus-Vier Verhandlungen noch machten: auf ein „Verlangen nach Geld“.60 Mittlerweile laufen die Vorbereitungen für zwei Gipfeltreffen, auf denen insbesondere auch über die Frage von wirtschaftlichen und finanziellen Unterstützungsleistungen an die Sowjetunion beraten werden soll: das des Europäischen Rats am 25. und 26. Juni in Dublin, und das der G 7 Gruppe vom 9. bis 11. Juli in Houston. Am 21. Juni verfasst Mitterrands Wirtschaftsberaterin Elisabeth Guigou hierzu eine Note an den Präsidenten, in der sie festhält: Kanzler Kohl verlange, dass in Dublin über eine an die Sowjetunion zu leistende Hilfe entschieden werde. Das habe er ihm [Mitterrand] wie den anderen Mitgliedern des Rats geschrieben. Für Jacques Delors [Präsident der Europäischen Kommission] sei es sehr wichtig, dass die Finanzhilfe an die Sowjetunion nicht ausschließlich über Deutschland liefe. In Dublin wie in Houston müsste der Wille des Westens bestätigt werden, der Sowjetunion zu helfen, ohne Herrn Gorbatschow das Gesicht verlieren zu lassen [Hervorhebung durch Guigou], der sein Verlangen nach Hilfe nicht öffentlich vorgetragen habe. Es werde sehr wohl zwischen Deutschland und der Sowjetunion verhandelt. Die Dresdner Bank sei dabei, einen von der deutschen Regierung gesicherten Finanzkredit in der Höhe von 2,5 Milliarden Dollar zu arrangieren. Der Zahlungsverzug der Sowjetunion gegenüber westlichen Regierungen belaufe sich auf 2 Milliarden Dollar.61

58 Brief von Bundeskanzler Kohl an Präsident Mitterrand, 18. Juni 1990 (AN-AG/5(4)/ JLB/87). 59 PREM-2997. 60 PREM 19–3183. 61 Note pour le Président de la République, Objet: Votre rencontre avec le Chancelier Kohl. Aide à l’Union Soviétique [Hervorhebung durch Guigou], 21. Juni 1990 (AN-AG/5(4)/ CDM/33). Bei dem Dubliner Gipfel wurden Beschlüsse bezüglich der „Wirtschaftslage in der UdSSR“ gefasst. Siehe: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat, Dublin, 25./26. Juli 1990, S. 12. (https://www.europarl.europa.eu/summits/dublin/default_en.htm (aufgerufen am 13. Oktober 2022).

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Vor dem G 7 Gipfel erhält Mitterrand von Gorbatschow eine mündlich übermittelte Botschaft (message oral).62 Mit dieser erklärt er: „Ich verberge nicht, dass wir bei den aktuellen Umständen nicht nur dringend Finanzkredite benötigen, um unsere Zahlungsbilanz in Ordnung zu bringen, und die Artikel zu kaufen, die dafür nötig sind, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Wir brauchen überdies noch weit höhere Kredite.“ Am ersten Tag des Gipfels stellt der amerikanische Präsident Bush gleich zu Beginn fest: „Wir müssen auf das Ansuchen von Gorbatschow eingehen.“63 Dies geschieht, die auf dem Gipfel vertretenen Staaten beschließen daraufhin eine Reihe entsprechender Maßnahmen.64 Die Flut von Ersuchen aus Moskau reißt indes nicht ab. Am 13. August 1990 wird Charles Powell von einer Beamtin im britischen Schatzamt über das neueste „sowjetische Ersuchen um britische Finanzhilfe“ unterrichtet. Sie hätten daraufhin beim Internationalen Währungsfonds, in Bonn, Paris und Rom nachgefragt, und es sei klar herausgekommen, dass „ähnliche Anfragen in Frankreich und Italien eingegangen“ seien. „Die Bundesrepublik“, so fährt die Beamtin fort, „hat natürlich schon einen sehr großen Kredit von 5 Milliarden DM bereitgestellt. Wir wissen, dass die Vereinigten Staaten nicht um Hilfe gebeten wurden. Wir nehmen das aber von Japan an, wenngleich es unwahrscheinlich ist, dass sie positiv reagieren werden. Überraschenderweise wird auch von Korea angenommen, dass es erwägt, zu helfen.“65 Man kann der sowjetischen Führung die Dringlichkeit, mit der sie wegen einfachster Alltagsprobleme in der sowjetischen Gesellschaft vorgeht, nicht verargen, wenn man sich folgenden Dialog beim Treffen Kohls mit Mitterrand am 17. September in München vergegenwärtigt: „Kohl: Die wirtschaftliche Situation von Gorbatschow ist noch schlimmer geworden. Mitterrand: Ich frage, wo wir da stehen. Vieles fehlt in Moskau. Kohl: Wir haben der UdSSR Fleisch aus der DDR geliefert, aber Gorbatschow hat gesagt, er brauche Zigaretten. Machen Sie sich das klar: wir unterredeten uns über Zigaretten!“66

