Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung [1 ed.] 9783428479443, 9783428079445

VorwortMit diesem Band werden der Öffentlichkeit Referate zugänglich gemacht, die am 24. und 25. September 1992 in Berli

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Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung [1 ed.]
 9783428479443, 9783428079445

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Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 41

Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung

Herausgegeben von

Eckart Klein

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung / hrsg. von Eckart Klein. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994. (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 41) ISBN 3-428-07944-2 NE: Klein, Eckart [Hrsg.]; Gesellschaft für Deutschlandforschung: Schriftenreihe der Gesellschaft ...

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-07944-2

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ........................................ .........................................

7

Eckart Klein, Mainz Einführung ..........................................................................

9

Wolfgang Knies, Saarbrücken Verfassunggebung oder Verfassungsänderung? ...................................

13

Hans-Peter Schneider, Hannover Verfassungsänderung oder Verfassunggebung? -

Thesen und Nachbemerkung

37

Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa............ ......

41

Karl Doehring, Heidelberg

Wolfgang Gerhards, Bonn Überlegungen zur Stärkung der Bundesländer im Rahmen der Verfassungsdiskussion - Gliederungspunkte - .....................................................

59

Detlef Merten, Speyer Die Staatszieldebatte

65

Rosemarie Will, Berlin / Karlsruhe Plebiszitäre Elemente und Verfassungsdiskussion - Kurzthesen und Gliederung - .. ........................... ......................................... .....

81

Gerd Mende, Dresden Überlegungen zu einer Neuregelung der Finanzverfassung ......................

83

Wolfgang Bernet, Jena Justiz und Verwaltung in den neuen Bundesländern Autorenverzeichnis .....................................................................

95 113

VORWORT Mit diesem Band werden Referate der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die am 24. und 25. September 1992 in Berlin im Rahmen des 12. Symposiums der Fachgruppe Rechtswissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung gehalten wurden. Die Tagung stand unter dem Thema "Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung". Seit der Durchführung des Symposiums haben nicht nur die neuen Länder den Prozeß ihrer Verfassunggebung abgeschlossen, sondern auch die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat hat am 5. November 1993 ihren Schlußbericht vorgelegt (BT Drs. 12/6000). Abgesehen von den bereits vorgezogenen, durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Union veranlaßten Änderungen sind die Vorschläge zur Ergänzung des Grundgesetzes sehr maßvoll ausgefallen. Amegungen zur Aufnahme gewisser plebiszitärer Elemente konnten ebensowenig die in der Kommission verabredete 2h-Mehrheit gewinnen wie Vorschläge zur Aufnahme von sozialen Grundrechten oder Staatszielbestimmungen, wenn man vom Umweltschutz (Art. 20 a) absieht. Auch das heiße Eisen der Reform der Finanzverfassung wurde nicht geschmiedet. Darüber mag man sich freuen oder auch nicht. Ein Anlaß, diese moderaten Änderungen - vorausgesetzt, sie finden die notwendigen Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat - einer nach Art. 146 GG möglichen Volksabstimmung zu unterwerfen, besteht jedenfalls nicht. Ungeachtet aller dieser Entwicklungen, zu denen auch das Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages am 1. November 1993 und das zum Vertragsgesetz ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 zählen, sind die während der Tagung diskutierten grundsätzlichen Fragen nicht erledigt. Sie stellen sich vielmehr nach wie vor oder werden zumindest erneut gestellt werden. Die hier publizierten Überlegungen sind daher wichtige Diskussionsbeiträge zu einer nicht abgeschlossenen Debatte. Leider ließ sich der Plan nicht realisieren, alle vorgetragenen Referate zu publizieren. In drei Fällen ist dieses aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich gewesen. Da die auf der Tagung vorgelegten Thesen oder Gliederungen jedoch sämtlich mitabgedruckt sind, kann ein Gesamteindruck der Tagung gleichwohl unschwer gewonnen werden. Im übrigen darf bezüglich des Tagungsverlaufs auf den Bericht von Andreas Haratsch im Deutschland-Archiv 1993, S. 67 ff., verwiesen werden.

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Vorwort

Ich danke der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, der das Erscheinen dieses Bandes erst möglich gemacht hat. Eckart Klein

Eckart Klein EINFÜHRUNG Namens des Vorstands der Gesellschaft für Deutschlandforschung und als wissenschaftlicher Leiter dieser Tagung darf ich Sie herzlich willkommen heißen. Sie wissen, daß es nicht mehr ganz einfach ist, im Reichstag eine Veranstaltung abzuhalten. Wir befinden uns hier im Sitzungssaal der CDU / CSU-Bundestagsfraktion und sind dem Fraktionsvorsitzenden Herrn Dr. Schäuble sehr dankbar, daß er es ermöglicht hat, daß wir hier tagen können. Ich begrüße besonders und mit Dank unsere Referenten, die trotz großer Arbeitsbelastung unserer Bitte zum Vortrag sehr bereitwillig nachgekommen sind. Wir sind gleichermaßen glücklich, daß unser ehemaliger Vorsitzender, Herr Kollege Mampel, heute unter uns weilt. Wir alle wissen, was die Gesellschaft für Deutschlandforschung ihm verdankt. Bemühte sich unsere Gesellschaft vor dem Umbruch, den Gedanken an die Einheit Deutschlands wachzuhalten und zu pflegen, nicht zuletzt durch Information über die Lage in der DDR und durch intersystemaren Vergleich, so geht es heute nach der Wiedervereinigung darum, den dadurch ausgelösten Prozeß des Zusammenwachsens in allen Bereichen wissenschaftlich fundiert zu begleiten. Unsere Fachgruppe Rechtswissenschaft hat nur die Legitimation zur Erörterung der juristischen Fragestellungen. Wenn wir aus der Fülle der Probleme das Thema "Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung" herausgegriffen haben, so mag das angesichts der derzeit vielerorts hierüber geführten Diskussionen zwar aktuell, aber nicht allzu originell erscheinen. Freilich erweist die Problematik sehr schnell, daß man hierüber gar nicht oft und tief genug nachdenken kann. Dies hängt auch mit der in einem Rechtsstaat maßgeblichen Funktion der Verfassung zusammen, die gerade nicht Instrument der jeweiligen politischen Mehrheit ist, sondern - Mehrheit und Minderheit umspannend gemeinsame Basis und damit Grenze politischer Machtentfaltung ist. Was sich in diesem Bereich also in Deutschland tut, bedarf eingehender und gewiß auch kritischer Beobachtung. Die fünf neuen Bundesländer mußten sich neue Verfassungen geben oder sind dabei, dies zu tun.· Die Gesamtzahl der in Deutschland geltenden Verfassungen steigt damit auf 17, die Bundesverfassung mit eingerechnet. Das Grundgesetz selbst ist von der Wiedervereinigung essentiell berührt worden. Ich verweise nur - pars pro toto - auf die Änderung der

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Eckart Klein

Präambel und des Art. 146, mit der das neue Selbstverständnis des nunmehr geeinigten deutschen Gesamtstaates beredten Ausdruck erhielt. Einigungsvertrag und zahlreiche andere Entwicklungen haben darüber hinaus die Frage aufgeworfen, ob nicht weitere Verfassungsänderungen notwendig sind. Darüber berät, wie Sie wissen, derzeit die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Aber, und das ist die erste Grundfrage, der wir uns heute morgen zuwenden wollen, handelt es sich dabei, kann es sich dabei nur um eine Verfassungsänderung handeln, oder steht nicht vielmehr oder sollte nicht vielmehr ein Prozeß veritabler Verfassunggebung zur Debatte stehen, um "Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung" zu kommen, wie das Thema einer im Juni 1991 durchgeführten Tagung in der Paulskirche in Frankfurt am Main hieß? Ich gehe davon aus, daß wir zu diesem Thema kontroverse Überlegungen von den Referenten, den Herren Kollegen Knies und Schneider, vorgetragen bekommen. Die Frage, welche Bedeutung Staat und Verfassung in einem sich immer enger zusammenschließenden Europa noch haben können, ist ebenso fundamental wie bislang kaum ernsthaft diskutiert. Vermindert sich nicht die Rolle der Staaten und ihrer Verfassungen so wesentlich, daß von Grund auf neu über beide Erscheinungen nachgedacht werden muß? Muß sich vielleicht, wie es kürzlich Rüdiger Altmann in der FAZ (19.9. 1992) formulierte, der alternde Nationalstaat "mit der Bedeutung eines Funktionsbegriffs für ein größeres Ganzes zufriedengeben?" Behält die nationale Verfassung noch die Kraft, das Bild des Staates zu fixieren? Wir sind in hohem Maße auf die Ausführungen von Herrn Kollegen Doehring gespannt. Eine der wichtigsten und für den Fortbestand des Föderalismus in Deutschland entscheidenden Fragen ist, ob es gelingt, nicht zuletzt auch unter dem Aspekt der europäischen Einigung, die Länder als eigenständige politische Kraftzentren zu erhalten. Die Suche nach einer Antwort hat zu bemerkenswerten, z.T. aus der Sicht des Bundes aber keineswegs unproblematischen Änderungserwägungen geführt - ich erinnere nur an die geplante Neufassung von Art. 23 und 24 Abs. 1 GG. Wir schätzen uns glücklich, daß Herr Ministerialdirigent Gerhards sich dieses Fragenkreises näher annehmen wird. Der letzten heute Nachmittag zu behandelnden und in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen gleichermaßen höchst kontrovers diskutierten Problematik wird sich dankenswerterweise Herr Kollege Merten aus Speyer annehmen. Das Thema "Staatszieldebatte" krankt - ich bin mir dessen bewußt - bereits an einem Mangel begrifflicher Schärfe, da mit diesem Topos häufig auch die Frage der sozialen Grundrechte abgedeckt wird. Die Gesamtproblematik greift über die aktuelle Diskussion hinaus und reicht tief in die Staats- und Verfassungslehre hinein. Morgen werden wir mit einem weiteren "Dauerbrenner" der verfassungspolitischen Überlegungen befaßt sein. Die Frage, ob überhaupt und wenn ja, welche Elemente direkter Demokratie in das Grundgesetz eingeführt werden sollen, ist

Einführung

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außerordentlich umstritten. Inwieweit können Erfahrungen, die mit einschlägigen Bestimmungen der Landesverfassungen gemacht wurden, nutzbar gemacht werden? Die gegenwärtige Diskussion, ob nicht auch in Deutschland eine Volksabstimmung über den Maastrichter Vertrag sinnvoll, vielleicht sogar bereits nach geltendem Verfassungsrecht möglich wäre, zeigt, daß eine nähere Erörterung von großer Bedeutung ist. Frau Kollegin Will wird mit ihrem Referat das Fundament einer sicher lebhaften Aussprache legen. Die "Überlegungen zu einer Neuregelung der Finanzverfassung" greifen das Thema der Sicherung der Bundesstaatlichkeit noch einmal unter einem ebenso spezifischen wie fundamentalen Gesichtspunkt auf. Die Finanzverfassung entscheidet letztlich über die Fähigkeit der Länder, selbstverantwortliche politische Größen, sagen wir ruhig: Machtzentren zu sein. Ob die gegenwärtige Finanzverfassung diesem föderalistischen Anspruch Rechnung trägt, ist - erst recht nach der Wiedervereinigung - zweifelhaft. Abgesehen davon muß sich die bundesstaatliche Solidarität, die keine Einbahnstraße sei)! darf, gerade in Notlagen bewähren. Hierauf hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 27. Mai 1992 (BVerfGE 86, 148) zutreffend hingewiesen. Wir sind sehr dankbar, daß Herr Ministerialrat Mende uns seine Überlegungen zu diesem Problemkreis vortragen wird. In einer letzten Arbeitssitzung wird es um Aufbau und Funktionieren von Justiz und Verwaltung in den neuen Bundesländern gehen. Es bedarf keiner Hervorhebung, daß beide unentbehrliche Voraussetzungen eines Verfassungsund Rechtsstaates sind. Die organisatorischen und personellen Schwierigkeiten sind beträchtlich. Wir freuen uns dazu auf den Vortrag von Herrn Kollegen Bernet. Meine Damen und Herren, wir meinen, daß die vorgesehenen Themen geeignet sind, Schwerpunkte der gegenwärtigen Verfassungsdebatte erkennen zu lassen und durch ihre Diskussion zu einem besseren Verständnis von Fragen zu kommen, die uns alle angehen. Diskutiert und gestritten werden muß darüber. Vielleicht aber können wir auch einen Beitrag dazu leisten, daß Diskussion und Streit nicht länger entlang west- oder ostdeutscher Argumentationslinien verlaufen, wie eine bekannte Tageszeitung meinte, als sie berichtete, in der Verfassung von SachsenAnhalt habe sich "ostdeutscher Wille" durchgesetzt (FAZ vom 14.7.1992). Wir würden damit auch einem Ziel der Gesellschaft für Deutschlandforschung entsprechen.

Wolfgang Knies VERFASSUNGGEBUNG ODER VERFASSUNGSÄNDERUNG? I.

Verfassunggebung oder Verfassungs änderung - das ist hier die Frage. Ist es aber auch die Frage, ist es noch die Frage der praktischen Verfassungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland? Sind hier die Würfel nicht längst zugunsten der bloßen Verfassungs änderung gefallen, und hat sich die Frage unseres Themas damit nicht praktisch erledigt? Wenn wir auf die Arbeit der "Gemeinsamen Verfassungskommission" von Bundestag und Bundesrat sehen, so hat es in der Tat diesen Anschein. Daß die Aufgabe dieser Kommission auf Verfassungsänderung und nicht auf Verfassunggebung ausgerichtet sei, besagt schon der übereinstimmende Einsetzungsbeschluß von Bundesrat und Bundestag: 1 "Die Kommission berät über Verfassungsänderungen und -ergänzungen, die den gesetzgebenden Körperschaften vorgeschlagen werden sollen. Sie soll sich insbesondere mit den in Artikel 5 des Einigungsvertrages genannten Grundgesetzänderungen befassen sowie mit Änderungen, die mit der Verwirklichung der Europäischen Union erforderlich werden."2 Die Vorstellungen zweier Oppositionsparteien hinsichtlich des Verfahrens und seiner Zielsetzung gingen indes weiter und in andere Richtung. So hatte der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90 I DIE GRÜNEN3 erklärtermaßen das Ziel, die verfassunggebende Gewalt, den pouvoir constituant, zu aktivieren: "Mit der Herstellung der Einheit Deutschlands durch den Beitritt der DDR gemäß Art. 23 GG" habe sich "die Verfassungsfrage nicht erledigt. Die Verabschiedung einer 1 Beschluß des Deutschen Bundestages vom 28.11.1991, BR-Drucks. 740/91, und Beschluß des Bundesrates vom 29.11.1991, BR-Drucks. 741/91. - Die Beschlüsse unterscheiden sich nur in ihrer Eingangsformel in einer interessanten, aber unerheblichen Nuance: Offenbar um seine Verfahrensherrschaft zu dokumentieren, formuliert der Bundestag, er habe "mit Zustimmung des Bundesrates folgendes beschlossen". Der Bundesrat wollte demgegenüber sein Gleichgewicht in diesem Verfahren und im Blick auf die gemeinsame Kommission dokumentieren und formulierte daher, er habe "dem Beschluß des Deutschen Bundestages ... zugestimmt und folgenden Beschluß gefaßt:" (es folgt der mit dem Bundestags-Beschluß wortgleiche Beschlußtext des Bundesrats). 2 Nr.5 der Einsetzungsbeschlüsse (wie Fn. I). 3 BT-Drucks. 12/563. Der Antrag trägt den bezeichnenden Titel "Vom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung".

Wolfgang Knies

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gesamtdeutschen Verfassung durch das Volk selbst kraft seiner verfassunggebenden Gewalt stellt sich heute als Aufgabe des geeinten Deutschlands." Aufgabe eines "Verfassungsrates" sollte es sein, den Entwurf einer neuen Verfassung zu erarbeiten und diesen dann einem Volksentscheid zu unterbreiten. Bundestag und Bundesrat sollten bei der Entwurfs-Arbeit ausgeschaltet bleiben. Das Ziel war also eindeutig Verfassunggebung, Verfassungsneuschöpfung außerhalb der Bahnen des Art. 79 GG und nicht etwa Änderung und Ergänzung des fortexistierenden Grundgesetzes. "Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das geeinte Deutschland": so hieß das Thema im Antrag der Bundestagsfraktion der SPD.4 Ein 120-köpfiger "Verfassungsrat" sollte Bundestag und Bundesrat den Vorschlag einer Verfassung unterbreiten. Die danach "von Bundestag und Bundesrat mit zwei Dritteln ihrer Mitglieder beschlossene Verfassung für das geeinte Deutschland" sollte dann "allen Bürgerinnen und Bürgern in einer Volksabstimmung zur Entscheidung vorgelegt werden."5 Die Anträge der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der SPD haben sich im Bundestag nicht durchsetzen können. 6 Letztendlich ist der Einsetzungsbeschluß, der eindeutig "nur" auf Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes abzielt, einvernehmlich jedenfalls zwischen den Regierungsfraktionen und der SPD-Fraktion beschlossen worden. 7 Und danach steht auch fest: Es wird keine wie auch immer zu qualifizierende ,,Revision" des Grundgesetzes geben, die nicht den - bewußt beschwerlichen - Weg des Art. 79 GG gegangen ist, also die zweifache Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat gefunden hat. 8 BT-Drucksache 12/415. Alle Zitate aus dem Antrag der Fraktion der SPD "Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das geeinte Deutschland - Einsetzung eines Verfassungsrates -", BT-Drucks. 12/415. - Zur Position der SPD vgl. die Reden des Abg. Dr. Vogel in der 61. Sitzung des Deutschen Bundestages am 28.11.1991 (Sten. Bericht S. 5251 C ff.) und in der Gemeinsamen Verfassungskommission am 16.1.1992 (Sten. Bericht S. 6 ff.); ebenda S. 15 f. die Rede des Ministerpräsidenten des Landes NRW Dr. h. c. Rau (SPD). Siehe weiter das "Grundsatzpapier" einer Unterkommission der Rechtsund Innenpolitischen Kommission beim Parteivorstand der SPD (Mitglied: Rans-Peter Schneider) vom Juli 1990, veröffentlicht in: Recht und Politik 26 (1990) 207 ff.; die Äußerungen der stv. Bundesvorsitzenden und rechts- und verfassungspolitischen Sprecherin der SPD-Bundestags-Fraktion Dr. Rerta Däubler-Gmelin z. B. am 19.4.1991 im DEUTSCHLANDFUNK (Manuskript der Sendung "Vom Grundgesetz zu einer gesamtdeutschen Verfassung", S. 3 f.) oder im SPIEGEL-Streitgespräch mit dem damaligen Bundesminister der Justiz Kinkel (F.D.P.) (DER SPIEGEL Nr. 20/1991 vom.J3.5.1991, S. 80 ff.). 6 Zum parlamentarischen Schicksal der beiden Anträge vgl. die Beschlußempfehlung des Ältestenrates (Bundestags-Drucksache 12/1590), bes. Nr. 11 und III, sowie die Abstimmungen im Plenum des Deutschen Bundestages in der 61. Sitzung am 28. 11. 1991, Steno Bericht S. 5260 C. . 7 Vgl. die Reden der Abg. Dr. Vogel (SPD) und Prof. Dr. Scholz (CDU / CSU) in der 61. Sitzung des 12. Deutschen Bundestages am 28. November 1991, Steno Bericht S. 5251 C ff. und 5253 D ff. 4

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Verfassunggebung oder Verfassungsänderung?

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Sollte sich daher nicht auch diese Tagung besser gleich und ohne Vorspiel den konkreten Fragestellungen der weiteren Referate zuwenden? Indes: Auch nach der Einsetzung der "Gemeinsamen Verfassungskommission" ist das Thema einer nicht nur geänderten, sondern genuin neuen Verfassung politisch keineswegs ad acta gelegt. 9 Der Gedanke plebiszitärer Neufundierung der Verfassungsordnung für die Bundesrepublik Deutschland wird von den Oppositionsparteien innerhalb und außerhalb des Deutschen Bundestages, innerhalb und außerhalb der Gemeinsamen Verfassungskommission unverändert vertreten und politisch zur Geltung gebracht. Wie die Regierungsparteien letztlich darauf reagieren werden, ist noch nicht ausgemacht. Also hat es vielleicht doch nicht nur einen begrenzten theoretischen Reiz, sondern auch einen praktischen Sinn, wenn wir unserem Thema mit zwei Referaten und einer ausgiebigen Diskussion nachgehen. Dabei sollten wir uns bemühen, verfassungstheoretische, verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Argumente nicht unbekümmert zu verwechseln oder bunt zu mischen und falsch zu etikettieren - das geschieht ja gelegentlich durchaus bedacht und absichtsvollstrategisch. Gewiß lassen sich gerade bei dem Thema "Verfassunggebung" verfassungstheoretische und normative Aussagen nicht immer scharf auseinanderhalten; ja, sie fallen gelegentlich in eins. 10 Aber keinesfalls sollte verfassungspolitisch Gewolltes als verfassungsrechtlich Gesolltes ausgegeben und damit der Versuch unternommen werden, es dem politischen Streit zu entziehen und in den Bereich des Unbezweifelbaren und Unanfechtbaren zu erheben. II.

Wenn ich jetzt eine Antwort auf die Frage des Themas zu geben versuche, so will ich mich nicht auf ein vorsichtiges "Einerseits - Andererseits" beschränken. Für das ,,Andererseits" steht hier ja Hans-Peter Schneider, und das erleichtert es mir, meine Ansichten eindeutig zu formulieren. Dementsprechend sage ich: Das Grundgesetz ist die Verfassung des vereinten Deutschlands. Es muß nicht erst zu ihr "weiterentwickelt" oder gar durch eine neue Verfassung abgelöst und ersetzt werden. Verfassungsrechtliche Kontinuität ist das Gebot der Stunde - gerade 8 Vgl. die Äußerung des Abg. Dr. Vogel (SPD) in der konstituierenden Sitzung der "Gemeinsamen Verfassungskommission" am 16.1.1992, Steno Bericht S. 6 ff. (8 a. E.). Gleiche Einschätzung wie der Text: Ossenbühl, DVBI. 1992, 468 ff. (468 f.). 9 V gl. insbesondere die Rede des Sprechers der SPD, Dr. Vogel, bei der Konstituierung der "Gemeinsamen Verfassungskommission" von Bundestag und Bundesrat am 16.1.1992, Steno Bericht S. 6 ff., insbes. die Schlußbemerkungen S. 8. 10 Zur verfassunggebenden Gewalt als "Grenzbegriff des Verfassungsrechts": EmstWolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986. S. dazu Wilhelm Henke, Das Ende der Revolution und die verfassunggebende Gewalt des Volkes, Der Staat 31 (1992),265 ff. (269). Vgl. auch Henke, Staatsrecht, Politik und verfassunggebende Gewalt, Der Staat 19 (1980), 181 ff.

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Wolfgang Knies angesichts der noch unbewältigten Aufgaben der nationalen Einheitsfindung und der überwältigenden Sanierungsprobleme im Gefolge des Desasters des sozialistischen Zwangssystems in der DDR und weit darüber hinaus.

Ich will das Augenmerk zunächst auf einige verfassungsrechtliche Fragen und Feststellungen richten. Viele (selbst Mandatsträger, die das historische Privileg hatten, daran mitzuwirken) haben inzwischen offenbar schon vergessen oder wollen uns vergessen machen, daß mit dem Einigungsvertragsgesetz 11 das Grundgesetz geändert worden ist und nun seinen Anspruch, als Verfassung des ganzen und geeinten Deutschlands zu gelten, zweimal ausdrücklich und nachdrücklich verlautbart. In der neugefaßten Präambel des Grundgesetzes 12 wird aus der Feststellung, daß "die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, ... [bis] Thüringen in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet" haben, die Folgerung gezogen: "Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk." Und ebenso formuliert der - gleichfalls durch den Einigungsvertrag neugefaßte 13 - Art. 146 GG, daß "dieses Grundgesetz ... nach Vollendung der Einheit und Freiheit für das gesamte deutsche Volk gilt". Daß das Grundgesetz nach der Wiedervereinigung die gesamtdeutsche Verfassung ist: das ist keine dem Grundgesetz nachträglich politisch oktroyierte Festlegung im Zuge der Wiedervereinigung. Schon immer verstand sich das Grundgesetz als jedenfalls potentielle gesamtdeutsche Verfassung. In seinem alten Art. 23 14 beschränkte es "zunächst" (!) seinen räumlichen Geltungsbereich auf die "alten" Länder, hielt aber den "anderen Teilen Deutschlands" die Möglichkeit des Beitritts offen und knüpfte an den vollzogenen Beitritt die zwingende Rechtsfolge 15 der Ausdehnung seines Geltungsbereichs auf den beitretenden "Teil Deutschlands". Damit war einmal ein normativer Weg zur Wiedervereinigung offengehalten, mit dem zum anderen der Anspruch und das Selbstverständnis des Grundgesetzes verbunden waren, gesamtdeutsche Verfassung werden zu können und sein zu wollen. "Es erhofft Ausdehnung über die westlichen Länder hinaus", sagte Herbert Kraus schon im Februar 1950. 16 Das war das Verständnis 11 GeselL LU dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertragsgesetz - und zu den Vereinbarungen vom 18. September 1990, vom 23.9.1990, BGBl. 11, S. 885. 12 Art. 4 Nr. 1. 13 Art. 4 Nr. 6. 14 Art. 23 ist durch Art. 4 Nr. 2 Einigungsvertrag aufgehoben worden. 15 ,Jn anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen." (Art. 23 S. 2 GG). Zum obligatorischen Charakter der Grundgesetz-Erstreckung auf das beitretende Gebiet vgl. statt aller: Maunz, in: Maunz / Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 23 GG Rdnr. 37 (Stand: 1962). 16 Herbert Kraus, Die auswärtige Stellung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Bonner Grundgesetz, 1950, S. 11.

Verfassunggebung oder Verfassungsänderung?

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des Art. 23 von Anfang an 17 und ist nicht eine ihm später unterschobene Deutung, die im Angesicht der Wiedervereinigung 1989/90 politisch zupaß kam. Und vor allen Dingen: Dieses Verständnis entsprach dem verfassungspolitischen Wollen des Parlamentarischen Rates. 18 Nicht mehr in Zweifel gezogen werden dürfte heute die Feststellung, daß

Art. 23 S. 2 GG einen eigenen, neben und unabhängig von Art. 146 GG verlaufen-

den Weg zur (Wieder-)Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands eröffnete. 19 Das aber bedeutet: Das Grundgesetz ist durch die Ausdehnung seines räumlichen Geltungsbereiches gern. Art. 23 S. 2 zur gesamtdeutschen Verfassung geworden, ohne daß es dazu eines zusätzlichen plebiszitären Aktes bedurft hätte oder noch bedürfte. 20 Mit der Wiedervereinigung ist Art. 23 an sein eigenes Ziel gekommen - an das Ziel der staatlichen Einheit und der räumlich nicht mehr 17 Siehe z. B. Giese, Grundgesetz, 3. Aufl. 1953, Erl. II 4 zu Art. 23, S. 51; Scheuner, Art. 146 GG und das Problem der verfassunggebenden Gewalt, DÖV 1953,581 ff. (bes. 581); Maunz, Die verfassunggebende Gewalt im Grundgesetz, DÖV 1953,645 ff. (648); v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, 1953, Erl. 2 und 3 zu Art. 23 (S. 158, 160); Friedrich Klein, Bonner Grundgesetz und Wiedervereinigung Deutschlands, in: Gedächtnis-Schrift für Walter Jellinek, 1955, S. 119 ff. (125 f.); ders., in: v. Mangoldt/ Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 1957, Erl. IV 1 zu Art. 23 (S. 653 f.); Maunz, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 23 Rdnr.37, 38 (Stand: 1962); Dennewitz, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 23 (Erstbearbeitung), Erl. 2 a und b. - Das BVerfG hat Art. 23 S. 2 GG als verfassungsgemäßen Weg zur Herstellung der deutschen Einheit auch und gerade im Blick auf den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland "problemlos" akzeptiert und vereinzelt gebliebene Ansichten, die in Art. 23 S. 2 GG ,,keinen verfassungsrechtlichen Weg zur Überwindung der deutschen Spaltung" sehen wollten (Beispiel aus den 70er Jahren: Helmut Lenz, in: Hamann/Lenz, GG-Kommentar, 3. Aufl. 1970, B 4 zu Art. 23 GG im Gegensatz zur Vorauflage), nicht einmal einer Erwähnung für wert befunden; vgl. BVerfGE 82, 316 ff. (320 f.) und auch 84, 90 ff. (118). 18 Vgl. v. Doemming / Füsslein / Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JÖR n. F. 1 (1951), I ff. (217 ff.); v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, 1953, Art. 23 GG, Erl. 1,2 und 5. - Hermann v. Mangoldts Entstehungsbericht und Kommentierung sind insofern von besonderem Interesse, als der Autor an der Formung und Formulierung (auch) des Art. 23 GG als Mitglied des Hauptausschusses und als Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen maßgeblichen Anteil genommen hat. 19 Auch sie ist alt und keineswegs eine "Entdeckung" im Blick auf den von der Bundesregierung und der Regierung der DDR gewählten und eingeschlagenen konkreten Weg zur Wiedervereinigung im Jahre 1990. Vgl. z. B. Scheuner, Art. 146 GG und das Problem der verfassunggebenden Gewalt, DÖV 1953, 581 ff. (dort - S.581 - ist bereits von einem ,,neben Art. 146 zweiten Weg der Wiedervereinigung" die Rede); Maunz, Die verfassunggebende Gewalt im Grundgesetz, DÖV 1953,645 ff. (648). Die Einzelheiten entfaltet Josef Isensee, Deutschlands aktuelle Verfassungslage - Staatseinheit und Verfassungskontinuität, VVDStRL 49 (1990), 39 ff. (48 ff.). Weitere Nachweise z. B. bei Rauschning, DVBl. 1990,393 ff. (400 in Fn. 75). 20 Pointiert a. A: Ernst Gottfried Mahrenholz, Das Volk muß ,,Ja" sagen können. Jede Verfassung braucht die ausdrückliche Zustimmung der Staatsbürger, in: Bernd Guggenberger und Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit. Analysen - Hintergründe - Materialien, 1991, S. 220 ff. (Nachdruck aus: Die Zeit Nr. 24 vom 8.6.1990, S. 10).

2 Klein (Hrsg.)

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Wolfgang Knies

eingeschränkten Geltung des Grundgesetzes als Verfassung für das ganze Deutschland. 21 Dagegen ist der Einwand zu hören: Das verelmgte Deutschland sei nicht einfach eine Fortsetzung der alten Bundesrepublik. Die Logik, an die wir uns gewöhnen sollten, laute: Ein neues Gebilde brauche eine neue Verfassung. So hat sich Herta Däubler-Gmelin vernehmen lassen,22 und so oder ähnlich hören wir den Einwand auch aus anderem Munde. Der Bundespräsident hat uns zum 17. Juni 1991 gesagt, das vereinigte Deutschland werde nicht einfach eine größere Bundesrepublik sein, sondern etwas neues Gemeinsames. 23 Er hat diesen Satz ausdrücklich und mit Recht nicht als Satz des Verfassungsrechts ausgegeben, sondern mit ihm den Vorgang und die Notwendigkeit der inneren Einheitsfindung der Nation umschrieben. Als verfassungsrechtliche Aussage mißverstanden, ist der Satz unhaltbar. Denn für die verfassungsrechtliche Betrachtung ist entscheidend, daß die Bundesrepublik Deutschland und mit ihr das Grundgesetz ihre Identität durch den Beitritt der DDR nach Art. 23 S. 2 GG nicht verändert oder eingebüßt haben. 24 Geltungsgrund und Rechtsqualität des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sind durch die Wiedervereinigung ungeschmälert geblieben; 25 verändert, nämlich erweitert, hat sich allein sein räumlicher Geltungsbereich. Nun wird gerade an diesem Punkte eingehakt. Weil man eine Insuffizienz des Grundgesetzes als Folge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich seriös aus Art. 23 GG nicht ableiten kann, werden die Defizite des Grundgesetzes an anderer und früherer Stelle gesucht und ausfindig gemacht, um so eine "Weiterentwicklung" oder Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung als verfassungsrechtlich geboten erscheinen zu lassen. Staatsrechtler und Politiker betätigen sich als Archäologen der Verfassungsgeschichte. Mühsam legen sie den demokratischen Legitimationsstrang des Grund21 Kurt Eichenberger hat gerade in der "erstaunliche(n) Leichtigkeit, in der die DDR 1990 in die BRD verfassungsrechtlich inkorporiert werden konnte, (... ) eine praktische Erprobung der staatsgestaltenden Leistungsfähigkeit und relativen Zeitunabhängigkeit des Grundgesetzes" gesehen. Vgl. Jean-Franr,rois Aubert / Kurt Eichenberger, La Constitution, son contenu, son usage / Sinn und Bedeutung einer Verfassung, Basel 1991, S. 156 in Fn. 8. 22 Im SPIEGEL im Frühjahr 1991 (hier wiedergegeben nach dem Zitat des Abg. Dr. Gerhard Friedrich in der 61. Sitzung des 12. Deutschen Bundestages, Steno Bericht S. 5257 C). Nur wenig zurückhaltender die Äußerung in ihrem SPIEGEL-Streitgespräch mit dem damaligen Bundesminister der Justiz Klaus Kinkei, DER SPIEGEL Nr. 20/ 1991 V. 13.5.1991, S. 80. 23 Vgl. Richard V. Weizsäcker, Beide Teile müssen dem vereinigten Deutschland beitreten. Reden aus den ersten zwölf Monaten nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1991, S. 57 ff. (Zitat: S. 58 aus der Femsehansprache zum Tag der Deutschen Einheit 1991). 24 Näher: Isensee, VVDStRL 49 (1990), 39 ff. (46 ff., 51). 25 Vgl. auch Henke, Der Staat 31 (1992),265 ff. (269).

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gesetzes frei - dünn und brüchig erscheint er ihnen. Und in einer Mischung aus Entdeckerglück und gespieltem Erschrecken kommen sie zu der Feststellung: Eine echte und rechte "Verfassung" sei das Grundgesetz nie gewesen. Und: Es leide von Anfang an und bis auf den heutigen Tag an dem fortwirkenden Geburtsmakel seiner mangelnden Legitimation durch den Volkssouverän. 26 Nach dieser Diagnose liegt der Therapievorschlag auf der Hand: Es sei an der Zeit, das defizitäre und makelbehaftete Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland abzulösen durch eine auf neuen Geltungsgrund gestellte "echte" Verfassung für das geeinte Deutschland; die Stunde für den gesamtdeutschen Volkssouverän als Verfassunggeber sei gekommen. . Ich gestehe offen, daß ich zu denen gehöre, die angesichts solcher Grabungsergebnisse ihren Augen und Ohren nicht recht trauen. Klingen uns nicht noch die Lobgesänge im Ohr, die im Frühsommer 1989 bei den Feiern zum 40. Geburtstag des Grundgesetzes angestimmt worden sind - also vor gut drei Jahren und wenige Monate nur vor der Wiedervereinigung?27 War es damals nicht unisono der cantus firmus, natürlich gebe es einige Punkte und Felder, wo dem Grundgesetz eine Korrektur, Anpassung, Änderung, Ergänzung gut- oder gar nottue; aber auf das Ganze gesehen sei das Grundgesetz als gelungenes und zukunftstaugliches Verfassungswerk zu rühmen. "Das akzeptierte Grundgesetz": dieser Titel einer Festschrift 28 bringt die allgemeine Einschätzung und Wertschätzung des Grundge26 Nachweise bei Josef Isensee, Das Grundgesetz zwischen Ewigkeitsanspruch und Ablösungsklausel. Zu der nunmehrigen Schlußbestimmung des Art. 146 n. F. in der gesamtdeutschen Verfassung. In: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit. Band I: Eigentum - Neue Verfassung - Finanzverfassung, 1991, S. 63 ff., 76 f. 27 Aus der Fülle der Geburtstagswürdigungen siehe etwa: Bundesrat (Hrsg.), Stationen auf dem Weg zum Grundgesetz. Festansprachen aus Anlaß des 40. Jahrestages der Rittersturz-Konferenz, des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee und des Zusammentretens des Parlamentarischen Rates, 1988; Ulrich Battis / Ernst Gottfried Mahrenholz / Dimitris Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusarnmenhang der Verfassungen. 40 Jahre Grundgesetz, 1990; Wolfgang Benz (Hrsg.), Sieben Fragen an die Bundesrepublik, 1989; Manfred Buchwald (Hrsg.), In bester Verfassung?, 1989; Rudolf Morsey / Konrad Repgen (Hrsg.), Christen und Grundgesetz, 1989; Reinhard Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklungen unter dem Bonner Grundgesetz. Ringvorlesung der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg aus Anlaß der Wiederkehr des Inkrafttretens des Bonner Grundgesetzes, 1990; Martin Pfeiffer (Hrsg.), Auftrag Grundgesetz. Wirklichkeit und Perspektiven, 1989; Klaus Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz. Internationales Symposium, 1990; 40 Jahre Grundgesetz. Der Einfluß des Verfassungsrechts auf die Entwicklung der Rechtsordnung. Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Br., 1990; Vor 40 Jahren: Grundgesetz":"'- Bundesrepublik Deutschland, Politische Studien, Sonderheft 1/1989. 28 Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für Günter Dürig zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hartmut Maurer, München 1990. - Die Festschrift ist zu Dürigs Geburtstag am 25.1.1990 konzipiert und verfaßt, also vor den umstürzenden Ereignissen des Sommers und Herbstes 1989, von denen sie noch nichts ahnt. Zur Begründung des Titels der Festschrift s. ebendort den Beitrag von Häberle, Das GG und die Herausforderungen der Zukunft, bes. S. 31 in Fn. 122. 2*

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setzes damals auf den Begriff. Kaum ein Jahr später wird der angebliche Geburtsmakel mangelnder demokratischer Legitimation des Grundgesetzes (wieder-)entdeckt - auch von solchen Rednern und Autoren, die kurz zuvor noch im Jubelchor der Gratulanten mitgesungen hatten - und keineswegs mit dissonanten Melodien. Auch hier will ich mit einer klaren These widersprechen: Das Grundgesetz leidet nicht an einem fortwirkenden Geburtsmakel. Es ist durch das Volk legitimiert. Es bedarf also keiner heilenden Legitimation durch nachträglichen Volksentscheid. Es ist schon die Frage, ob das Grundgesetz je unter einem legitimatorischen Geburtsmakel gelitten hat. Natürlich übergehe ich bei dieser Feststellung nicht die Tatsache, daß der Parlamentarische Rat keine vom Volk unmittelbar gewählte verfassunggebende Versammlung gewesen und daß das Grundgesetz auch nicht einer Volksabstimmung unterworfen worden ist. Ich übersehe auch nicht, daß - an diese Tatsache anknüpfend - in der Staatsrechtslehre anfänglich manche Stimme laut geworden ist, die ein demokratisches Defizit bei der Entstehung des Grundgesetzes moniert hat, manche Stimme, die nicht zuletzt wegen der Vorbedingungen und Einwirkungen der drei westlichen Besatzungsmächte jedenfalls von einer souverän-freien Ausübung deutscher verfassunggebender Gewalt nicht sprechen wollte. "Cuius occupatio eius constitutio" ist die scharf zugespitzte, ja überspitzte Formulierung dieses Einwandes. 29 Über die Details und das Maß der Berechtigung dieser Kritik kann ich hier nicht handeln. Im Grundsätzlichen kann man auf sie auch heute kaum anders und kaum besser antworten, als es Hermann v. Mangoldt, ein bedeutendes Mitglied des Parlamentarischen Rates und ein früher Kommentator des Grundgesetzes, schon damals getan hat. Er hat den Kritikern die Frage entgegengehalten, die bis heute nicht wirklich beantwortet ist: "Konnte die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes in jenen Tagen überhaupt anders als im Parlamentarischen Rat zu Worte kommen?"30 Hätte man 1948/49 vielleicht mit der Ausübung verfassunggebender Gewalt - politisch gesehen - warten sollen und - verfassungstheoretisch-normativ betrachtet - warten müssen, bis sich jegliche Einschränkung der Souveränität des deutschen Volkes in ein Nichts aufgelöst hätte - wie eigentlich, von selbst etwa, durch eine glückliche Fügung des Himmels? Schon die Frage ist so absurd, daß wir uns die Antwort ersparen können. Sie zeigt aber, daß so mancher Legitimations-Kritiker des Grundgesetzes heute wie damals seine normativen Maßstäbe 29 Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz, 1949, S. 20 (Nachdruck in: ders., Über das Grundgesetz. Gesammelte Beiträge seit 1949, 1988, S. 1 ff., 14). - Aufschlußreich und farbig im Detail: Rudo1fMorsey, Verfassungsschöpfung unter Besatzungsherrschaft - Das Werk des Parlamentarischen Rates, in: Bundesrat (Hrsg.), Stationen auf dem Weg zum Grundgesetz (wie Fn. 27), S. 83 ff. 30 v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Einleitung 11 (S. 22).

