Wie Stories zu History werden: Zur Authentizität von Zeitgeschichte im Spielfilm 9783839449356

Denken wir an Ereignisse der Zeitgeschichte, dann tauchen vor unserem geistigen Auge Bilder auf, die aus Spielfilmen sta

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Wie Stories zu History werden: Zur Authentizität von Zeitgeschichte im Spielfilm
 9783839449356

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1 Einleitung
1.1 Zeitgeschichte als audiovisuelles Medienereignis
1.2 Disziplinäre Zugriffe, Forschungsfragen und Forschungsstand
1.3 Aufbau der Arbeit
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Die „Fiktion des Faktischen“? Geschichts- und erzähltheoretische Perspektiven auf historische Erzählungen im Spielfilm
2.2 Das Konzept der Authentizität
2.3 Medienrezeption und Medienaneignung
2.4 Die Authentifizierung fiktionaler historischer Darstellungen
3 Methodisches Vorgehen
3.1 Datenerhebung
3.2 Datenauswertung
4 Darstellung der empirischen Ergebnisse
4.1 Typen der Rezeption und Authentizitätszuschreibung
4.2 Ressourcen der Authentifizierung
Einführung
4.2.1 Authentifizierung auf Grundlage der direkten Auseinandersetzung mit dem Spielfilm
4.2.2 Elemente des Medienevents als Authentifizierungs-Ressource
4.2.3 Weitere mediale Authentifizierungs-Ressourcen
4.2.4 Lebensweltliche Authentifizierungs-Ressourcen
4.3 Merkmale des Authentifizierungs-Prozesses
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
7 Anhang: Transkriptionsregeln

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Björn Bergold Wie Stories zu History werden

Histoire  | Band 161

Björn Bergold (Dr. phil.), geb. 1984, ist Lehrer an einem Thüringer Gymnasium. Zuvor lehrte und forschte er im Fachbereich Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, wo er 2013 mit dem Lehrpreis der Universität ausgezeichnet wurde. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Repräsentation und Aneignung von Geschichte in der modernen Mediengesellschaft.

Björn Bergold

Wie Stories zu History werden Zur Authentizität von Zeitgeschichte im Spielfilm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4935-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4935-6 https://doi.org/10.14361/9783839449356 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung | 9 Einleitung | 11 1.1 Zeitgeschichte als audiovisuelles Medienereignis | 11 1.2 Disziplinäre Zugriffe, Forschungsfragen und Forschungsstand | 19 1.3 Aufbau der Arbeit | 32 1

2

Theoretische Grundlagen | 35

2.1 Die „Fiktion des Faktischen“? Geschichts- und erzähltheoretische Perspektiven auf historische Erzählungen im Spielfilm | 37 2.2 Das Konzept der Authentizität | 70 2.3 Medienrezeption und Medienaneignung | 100 2.4 Die Authentifizierung fiktionaler historischer Darstellungen | 112 3

Methodisches Vorgehen | 127

3.1 Datenerhebung | 130 3.2 Datenauswertung | 143 Darstellung der empirischen Ergebnisse | 147 4.1 Typen der Rezeption und Authentizitätszuschreibung | 148 4.2 Ressourcen der Authentifizierung | 194 4.3 Merkmale des Authentifizierungs-Prozesses | 393 4

5

Fazit | 417

6

Literaturverzeichnis | 421

6.1 6.2 6.3 6.4

Interviews (Volltranskripte) | 421 Interviews (Teiltranskripte) | 421 Materialien | 422 Sekundärliteratur | 425

7

Anhang: Transkriptionsregeln | 449

„Vor tausend Jahren soll es sehr viele Mittelaltermärkte gegeben haben.“ Rainald Grebe