Wenige Tage zuvor, am 7. September 1990, hatte Gorbatschow gegenüber Kanzler Kohl nicht mehr nur appelliert, sondern knallhart gefordert: Geld gegen die sowjetische Einwilligung in den vollen Abschluss der Zwei-Plus-Vier-­Verhandlungen. Kohl musste seitens der Bundesrepublik Finanzleistungen in „Höhe von 12 Milliar-

62

Message oral de M. Gorbachev, s. d., Vermerk von Archivseite am Kopf der Niederschrift der Botschaft: „Houston, Début juillet 90?“. 63 9 et 19 juillet 1990 – Sommet du G7, Houston, handschriftliche Notizen von Mitglied der französischen Delegation (AN-AG/5(4)/CD/68). 64 Siehe die Houston Economic Declaration, Houston, 11 July 1990, Abschnitte 42–47 („The Soviet Union“), http://www.g7.utoronto.ca/summit/1990houston/declaration.html (aufgerufen am 13. Oktober 2022). 65 PREM 19–3183. 66 Entretien du Président de la République avec le Chancelier Kohl, 55ème Sommet francoallemand, 17. September 1990 (AN-AG/5(4)/CDM/33).

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den DM plus 3 Milliarden DM in Form eines ungebundenen, zinslosen Kredites“ zugestehen67. Und es geht weiter. Am 15. Oktober meldet die britische Botschaft in Madrid, dass Gorbatschow dort auf Kreditreise ist. Er werde seinen Gastgeber, Ministerpräsident González, „wegen Hilfen für die Sowjetunion schwer bedrängen (press his host hard), kein Zweifel.“68 Am Abend des 18. Oktober ist Gorbatschow von Mitterrand zu einem Diner im Élysée eingeladen. Mitterrands Berater Hennekinne sitzt neben ihnen und kann ihnen zuhören. Gorbatschow, schreibt er später nieder, sei „sehr drängend (très pressant)“ gewesen, betreffs Finanzhilfe. Sie ihm im Dezember zu leisten, sei „zu spät, es eilt“. Und wie schon in den Gesprächen mit Baker und Bush äußert Gorbatschow großzügige Vorstellungen. Sie hätten „20 Milliarden Dollar Schulden. Das sei nicht viel.“ Warum also, so fragt er Mitterrand, „gewährt Ihr uns nicht einen Zahlungsaufschub?“69 Das Jahr 1990 geht für die Wirtschaft der Sowjetunion so zu Ende wie es für sie begonnen hat. Sie ist im Stadium eines Ruins. Nur weiß der Westen darüber mehr Bescheid. Mit diesem Wissen kann Gorbatschow mehr maßgeschneidert geholfen werden – bevor er scheitert. Am 24. Dezember 1990 geht im Élysée ein Schreiben von Bush ein mit einer drastischen Schilderung der sowjetischen Zwangslage: Ich wollte Ihnen davon Bescheid sagen, dass der geschäftsführende Direktor des Internationalen Währungsfonds, Michel Camdessus, und der Präsident der Weltbank, Barber Conable, gestern den Bericht über die sowjetische Wirtschaft abgegeben haben, den wir beim Wirtschaftsgipfel in Houston im Juli angefordert hatten. Sie baten mich, als Gastgeber des diesjährigen Gipfels, Ihnen den Bericht zu übermitteln. Wir sehen den Bericht als einen der verlässlichsten und maßgeblichsten der Berichte an, die jemals zur sowjetischen Wirtschaft erstellt wurden. Sie werden sehen, dass der Bericht ein Bild der sowjetischen Wirtschaft im Verfall zeichnet. Wenn etwas heraussticht, dann ist es dies: die Sowjets benötigen dringend technische Politikberatung und Ausbildung seitens aller unserer Länder, wie dazuhin vonseiten der wichtigsten internationalen Finanzinstitutionen. Diese Herausforderung erfordert deutlich unsere besten, miteinander abgestimmten Anstrengungen in den kommenden Monaten. Wie Sie wissen, habe ich letzte Woche auch ein Paket wirtschaftlicher Maßnahmen angekündigt, von denen ich hoffe, dass sie den kurzfristigen sowjetischen Bedürfnissen entsprechen, und im Weiteren die grundsätzliche, langfristige wirtschaftliche Reform unterstützen.“70