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aus einer Vorstellungs welt bezieht, die von Elementen geschichtlich-politischer Wirklichkeit weitgehend gereinigt ist. Denn: Das Utopia, wo es Verfassunggebung in totaler Entscheidungsfreiheit nach innen und nach außen gibt, ist noch nicht gefunden. Bonn war es 1949 nicht, und Weimar war es 1919 übrigens auch nicht. 3! Wenn - wie zu Recht gesagt wird - die verfassunggebende Gewalt des Volkes sich gerade im Gefolge fundamentaler und oftmals revolutionärer Umbrüche der staatlichen Ordnung zu Wort meldet, dann wird der pouvoir constituant kaum jemals in der Lage sein, sich in der Wahl zwischen unbegrenzten Möglichkeiten zu realisieren. Nur Geschichtsblindheit konnte und kann auch übersehen, daß die verfassunggebende Gewalt des Volkes sich keineswegs auf die karge Handlungsalternative beschränken läßt: Entweder Erlaß der Verfassung durch eine unmittelbar volks gewählte verfassunggebende Versammlung oder Verfassungsplebiszit. Die Wirklichkeit ist - wie meist und so auch hier - einfallsreicher und gestaltungsfreudiger ·als die Phantasie so mancher Professoren. Und weiter: Welchen Anlaß gibt es eigentlich, den jakobinischen Glaubenssatz nachzubeten, daß es keine Verfassung geben kann, die nicht durch das Volk angenommen wurde? 32 Daß der Satz - einmal vom französischen Nationalkonvent 1792 beschlossen und verkündet - in der französischen Verfassunggebung dann als "selbstevident" behandelt wurde,33 kann uns ja wohl nicht veranlassen, ihn als demokratisches Dogma unbesehen zu übernehmen. "Keine Verfassung ohne Verfassungsplebiszit": mit diesem Axiom als Maßstab würden wir nicht nur praktisch allen verfassunggebenden Akten und Dokumenten beispielsweise Nordamerikas die demokratische Legitimität absprechen - von der Virginia Bill of Rights über die Unabhängigkeitserklärung bis zur Verfassung der Vereinigten Staaten; denn sie alle (und viele andere dazu) sind durch Repräsentativversammlungen beschlossen worden. 34 Wir würden nachträglich auch die erste kontinen31 Es war und bleibt offenbar vergessen, daß die Reichsregierung genötigt war, in einem Protokoll vom 22.9. 1919 gegenüber den alliierten und assoziierten Hauptrnächten zu erklären, daß "alle Vorschriften der Deutschen Verfassung vom 11. August 1919, die mit den Bestimmungen des in Versailles am 28. Juni 1919 unterzeichneten Friedensvertrages in Widerspruch stehen, ungültig sind." Insbesondere wurde Art. 61 Abs.2 WR V (der den Anschluß "Deutschösterreichs" an das Deutsche Reich zur Voraussetzung hatte) für ungültig erklärt. Die deutsche Erklärung wurde vom Reichsrat und von der Nationalversammlung gebilligt. Quelle: Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur dt. Verfassungsgeschichte, Bd. 4,3. Aufl. 1991, S. 180; vgl. dort auch S. 151 (Vorbemerkung). 32 ,,La Convention nationale declare qu'il ne peut y avoir de constitution que celle qui est accepte par le peuple." So das Dekret des Nationalkonvents vom 21. September 1792 (Quelle: Helie, Les Constitutions de la France, Paris 1880, S. 341). - Zu ihm: Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, 1909, S. 334, 444 und öfter. 33 Dazu Zweig (wie Fn. 32), S. 444. 34 Siehe die Texte in der Quellensammlung von Adolf Rock, Dokumente der amerikanischen Demokratie, 2. Aufl., Wiesbaden 1953.

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tale Menschenrechts-Erklärung, 35 nämlich die französische Declaration von 1789, ihres verfassungsrechtlichen Ranges und ihrer demokratischen Würde berauben. Sie ist das Werk allein der ersten französischen Nationalversammlung und damit das Produkt einer revolutionären ,,Anmaßung". 36 Gleiches gilt für die Verfassung von 1791. 37 Erst die jakobinisch-republikanische Verfassung vom Juni 1793 wurde einem Plebiszit unterworfen. Es erbrachte eine fulminante Mehrheit für die Verfassung: 1,8 Millionen Ja-Stimmen gegen 18000 Nein-Stimmen. 38 Nur: Schon damals wurde bei der Bekanntgabe des Ergebnisses dem Nationalkonvent verschwiegen, daß kaum ein Drittel aller Stimmberechtigten votiert hatte. 39 Demokratische Legitimation?? Ich muß es hier bei den Fragezeichen belassen. Im Blick auf die aktuelle deutsche Diskussion lohnte es sich, weitere Denk- und Merkwürdigkeiten dieses ersten Verfassungsplebiszits in Erinnerung zu rufen. Dazu fehlt aber die Zeit. Nur eine Beobachtung noch: Die substantiellste und wichtigste verfassungsrechtliche Entscheidung der jakobinischen Aera war durch kein Plebiszit demokratisch unmittelbar beglaubigt: die Abschaffung der Monarchie. Ausgerechnet sie erfolgte allein durch ein einstimmiges Dekret des Nationalkonvents; und dieses wiederum erging - Ironie der Geschichte! - im selben Atemzug, mit dem der Grundsatz "Keine Verfassung ~hne Plebiszit" dekretiert wurde. 40 Damit kein Mißverständnis entsteht, sage ich ausdrücklich: Natürlich muß auch und gerade die Verfassung "vom Volke ausgehen", dem Volke als Souverän zurechenbar sein, um demokratisch legitimiert zu sein und mit Geltungsanspruch aufzutreten. Aber die Idee der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und die Vorstellung der Repräsentation des Volkes sind kompatibel. 41 Die Figur des ,,konkludenten Plebiszits" durch Wahl ist eine alte Einsicht und nicht eine These, die ad hoc zur Salvierung des Grundgesetzes aufgestellt worden ist. 42 35 Declaration des droits de 1'homme et du citoyen (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) vom 26. August 1789. Dt. Text z. B. in: Walter Grab (Hrsg.), Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, München 1973, S. 37 ff. 36 Denn die Versammlung des Dritten Standes hatte sich im Wege der "Selbstverwandlung" (Egon Zweig) zur Assemblee Nationale erklärt und das Recht der Gesetzgebung und der Verfassunggebung für die Nation beansprucht. - Zu diesem ersten revolutionären Akt des Dritten Standes, der "conditio sine qua non für alle übrigen", vgl. Eberhard Schmitt, Sieyes, in: Klassiker des politischen Denkens, hrsg. von Hans Maier u. a., Band 2, 4. Aufl. 1968, S. 135 ff. (143 f.). Siehe auch Zweig (Fn. 32), S. 211 ff., 240 ff. 37 Thren Beginn bildete die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.8.1789. Deutscher Text der Verfassung vom 3.9.1791: Grab (Fn. 35), S. 60 ff. 38 Grab (Fn. 35), S. 312. 39 Zweig (Fn. 32), S. 389. 40 Beide Dekrete datieren vom 21. September 1792. Deutscher Text: Grab (Fn. 35), S.125. 41 Dies auch zur Frage Burmeisters (in: Stern [Hrsg.], a.a.O. [Fn. 26], S. 124) und auch zu Häberle, Die Kontroverse um die Reform des deutschen Grundgesetzes (1991 / 92), ZfP 39 (1992), 233 ff. (236), und Mahrenholz, a.a.O. (Fn. 20). 42 "In der bloßen Beteiligung an dem durch eine Verfassung bestimmten öffentlichen Leben kann z. B. eine konkludente Handlung erblickt werden, durch welche der verfas-

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Von der ersten Bundestagswahl 1949 bis zur zwölften im Dezember 1990 hat das deutsche Volk dieses konkludente Verfassungsplebiszit immer wieder vollzogen, zunächst nur im Westen Deutschlands, dann auch in seinem östlichen Teil. Die Zustimmung des deutschen Volkes in Ost und West hat auch der bewußt gewählte Weg seiner staatlichen Wiedervereinigung in Gestalt des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gefunden - im Osten Deutschlands bereits mit der ersten freien Wahl am 18. März 1990. Daß das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung "erwuchs", war die ebenso notwendige wie gewollte Folge dieses Weges über Art. 23 GG.43 Vom Volke bestätigt worden sind damit der Anspruch und das Selbstverständnis des Parlamentarischen Rates, mit der Verabschiedung des Grundgesetzes - in den Worten Carlo Schmids 44 - "eine gesamtdeutsche, nicht eine ,westdeutsche' Aufgabe" erfüllt zu haben und darum auch gehandelt zu haben "in Stellvertretung für jene Deutschen, die verhindert waren, ihn (also den Parlamentarischen Rat) zu beschicken". Danach sollte die demokratische Legitimität des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung nicht mehr in Zweifel gezogen werden. 45 Wie keine deutsche Verfassung zuvor bezog und bezieht das Grundgesetz seine normative Kraft aus der breiten und dauerhaften Zustimmung des Volkes. In der Tat: "Es kann keine Verfassung geben, die nicht durch das Volk angenommen worden ist." Geschichte und Gegenwart der Akzeptanz des Grundgesetzes durch das Volk geben dem jakobinischen Satz einen neuen und guten Sinn, wenn er denn nicht formalistisch und kurzatmig-punktuell nur auf das einmalige Verfassungsplebiszit bezogen und beschränkt wird. sunggebende Wille des Volkes sich deutlich genug äußert." (earl Schmitt, Verfassungslehre, 1928 [Nachdruck 1957], S. 91). Zur Geschichte des ,,konkludenten Plebiszits" vgl. Zweig (Fn. 32), S. 44. Zum Ganzen: Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966, S. 61 mit Fn. 78. 43 Eckart Klein (An der Schwelle zur Wiedervereinigung Deutschlands, NJW 1990, 1065 ff., 1069) spricht von einem "Verfahren sukzessiver Legitimationsanreicherung". 44 Die politische und staatsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1949,201 ff. (202). Dazu auch v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Einl. S. 10. 45 Übereinstimmend: Badura, Die Verfassungsfrage im wiedervereinigten Deutschland, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1991/2, S. 27 ff. (42); Isensee (Fn. 26), S. 78; Degenhart, Verfassungsfragen der deutschen Einheit, DVBl. 1990, 973 ff. (976); Paul Kirchhof, Der Auftrag zur Rechtseinheit im vereinten Deutschland, in: Kirchhof / Klein / Raeschke-Kessler, Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende Rechtsprobleme, 1991, S. 3 ff.; Ossenbühl, DVBl. 1992, 468 ff.; Schiedermair, Hände weg vom Grundgesetz, Die politische Meinung 37 (1992), 17 ff. (21 ff.); Zippelius, Deutsche Einheit und Grundgesetz, BayVBl. 1992, 289 ff. (291). - Zur demokratischen Legitimität des GG vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vgl. Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz, 1949, S. 26 f. (Nachdruck in: Über das Grundgesetz - wie Fn. 29-, S. 1 ff., 20 f.); Hans Schneider, Fünf Jahre Grundgesetz, NJW 1954, 937 f.; Kloepfer, Zur historischen Legitimation des Grundgesetzes, ZRP 1983,57 ff. (59); Steiner (Fn. 37), S. 61; Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1987, S. 219 ff. (255 ff.).

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Bevor wir zu den verfassungspolitischen Aspekten des Themas übergehen, müssen wir noch einige Frage de constitutione et lege lata aufgreifen. Das muß, das kann aber auch kurz geschehen.

Erstens sei noch einmal in Erinnerung gerufen: Art. 23 hat von Anfang an einen zweiten und von Art. 146 GG alter Fassung unabhängigen Weg der staatlichen Wiedervereinigung eröffnet. Die Forderung, bei der Wiedervereinigung Deutschlands müsse in jedem Falle ein Verfassungsplebiszit stattfinden, konnte daher nie aus Art. 146 GG a. F. abgeleitet werden. Im Blick auf ein (nach Art. 23 GG) weitergeltendes Grundgesetz war diese Folgerung immer falsch; im Blick auf eine neue Verfassung war die Folgerung nie zwingend. Zweitens: Artikel 146 GG n. F. enthält keinerlei Verpflichtung, das Grundgesetz durch eine neue Verfassung abzulösen. Weiterhin verpflichtet auch die neue Fassung des Art. 146 GG nicht zu einem Verfassungsplebiszit - weder für eine neue, das Grundgesetz ablösende Verfassung noch gar mit Bezug auf die geltende Verfassung in Gestalt des Grundgesetzes. Drittens: Auch der Einigungsvertrag verpflichtet weder zur Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung noch zu einem Verfassungsplebiszit. Art. 5 EV spricht lediglich eine Empfehlung der Bundesregierung und der Regierung der DDR an die "gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands" aus: Die beiden Regierungen empfehlen Bundestag und Bundesrat, "sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen". Zu den vier Fragenkomplexen, mit denen sich zu beschäftigen "insbesondere" empfohlen wird, gehört an letzter Stelle die ,,Frage der Anwendung des Art. 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung." Wo also in der verfassungspolitischen Debatte davon gesprochen wird, daß es einen "Auftrag" des Grundgesetzes gebe, auf einem plebiszitären Weg zu einer (neuen) Verfassung zu kommen,46 oder davon, das Grundgesetz "verlange" einen Akt der Verfassunggebung durch das ganze Volk,47 da handelt es sich um 46 So die "Denkschrift zum Verfassungsentwurf' , hrsg. vom Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, in: Bernd Guggenberger / Ulrich K. Preuß / Wolfgang Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland. Manifest - Text - Plädoyers, 1991, S. 21 ff. (36). - Der Korreferent Hans-Peter Schneider gehörte der ,,Redaktionsgruppe" an, die gemeinsam mit einem ,,Arbeitsausschuß" den Verfassungsentwurf des "Kuratoriums" erarbeitet hat; vgl. "Denkschrift" a.a.O., S. 34. Vgl. auch H.-P. Schneider, Die Zukunft des Grundgesetzes. Bedarf die Verfassung einer Bestätigung?, in: Guggenberger / Stein (Hrsg.), a.a.O (Pn. 20), S. 130 ff. 47 So der Abg. Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/ DIE GRÜNEN) in mehrfachen Äußerungen. Siehe z. B.: Das Volk muß die Möglichkeit haben, ja zu sagen, in: Guggenberger u. a. (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland (Pn. 46), S. 18:" Das Grundgesetz verlangt ... , auch den Bundesländern, die am Entwurf und der Inkraftsetzung des Grundgesetzes nicht teilnehmen konnten, das Recht freier und gemeinsamer Selbstbestimmung zu eröffnen, so daß am Ende dieses Prozesses in freier Entscheidung das

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Vorstellungen, über die als politische Forderungen gestritten werden kann. Als verfassungsrechtliche Aussagen sind sie ohne Grundlage. III.

Verfassungsrechtlich gibt es also keine Notwendigkeit, das Grundgesetz durch eine neue Verfassung abzulösen. Verfassungspolitisch - so meine ich - spricht vieles und Gewichtiges dafür, das Grundgesetz als das beizubehalten, was es ist: die Verfassung des vereinten, des ganzen Deutschlands. Stabilität und Kontinuität der Verfassung gehören zur Essenz des Verfassungsstaates. Daß die Verfassung ein fester und tragfähiger Pfeiler ist, der dem Strom der politischen Veränderungen und des rechtlichen Wandels standhält, der diesem Strom einerseits Freiheit läßt, ihm andererseits aber auch Richtung gibt und der ihm notfalls auch hemmenden Widerstand entgegensetzt: das ist die Erfahrung des Bürgers mit der Verfassung, und das ist seine Erwartung an die Verfassung. Stabilität und Kontinuität der Verfassung heißt dabei nicht: Starrheit, hermetische Abgeschlossenheit, Anpassungsunfähigkeit der Verfassung. Gerade wenn eine Verfassung ihre dirigierende Kraft gegenüber dem politischen Prozeß und dem staatlichen Recht über den Wechsel der politischen Lagen behalten und erhalten will, muß sie ein Stück offen, flexibel und anpassungsfähig sein - für weiterführende Auslegung und stillen Wandel, auch für wohlerwogene und auf einen breiten Konsens gestützte Änderungen. Von all dem bleiben das Fundament der Verfassung, ihre Geltungsgrundlage, und ihre Identität unberührt. Fundamental anders wäre es, wenn das Grundgesetz durch einen Akt der Verfassunggebung und damit durch eine neue Verfassung abgelöst würde. Dann würde das alte Verfassungsfundament bewußt aufgegeben; die Kontinuität der Verfassung und auch des Verfassungsbewußtseins wäre unterbrochen. Das sei doch alles kein Anlaß zu Aufregung, sagt man uns. Es gehe doch nicht darum, das Grundgesetz auf den Kopf zu stellen. 48 Gelegentlich ist gar zu ganze Volk eine gemeinsame Verfassung aller deutschen Länder in Kraft setzen kann." Im gleichen Sinne seine Erklärungen im Deutschen Bundestag (12. Wahlp., 61. Sitzung vom 28.11.1991, Steno Bericht S.5255 C) und in der konstituierenden Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 16.1.1992 (Sten. Bericht S. 17). - Die Tendenz, dem Art. 146 GG alter wie neuer Fassung eine Dominanz auch über Art. 23 GG einzuräumen und auf diesem Wege zur Notwendigkeit eines Verfassungsplebiszits zu kommen, ist auch durchgehend in den Äußerungen des Abg. Dr. Vogel (SPD) zu erkennen. Er vermeidet allerdings eine völlig präzise Festlegung und entzieht sich damit auch einem eindeutigen verfassungsrechtlichen Widerspruch. Siehe dazu die Äußerung Vogels in der 61. Sitzung des 12. Deutschen Bundestages am 28.11.1991 (Sten. Bericht S. 5251 D und S. 5252 C) und in der 1. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 16.1.1992 (Sten. Bericht S. 7 und 8). 48 So die Äußerung des Bundespräsidenten in seiner Fernsehansprache zum "Tag der Deutschen Einheit 1991", vgl. Richard V. Weizsäcker (Fn. 23), S. 57 ff., 59.

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hören, das Ganze laufe ohnedies nur auf "Verfassungskosmetik" hinaus. Mich kann das freilich nicht beruhigen. Kosmetische Operationen haben so manches in Ehren alt gewordene Gesicht glatt verunstaltet, es gelegentlich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Aber von diesen zweifelhaften Erfahrungen ganz abgesehen, bliebe für eine neue Verfassung entscheidend, daß sie ungeachtet aller Ähnlichkeiten oder gar partiellen Textübereinstimmungen mit dem Grundgesetz auf einer neuen Geltungsgrundlage beruhte. Nicht die Kontinuität, sondern der Wechsel in der verfassungsrechtlichen Fundierung des politischen Gemeinwesens ist das Ziel der Verfechter einer "neuen Verfassung" . Wenn sie gezielt die Bezeichnung "Grundgesetz" auf- und preisgeben wollen, dann wird darin der beabsichtigte Kontinuitätsbruch für jedermann erkennbar und ins Bewußtsein gehoben. Was die Folgen Isolcherart Diskontinuität der Verfassung wären, hat sich so mancher offenbar noch nicht überlegt, der fröhlich-unbekümmert zur "Verfassungsdebatte" mit dem Ziel einer "Neukonstituierung der Bundesrepublik Deutschland" rät und ermuntert. Ich kann hier nur auf einen Punkt eingehen. Daß das Grundgesetz als rechtliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland Leben und durchdringende Kraft gewonnen hat, ist nicht zuletzt das Verdienst des Bundesverfassungsgerichts. Seine Rechtsprechung hat eine rechtliche Bindungswirkung für alle Staatsorgane, Behörden und Gerichte, die mit den Wirkungen der Entscheidungen anderer, "normaler" Gerichte schlechterdings unvergleichbar ist. Über § 31 BVerfGG bildet diese Judikatur das dicht geknüpfte Netz des real geltenden Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Das entfiele mit einem Schlage bei einer Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung. Denn Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung heißt auch: tabula rasa für die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verblaßte zu rechtshistorischem Material. Natürlich würde ein neues Verfassungsgericht des Bundes vieles aus der Judikatur seiner Vorgängerinstitution übernehmen - schon aus Gründen der Arbeitsökonomie. Entscheidend aber wäre, daß es keine rechtliche Bindung mehr an diese Judikatur gäbe - auch für das Gericht selbst nicht. Bis dato ist das Bundesverfassungsgericht gehalten, um der Kontinuität der Verfassung willen und zur Vermeidung von Brüchen in der Rechtsentwicklung seine eigene Rechtsprechung nicht sprunghaft zu ändern, sondern behutsam fortzuentwickeln und punktuell zu korrigieren. All das könnte rechtlich dann nicht mehr gelten, wenn mit einer neuen Verfassung auch die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine neue Grundlage gestellt würde. Denn die Stunde Null einer neuen Verfassung ist auch die Stunde Null für die Verfassungsgerichtsbarkeit. 49 49 Ebenso: Isensee (Fn.26), S.65; Würtenberger, Art. 146 GG n. F.: Muß unser Grundgesetz einer Volksabstimmung unterworfen werden?, in: Politische Studien, Sonderheft 2/1991, S. 24 ff. (25). Gegen den Kontinuitätsbruch nicht zuletzt in der Rechtsprechung des BVerfG: Erleh Bülow, Die Entstehungsgeschichte des Art. 146 GG n. F., in: Stern (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 26), S. 49 ff. (50).

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Nach dieser Überlegung brauche ich gewiß nicht im einzelnen zu erwägen, welche Auswirkungen eine solche bewußt herbeigeführte Diskontinuität der Verfassung auf das Verfassungsbewußtsein des Volkes und seinen Willen zur Verfassung hätte - jeder von uns kann sich das leicht ausmalen. In einer Zeit, in der man erst allmählich des riesenhaften Trümmerhaufens gewahr wird, den das zusammengebrochene sozialistische Regime hinterlassen hat - sichtbar in verfallenden Städten, schmerzlich spürbar in den wirtschaftlichen Verhältnissen und deren sozialen Folgen, leidvoll erlebt auch in den seelischen Verletzungen, die es mit bleibenden Wunden und Narben so vielen Menschen zugefügt hat -; in einer Zeit, in der so vieles aus den Fugen und so manches auch im Gleiten ist, in der es ungeheure Aufgaben der Rechtsanpassung nicht nur in der Gesetzgebung des Bundes und der östlichen Länder gibt, sondern vor allem auch im praktischen Vollzug des täglichen Lebens auf fast allen Feldern - in einer solchen Zeit einen der wenigen Stabilitätsanker ohne Not zu lockern und austauschen zu wollen, halte ich für geradezu mutwillig und politisch für meht als unklug. \

Spätestens an dieser Stelle wird man mir entgegenhalten, das ganze Vorhaben, seine Ziele und Effekte, seien grob verkannt. Es gehe doch darum, daß die jetzt vereinte deutsche Nation erst zu sich selbst finden und sich politisch neu konstituieren müsse. Verfassunggebung und zugehörige Verfassungs debatte seien Akte nationaler Identitätsstiftung und innerer Integration der Deutschen. Ich halte das - es sei mit allem Respekt, aber auch mit gleicher Deutlichkeit gesagt - bestenfalls für eine fromme Selbsttäuschung. Wo ist denn das Bedürfnis nach Integration durch plebiszitäre Verfassunggebung real vorhanden? Ich sage zugespitzt: Nur in den Köpfen derer, die es behaupten, nicht aber im Volke, um dessen politische Selbstvergewisserung und um dessen Willen zur Verfassunggebung es doch angeblich geht. Kaum jemand wird ernstlich behaupten wollen, daß die in politischen Parteien und Zirkeln, in politischen und kirchlichen Akademien und schubweise auch in den Medien geführte "Verfassungsdebatte" das "Volk" wirklich erreicht und bei ihm einen politischen Nerv berührt hätte. Der Bundespräsident hat ein "für meine Bedürfnisse entschieden zu geringes Interesse in der breiteren Öffentlichkeit" beklagt,50 damit aber keine Änderung in Einstellung und Verhalten der Bevölkerung bewirkt. Ebenso hat Ministerpräsident Stolpe mehrfach öffentlich bedauert, daß die Verfassungsberatungen in Brandenburg ein so minimales Echo in der Bevölkerung ausgelöst hätten - und das, obwohl doch gerade diese Verfassungsarbeit von Anfang an mit plebiszitären Offerten zur Mitwirkung des Volkes einlud. Auch das brandenburgische Verfassungsplebiszit vom 14. Juni 1992 hat an diesem Eindruck wenig geändert: Trotz einer vierwöchigen "Informationsof50 Richard v. Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Wemer A. Perger,

1992, S. 142 f.

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fensive" des Landtags 51 und nachhaltigen 52 Aufforderungen, an der Volksabstimmung über die Landesverfassung teilzunehmen, hat sich nicht einmal jeder zweite Stimmberechtigte an dieser - in den werbenden Worten des Landtagspräsidenten - "höchsten Form demokratischer Mit(!)bestimmung" beteiligt 53 - ein enttäuschendes Ergebnis nicht nur für die Anhänger plebiszitärer Entscheidungsformen. Aber wer möchte dem brandenburgischen Landtagspräsidenten widersprechen, wenn er das geringe Interesse am Verfassungsplebiszit in Brandenburg im nachhinein damit begründet hat, daß die Menschen, "andere Probleme viel unmittelbarer berühren, sie umtreiben."54 In der Tat: Die Bevölkerung, und zumal in den östlichen, den sogenannten "neuen" Ländern der Bundesrepublik Deutschland, sie hat andere Sorgen und andere Probleme, als jetzt eine breite Debatte über eine neue deutsche Verfassung als Akt der inneren Integration zu führen. Zu ihrer Ernüchterung mag auch die Erfahrung beigetragen haben, die ein früheres Mitglied der Bürgerbewegung in der DDR mit dem Satz umschrieben hat: "Geradezu paradox erscheint mir heute der Eifer unserer Runden Tische bei der Schaffung diverser Verfassungen, während die Gegenseite Machtpositionen, Immobilien, Versorgungsansprüche und Akten für den anbrechenden Rechtsstaat sicherte." 55 Ich hielte es für deplaziert, ja für hochmütig, den Deutschen in Ostdeutschland deshalb ein noch nicht voll entwickeltes politisches (Selbst-)Bewußtsein, demokratischen Nachholbedarf oder ähnliche Defizite und Defekte - und wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand - anhängen zu wollen. Könnte es nicht sein, daß "das Volk" gerade in Ostdeutschland einen sicheren Instinkt dafür hat, daß die gegenwärtigen Probleme auch und gerade auf dem schwer zu fassenden Felde der sog. "inneren" Integration, der nationalen Einheitsfindung der Deutschen nach der staatlichen Wiedervereinigung, weder ihren Ursprung in angeblichen Defiziten des Grundgesetzes haben noch durch verfassungsrechtliche Debatten und Rezepte geklärt, geschweige denn gelöst werden können? Eine Flucht aus und vor der Kärmerarbeit der Politik in die lichten Höhen der Verfassunggebung kann nicht gelingen. 51 Vgl. FAZ Nr. 136 v. 13.6.1992, S. 6. 52 Ungewöhnlich die in Fonn eines offenen Briefes an die "liebe(n) Mitbürgerinnen" und "liebe(n) Mitbürger" abgefaßte und im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlichte Aufforderung des Landtagspräsidenten, die im Blick auf einige Fonnulierungen weiteren Anlaß zu staunendem Nachdenken gibt; vgl. Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Brandenburg 1992, Teil I, S. 122. 53 Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis 47,94 v. H. der Stimmberechtigten (vgl. FAZ Nr. 138, S. 4, und FR Nr. 138, S. 1, beide vom 16.6.1992). Die - ohnedies nicht hochgeschraubten - Erwartungen der größten Regierungspartei und des Ministerpräsidenten, daß sich zumindest ,,50 plus x Prozent" der Stimmberechtigten am Verfassungsplebiszit beteiligen würden (vgl. FAZ Nr. 136 v. 13.6.1992, S. 6, und Nr. 138 v. 18.6.1992, S. 4), haben sich nicht erfüllt. 54 Vgl. FAZ Nr. 136 v. 13.6.1992, S. 6. 55 So der Abgeordnete des Sächsischen Landtags Matthias Röss1er: "Hinter Befindlichkeiten stecken Besitzstände", FAZ Nr. 206 vom 4.9.1992, S. 36.

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Es ist "eine Illusion zu glauben, die entscheidenden Fragen unseres Volkes seien in dieser Verfassungs-Diskussion eingefangen." Und: ,,zu glauben, die innere Einheit werde über eine Verfassungsdiskussion wesentlich befördert, halte ich" ebenfalls "für eine Illusion". Das ist nicht die Sicht eines indolenten Südwestdeutschen, der für die Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten der Deutschen in der zusammengebrochenen DDR kein Gespür hat; das ist vielmehr die Einschätzung des sächsischen Justizministers Steffen Heitmann,56 die ich teile - die Einschätzung eines Mannes also, der nicht im Verdacht steht, parteipolitische Positionen als eigene Urteile auszugeben. Daß erst der Prozeß der gemeinsamen Verfassunggebung erzeuge, was die Verfassung voraussetze, nämlich sich wechselseitig als Gleiche anerkennende Bürger und die daraus resultierenden Solidarpflichten (Ulrich K. Preuß57), ist in einem doppelten Sinne pure Verfassungs-Theorie. Gelegentlich verhüllt die verfassungstheoretische Begründung auch lediglich, daß gegenwärtig vielfach nur Ladenhüter der verfassungspolitischen Vorstöße und Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte in Westdeutschland wieder hervorgeholt, abgestaubt, gesamtdeutsch aufgeputzt und dann als neue Modelle ausgegeben werden. In Wirklichkeit sind weder die Themen "Staatsaufgaben und Staatsziele" noch die "sozialen Grundrechte" noch auch die plebiszitären Mitwirkungs- und Entscheidungsverfahren neue Gegenstände der verfassungspolitischen Debatte. 58 An dieser Tatsache ändert auch der Umstand nichts, daß uns diese Themen jetzt häufig als verfassungspolitische Vorstellungen und Postulate der "Runden Tische" aus der Endzeit der DDR präsentiert werden, die deshalb verständnisvolle Aufnahme erwarten dürften. Es darf daran erinnert werden, daß in die Verfassungsentwürfe der "Runden Tische" viel Gedankengut eingeflossen ist, das aus Westdeutschland, der "alten" Bundesrepublik, stammende verfassungsrechtliche "Berater" importiert und implantiert haben. Und es erstaunt schon ein wenig, wenn heute teilweise dieselben Personen, wenn auch in neuer Rolle, die bevorzugte Berücksichtigung dieser Verfassungsentwürfe als einen Akt der Integration ostdeutscher Erfahrungen und Vorstellungen in das gesamtdeutsche Verfassungswerk fordern. 56 Gemeinsame Verfassungskommission, 1. Sitzung am 16.1.1992, Steno Bericht

S. 12 f.

57 Verfassungsdiskussion in Deutschland, hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung, 1992, S. 29 ff. (30 f.). 58 Übereinstimmend: Würtenberger, Art. 146 GG n. F.: Kontinuität oder Diskontinuität im Verfassungsrecht?, in: Stern (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 26), S. 95 ff. (106). Zum Thema "Staatszielbestimmungen" vgl. den Bericht der Sachverständigen-Kommission "Staatszielbestimmungen - Gesetzgebungsaufträge", hrsg. vom Bundesminister des Innem und vom Bundesminister der Justiz, Bonn 1983; zum Thema "Soziale Grundrechte" die Nachweise Z. B. bei Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rdnr. 208 (S. 85) inFn. 25; zur Forderung nach dem Einbau plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz: Rudolf Wassermann, Die Zuschauerdemokratie, 1986 (Taschenbuchausgabe 1989). Auf weitere Nachweise der uferlosen Literatur kann hier verzichtet werden.

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Bevor wir noch einmal auf Art. 146 GG in seiner neuen Fassung zurückkommen, sollten wir uns vorweg von einer Fehlannahme freihalten, die da und dort absichtsvolllanciert wird. Da heißt es: Es sei schon deshalb eine gerade gegenüber den Deutschen in der früheren DDR bestehende Verpflichtung und ein Gebot redlicher Vertragstreue, das Grundgesetz abzulösen durch eine volksbestätigte neue Verfassung, weil die Neufassung des Art. 146 GG schließlich mit der DDR im Einigungsvertrag vereinbart worden sei. Demgegenüber sollte nicht nur heute die bemerkenswerte Tatsache in Erinnerung behalten werden, daß mit der Neufassung (statt Aufhebung) des Art. 146 GG nicht einer Forderung der Regierung der DDR entsprochen wurde, sondern eine conditio sine qua non erfüllt wurde, von der die (Bonner) SPD ihre notwendige Zustimmung zum Einigungsvertrag in Bundestag und Bundesrat abhängig gemacht hatte. 59 Da ich aus dem Saarland komme, mag ich zu diesem Vorgang mehr nicht sagen. Fragen wir jetzt also, welcher legitimatorische Gewinn, welcher demokratische "Mehrwert" eigentlich zu erwarten wäre von einem Verfassungsplebiszit, zu dem Art. 146 GG in seiner neuen Fassung durch den Einigungsvertrag zwar nicht verpflichtet, aber doch die Tür offenhält. Dazu eine Feststellung vorweg: Ehe eine das Grundgesetz i. S. seines Art. 146 n. F. ablösende neue "Verfassung" einer Volksabstimmung zugänglich gemacht werden kann, muß sie zunächst von den gesetzgebenden Körperschaften beschlossen sein, und zwar im Verfahren des Art. 79 GG, also mit den Zweidrittel-Mehrheiten des Absatzes 2 in Bundestag und Bundesrat und innerhalb der inhaltlichen Grenzen des Absatzes 3. 60 Konrad Hesse hält eine Volksabstimmung auch dann für möglich, wenn die durch verfassungs änderndes Gesetz geschaffene ,,neue" Verfassung bereits in Kraft getreten ist. Dann hätte der Volksentscheid nur eine deklaratorische oder besser gesagt: eine bloß deklamatorische Bedeutung. Denn selbst bei einem wuchtigen "Nein" bliebe das Plebiszit ohne rechtliche Wirkung; die von den 59 Zu Einzelheiten vgl. Bülow, a.a.O. (Fn. 49), S. 51 ff., 57 f., Isensee (Fn. 26), S. 84. S. auch Bartlsperger, DVBI. 1990, 1285 ff. (1288). 60 Vgl. statt aller: Hesse a.a.O (Fn. 58); Isensee (Fn.26), S. 85 ff.; Ress, Stichwort "Grundgesetz", in: Weidenfeld/Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, 1991, S. 356 ff. (360); Schnapauff, Der Einigungsvertrag, DVBI. 1990, 1249 ff. (1252); Stern, Deutsch-Deutsche Rechtszeitschrift 1990, 289 ff. (293 f.). Eine Auslegung, wonach Art. 146 n. F. den jederzeitigen Rekurs auf den (durch Art. 79 GG) nicht eingeschränkten pouvoir constituant habe freigeben wollen, müßte zur Annahme einer verfassungswidrigen Verfassungsnorm führen, weil dann der (verfassungsgebundene!) verfassungsändernde Gesetzgeber des Einigungsvertrags mit Art. 4 Nr. 6 EV (= Art. 146 GG neu) ultra vires gehandelt und sich verfassungswidrig über Art. 79 GG hinweggesetzt hätte. Vgl. z. B. Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt in Deutschland, DVBI. 1990, 1285 ff. (1300 f.); Zippelius, Brauchen wir eine neue Verfassung?, in: Politische Studien, Sonderheft 2/ 1992, S. 29 ff. (32); Isensee (Fn. 26), S. 75 mit weiteren Nachweisen.