Danksagung

Im Verlauf der Arbeit an einem Dissertationsprojekt ist jede*r Doktorand*in auf die Unterstützung kritischer und hilfsbereiter Menschen angewiesen, um schließlich am Ziel anzugelangen. Die vielen, die für mein Projekt wichtig waren, möchte ich hier für ihren Anteil an diesem Buch würdigen. Zuallererst sollen zwei Menschen meinen herzlichen Dank erfahren, die mich vom Zeitpunkt der ersten Projektidee bis zum hier vorliegenden Druck so intensiv begleitet haben, dass ich Ihnen für immer zu Dank verpflichtet bin: Silke Satjukow hat mir ermöglicht, zu lernen, was es heißt, wissenschaftlich zu arbeiten, und mich in vielerlei Hinsicht mit Anregungen und Kritik dazu gebracht, mein Projekt weiterzuentwickeln und schließlich erfolgreich zu Ende zu bringen. Nicht nur hat sie bisweilen meine theoretischen Ausflüge geduldig respektiert, auch hat sie mich stets daran erinnert, dass Wissenschaft ihren Platz in der gesellschaftlichen Gegenwart finden muss. Über mein Forschungsprojekt hinaus habe ich von ihr vieles lernen dürfen, das mich bis heute als Person prägt. Ohne meine Frau und große Liebe wäre dieses Buch jedoch weder begonnen noch ein einziger kluger Gedanke darin entwickelt worden: Sabrina Schmidt hat nicht nur durch ihre Balance zwischen emotionaler Bestärkung und skeptischer Haltung mir gegenüber den größten Anteil am Abschluss meiner Promotion. Als Wissenschaftlerin und Vorbild hat sie mich in so wesentlichen Überzeugungen geprägt, dass dieses Buch auch ihres ist. Weiterhin möchte ich herzlich Udo Göttlich danken, der mir als Zweitgutachter wichtige interdisziplinäre Impulse für mein Projekt gegeben und der mich vor allem mit Blick auf die verwendeten Methoden und die Auswertung meiner Daten entscheidend unterstützt hat. Eine empirische Arbeit ist ohne einen Zugang zum Forschungsfeld unmöglich umzusetzen. Mein großer Dank gilt daher allen Jugendlichen in Magdeburg und Braunschweig, die sich als Interviewpartner*innen angeboten und einige Mühe auf sich genommen haben, um mich in meinem Vorhaben zu unterstützen. Dafür, dass sie mir den Kontakt zu den Jugendlichen ermöglicht haben, möchte ich ganz besonders Sabrina Genetzke und Marco Schulz danken.

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In den am Ende doch zahlreichen Jahren der Arbeit an diesem Buch habe ich von unzähligen Anregungen profitiert, die mir kritische Denker*innen im Austausch über mein Projekt gegeben haben. Besonders erwähnt seien hier Paul Kannmann, Erik Richter, Marija Stanisavljevic, Michaela Stumberger und die Mitglieder der Magdeburger Doktoranden*innengruppe, die mir als Kollegen*innen in oft engagiert geführten Diskussionen Probleme aufgezeigt und neue Impulse geliefert haben. Gerulf Hirt und Wolfgang Iskra möchte ich abschließend sehr herzlich für das sorgfältige Korrektorat meines Manuskripts danken. Ohne sie würde dieses Buch deutlich mehr sprachliche Fehler von vollkommen unverständlicher Genese und Persistenz enthalten.

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Einleitung

1.1 ZEITGESCHICHTE ALS AUDIOVISUELLES MEDIENEREIGNIS Geschichte erlebt in den Medien eine Hochkonjunktur, deren Anfangspunkt kaum zu bestimmen, und deren Ende weder abzusehen noch zu erwarten ist. Das gilt für „alte“ und „neue“ Medien gleichermaßen: Ob historische Romane wie Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ oder Zeitschriften-Sonderhefte wie „GEO Epoche: Die DDR“, ob historische Sendereihen im Radio und als Podcast, historische PC-EgoShooter zum Ersten Weltkrieg wie „Battlefield 1“ oder Zeitzeugen*innen-Plattformen wie „einestages.de“ – Geschichte ist ein in den Medien prominent vertretenes Thema, das Menschen aller Altersgruppen auf analogen und digitalen Wegen erreicht. Das Fernsehen und das Kino besitzen im Ensemble jener Medien, die Geschichte präsentieren, einen Sonderstatus. Einerseits erreichen die 230 öffentlichrechtlichen und privaten Sender1 sowie die fast 5000 Kinos in Deutschland2 ein Massenpublikum, das viele andere Medien allein ob der schieren Zahl ihrer Nutzer*innen in den Schatten stellt: Zuletzt wurden hierzulande 136 Millionen Kinobesucher*innen pro Jahr gezählt3, und Max und Michaela Mustermann sehen täglich beinahe vier Stunden fern4. Schon auf dieser Grundlage lässt sich von einem

1

Vgl. die TV-Senderdatenbank der deutschen Landesmedienanstalten. Online unter http:// www.die-medienanstalten.de/service/datenbanken/tv-senderdatenbank.html (4.8.2016).

2

Vgl. Filmförderungsanstalt: Kino-Sonderformen. Ergebnisse der Jahre 2011 bis 2015. Berlin 2016. Online unter http://www.ffa.de/kino-sonderformen-ergebnisse-der-jahre2011-bis-2015.html (4.8.2016). S. 2.

3

Vgl. Filmförderungsanstalt: Der Kinobesucher 2015. Strukturen und Entwicklungen auf Basis des GfK-Panels. Berlin 2016. Online unter http://www.ffa.de/der-kinobesucher2015.html (4.8.2016). S. 5.

4

Vgl. Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung/Gesellschaft für Konsumforschung: TVScope. Durchschnittliche Sehdauer pro Tag/Person 2015. Online unter https://www.agf.