67 Siehe „Gespräch des Ministerialdirektors Teltschik mit Botschafter Terechow, Bonn, 15. September 1990“, (Dok. Dt. Einheit, 1541), „Telefongespräch des Bundeskanzlers mit Präsident Gorbatschow, 7. September 1990“ (ebd., 1527–1530). 68 FM Madrid To Immediate FCO, Telno 927, 25 October 90, (PREM-2997). 69 Entretien François Mitterrand – Mikhail Gorbachev, 28. Oktober 1990. 70 Brief von Präsident Bush an Präsident Mitterrand, 24. Dezember 1990.

Die „Macht des Kalten Krieges“ 

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Die „Macht des Kalten Krieges“ Mit dem Geschehen der Wiedervereinigung Deutschlands bahnten sich in der Sphäre europäischer Politik andere Geschehen an. Das, was sich einzustellen schien, rief Befürchtungen, Ängste, Vermutungen, Erwartungen, Projektionen hervor. Und es wurden davon unter den politischen Akteuren auch schon Deutungen angestrengt. Man wollte die noch neuen Erfahrungen wenigstens gedanklich auffangen, auch wenn es noch zu früh für ein formendes Gestalten war. Doch mit Versuchen, es zu verstehen, würde man immerhin den ersten Schritt auf ein solches Gestalten hin machen. Was beobachten wir? Was haben wir zu beobachten? Worauf müssen wir achten? Was wird wohl eintreten? Und was hat es zur Konsequenz? Was kann uns ängstigen? Worum müssen wir uns sorgen? Mit solchen Fragen suchten aufmerksame, verantwortungsbewusste Akteure die Situation zu erfassen. Den Prozess dieses Begreifens möchte ich anhand von zwei einschlägigen zeitgenössischen Dokumenten beleuchten. Das eine ist die Niederschrift einer Unterredung am 18. Juni 1990 zwischen François Mitterrand und Lothar de Maizière, dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik.71 Das andere ist das Protokoll von einer Sitzung am 14. September 1990 des Deutsch-Franzö­ sischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats.72 Es geht bei beiden vornehmlich um die Staaten im östlichen Europa, den Warschauer Pakt, die NATO, die Sowjetunion, das Verhältnis zwischen dieser und dem Westen. Gleich zu Beginn seines Gesprächs mit Mitterrand deutet de Maizière eine gespannte Situation an: Bei all unserem Interesse für den Westen wollen wir nicht unsere Freunde im Osten vergessen, unsere Gefährten im Unglück. Es besteht eine Chance dafür, unsere Freundschaften im Osten in den Prozess der Wiedervereinigung einzubringen. Das ist, psychologisch gesehen, sehr wichtig, denn es wäre sehr bedauerlich, allein eine Verschiebung der Grenzen von der Elbe zur Oder zu haben. Wir haben bei unseren Nachbarn im Osten eine große Unruhe festgestellt, sie haben Angst, bei dem Prozess [der Wiedervereinigung] beiseitegelassen zu werden.