Verfassunggebung oder Verfassungsändeiimg?

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gesetzgebenden Körperschaften geschaffene "neue" Verfassung, genauer: das im Verfahren nach Art. 79 GG u. U. totalrevidierte und umbenannte Grundgesetz wäre auch in diesem Falle die fortan geltende Verfassung. Das ist die rein verfassungsrechtliche Betrachtung der Sache. Verfassungspsychologisch und verfassungspolitisch wäre das negative Plebiszit allerdings von verheerender Wirkung für den Geltungs- und Legitimationsanspruch der "neuen" Verfassung. Hesse meint, 61 auch einer solchen deklaratorischen Volksabstimmung käme eine bedeutende Funktion zu: "Den Stimmberechtigten in den neuen Bundesländern würde Gelegenheit gegeben, zum Ausdruck zu bringen, daß auch sie das Grundgesetz als ,ihre' Verfassung ansehen." Kann man, ja darf man wirklich solche Erwartungen hegen? Darf man gerade den Deutschen im Osten unseres Landes eine Volksabstimmung zumuten, in der nur rechtlich wirkungslose Bekenntnisse abgelegt werden können? Und welchen Wert hätte ein solches Bekenntnis, wenn es - wie zu erwarten - bei nur dürftiger Abstimmungsbeteiligung zustandekäme? "Volksenttäuschung" wäre das mindeste, was ich mit einem solchen Volksentscheid assoziieren würde. In meinen Augen käme er einer Verhöhnung des Volkes nahe. 62 Konstitutiven Charakter hat der Volksentscheid nur dann, wenn ein positives Verfassungsplebiszit Geltungsvoraussetzung und Geltungsgrund für die neue Verfassung ist. Auch in diesem Falle ist ihr Legitimitätsgewinn jedenfalls dann gering, wenn die Abstimmungsbeteiligung niedrig bleibt. Was könnte eine nach Art. 79 Abs. 2 GG und also im Parlament mit den Stimmen der Mehrheitsfraktionen und der Opposition und mit dem starken Mehr der Länderstimmen im Bundesrat beschlossene Verfassung - was könnte sie an demokratischer Legitimität hinzugewinnen durch eine Volksabstimmung, bei der schon heute alle realistisch Denkenden bangen, ob sich denn auch nur jeder zweite Stimmberechtigte ins Abstimmungslokal wird locken lassen! Schon werden Überlegungen diskutiert, ein etwaiges Verfassungsplebiszit mit der Bundestagswahl zu verbinden, um dadurch wenigstens eine halbwegs respektable Abstimmungsbeteiligung zu sichern. Und gleichzeitig fürchtet man, daß "Denkzettelstimmen" sich auch beim Verfassungsplebiszit negativ auswirken könnten. Ein demokratischer status quo minus der neuen Verfassung wäre das Ergebnis. 63 Selbst bei einer komfortablen Abstimmungsbeteiligung und einer klaren Mehrheit für die neue Verfassung ist zu bedenken, daß die demokratische Verfassung ihre Lebens- und Wirkkraft auf Dauer nicht aus dem formalen Akt einer einmaligen Volksabstimmung und Volkszustimmung erhält und behält. Entscheidend A.a.O (Fn. 58), S. 41. Höchst skeptisch z. B. auch Degenhart, DVBI. 1990,973 ff. (977). 63 Im Ergebnis gleiche Einschätzung bei Würtenberger, a.a.O (Fn. 58), und Isensee, VVDStRL 49 (1990) 58, der ebenso sarkastisch wie zutreffend von der Verabreichung eines "demokratischen Placebo" und der "Entlegitimation durch Verfahren" spricht. 61

62

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ist vielmehr, ob und daß sich ihre demokratische Legitimation im plebiscite de tous les jours immer wieder erneuert und bewährt, um ihre normative Kraft dauerhaft zu bewahren. 64 Gerade dies ist dem Grundgesetz bisher so hervorragend gelungen. Es gibt verständliche Gründe dafür, daß das Volk sehr viel weniger Enthusiasmus für das Verfassungsplebiszit aufbringt als dessen Hohepriester und Schriftgelehrten in der Verfassungstheorie und dessen Leviten in der Verfassungspolitik. Den souveränen Akt der Verfassunggebung durch Volksentscheid erlebt das Volk sehr viel nüchterner als demokratische Akklamation zu einem abgeschlossenen, nicht mehr veränderbaren Verfassungstext. Es spürt, daß von ihm nichts anderes als ein pauschales ,)a und Amen" erwartet wird; ein "Nein" liegt im Grunde außerhalb des politischen Kalküls. "Das Volk muß Ja' sagen können" - so lautet die bezeichnende Überschrift zu den Plädoyers für ein Verfassungsplebiszit. 65 Würde das Volk nein sagen, so wäre in unserer konkreten Situation der Schaden nicht allzu groß; denn es entstünde ja kein verfassungsrechtliches Vakuum. Das Grundgesetz wäre nicht abgelöst; es würde unverändert fortgelten als" Verfassung aller Deutschen". Aber es bliebe bei dieser Prozedur nicht unbeschädigt. Denn auch die notwendigen Anpassungen seines Inhalts - etwa im Bund-LänderVerhältnis, vor allem in seiner Finanzverfassung - wären mit dem negativen Volksentscheid bachab gegangen und müßten nun im normalen Verfahren der verfassungs ändernden Gesetzgebung (Art. 79 GG) ohne unmittelbare Mitwirkung des Volkes nachgeholt werden - ein für das Volk gewiß nur schwer begreiflicher Vorgang. Vor allem aber müßte das Grundgesetz dadurch Schaden nehmen, daß es in der politischen Werbung für die neue Verfassung dargestellt würde als historisch überholt, zumindest in Teilen zukunftsuntauglich und als von Anfang an und bis auf den heutigen Tag mit jenem ominösen "demokratischen Geburtsmakel" behaftet. Das geschieht ja bereits heute, und das kann nicht folgenlos für seine weitere Akzeptanz und seine Autorität bleiben. Auch wo solche Relativierungen und Herabsetzungen des Grundgesetzes unbedacht erfolgen, sind sie nicht nur läßliche Sünden am Verfassungsgedanken. Wer gar meint,66 im Falle eines negativen Verfassungsplebiszits bestünde verfassungsrechtlich die Situation der tabula rasa mit der Folge, daß dann die verfassunggebende Gewalt des Volkes dazu berufen sei, in inhaltlicher Ungebundenheit das verfassungsrechtliche Vakuum zu füllen, der betreibt politisch ein va-banque-Spiel und geht verfassungsrechtlich in die Irre. Denn Art. 146 GG Vgl. Isensee (Fn. 26), S. 80. S. auch Zippelius, BayVBI. 1992,289 ff. (291). Ernst Gottfried Mahrenholz, a.a.O. (Fn. 20); fast wortgleich: Wolfgang Ullmann, Das Volk muß die Möglichkeit haben, ja zu sagen, a.a.O (Fn. 47), S. 18 ff. 66 Wie z. B. Rainer Wahl, Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, StWStPr. 1990, 468. Entschieden ablehnend: Badura (Fn. 45), S. 41 f. 64 65

Verfassunggebung oder Verfassungsänderung?

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neuer Fassung entfesselt nicht die originäre verfassunggebende Gewalt des Volkes. 67 Wer solches will, bewegt sich außerhalb der verfassungsrechtlichen Legalität. Einen einzigen, wenn auch bescheidenen Nutzen kann ich einem Verfassungsplebiszit und damit einer neuen Verfassung abgewinnen. Er besteht darin, daß mit einem solchen Volksentscheid Art. 146 GG n. F. "verbraucht" wäre. Diese Verfassungsnorm könnte dann nicht mehr als Katalysator für eine Auffassung benutzt werden, die verfassungsrechtlich zwar ebenso abwegig ist, wie sie verfassungspolitisch fatal wäre, die aber dennoch bei passender Gelegenheit politisch (re-)aktiviert werden könnte - die abenteuerliche Auffassung nämlich, das Grundgesetz reiche mit Art. 146 n. F. selbst die Hand zu seiner verfassungslegalen Abschaffung mit einfacher Mehrheit - wenn und wann immer das Volk diese Hand mit verfassunggebender Gewalt ergreife. Die Grenze zwischen verfassungslegaler Verfassungsänderung und revolutionärer Verfassunggebung wäre nach der Erledigung des Art. 146 GG wieder unmißverständlich klar.

Thesen 1. Das Grundgesetz ist die Verfassung des geeinten Deutschlands. Es muß

nicht erst zu ihr "weiterentwickelt" oder gar durch eine neue Verfassung abgelöst und ersetzt werden.

2. Das Grundgesetz hat sich von Anfang an als potentielle gesamtdeutsche Verfassung verstanden. Es ist durch die Ausdehnung seines räumlichen Geltungsbereichs gern. Art. 23 Satz 2 zur gesamtdeutschen Verfassung geworden, ohne daß es dazu eines zusätzlichen plebiszitären Aktes bedurft hätte oder noch bedürfte. 3. Die These, das vereinigte Deutschland sei nicht einfach eine Fortsetzung der alten Bundesrepublik, und ein neues Gebilde brauche auch eine neue Verfassung, ist als verfassungsrechtliche Aussage unhaltbar. Die Bundesrepublik Deutschland und mit ihr das Grundgesetz haben ihre Identität durch den Beitritt der DDR nach Art. 23 Satz 2 GG nicht verändert oder eingebüßt. 4. Das Grundgesetz leidet nicht an einem fortwirkenden Geburtsmakel. Es ist durch das Volk legitimiert. Es bedarf keiner heilenden Legitimation durch nachträglichen Volksentscheid. 5. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes läßt sich nicht auf das duale Handlungsmuster beschränken: Entweder Erlaß der Verfassung durch eine unmittelbar volksgewählte verfassunggebende Versammlung oder Verfassungsplebiszit. 67 Übereinstimmend: Badura (Fn. 45), S. 42; Isensee (Fn. 26), S. 92. Vgl. weiter z. B. Schnapauff, DVBl. 1990, 1249 ff. (1252), und die Diskussion zu den Referaten von Isensee und Würtenberger, in: Stern (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 26), S. 111 ff.

3 Klein (!Irsg.)

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6. Der Satz "Keine Verfassung ohne Verfassungsplebiszit" ist kein demokratisches Dogma mit (vor-)verfassungsrechtlicher Geltung. 7. Auch und gerade die Verfassung muß "vom Volke ausgehen". Aber die Idee der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und die Vorstellung der Repräsentation des Volkes sind kompatibel. 8. Das deutsche Volk hat von der ersten Bundestagswahl1949 bis zur zwölften im Dezember 1990 ein konkludentes Verfassungsplebiszit immer wieder vollzogen. 9. Die Forderung, bei der Wiedervereinigung Deutschlands müsse in jedem Fall ein Verfassungsplebiszit stattfinden, konnte aus Art. 146 GG alter Fassung nicht abgeleitet werden. Im Blick auf ein weitergeltendes Grundgesetz war die Folgerung immer falsch; im Blick auf eine neue Verfassung war die Folgerung nie zwingend. 10. Art. 146 GG neuer Fassung und auch der Einigungsvertrag verpflichten weder zur Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung noch zu einem Verfassungsplebiszit. 11. Stabilität und Kontinuität der Verfassung gehören zur Essenz des Verfassungsstaates und zur Verfassungserwartung des Bürgers. In einer Zeit mit großen Aufgaben und schwierigsten Problemen rechtlicher Umgestaltung, wirtschaftlichen Umbaus und sozialen Umbruchs wäre die Lockerung und der Austausch eines der wenigen Stabilitäts anker in Gestalt des Grundgesetzes politisch mehr als unklug. 12. Ein Bedürfnis nach Integration durch plebiszitäre Verfassunggebung ist nicht erkennbar. Die sog. "Verfassungsdebatte" hat den politischen Nerv des Volkes nicht berührt. 13. Die entscheidenden politischen Fragen und Aufgaben der "inneren Integration" der Deutschen sind in der "Verfassungs-Debatte" nicht eingefangen. Sie kann die Einheitsfindung der Nation nicht wesentlich beeinflussen. 14. Art. 146 GG neuer Fassung setzt nicht die originäre, ungebundene verfassunggebende Gewalt des Volkes frei. Eine im Sinne dieser Verfassungsbestimmung das Grundgesetz ablösende neue "Verfassung" muß zunächst im Verfahren nach Art. 79 GG zustandekommen, also mit Zweidrittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat beschlossen sein (Abs. 2). Erst danach kann sie einer Volksabstimmung zugänglich gemacht werden. 15. Ein nur deklaratorischer Volksentscheid käme einer Verhöhnung des Volkes nahe. Auch bei einem Verfassungsplebiszit mit konstitutiver Wirkung ist der Legitimitätsgewinn für die Verfassung gering, ja fraglich.

Verfassunggebung oder Verfassungsänderung?

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16. Nach einem Verfassungsplebiszit ist Art. 146 GG neuer Fassung verbraucht. Danach ist die Grenze zwischen verfassungslegaler Verfassungsänderung und revolutionärer Verfassunggebung außerhalb der Verfassungslegalität wieder unmißverständlich klar.

3*

Hans-Peter Schneider VERFASSUNGSÄNDERUNG ODER VERFASSUNGGEBUNG? Thesen 1. Das Deutsche Volk hat seine verfassunggebende Gewalt nach 1945 (noch)

nicht ausgeübt. Bei der Schaffung des Grundgesetzes ist bewußt auf die Wahl einer Nationalversammlung oder auf eine Volksabstimmung über das Grundgesetz verzichtet worden, weil einem Teil der Deutschen damals "mitzuwirken versagt" war.

2. Aus diesem Grund ist im Jahre 1949 der Vorbehalt des Art. 146 a. F. GG in das Grundgesetz aufgenommen worden, wonach das Grundgesetz seine Gültigkeit verlieren solle, wenn eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist. 3. Diese Bestimmung ist mit der Vereinigung am 3. Oktober 1990 weder obsolet geworden noch stellt sie verfassungswidriges Verfassungsrecht dar. Vielmehr hat sie in leicht veränderter Form, nämlich mit dem Zusatz, daß nunmehr das Grundgesetz "für das gesamte deutsche Volk gilt", ihren Stellenwert im Grundgesetz behauptet. Sinn und Zweck der Neufassung des Art. 146 GG war es zu bekräftigen, daß auch nach der Vereinigung beider Teile Deutschlands die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes noch aussteht. 4. Scheinbar im Widerspruch dazu steht der Auftrag des Art. 5 Einigungsvertrag an die gesetzgebenden Körperschaften, sich mit den in Zusammenhang der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen "zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes" zu befassen. Diese Bestimmung ist jedoch verfassungskonform dahin auszulegen, daß sie keineswegs ausschließt, die Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes nach Abschluß des Verfahrens gemäß Art. 79 Abs. 2 GG im Rahmen des Art. 146 n. F. GG einer Entscheidung des deutschen Volkes zuzuführen, mit der es seine verfassunggebende Gewalt ausübt. 5. Verfassungsänderung und Verfassunggebung stehen sich also in diesem Sonderfall nicht als einander ausschließende Alternativen gegenüber, sondern können in einem dreistufigen Verfahren auch kumulativ verwirklicht werden.

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Hans-Peter Schneider

6. Auf der ersten Stufe beschließt eine "Gemeinsame Verfassungskommission" von Bundestag und Bundesrat Empfehlungen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes, die an die gesetzgebenden Körperschaften gerichtet sind. Schon die Einsetzung dieses organübergreifenden Gremiums, das weder im Grundgesetz noch im Geschäftsordnungsrecht vorgesehen ist, durch Bundestag und Bundesrat beweist, daß hierbei nicht nur die 36. oder 37. Änderung des Grundgesetzes vorbereitet wird. Dies ist in den Reden zur Konstituierung der Gemeinsamen Verfassungskommission auch allseits bekräftigt worden. 7. Auf der zweiten Stufe wird das Verfahren der Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 2 GG durchgeführt. Die gesetzgebenden Körperschaften beschließen über Änderungen oder Ergänzungen des Grundgesetzes nach Maßgabe von Art. 5 EV. Dabei sind sie an die Schranken von Art. 79 Abs. 3 GG gebunden. 8. Die dritte Stufe könnte darin bestehen, daß vor der Ausfertigung und Verkündung der Grundgesetzänderungen dem deutschen Volk gemäß Art. 146 n. F. GG die Möglichkeit eröffnet wird, seine verfassunggebende Gewalt auszuüben und über die Annahme oder Ablehnung des geänderten Grundgesetzes zu entscheiden. Ebenso wie der Entwurf einer Verfassung oder eine vorläufige Verfassung dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden kann, ist dies auch bei Verfassungsänderungen oder Verfassungsergänzungen möglich. 9. Über die Frage, ob dem deutschen Volk Gelegenheit gegeben werden soll, nach Art. 146 n. F. GG das Grundgesetz in veränderter Form als" Verfassung" zu beschließen, entscheiden gemäß Art. 5 EV ebenfalls die gesetzgebenden Körperschaften.Wird eine Volksabstimmung in Betracht gezogen, so bedarf es dazu eines besonderen Abstimmungsgesetzes, das die einzelnen Modalitäten des Volksentscheids regelt. 10. Da nach den Maßgaben des Einigungsvertrages vor einer solchen Volksabstimmung die gesetzgebenden Körperschaften über Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes zu beschließen haben und dabei an die Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden sind, ist der Streit darüber, ob dies auch für die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes gilt, rein theoretischer Natur und im Zusammenhang mit der gegenwärtig anstehenden Reform des Grundgesetzes weitgehend müßig.

Nachbemerkung Seit ihrer Konstituierung am 16. Januar 1992 hat die "GemeinsameVerfassungskommission" von Bundestag und Bundesrat insgesamt 26 Sitzungen durchgeführt. Darüber hinaus haben neun Anhörungen stattgefunden. In dieser Zeit sind lediglich eine Neufassung von Art. 23 GG (Europäische Union) sowie Änderungen der Art. 24, 45, 50, 52 und 115 e (Stärkung des Bundesrates) und der

Verfassungsänderung oder Verfassunggebung?

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Art. 72,74,75,93,125 a GG (Gesetzgebungskompetenzen) sowie eine Staatszielbestimmung Umweltschutz, ein Gleichstellungsauftrag für Frauen und eine Minderheitenschutz-Klausel beschlossen worden. Eine Aufnahme von sozialen Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz wurde abgelehnt, ebenso Formen und Verfahren der unmittelbaren Demokratie. Gemessen an den Vorgaben in Art. 5 des Einigungsvertrages und an den ursprünglichen Erwartungen, die mit der Schaffung der Kommission im Zuge des Vereinigungsprozesses verbunden waren, ist dieses Ergebnis außerordentlich dürftig, ja geradezu enttäuschend. Vielleicht konnte unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen und Kräfteverhältnissen in der Kommission auch gar nicht mehr herauskommen. Da nicht damit zu rechnen ist, daß sich an der fehlenden Bereitschaft, das Grundgesetz grundlegend zu erneuern und in eine moderne Verfassung des ganzen deutschen Volkes zu verwandeln, bei den gesetzgebenden Körperschaften Entscheidendes ändert, läßt sich meine Hauptforderung nach einem Volksentscheid auf der Grundlage des Art. 146 n. F. GG als Abschluß des Verfahrens der Verfassungsrevision, niedergelegt vor allem in den Thesen 6 bis 9, nicht mehr aufrechterhalten. Deshalb wird hier auch auf den Abdruck meines Referats, das ich inzwischen für überholt halte, verzichtet. Es wäre angesichts dieser Situation sogar eher leichtfertig, wollte man trotz dieses Fehlschlags an einer Volksabstimmung festhalten. Denn die Alternative, über die zu befinden wäre, würde ja bedeuten, daß es im Falle eines negativen Ergebnisses bei der geltenden Fassung des Grundgesetzes bliebe, die sich nur unwesentlich von den durch die Kommission beschlossenen Änderungen unterscheidet. Damit hätte das deutsche Volk aber über so geringe Differenzen, über etwas substantiell so wenig Neues zu entscheiden, daß es schon sachlich nicht gerechtfertigt erscheint, dafür das Volk an die Abstimmungsurnen zu rufen. Zudem besteht die Gefahr, daß sich aus Enttäuschung überhaupt nur wenige Stimmbürger an dem Referendum beteiligen. Nichts aber wäre dem Grundgesetz und seiner allgemeinen Wertschätzung abträglicher als ein Volksentscheid, der nur eine Minderheit involviert. Ob unter diesen Umständen Art. 146 n. F. GG gestrichen werden müßte, erscheint allerdings nicht zwingend. Denn es könnte sein, daß im Zuge der europäischen Einigung eine neue Lage entsteht, die so weitgehende Änderungen des Grundgesetzes erfordert, daß sie nur durch Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes herbeigeführt werden können.

Karl Doehring

STAAT UND VERFASSUNG IN EINEM ZUSAMMENWACHSENDEN EUROPA I.

Wie sich die europäischen Staaten und ihre Verfassungen in einem weiter zusammenwachsenden Europa entwickeln werden, ob sie verschwinden, Unterabteilungen und Teilgebiete eines zentral regierten Europas werden, oder letztlich doch die "Herren der Union" bleiben, sind Fragen der Spekulation. Die Rechtswissenschaft kann nicht die Frage beantworten, ob ein bestimmter Zustand politisch wünschenswert ist, sie kann nur zeigen, ob dann, wenn man ein bestimmtes Ziel will, es bestimmte Mittel gibt, es zu erreichen. Aber es können auch Gefahren entstehen, an die der Voluntarist nicht denkt. In dieser Art will ich versuchen, wissenschaftlich zu bleiben. Ich kann also nur einen hypothetischen "Europawillen" darauf hin prüfen, ob und wie er zu verwirklichen wäre bzw. was seine Folgen sein könnten. Wie auch immer der politische Wille zur Verstärkung der Integration Europas zum Ausdruck gebracht werden wird, er muß jedenfalls seine Ausgangsbasis dem derzeit bestehenden Zustand entnehmen. Daher gilt es, den status quo zu analysieren, die Frage zu stellen, was möglicherweise gewollt wird, und was erreichbar oder unerreichbar ist. Alle diese Fragen sollen - in der gebotenen Kürze - in Bezug auf das Schicksal der europäischen Na~ionalstaaten und ihrer Verfassungen nun geprüft werden, wie das Thema es fordert. Aber noch eine Vorbemerkung erlaube ich mir, und zwar gerichtet auf Deutschland. Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hätte ein nationales Erlebnis, ein Aufbruch, eine ergreifende Stunde der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts sein können. Ich will nicht sagen, daß sie in diesem Sinne eine Totgeburt bedeutete, aber doch auch nicht so recht die Geburt eines Wunschkindes, dessen Erscheinen einen gewissen Erlösungseffekt ausgeübt hätte. Was sind die Gründe? Sie sind vielfältig, aber ich will nur den einen nennen, der mir nicht nur im hier behandelten Zusammenhang wesentlich erscheint, sondern vielleicht der gewichtigste ist. Im gleichen Moment, als die Wiederverei-

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Karl Doehring

nigung überraschend und zum Greifen nahe erschien, wurde sie von Politikern wohl aller Couleur nicht als das nationale Ereignis gepriesen, sondern als europäisches Ereignis, so als sei sie letztlich nur ein europäischer Wert. Warum auch - so kann man fragen - soll. denn der Deutsche den anderen Deutschen als verlorenen Sohn in die Arme schließen, wenn man ihm vorher jahrelang abgewöhnt hatte, national zu denken, den Franzosen oder Italiener oder Engländer stärker als Partner zu empfinden als den anderen Deutschen? Namhafte deutsche Politiker schienen schon längere Zeit der Westintegration Vorrang geben zu wollen vor der Wiedervereinigung Deutschlands, oder diese als politisches Ziel auch gänzlich aufgeben zu wollen, wie Jens Hacker es eindringlich festgehalten hat. I Die Stimmen der Politiker zur Zeit der Wiedervereinigung waren dann fast schamhaft getönt: Niemand solle doch vor einem größeren Deutschland Angst haben; man wolle doch letztlich Europäer sein; man wolle doch baldmöglichst weitere Souveränität abgeben und anderes mehr. Wenn man heute zweifelt, ob die Westdeutschen eigentlich bereit sind, für die Ostdeutschen Opfer zu bringen, kann man sich über diese Fragestellung nicht wundem. Die Gegenfrage würde lauten: Warum solle man denn für die ostdeutschen andere oder gar mehr Opfer bringen als für relativ unterentwickelte Teile des schon bestehenden Europas? Wir hätten in Europa ein wiedervereinigtes Deutschland als ein Volk mit dankbarer, bescheidener aber doch selbstbewußter Haltung einbringen können, aber offenbar wollten manche Politiker die nun einbezogenen Deutschen sogleich zu Europäern machen. Ich will versuchen zu zeigen, warum diese - für mich traurige - Feststellung für unsere hier gestellten Betrachtungen über Europa und den Nationalstaat bedeutungsvoll sein kann. Noch eine Vorbemerkung möchte ich mir erlauben. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der ersten. Der Ostdeutsche, der rief "Wir sind das Volk" und wir wollen wieder richtige Deutsche sein, erfährt von den Politikern, daß dann, wenn eine Frage brennend relevant wird, seine Staatsgewalt versichert, das alles könne nur in "europäischem Kontext" gelöst werden, etwa das Asylrecht, die Verwendung der Bundeswehr oder die Subvention für eine Werft. Er muß sich fragen, mit wem er sich eigentlich wiedervereinigt hat, mit Deutschland oder mit einem Europa, dessen Mitglieder er, der Ostdeutsche, gar nicht kennt, deren Sprache er nahezu nicht spricht und deren Interessen er erahnen muß. Il.

Nun komme ich zum status quo. Wenn es um Staat und Verfassung in Europa als Objekt der Betrachtung geht, soll ihr Ausgangspunkt der Frage nach der Souveränität entnommen werden. I

J. Hacker, Deutsche Irrtümer, 1992.

Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa

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Wie steht es damit in Europa? Diese Frage ist durchaus nicht überholt und kann es nicht sein, solange die Völkergemeinschaft den Bestand souveräner Staaten voraussetzt. Daran kommen auch diejenigen nicht vorbei, die den "Nationalismus" für eine "Sünde" halten. Es wird in dieser Hinsicht meist betont, die europäische Wirtschaftsgemeinschaft beruhe auf völkerrechtlichem Vertrag, sie sei eine internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit, die Mitgliedstaaten seien souverän geblieben, sie seien insoweit doch "Herren der Verträge". Im Ergebnis soll das heißen, die Souveränität der Mitgliedstaaten sei erhalten geblieben 2. Diese Aussagen begegnen ernsten Zweifeln. Souveränität bedeutet zum einen Letztentscheidung in äußeren und inneren Fragen; zum anderen bedeutet sie und das wird häufig übersehen - Letztverantwortung, besser Totalverantwortung für das Wohl der dieser Souveränität unterstehenden Bürger. 3 Beides ist von Steinberger und Klein in Bezug genommen und bejaht worden. 4 Ist das aber richtig? Das wäre dann richtig, wenn die EWG eine internationale Organisation ,,klassischen" Typs wäre, wie etwa die Vereinten Nationen. Aber sie ist es gerade nicht. Es ist gerade ihr Sinn, ihre Zielsetzung, die Souveränität der Mitgliedstaaten auf dem ihr übertragenen Sachgebiet nicht nur zu beschränken, sondern aufzuheben. 5 Die Formel von der Übertragung von Hoheitsrechten hätte auch anders gar keinen Sinn. Das hat zur Folge: Die Kompetenz-Kompetenz darüber, ob eine Materie des gemeinsamen Marktes betroffen ist, liegt bei den Organen der EWG; die im Rahmen der EWG-Kompetenz erlassenen Normen binden unmittelbar die Staatsbürger der Mitgliedstaaten; im Streitfall entscheidet - authentisch - der EuGH. Das Ganze ist die Verfassung des Gemeinsamen Marktes. Selbst die Frage, ob Notkompetenzen 6 der Mitgliedstaaten gerechtfertigt in Anspruch genommen werden können, wird der EuGH entscheiden, und die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, diese Entscheidung zu akzeptieren. Wie kommt man nun dazu, dennoch von einer Souveränität der Mitgliedstaaten zu sprechen? Auf den übertragenen Gebieten besteht sie doch gerade nicht mehr. 2 H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL, Bd. 50, 1991, S. 17: "Die Mitgliedstaaten sind souverän geblieben"; E. Klein, Mitbericht, a.a.O., S. 59: " ... doch ist den Mitgliedstaaten die Letztverantwortung für das Wohl ihrer Bürger nicht abhanden gekommen". 3 Eindringlich zur Aufgabe des Verfassungsstaates J. Isensee, Staat und Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, Rdn. 173. 4

S. Fn. 2.

H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 56: "Mit der Übertragung gibt der Staat seinen Anspruch auf Ausschließlichkeit eigener Hoheitsgewalt in seinem Gebiet auf'. 6 Zu den Notstands- oder Schutzklausein M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, 3. Auf!. 1990, S. 173/4. 5

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Wenn argumentiert wird, daß das Ganze doch ein "völkerrechtlicher Vertrag" sei 7, kommt es auf die Interpretation dieses Begriffes nicht an, sondern auf den Inhalt des Vertrages, der gerade auf die Aufhebung der Souveränität insoweit gerichtet ist. Ich habe niemals so recht verstanden, weshalb man so tiefsinnige Überlegungen zur Unterscheidung von Vertrag und Vereinbarung - etwa im Hinblick auf die Gründung des Deutschen Reiches 1871 - angestellt hat. Die Art der Normsetzung kann verschieden sein, aber auf sie kommt es gar nicht an, wenn der Norminhalt klar ist. Auch wenn ein Staat durch Vertrag entsteht, kann das Ergebnis eine Verfassung sein, wie das etwa bei Zypern oder manchen anderen dekolonisierten Staaten der Fall ist. Ist die Rechtsordnung dann eine Verfassung, gilt sie als solche und nicht als quasi-Vertragsverlängerung. Das gilt auch für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Wenn ein nationales Verfassungsgericht angeblich von EWG-Normen abweicht, hat es entweder diese "Verfassung" verletzt, oder auch nicht. Daß das nationale Verfassungsrecht überhaupt zur Prüfung gelangt, liegt daran, daß es über das Ausmaß der dem Staat verbliebenen Souveränität entscheidet; wäre die gesamte Staatsmacht übertragen worden - wie im Bundesstaat - hätte es nichts mehr zu entscheiden. Die immer wieder gestellte Frage, ob EWG-Recht Vorrang vor nationalem Recht und auch nationalem Verfassungsrecht hat,8 ist falsch gestellt; sie kann doch nur deshalb relevant werden, weil es um die Restsouveränität geht, nicht um die Frage einer eventuellen noch bestehenden Souveränität im Hinblick auf die der EWG abgegebenen Hoheitsrechte. Ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaates kann - schlüssig - eine zulässige Anwendung nationalen Rechts, von der behauptet wird, es widerspreche EWG-Recht, nur dann annehmen, wenn es den Standpunkt vertritt, insoweit sei die Souveränität gerade nicht übertragen. Es geht nicht darum, welches Recht über- oder untergeordnet ist, sondern ob eine Kompetenz übertragen oder dem Mitgliedstaat verblieben ist. Die Escape-Klausel des Völkerrechts, zwar sei der Staat als solcher gebunden, doch die Mißachtung der Bindung bedeute - nur - die Verletzung eines Obligatoriums,9 ist im Rahmen der Supranationalität nicht mehr schlüssig. Das war der Sinn der Übertragung von Hoheitsrechten. Das bedeutet: Die Souveränität der Mitgliedstaaten - auf welchem Wege auch immer abgegeben - ist amputiert. Gerade hier wäre es völlig unzulässig, Sein und Sollen zu verwechseln. Die Normen und ihr Geltungsbereich sind klar. Wer sie nicht einhält, kann nicht argumentieren, es gebe doch keine Organisationsexekutive, die Normeinhaltung zu erzwingen. Nur wenn die Norm selbst sagen Schweitzer / Hummer (Fn. 6), S. 61. Schweizer / Hummer (Fn. 6), S. 231 f. mit weiteren Nachweisen. 9 Zur Sicherung der Vertragsdurchführung G. Dahm, Völkerrecht, Bd. III, 1961, S. 120 ff. 7

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würde, sie müsse nicht eingehalten werden, wenn sie nicht durchsetzbar sei, wäre ein solches Argument erlaubt; aber das sagt keine gesetzte Norm, auch wenn die Rechtsphilosophie einen solchen Schluß ziehen mag. Die Rechtsnatur der Gründung der EWG durch völkerrechtlichen Vertrag könnte nur noch insoweit Bedeutung haben, als ein Austritt aus der EWG völkerrechtlichen Regeln unterliegen könnte, etwa gemäß der clausula rebus sic stantibus. 10 Das würde aber nur dann zu einer schlüssigen Argumentation hinsichtlich der verbleibenden Souveränität der Mitgliedstaaten führen, wenn man den EWGVertrag in dem Sinne auslegt, daß er diese Möglichkeit offenhalten wollte. Es wäre ebenso zulässig, einen völkerrechtlichen Vertrag zu schließen, der die besonderen Rechte des Völkerrechts aufhebt. Ob das mit dem EWG-Vertrag geschehen ist, sei hier dahingestellt. Es wird jedenfalls behauptet. 11 Es ist auch nicht schlüssig zu meinen, die Souveränität der EWG auf den ihr übertragenen Gebieten werde letztlich doch von den Mitgliedstaaten ausgeübt, denn sie seien in den Organen vertreten. Soweit der Vertrag der EWG Mehrheitsentscheidungen vorsieht, ist es evident, daß nationale Souveränität nicht mehr besteht, denn jeder Staat kann überstimmt werden. Aber auch bei Einstimmigkeit der Entscheidungen besteht nur eine Veto-Möglichkeit, nicht aber eine Gestaltungsfreiheit und also aktive Souveränität des einzelnen Mitgliedstaates. Wenn so die Kompetenz zur Letztentscheidung in den abgegebenen Materien ,,rechtlich" aufgegeben und so die Souveränität "geteilt" ist, erhebt sich die Frage, wie es denn um die Kehrseite der Souveränität steht, um die Totalverantwortung für das Wohl des Staatsbürgers. Sie besteht nach Abgabe von Souveränitätsteilen - nach Amputationen - ebensowenig. Die Totalverantwortung des Staates für das Wohl seiner Staatsbürger ist ein unabdingbares Merkmal der staatlichen Souveränität. Der Bürger schuldet dem Staat Treue und der Staat dem Bürger Schutz. 12 Diesen Schutz kann nur gewähren, wer zum Schutz auch in der Lage ist. Daher fordert auch das allgemeine Völkerrecht vom Staat die Effektivität der Staatsgewalt als eines seiner Merkmale. Ist ein EWG-Mitglied nach Abgabe von Hoheitsrechten noch in der Lage, i. S. der Allzuständigkeit die Totalverantwortung für den Staatsbürger zu tragen? Die Antwort lautet: Nein. Würde er sie - etwa in einer Krise - selbständig in Anspruch nehmen, würde er einen EWG-Verfassungsbruch begehen. Wenn z. B. Deutschland durch Subventionen der Werften an der Ostsee diese schützen will - vielleicht um Arbeitslosigkeit zu vermeiden - , sind diese Subventionen zwar zulässig, wie Art. 92 und 93 EWG-Vertrag es bestimmen, G. Meier, NJW 1974, S. 391 ff. Ipsen (Fn. 5), S. 100. 12 K. Doehring, Allgemeine Staatslehre, 1991, S. 22 ff., zum Verhältnis von Staatsgewalt und Staatsvolk. 10 11

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aber ob sie gewährt werden dürfen, entscheiden die Organe der EWG, insbes. der EuGH. D. h. die Freiheit der Wahl der Mittel zur Bekämpfung solcher Notstände ist aufgegeben. Die Allzuständigkeit des Mitgliedstaates besteht nicht mehr. Art. 20 GG muß gelesen werden: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, soweit nicht nach Art. 24 GG die deutsche Staatsgewalt nicht mehr zuständig ist - wohlgemerkt: nicht mehr zuständig und nicht nur völkerrechtlich als Obligatorium delegiert. Das ist amputierte Souveränität. Ist nun die EWG souverän? Auch sie ist Inhaberin einer zwar nicht amputierten, aber auch nicht ausgewachsenen Souveränität, denn sie hat ebenfalls nicht die Allzuständigkeit und kann ebenfalls die totale Verantwortung nicht tragen. Sie ist nicht Inhaberin einer der Staatensouveränität vergleichbaren "Souveränität", was Steinberger richtig festgestellt hat. 13 Aber sie übt doch schwächere Teilrechte aus. Hinzu kommt das Folgende: Die klassische Staatensouveränität wird im Interesse des gesamten ihr unterstehenden Staatsvolkes ausgeübt. Der Eid des Bundespräsidenten lautet: "Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden werde". Kanzler und Minister leisten den gleichen Eid. Es müßte dabei hinzugefügt werden, allerdings nur, soweit die verbliebene Staatsgewalt betroffen ist. Die Organe der EWG sind verpflichtet, im Interesse der Gemeinschaft zu handeln. Ob Arbeitslosigkeit in Spanien oder in Deutschland herrscht, darf für sie keinen Unterschied machen. Es ist also nicht so, daß die amputierte Staatensouveränität und die nicht ausgewachsene europäische Souveränität das gleiche Ziel haben. Nicht nur beziehen sich diese Souveränitäten auf verschiedene Sachgebiete - was der eine nicht hat, hat der andere, wie etwa in einem Bundesstaat - , sondern sie betreffen verschiedene Schutzgemeinschaften: Die EWG hat als Schutzgemeinschaft das europäische Volk für seine Sachgebiete - die Mitgliedsstaaten haben ihr Staatsvolk als Schutzgemeinschaft wieder für nur die verbliebenen Sachgebiete. Nebenbei sei bemerkt, daß diese Inkongruenz auch zur Ohnmacht in auswärtigen Angelegenheiten geführt hat, wie etwa das Beispiel Jugoslawien zeigt. Ob man nun sagt, geteilte Souveränität ist eine contradictio in adjecto, denn das Wesen der Souveränität, die Totalverantwortung durch Allzuständigkeit, ist aufgehoben und so besteht Souveränität weder in Europa noch in den Mitgliedstaaten, und so gibt es sie gar nicht mehr, oder ob man sagt, Teilsouveränität ist auch noch Souveränität, nur eben keine effektive - das wären terminologische Fragen. In der Sache jedenfalls kann man feststellen, daß nirgends eine Allzuständigkeit besteht. Ich halte das für ein Unikum. Dieses besteht nicht nur darin, daß u. U. ein Kompetenzloch sich zeigt bzw. ein negativer Kompetenzkonflikt, ein Loch also in das der Staatsbürger fällt, wenn eine übertragene oder verbliebene Kompetenz nicht ausgeübt wird, sondern gewichtiger erscheint mir, daß die 13

Steinberger (Fn. 2), S. 17.