Das ist in erster Linie ein Appell an den Westen und de Maizière richtet seine Worte ja auch an den Präsidenten Frankreichs. Der Osten fürchtet, dass der Westen nicht auf ihn zukommt. Neben diesem einen Grund zur Unruhe gibt es noch einen zweiten, der im Osten, bei den „Gefährten“ der DDR „im Unglück“ zu verorten ist. De Maizière hatte zwei Wochen zuvor an einem Treffen der Staaten des War 71

Entretien François Mitterrand – Lothar de Maizière, Premier Ministre de R. D.A., 18. Juni 1990 (AN – AG/5/(4)/JLB/87). 72 Ministère des Affaires Étrangères, Note: Session de la Commission Franco-Allemande de Défense et de Sécurité, Paris le 14 septembre 1990 (AN – AG/5/(4)/CDM/34).

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Kap. 6: Geschichten in der Geschichte

schauer Paktes in Moskau teilgenommen.73 Und da sei es „sehr beeindruckend“ gewesen, sich in dem Saal zu befinden, in dem – so sagt es de Maizière mit einer eigentümlichen und vielsagenden Umschreibung – „die Macht des Kalten Krieges saß“. Neben dieser traf er nur noch Leute wieder, die „demokratisch gewählt worden waren“ und unter sich nun „Beziehungen“ hatten, die „gänzlich verschieden“ gegenüber solchen waren, die zur „Macht des Kalten Krieges“ passten. Diese blieb in einer seltsamen Weise allein. Und würde ganz ihr Machtrevier verlieren, wenn geschah, was die Tschechen und die Ungarn wollten, nämlich, wie De Maiziere weiter ausführt: eine „komplette Auflösung des Warschauer Paktes“. Eine gewisse Genugtuung schwingt in diesen Worten mit. Doch de Maizière mahnt auch, eindringlich. Man müsse die „UdSSR beruhigen“, ihr nicht den „Eindruck eines Sieges des Westens über den Osten vermitteln“. In der UdSSR fürchte man, dass die Zwei-Plus-Vier Verhandlungen sich in einer Weise abspielen könnten, wonach sie eine Angelegenheit von „Fünfen gegen Einen“ würden, also der Westen die Oberhand gewinnen und die Sowjetunion praktisch ausschalten würde. Die „Stimmung in der UdSSR“ sei diesbezüglich „sehr empfindlich“. Und de Maizière pointiert seine Mahnung mit einem drastischen Bild: „Man darf ihnen nicht den Eindruck vermitteln, dass Stalin den Zweiten Weltkrieg gewonnen und Gorbatschow ihn verloren hat.“ Am 24. September 1990, zwölf Tage nach Abschluss des Zwei-Plus-Vier Vertrags, mit dem die Wiedervereinigung Deutschlands besiegelt wurde, tritt die DDR aus dem Warschauer Pakt aus. Dessen Auflösung nähert sich, von der zurückbleibenden „Macht des Kalten Krieges“ kehren sich alle anderen seiner Mitglieder ab. Das ist von ihnen gewollt. Und doch erfüllt sie dies mit Unruhe. Sie fürchten um sich. Die Ursache dieser Furcht wird am 14. September 1990 in dem zweiten oben angeführten Dokument benannt, bei dem es bezeichnenderweise um Fragen der europäischen Sicherheitsstrukturen geht: In Zentraleuropa entstehe eine „große Leere“. Es wäre ebenso falsch, sich nicht um die Unruhe zu kümmern, die gewisse Mitglieder des dahingeschiedenen Warschauer Paktes, wie Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, bedrängt, aufgrund ihres Eindrucks, dass sich in Zentraleuropa eine große Leere bildet. Es ist angebracht, sich ihrer Sorge anzunehmen.74

Einige Jahrzehnte später ist diese Unruhe und Sorge keinesfalls geringer geworden.

73

Das Treffen fand am 7. Juni 1990 statt. Das Wort „dahingeschieden“ war etwas voreilig. Der Warschauer Pakt wurde offiziell am 1. Juli 1991 aufgelöst. 74

Quellen Archivalische Quellen Präsidentielles Archiv, Élysée (für die Periode 1981–1995) CM Ministerrat (Conseil des ministres) Archives Nationales, Paris (Pierrefitte), abgekürzt: AN, Fonds Mitterrand Dokumentationen von Jean-Louis Bianco, abgekürzt: JLB George H. W. Bush Presidential Library and Museum https://bush41library.tamu.edu/archives/ National Security Archive, Washington, D. C.

nsarchive.gwu.edu / NSAEBB / index.html

The National Archives, Richmond, England Prime Minister’s Office, abgekürzt: PREM Wilson Center, Washington, D. C. https://www.wilsoncenter.org

Forschungsgespräche des Autors Jean-Louis Bianco, Paris Joachim Bitterlich Michel Charasse Bertrand Dufourcq Roland Dumas Pierre Favier Hans-Dietrich Genscher Elisabeth Guigou Peter Hartmann Christoph Heusgen Paul Jean-Ortiz Jean Kahn Bernard Latarjet Anne Lauvergeon

3. Juni 1996 (Paris) 8. November 2015 (Paris) 1. Juli 1993 (Bundeskanzleramt, Bonn) 17. August 1998 (Bundeskanzleramt, Bonn) 30. September 2003 (Paris) 17. März 2004 (Paris) 10. Juni 2013 (Paris) 5. Juni 1996 (Senat, Palais du Luxembourg) 7. November 2009 (Suresnes) 27. März 2007 (Paris) 24. Juni 1993 (Paris) 1. August 2006 (Berchtesgaden) 8. Oktober 2003 (Assemblée Nationale, Paris) 29. Mai 1995 (Bundeskanzleramt Bonn) 13. Mai 2013 (Bundeskanzleramt Berlin) 22. November 2013 (Élysée) 19. Oktober 1992 (Élysée) 15. Januar 1996, (Paris) 17. März 1994 (Élysée)

164 Caroline de Margerie Nikolaus Meyer-Landrut François Mitterrand Jean Musitelli Laurence Soudet Horst Teltschik Hubert Védrine Jean Vidal

Quellen 22. Oktober 1998 (Paris) 23. März 2013 (Bundeskanzleramt Berlin) 17. März 1994 (Élysée) 24. Juni 1993 (Élysée) 28. Februar 1994 (Élysée) 18. Juli 1994 (München) 9. Januar 2017 (Rottach-Egern) 23. Juni 2017 (Rottach-Egern) 21. April 1995 (Élysée) 1. Oktober 1996 (Paris) 18. Februar 1993 (Élysée)

Die Niederschriften der Gespräche befinden sich im Archiv des Autors.