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Souveränitätskompetenzen gleichzeitig den Bürger schützen und schutzlos lassen können. Es wäre in einer Familie etwa ein Dilemma, wenn der Vater allein darüber bestimmt, was das Kind lernen soll, die Mutter darüber, ob entsprechende Hilfsmittel bereitgestellt werden dürfen. Ein ähnliches Bild bietet sich, wenn ein Staat nicht mehr die Kompetenz hat, über die Einreise von Fremden zu entscheiden, aber die Kompetenz - und damit die Pflicht - behält, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. 14 Diese Supranationalität entbehrt jeden Vergleichs, denn sie wirkt sich nicht nur in der Kompetenzspaltung zwischen EWG und Mitgliedstaaten aus, sondern unter diesen selbst. Wenn z. B. ein Staat einen Fremden einbürgert, erteilt er diesem wegen Art. 48 EWGV gleichzeitig das Recht, in jeden anderen europäischen Staat einzureisen und auf Arbeitssuche zu gehen bzw. sich dort niederzulassen: Er also übernimmt gar nicht mehr die Verantwortung für den Bürger. Die EWG aber bürgert nicht ein, sondern irgendein Nationalstaat, sozusagen zu Lasten Dritter. Ich habe niemals verstanden, wie man im Rahmen einer Bundesstaatsordnung ernstlich behaupten kann, die Einzelstaaten hätten eigene unabgeleitete Staatsqualität, so aber das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung. 15 Ob es sich um die Rechte der Länder, der Gemeinden oder der Staatsbürger oder auch der Kirchen und der Verbände handelt, immer ist es der Bund als Rechtssubjekt, dessen Organe im Konfliktsfall entscheiden, insbesondere ob die Grenzen der Zuständigkeiten eingehalten sind. Die - ungeteilte - Souveränität in diesem Sinne hat der Bund, denn er hat die letzte Befehlsgewalt. Im Staatenbund steht es anders. Die volle Befehlsgewalt verbleibt bei den Mitgliedstaaten, gebunden nur durch ein Obligatorium. In der EWG besteht keines dieser Systeme, die. - immer noch - Auskunft über die Allzuständigkeit und die Totalverantwortung geben. Man weicht in die Feststellung aus, es liege eine Gemeinschaft eigener Art vor. 16 Wenn der Jurist von sui generis-Subjekten spricht, soll man wachsam sein. Nicht, daß es so etwas nicht geben dürfte, aber es sind die Rechtsfolgen, die interessieren und dann, wenn auch sie sui generis bleiben, mit den übrigen Rechtsordnungen, die beachtet werden müssen, u. U. übereinstimmen müssen. Genauer gefragt: Wer ist hier wem verantwortlich? Das Staatsvolk haftet für das Verhalten seiner Regierung. Dafür ist diese Regierung dem Staatsvolk verantwortlich. Man spricht deshalb vom responsible govemrnent. Dieses government ist beauftragt, die vom Volk gewollten Gesetze durchzuführen bzw. zu respektie14 Vgl. Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 8.6.1967 (BGBl. III 707 -3). 15 BVerfGE 1, 14 (34). 16 Zur "Sonderstellung" der EWG "zwischen" der internationalen und staatlichen Ebene T. Oppermann, Europarecht, 1991, S. 68.

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ren. Wir sprechen vom government of law and not of men. Responsible goverment und rule of law sind die Grundlagen einer rechtsstaatlichen Verfassung. Wie steht es damit bei der Unterworfenheit der Bürger unter zwei amputierte Souveränitäten? Und wie steht es mit dem Schicksal des Staatsvolkes in dieser Lage? Der Staatsbürger kann die eigene Regierung insoweit nicht mehr verantwortlich machen als sie nicht mehr zuständig ist; er kann die europäische Regierung nicht verantwortlich machen, weil er sie nicht absetzen kann, oder nur seine eigene, die ohnehin nicht in Europa regiert. Wie steht es mit dem government of law and not of men? Woran sind die law-makers Europas gebunden? Rechtssetzer sind Ministerrat und Kommission. Sie sind an den Vertrag gebunden, besser gesagt an die europäische "Verfassung". E. Klein sagt richtig: "Die Kompetenzüberschreitung der Gemeinschaft, die durch ein Fehlurteil des EuGH gedeckt ist, ist von den Mitgliedstaaten hinzunehmen". 17 Das ist folgerichtig im Rahmen jeden Verfassungsrechts, und so auch im europäischen "Verfassungsrecht", aber dort wirkt sich diese Kompetenz zur Fehlentscheidung anders aus. Einem nationalen Parlament bleibt die Freiheit, die zukünftige Gesetzgebung zur Korrektur einer ungeliebten Lage zu benutzen, notfalls durch Verfassungsänderung. Um das Argument ad absurdum zu bemühen: Nur wenn alle europäischen Parlamente sich einig wären, ihre gesamten Regierungen abzusetzen, gäbe es responsible government Europas, und das Prinzip des government of law and not of men würde nur dann effektiv sein, wenn das in Europa gesetzte Recht vom Europäischen Volke käme, oder doch korrigiert werden könnte. Der Gesamtbefund für Staat und Verfassung lautet: Der Staat ist nicht mehr total verantwortlich, weil die amputierte Souveränität dies nicht mehr zuläßt, und die EG ist nicht total verantwortlich, weil sie keine umfassende Kompetenz besitzt. Die nationale Verfassung ist nicht mehr Quelle allen Rechts. Der Staatsbürger muß sich, um Schutz zu fmden, an zwei Herren wenden; so schuldet er auch zwei Herren Treue (subjectio divisa trahit protectionem divisam?). Interessant wäre eine demoskopische Umfrage, wem der Bürger sich mehr zur Treue verpflichtet fühlt, seinem Staat oder Europa. Nur ein letztes Problem sei noch angedeutet: Wem eigentlich haftet das Völkerrechtssubjekt in seinen Auslandsbeziehungen? Bei Verträgen scheint das klar beantwortbar: Die Haftung trifft den Vertragspartner, also Europa oder den N ationalstaat. Bei Delikten wird es schwieriger. Als Beispiel mag das Fremdenrecht dienen. Ein Drittstaat könnte behaupten, Deutschland habe seine völkerrechtlichen Pflichten versäumt, auf seinem Territorium rechtlich geschützte Interessen des Drittstaates auch gegen Aktionen Privater, etwa Terroristen, zu schützen. 18 17

Klein (Fn. 2), S. 67.

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Deutschland könnte einwenden, seine Souveränität sei insofern abgegeben, als es nun wegen der europäischen Fremdenfreizügigkeit nicht mehr in der Lage sei, die Überwachung von Fremden in der früheren Art durchzuführen; die Terroristen seien aus Italien gekommen und die EWG-Vorschriften hätten die freie Einreise geboten. Italien würde einwenden, der Terrorismus habe sich auf seinem Territorium nicht abgespielt. Würde die EWG haften? Natürlich nicht, denn Organen der EWG könnten irgendwe1che Unterlassungen nicht vorgeworfen werden. 19Also würde doch wohl Deutschland haften, obwohl es im Hinblick auf Einreise seine Souveränität nicht mehr innehat.

lII. Verändert der Maastricht-Vertrag die Lage? Was gebietet der Vertrag über die Europäische Union im Hinblick auf die zukünftige Stellung der Staaten, die Bedeutung ihrer Verfassungen und die Rechte ihrer Staatsbürger? Im Vertrag heißt es, die Union setze sich zum Ziel "Die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene" und weiter "Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten". 20 Das sind Formulierungen, mit denen der Jurist nicht arbeiten kann. Man muß sich also den konkreten Regelungen zuwenden. Zum einen soll eine Erweiterung der sachlichen Zuständigkeiten der EWG erfolgen. Sie umfaßt dann Materien, die bisher - noch in die Kompetenzen der Staaten gehörten. Insoweit geht es um eine quantitative Erweiterung der "Souveränität" der EWG und eine quantitative Verminderung der Souveränität der Nationalstaaten. Wichtiger im hier betrachteten Zusammenhang sind aber die weiteren Bestimmungen des Unionsvertrages. Zur Unionsbürgerschaft ist folgendes zu bemerken. Sie schafft keine europäische Staatsangehörigkeit, insbes. kann Art. 8, c, der die Zulässigkeit des diplomatischen Schutzes aller Europäischen Staaten für alle ihre Staatsangehörigen vorsieht,21 nur mit Zustimmung des Drittstaates, gegen den Schutz ausgeübt werden soll, vollzogen werden. Folgerichtig wäre es, der Union bzw. der EWG selbst das Recht zu diplomatischem Schutz zuzuerkennen, was natürlich auch die Zustimmung des Drittstaates voraussetzen würde. Auch hinkt die stellvertretende Ausübung des diplomatischen Schutzes insofern, als sie vom Individuum nicht beansprucht werden kann. Im deutschen Recht bestünde ein Anspruch jedenfalls 18 A. Verdross / B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 864, zur Pflicht des Territorialstaates, Vorkehrungen gegen Rechtsverletzungen zu treffen. 19 Zur Haftung der Organe EWG (Art. 215 EWGV) Schweitzer / Hummer (Fn.6), S. 168 f. 20 Vertrag über die Europäische Union, Titel I, Art. F (1), wiedergegeben von W. v. Simson/ J. Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, 1992, S. 82; Vertragstext enthalten im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1992, Nr.16, S.I13. 21 Titel II, Art. 6 (Fn. 20), S. 86. 4 Klein (Hrsg.)

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bei Reduzierung des Ermessens auf Null. In anderen Staaten geht es in gleichen Fällen um einen act de gouvernement, der nicht justitiabel ist. 22 Die klassische Personalhoheit der Staaten ist bei diesem Drittschutz wesentlich vermindert. Das Recht zu diplomatischem Schutz beruht auf der Wechselwirkung von protectio und subjectio. Der Schutz, also die protectio, kann von irgendeinem anderen Staat ausgeübt werden, die subjectio unter dessen Rechtsordnung besteht aber nicht. Die Unbedingtheit des Verhältnisses von Schutz und Treue ist aufgehoben. Ob Europa als Patron dieser Regelung Treue verlangen kann, ist unklar, Schutz kann es nach der Nationality-Rule nicht gewähren. 23 Das für die Unionsbürgerschaft vorgesehene aktive und passive Kommunalwahlrecht wirft noch mehr Fragen nach der Personalhoheit der Staaten auf. 24 Auch wenn die deutsche Verfassung geändert wird - auf die Probleme des Art. 20 GG soll hier nicht eingegangen werden - kann der Zustand eintreten, daß ein deutscher Bürgermeister ohne deutsche Staatsangehörigkeit agiert. Er übt deutsche Verwaltungshoheit aus, auf ihn ist aber außerhalb der europäischen Normen und also im verbleibenden nationalen Recht das völkerrechtliche Fremdenrecht anzuwenden. Gegen Drittstaaten kann er wegen der Nationality-Rule durch die deutsche Hoheitsmacht, obwohl er sie selbst ausübt, nicht geschützt werden. Würde ein deutscher Bürgermeister spanischer Nationalität im Drittstaat wegen seines Verhaltens als deutscher Bürgermeister völkerrechtswidrig behandelt, könnte nur Spanien Schutz ausüben, obwohl er wegen seiner Eigenschaft als Spanier gar nicht in Rechten verletzt würde. Die überkommene Regel, daß, abgesehen von allgemeinen Menschenrechten, der Staat bei Ausübung diplomatischen Schutzes sein eigenes Recht geltend macht,25 würde jeden Schutz verbieten. Spanien könnte im gegebenen Beispiel nicht verletzt sein, und dem Schutz durch Deutschland stünde die NationalityRule entgegen. Auch innerstaatlich besteht das Kuriosum, daß ein solcher Bürgermeister zwar deutsche Hoheitsgewalt ausübt, aber im internationalen Privatrecht, z. B. bei Entmündigung, sein Heimatrecht beachtlich wäre. Ein Gericht in Barcelona könnte einen deutschen Bürgermeister entmündigen. 26 Die Bestimmungen des Unionsvertrages über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres geben zu folgenden Feststellungen Anlaß. Auf den Gebieten der Art. K 1 (Einreise, Einwanderung, Aufenthalt, Asylrecht u. a. m.) kann der Rat Maßnahmen und Verfahren beschließen. Es kann beschlossen werden, daß qualifizierte Mehrheit genügt. Der Europäische Gerichtshof ist zu22 Zur Rechtsvergleiehung bzgl. des nationalen diplomatischen Schutzes K. Doehring, Die Pflieht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, 1959. 23 W. K. Geck, Diplomatie Protection, in: R. Bernhardt (ed.), Encyclopedia of Public International Law, Instalment 10, 1987, S. 99 ff. 24 Titel 11, Art. 8 b (Fn. 20), S. 86. 25 IGH im Nottebohm-Fall, ICI Rep. 1955, S. 4 ff. 26 L. Raape / F. Sturm, Internationales Privatrecht, 6. Aufl., Bd. I, 1977, S. 357.

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ständig für derartige Streitigkeiten. Das Ganze bedeutet, daß ein Staat in diesen Fragen überstimmt werden kann, wenn er das Verfahren akzeptiert. Gern. Art. 100 c gilt ab 1996 qualifizierte Mehrheit in den Fragen des Inneren und der Justiz, wenn so beschlossen. Wird das zum geltenden Recht, verliert der Staat wiederum Teile seiner Territorial- und Personalhoheit; sie gehen zur gesamten Hand auf Europa über. Andererseits hat Europa keine effektive Regierung, die Richtlinien der Politik bestimmen könnte, und auch keine Instanz, die den Notstand regeln könnte. Wenn - und das ist das Ziel- Beschlüsse des Rats mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden können, so geschieht nichts, wenn diese nicht erreicht wird. Das wäre erträglich, aber dem Nationalstaat fehlt dann die Zuständigkeit, soweit diese ausgeklammert ist. Es kann also der Fall eintreten, daß niemand handeln kann, obwohl eine Regelung dringend, vielleicht unaufschiebbar ist. Das ist die Kehrseite des Souveränitätsverlusts, dem kein ausreichender Souveränitätsgewinn der Europäischen Gemeinschaft gegenübersteht. Wieder zeigt sich, daß Souveränität zu spalten ihre wesentliche Verminderung bedeuten kann. 27 Nun zu den Bestimmungen über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Von Interesse ist das System. Es sollen auf der Grundlage von allgemeinen Leitlinien, die vom Rat erarbeitet werden, gemeinsame Standpunkte festgelegt werden. 28 Das muß einstimmig erfolgen. Dann sind "gemeinsame Aktionen" vorgesehen, die der Rat beschließen kann. Dabei sind der genaue Umfang der Aktion, ihre Ziele, Mittel und ihr Zeitraum festzulegen. Falls die Aktion beschlossen wird, kann der Rat auch beschließen, wann mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden ist. Die gemeinsamen Aktionen sind für den Mitgliedstaat bindend. Immerhin bleibt den Staaten in Notfällen und bei überraschenden Entwicklungen die Möglichkeit, selbständig zu handeln, allerdings nur unter Berücksichtigung der Ziele der gemeinsamen Aktion. Das Ganze ist ein kompliziertes System: Der Europäische Rat beschließt Leitlinien; der EG-Rat beschließt, ob eine Angelegenheit zur gemeinsamen Aktion wird. Der EG-Rat beschließt dann die Ausgestaltung der Aktion. Dann beschließt der EG-Rat, ob qualifizierte Mehrheit für eine Maßnahme genügen soll. Die Staaten behalten Notkompetenzen, deren Ausübung dem Rat mitzuteilen ist. Der Gerichtshof ist nicht beteiligt. Ob der Rat im Konfliktsfall irgendeine Entscheidungsbefugnis besitzt, bleibt offen und ist daher wohl zu verneinen. 27 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 682, zur "Duplizität" von Herrschaftsverhältnissen: "Den Staat aber würde eine solche Mehrheit von Unterworfenheiten seiner ratio essendi berauben". 28 Unionsvertrag (Fn. 20), Titel V, Art. J. 3.

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Wieder zeigt sich: Die Souveränität der Mitgliedstaaten ist eingebunden in das europäische System. Das ist nur erträglich, wenn dieses System effektiv ist. Die Effektivität - im Sinne einer europäischen Souveränität - kann nur entstehen, wenn entweder alle Staaten sich aktiv und positiv verhalten, oder wenn bei Aktionen qualifizierte Mehrheit erreicht wird. Was aber geschieht, wenn zwar Leitlinien bestehen und sogar Aktionen beschlossen sind, die bindend sind, aber wenn für weitere Aktionen keine Mehrheit sich formiert? Beruhigend ist, daß, ähnlich wie bei Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen, die individuelle Verletzung des Staates nicht dem Verfahren unterliegt. Das Verhältnis zur NATO ist berücksichtigt. 29 Die NATO-Ziele sollen erhalten bleiben, soweit die Verpflichtungen aus diesem Bündnis den Zielen der Europäischen Union nicht zuwiderlaufen. Das ist eine etwas problematische Feststellung, denn nicht alle NATOMitglieder sind auch Mitglieder der Union. Wer über Kontroversen hier wieder entscheidet, bleibt offen. Die nachhaltigste Souveränitäts-Amputation der Mitgliedstaaten ergibt sich aus den Bestimmungen über die Europäische Zentral bank. Während man in der Außenpolitik noch davon sprechen kann, daß sie letztlich doch der Einstimmigkeit bedarf und so die Souveränität der Staaten jedenfalls durch ein Vetorecht in gewissem Umfang - wenn man von Aktionen absieht - gewahrt ist, ist im Gebiet der Währungsunion nicht nur die Souveränität verschwunden, sondern auch nirgendwo wiederzufinden. Während nämlich die Unabhängigkeit der Bundesbank nur gegenüber der Regierung bestand, und nicht gegenüber dem Gesetzgeber, solange dieser nicht Verwaltungsakte in Gesetzesform beschließt,30 ist die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank auch gegenüber Organen der Gemeinschaft garantiert. 31 D. h., sie ist garantiert gegenüber Beschlüssen des Rates, soweit diese nicht im Hinblick auf eine Änderung der Satzung der Bank ausdrücklich zulässig sind. Eine Generalklausei besteht nicht. Wir haben also das Phänomen vor uns, daß nicht nur die Souveränität an Europa abgegeben ist, sondern Europa - jedenfalls im Sinne des bisherigen deutschen Rechts - diese Souveränität selbst nicht zugesprochen ist. Was bedeutet das für Deutschland? Bisher konnte die Bundesbank die deutsche Politik unterstützen, jedenfalls die Wirtschaftspolitik. 32 Die Stabilität der Währung kann in eine Krise geraten, die gar .nicht von der Wirtschaft ausgeht. Das Fallen und Steigen von Aktien etwa kann von machtpolitischen Konstellationen abhängen, z. B. der feindlichen oder freundlichen Haltung dritter Staaten, von 29 Unionsvertrag (Fn. 20), Titel V, Art. J. 3, Abs. 6 u. Art. J. 4. 30 Gesetz über die Deutsche Bundesbank v. 26.7.1957 (BGBl. III 7620-1), § 12. 31 Unionsvertrag (Fn. 20), Protokoll über die Satzung der Europäischen Zentralbank, Kap. III, Art. 7. 32 Bundesbankgesetz (Fn. 30), § 12.

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Kriegsdrohung oder Kriegsgefahr und Bürgerkriegsgefahr in anderen Staaten. Der souveräne Staat kann in solchen Lagen durch Währungspolitik gegensteuern, er kann die Konjunktur stützen oder dämpfen. Das alles ist vorbei. Ob Steuerungsmaßnahmen in diesem Sinne wegen nationaler Interessen geboten sind, ob solche Interessen überhaupt schutzwürdig sind, entscheidet die Europäische Zentralbank. Diese Souveränitätsamputation geht an den Nerv der Souveränität. Die Mitglieder des Europäischen Zentralbankrats sind, soweit das Direktorium betroffen ist, auf acht Jahre ernannt und können nur durch den Europäischen Gerichtshof bei Pflichtversäumung abberufen werden. 33 Wo immer auf der Welt ein Staat selbständig wird, etwa bei Zerfall eines Bundesstaates, ist eine seiner ersten Reaktionen die Errichtung einer eigenen Währung. Aus den schon genannten Gründen ist das auch folgerichtig. Auf weitere Einzelheiten des Europäischen Zentralbankrates soll nicht eingegangen werden. Nur sei gesagt: Sein Ziel soll die Währungsstabilität sein. Seine Aufgaben Geldpolitik, Devisengeschäfte, Währungsreserven, insbes. Kontrolle der nationalen Zentralbanken. Das Facit für die Maastricht-Union lautet: Es findet ein quantitativer Zuwachs an Zuständigkeiten der EWG statt und es findet auch ein qualitativer Zuwachs an Zuständigkeiten der EWG statt. Beides bedeutet Souveränitätsverlust - qualitativ und quantitativ - der Mitgliedstaaten. Dieser Verlust geht so weit, daß man im Sinne des Völkerrechts jedenfalls von souveränen Staaten im überkommenen Sinne wohl nicht mehr sprechen kann. Der souveräne Staat setzt Effektivität seiner Staatsgewalt voraus. Sie besteht nicht um ihrer selbst willen, sondern weil nur sie die Gewähr dafür bietet, daß der Staat seine völkerrechtlichen Pflichten, z. B. Verträge, einhalten kann, und für völkerrechtliche Delikte haftet. 34 Das ist vorbei. Auch auf den noch den Mitgliedstaaten verbliebenen Gebieten ist keine Effektivität mehr vorhanden, da die Fähigkeit fehlt, Defizite irgendwelcher Art allein zu kompensieren. Was aber ist nun das Maastricht-Europa? Ein Unikum? Ein Monstrum? Es ist kein Bundesstaat, denn ihm fehlt die Allzuständigkeit, und zwar auch diejenige zu gesamter Hand. Europa-Recht bricht nicht Staatsrecht, sondern steht neben ihm. Europa hat keine einheitliche Staatsangehörigkeit. Europa hat keine Bundesexecutive. Europa hat keine einheitliche diplomatische Vertretung. Ist Europa dann ein Staatenbund? Nein, denn das reine Obligatorium, das diesen ausmacht, ist zur Teilnormativität geworden. Ist Europa dann ein Gebilde sui generis, eine Rechtsgemeinschaft eigener Art, die bisher nicht bekannt war? Das kann man bejahen, aber man muß an die Konsequenzen denken. Die Katego33 34

Unionsvertrag, Protokoll (Fn. 31), Art. 11. 4. K. Doehring, Effectiveness, Encyclopedia of Public International Law (Fn.23),

Instalment 7, 1984, S. 70 ff.

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rien Bundesstaat und Staatenbund sind nicht um ihrer selbst willen erfunden worden. An ihnen hängen Rechtsfolgen im völkerrechtlichen Vertragsrecht und Deliktsrecht. Wer diese Kategorien verläßt, verläßt einen gefestigten Boden der Staatenbeziehungen, was das internationale Haftungsrecht bis heute klar zeigt 35 und - jedenfalls in diesem Zusammenhang - das Subsidiaritätsprinzip zu einer Eselsbrücke macht. IV.

Wie soll oder kann es in Europa weitergehen? Das ist Spekulation. Kann ein europäischer Bundesstaat entstehen, kann er das auf diesem Wege, und ist er wünschenswert zum Wohl der Europa-Bürger? Das sind die wesentlichen Fragen. Ein Staatenbund wäre mit Maastricht schon überholt. Aber ob ein Bundesstaat entstehen soll, ist eine politische Entscheidung, die von der Wissenschaft nur insoweit behandelt werden kann, als ihre Konsequenzen zu zeigen sind. Europa wäre dann ein Bundesstaat, wenn die entsprechenden Kompetenzen nicht neben den nationalen Rechtskompetenzen stünden, sondern über ihnen im Sinne der Kompetenz-Kompetenz. Das würde bedeuten, daß es ein europäisches Regierungs-System geben müßte, das die potentielle Allzuständigkeit besitzt und vor allem die Totalverantwortung für die Europa-Bürger übernehmen kann. Ein Test etwa wäre das Vorhandensein einer entsprechenden Kompetenz zur Bewältigung von Notständen, und zwar gleichgültig, wie immer sie entstehen. Der Vertrag von Maastricht gibt das nicht her, aber es wäre eine entscheidende Frage, die Allzuständigkeit Europas in diesem Sinne herzustellen. Täte man das, wäre die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten völlig aufgehoben. Europa wäre dann eine Schicksalsgemeinschaft der Europäer auch im Rechtssinne, und das wäre entscheidend, nicht ein jederzeit politisch aufkündbarer Konsens. Soll man das wollen? Hier geht es um keine juristischen, sondern politische und soziologische Überlegungen, die auf die Rechtswissenschaft nur empirisch Bezug nehmen. Die Erfahrung zeigt, daß Bundesstaaten einer kräftigen Homogenität der Rechtsordnungen und der Rechtskulturen ihrer Mitglieder bedürfen. 36 Der melting-pot der USA ist ein Beispiel in positivem Sinne, der Marxismus in der ehemaligen UdSSR ein negatives.

35 ILC, Draft on the Responsibility of States, Kap. II, Art. 7 (ZaÖRV 45, S. 358), wo ausgeführt ist, daß für Mitglieder eines Bundesstaates der Zentralstaat haftet. 36 K. Doehring (Fn. 12), Rdn. 162 ff.

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Im politisch soziologischen Sinne wäre zu fordern, daß dem Staatsbürger das Schicksal des Bundesstaates im Zweifel wichtiger ist als das seines Mitgliedstaates. Es wäre zu fordern, daß der Bundesbürger Opfer für den Gesamtstaat zu erbringen bereit ist, u. U. höhere Opfer als für sein Homeland. Wieder ist zu verweisen auf die USA und die UdSSR. Ein solches Gemeinsamkeitsgefühl beruht nicht auf nur gemeinsamer Akzeptanz von Rechtsvorschriften, sondern auf kultureller Homogenität. Um ein drastisches Beispiel zu nennen: Würde man es nördlich der Main-Linie akzeptieren, daß südlich der Main-Linie blutige Stierkämpfe stattfinden?31 Würde man es in einer Republik akzeptieren, daß im Nebenland dem Herrscherhaus, auch wenn es keine konkreten Befugnisse außer theoretischen Prärogativen hat, Apanagen gezahlt werden? Wie würde sich im Herzen und Kopf des Bürgers es darstellen, wenn in den Champs-Elysees der grande nation Paraden unter der Tricolore abgehalten werden, während die Fahne in der Bundesrepublik wegen nahezu unbegrenzter Kunstfreiheit beschmutzt werden kann, 38 in manchen Bundesstaaten die Schw~ngerschaftsunterbrechung völlig freigegeben ist und in Irland selbst nach Vergewaltigung so etwas verboten wird? Es müßte wohl eine große und nachhaltige Einebnung der Kulturen - auch der Rechtskulturen - stattfinden, damit ausreichende Homogenität vorhanden ist. Will man das erreichen? Wenn die Einebnung auf homogenes, rudimentäres und in gewisser Weise uniformes Rechtskulturniveau gelingt: Wird das Leben dann ärmer oder reicher? Ich kann diese Frage nicht beantworten, aber je weiter der Kreis der Mitglieder dieses imaginären Bundesstaates würde, desto schwieriger wäre es, eine rudimentäre Homogenität zu errei2hen, vor allem, sie zu bewahren. Wenn man diese Bedenken teilt, könnte man meinen, sie seien mit EWG und Maastricht schon konkret geworden. Wer sie nicht teilt, sollte dann aber auch nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Vor nicht langer Zeit habe ich einen sog. Berufseuropäer gefragt, ob denn sein Europa-Ziel auf ratio oder emotio beruhe. Er war über die Frage überrascht und sagte, sie sei ihm noch nicht gestellt worden. Nach einigem Zögern sagte er dann, letztlich sei es wohl die emotio, die sein Verhalten bestimme. Das war eine ehrliche Antwort. Aber ist die emotio für die Erhaltung des Nationalstaates weniger zu beachten? Im Hinblick auf diese Alternative bleibt es wohl bei der Erkenntnis Arthur Schopenhauers: Der Mensch beweist sich, was er sich beweisen will. Aber Schopenhauer war kein Jurist. Deshalb lassen Sie mich noch Heinrich Triepel zitieren: "Wenn ich nur die Wahl habe, eine von zwei gegensätzlichen 37 Bemerkenswert die Erklärung Nr. 24 der Schlußakte des Unionsvertrages (Fn. 20), die sich mit dem Tierschutz befaßt. 38 BVerfGE 81, 278 ff.

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Strömungen zu begünstigen, so werde ich mich derjenigen anschließen, die mich an das mir wertvoller dünkende Ziel bringen würde. Ich kann es möglicherweise sogar für ein Übel halten. Aber wer zwischen zwei Übeln wählen darf, der wählt das Kleinere". 39

Thesen 1. Wesentlich für die Bestimmung der Rechtsnatur der nationalen Verfassungen und derjenigen der Europäischen Gemeinschaften, später vielleicht einer Europäischen Union, ist die Frage danach, wer Inhaber der Souveränität oder ihrer Teilbereiche ist. 2. Souveränität im hier gemeinten Sinne ist zum einen die Kompetenz zur Letztentscheidung in völkerrechtlichen und innerstaatlichen bzw. innergemeinschaftlichen Fragen, zum anderen die Totalverantwortung für die der Befehlsgewalt unterstehenden Bürger. Regelmäßig entsprechen sich Schutzgewährung der Hoheitsrnacht und Unterworfenheit der Menschen Unter diese hoheitliche Gewalt. 3. Derzeit ist diese Souveränität wegen ihrer Teilübertragung auf die Europäischen Gemeinschaften durch die Mitgliedstaaten weder bei diesen noch bei den Gemeinschaften i. S. der ausschließlichen Kompetenz zur Letztentscheidung noch i. S. der Totalverantwortung vorhanden. 4. Es besteht aber auch keine Über- oder Unterordnung der Rechtsordnungen im Verhältnis zwischen EG und Mitgliedstaaten, wie das in einem Bundesstaat der Fall wäre. Bei behaupteten Kollisionen VOn Rechtsnormen des Europarechts und des Nationalrechts geht es immer nur um die Frage der Kompetenz, d. h. darum, ob sie bei den Mitgliedstaaten verblieben oder ob sie an die EG abgegeben ist. 5. So verfügen die Mitgliedstaaten nur noch über eine "amputierte" Souveränität, die EG verfügt nur über eine nicht "ausgewachsene" Souveränität. Das bedeutet, daß es keine in einer Hand befindliche Totalverantwortung für den Bürger gibt. Die EG ist weder ein letztlich allzuständiger Bundesstaat, noch ein auf einem völkerrechtlichen Obligatorium beruhender Staatenbund. Sie ist ein Gebilde eigener Art, was zur Folge hat, daß auch ihre Rechtsbeziehungen zu dritten Rechtssubjekten unklar bleiben. Bundesstaat und Staatenbund sind keine Kategorien, die um ihrer selbst willen erfunden sind, sondern die heute bestehende Staatengemeinschaft bedarf immer noch einer klaren Einordnungsmöglichkeit. 6. Der Bürger sieht sich zwei souveränen Hoheitsgewalten gegenüber, die aber beide auch keine volle Schutzgewährung garantieren können, denn die 39

H. Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reich, 1907, S. 119.

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Schutzgemeinschaft der EG ist die gesamte Bevölkerung Europas, diejenige der Mitgliedstaaten nur die Gesamtheit ihrer jeweiligen Staatsangehörigen. Das Interesse der gesamteuropäischen Staatengemeinschaft kann gebieten, das Interesse eines nationalen Staatsvolkes unbeachtet zu lassen; das Interesse des nationalen Staatsvolkes kann gebieten, europäischen Interessen Nachrang zu geben. Die Allzuständigkeit, die diese Gegensätze ausgleichen könnte, besteht nirgends. 7. Der Begriff des responsible government als eine der Grundlagen republikanischer Staatsform ist aufgehoben. Die EG ist für ihr Sachgebiet "verantwortlieh", die Mitgliedstaaten für die ihnen verbliebenen Sachgebiete. Eine Totalverantwortung, die von den Bürgern eingefordert werden könnte, gibt es nicht, ebensowenig wie eine ungeteilte Treueverpflichtung des Bürgers. 8. Diese Aufspaltung ist auch deswegen von Bedeutung, weil sie zu Unklarheiten der Haftung im Völkerrecht, d. h. gegenüber dritten Staaten, führt. Während eine solche sowohl im Staatenbund als auch im Bundesstaat klar festgestellt werden kann, verschwimmt sie bei einer zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten geteilten Souveränität. So ist es nicht auszuschließen, daß der Mitgliedstaat für die Durchführung einer Norm haftet, die er selbst nicht erlassen hat, oder gegen deren Erlaß er selbst gestimmt hat. 9. Die Gründung einer europäischen Union (Maastricht-Vertrag) verstärkt diese Lage quantitativ und qualitativ, d. h. die Souveränitäts spaltung wird vergrößert, da sowohl die Sachgebiete ausgeweitet auf die EG verlagert werden als auch weitere Teile der Entscheidungskompetenz. 10. Die vorgesehene Unionsbürgerschaft ist keine Staatsangehörigkeit. Ihre Rechtsfolgen im internationalen Bereich bleiben wegen der Nationality-Rule nahezu unbeachtlich. Damit sie international Bedeutung hat, müßten Drittstaaten im Einzelfall mit ihrer Auswirkung einverstanden sein. Die Unionsbürgerschaft hat kein Recht zu diplomatischem Schutz durch die Union zur Folge. 11. Das vorgesehene Kommunalwahlrecht, vor allem das passive Wahlrecht, spiegelt in besonderer Weise den Zustand gespaltener Souveränitäten wider. Der Ausländer, der ein Wahlamt erhält, übt nationale Hoheitsgewalt aus, untersteht aber im übrigen dem Fremdenrecht und kann von der Hoheitsmacht, an der er teilnimmt, gegenüber Drittstaaten nicht geschützt werden. 12. Die vorgesehene Zusammenarbeit auf den Gebieten der Justiz und der inneren Verwaltung - vor allem dem Ausländerrecht - zeigt die gleiche Souveräni tätsspaltung. Der Mitgliedstaat der Union kann die Aufenthaltsrechte nicht mehr allein regeln, trägt aber die Verantwortung für die Zustände auf seinem Territorium.

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Karl Doehring

13. Die vorgesehene Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik ist so kompliziert, daß sie durch Vetorecht bei Einstimmigkeit und durch Inaktivität bei qualifizierter Mehrheitsentscheidung blockiert werden kann, d. h. ein Mitgliedstaat ist außenpolitisch geknebelt, wenn kein Konsens innerhalb der Union erreicht wird bzw. nur ein Konsens über die sog. Leitlinien, aber nicht über die Aktionen. 14. Die vorgesehene Errichtung einer Europäischen Zentralbank bedeutet eine besonders nachhaltige Einschränkung nationaler Souveränität. Eine nationale Zentralbank kann, bei aller Unabhängigkeit, doch von dem Staat, für den sie verantwortlich ist, gezwungen werden, wirtschaftliche oder auch politische Defizite aufzufangen oder zu kompensieren. Die Europäische Zentralbank wäre bzgl. des gesamteuropäischen Raumes dazu nur in der Lage, wenn der politische Konsens der Mitgliedstaaten effektiv wäre. Daran bestehen Zweifel. 15. Eine noch weiter fortgeschrittene Integration Europas wäre nur dann theoretisch - herzustellen, wenn sie zur Bildung eines Bundesstaates führen würde, der von einem europäischen responsible government gelenkt wäre. Das würde voraussetzen, daß eine starke, wenn auch nur rudimentäre Homogenität der Rechtsordnungen, aber auch der von ihnen nicht zu trennenden Kulturordnungen hergestellt würde. Ob man das politisch will, ist keine juristische Frage, denn es geht darum, ob man so die Lebensqualität für die Bürger als bereichert oder als vermindert ansieht. Zu warnen ist nur davor, daß ein Staat - oder staatsähnliches Gebilde - Europas sich multikulturell überladen könnte. Das positive Beispiel des melting pot der USA steht neben dem negativen Beispiel der gerade auch kulturell zerfallenen UdSSR. Die Alternative der Zukunft Europas bleibt der Staatenbund, oder der Bundesstaat. Diese Klassifikation ist nicht überholt. Gefährlich ist, auf die Dauer gesehen, die Unentschiedenheit.