Gedruckte Quellen Berlin Allied Museum (Hg.) (2000), „Let Berlin be Next.“ George Bush and German Unification. The Telephone Conversations of U. S. President George Bush and Chancellor Helmut Kohl (October 23, 1989 – October 3, 1990). Berlin: Allied Museum. Deutsche Ausgabe 2011: Altrichter, Helmut / Möller, Horst / Zarusky, Jürgen (Hg.). Michael Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1968–1991, Übs. J. Glaubitz. München: Oldenbourg. Abgekürzt: Sow. Dok. Foreign and Commonwealth Office. Patrick Salmon et al. (Hg.) (2009/2010), Documents on British Policy Overseas, Series III, Vol. VII, German Unification, 1989–1990. London: ­Taylor & Francis, London / New York: Routledge. Abgekürzt: DBPO. Galkin, Aleksandr / Chernyaev, Anatolii (Hg.) (2006), Mikhail Gorbachev i Germanskii vopros: sbornik dokumentov 1986–1991. Moskau: Ves’mir. German Embassy, London, Witness Seminar. Berlin in the Cold War, 1948–1990. German Unification, 1989–1990, London: Lancaster House, Friday 16 October 2009. Abgekürzt: Wit. Sem. Hilger, Andreas (Hg.) (2011), Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amtes zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90. München: Oldenbourg. Abgekürzt: Dipl. Dt. Einheit. Küsters, Hanns Jürgen / Hofmann, Daniel (Hg.) (1998), Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramts 1989/90. München: Oldenbourg. Abgekürzt: Dok. Dt. Einheit. Savranskaya, Svetlana / Blanton, Thomas / Zubock, Vladislav (2010), Masterpieces of History. The peaceful end of the Cold War in Eastern Europe. Budapest: Central European University Press. Vaïsse, Maurice / Wenkel, Christian (Hg.) (2011), La diplomatie française face à l’unification allemande. D’après des archives inédites. Paris: Éditions Tallendier. Abgekürzt: Vaïsse / ­Wenkel.

Personenverzeichnis (Namen in den Fußnoten wurden nicht aufgenommen) Andreotti, Giulio  14, 19, 59, 155 Antall, József  151 Arafat, Yasser  35 Ash, Timothy Garton  18, 129 Attali, Jacques 14, 24–38, 50 f., 62, 110, ­123–128 Baker, James A.  14, 58, 71, 90, 147, 155 f., 158, 160 Bérégovoy, Pierre  45 f. Bianco, Jean-Louis  14, 34 f., 38, 45, 49 f., 66, 114 f., 119–128, 138–140, 149 Bitterlich, Joachim 14, 27, 48, 50 f., 53 f., ­80–82, 87 f., 95 f. Boidevaix, Serge  50, 82 f., 88, 114 Brzeziński, Zbigniew  151 Bush, George H. W.  14, 38, 43, 54–59, 64, 67 f., 71, 134, 155–157, 159 f. Camdessus, Michel  160 Chevènement, Jean-Pierre  14, 45, 111–115 Cicero 16 Conable, Barber  160 Cradock, Percy  158 Debré, Michel  42 De Gaulle, Charles de  42 f., 72, 94 f. Delors, Jacques  158 Dufourcq, Bertrand  14, 20, 27, 48, 52, 61, 87 f., 144 Duisberg, Claus J.  20 Dumas, Roland  14, 48 f., 52, 61 f., 119 f., 122, 144, 146 f., 149, 153

González, Felipe  14, 55, 155, 160 Gorbatschow, Michail  14, 19 f., 36–38, 54, 57–59, 68–71, 80 f., 93 f., 109 f., 113, ­123–125, 134, 142, 144 f., 153–160, 162 Gozney, Richard  152 Guigou, Elisabeth  14, 31, 33 f., 48, 50, 52, 61 f., 158 Hadley, David  152 Hartmann, Peter  48, 50, 52 Hennekinne, Loïc  14, 34, 37, 49, 100–102, 160 Herodot 16 Heusgen, Christoph  53 Hildebrand, Klaus  19 f. Hollande, François  53 Hurd, Douglas  14, 60 f., 101, 121, 129, 153, 158 Jaruzelski, Wojciech  14, 150 Jay, Michael  152 Jean-Ortiz, Paul  53 Judt, Tony  18 Kohl, Helmut  14, 19, 27, 32 f., 37 f., 44, 48, 50–52, 54–59, 61 f., 64, 66–68, 71–73, 81 f., 84, 87, 93, 95, 101, 104, 119, 121, 123, 132, 143, 145, 155, 157–159 Küsters, Hans Jürgen  29 Lanxade, Jacques   14, 34, 38, 45, 49, 51 Lauvergeon, Anne  14, 153 f. Loth, Wilfried  28 Lubbers, Ruud  59

Elgey, Georgette  35, 46, 64 Genscher, Hans-Dietrich  14, 20, 23, 44, 48, 52, 57, 61 f., 70 f., 119 f., 122, 141–145 Giscard d`Estaing, Valéry  14, 116–118, 149

Maizière, Lothar de  14, 161 f. Major, John  152 Margerie, Caroline de  14, 48, 50, 87, 1­ 44–154 Mazowiecki, Tadeusz  14, 59 f., 150

166

Personenverzeichnis

Merkel, Angela  53 Meyer-Landrut, Nikolaus  53 Mikołajczyk, Marek  21 Mitterrand, François  14, 18–35, 37 f., ­42–52, 54–59, 61–64, 66–73, 80–87, 92–95, ­100–105, 108, 110–114, 118–128, 134 f., 138, 144–155, 157–161 Morel, Pierre  14, 34, 50, 152 f. Mulroney, Brian  14, 102, 105 Musitelli, Jean  14, 26, 34 f., 48 f., 61, 1­ 02–105 Narinskiy, Mikhail  20 Nyers, Rezső  154 Peyrefitte, Alain  43 Plato, Alexander von  29 Powell, Charles  14, 30 f., 52, 89 f., 100–102, 116–118, 126–134, 152–154, 159 Pozsgay, Imre  154 Prentice, Christopher  153 Reagan, Ronald  14, 34 f. Rilke, Rainer Maria  50 Ritter, Gerhard A.  19, 23, 29 Salmon, Patrick  60 Sarotte, Mary Elise  23, 32 Sauzay, Brigitte (s. a. Stoffaes)  95 Schewardnadse, Eduard  14, 141 f., 145, 156 Schlüter, Poul  59

Schmitt, Maurice  45 Schotters, Frederike  91, 153 Schwan, Heribert  32 Schwarz, Hans-Peter  19, 29 Scowcroft, Brent  14, 38 Skubiszewski, Krzysztof  14, 150 Soares, Mário  55 Soudet, Laurence  26 Soutou, Georges-Henri  18, 20, 28 Spohr, Kristina  29, 30 f. Stoffaes, Brigitte (s. a. Sauzay)  55 Sutton, Michael  28 Tschernajew, Anatoli  14, 110 f. Teltschik, Horst  15, 27, 48, 50–52, 61, ­80–82, 123, 148, 157 f. Thatcher, Margaret  15, 19, 30 f., 33, 36, 52, 56–61, 63–73, 89 f., 96, 100–110, ­116–118, 126–132, 134–136, 151, 155, 158 Védrine, Hubert  15, 25 f., 34, 37, 48–50, 52, 62, 88, 92 f., 102–105, 147 f., 154 Vidal, Jean  51 Wall, Stephen  31, 101, 116, 127, 133, 154 Wörner, Manfred  57 Younger, George  151 Zelikow, Philip D.  23

Sachverzeichnis Archives Nationales (Pierrefitte)  22, 23, 28, 33, 86, 138 f. Atomwaffen – französische 51

Europäische Gemeinschaft  35, 44, 56, 117 f., 121, 133, 148–152, 155 Europäischer Gipfel in Straßburg  61 f., 112, 119, 122, 126 f.

Bundeskanzleramt (Bonn/Berlin)  20, 27, 48 f., 53, 80, 84, 122 Bundesrepublik Deutschland  115, 121 f.

Forschen – historisches 137 Frage – deutsche  19, 21, 31, 49, 57, 86, 101, 103, 126, 138, 144, 147 Frankreich – Fünfte Republik  42 Freundschaft – politische 72

Charakter – deutscher 130–133 Charakterologie – politische  62 f. DDR 59, 80–82, 87, 93, 118, 121, 124, 141 f., 146, 148, 159, 161 f. Deutschland(s) – Allianzen gegen  19, 117, 119, 133 – Einheit 12, 18, 20, 33, 59, 80 f., 105, 114 f., 119 f., 122, 124 f., 127, 136 – geeintes  116, 120 – Neutralisierung 56 – militärischer Status  56, 59, 127, 145 Diplomatie – französische 88 Dokumente – archivalische  23, 25, 76 f., 83–85, 87, 91, 148 – Zeitdokumente  77, 79 f. Élysée  22, 24, 27, 38, 42, 44, 48–50, 53 f., 61, 83–88, 119, 123, 144, 147 England (s. a. Großbritannien)  12, 96, 134, 148, 151 Erinnerung  13, 32, 66, 75–79, 98 f., 108, 123, 138 Europa(s) – Einigung  28, 72, 112, 121, 127 – Einheit  20, 120 – politische Union  148 – Sicherheit  37, 59 f., 113, 130