Wolfgang Gerhards

ÜBERLEGUNGEN ZUR STÄRKUNG DER BUNDESLÄNDER IM RAHMEN DER VERFASSUNGSDISKUSSIONI - GLIEDERUNGS PUNKTE Einleitung

Der Bund und die "Länder" Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990; Verfassungskommission des Bundesrates; Gemeinsame Verfassungskommission I. GesetzgebungsverJahren

1. Zielsetzung: Mitwirkungs- und Beteiligungsmöglichkeiten der Länder im Bundesrat verbessern 2. Textvorschläge: a) Artikel 76 Absatz 2: Verlängerung der Beratungsfrist für den Bundesrat im ersten Durchgang b) Artikel 76 Absatz 3: Harmonisierung der Vorlagepflicht für die Bundesregierung bei Bundesratsvorlagen; Beratungspflicht für den Bundestag c) Artikel 77 Absatz 2 a: Pflicht zur Beschlußfassung für den Bundesrat in angemessener Frist d) Artikel 77 Absatz 5: Verlängerung der Fristen für die Anrufung des Vermittlungsausschusses und den Einspruch für den Bundesrat e) Artikel 80 Absatz 3: Initiativrecht des Bundesrates für zustimmungsbedürftige Rechtsverordnungen f) Artikel 80 Absatz 4: Gesetzgebungsbefugnisse der Länder anstelle von

Rechtsversordnungen

3. Erweiterung des Kreises der zustimmungsbedürftigen Bundesgesetze (Artikel 83 Absatz 2): Generalklauseln für alle Bundesgesetze, die von den 1 Die folgenden Thesen geben den Diskussionsstand zum Zeitpunkt des Referats (September 1992) wieder und berücksichtigen nicht Veränderungen im weiteren Verlauf der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission bzw. im Gesetzgebungsverfahren.

Wolfgang Gerhards

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Ländern als eigene Angelegenheit oder im Auftrage des Bundes ausgeführt werden. Folgeänderungen in Artikel 80 Absatz 2, 84 Absatz 1 und 85 Absatz 1, 84 Absatz 5 sowie Artikel 104 a Absatz 3 Satz 3. 11. Gesetzgebungskompetenzen

1. Zielsetzung: Rückführung auf den Grundgedanken des Artikels 70, Rückverlagerung von Kompetenzen durch Verschärfung der Generalklausein und Änderung der Kompetenzkataloge im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung (Artikeln, 74) und der Rahmengesetzgebung (Artikel 75). 2. Veränderungen bei der konkurrierenden Gesetzgebung a) Verschärfung der Grundsatznorm des Artikels 12 aa) Verdrängung der Länderkompetenzen nur, wenn der Bund "durch Gesetz" handelt (Absatz 1) bb) Verschärfung der Generalklausel (Absatz 2): Regelungsbedarfnur noch für -

Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet

-

Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse

cc) Neu: Rückfall der Kompetenz an die Länder durch Bundesgesetz (Absatz 3) b) Justitiabilität des Artikels 12 Absatz 2 durch Klagerecht für den Bundesrat, die Landesregierungen und die Länderparlamente (Artikel 73 Absatz 1 Nr. 2a) c) Katalog des Artikels 74 aa) Rückverlagerung in alleinige Länderkompetenz durch Streichung der Nr. 8 (Staatsangehörigkeit in den Ländern) und Nr. 18 (Recht der Erschließungsbeiträge) bb) Reduzierung auf Rahmenkompetenz für das Versammlungsrecht (Nr. 3, künftiger Artikel 75 Nr. 6) und den Schutz des deutschen Kulturguts gegen Abwanderung ins Ausland (Nr. 5, künftiger Artikel 75 Nr. 7). d) Neue Bundeskompetenzen: Für Staatshaftung (Nr. 25) mit Zustimmung des Bundesrates (Absatz 2 neu); für die künstliche Befruchtung und die Gentechnik (Nr. 26). 3. Veränderung der Rahmenkompetenz des Bundes gemäß Artikel 75 a) Verschärfung des Grundsatzes: Rahmenvorschriften in der Regel nur als Anweisung für die Landesgesetzgebung, nicht als unmittelbar geltendes Recht

Überlegungen zur Stärkung der Bundesländer

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-

Absatz 1: "für die Gesetzgebung der Länder"

-

Absatz 2: Nur in Ausnahmefallen Detailregelungen und unmittelbar geltendes Recht

-

Absatz 3: Korrespondierende Umsetzungspflichten für die Länder

b) Veränderungen des Katalogs -

Nr. 1 a: Allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens nur noch für Studienzulassung, Studiengänge, Prüfungen, Hochschulgrade und das wissenschaftliche und künstlerische Personal

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Nr. 2: Streichung der Rahmenkompetenz für den Film

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Nm. 6 und 7: Rahmenkompetenz statt konkurrierender Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Versammlungsrecht und den Schutz deutschen Kulturguts

4. Übergangsvorschrift für Materien, die künftig in die Länderkompetenz fallen (Artikel 125 a) 5. Beteiligung der Länderparlamente bei Änderung der Kompetenzkataloge (Artikel 79 Absatz 2 a)?

IlI. Verwaltungsaufbau und Verwaltungskompetenzen: Bislang in der Gemeinsamen Verfassungskommission noch nicht eingehend erörtert. Vorschläge der Verfassungskommission des Bundesrates: 1. Gerichtliche Überpüfbarkeit von Weisungen bei der Bundesauftragsverwaltung (Artikel 85 Absatz 3)? 2. Aufgabenbegrenzung für den Bundesgrenzschutz (Artikel 87 Absatz 1 Satz 2)? 3. Föderalisierung der Sozialversicherung (Artikel 87 Abs. 2) 4. Errichtung von Bundesoberbehörden nur noch mit Zustimmung des Bundesrates (Artikel 87 Absatz 3 Satz 1)

IV. FinanzveifassungsreJorm 1. Rechtslage bis 31.12.1994 a) Grundsatz: Aufgabenpflicht folgt der Aufgabenwahrnehmung (Artikel 104 a Absatz 1, Absatz 5) mit ModifIkationen (Artikel 104 a Absatz 2, Absatz 3), mit Sonderregelungen für Investitionshilfen (Artikel 104 a Absatz 4) und für Gemeinschaftsaufgaben (Artikel 91 a, 91 b) b) Außerordentlich komplizierte Aufteilung der Einnahmen auf Bund, Länder und Gemeinden (Artikel 106, 107 Abs. 1 und Ausführungsgesetze) unter Berücksichtigung auch von Sonderbelastungen, Ziel: Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (insbesondere Artikel 106 Absatz 3 Satz 4 Nr. 2, Absatz 8)

Wolfgang Gerhards

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c) Horizontaler Finanzausgleich zwischen den Ländern (Artikel 107 Absatz 2 Satz 2) d) Bundesergänzungszuweisungen (Artikel 107 Absatz 2 Satz 3) 2. Änderungsbedarf ab 1995: Derzeitiges System durch Artikel 7 Einigungsvertrag weitgehend suspendiert. Bei Anwendung ab 1995 bricht das bisherige System zusammen. 3. Lösungsansätze sind nicht allein Sache des Verfassungsrechts und der Verfassungspolitik, sondern auch der Haushalts- und Finanzpolitik. Verfassungsrechtlich können nur Grundsätze erarbeitet werden. -

Eckwerte aus der Sicht der Länder im Ministerpräsidenten-Beschluß vom 5.7. 1990 genannt.

-

Zielsetzung kann nur sein: Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse (wie Artikel 72 Absatz 2 neu), nicht einheitliche Lebensverhältnisse (so Artikel 72 Absatz 2 geltende Fassung, Artikel 106 Absatz 3 Satz 4 Nr. 2).

V. Neugliederung 1. Kosteneinsparungen? Effektivität?

2. Polyzentrismus als gewachsenes und bewährtes Strukturprinzip; Wettbewerbsvorteile im internationalen Vergleich 3. Sonderfall Berlin I Brandenburg. VI. Internationale Beziehungen, insbesondere Europa 1. Spannungsverhältnis zwischen Bundestag und Bundesrat betreffend die Stellung des Bundesrates 2. Die Länder und der Maastrichter Vertrag: Zunächst weitreichende Forderungen der Länder (Ministerpräsidenten, Bundesrats-Verfassungskommission) und völlige Ablehnung durch den Bundestag. Inzwischen weitgehender Konsens in der Gemeinsamen Verfassungskommission, Gesetzentwurf der Bundesregierung: a) Föderative Grundsätze und Grundsatz der Subsidiarität als essentielle Bestandteile der Europäischen Union (Struktursicherungsklausel in Artikel 23 Absatz 1) b) Mitwirkung der Länder in der Europäischen Union durch den Bundesrat (Artikel 23 Absatz 2) durch interne Willensbildung (Artikel 23 Absätze 3,4) und Wahrnehmung der Außenvertretung (Absatz 5) c) Beteiligung des Bundesrates an der internen Willensbildung aa) Grundsatz in Artikel 23 Absatz 2 bb) Differenzierung in Artikel 23 Absatz 4:

Überlegungen zur Stärkung der Bundesländer

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-

Satz 1: Stellungnahme des Bundesrates zu "berücksichtigen" bei ausschließlicher Bundeskompetenz, wenn Länderinteressen berührt sind, und im übrigen stets

-

Sätze 2 und 3: Stellungnahme des Bundesrates "maßgeblich zu berücksichtigen", wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihr VerwaItungsverfahren betroffen sind; gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes dabei zu wahren. Zustimmung der Bundesregierung zwingend erforderlich bei Auswirkungen auf die Einnahmen oder Ausgaben des Bundes

d) Wahrnehmung der Außenvertretung (Artikel 23 Absatz 5) e) Ergänzende Regelungen -

Artikel 50: Mitwirkung des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union

-

Artikel 52: Europaausschuß des Bundesrates mit Entscheidungskompetenz

f) Ergänzende Regelungen in einem Ausführungsgesetz zu Artikel 23 ff.

(Länderbeteiligungsgesetz); hervorzuheben:

-

Klagepflicht der Bundesregierung beim Europäischen Gerichtshof auf Verlangen der Länder

- Länderbüros bei Einrichtungen der Europäischen Union 3. Internationale Betätigung der Länder im übrigen a) Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit, Zulässigkeit gemeinsamer Hoheitseinrichtungen (Artikel 24 Absatz 1 a) b) Zusammenarbeit der Länder mit auswärtigen Staaten, Regionen und sonstigen Einrichtungen bei Wahrung der auswärtigen Kompetenz des Bundes (Artikel 32 Absatz 1) c) Integration des Lindauer Abkommens in das Grundgesetz (Artikel 32 Absatz 3).

Detle! Merten DIE STAATSZIELDEBATTE I. Einleitung

In der Verfassungsdiskussion nach der Wiedervereinigung nehmen Staatsziele im Bund wie in den Ländern einen breiten Raum ein. Äußerer Anlaß hierfür ist auch Art. 5 des Einigungsvertrags (EV), wonach die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes sich mit einer Grundgesetzänderung oder -ergänzung und hierbei mit Staatszielbestimmungen befassen sollen. Besonders nachdrücklich sind die Hausaufgaben allerdings nicht gestellt, wie die zaghafte Formulierung verdeutlicht. Denn die Legislative soll sich nur mit den "Überlegungen zur Aufnahme" von Staatszielbestimmungen beschäftigen, was ihr auch nicht aufgetragen, sondern lediglich empfohlen wird. Dadurch wird weder eine Befassungspflicht begründet, noch kommen der Anregung höhere Weihen zu, weil Einigungsvertrag und Einigungsvertragsgesetz I trotz ihrer Verabschiedung mit Zweidrittelmehrheit abgesehen von Art. 4 EV nicht im Verfassungsrang, sondern nur im Gesetzesrang 2 stehen. Die Staatszieldebatte ist freilich nicht erst Frucht der Vermählung beider Teile Deutschlands. Schon davor wurden Staatsziele propagiert und in einer Sachverständigenkommission diskutiert 3 • Landesverfassungen wurden stärker final determiniert, indem Regelungen zum Schutze der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen, nationaler Minderheiten und Volksgruppen sowie zur "Förderung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern" in unterschiedlicher Weise in die bayerische4, die BerlinerS, die bremiVom 23.9.1990 (BGBI. II S. 885). Hierzu Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, 1991,S. 53 ff.; vgl. auch Art. 45 Abs. 2 EV. 3 Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983. 4 Durch das fünfte Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern vom 20.6.1984 (GVBI. S. 223) wurde Art. 3 geändert, die Überschrift des 2. Abschnitts des 3. Hauptteils sowie Art. 131 und Art. 141 neu gefaßt. 5 Durch das 22. Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 3.9. 1990 (GVBI. S. 1877) wurden Art. 21a und Art. 21b eingefügt. I

2

5 Klein (Hrsg.)

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sche 6 , die hessische 7 , die nordrhein-westfälische 8 , die rheinland-pfälzische 9 , die saarländische 10 und die schleswig-holsteinische ll Verfassung Eingang fanden.

Il. Beschränkung und Ausweitung von Staatszielen

In Gestalt klassischer Staatsaufgaben und Staatszwecke 12 sind Staatsziele in Staatstheorie und Staatspraxis anerkannt. Bereits nach dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 soll der Staat "die Sicherheit seiner Untertanen in Ansehung ihrer Personen, ihrer Ehre, ihrer Rechte und ihres Vermögens" hüten. Die Garantie der inneren Sicherheit und des Rechtsfriedens 13 geht dann als Staatsaufgabe in die Deutsche Bundesakte von 1815 und in die Präambel der Reichsverfassung von 1871 ein, wie auch die Vereinigten Staaten ausweislich ihres Verfassungsvorspruchs für Ruhe im Innern und Landesverteidigung sorgen wollen. Art. 2 der Schweizerischen Bundesverfassung statuiert als Staatszweck: "Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt". Die (bloße) Sicherheitsfunktion läßt Ende des 19. Jahrhunderts den Staat pejorativ als "Nachwächterstaat" 14 erscheinen, von Anatole France 15 auf die 6 Durch Gesetz vom 9.12.1986 (GBL S.283) wurden Art. lla und Art. 26 Nr.5 eingefügt und Art. 65 geändert. 7 Durch Gesetz vom 20.3.1991 (GVBL I S. 102) wurde die Untergliederung ,,11 a Staatsziel Umweltschutz" sowie ein neuer Art. 26a eingefügt. 8 Durch Gesetz vom 19.12.1978 (GVBL S. 632) wurde ein Art. 4 Abs. 2 eingefügt; durch Gesetz vom 19.3.1985 (GVBL S. 255) wurde Art. 7 Abs. 2 neu gefaßt, die Überschrift des Vierten Abschnitts des Zweiten Teils um "Umwelt" ergänzt und Art.29a eingefügt. 9 Durch Art. 1 des 27. Landesgesetzes zur Änderung der Landesverfassung vom 19.11. 1985 (GVBL S. 260) (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) wurde Art. 33 geändert und ein VII. Abschnitt "Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen" mit einem Art. 73 a eingefügt. Durch Art. 1 Nr. 30 des 30. Landesgesetzes zur Änderung der Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 15.3.1991 (GVBL S. 73) wurde Art. 73a zu Art. 69. 10 Durch Gesetz Nr. 1182 vom 25.1.1985 (ABI. S. 105) wurde Art. 30 geändert sowie im 1. Hauptteil ein 6. Abschnitt "Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen" mit einem neuen Art. 59a eingefügt. 11 VgL Art. 5 Abs. 2, 6 und 7 der Verfassung in der Fassung vom 13.6.1990 (GVBL

S.391).

12 VgL Herbert Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Österreich, in: Hans Klecatsky (Hrsg.), Die Republik Österreich, 1968, S. 243 ff.: ,,zwecke, welche durch staatliche Normen als die zu verfolgenden Ziele des Staates angegeben werden" (a. a. 0.,

S.245).

13 Sie ist bereits in den Lehren vom Herrschaftsvertrag Staatsrechtfertigung. Hobbes, Leviathan, Kap. 17; Montesquieu, De l'esprit des lois, L.XI, chap. 6; E. F. Klein, Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaft, Halle 1797, § 494 f.; vgL auch BVerwGE 49, 202 (209); BVerfGE 49,24 (56 f.); (österr.) VeifGH EuGRZ 1990, S. 550 ff. (551).

Die Staatszieldebatte

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pointierte Fonnel gebracht, die majestätische Gleichheit der Gesetze verbiete dem Reichen wie dem Armen, unter den Brücken zu schlafen, in den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen. Bedenkt man jedoch, in welcher deutschen Stadt ein Reicher heute noch unter den Brücken schlafen könnte, wird die Forderung verständlich, den Schutz der Bevölkerung vor Verbrechen als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen 16. 'In Abkehr vom absolutistischen Verwaltungsstaat wollte die Aufklärung das allumfassende imperium paternale durch einen Staat der Vernunft mit limitierten Staatszwecken ersetzen, weshalb Wilhelm von Humboldt fragte: "Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?" 17, und Kant 18 forderte, die Gesetzgebung auf das Notwendige zu begrenzen. Das insoweit Entwurf gebliebene preußische Allgemeine Gesetzbuch verbot in § 79 seiner Einleitung den Staatsgesetzen, bürgerliche Freiheiten und Rechte stärker einzuschränken, als es der "gemeinschaftliche Endzweck" erforderte 19, wovon als Rudiment im Allgemeinen Landrecht nur die Reduzierung der Polizeiaufgaben auf die Gefahrenabwehr in § 10 11 17 blieb 20 . Infolge von Chaos und Existenzbedrohung nach Weltkriegen und Inflationen hat in diesem Jahrhundert die Furcht vor Staatsbeglückung abgenommen und die Sucht nach wohlfahrtsstaatlicher "Daseinsvorsorge" zugenommen. Der Staatsbürger, zum "Sozialbürger" verfonnt, sieht sich als "anspruchsberechtigten Empfänger von Dienstleistungen"21. Da ein imperium sociale nicht mehr Unheil, sondern Segnung verheißt, will man klassische negatorische Freiheitsrechte in petitorische Leistungsrechte uminterpretieren und soziale Grundrechte konstitu14 Diesen Begriff verwandte der Abg. Dr. Bamberger bei der Beratung des Gesetzesentwurfs betr. die Unfallversicherung der Arbeiter in der 27. Sitzung des Deutschen Reichstags vom 1.4.1881, Sten.Ber., 4. Legislaturperiode, IV. Session, Bd. I, S. 680. 15 Le lys rouge, VII. 16 So der CSU-Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag, Alois Glück, in einer Pressemitteilung vom 12. 11. 1991 (Nr. 205). 17 In: Neue Thalia, 2, 1792, S. 131 ff. Später abgedruckt als 2. und Teil des 3. Kap. der "Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen", in: Wilhelm v. Humboldts Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann (Akademie-Ausgabe), Bd. I, 1903, S. 97 ff. (106 ff.). 18 Vgl. seinen Brief an Heinrich Jung-Stilling (nach dem 1.3.1789), abgedr. in: Jürgen Zehbe (Hrsg.), Kant, Briefe, 1970, S. 135. 19 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kronprinzenvorträge Suarez': "Sobald das Gesetz weitergeht, sobald es unnütze Einschränkungen der natürlichen Freiheit enthält, sobald fehlt ihm der innere Grund seiner Rechtrnäßigkeit." Abgedr. in: ders., Vorträge über Recht und Staat, hrsg. von Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer, 1960, S.231. 20 Vgl. Georg-Christoph von Unruh, Art. Polizei, Polizeiwissenschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich u. a., Bd. I, 1983, § 7, S. 388 ff. (423 ff.). 21 So der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann, Bulletin vom 13.11.1971, Nr. 167, S. 1762; auch abgedr. in: ders., Präsidiale Reden, 2. Aufl., 1977, S. 255.

5*

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tionell immatrikulieren. Hierbei sind Staatsziele die erste Stufe wohlfahrtsstaatlicher Nobilitierung, ein niedriger Sozialadel gleichsam, wenn man zum Hochadel der sozialen Grundrechte nicht im ersten Anlauf emporkommen kann. Aber es bleiben Glaube, Liebe und Hoffnung - auf einem langen Marsch durch Konstitutionen und Institutionen.

III. Abgrenzung zu Staatsstrukturbestimmungen und Grundrechten Staatszielbestimmungen unterscheiden sich von Staatsstrukturbestimmungen einerseits und von Grundrechten andererseits. 1. Strukturbestimmungen 22 enthalten tragende Konstitutionsaussagen über den Staat, dessen "Baugesetze", wie die österreichische Dogmatik 23 plastisch formuliert. Sie verkörpern die Grundpfeiler staatlicher Ordnung, die unter dem Grundgesetz auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Föderalismus und Republikanismus sowie nicht zuletzt auf Freiheitlichkeit gründet. Die Strukturprinzipien sind Basis deutscher Staatlichkeit. Sie dienen "der Erhaltung bestimmter Grundentscheidungen"24. Deutschland ist eine föderale, rechts staatliche, demokratische und freiheitliche res publica, muß sie also nicht erst werden. Wenn Verfassungsrevisionisten plebiszitäre Elemente in das Grundgesetz einfügen wollen, können sie nicht mehr, sondern bestenfalls eine andere Demokratie erhalten. Anders als die "Baugesetze" sind Staatszielbestimmungen dynamisch, nicht statisch. Sie weisen künftigen Staatsaktivitäten den Weg, sind determinierend, nicht strukturierend. 2. Zeichnen sich die grundgesetzlichen Grundrechte als primär subjektive Bürger- oder Menschenrechte 25 aus, die nur sekundär auch Teil des objektiven Rechts sind, fehlt den Staatszielbestimmungen jegliche subjektive Berechtigung auf seiten des Bürgers. Gewährleisten die Grundrechte zuvörderst individuelle Rechte, auf die der einzelne sich der öffentlichen Gewalt gegenüber berufen kann 26, so folgen aus den Staatszielen allenfalls bei der Zielrealisierung subjektive Rechte, insbesondere aus dem Gleichheitssatz. Fördert der Staat zielumsetzend Kultur und Kinder, Begabte und Behinderte, dann dürfen Individuen oder Gruppen nicht verfassungswidrig privilegiert oder diskriminiert werden. Allerdings

22 Hierzu auch Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,

2. Aufl., 1984, S. 549 ff.

23 Vgl. Ludwig K. Adamovich / Bemd Christian Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 3. Aufl., 1985, S. 98 ff.; AdolfMerkl, Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung, in: Hans Klecatsky (Hrsg.), Die Republik Österreich, 1968, S. 77 ff.; (österr.) VerfGH Slg. 2455/1952. 24 Vgl. Ulrich Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 1972, S. 325 ff. (336). 25 Vgl. BVerfGE 7, 198; 50, 290 (337); vgl. ferner E 35,79; 33, 303 (329). 26

BVerfGE 6, 386 (387).

Die Staatszieldebatte

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entstehen keine originären, sondern nur derivative Ansprüche, Rechte der zweiten Stufe. Inhaltlich sind Staatszielbestimmungen regelmäßig pauschaler, Grundrechte detaillierter gefaßt. Bedürfen Staatsziele daher einer Transformierung und Konkretisierung, so sind Grundrechte meist "self-executing" und benötigen nur mitunter 27 eine organisatorische oder prozedurale Ausgestaltung 28 •

IV. Begriff, Einteilung und Bindung der Staatszielbestimmungen 1. Staatszielbestimmungen sind programmatische Direktiven für den Staat, der sie "nach Kräften anzustreben und sein Handeln danach auszurichten" hat 29 • Wegen ihres Charakters als Handlungspflichten steht es nicht im Belieben der Staatsgewalt, sie anzuvisieren. Anders als die nur an die Legislative gerichteten Gesetzgebungsaufträge binden Staatszielbestimmungen alle Staats gewalten. Sie enthalten keine unverbindliche Offerte, sondern ein verbindliches Programm und sind stringent, weil Grundgesetz und Landesverfassungen normativen Charakter haben und sich von politisch-pathetischen, rechtlich aber wertlosen Proklamationen 30 abheben. Verbindlichkeit erheischt allerdings hinreichend präzise Formulierungen. Verfassungsnormen können den Gesetzgeber nur insoweit binden, als ihre Fassung bestimmt genug ist, eine Norm niederen Ranges daran zu messen 31 • Insoweit bleibt bei den Verfassungen der neuen Bundesländer mangels handwerklicher Präzision noch viel juristische Feinarbeit zu verrichten. So ist die brandenburgische Verfassung zwar eindeutig, wenn sie in Art. 29 Abs. 2 das Land verpflichtet, öffentliche Bildungseinrichtungen zu schaffen und berufliche Ausbildungssysteme zu fördern. Vager ist sie jedoch in Art. 34 Abs. 1 Satz 2, wonach die Kunst "der öffentlichen Förderung, insbesondere durch Unterstützung der Künstler bedarf', und in Art. 35 Abs. 1 Satz 1, wonach Sport ein "förderungswürdiger Teil des Lebens" ist. Die bloße Diagnose von Förderungsbedarf und Förderungswürdigkeit begründet eo ipso noch keine Förderungsverpflichtung. Inhaltlich sind nur solche Direktiven als Staatsziele anzusehen, die, wie die soziale Ausrichtung, die konkrete Staatlichkeit prägen. Keine Staatszielbestimmung stellte daher Art. 158 Abs. 2 WRV dar, wonach "den Schöpfungen deut27 Zu weitgehend daher BVerfGE 56,216 (236): "Indes bedürfen Grundrechte allgemein ... geeigneter Organisationsformen und Verfahrensregelungen. " 28 Vgl. BVerfGE 35,79 (123 f.); 67, 329 (340 f.); 81, 1 (6 f.); 84, 372 (378 f.); BVerfG DVBl. 1992, S. 1531 ff. (1532). 29 Vgl. Art. 3 Abs. 3 sachs.-anhalt. Verf.; ähnlich Art. 13 sächs. Verf. 30 Vgl. z. B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN vom 10.12.1948 und die EG-Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989. 31 Vgl. BVerfGE 6, 55 (76).

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scher Wissenschaft, Kunst und Technik ... durch zwischenstaatliche Vereinbarung auch im Ausland Geltung und Schutz zu verschaffen" war. Ohne formende Kraft für den Staat als solchen lag ein bloßer Verfassungsauftrag vor. Um eine Überschwemmung mit Staatszielen zu vermeiden, ist sorgfaltig zwischen Handlungspotentialen und Handlungsimperativen zu unterscheiden. Nicht alles, was die Verfassung gestattet, gebietet sie auch. So ist die Vergesellschaftung gewisser Güter gemäß Art. 15 GG eine - infolge des staatssozialistischen Bankrotts ohnehin in die Feme gerückte - grundgesetzliche Möglichkeit, keine Notwendigkeit, wird die Volksarmee von der Verfassung (Art. 12a Abs. 1 GG) gedeckt, aber nicht gefordert. Insbesondere ist allen Versuchen zu widerstehen, Gesetzgebungskompetenzen in Staatsziele zu verformen. Gesetzgebungsbefugnisse sagen insbesondere im Bundesstaat nur etwas darüber aus, wer die Gesetze erlassen darf, nicht aber darüber, ob und wie sie erlassen werden müssen 32 • Gesetzgebungsbefugnisse sind Zuständigkeitszuweisungen, keine Handlungsanweisungen 33. Jede andere Interpretation verschöbe auch die Gewichte im Bundesstaat, weil der Bund dann in den Bereichen der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung nicht mehr im Rahmen seiner politischen Gestaltungsfreiheit entscheiden dürfte, ob er tätig wird oder untätig bleibt, sondern mit der Folge legeferieren müßte, daß die Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG ihre Gesetzgebungsbefugnis verlören. Weshalb diese Verfassungsbestimmung von der Voraussetzung ausgeht, daß "der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht", wenn doch Gesetzgebungsrechte Gesetzgebungspflichten oder zumindest Gesetzgebungsaufträge sein sollen, bliebe vollends unerfindlich. Die normalerweise von der Polizei zu garantierende innere Sicherheit und Ordnung wäre nur deshalb kein deutsches Staatsziel, weil das Grundgesetz wegen der Regel-Ausnahme-Vorschrift des Art. 70 Abs. 1 GG die ausschließlichen Länderkompetenzen nicht ausdrücklich aufführt. 2. Entsprechend ihrem Rang ist zwischen unabänderbaren und abänderbaren Staats zielen zu differenzieren, gleichsam zwischen Staatszielen erster und zweiter Klasse. Gemäß Art. 79 Abs. 3 GG ist nur die Sozialstaatlichkeit als solche unabänderbar, widersteht also auch einer Verfassungsänderung und ist nur durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt zu beseitigen. Daher hätte die Sozialstaat32 H. M. Vgl. Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art 70 RN 14 f.; von Mangoldt/ Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl., 1964, Vorbem. II 7a vor Art. 70 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 37 II 5c, S.609; für das österreichische Verfassungsrecht Karl Korinek, Die verfassungsrechtliche Grundlegung der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsordnung, in: Mock / Schambeck (Hrsg.), Verantwortung in Staat und Gesellschaft, 1977, S. 252; a. A. Günther Winkter, Studien zum Verfassungsrecht, 1991, S. 27: "die als Staatszielbestimmungen zu deutenden Aufgabenregelungen in Kompetenztatbeständen nach den Art. 10 bis 15 B-VG". 33 Vgl. auch Merten, Landesgesetzgebungspflichten kraft Bundesrahmenrechts? , in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 431 ff. (450 f.).

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lichkeit wohl durch eine neue Verfassung auf Grund des Art. 146 GG a. F. angetastet werden können, nicht jedoch auf Grund des verunglückten Art. 146 in seiner neuen Fassung. Neue Staatsziele, selbst wenn sie im Wege der Verfassungsergänzung in Art. 1 oder 20 eingefügt werden, können der Ewigkeitsgarantie nicht teilhaftig werden, weil Verfassungsergänzung qualitativ etwas anderes ist als Verfassunggebung. 3. Richten sich die Staatszielbestimmungen als verbindliche Verfassungsdirektiven und nicht bloß unverbindliche Programms ätze an alle drei Staatsgewalten, so ist die Bindung doch von unterschiedlicher Intensität. Wegen ihrer Pauschalität und Diffusität bedürfen Staatsziele in der Regel der Konkretisierung und Aktualisierung durch den Gesetzgeber. Was sozial gerecht oder zur Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geboten ist, läßt sich nicht unmittelbar der Verfassung entnehmen, sondern bedarf eines Ausführungsgesetzes. Wegen ihrer schlagwortartigen Kürze und Unbestimmtheit sind Staatsziele nur selten als Maßstab für die Gesetzesauslegung oder Ermessensausübung für die Exekutive oder Judikative anwendbar. Grundsatznormen taugen nicht zur Interpretation von Detailregelungen. Wie hoch der angemessene Barbetrag zur persönlichen Verfügung im Falle von Anstalts- oder Heimunterbringung nach § 21 Abs.3 BSHG zu sein hat, ergibt sich nicht aus einem Rekurs auf den sozialen Rechtsstaat und den sozialen Bundesstaat. Machte man mit der unmittelbaren Umsetzbarkeit von Staatszielen durch die zweite und dritte Gewalt ernst, so dürften wegen des Staatsziel der Abfallvermeidung in Art. 35 Abs. 1 der Verfassung von Sachsen-Anhalt die Kommunen den Verkauf von Weihnachtsbäumen auf öffentlichen Plätzen nicht mehr gestatten und müßte man die Kantinenpächter in öffentlichen Einrichtungen verpflichten, Pellkartoffeln statt Salzkartoffeln auszugeben, um Küchenreste zu vermindern. Staatsziele können wegen ihrer Offenheit nicht als unmittelbare Grundrechtsschranken wirken, was das Bundesverfassungsgericht für das Sozialstaatsprinzip ausdrücklich festgestellt hat 34 • Das Staatsziel, jeden durch "eine frei gewählte Arbeit" seinen Lebensunterhalt verdienen zu lassen 35, vermag als solches noch nicht die negative Berufsfreiheit des Arbeitgebers zu begrenzen oder gar einen Kontrahierungszwang zu begründen, so daß auch der beliebte Kunstgriff der "Einheit der Verfassung" nicht weiterhilft. Nur wenn und soweit das einzelne Grundrecht eine Beschränkung gestattet, darf der Gesetzgeber bei der Zielrealisierung freiheitsverkürzende Regelungen erlassen. Staatsziele schaffen schließlich keine zusätzlichen Kompetenzen. Wer im Bundesstaat zur Verwirklichung dieser programmatischen Direktiven berechtigt ist, folgt allein aus der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung. Die Staatsziele bieten kein Münchhausen-Patent, um feste Zuständigkeiten unter die Füße zu bekommen. 34

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BVerfGE 59,231 (263). So Art. 39 Abs. 1 sachs.-anh. Verf.

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V. Die Staatsziele des Grundgesetzes 1. a) Bei sorgfältiger Exegese des Grundgesetzes in seiner jetzigen Fassung lassen sich nur wenige Staatsziele 36 gewinnen: Neben der "sozialen" Staatlichkeit in Art. 20 und 28 GG vor allem die Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gemäß Art. 109 Abs. 2 GG37. Die Verfassung verpflichtet Bund und Länder auf das "magische Viereck", das gleichzeitig die Stabilität des Preisniveaus, einen hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum garantieren so1l38. Dieses wirtschaftliche Kräfteparallelogramm läßt keine isolierten Änderungen zu, so daß Verschiebungen sich immer auf das Gleichgewicht als Ganzes auswirken, wie auch bei Verkürzen eines Stuhlbeins die ganze Sitzgelegenheit ins Wackeln gerät. b) Um der historischen Vollständigkeit willen muß noch das frühere Staatsziel der Wiedervereinigung Deutschlands erwähnt werden, das unter Beschneidung seiner territorialen Reichweite 39 wegen Zweckerreichung gestrichen, genauer: den Deutschen unter hilfreicher Angabe der einschlägigen Verfassungsbestimmungen im Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Streichung aufgegeben wurde 4O • Im Gegensatz zur Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 41 war dieses Wiedervereinigungsgebot nicht in erster Linie aus der Präambel, sondern aus Art. 23, 146, aber auch aus Art. 116 Abs. 1 und 16 Abs. 1 GG abzuleiten, weshalb auch der Zwei-plus-Vier-Vertrag bewußt nicht nur zur Änderung der Grundgesetz-Präambel verpflichtet. Der Verfassungsvorspruch in seiner ursprünglichen Fassung bestätigte das Postulat der Wiedervereinigung, begründete es aber nicht 42 • Selbst wenn man bei der früher herrschenden Differenzierung zwischen der Präambel als dem politisch-programmatischen und dem nachfolgenden Text als dem normativen Teil der Verfassung nicht verharrt und auch der Präambel Rechtscharakter zubilligt, kann sie doch lediglich die aus dem normativen Teil der Verfassung abgeleiteten Ergebnisse affirmieren und konturieren, nicht aber selbständig Pflichten konstituieren. 36 Siehe auch sub V 2b. 37 Vgl. auch Peter Badura, Staatsrecht, 1986, S. 202. 38 Vgl. § 1 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8.6.1967 (BGBl. I S. 582). 39 Hierzu Eckart Klein, Die territoriale Reichweite des Wiedervereinigungsgebotes, 1979, insbes. S. 6 ff.; ders., NJW 1990, S. 1071 f.; ders., DÖV 1991, S. 572 f.; Jochen A. Frowein, VVDStRL 49,1990, S. 20; zu eng Christoph Degenhart, DVBl. 1990, S. 997. 40 Der Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12.9. 1990 (BGBl. I S. 1318) legt Deutschland einen Gebietsverzicht auf und verpflichtet es in Art. 1 Abs. 4, die damit "unvereinbaren" Bestimmungen in der Präambel und den Art. 23 Satz 2 sowie Art. 146 GG aufzuheben. Hierzu auch Dieter Blumenwitz, NJW 1990, S. 3041 ff. (3043 ff.); Wilfried Fiedler, JZ 1991, S. 685 ff. (689 f.); zum Hintergrund der frühere Justizminister Dr. Kinkei, NJW 1991, S. 341 sub IV 2. 41 Vgl. E 5,85 (127); 12,45 (51); 36, 1 (17 f., 28 f.); 77, 137 (149); 82, 316 (320). 42 Vgl. Merten, Einigungsvertrag (Fn. 2), S. 27 f.

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2. a) Aus Art. 26 GG i. V. m. Art. 24 GG läßt sich kein Staatsziel gewinnen 43 • Das Verbot des Angriffskrieges ist ähnlich wie das Verbot der Todesstrafe in Art. 102 GG unmittelbar geltendes Verfassungsrecht und nicht erst zu aktualisierendes Verfassungsziel. Lediglich die Strafbewehrung (Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG) enthält einen Gesetzgebungsauftrag. Art. 24 Abs. 2 wiederum gestattet dem Bund eine Einordnung in ein kollektives Sicherheitssystem, gebietet sie aber nicht. Nur wenn der Bund beitritt, muß dies der Wahrung des Friedens und darf nicht der Vorbereitung von Kriegen dienen. Einem Staatsziel einseitiger Friedenssicherung widerspricht schon die Verfassungsvorsorge für den Verteidigungsfall. Die ohnehin nur interpretationsbestätigende Präambel gibt für das Problem nichts her. Der in ihr proklamierte Weltfriedensdienst ist nicht originäre Aufgabe, sondern nur akzessorische Folge einer "gleichberechtigten" Stellung Deutschlands in einem vereinten Europa. Jedenfalls fand und findet die Vulgärmaxime "Lieber rot als tot" keine Absicherung in der Verfassung. b) Auch aus Art. 24 Abs. 1 GG folgt kein Staatsziel der Integration oder internationalen Kooperation 44 • Die Bestimmung dokumentiert deutsche Integrationsbereitschaft und Europaoffenheit, wenn sie dem Bund freistellt, durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Die insoweit unveränderte Präambel des Grundgesetzes, die Deutschland als "gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa" sieht, vermag die Integrationsmöglichkeit nicht in eine Integrationspflicht umzuformen. Art. 24 Abs. 3 GG, der einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit beizutreten gebietet, ist wegen seiner inhaltlichen Begrenztheit nur Verfassungsauftrag, nicht Staatsziel. Jeder interpretatorische Streit um Art. 24 Abs. 1 GG ist jedoch müßig, weil aus dem neu eingefügten Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die sprachlich und stilistisch holprige Direktive folgt, "zur Verwirklichung eines vereinten Europas" mitzuwirken. Dem zielimmanenten Problem mangelnder Bestimmtheit hilft jedoch auch die neue Verfassungsbestimmung nicht ab. Aus ihr läßt sich nicht entnehmen, ob mit "Europa" das Kleineuropa der Europäischen Gemeinschaften oder ein Europa bis zum Ural gemeint sein soll. Zugleich bleibt offen, ob die ,,Europäische Union" Konföderation eines Europa der Vaterländer bleiben oder zu einem europäischen Bundesstaat zusammenwachsen soll. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Staatsziel eines vereinten Europa und der Ewigkeitsgarantie deutscher Staatlichkeit in Art. 79 Abs. 3 GG wird durch die neue Verfassungsvorschrift nicht beseitigt. Wenn Art. 20 Abs. 1 GG Deutschland als einen demokratischen und sozialen Bundesstaat bezeichnet und die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG, die A. A. Badura, Staatsrecht, S. 202. Wie hier Badura, Staatsrecht, S. 202; a. A. Christian Tomuschat, in: Bonner Kommentar (Zweitbearb.), Art. 24 RN 5; zurückhaltender Manfred Zuleeg (Alternativkommentar, 2. Aufl., 1989, Art. 24 Abs. I RN 23), der von einem "Verfassungsgrundsatz der Integrationsbereitschaft" spricht und diesen mit einer Staatszielbestimmung gleichsetzt. 43

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eine Rückprojektion auf Art. 20 GG zuläßt 45, von den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes spricht, dann ist wegen der Bundesstaatlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit auch die souveräne Staatlichkeit Deutschlands als solche fundamentales und gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in seinen Grundsätzen unantastbares Verfassungsprinzip. Föderalistisch postuliert die Ewigkeitsklausel darüber hinaus die Unberührbarkeit nicht nur der Gliederung des Bundes in Länder, sondern auch der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung. Jedes Staatsziel muß diese unüberwindbaren Schranken deutscher Staatlichkeit und Bundesstaatlichkeit beachten, so daß ein europäischer Bundesstaat, der das Mitglied Deutschland auf den Status eines Landes absenkte und die bisherigen Länder um eine essentielle Mitwirkung an der Gesetzgebung brächte, deutschem Verfassungsrecht widerspräche. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG n. F. versucht, den Kontrast zwischen Integrationsdynamik und Staatsbewahrung dadurch zu mildern, daß es die deutsche Mitwirkung staatsrechtlich auf ein Europa beschränkt, das dem föderativen Grundsatz und dem Subsidiaritätsprinzip 46 verpflichtet ist.

VI. Verfassungsopportunität und Veifassungskonformität von Bundeszielen 1. Die tagespolitisch umstrittene Gretchen-Frage, wie man es mit den Staatszielen hält, beantworten Funktion und Aufgabe einer Verfassung.

Anziehungskraft und Durchschlagswirkung des Grundgesetzes beruhen auf seiner Eigenschaft als verbindlichem Verfassungsgesetz und seiner Absage an unverbindliche Verfassungsverheißungen. Konstitutionen taugen nicht als Volkskatechismus oder Erbauungsfibel, als Parteiprogramm oder Kampfproklamation. Gerade die DDR-Verfassungen haben gezeigt, wie geduldig Verfassungspapier ist und in welchem Maße Verfassungstext und Staatspraxis differieren können. So war "die weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität" ein - kläglich gescheitertes - sozialistisches Gesellschaftsziel 47 • Staat und Gesellschaft sollten im Interesse des Wohlergehens der Bürger für den Schutz der Natur sorgen, "der Boden der Deutschen Demokratischen Republik" gehörte zu ihren ,,kostbarsten Naturreichtümern" , die "Reinhaltung der Gewässer und der Luft sowie der Schutz der Pflanzen- und Tierwelt und der landschaftlichen Schönheiten der Heimat" waren durch die zuständigen Organe zu gewährleisten und darüber hinaus auch Sache jedes Bürgers 48. 45 Hierzu Merten, Zum Rechtsstaat des Grundgesetzes, in: Civitas, Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, 1992, S. 255 ff. (256 f.). 46 Vgl. Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 1993. 47 Art. 2 Abs. 1 Satz 3 der DDR-Verfassung i. d. F. vom 7.10.1974 (GVBl. I S. 432).

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Nun ist der Verfassungszynismus eines totalitären Regimes allein kein Argument gegen Staatszielbestimmungen in der Verfassung eines Rechtsstaats. Aber er zeigt, daß Verfassungspathos und Ideologieklischees keine "Errungenschaften" sind, die eine Rettung unter Antastung und Anpassung des bewährten Grundgesetzes rechtfertigen. Aber auch West-Deutschland krankte und krankt als Folge von "Verfassungspatriotismus" 49 und eschatologischem Nymbus des Grundgesetzes an einer "Sucht nach Verfassungserwähnung" . Als Symptom zeigt sich eine "Flucht in die Verfassung", die mit Menschheitsträumen und Verbandszielen, Zukunftshoffnungen und Vergangenheitsdistanzierungen befrachtet wird. Sport und Frieden, Kultur und Abfall, Umwelt und Nachwelt, Minderheiten- und Datenschutz, Kinderbetreuung und Abtreibungsfreiheit, Ansprüche auf Arbeit und Wohnung sollen, wenn nicht schon als Grundrecht, so doch zumindest als Staatsziel verankert werden. 2. Schwerer als verfassungspolitisches Unbehagen wiegen verfassungsrechtliche Bedenken. Der verfassungsändernde Gesetzgeber sieht sich insbesondere der Verbindlichkeit der Grundrechte und der Unantastbarkeit des Prinzips Freiheit gegenüber. Art. 1 Abs. 3 GG stellt den Grundsatz unmittelbarer Verbindlichkeit der Grundrechte für alle Staatsgewalten auf. Er wird nicht durch vereinzelte Gesetzgebungsaufträge 50 geschmälert, weil die Bindungsklausel unmittelbar wirkt, wenn der Gesetzgeber Fristen ungenutzt verstreichen läßt 51 • Aus dem wegen Art. 79 Abs. 3 GG grundsätzlich unantastbaren Prinzip unmittelbarer Verbindlichkeit folgt, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber den Grundrechtskatalog nicht durch Staatszielbestimmungen aufweichen darf. Zwar ist das einzelne Grundrecht als solches nicht der Ewigkeitsgarantie teilhaftig, weshalb z. B. das Asylrecht in eine Staatszielbestimmung oder eine institutionelle Garantie umgewandelt werden könnte. Auch die eine oder andere zusätzliche Staatszielbestimmung im Grundrechtskatalog würde dessen Charakter noch nicht schaden. Sowohl in ihrer Mehrheit als auch nach ihrer Bedeutung müssen die grundgesetzlichen Freiheiten aber echte Grundrechte bleiben und dürfen nicht überfremdet werden. Diese Folgerung ist weder vordergründig noch formal. Zwar ist dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht verwehrt, nach dem Vorbild der Verfassung von Sachsen-Anhalt einen eigenen und neuen Abschnitt über Staatsziele einzufügen. Dann wäre die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Staatszielen gewahrt, wie sie die Verfassung von Sachsen-Anhalt beinahe lehrbuchartig deutVgl. Art. 15 Abs. 1 und 2 DDR-Verfassung. Hierzu Merten, Verfassungspatriotismus und Verfassungsschwärmerei, in: VerwArch. 83, 1992, S. 283 ff. 50 Vgl. Art. 6 Abs. 4 und 5 GG. 51 Vgl. BVerfGE 25, 167 (179 f.); auch E 8,210 (216). 48 49

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lieh macht. Am Beispiel der brandenburgischen Verfassung zeigen sich jedoch die Gefahren einer Vermengung von Staatsziel und Grundrecht. Schon die Überschrift des zweiten Hauptteils dieser Verfassung faßt Grundrechte und Staatsziele zusammen und hält sie auch im folgenden nicht sauber auseinander. So sprechen Art. 45 ff. ausdrücklich vom Recht "auf soziale Sicherung bei Krankheit, Unfall, Invalidität, Behinderung, Pflegebedürftigkeit und im Alter", vom "Recht auf eine angemessene Wohnung" und vom "Recht auf Arbeit". Dem steht jedoch nur die Pflicht des Landes gegenüber, "im Rahmen seiner Kräfte für die Verwirklichung" dieser Rechte zu sorgen. So ist eine brandenburgische Kreuzung entstanden, die man Grundrechtszielbestimmung oder Zielgrundrecht nennen kann. In ihrer vielleicht nicht ungewollten - Ambivalenz gestatten sie dem Interpreten, nach Belieben das Gewicht stärker auf die subjektiv-rechtliche Seite der unmittelbaren Verbindlichkeit oder die objektiv-rechtliche Seite der Aktualisierungspflicht zu legen. Verfassungsrechtliche Vorsicht wäre bei der Einfügung eines Staatsziels zum Schutze des ungeborenen Lebens geboten. Art. 8 Abs. 2 der brandenburgischen Verfassung sieht vor, daß für den Schutz des nasciturus insbesondere durch umfassende Aufklärung, kostenlose Beratung und soziale Hilfe zu sorgen ist. Würde eine Grundgesetzänderung ein Staatsziel als Sonderbestimmung mit der Folge schaffen, daß sich der Verfassungsschutz für ungeborenes Leben ausschließlich nach dem Staatsziel und im Umkehrschluß nicht mehr nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG richtete, so wäre eine derartige grundrechtsbeschränkende oder sogar grundrechtsersetzende Staatszielbestimmung verfassungswidrig. Obwohl das Recht auf Leben unter einfachem Gesetzesvorbehalt steht, ist es condicio sine qua non für alle übrigen Grundrechte. Grundfreiheiten aber, ohne die die Ausübung aller oder der meisten anderen Grundrechte nicht möglich ist, müssen an der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG partizipieren, weil diese durch Verweisung auf Art. 1 GG das Prinzip "Freiheit" in seinem "Grundsatz" garantiert. Die Freigabe der Abtreibung ist demnach nicht nur an Art. 2 Abs. 2 GG, sondern auch an Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 1 GG zu messen.

V/I. Bundesrecht und Landesveifassungsziele Aus bundes staatlicher Perspektive erscheinen Landesverfassungsziele problematisch, die die Priorität des Bundesrechts mißachten. Zwar können Landesverfassungen Freiheit in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz und darüber hinausgehend auch mehr Freiheit gewährleisten, weil Art. 142 GG in Einschränkung von Art. 31 GG den Geltungsvorrang der Bundesgrundrechte insoweit zurücknimmt. Die Überlebensgarantie, die trotz ihres unklaren Wortlauts auch für die Verfassungen der neuen Bundesländer gilt, bezieht sich jedoch nicht auf Staatszielbestimmungen. Denn diese Verfassungsdirektiven sind keine Freiheitsrechte, sondern können, wie die Ziele des Umweltschutzes oder der Abfallvermeidung

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zeigen, zu Freiheitsbeschränkungen des Bürgers führen. Deshalb gilt für Landesverfassungsziele Art. 31 GG uneingeschränkt. Da der Schutz von Staat und Volk gegen auswärtige Gefahren klassische Aufgabe des Gesamtstaats ist und das Grundgesetz in seinem Art. 73 Nr. 1 ausdrücklich dem Bund die ausschließliche Gesetzgebung über auswärtige Angelegenheiten sowie Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung zuweist, hat der Weltfrieden in Landesverfassungen nichts verloren und nichts zu gewinnen. Die Länder müssen den inneren Frieden, vor allem den Rechtsfrieden, auf ihrem Territorium garantieren, im übrigen aber nicht vor der Bundestüre kehren. Verfassungsrechtlich bedenklich ist es, wenn Brandenburg gemäß Art. 39 Abs.9 seiner Verfassung unter der Abschnittsüberschrift "Natur und Umwelt" darauf hinwirken will, daß auf dem Landesgebiet keine atomaren, biologischen oder chemischen Waffen entwickelt, hergestellt oder gelagert werden, und nach Art. 40 Abs. 5 dafür sorgen will, daß militärisch genutzte Liegenschaften verstärkt einer zivilen Nutzung zugeführt werden. Diese Ziele greifen in Bundeskompetenzen ein. Sie lassen sich auch nicht durch den Hinweis auf eine bloße politische Programmatik der Regelungen retten, wie überhaupt die Gefahr besteht, daß bei Staatszielen je nach Opportunität entweder die strikte Rechtsverbindlichkeit oder der programmatische Charakter betont wird. Die Zuständigkeit des Bundes wird von den Ländern nicht erst dann beeinträchtigt, wenn sie ihm einen Teil des Sachgebietes durch Regelungen entziehen, sondern auch schon dann, wenn sie ihn durch politischen Druck zwingen wollen, Sachentscheidungen zu ändern 52. Gerade durch die Aufnahme eines Staatsziels in eine nur schwer abänderbare Verfassung entsteht eine politische Pression von beachtlichem Gewicht. Wegen des Bundesstaatsziels der Erhaltung eines "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" sind viele soziale Staatsziele in den Verfassungen der neuen Länder bedenklich, insbesondere wenn sie Grundrecht und Staatszielbestimmung vermengen. Solange das Land, wie es Art. 22 des FDP-Entwurfs für Thüringen will, nur für die "Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungs- und Ausbildungsstandes" eintreten soll, wird das Bundesstaatsziel noch nicht tangiert. Sobald das Land aber, wie es Art. 36 Abs.3 des CDU-Entwurfs für Thüringen vorsieht, "auf die Erreichung und Aufrechterhaltung eines hohen und stabilen Beschäftigungs- und Ausbildungsstandes hinzuwirken" hat, wird das wirtschaftliche Kräfteparallelogramm aus dem Gleichgewicht gebracht, weil zusätzlich Stabilität des Preisniveaus, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum in gleicher Weise angestrebt werden müssen.

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Vgl. BVerfGE 8,104 (116 ff.).

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Problematisch ist Art. 48 Abs. 1 der brandenburgischen Verfassung, der das Land verpflichtet, im Rahmen seiner Kräfte durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sorgen. Hierdurch wird nicht nur eine unmögliche Leistung versprochen, weil Vollbeschäftigung wegen struktureller Arbeitslosigkeit nicht erreichbar ist. Es werden gleichzeitig auch Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) behindert, weil Gewerkschaften bei Lohnforderungen und Streikdrohungen nicht mehr Auswirkungen auf Arbeitsplätze zu berücksichtigen haben, die vom Staat garantiert werden. Der brandenburgische Verfassunggeber krönt seinen volkswirtschaftlichen Dilettantismus dann durch die Zusicherung, daß das Recht auf Arbeit das Recht jedes einzelnen umfasse, "seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte Arbeit zu verdienen". Am Horizont zeichnen sich überdimensionierte Beschäftigungsgesellschaften für unbegabte Tenöre und ungefragte Marxismus-Forscher ab.

VIII. Trojanische Gefahren Auch verfassungskonforme Staatsziele bereiten eine Fülle von Schwierigkeiten, insbesondere für die Verfassungsinterpretation. So wächst mit der Zahl der durch Verfassungsinkorporierung gleichsam heilig gesprochenen Staatsziele die Gefahr einer Diskriminierung der ausgegrenzten wie übergangenen und nimmt das Interpretationsargument der bewußten Lücke zu. Werden soziale Marktwirtschaft, Preis stabilität oder unabhängige Währungspolitik nicht als Staatsziele anerkannt, so stehen sie auch nicht mehr auf der "Hit-Liste" der Verfassungsinterpreten. Die bisher schon in den Länderverfassungen berücksichtigten Staatsziele sind oftmals so divergierend, daß zu den Grundrechtskonflikten Staatszielkonflikte hinzutreten werden. Bekennt man sich gleichzeitig zu Umweltschutz und Vollbeschäftigung, so muß man gegebenenfalls Umweltbeeinträchtigungen im Interesse der Arbeitsplätze ertragen oder Arbeitslosigkeit mit Rücksicht auf die Umwelt in Kauf nehmen. Die auch jetzt schon erforderliche Abwägung wird durch die Anerkennung von Staatszielen nicht erleichtert, sondern nur auf eine andere Ebene transponiert. Eine Inflation von Staatszielen kann nicht nur politische, sondern auch finanzielle Vorentscheidungen bewirken und damit das Gewicht und die Haushaltskompetenz des Parlaments schwächen. Bekennt man sich wie Brandenburg zur Hilfe für das ungeborene Leben und zu Gleichstellungsmaßnahmen, zu gleichwertigen Lebensbedingungen für Behinderte und zur Förderung der Sorben, zu Kindertagesstätten sowie Bildungs- und Weiterbildungseinrichtungen, zur Förderung von Kunst, Kultur und Sport, zum Schutz der Umwelt und zur Pflege der Kulturlandschaft, zur regionalen Strukturförderung und sozialen Sicherung, zu

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Wohnraum und Arbeit, dann wird aus parlamentarischer Gestaltungsfreiheit Verfassungsvollzug und wandeln sich Volksvertreter zu Staatszielvollstreckern. Die Verfassungsgerichtsbarkeit, die ohnehin berechenbare Grundsatzentscheidungen zunehmend zu Gunsten von Abwägungssubtilitäten im Einzelfall aufgibt, erhält mit den Staatszielen neue Topoi, die ungeahnte Konkordanzen ermöglichen. Deshalb sollte nicht Schädlichkeit, sondern Nützlichkeit und Erforderlichkeit für die Aufnahme neuer Staatszielbestimmungen ausschlaggebend sein. Gleichzeitig wäre der neu entdeckte Subsidiaritätsgrundsatz zu beachten, wonach auf Verfassungsebene nur das geregelt werden muß, was das Parlament von sich aus nicht wirksam erledigen kann. Art. 6 Abs. 5 GG wurde seinerzeit nur in der Verfassung verankert, weil man nicht sicher war, ob der damalige Gesetzgeber eine Gleichstellung der unehelichen mit den ehelichen Kindern herbeiführen würde. Heutzutage ist jedoch die Verantwortung für Umwelt und Arbeitsplätze, für Wohnraum und Abfallvermeidung allgemein anerkannt. Nicht im Fehlen weitgefaßter Staatszie1e, sondern in den Abwägungsschwierigkeiten und Interessenkonflikten des Einzelfalls liegt das Problem. Eine Überfrachtung mit Staatszielen birgt die Gefahr, daß Rechtsanwender auf sie ebenso voreilig rekurrieren wie schon jetzt auf Menschenwürde oder Sozialstaatlichkeit. Gerade für den Verfassungsreformer gilt das russische Sprichwort 53: "Das Ziel ist unser, so lange wir den Stein in der Hand halten; ist er aus der Hand, gehört das Ziel dem Steine."

Thesen 1. In Abkehr vom absolutistischen Verwaltungsstaat haben sich seit der Aufklärung Staatszwecke und Staatsziele vielfach auf die Garantie der Sicherheit nach außen und im Innern reduziert. Infolge existenzbedrohender Ereignisse im 20. Jahrhundert hat die Forderung nach wohlfahrtstaatlicher "Daseinsvorsorge" zugenommen. Art. 5 EV ist daher nur äußerer Anlaß für ein Wiederaufleben der Staatszieldebatte. 2. Staatsziele unterscheiden sich insbesondere von den Staatsstrukturbestimmungen einerseits und den Grundrechten andererseits. Staatsstrukturbestimmungen weisen die "Baugesetze" der Staatsordnung aus, Staatszielbestimmungen dienen der Wegweisung künftiger Staatsaktivitäten. Im Unterschied zu den Grundrechten geht bei den Staatszielen mit der Verpflichtung der Staatsgewalt keine subjektive Berechtigung des Staatsbürgers einher. Allerdings können sich subjektive Rechte im Falle der Zielaktualisierung als "derivative Teilhabeansprüche" ergeben. 53 Nachgewiesen bei Julius Altmann, Die Sprichwörter der Russen, in: Jahrbücher für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft, 1854, S. 377 ff. (461).

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3. Staatsziele enthalten verbindliche Verfassungsdirektiven, sofern sie sich nicht in einem hohlen Verfassungspathos erschöpfen. Im Unterschied zu den Gesetzgebungsaufträgen binden sie alle drei Staatsgewalten, bedürfen jedoch wegen ihrer Diffusität und der Verwendung unbestimmter Verfassungsbegriffe in der Regel der Konkretisierung und Aktualisierung durch den Gesetzgeber. Wegen ihrer Offenheit können die Staatsziele den Grundrechten keine unmittelbaren Schranken ziehen. Im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG kann zwischen unabänderbaren und abänderbaren Staatszielen differenziert werden. 4. Aus dem Grundgesetz in seiner derzeitigen Fassung lassen sich nur die Staatsziele der Sozialstaatlichkeit (Art. 20,28 GG), der Verwirklichung eines vereinten Europa (Art. 23 Abs. 1 GG n. F.) und der Erhaltung des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" (Art. 109 Abs. 2 GG) gewinnen. Aus Art. 24 ff. GG folgt weder ein Staatsziel der europäischen Integration noch das einer "Friedensstaatlichkeit" . 5. Die Anziehungskraft des Grundgesetzes resultiert nicht aus einer Verfassungsprogrammatik, sondern aus der Verfassungsgesetzlichkeit, die die Grundrechte als subjektive Rechte ausgestaltet und ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit gewährleistet. Dagegen hat gerade die DDR-Verfassung mit ihren Staatszielen die Divergenz von Verfassungstext und Staatspraxis gezeigt. Der "Verfassungspatriotismus" führt zu einer "Sucht nach Verfassungserwähnung" , wodurch die Verfassung allerdings in die Nähe eines Volkskatechismus oder einer Erbauungsfibel geraten kann. 6. Bei der Einfügung von Bundesstaatszielen sind wegen Art. 79 Abs. 3 GG die Schranken der Staatlichkeit und der Bundesstaatlichkeit, der Grundsatz der unmittelbaren Verbindlichkeit der Grundrechte (Art. 1 Abs.3 GG) und die Unantastbarkeit des Prinzips "Freiheit" zu beachten. 7. Für Staatsziele in Länderverfassungen gilt der Vorrang des Bundesrechts (Art. 31 GG), der insoweit - anders als bei Grundrechten - durch Art. 142 GG keine Ausnahme erleidet. Bundeskompetenzen können auch beeinträchtigt werden, wenn durch landesverfassungsrechtliche Zielvorgaben politischer Druck ausgeübt wird. Soziale Staatsziele können das Bundesstaatsziel des "wirtschaftlichen Gleichgewichts" tangieren. 8. Auch bei verfassungskonformen Verfassungsdirektiven sind Diskriminierung der ausgegrenzten Ziele, Zielkonflikte sowie eine Einengung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit sowie der parlamentarischen Haushaltskompetenz zu beachten.

Rosemarie Will PLEBISZITÄRE ELEMENTE UND VERFASSUNGSDISKUSSION - KURZTHESEN UND GLIEDERUNG I. Bedürfnisse nach und Chancen von plebiszitären Elementen in Verfassungen Das Ende der Nachkriegszeit, der Zusammenbruch des Ostens, die europäische und die deutsche Einheit stellen uns vor neue Probleme ungeahnten Ausmaßes, die politisch gelöst werden müssen. Politik und Parteiverdrossenheit beim Bürger und Ratlosigkeit beim Politiker, den Parteien und dem Staat drängen zu Änderungen in der Politik. In diesem Kontext gewinnen Forderungen nach direkter Demokratie an Gewicht. In der Verfassungsdiskussion aus Anlaß der deutschen Einheit haben plebiszitäre Elemente auf Bundesebene bisher kaum eine Rolle gespielt. Die verfassungspolitischen Forderungen des Herbstes 1989, unter denen das Plebiszit einen hohen Stellenwert hatte, sind eingegangen in die Verfassungen der fünf neuen Bundesländer und in die Arbeit der Enquetekommission zur Verfassungs- und Parlamentsreform Berlins. In den Landesverfassungen der Bundesrepublik ist die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre Elemente ein bekanntes Instrumentarium.

ll. Was sind plebiszitäre Elemente? In Deutschland wird überwiegend das plebiszitäre Verfassungselement als unmittelbare Beteiligung des Volkes an Staatsgeschäften verstanden. Synonym werden daher die Begriffe "direkte", "unmittelbare" und "plebiszitäre" Demokratie verwendet. Ein weites Verständnis direkter Demokratie schließt nicht nur die Entscheidung (und Mitentscheidung) des Volkes über öffentliche Sachfragen, sondern auch über öffentliche Personalfragen ein. Die plebiszitären Elemente zu Sachfragen können in den Formen des Volksbegehrens, der Volksbefragung, der Volksabstimmung und des Volksentscheids normiert werden. Als stärkstes plebiszitäres Element verankern die Landesverfassungen den volksinitiierten Volksentscheid. Daneben gibt es in den Landesverfassungen die Möglichkeiten des obligatorischen und fakultativen Verfassungsreferendums sowie des fakultativen Gesetzesreferendums. 6 Klein (Hr.g.)

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Rosemarie Will

Ill. Befunde direkter Demokratie in alten und neuen Landesverfassungen Schon in den ersten Landesverfassungen nach dem 2. Weltkrieg wurden mit Ausnahme von Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein direkte Demokratieformen normiert. Schleswig-Holstein hat dies mit seiner umfassenden Verfassungsreform 1990 dahingehend geändert, daß es nunmehr über die modernsten Regelungen verfügt. In den drei bisher in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg in Kraft getretenen Verfassungen sind im Vergleich zu den anderen Landesverfassungen die jeweils stärksten Formen direkter Demokratie verankert worden. In Brandenburg wurden darüber hinaus am 14. Juni 1992 die Verfassung mit Volksentscheid angenommen und so erste Erfahrungen mit dem Plebiszit gesammelt. Die vorliegenden Entwürfe für die Landesverfassungen Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen setzen diese Tendenz fort. Nicht überwunden wurde in den neuen Verfassungen (bzw. Entwürfen) der seit der Weimarer Reichsverfassung in Deutschland beim Plebiszit praktizierte Ausschluß des Volkes von finanzwirksamer Gesetzgebung.

IV. Zum Einfluß der Länderverfassungsgebung auf die gegenwärtige bundespo/itische Verfassungsdebatte Die verfassungsrechtliche Positivierung und die Inanspruchnahme plebiszitärer Elemente in den Ländern bieten nach Ausmaß, Tendenz und Resultaten Anlaß, auch das Für und Wider dieser Regelungen auf Bundesebene neu zu bedenken. Die plebiszitären Ausprägungen des Demokratieprinzips stehen nicht beziehungslos neben der Verfassung des Bundes. Auch im Bundesstaat gibt es keine Einbahnstraße vom Bund zu den Ländern. Angesichts der weiteren Verlagerung staatlicher Funktionen von den Ländern zum Bund können die landesrechtlichen Regelungen plebiszitäre Defizite auf Bundesebene nicht kompensieren. Die grundgesetzliche Ordnung steht dabei einer Erweiterung direkter Demokratieformen nicht entgegen. Vom Gewinn durch plebiszitäre Elemente bei der Lösung der anstehenden politischen Aufgaben kann ausgegangen werden.

Gerd Mende

ÜBERLEGUNGEN ZU EINER NEUREGELUNG DER FINANZVERFASSUNG Das Symposium zum Thema "Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung kommt zur rechten Zeit. Die Diskussion über notwendige Anpassungen des Grundgesetzes für das neue Deutschland ist zwingend erforderlich. Mit der Einbeziehung der neuen Länder zum 1. 1. 1995 in den gesamtdeutschen Finanzausgleich erfolgt ein weiterer Schritt auf dem noch langen Weg der inneren Einigung zur Verwirklichung des neuen Deutschland. Die Diskussionen für Verfassungsänderungen werden weitergeführt werden müssen anhand neuer Erkenntnisse beim Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands. Mit dem Staatsvertrag vom 18. Mai 1990, dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990, dem Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands wurden die Regelungen über den Vollzug der äußeren Einigung der beiden Teile Deutschlands festgelegt. Das Staatswesen beider Teile Deutschlands hatte sich in den über 40 Jahren des Getrenntseins sehr unterschiedlich entwickelt. In der für die Erarbeitung der beiden Verträge zur Verfügung stehenden kurzen Zeit konnte die Einigung nur unvollkommen vorbereitet werden. Zum Stichtag 3. Oktober 1990 wurde mit wenigen Ausnahmen die gesamte Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik auf die neuen Länder ausgedehnt. Die faktischen Verhältnisse in den neuen Ländern paßten in weiten Bereichen nicht zu der neuen Ordnung. Der Vollzug der äußeren Einigung bedeutete für die neuen Länder ein Wegbrechen des Vorhandenen im gesamten Staatswesen, aber auch in allen gesellschaftlichen Bereichen. Jeder Bürger sah sich kurzfristig mit einem völlig veränderten Lebensumfeld konfrontiert. Das Erarbeiten neuer Ordnungsstrukturen und eine Weiterentwicklung der Verfassung für das neu entstandene Deutschland im Einigungsvertrag waren nicht möglich. Zum einen erlaubte die kurze Zeit nicht die Erarbeitung neuer Verfassungs strukturen, andererseits war die Kenntnis der Verhältnisse der beiden Staaten jeweils auf der anderen Seite zu gering. Nachdem nun in dem neuen Teil der Bundesrepublik in allen gesellschaftlichen Bereichen im wesentlichen der Status quo erarbeitet werden konnte und die 6*

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Notwendigkeit, nach der äußeren Einigung auch die innere Einigung zu vollziehen, anerkannt wird, muß die Frage nach notwendigen Anpassungen des Grundgesetzes gestellt werden. Wenn ich heute zu Ihnen zum Thema "Überlegungen zu einer Neuregelung der Finanzverfassung" sprechen darf, bitte ich um Verständnis, wenn ich als Haushaltsdirektor eines der neuen Länder dieses Thema sehr subjektiv aus der Sicht eines Praktikers und im Interesse der neuen Länder behandeln werde. Als Praktiker denke ich vor allem an die enormen Finanztransferbedarfe der neuen Länder, die ich kurz andeuten werde, aber auch an die politischen Machbarkeiten angesichts der Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat. Ich möchte jedoch zunächst auf die gegenwärtige Verfassungssituation eingehen. In dem föderativen Staatssystem der Bundesrepublik ist das Kernstück die Finanzverfassung. Sie regelt die Aufteilung der Finanzverantwortung zwischen Bund und Ländern, die sich aus der Wahrnehmung der Bundes- und der Landesaufgaben ergibt und bestimmt die Möglichkeiten des politischen Handeins im Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten beider staatlicher Ebenen. Als wichtigster Grundsatz wird in Art. 109 Abs. 1 GG festgelegt, daß Bund und Länder in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig sind. Andererseits gebietet Art. 109 Abs. 2 GG - und das ist für die Diskussion über die Ausgestaltung des zukünftigen Finanzausgleiches wichtig - Bund und Ländern, bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Zur Absicherung der Selbständigkeit im Budgetrecht werden einerseits vom Grundgesetz die Verteilung der Lasten in Art. 104 a GG - das heißt die Ausgabentragungspflicht für die Erfüllung der zugewiesenen Aufgaben - und andererseits die Steuergesetzgebung sowie die Steuerquellen und der Steuerertrag in Art. 105 und 106 GG festgelegt. Nach Art. 105 GG steht die Steuergesetzgebung überwiegend, in der Praxis kann man sagen ausschließlich, dem Bund zu. Die Verteilung der in der Bundesrepublik erhobenen Steuern nach Art. 106 GG regelt, daß wesentliche Steuereinnahmen ausschließlich dem Bund zustehen, an der Einkommensteuer, der Körperschaftssteuer und der Umsatzsteuer die Länder bzw. die Kommunen beteiligt werden. Um die Unabhängigkeit im Budgetrecht zum Beispiel auch bei einem erheblichen Anwachsen von Ausgabenbelastungen einer der beiden staatlichen Ebenen sicherzustellen, wird neben der sonst grundsätzlichen starren Verteilung des Steueraufkommens bei der Umsatzsteuer eine Ausgleichsmöglichkeit zwischen dem Bund und den Ländern in Art. 106 Abs. 3 GG vorgesehen. Danach können die Anteile von Bund und den Ländern an der Umsatzsteuer durch ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, jeweils den Bedürfnissen entsprechend festgesetzt werden.

Überlegungen zu einer Neuregelung der Finanzverfassung

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Bei der Festsetzung ist von zwei Grundsätzen auszugehen, die auch Grundlage für den noch festzulegenden Finanzausgleich ab 1. 1. 1995 sein müssen. Diese Grundsätze lauten: 1. Im Rahmen der laufenden Einnahmen haben der Bund und die Länder gleichmäßig Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben. Dabei ist der Umfang der Ausgaben unter Berücksichtigung einer mehrjährigen Finanzplanung zu ermitteln. 2. Die Deckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder sind so aufeinander abzustimmen, daß ein billiger Ausgleich erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird. Dieser sogenannte vertikale Finanzausgleich, das heißt der Finanzausgleich zwischen dem Bund und der Ländergesamtheit wird ergänzt durch den Finanzausgleich unter den Ländern nach Art. 107 GG. Im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 wurde für die neuen Länder einschließlich Ost-Berlin - durch Art. 7 die Finanzverfassung des Grundgesetzes teilweise bis zum 31. Dezember 1994 außer Kraft gesetzt. Insbesondere wurden suspendiert: Die von mir zitierten Grundsätze, die für die Verteilung der Umsatzsteuer zwischen Bund und den Ländern gelten, und die Regelungen über den Finanzausgleich zwischen den Ländern nach Art. 107 GG. Dieses Aussetzen der Regelungen über die Steuerverteilung sollte bruchartige Auswirkungen, insbesondere auf die Haushalte der alten Länder vermeiden, da bei einer sofortigen Einbeziehung der neuen Länder unvorhergesehene und damit nicht einplanbare Einnahmeverschiebungen in die neuen Länder die Folge gewesen wären. Als Ersatz für die Herausnahme der Länder aus dem gesamtdeutschen Finanzausgleich wurde der Fonds "Deutsche Einheit" errichtet, der den damals absehbaren Bedarf für die neuen Länder abdecken sollte, der über die eigenen Steuereinnahmen hinaus sich ergeben würde. Wir alle wissen inzwischen, daß sich hier die Verhandlungspartner erheblich geirrt haben und die jährlichen Ersatzbeträge viel zu niedrig angesetzt worden sind. Ein stetiges Nachverhandeln war vorprogrammiert. Die Öffentlichkeit konnte dies nicht akzeptieren. Die Bürger in den alten und neuen Ländern wurden verunsichert. Die zunehmende Belastung der Länder und ihrer Kommunen durch Bundesgesetze in den vergangenen Jahren, die nivellierende Wirkung des Länderfinanzausgleichs sowie die Mitbestimmung des Bundes bei den Maßnahmen der Mischfinanzierungen - das heißt, die gemeinsam von Bund und einem Land getragene Finanzierung - haben den Ruf nach einer Reform der Finanzverfassung immer hörbarer werden lassen.

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Das Aufarbeiten des Status quo der neuen Länder, d. h. das Deutlichwerden ihrer geringen Wirtschafts- und Steuerkraft und die sich damit abzeichnenden erheblichen Finanztransferbedarfe lassen eine Refonn als dringend erforderlich erscheinen. Eine für alle staatlichen Ebenen tragfähige Finanzierung der Transfers ist erforderlich. Ein möglichst schneller Aufbau einer eigenen Finanzkraft der neuen Länder ist notwendig. Wird beides nicht bald geregelt, wird die Volkswirtschaft der Bundesrepublik überbelastet. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Sinne des Art. 109 Abs.2 GG in Verbindung mit § 1 des Stabilitätsgesetzes würde unmittelbar gefährdet. Die Bundesregierung wartete mit dem Beginn ihrer Refonnarbeiten die Beendigung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht ab, die auf Grund von Klagen der alten Länder gegen Einzelfragen aus dem gesamtdeutschen Finanzausgleich anhängig waren. Das Bundesverfassungsgericht hat durch Urteil vom 27. Mai 1992 einige Regelungen des inzwischen geltenden Finanzausgleichsgesetzes für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Es hat darüber hinaus die Haushaltsnotlage in den Ländern Saarland und Bremen anerkannt und hierzu aufgegeben, daß insbesondere der Bund, aber auch die anderen alten Länder im Hinblick auf ihre bündische Pflicht verpflichtet sind, diesen beiden Ländern finanziell zu helfen. Diese Pflicht zur Hilfe wird allerdings an die Vorlage von Sanierungskonzepten geknüpft. Das heißt, daß auch auf Grund des Urteiles des Bundesverfassungsgerichtes Änderungen im Finanzausgleichsystem in der Bundesrepublik vorzunehmen sind. In mehreren Arbeitsgruppen mit Vertretern der Finanzministerien der Länder wurde ein Katalog von Fragen erarbeitet, die für eine Finanzrefonn zu prüfen und zu entscheiden sind. Zu diesen Fragen wurden dann auch jeweils mehrere Lösungsvorschläge erarbeitet. Die Gespräche der Landesfinanzministerien über die von den Arbeitsgruppen erarbeiteten Fragen und Vorschläge sind noch nicht abgeschlossen. Zu den diskutierten Fragen gehörten insbesondere Änderungen im Bereich der Verwaltungs- und Finanzierungszuständigkeiten, weil durch die Trennung von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen die Übertragung von Aufgaben auf die Länder ohne gleichzeitige Bereitstellung von Finanzmitteln erfolgt. In diesem Zusammenhang wurden insbesondere auch landeseigene Kompetenzen bei der Steuergesetzgebung aufgeworfen, insbesondere mögliche landeseigene Zuschläge für geltende Steuern diskutiert. Von den stark streuenden Ausgaben von Ländern und Gemeinden sollen u. a. die Sozialhilfekosten, der öffentliche Personennahverkehr in der Fläche u. ä. in die Finanzierungskompetenz des Bundes überführt werden.