Geschichtsschreiber  96, 136 Geschichtsschreibung – in Deutschland  12 – der Protokollanten  99 – Kontamination der 31 – Kunstfertigkeit der 107 – zur Wiedervereinigung  75, 77, 135 Gesprächsaufzeichnung(en), s. a. Protokolle ​ 93 f., 101–103 Großbritannien (s. a. England)  17, 20, 22, 36, 59, 66, 117, 132 Historiographie (s. a. Geschichtsschreibung) ​ 24 f., 32, 96, 98–100, 106 f., 135 – Akte der 100 – Kunst der 107 Kalter Krieg  13, 108, 162 Konföderation – europäische 150 Konstruktion – europäische 118 KSZE  143, 145 – Treffen in Ottawa 59 Macht  42 f.

168

Sachverzeichnis

– amtliche  43, 47 – gestaltende  43, 46 – personale 43 – politische  43, 47 – Sprachmacht 96 – verfassungsmäßige 42 Ministerrat (Conseil des Ministres) 34, 45, 63, 85, 112 National Archives (Richmond, England)  88 f. NATO  37, 44, 56, 59 f., 110, 115, 145, 155, 158, 161 Oder-Neiße-Grenze  115, 121, 127 Ostdeutschland  36, 127, 133 Osten  68, 70, 122, 143, 150, 161 f. Osteuropa  36, 148 f., 156 Ost-West-Beziehungen 121 Österreich  35, 115 Polen  103, 116, 118, 125, 148–150, 162 Politik – französische  49, 152 – schöpferische  12, 53, 84, 136 Preußen 105 Protokolle – Gesprächsprotokolle  50, 91–96, 99 f. Quellen – archivalische  21, 23 f., 30, 33, 76 – dokumentarische 62 – gemischte 80 – historische 12 Quellenkritik 31 Regierungshandeln  62, 86, 129 Regierungsmethode(n) – Mitterrands 144 Revolution – europäische von  1989–90 108 Russland (s. a. Sowjetunion)  18, 69, 82

Sowjetunion (s. a. Russland) 56, 69, 104 f., 110, 115, 121, 124, 133, 144, 146, 154 – Finanzleistungen für 155 – Unterstützungsleistungen an  157 f. – wirtschaftliche Situation der  153 UdSSR (s. a. Sowjetunion, Russland)  71, 141, 154, 162 Überlieferung – dokumentarische 100 – protokollarische 97 USA  48, 54, 57, 68, 104, 156 Warschauer Pakt  37, 146, 161 f. Weltpolitik – Werkstatt der  47–49, 52, 54–58, 61, 72, 91, 126 Westen 58, 68, 70 f., 111, 143, 153–158, ­160–162 Wiedervereinigung – Darstellungen zur 28 – Frage der 20, 32 f., 52, 88, 100, 113 f., 124, 128, 157 – Geschehen der 33, 44, 56, 79, 89, 130, 135 f., 161 – Geschichte der  32, 143 – Geschichtsschreibung der  12, 77, 135 – Historiographie der 75 – im Alleingang  115 – Zeit der  24, 44, 48, 50–52, 55, 88 Wille – historiogener 109 – politischer 44 Wirtschafts- und Währungsunion (Europäische) ​ 62, 64, 119, 121 f. Zeitzeuge(n)  78 f., 106, 123 Zeitzeugenschaft  78, 98 f. Zwei-plus-Vier-Verhandlungen  20, 48, 59, 88, 102, 112, 115, 136, 144, 146–148, 150, 157–159, 162