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Die ungeschriebenen Bundeszuständigkeiten und deren Finanzierung solle in einem Gesetz geregelt werden. Umfang und Finanzierung der Auftragsverwaltung des Bundes an die Länder soll geklärt werden. Ein weiterer Themenkomplex bezieht sich auf die Mischfinanzierungen und die Steuerertragsverteilung unter den Ländern. Parallel zu den Diskussionen in den Arbeitsgruppen wurden von verschiedenen alten Ländern Modelle für den Finanzausgleich unter Einbeziehung der neuen Länder ab 1. 1. 1995 vorgelegt. Darüber hinaus hat ein Land ein Modell zur Finanzierung des Finanzbedarfs der neuen Länder für eine weitere Übergangszeit von zwei Jahren vorgeschlagen. In die Diskussion wird zur Zeit auch eine Übergangszeit für die neuen Länder ins Gespräch gebracht, die eine längerfristige Suspendierung der neuen Länder von den Regelungen des gesamtstaatlichen Finanzausgleichs vorsieht. Der noch nicht weit gediehene Stand der Diskussion zu einer Finanzreform und die bisherigen politischen Erklärungen, insbesondere seitens des Bundes machen deutlich, daß eine Verfassungsänderung derzeit nicht zu erreichen ist. Die auf Grund des Bundesverfassungsgerichts zu regelnden Fragen und die Einbeziehung der neuen Länder in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich sollen durch ein einfaches Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, geregelt werden. Für die neuen Länder kann nur die Alternative in Frage kommen, daß sie ohne weitere Übergangszeit zum 1. 1. 1995 in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich aufgenommen werden. Wie er ausgestaltet werden soll oder besser gesagt, wie er angesichts der großen Finanzbedarfe, die die neuen Länder haben, ausgestaltet werden muß, wird im einzelnen noch erörtert werden müssen. Letztlich werden politische Entscheidungen zu treffen sein. Die gegeneinander stehenden Egoismen des Bundes und der Länder, aber auch unter den Ländern selbst sowie die entgegengesetzten parteilichen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und Bundesrat setzen große Kompromißbereitschaft voraus. Diese termingerechte Einbeziehung der neuen Länder in den gesamtdeutschen Finanzausgleich ist im Interesse ihres kontinuierlichen Aufbaues zwingend erforderlich. Sie ist aber auch notwendig, um Fortschritte im Prozeß der inneren Einigung zu erreichen. Es wird aus verfassungsrechtlichen Gründen, aber auch aus Gründen des sozialen Friedens unzulässig sein, den Menschen in den neuen Ländern für eine weitere Übergangszeit einen politischen und sozialen Gegensatz zu den alten Ländern abzufordern. Die alten und neuen Länder müssen daher zum 1. 1. 1995 in einem einheitlichen auf Dauer angelegten Finanzausgleichssystem verbunden werden. Der Aufbau der neuen Länder erfordert im übrigen dringend, daß die Regierungen mittelfristig und langfristig planen können, was bei jährlichen gleichbleibenden Finanzzuweisungen nicht möglich sein wird, da die wirtschaftliche Entwick-

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lung und damit die Steuerkraft in den neuen Ländern nicht mit Sicherheit absehbar ist und weiterhin schädliche jährliche Neuverhandlungen über Finanztransfers abzusehen wären. Die termingerechte Einbeziehung der neuen Länder in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich wird auch die einzige mit dem Grundgesetz zu vereinbarende Lösung sein. Nur so können die Anforderungen erfüllt werden, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 27.5.1992 (BVerfGE 86, 148) an eine mit dem Grundgesetz vereinbare Finanzordnung stellt. Ich darf einige Anforderungen zitieren: "Die finanzverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes sollen insgesamt eine Finanzordnung sicherstellen, die Bund und Länder am Finanzaufkommen sachgerecht beteiligen und finanziell in die Lage versetzen, die ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben auch wahrzunehmen ... " (S. 264). "Die staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern stützt sich auf eine Aufgabenzuweisung und ihre entsprechende Finanzausstattung, die im Rahmen des gesamtstaatlich Möglichen eine sachgerechte Aufgabenerfüllung erlaubt.... Erst dadurch kann die staatliche Selbständigkeit ... real werden, können sich Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahmehmung entfalten ..." (S. 213 f.). "Die finanzverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes ... sind darin zugleich Ausdruck der im Bundesstaat bestehenden Solidargemeinschaft von Bund und Ländern und des bündischen Prinzips des Einstehens füreinander ... Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen Gemeinschaft - sei es der Bund, sei es ein Land - in einer extremen Haushaltsnotlage, die seine Fähigkeit zur Erfüllung der ihm verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben in Frage stellt und aus der es sich mit eigener Kraft nicht befreien kann, so erfährt dieses bundes staatliche Prinzip seine ... Konkretisierung in der Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen Hilfe zu leisten, damit es wieder zur Wahrnehmung seiner politischen Anatomie und zur Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen befähigt wird. Diese verfassungsrechtliche Pflicht trifft nicht den Bund allein, sondern dem bundesstaatlichen Prinzip entsprechend - Bund und Länder" (S. 264 f.). Die Einbeziehung der neuen Länder in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich wird nicht allein nach den derzeit geltenden Regelungen erfolgen können. Denn auf Grund der Steuerschätzung vom Mai 1992 würde im Jahr 1995 das Volumen des Länderfinanzausgleichs von rd. 6 Mrd. DM auf über 30 Mrd. DM ansteigen, die überwiegend von den alten Ländern in die neuen Länder fließen würden. Angesichts der im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 1992 getroffenen Feststellungen würde dieser Finanzverlust den alten Bundesländern in dem Umfange wohl nicht zugemutet werden können. Denn nach dem Urteil

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des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juni 1986 (BVerfGE 72, 330) soll der Länderfinanzausgleich nur zu einem "Spitzenausgleich" führen. Ich zitiere hierzu das Urteil: "Die Verpflichtung zum horizontalen Finanzausgleich folgt aus dem bündischen Prinzip des Einstehens füreinander. Das bündische Prinzip begründet seinem Wesen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Eine dieser Pflichten besteht nach dem Grundgesetz darin, daß die finanzstärkeren Länder den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten haben. Diese Pflichtbeziehung führt notwendigerweise zu einer gewissen Beschränkung der finanziellen Selbständigkeit der Länder. Es würde indes gegen das bundesstaatliche Prinzip verstoßen, wenn der horizontale Finanzausgleich die Leistungsfähigkeit der gebenden Länder entscheidend schwächte oder zu einer Nivellierung der Länderfinanzen führte ... Der Länderfinanzausgleich teilt die dem Bundesstaatsprinzip innewohnende Spannungslage, ... Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualität der Länder auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite" (S. 397 f.). In der Diskussion über die Höhe des notwendigen Finanztransfers in die neuen Länder ab 1. 1. 1995 wird in der Regel nur der von mir genannte Betrag von rd. 30 Mrd. DM genannt, der sich bei einer Einbeziehung in den geltenden Länderfinanzausgleich ergeben würde. Diese 30 Mrd. DM Transfervolumen decken aber bei weitem nicht den notwendigen allgemeinen Finanzbedarf der neuen Länder. Dies folgt daraus, daß die neuen Länder mit der Übernahme der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsordnung des Grundgesetzes die gleichen Staats strukturen und damit die gleichen Ausgabenzwänge übernommen haben, andererseits aber erhebliche investive Nachholbedarfe im Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung und der öffentlichen Infrastruktur haben. Allein die Verwaltungsbauten erfordern in Sachsen rd. 1,5 Mrd. DM. Dieselbe Summe ist für die Sanierung / den Neubau von Gefängnissen erforderlich. Die Sicherheit erfordert darüber hinaus einen Aufbau der Polizei wie in den alten Ländern. Der Verkehr, die Bildung, die Gesundheitsversorgung usw. müssen auf vergleichbaren Stand wie in den alten Ländern gebracht werden. Schließlich schlägt auf die Finanzsituation der Länder auch die mangelnde Steuerkraft der Kommunen durch. Deren unzureichende Finanzausstattung wird für 1995 insbesondere auch durch den festen Anteil am Fonds "Deutsche Einheit" abgesichert. Ab 1995 sind sie auf erhebliche Zuweisungen der Länder angewiesen, da sie auch dann noch etwa nur 1/3 der Steuereinnahmen der Kommunen in den alten Ländern erreichen werden. Ich darf daher nun diesen notwendigen Finanztransferbedarf nennen, damit auch die Größe des zu lösenden Problems bei der Einbeziehung der neuen Länder in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich deutlich wird.

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Nach einer Übersicht des Bundesfinanzministeriums vom 26.5.1992, die auf offiziellen Steuerschätzungen vom Mai 1992 beruht, werden sich die Finanzierungslücken der neuen Länder einschließlich ihrer Kommunen wie folgt entwikkeIn (in Mrd. DM):

1995 1996

Einnahmen

Ausgaben

Defizite

84,6 92,5

168,1 178,5

83,5 86,0

Wenn man für die neuen Länder - einschließlich ihrer Kommunen - unterstellt, daß sie wie die alten Länder - einschließlich ihrer Kommunen - eine Defizitquote ihres Haushaltes in Höhe von 4 v. H. als vertretbar akzeptieren müssen, so würde sich zum Beispiel für 1995 das Defizit auf rd. 77 Mrd. DM verringern. Sofern auch die Belastungen aus dem 1993 aufzulösenden Kreditabwicklungsfonds und auch die vom Bund den Ländern angelastete 50%ige Beteiligung an den Schulden der Treuhandanstalt den neuen Ländern genommen würde, würde sich das Defizit um weitere rd. 15 Mrd. DM jährlich auf rd. 62 Mrd. DM verringern. Das bedeutet, daß selbst wenn die immer wieder genannten 30 Mrd. DM Umschichtungsvolumen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs aufgebracht werden, noch ein weiterer Finanzierungsbedarf an allgemeinen ungebundenen Zuweisungen in Höhe von mindestens 32 Mrd. DM zu erfüllen bleibt. Mit dem Bund sind sich die neuen Länder einig, daß über diesen Bedarf an allgemeinen Finanzzuweisungen hinaus ein weiterer Bedarf an zweckgebundenen Investivzuweisungen besteht, um den Aufbau der neuen Länder, d. h. den Aufbau einer eigenen Finanzkraft, möglichst schnell zu erreichen. Die neuen Länder sind noch nicht attraktiv für Investoren. Die für private Investitionen notwendige öffentliche Infrastruktur muß schnell geschaffen werden. Der Rahmen für die Investitionen muß stimmen. Natürlich müssen auch hier Prioritäten gesetzt werden .. Die Diskussion zwischen den Ländern über die verschiedenen von den alten Ländern vorgelegten Modelle für den Eintritt der neuen Länder in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich hat bisher noch zu keiner gemeinsamen Haltung geführt. Der Bund hat inzwischen sein "Thesenpapier zur Neuordnung der Bund / Länder-Finanzbeziehungen" vorgelegt. In diesem "Thesenpapier" werden keine Zahlen genannt, sondern es werden grundsätzliche Aussagen zur Einbeziehung der neuen Länder in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich aufgezeigt. Im übrigen werden auch Aussagen dazu gemacht, wie und wann er die vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 1992 ihm auferlegten Gesetzesänderungspflichten und Pflichten zur Beseitigung der Haushaltsnotlagen im Saarland

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und in Bremen u. a. Probleme löst. Ich möchte Ihnen nur kurz die Vorstellungen des Bundes zur Einbeziehung der neuen Länder in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich darstellen. Die Thesen beziehen die gesamten Lasten, die durch die Einigung beider Staaten entstanden sind und noch entstehen, in das Konzept mit ein. Das heißt, nicht nur die Finanzbedarfe der neuen Länder werden berücksichtigt, es werden auch die Lasten aus dem KreditabwicKlungsfonds und der Treuhandschulden neu verteilt. Die aus beiden Bereichen sich ergebenden Schulden werden an Zinsen und Tilgungen jährlich einen Finanzbedarf zwischen 30 und 40 Mrd. DM erfordern. Hier schlägt der Bund vor, daß der Bund und die Gesamtheit der Länder jeweils die Hälfte dieser jährlichen Annuitätsverpflichtungen übernehmen. Zu der Stellung Berlins sieht der Bund vor, daß die Berlinhilfe ab 1995 ersatzlos wegfallen soll und Berlin stattdessen durch Einbeziehung in den Länderfinanzausgleich eine gleichberechtigte Stellung in der Ländergemeinschaft haben soll. Nach vorläufiger Schätzung dürfte Berlin rd. 6 Mrd. DM erhalten, d. h. in etwa den Betrag, den der Bund bisher im Finanzplan als Berlinhilfe berücksichtigt hatte. Für das neue System schlägt der Bund den Wegfall des steuerkraftbezogenen Umsatzsteuerausgleichs nach Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG vor. Er bedeutet, daß bis zu 25 v. H. des Länderanteils an der Umsatzsteuer vorab auf steuerschwache Länder verteilt werden könnten. Das heißt, daß es zukünftig auf Länderebene nur noch ein einstufiges Ausgleichssystem bei der Umsatzsteuer gäbe. Im einzelnen sieht der Bund dann auch vor, die bisherige "Mindest-Ländersteuergarantie" abzuschaffen. Sie wäre in dem vorgeschlagenen System des neuen gesamtdeutschen Finanzausgleichs nur mit großen Schwierigkeiten möglich. Sie würde auch das Berechnungsverfahren erheblich verkomplizieren und wäre auch wegen des großen Umfangs der Bundesergänzungszuweisungen ausgleichssystematisch nicht mehr zu rechtfertigen. Die bisherige Berücksichtigung von Hafenlasten soll schließlich entfallen. Für die Finanzausstattung der neuen Länder sieht das "Thesenpapier" ein dreistufiges Verfahren vor. Danach wird der Bund bei Einbeziehung der neuen Länder in den Länderfinanzausgleich "Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen" in die Finanzausgleichsmasse einspeisen. Das bedeutet, daß er eine Überbelastung der alten Länder bei Einbeziehung der neuen Länder in den Länderfinanzausgleich vermeiden will. Hiermit sollen den neuen Ländern die in der Diskussion immer wieder genannten und von mir auch zitierten rd. 30 Mrd. DM Ausgleichsrnasse im Länderfinanzausgleich zur Verfügung gestellt werden. Den von mir genannten weiteren Finanzbedarf in Höhe von ca. 32 Mrd. DM spricht der Bund, ohne jedoch Zahlen zu nennen, in der zweiten Stufe seiner

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Zuweisungen an. Er sieht für eine vorübergehende Zeit "Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen" an die neuen Länder vor. In einer dritten Stufe beabsichtigt der Bund, Hilfen zum investiven Aufbau der neuen Länder zu leisten. Er wird daher Finanzhilfen nach Art. 104 a Abs. 4 GG zur Bewältigung des Infrastrukturnachholbedarfs für besonders bedeutsame Investionen zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet gewähren. Für den eigentlichen Länderfinanzausgleich sieht der Bund unter Einbeziehung der neuen Länder für alle Länder eine Mindestauffüllung von 95 v. H. der durchschnittlichen Steuereinnahmen vor. Die Höchstauffüllung soll 99 v. H. der durchschnittlichen Steuereinnahmen betragen. Der hiernach erforderliche Ausgleichsbetrag, das sind die immmer wieder genannten rd. 30 Mrd. DM, sollen zu 75 v. H. von den alten Ländern aufgebracht werden, während der Bund einen Anteil von 25 v. H. der Ausgleichsrnasse für den Länderfinanzausgleich bereitstellt. Der Länderanteil wird durch Beiträge aller Länder finanziert, deren Finanzkraft über der länderdurchschnittlichen Finanzkraft liegt. Die Beiträge werden nach einem für alle Zahlerländer gleichen Prozentsatz errechnet. Wegen des erheblichen Umfanges der finanzkraftbezogenen "Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen" verbleibt jedem Zahlerland ein erheblicher Teil seiner über dem Durchschnitt liegenden Steuereinnahmen. Die in Zahlen gegossenen Thesen des Bundes bedeuten nach überschlägiger Berechnung des Sächsischen Staatsministeriums der Finilnzen eine Ausgleichsrnasse von rd. 31,5 Mrd. DM. Davon fließen rd. 0,5 Mrd. DM in das Saarland und nach Bremen, 31 Mrd. DM in die neuen Länder. Der Bund trägt 7,9 Mrd. DM, die übrigen alten Länder 23,6 Mrd. DM zur Finanzierung des Finanzausgleichs bei. Besonders stark belastet werden nach den Vorstellungen des Bundes die finanzkräftigsten Länder Nordrhein-Westfalen (Ausgleichsbetrag: rd. 6,7 Mrd. DM), Bayern (4,1 Mrd. DM), Baden-Württemberg (6,8 Mrd. DM), Hessen (4,2 Mrd. DM) und Hamburg (1 Mrd. DM); gegenwärtig bestreiten lediglich Baden-Württemberg (1993: 2,3 Mrd. DM) und Hessen (1993: 1,6 Mrd. DM) die Zahlungen für den Finanzausgleich. Auch Rheinland-Pfalz und Schieswig-Holstein müssen geringere Beträge aufbringen. Allerdings werden diese Länder, insbesondere aber auch Niedersachsen, dann stärker betroffen, wenn der Bund die diesen Ländern gewährten Bundesergänzungszuweisungen kürzt. Bezogen auf das Haushaltsvolumen bedeutet dies z. B. für Nordrhein-Westfalen eine Belastung in Höhe von rd. 8 % des Ausgabenvolumens, für Bayern von rd. 7 %, für Rheinland-Pfalz immerhin von etwa 1 % der Staatsausgaben. Weder zur Höhe noch zur Aufteilung der Bundesergänzungszuweisungen nämlich der "Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen" und der "Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen" - trifft der Bund eine Aussage. Legt man die im Finanzplan des Bundes 1995 vorgesehene Summe von 15 Mrd. DM als

Überlegungen zu einer Neuregelung der Finanzverfassung

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Gesamtleistung für die neuen Länder zugrunde, so verbleibt als mögliches Volumen "Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen" ein Betrag von 7,1 Mrd. DM. Der Bund würde demnach 3,3 % seines Haushaltsvolumens für Finanzausgleichsleistungen zugunsten der neuen Länder aufwenden, während es 1994 Bundesergänzungszuweisungen für die alten Länder einschließlich der Berlinhilfe, die 1995 ersatzlos gestrichen wird, noch 5,4 % sind. Geht man davon aus, daß die im Finanzplan des Bundes eingestellten 15 Mrd. DM in vollem Umfang den neuen Ländern zugute kommen, so erreichen diese damit 1995 etwa 85 % der Einnahmen je Einwohner der alten Länder jeweils einschließlich der Gemeinden. Die Defizitquote ermäßigt sich von 49,7 % auf etwa 30 % gegenüber einer Defizitquote in den alten Ländern - einschließlich ihrer Gemeinden - von ca. 4 v. H. Das heißt, daß die im Finanzplan des Bundes bisher eingestellten Mittel bei weitem nicht den Bedarf für die Einbeziehung der neuen Länder in den gesamtstaatlichen Finanzausgleich decken. Das heißt, der Bund hat noch keine ausreichende Vorsorge getroffen. Von den Thesen des Bundes werden die Befürworter einer Finanzreform enttäuscht worden sein. Denn der Bund schlägt vor, weitgehend das vorhandene Instrumentarium zu nutzen und die geltenden Regelungen nur im geringen Umfange durch bundesgesetzliche Regelung anzupassen. Als Haushaltspraktiker in den neuen Ländern muß ich akzeptieren, daß diese Minimallösung vom Bund gewählt wird. Ich muß darauf achten, daß den neuen Ländern bis zum Erreichen einer eigenen ausreichenden Steuerkraft genügend Ausgleichsrnasse zufließen wird. Eine Finanzreform dürfte nicht nur zur Regelung über die Verschiebung der Finanzmassen zwischen Bund und unter den Ländern führen, sondern müßte letztlich bereits bei der Aufgabenverteilung zwischen Bund und den Ländern beginnen, müßte über eine größere Steuerautonomie der Länder führen und letztlich eine größere Eigenständigkeit für die einzelnen Länder absichern. Eine solche Finanzreform würde jedoch derzeit die Verwaltung und die Politik überfordern, denn die Einbeziehung der neuen Länder in die Bundesfinanzverfassung und die Finanzierung dieses Schrittes sind bereits eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Der Bund hat die Länder zur Stellungnahme zu seinen Thesen noch für den Oktober gebeten. Er beabsichtigt, bereits im Frühjahr ein möglichst mit den Ländern abgestimmtes Bundesgesetz vorzulegen, das zur Verwirklichung seiner Thesen führt.

Wolfgang Bernet

JUSTIZ UND VERWALTUNG IN DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN Das sehr weite Problemfeld läßt im Vergleich mit den anderen definierten Themen dieser Tagung nur auf den ersten Blick die Schlußfolgerung zu, daß es nicht in die aktuellen Verfassungsdebatten und -kodifikationen eingeordnet werden kann oder soll. Das wäre natürlich ein Trugschluß. Allein die bisher verabschiedeten Verfassungen von Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt l offenbaren den Befund, daß die Justiz bzw. ihr wesentlicher Bestandteil die Rechtspflege sowie die Verwaltung natürlich Essentiale dieser Dokumente sind und schon aus diesem Grunde des rechtspolitischen und rechtsdogmatischen Interesses bedürfen. Darüber hinaus sind auch rechtssoziologische und rechtspsychologische Aspekte von höchster Brisanz, weil sowohl ganze Gruppen von Menschen als auch der Einzelne (Bürger oder Person) mit einer Rechtsordnung konfrontiert werden (wird), mit der sie (er) oder die mit ihnen (ihm) nicht über Jahrzehnte hinweg gewachsen ist. Die Bürger in den neuen Bundesländern müssen aber in der Mehrheit die Strukturen und das Funktionieren, vor allem die Entscheidungen / Handlungen von Justiz und Verwaltung nicht nur hin-, sondern annehmen, damit auf Dauer nicht das Trauma einer Binnenkolonisierung ob des weitestgehenden Transfers dieser Institutionen von West- nach Ostdeutschland entsteht. Einige gefährliche Auswirkungen, wie Ausgrenzungen großer Gruppen der Bevölkerung, Aggressivität gegen den Staat u. a. sind bereits ernste Anzeichen, die zu registrieren sind und die signalisieren, daß kontraproduktive Spannungen existieren. In der Verfassung Brandenburgs ist die Rechtspflege als ein wesentlicher Bestandteil der Justiz im 6. Abschnitt verankert (Art. 108 ff.), in der von Sachsen ebenfalls in Abschnitt 6 (Art. 77 ff. - überschrieben "Die Rechtsprechung") und in der von Sachsen-Anhalt im 5. Abschnitt (Art. 83 ff.) Die Verwaltung steht im Brandenburger Verfassungstext im Abschnitt 4 (Art. 96 ff.), somit vor der Rechtspflege, in Sachsen in Abschnitt 7 (Art. 82 ff.), damit hinter der Rechtsprechung, und in Sachsen-Anhalt auch im Abschnitt 6 (Art. 86 ff.) wiederum hinter 1 Vgl. Verfassung des Landes Brandenburg, angenommen durch Volksentscheid am 20.8.1992, GVBl. I 1992, S. 298; Verfassung des Freistaates Sachsen, vom 27.5.1992, GVBl. 1992, S. 234; Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, vom 16.7.1992, GVBl. 1992, S. 599.

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der Rechtspflege. Aus der Einrangierung von Rechtspflege I Rechtsprechung und Verwaltung in die Verfassungen können allerdings weder theoretische noch praktische Konsequenzen für die beiden Formen der Ausübung staatlicher oder kommunaler Tätigkeit abgeleitet werden. Es ist zu erkennen, daß in Analogie zu den Verfassungen der alten Bundesländer, Rechtspflege und Verwaltung gleichartig geregelt sind. Angenommen kann auch werden, daß die noch anstehenden Verfassungen von Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen die Materien Rechtspflege und Verwaltung ähnlich regeln werden, wie die bereits geschöpften Konstitutionen der genannten drei neuen Bundesländer. Das Grundgesetz legt schließlich die Ecksäulen dieser Materien besonders stringent fest. Es verankert die Gestaltungsräume in den Essentialen der Strukturen und Funktionen von Rechtspflege sowie Verwaltung für die Bundesrepublik, einschließlich ihrer Länder (vgl. Abschnitt VIII und IX GG). Schließlich ist beachtlich, daß die Rechtspflege, anders als die Vollziehung - in ihr die Verwaltung eingeordnet - , einen spezifischen Raum im System der Gewaltenteilung einnimmt. Art. 20 Abs. 3, 2. Halbsatz GG schreibt vor, daß die vollziehende Gewalt sowie die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind. Die herausgehobene Stellung und Funktion der Rechtsprechung hat nach h. M. Konrad Hesse wie folgt beschrieben: Sie "ist vielmehr in ihrer Grundtypik charakterisiert durch die Aufgabe autoritativer und damit verbindlicher, verselbständigter Entscheidungen in Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts in einem besonderen Verfahren; sie dient ausschließlich der Wahrung und mit dieser der Konkretisierung und Fortbildung des Rechts" 2. Diese Grundfunktion der Rechtspflege darf auch angesichts der dramatisch zugespitzten Umstände des Aufbaus der neuen Bundesländer nicht aufgeweicht werden, weil sonst der Rechtsstaat in der gesamten Bundesrepublik instabil werden könnte. Die Verwaltung ist - neben anderen wichtigen Funktionen, z. B. auf dem Gebiet der expandierenden Daseinsvorsorge - erstrangig Gesetzesvollzug. Der besonders in Ostdeutschland hörbare Ruf nach weniger rechtlichen Fesselungen für die Verwaltungen zum Nutzen von Gestaltungsmöglichkeiten beim immer dringlicher werdenden ökonomischen, politischen, kulturellen Aufbau der neuen Länder, ihrer Gemeinden und Gemeindeverbände kann nur mit einer voll funktionsfähigen Rechtspflege im System der Gewaltenteilung beantwortet werden. Der massiven Forderung nach Rechtsvereinfachung und Eindämmung des ausufernden Rechtsstoffes 3 kann sich im Ergebnis mit einer n. m. E. wesentlichen Anmerkung angeschlossen werden. Die inzidente Kritik am Bundesverfassungsgericht wegen teilweise extensiver Vorgaben für die Gesetzgebung und deren Konkretisierung sowie an den Gerichten, die die Verwaltungen auffordern, weitere Kodifizierungen zum Zwecke der Rechtsklarheit zu stimulieren, kann nicht 2 Vgl. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl., Heidelberg 1993, Rdnr. 548. 3 Vgl. Steffen Heitmann, NJW 1992, S. 2177 f.

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widerspruchslos hingenommen werden. Die Gerichte waren schließlich mit ihrer in das System der Gewaltenteilung eingebetteten Judikatur in den 40 Jahren der Existenz der Bundesrepublik Deutschland (alt) der ruhende Pol, der dem gesamten Gefüge von Gesellschaft und Staat ein festes Korsett geschaffen hat. Die Judikatur hat wesentlich die Gesetzesbindung der Verwaltung erhalten und auch besonders in Gestalt der Verfassungsgerichte, die parlamentarischen Körperschaften an den Intentionen von Grundgesetz und Länderverfassungen fixiert. Diese Aussage ist wesentlich und kann auf die Tätigkeit der Gerichte der ehemaligen DDR überhaupt nicht getroffen werden. Im Grunde gehörten diese zum verlängerten Arm der Machtausübung der SED im einheitlichen System der Staatlichkeit; sie waren - teilweise ausdrücklich formuliert - verlängertes Schwert dieser Partei. Konsolidierung von Gesellschaft und Staat des Realsozialismus ist auch von ihnen nicht ausgegangen; lediglich brüchiger Zwang. Diese Aussage wird weiter unten noch differenzierter dargelegt werden. Steffen Heitmanns Kritik sollte sich deshalb erstrangig an den (an die) Gesetzgeber richten, die Gesetze so zu gestalten, daß Verwaltungshandeln produktiver und richterliche Auslegung dadurch eingegrenzt wird. Jedoch sind dieser Maxime auch wieder Grenzen gesetzt, weil die Gesetze zum Teil noch voluminöser werden könnten. Die von Heitmann postulierten zu vereinfachenden Materien - Klärung offener Vermögensfragen, Vereinigungs- und Wirtschaftskriminalität, Umgang mit dem SED-Unrecht, Umweltschutz, Asylrecht, Durchführung praktischerer Planfeststellungsverfahren bedürfen, wenn überhaupt, der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Neukodifizierung durch parlamentarische Körperschaften. Den Gerichten könnte nicht die Aufgabe gestellt werden, gesetzliche Fristen, Verfahrenszüge o.a. bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen. Gerade in einer Gesellschaft und einem Staat, wie es die DDR war, die jahrzehntelang von Nichtbeachtung, mangelnder Beachtung des Rechts und anderen negativen Erscheinungen gekennzeichnet war, die sich - schwer genug daran schickt, Verfassung, Gesetz und Recht als allgemeinen Ordnungsrahmen zu begreifen, können und müssen gesetzliche Regelungen und richterliche Entscheidungen Rechtsklarheit produzieren. Im Prozeß der Vereinigung Deutschlands, den Klaus von Dohnanyi als Notwendigkeit und Wagnis zugleich überzeugend, beweiskräftig argumentierend darstellt\ sind Justiz in ihrer Gesamtheit sowie Verwaltung inbegriffen. Ihr Aufbau / Neuaufbau, die Transformation vom realsozialistischen auf ein klassisch europäisches Modell 5 sind direkt und differenziert tangiert. Der Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR 6 läßt erkennen, daß es sich bei der Vereinigung Deutschlands nicht um eine Rechtsanpassung von Normenmassen der BRD (alt) und der DDR oder eine Anpassung der Strukturen und Funktionen von Justiz 4

5 6

Vgl. Das Deutsche Wagnis, München 1991. Klaus König, DÖV 1992, S. 549 ff. Einigungs-V. vom 31.8.1990, BGBl. 11, S. 898.

7 Klein (Hrsg.)

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und Verwaltung handelt, sondern um eine Übernahme bundesdeutschen Rechts, die Übernahme des bundesdeutschen Justiz- und Verwaltungssystems auf die neuen Bundesländer. Der Einigungsvertrag hat klargestellt, daß die DDR als Subjekt des Staats- und Völkerrechts am 3. Oktober 1990 verloschen ist; eingeschlossen ihre Rechts-, Justiz- und Verwaltungsordnung. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes und die realsozialistische Macht ließen sich offenbar nicht zu einem Konstrukt vereinen. Für den Bereich der Rechtsprechung wird durch Abschnitt III 1 Ziff. a) b) c) die Gerichtsverfassung der BRD (alt) in die neuen Bundesländer eingeführt. Unter Berücksichtigung des Verwaltungsaufbaus der ehemaligen DDR dienen die Bezirks- und Kreisgerichte zunächst als Gerichtssitze, in denen die streitige Gerichtsbarkeit sowie die Arbeits-, Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgeübt wird. Ansonsten und in der Hauptsache gilt das Gerichtsverfassungsgesetz der BRD7 sowie - bis auf Marginalien - ihr gesamtes materielles, prozessuales und Verfahrensrecht. Vorhanden blieb damit auf dem Justizsektor im wesentlichen das Gehäuse der Rechtspflege. Gemäß Art. 13 des Einigungsvertrages sind Einrichtungen der Rechtspflege und der Verwaltung in die Hoheit der neuen Bundesländer übertragen worden, in denen sie örtlich gelegen sind. Für die Gebiete der Justiz insgesamt sowie der Verwaltung ist eine kompatible Situation im Verhältnis zu den alten Bundesländern eingeführt worden. Da die zentralen Organe der Justiz und der Verwaltung der DDR ersatzlos aufgelöst wurden, hat sich unter dem Dach der Institutionen des Grundgesetzes dessen Geltungsbereich territorial erweitert (Art. 23 GG). Die fünf Länder, eingeschlossen ihre Justiz und Verwaltung, gehören zum erweiterten Besitzstand der BRD. Im Wesen der Sache sind mit diesem Vorgang die organisatorischen Weichen gestellt worden, um von einer zentralistisch ausgerichteten Justiz, die der Erhaltung des Machtmonopols einer Partei diente, zu einer föderalistisch orientierten selbständigen Gewalt gemäß Art. 20 Abs. 2 GG zu gelangen. Infolgedessen haben die neuen Länder vorrangig damit begonnen, die personelle Erneuerung in der gesamten Justiz auf der Grundlage des Einigungsvertrages nach Maßgabe der Prüfung des Einzelfalls durchzuführen (Kap. III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 8 - Anlage I zum Einigungsvertrag). Die Grundlage für die Überprüfung der Richter und Staatsanwälte auf ihre fachliche und politische Geeignetheit i. S. des Grundgesetzes bildete im Zusammenhang mit der zitierten Quelle des Einigungsvertrages die "Ordnung über die Bildung und Arbeitsweise der Richterwahlausschüsse der Deutschen Demokratischen Republik" vom 22.7. 1990. 8 Heitmann berichtet über die Ergebnisse dieser Überprüfungen aus dem Freistaat Sachsen. Danach gab es 531 Bewerber; 343 7 Gerichtsverfassungsgesetz i. d. F. d. Bkm. v. 9.5.1975, BGBl. I, S. 1077, zuletzt geänd. durch Art. 3 des Gesetzes vom 5.4.1990, BGBl. I, S. 701. 8 GBl. I (DDR), S. 904.

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wurden für geeignet befunden; 133 der vor dem 3.10.1990 amtierenden Richter und Staatsanwälte hatte sich nicht mehr beworben. 9 Eine von mir vorgenommene Umfrage bei den Justizministern der Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt hat ähnliche Ergebnisse erbracht, so daß vermutet wird, daß auch MecklenburgVorpommem und Thüringen nicht wesentlich von diesen Quoten abweichen. Wird von einer Gesamtzahl von Richtern und Staatsanwälten in der gesamten DDR ausgegangen, die bei rund 2 500 Funktionsträgem lag, so kann die Aussage getroffen werden, daß etwa 650-700 Menschen die Überprüfungsprozeduren überstanden haben und für tauglich befunden wurden, (zunächst) Dienst bei Gerichten und der Staatsanwaltschaft der neuen Bundesländer zu verrichten. Die Resonanz auf die Überprüfungen war in der Breite der Bevölkerung der neuen Länder jedoch quantitativ nur mäßig. Vor allem Menschen, die durch die Justiz der DDR wegen politischer Delikte belangt und gedemütigt wurden, traten hörbar in Erscheinung. Allerdings befand es die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als gerecht, daß solche Überprüfungen überhaupt stattfanden, weil die DDR-Justizorgane ob ihrer weitestgehenden politischen Anlehnung und Gefügigkeit im SED-Regime sehr wenig Ansehen hatten. Dazu muß eine einschränkende Differenzierung angebracht werden. Die wenigsten Menschen der DDR hatten eigene Erfahrungen mit den Justizorganen gesammelt und verstanden es darüber hinaus, mit ihnen umzugehen. Die DDR-Justiz gehörte, auch wenn sie moralisch bei den Menschen verschlissen war, zum vertraut gewordenen Aktionsfeld. Einige Skizzierungen in der Judikatur sollen diese Aussage abstützen. Schon allein die genannte Anzahl der Richter und Staatsanwälte zeigte, daß die DDR-Justiz nicht besonders stark quantitativ mit dem Bürger aufeinanderprallte bzw. von ihm frequentiert wurde. Bestimmte Gerichtszüge, analog zu denen der BRD, gab es nicht. Das betrifft die yerwaltungsgerichtsbarkeit, die Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit. Erstere verfiel dem Dogma des Verdikts der Gewaltenteilung; eine Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit war im Gefüge des ökonomischen Systems des Realsozialismus überflüssig. Ergo sammeln die Menschen der neuen Bundesländer seit ca. zwei Jahren zum ersten Mal überhaupt Erfahrungen mit neuen Gerichtszügen. Das ist ein Lemprozeß, der an sich bereits kompliziert genug eingeordnet werden muß. Erwähnung soll finden, daß das am 1. 7. 1989 in Kraft getretene Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen 10 als Surrogat für fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit de facto keine Bedeutung mehr erlangt hatte. Die Strafrechtsprechung der ehemaligen DDR wird in ihrer quantitativen Breitenwirkung häufig überbewertet. Von rund 100 000 begangenen Straftaten pro Jahr gemäß StGB der DDR kamen etwa lediglich 40% zur Verhandlung vor 9 10

7*

Vgl. Fn. 3, S. 2177.

GBL I (DDR), S. 327 ff.

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Gericht. Herausragend und gravierend negativ für die Bürger waren vor allem die politischen Straftaten (illegales Verlassen der DDR, staatsgefährdende Hetze, Staatsverleumdung u. a.). Bei ihnen zeigten sich die Staatsanwaltschaft und die Gerichte der DDR besonders als willfahriges Instrument der Führungsspitzen der SED und verlor ihren Charakter als Rechtsbewahrer, Vertreter der Gerechtigkeit etc. Die sog. klassengebundene, besser parteigebundene Judikatur verlor bei politischen Straftaten nahezu völlig ihre Verbundenheit zu allgemeinmenschlichen Wertvorstellungen im Recht sowie zu völkerrechtlichen Konventionen. In Zivilrechtsfragen wurden aufgrund nicht nennenswerter Vermögensverhältnisse der DDR-Bürger (wenig Anhäufung von persönlichem Eigentum) die Gerichte zur Streitbeilegung relativ selten angerufen. Dagegen sind sie sehr häufig bei der Scheidung von Ehen tätig geworden. Dabei ging es im Kern wenig um rechtsdogmatische Fragen, wenn die Zerrüttung der Ehe bewiesen werden mußte; moralisierende und pädagogisierende Tätigkeit trat bei den Verhandlungen vor Gericht in den Vordergrund. Gerichtliche Auseinandersetzungen über das eheliche Eigentum oder gar Versorgungsfragen der geschiedenen Eheleute spielten kaum eine Rolle. Die Vermögensfragen waren bei den meisten Eheprozessen einfach bzw. wurden außergerichtlich gelöst. Die geschiedenen Ehegatten hatten im Prinzip für sich selbst zu sorgen. Allein die Versorgung und der Umgang mit den Kindern der geschiedenen Eheleute bildete für die Gerichte einen breiteren Entscheidungsraum. Eine Reihe der über 220 Kreisgerichte (oftmals EinMann-Dienststellen) hatten nicht jede Woche einen Strafprozeß, sondern meistens Ehescheidungsprozesse. Die forensische Streitkultur war entsprechend den ökonomischen Grundbedingungen der DDR-Bevölkerung sowie des politischen Systems wenig ausgeprägt. Im Ganzen war diese Gesellschaft in der äußeren Erscheinung rechtskonfliktarm. Die wirklichen Konflikte, die das realsozialistische Regime kennzeichneten, waren von tiefer struktureller, d. h. ökonomischer und politischer Art. Sie ließen es dann auch irreversibel auseinanderbrechen. Schließlich spielte für das Tätigwerden der Rechtsprechung der DDR noch eine Rolle, daß vor allem die Konfliktkommissionen durchgängig als Arbeitsgerichte 1. Instanz fungierten; nur sehr wenige Arbeitsrechtsstreitigkeiten (unter 10 %) gelangten zur Entscheidung in die 2. Instanz, das Kreisgericht. Die Konfliktkommissionen behandelten auch ihnen übergebene leichte Strafsachen, weniger zivilrechtliche Angelegenheiten. Mit Letzteren hatten die Schiedskommissionen in den Wohngebieten (z. B. bei Nachbarschaftsstreitigkeiten) u. a. eine höhere Frequentierung. Es ist also nochmals festzustellen, daß die Masse der DDR-Bürger wenig persönlichen Kontakt mit der Rechtspflege hatte. Der moralische Verschleiß dieser Institution ist durch ihre politische Verflechtung mit dem SED-Apparat entstanden sowie ihre drakonischen politischen Prozesse sowie Urteile. Mit den staatlichen Verwaltungsorganen verhandelten die DDR-Bürger, mangels geöffnetem Rechtsweg, ihre Streitpunkte vor allem mit Eingaben.

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Nunmehr treffen die Bürger der neuen Bundesländer auf eine Gerichtsstruktur und forensische Streitkultur, mit der sie nicht im geringsten gewachsen sind. Folgende hervorgehobene Merkmale sind für die Bürger von Relevanz: a) Das materielle Strafrecht ist von den drakonischen Bestimmungen des politischen Strafrechts befreit. Trotzdem häufen sich Strafprozesse, weil eine andere Kriminalitätsstruktur sich entfaltet (Eigentumsdelikte). Geld und Vermögen spielen zunehmend - auch in kriminelle Exzesse übergehend - eine Rolle. Das Auseinanderbrechen der alten besitzarmen DDR-Gesellschaft, das Entstehen von polarisierten Wohlstands- und Armutsgruppen setzt spezifische, nicht gekannte kriminelle Energien frei. b) Mit der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit sind in den neuen Bundesländern völlig neue Gerichtszweige eingeführt worden. c) Die Inanspruchnahme der Rechtspflege kann nunmehr auch entsprechend der neuen Rechtsordnung kostenaufwendig sein. Geld ist angesichts der Massenarbeitslosigkeit knapp. Das und allgemeine Verunsicherung hält besonders in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten viele Bürger ab, die Gerichte zur Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte anzurufen. d) Ohne einen Rechtsanwalt kann der Bürger in den meisten Fällen vor Gericht nicht mehr prozessieren. Auch hier spielt das Geld eine gewichtige Rolle. e) Vor Gericht wird in Amtstrachten agiert, die dem Bürger fremd und sakral erscheinen. f) Die Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts, z. B. Städte, Gemeinden

und Kreise erfahren großteils erstmalig, daß sie Subjekte von Verwaltungsund Zivilprozessen sein können, in denen sie um ihre Rechte kämpfen müssen.

Es ist zu verzeichnen, daß neben der personellen Erneuerung der Rechtspflege die Länder vorrangig tätig werden, damit eine neue Gerichtsorganisation eingeführt wird. Der Transformationsprozeß von der recht übersichtlichen organisatorischen Gerichtsbarkeit der DDR erfolgt vor allem unter dem Gesichtspunkt der Einräumigkeit der Gesamtstrukturen, die die Menschen zur Erledigung ihrer öffentlichen Angelegenheiten benötigen und der ausgewogenen Aufteilung staatlicher Stellen im Landesterritorium. In diesem Zusammmenhang sind auch die Konturen der künftigen Gebietsreformen der Kreise zu berücksichtigen, damit optimale Räume geschaffen werden können. Die Grundlage für die organisatorische Neugliederung der Gerichte, insbesondere die Ausgliederung der Fachgerichte, erfolgt auf der Grundlage des Rechtspflegeanpassungsgesetzes des Bundes. 11 In diesem Zuge z. B. hat der Freistaat Sachsen sein Gerichtsorganisationsgesetz erlassen. 12 Mit ihm wurde ein wesentli11

12

RpflAnpG, BGBI. I, S. 1147. Sächs. GerOrgG v. 30.6. 1992,"GVBI. 1992, S. 287.

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cher Schritt zur Anpassung der Gerichtsorganisation an die alten Bundesländer getan. Im Freistaat Sachsen wird ab 1. 1. 1993 eine Gerichtsorganisation gelten, die mit der Auflösung der Bezirks- und Kreisgerichte folgende Struktur hat: 1. Das LAG hat seinen Sitz in Chemnitz. Arbeitsgerichte mit der Zuständigkeit für mehrere Kreise werden in Bautzen, Chemnitz, Dresden, Leipzig und Zwickau eingerichtet. Görlitz erhält Außenkarnmern des Arbeitsgerichtes für Bautzen. 2. Das LSG hat seinen Sitz in Chemnitz. Sozialgerichte haben ihren Sitz in Chemnitz, Dresden und Leipzig mit der Zuständigkeit für den jeweiligen Regierungsbezirk. 3. Das OVG hat seinen Sitz in Bautzen. Verwaltungsgerichte mit Zuständigkeit für den jeweiligen Regierungsbezirk werden in Chemnitz, Dresden und Leipzig eingerichtet. 4. Das Finanzgericht für den Freistaat Sachsen hat seinen Sitz in Leipzig. 5. Für die ordentl. Gerichtsbarkeit werden ein OLG mit Dienstsitz in Dresden, sechs Landgerichten in Bautzen, Chemnitz, Dresden, Görlitz, Leipzig und Zwikkau errichtet. Darüber hinaus bestehen 40 Amtsgerichte. Sie befinden sich in: Annaberg, Aue, Delitzsch, Dippoldiswalde, Döbeln, Dresden, Eilenburg, Freiberg, Glauchau, Görlitz, Grimma, Großenhein, Hainichen, Hoyerswerda, Kamenz, Leipzig, Löbau, Marienberg, Meissen, Neustadt, Oederan, Oschatz, Plauen, Reichenbach, Riesa, Rochlitz, Schwarzenberg, Stollberg, Torgau, Weißwasser, Wurzen, Zittau, Zschopau und Zwickau. 13 Nebel! der Neuorganisation der Gerichte mußten in den ostdeutschen Ländern ebenfalls die Staatsanwaltschaften völlig neu strukturiert werden. Die Staatsanwaltschaft war im DDR-Justizsystem nach sowjetischem Vorbild als zentrales Organ der einheitlichen Staatsmacht organisiert, das vor allem Aufsichtsbefugnisse nach dem Modell des procureur du roi hatte. Die Staatsanwaltschaften der neuen Bundesländer sind an den Sitzen der Bezirksgerichte und zum Teil in einigen großen Städten konzentriert worden. 14 Auch sind die völlig abgewirtschafteten Grundbuchämter aus den Innenministerien herausgelöst und den Kreisgerichten zugeordnet worden. Der Justizvollzug befindet sich in Neuordnung. 15 Fazit: Die neuen Bundesländer haben in Übereinstimmung mit dem Einigungsvertrag und dem Grundgesetz ein neues Gehäuse für die Justiz erarbeitet. Im VgI. Karl Bönninger, LKV 1992, S. 292. VgI. Allg. Verwaltungsvorschrift des Ministers der Justiz von Brandenburg v. 27.8. 1991, JMBI. S. 68; Allg. Verwaltungsvorschrift des Ministers der Justiz von Thüringen v. 6.6.1991, JMBI. S. 51 und v. 25.3.1991, JMBI. S. 46; Verwaltungsvorschrift zur Errichtung der Staatsanwaltschaften Bautzen, Görlitz und Zwickau v. 4.12.1991, Sächs. ABI. S.6 i. V. m. der AO über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaft v. 3.3.1991, Sächs. ABI. 1991, S. 1. 15 In Sachsen Einzelheiten dazu in Fn. 3, S. 2179. 13

14

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Mittelpunkt steht dabei die Rechtsprechung / Rechtspflege. Dieser Prozeß ist noch nicht überall vollständig abgeschlossen. Wie schnell die Bürger der neuen Länder dieses Gehäuse annehmen, bedarf sicher eines wesentlich längeren Zeitraums als das Verfahren der Einrichtung. Das überall zu bemerkende Defizit an Kenntnissen über die Möglichkeiten für die rechtsuchenden Bürger, Justizorgane in Anspruch zu nehmen, könnte ebenfalls durch konzilianteres Verhalten von vor allem Richtern und Staatsanwälten sowie durch überzeugende und damit auch guten deutschsprachigen Ausdruck pflegende Gerichtsverfahren gefördert werden. Auch die Rechts- und Gerichtssprache gehört zu den sich anzueignenden Erfahrungen der Bürger in den neuen Ländern. Der Neuaufbau der Justiz in den neuen Bundesländern wurde vor allem mittels Personal aus den alten Bundesländern und vorgefundenen Organisationsformen der DDR vollzogen. In der Verwaltung der neuen Länder herrscht partiell eine andersartige Situation, in der eher von einem Umbau ausgegangen werden kann. Noch zu Zeiten der Existenz der DDR sind von der Volkskammer entscheidend durch Gesetze Verhältnisse geschaffen worden, die die Weichen für eine kompatible Verwaltungsorganisation zu den alten Ländern stellten. Wesentliche Grundlagen hierfür waren das Kommunalverfassungsgesetz, das Kommunalvermögensgesetz und das Ländereinführungsgesetz der DDR. 16 Diese Gesetze sowie vor allem die personellen Erneuerungen bei Führungskräften in Regierung und Verwaltung nach den Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 sowie denjenigen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften am 6. Mai 1990 ebneten den Weg für einen Umbau der DDR-Verwaltung zentralistischen Typs in diejenige einer rechtsstaatlichen Ordnung dezentralen Charakters. Das Kommunalverfassungsgesetz (a) und das Kommunalvermögensgesetz (b) der DDR galten mit einigen Maßgaben gemäß Einigungsvertrag auch nach dem 3.10.1990 fort (vgl. zu a) Anlage 11 Kap. 11 - Inneres - Sachgebiet B - Verwaltung - Abschnitt I und zu b) Anlage 11 Kap. IV - Finanzen - Abschnitt III Nr. 2.). Der Gesamtvorgang des Umbaus der DDR-Verwaltung bedarf aber noch der Erörterung einiger anderer Aspekte. Im Grunde war der, gemessen an den Aufgaben und ihrer Erfüllung, umfangreiche Verwaltungsapparat der DDR mit der Maueröffnung, spätestens jedoch mit dem Rücktritt des ZK der SED am 6. Dezember 1989, bereits auseinandergebrochen. Bis Ende Januar 1990 war der überwiegende Teil des alten Führungspotentials - also noch unter der ModrowRegierung - freiwillig aus den Funktionen gegangen oder unter den massiven Einwirkungen der Runden Tische aus diesen gedrängt worden. Das war ein durchaus logischer Vorgang. Die DDR-Verwaltung war keine auf Gesetz und Recht gegründete und funktionierende Apparatur. Gelegentlicher Gesetzesbezug ihrer Entscheidungen bedeutete eher ein Feigenblatt für fehlende Rechtsstaatlich16 Kommunalverfassungsgesetz v. 17.5.1990, GBL I (DDR), S. 255; Kommunalvermögensgesetzv. 7.7.1990, GBL I (DDR), S. 660; Ländereinführungsgesetz v. 22.7.1990, GBL I (DDR), S. 955.

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keit und verdeckte nicht die Tatsache, daß die Staatsverwaltung die direkte Verlängerung des hauptamtlichen Parteiapparats war. 17 Das wurde schon äußerlich darin symbolisiert, daß der jeweilige Vorsitzende eines Rates des Bezirkes oder Kreises stets in Personalunion Mitglied des entsprechenden Sekretariats der SED-Leitung war. Von dieser gingen letztlich Weisungen für jedes Verwaltungshandeln - selbst in EinzeInillen, z. B. häufig bei Wohnungszuweisungen aus. Mit dem Rücktritt des ZK der SED traten demzufolge auch die hauptamtlichen Gremien der SED in den Bezirken und Kreisen zurück. Das alte Verwaltungssystem war damit gleichzeitig gesprengt. Seine Spitzen waren über Bord gegangen, das Gros der Verwaltungskräfte verharrte orientierungslos in seinen Stellungen. Die Bezirksverwaltungen sind infolge der Neuwahlen vom 6. Mai 1990 praktisch funktionslos geworden, weil mit dem Inkrafttreten der Kommunalverfassung den Kreisen, Städten und Gemeinden der DDR die kommunale Selbstverwaltung zugestanden wurde. Da die Bezirksverwaltungen lediglich DurchgangsschaltsteIlen zentralistischer Entscheidungen für ihren Bereich bzw. für die Kreisebene waren, konnten sie kaum noch Bedeutung erlangen und wurden ersatzlos aufgelöst. Davon waren rund 23 000 Menschen betroffen. Die Kommunalverfassung der DDR legt in § 100 fest: "Mit der Bildung der Länder geht die weitere Ausgestaltung der Kommunalgesetzgebung in die Kompetenz der Landtage über." Das bedeutete bereits eine Rechtsangleichung an die BRD, deren GG in den Art. 70 ff. festlegt, daß die Gesetzgebungszuständigkeit für das Kommunalrecht bei den Ländern liegt. Art. 28 GG stellt lediglich allgemeine Regularien auf, die garantieren, daß in den Gemeinden der BRD die gleichen Prinzipien gelten. Damit war die alte typische DDR-Verwaltung endgültig beseitigt, ohne daß allerdings im Funktionellen eine andere Kultur entwickelt worden wäre. Insgesamt war die DDR-Verwaltung auch moralisch bei den Bürgern nicht so verschlissen wie große Teile der Justiz, besonders vor allem wie angeführt durch die willfährige und extensive Anwendung des politischen Strafrechts. Innerhalb des Apparats der Räte der Kreise waren vor allem die Fachorgane Inneres diskreditiert, in denen z. B. sehr restriktiv Kirchenfragen, Ausreiseanträge nach dem Westen, extensiv die Wiedereingliederung Strafgefangener in das gesellschaftliche Leben oder die Behandlung sog. kriminell Gefahrdeter betrieben wurde. Andere Teile des Verwaltungsapparats. auf Kreisebene waren zuständig für Wasserwirtschaft, Verkehrswesen, Umweltschutz, Wohnungswesen, Energie, Bauwesen, Gesundheitswesen, Finanzen o. ä. Das Personal hatte weitgehend nicht genügende Fachkompetenz und war nicht rechtsstaatlich ausgerichtet. Es litt in der Arbeit besonders unter den mangelnden Ressourcen und den Friktionen einer Materialbereitstellung, die keine geordnete sowie gleichmäßige Verwaltung 17 Vgl. die Untersuchungen von Wolfgang Bemet, Helmut Lecheier, Die DDR-Verwaltung im Umbau, Regensburg 1990.

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zuließ. Die Kommunalverträge, Gemeinde- oder Zweckverbände erwiesen sich als untauglich, den desaströsen Zustand der öffentlichen Hand, vor allem auf dem Gebiet der Infrastruktur, von Grundstücken, Gebäuden etc. entscheidend zu verbessern. Monetäres Denken und ausgeprägter Ordnungssinn im Verwaltungshandeln waren kaum vorhanden oder gar erforderlich. Auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge wurde mühselig um den Erhalt von Einrichtungen des Gemeinwesens, Schulen, Bibliotheken, Krankenhäuser und anderes gerungen, ohne die Talfahrt als Folge der ökonomischen Verhältnisse stoppen zu können. Die Betreuung und finanzielle Unterstützung z. B. kinderreicher Familien erfolgte hingegen recht großzügig, war aber materiell nicht gedeckt. Die rund 8 500 Bürgermeister der DDR, mehr und mehr zwangsweise zur Kandidatur für ihr Wahlamt rekrutiert, besaßen, am Schluß des zentralistischen Staaatsorganisationssystems stehend, keine nennenswerte Verwaltungskraft. Ab Mai 1990 gab es demokratisch gewählte Landräte, Oberbürgermeister und Bürgermeister. Zumeist handelte es sich bei ihnen um Bürger der DDR, die keinerlei Erfahrungen mit der kommunalen Selbstverwaltung hatten. Erste Ansätze für den Aufbau von Länderverwaltungen wurden erst im Juni/ Juli 1990 unternommen, als sich auf Beschluß der Volkskammer in den zukünftigen Ländern politisch-beratende Ausschüsse zur Länderberatung gründeten. Der wesentliche Teil der Verwaltung in den neuen Ländern stand mit ihrer Bildung organisatorisch unter dem Einfluß von Ländern der BRD (alt). Eigene Umfragen haben ergeben, daß heute noch ca. 60% des ehemaligen Personals der alten DDRKreisverwaltungen in den Landratsämtern ihre Tätigkeit in einem wohl einmaligen funktionellen Transformationsprozeß versehen. In ihnen und in den Gemeindeverwaltungen sind Leihbeamte aus den alten Bundesländern selten. Anders ist es mit dem Personal in den Landesregierungen, das vor allem im Bereich der Staatskanzleien, der Innen- und Justizministerien aus Leihbeamten der alten Länder oder - zunehmend - aus in die neuen Länder übergesiedeltem Personal besteht. Die Gesamtkonstellation hat ergeben, daß in der DDR Landräte und Bürgermeister zu dominierenden Verwaltungsbehörden wurden. Häufig ordneten sie sich nach Bildung der Landtage und Länderregierungen erst nach komplizierten Auseinandersetzungen in die landespolitische Konzeption ein. Die Erkenntnis, daß kommunale Selbstverwaltung keineswegs Freiheit vom Staat, sondern Freiheit im Staat ist,18 setzt sich nur konfliktreich und spannungsgeladen durch. Kommunale Selbstverwaltung zum Nutzen der Gemeinden und Kreise funktioniert nur mit Kontrolle und Aufsichtstätigkeit gemäß klaren Rechtsregelungen. In den angeführten verabschiedeten Verfassungen sind die Trennung von Staats- und kommunaler Selbstverwaltung, das Subsidiaritätsprinzip sowie die Bestimmung verankert, daß das Gebiet von Gemeinden und Landkreisen aus 18 Vgl. Franz-Ludwig Knemeyer, Aufbau kommunaler Selbstverwaltung in der DDR, Baden-Baden 1990, S. 16.

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Gründen des Gemeinwohls verändert werden darf (Brandenburg Art. 98, Sachsen Art. 88, Sachsen-Anhalt Art. 90). Damit soll zu einigen Aspekten der sich vollziehenden Verwaltungs- und Gebietsreform in den neuen Ländern übergegangen werden. Die Landtage haben überwiegend die Kommunalverfassung der DDR entsprechend ihrer Konzeption auch zur Raumordnung geändert. In Thüringen beispielsweise ist dies durch Gesetz vom 11.6. 1992 geschehen. Am gleichen Tag ist das Gesetz über die kommunale Gemeinschaftsarbeit erlassen worden. 19 In Mecklenburg-Vorpommem sowie in Brandenburg erlebt die Amtsordnung eine Renaissance. 20 In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wird hingegen die Verwaltungsgemeinschaft favorisiert. Bei allen Lösungen ist bemerkenswert, daß zwar Eingemeindungen zum Zwecke einer Vergrößerung der Kommunen nicht ausgeschlossen werden. Jedoch ist nicht gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzbar, die Identität mit ihrer Kommune aufzugeben. In Brandenburg, maßgeblich durch das Land NRW beim Verwaltungsaufbau unterstützt, war das Modell der Einheitsgemeinde ebensowenig durchsetzbar, wie in den anderen Ländern. Somit ist in Brandenburg auf die früher in NRW geltende Amtsordnung zurückgekehrt worden. In SachsenAnhalt, vom Land Niedersachsen gefördert und unterstützt, ist die niedersächsische Samtgemeinde nicht zu verwirklichen gewesen. Somit ist in allen neuen Bundesländern zur Erhöhung der Verwaltungseffizienz die lockerste Form für die effektive Erfüllung von Verwaltungsaufgaben auf Gemeindeebene gewählt worden. Die Unterschiede in den Amtsordnungen von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind hier zu vernachlässigen. Die Bevölkerung hat das Wegbrechen der DDR überwiegend gefordert bzw. erzwungen. Die Länderbildungen wurden als Gefüge für das Ausprägen eines regionalen Wertebewußtseins nachdrücklich von den Menschen unterstützt; die Einebnung ihrer Kommune und ihr Aufgehen in einer größeren Einheit wird von den Menschen abgelehnt. Das bringt vor allem für einige Großstädte, die dringend Land (Flächen) in ihrem Umfeld benötigen, gravierende Nachteile, die jedoch überwiegend akzeptiert werden müssen. Somit findet auf der Ebene der Kommunen derzeit lediglich eine Verwaltungsreform statt, in deren Ergebnis die Professionalität der Verwaltung mit ihren Attributen der Eigenständigkeit, der Zuverlässigkeit etc. deutlich steigen müßte. Das Amt z. B. übt sämtliche Verwaltungsarbeit für die amtsangehörigen Gemeinden aus. Der Bürgermeister jeder Gemeinde bleibt Ansprechpartner der Bürger und Einwohner jeder Gemeinde, ohne noch Verwaltung selbst auszuüben. Eine andere rechtspolitische Linie wird jedoch mit der Kreisreform verfolgt. In jedem neuen Bundesland, bis auf Thüringen, gibt es hierzu gereifte Vorstellun19 Gesetz zur Änderung der Kommunalverfassung v. 11.6.1992, GVBI. S. 219; Gesetz über die kommunale Gemeinschaftsarbeit v. 11.6.1992, GVBI. S. 232. 20 Vgl. Thomas Darsow, LKV 1992, S. 287.

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gen, die im Freistaat Sachsen in erster Lesung bereits den Landtag passiert haben. Bei den Kreisen handelt es sich um eine Gebiets- und Funktionalreform. Die von der DDR 1952 geschaffene kleinräumige Kreisstruktur diente politisch und ökonomisch den Erfordernissen des realen Sozialismus, eingeschlossen seiner mangelnden Leistungskraft und seiner kaum vorhandenen Attraktivität sowie dem administrativen Sicherheitskonzept der SED-Führung. In den 189 Landkreisen sowie den 38 Stadtkreisen konzentrierte sich ein- und engräumig der hauptamtliche Parteiapparat der SED, der wesentlich kleinere der anderen Blockparteien, die örtliche Staatsverwaltung, die Polizei, das MfS, der FDGB und andere Massenorganisationen, das Gericht sowie die Staatsanwaltschaft. Der gewaltige hauptamtliche Apparat des Gesamtstaats DDR fand in den Kreisen seine territoriale Fortsetzung. Im Kreis war im Grunde von der Funktion, den Strukturen und anderen Faktoren her die DDR en miniature reflektiert. Die ökonomischen und politischen Erfordernisse der neuen Bundesländer, jedenfalls wird dies erwartet, erfordern einen neuen Kreiszuschnitt mit vor allen Dingen wesentlich größerer Fläche und mehr Einwohnern. Die angezielte Einwohnerzahl pro Kreis schwankt je nach Bevölkerungsdichte der neuen Länder zwischen rund 70 000 bis 160 000 Einwohner. Insbesondere die Aufgaben der modemen Daseinsvorsorge erfordern größere Kreisräume. Hinzu kommt das Erfordernis höherer Professionalität der Bediensteten in den Kreisverwaltungen. Die Diskussionen um den Kreisneuschnitt werden weniger von den Bewohnern der Kreise, stärker von den Landräten und Bediensteten der Landratsämter geführt. In den alten Bundesländern ist die Gebietsreform in Gemeinden und Kreisen realisiert worden, nachdem sich die BRD und ihre Länder nach dem Krieg politisch und ökonomisch konsolidiert hatten. In den neuen Ländern wird der spannende Versuch unternommen, mittels einer Verwaltungs- und Gebietsreform die Demokratie zu festigen und die weithin damiederliegende Wirtschaft anzukurbeln. Im Zusammenhang mit der Kreisgebietsreform sind viele Parameter zu beachten, z. B. die Sicherung der Einräumigkeit der Verwaltung, die Bildung zentralörtlicher Bereiche, funktionelle Verbindungen zur Regionalplanung, Bewahrung bzw. Erneuerung landsmannschaftlicher Traditionen, Beachtung natürlicher geographischer Verhältnisse u. a. Nach der Kreisgebietsreform soll sich die Anzahl der Kreise in den neuen Bundesländern etwa halbieren. Daß es viele damit verbundene komplizierte Personalfragen gibt, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Obwohl in den neuen Ländern umfangreiche, bisher völlig unbekannte Verwaltungen aufgebaut werden, z. B. die Arbeits- und Finanzämter, ist laut FAZ vom 12. 8. 1992 geplant, daß ein weiterer Personalabbau im öffentlichen Dienst stattfinden soll. Der Personalbestand wird in Sachsen um 36 000, Sachsen Anhalt um 30000, Brandenburg um 14000 und Mecklenburg-Vorpommern um 13 000 sinken. Davon sind natürlich nicht ausschließlich Bedienstete in den Kreis- und Gemeindeverwaltungen betroffen.

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In den neuen Ländern haben zwei Länder auf Regierungsbezirke verzichtet (Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern), zwei weitere (Sachsen, SachsenAnhalt) haben diese eingeführt und Thüringen hat ein Landesverwaltungsamt geschaffen, das drei Außenstellen (Nord-, Süd- und Ostthüringen) hat. Mit Spannung darf verfolgt werden, wie sich der außerordentlich komplizierte und nicht unumstrittene Mechanismus des Landesverwaltungsamtes für Thüringen mit seinen Außenstellen praktisch bewährt. Als Mittel- und Bündelungsbehörde zwischen Regierung und Kommunen dürfte es eher recht schwerfallig agieren. Vergleiche mit dem Landesverwaltungsamt von Niedersachsen, in dem es zusätzlich noch Regierungsbezirke gibt, sind ohnehin ausgeschlossen. Auf alle Fälle wird im Gefolge der Kreisgebietsreform, je nachdem, ob es Regierungsbezirke, keine Regierungsbezirke oder ein Landesverwaltungsamt gibt, eine Neuverteilung von Verwaltungsaufgaben stattfinden. Die mögliche sinnvolle Eingliederung bestimmter Landesaufgaben und damit verbundener Strukturen in die Kreisverwaltung ist hierin eingeschlossen. Neben den organisatorischen Problemen der Verwaltungen in den Ländern ist auch die Frage nach der weiteren Art und Weise der Ausübung der Verwaltung aufzuwerfen. Die ostdeutschen Verwaltungen bemühen sich, in die für sie völlig neuen Gebiete der Verwaltungsarbeit einzudringen. Zu diesem Zweck wird dann zumeist lediglich eine Kopie des westdeutschen Systems erreicht. Die innovativen Möglichkeiten, die ein Umbau oder eine Transformation der Verwaltung mit sich bringen kann, werden im Grunde genommen kaum gesehen. Vielleicht wären diese sogar leichter möglich im Vergleich zu den alten Ländern, in denen sich jahrzehntelang die Verwaltungspraxis saturiert eingespielt hat. Ein großes Problemfeld besteht für die Verwaltungen darin, die Bürger im Mittelpunkt der programmatischen und tagtäglichen Arbeit zu behalten. Viele Verwaltungsaufgaben können ohne die sinnvolle Mitarbeit der Bürger im Grunde genommen heute nicht mehr gelöst werden. In den neuen Ländern kann n. m. E. nicht erst die Kopie der Verwaltung aus den alten Ländern abgewartet werden, um danach innovative Lösungen zu produzieren. Vor allem ist der Gemeinschaftsgedanke zwischen Staat - Verwaltung - Bürger bereits jetzt viel stärker zu beachten. Nur so kann z. B. der Bereich der Abfallentsorgung, der der Daseinsvorsorge oder auch die Bekämpfung extremistischer Ausschreitungen sinnvoll erfolgen. Das militante Vorgehen von Gruppen gegen Asylheime zum Beispiel und der Beifall von nicht kleinen Teilen der Bevölkerung dazu zeigt an, daß die Mitwirkung der Bürger für die öffentliche Sicherheit zu wenig entwickelt ist. Mehr Bürgerbeteiligung an der Erledigung von Verwaltungsangelegenheiten bedeutet eine Erhöhung des demokratischen Elements und beugt einem uferlosen Aufblähen von staatlicher Präsenz und Aktivität vor. Auch ist entscheidend, daß sich die Verwaltung der neuen Bundesländer, jahrzehntelang vom monetären Denken entfernt, permanent die Frage stellt, ob ihre Leistung dem entspricht, was der Bürger für seine Steuergelder erwarten

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darf. Der Bürger ist der Kunde der Verwaltung; sie ist für die Erledigung seiner Aufgaben vorhanden. Die großteils anzutreffende Staatsverdrossenheit der ehemaligen DDR-Bürger kann auch dadurch versucht werden zu überwinden, daß die Verwaltung ihnen als kompetenter höflicher Partner begegnet. Die neue Verwaltung wird noch zu sehr am Beispiel der alten Länder fragmentiert, ressortiert. Der Bürger muß zu häufig von außen sich selbst die Verwaltung zusammenkoppeln. Könnte es z. B. bei der Erteilung einer Baugenehmigung nicht eine AntragsteIle für alle Bürger geben, die sämtliche erforderlichen Aufgaben wahrnimmt und dem Bürger das Produkt ihres Handeins, nämlich den Verwaltungsakt, übergibt? Die·auch im Westen oft zitierte Forderung nach einer schlanken Verwaltung ist nicht nur unter dem Aspekt des Personalabbaus zu verstehen, sondern an dem Erfordernis höherer Effizienz. Dabei könnte mehr Teamarbeit die bürgerunfreundliche Ressortierung vielleicht einschränken. Der Stand der Datenverarbeitung kann, wie es auch in einem Produktionsbetrieb üblich ist, die komplexe Aufgabenerledigung der Verwaltung im Interesse des Bürgers noch positiver beeinflussen. Vielleicht sind die in Sachsen durchgeführten sog. Resonanzberatungen der Staatsregierung mit Bürgermeistern der Anfang für ein Verwaltungshandeln, das sich stärker auf die Belange des Bürgers orientiert. Zum Schluß noch eine persönliche Bemerkung. Die Justiz und die Verwaltung der DDR müssen im Grunde seit 1945 systematisch erschlossen und aufgearbeitet werden. Das ist nicht nur eine notwendige routinemäßige Forschungsarbeit, sondern trägt dem Erfordernis Rechnung, die 45 Jahre Realsozialismus wirklich zu bewältigen und zu überwinden. Vieles wird aber nur real aufgearbeitet werden können, wenn sich dieser Aufgabe auch Menschen annehmen, die das DDRSystem gekannt und erlebt haben. Ausschließlich das Studium von Normativakten des DDR-Staats oder von Publikationen reicht dazu nicht aus. Der Verschriftlichungsgrad gerade von Verwaltungsproblemen war in der DDR nicht sehr groß. Viele Publikationen müssen ob ihrer Formulierungseigenheiten genau auf den Inhalt abgeklopft werden, Beschlüsse der SED sind nicht immer in staatliche Normen transformiert worden u. a. Eine sich neu orientierende Deutschlandforschung könnte hier wesentliche Impulse auslösen. Auch sind die Befindlichkeiten der ostdeutschen Bürger für die neu entstehende Justiz sowie für die neuen Verwaltungen am ehesten von ostdeutschen in Kooperation mit westdeutschen Wissenschaftlern nachzuvollziehen. Vielleicht kann die Gesellschaft für Deutschlandforschung eine AufgabensteIlung für die nächsten Jahrzehnte hierzu entwikkeIn.

Thesen 1. Justiz und Verwaltung in den neuen Bundesländern unterliegen des weitge-

henden Transfers von Institutionen, Organisationsformen, Personals u. a. aus

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Wolfgang Bemet den alten Bundesländern. Das bedeutet für die ostdeutschen Bürger sowohl innerhalb als auch außerhalb der Justiz und Verwaltung, einen für sie schwierigen und konfliktgeladenen Lern- und Anpassungsprozeß zu vollziehen. Die bereits verabschiedeten sowie die in Vorbereitung befindlichen Verfassungen in den neuen Ländern hinsichtlich der Regelungsbereiche Justiz und Verwaltung zeigen das hohe Maß an Kongruenz zu den Verfassungen der alten Länder.

2. Innerhalb der Justiz ist die Rechtspflege / Rechtsprechung der Kernbereich für einen Prozeß, der als Neubau zu bezeichnen ist. Dieser Neubau - in Gegensetzung zu einem Umbau - wird vor allem auf der Grundlage des Einigungsvertrages zwischen der BRD und der DDR durch den hohen Grad der personellen Erneuerung bei Richtern und Staatsanwälten dokumentiert. Darüber hinaus werden Gerichtszüge eingerichtet, die in den über 40 Jahren DDR-Existenz unbekannt bzw. wegen der vor allem ökonomisch diametralen Situation zur BRD nicht erforderlich waren (Verwaltungs-, Finanz-, Sozialgerichtsbarkeit). 3. Der Umstellungsprozeß für die Menschen der neuen Länder auf das bundesdeutsche Gerichtssystem und dessen ausgeprägte Streitkultur bedeutet für sie die Erschließung völlig neuer Werte; eingeschlossen hierin sind auch negative Erfahrungen. Es ist davon auszugehen, daß die DDR-Justiz neben anderen -'- besonders wegen ihrer drakonischen Verfolgung und Ahndung politischer Delikte diskreditiert war. In der Mehrzahl der zivil-, familien- und arbeitsrechtlichen Prozesse funktionierte die DDR Justiz organisatorisch übersichtlich und unkompliziert, jedenfalls nach den den Menschen vertrauten Regularien. 4. Die aus Kreisen der neuen Länder, besonders aus Verwaltungen, erhobenen Postulate nach einer Entfesselung vom Recht sind vorsichtig zu behandeln. Nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten können sie ausschließlich von den parlamentarischen Körperschaften in Kooperation mit der Judikatur bewältigt werden. Auch die Verwaltungen der neuen Länder mit ihren Kommunen sind strikt in "Rechtsfesseln" zu halten. 5. Die Einführung einer neuen Gerichtsorganisation in den neuen Ländern geschieht unter den Gesichtspunkten der Einräumigkeit der Behördenorganisation und berücksichtigt bereits die sich abzeichnenden Veränderungen in den Raumstrukturen der Kreise sowie die Ausgewogenheit der Präsenz staatlicher Stellen im Land. 6. Neben der Rechtsprechung sind auf dem Justizsektor die Staatsanwaltschaft, die Grundbuchämter sowie der Strafvollzug in Neuordnung - ebenfalls unter Ansehung des Vorbilds der alten Bundesländer - begriffen. 7. In der Verwaltung der neuen Länder sind die zentrale und die staatliche Bezirksverwaltungsstruktur ersatzlos weggebrochen. Staats- und Kommunal-

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verwaltungen sind nunmehr analog zu den alten Ländern zwei zu differenzierende Aktionsräume. In der Verwaltung der Kreise, Städte und Gemeinden erfolgt ein tiefgreifender struktureller und funktioneller Verwaltungsumbau. Etwa 60% des aus der DDR übernommenen Verwaltungspersonals in den Landratsämtern befindet sich auf dem Weg, die kommunale Selbstverwaltung zu erlernen und zu beherrschen. 8. Die weitere Transformation der Verwaltung der neuen Länder wird vor allem durch eine tiefgreifende Verwaltungsreform auf der Ebene der Gemeinden vollzogen. Amtsverfassungen und Verwaltungsgemeinschaften prägen hierbei vor allem das Bild. Auf der Kreisebene findet generell eine fundamentale Gebiets- und Funktionalreform statt. Mit ihr sollen demokratische Verhaltensweisen der Menschen gefördert, der ökonomische Aufbau stimuliert sowie die Verwaltungseffizienz erhöht werden. Der Unterschied zu den Bedingungen der Gebiets- und Funktionalreform in den alten Bundesländern liegt auf der Hand. 9. Die Verwaltungsreform in den Gemeinden der neuen Bundesländer sowie die Gebiets- und Funktionalreform auf Kreisebene könnte konzeptionell mehr innovative Potenzen freisetzen und sich nicht ausschließlich auf die Kopie des Verwaltungssystems der alten Länder beschränken. Der Dienstleistungscharakter der Verwaltung für die Bürger zum Zwecke des Erhalts einer Solidargemeinschaft von Staat, Verwaltung und Bürgern könnte durchaus schon aktuell ausgeformt werden. 10. Die Deutschlandforschung sollte DDR-Justiz und Verwaltung zum Zwecke der Bewältigung der DDR-Vergangenheit sorgfältig nach erfolgter Öffnung der Archive erschließen. Der Neubau/ Umbau von Justiz und Verwaltung der neuen Länder wird durch die theoretisch gesicherte Vergangenheitsbewältigung um so sichtbarer. Die sich neu entwickelnden Wertvorstellungen der Bürger zu Justiz und Verwaltung können aufschlußreich für die Herausbildung gleichartiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland sein.

AUTORENVERZEICHNIS

Bernet, Wolfgang, Prof. Dr., Jena-Lobeda Doehring, Karl, Prof. Dr. Dr. h. c., em. Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg Gerhards, Wolfgang, Ministerialdirigent, Ständiger Vertreter des Ministers für Bundesangelegenheiten und Europa des Landes Rheinland-Pfalz, Bonn Klein, Eckart, Prof. Dr., Johannes Gutenberg-Universität, Mainz Knies, Wolfgang, Prof. Dr., Minister a. D., Universität des Saarlandes, Saarbrücken Mende, Gerd, Ministerialrat, Sächsisches Staatsministerium der Finanzen, Dresden Merten, Detlef, Prof. Dr. Dr., Richter des Verfassungsgerichtshofs RheinlandPfalz, Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer Schneider, Hans-Peter, Prof. Dr., Universität Hannover Will, Rosemarie, Prof. Dr., Humboldt-Universität Berlin, z. Z. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht Karlsruhe

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