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„Supermedium“5 sprechen. Darüber hinaus existiert neben TV und Kino eine ganze Landschaft von Medien, die ebenfalls audiovisuell erzählen und die nicht selten in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen – so etwa DVDs zum Kinofilm, Filmtrailer und Filmausschnitte auf Youtube oder die Online-Mediatheken von ARD und ZDF, die im Fernsehen ausgestrahlte Spielfilme und Dokumentationen rund um die Uhr verfügbar machen.6 Die mediale Omnipräsenz des Historischen bedeutet für diejenigen, die sich geschichtlichen Themen in bewegten und vertonten Bildern als Zuschauer*innen zuwenden, dass audiovisuelle historische Erzählungen 7 kaum mehr an ein bestimmtes de/showfile.phtml/daten/tvdaten/sehdauer/160105%20Sehdauer%202015%20nach%20Zi elgruppen.pdf?foid=80732 (4.8.2016). 5

Knut Hickethier spricht in Anlehnung an Siegfried Zielinski (Audiovisionen. Reinbek bei Hamburg 1989.) insbesondere wegen der Verflechtung verschiedenster Medienformen von einem „‚Supermedium‘ Audiovision“: Film- und Fernsehanalyse (=Sammlung Metzler, Bd. 277). 3. überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2001. S. 1. Diese Verflechtung und zugleich die Zunahme technischer Distributionsformen, mithilfe derer historische Themen medial publiziert werden, erscheint mir als Rechtfertigung, den Begriff auf historische Audiovisionen zuzuspitzen.

6

Genau genommen fallen auch interaktive und höchst populäre Medien wie das Computerspiel unter die Kategorie des Audiovisuellen. Insbesondere die Interaktivität und potentielle Offenheit dieses Mediums machen es jedoch neben zahlreichen anderen Aspekten zu einer sich erheblich davon unterscheidenden Form historischen Erzählens, sodass dieses ebenfalls audiovisuelle Medium hier ausgeklammert wird.

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Die deutsche Sprache erweist sich leider als hinderlich, um präzise und zugleich unkompliziert den Gegenstand dieser Arbeit bezeichnen zu können. Ist ein Spielfilm wie „Der Untergang“ ein historischer Spielfilm? Das Attribut „historisch“ wird in der Regel dazu verwendet, Dinge zu bezeichnen, die, wie etwa historische Wochenschau-Aufnahmen, einer vergangenen Zeit entstammen und in die Gegenwart überliefert sind. Zugleich haben sich aber Verwendungsweisen des Adjektivs etabliert, für die dies ganz sicher nicht gilt: Kein Exemplar der Unmenge ‚historischer Romane‘, die im Mittelalter spielen, ist aus ebendiesem überliefert, sondern lediglich eine Erzählung über diese Epoche. Auch im fachwissenschaftlichen Diskurs lässt sich diese Problematik konstatieren. Wenn etwa die Geschichtsdidaktik von ‚historischen Darstellungen‘ spricht, so meint sie damit zumeist nicht Darstellungen, die aus vergangenen Zeiten überliefert sind, sondern grenzt mit dem Begriff die Darstellung von Wissen über die Geschichte gegenüber dem Typus Quelle ab (siehe etwa bei Rohlfes, Joachim: Geschichte und ihre Didaktik. 3., erw. Aufl. Göttingen 2005. S. 88.). Damit ist der Begriff historisch insofern zweideutig, als dass er für zeitgenössische Quellen und nachzeitige Darstellungen gleichermaßen als Attribut dient. Die Suche nach Alternativen gestaltet sich jedoch schwierig: Wäre etwa „historisierend“ eine passende Bezeichnung jener Darstellungen, die sich geschichtlichen Themenberei-

Einleitung | 13

Medium, genauer eine einzige, bestimmte Medientechnik geknüpft sind, durch die sie rezipiert werden können. Ein Blockbuster wie „Inglourious Basterds“ (2009)8 kann nicht nur ein 154 Minuten dauerndes Kinoerlebnis sein, sondern ist auch als grobpixelige Raubkopie auf diversen Plattformen im Netz zu finden. Eine Fernsehdokumentation zur römischen Antike läuft nicht nur am Sonntagabend im ZDF im heimischen Fernseher, sondern findet sich auch in der Online-Mediathek des Senders. Und auf Youtube diskutieren die User anhand von selbst produzierten Videos, ob die Verbrechen der Wehrmacht tatsächlich stattgefunden haben.9 Ganz unabhängig von der jeweiligen Technik, mit deren Hilfe Geschichte gezeigt und rezipiert wird, stellen all diese Beispiele einen gemeinsamen medialen Typus dar – das Supermedium historischer Audiovision, in dem bewegte und vertonte Bilder in den unterschiedlichsten technischen Darbietungsformen einen Zugang zur Geschichte erlauben, der im Vergleich zu den anderen medialen Repräsentationen einzigartig ist. Mit diesem Supermedium, seiner Vielgestalt und seiner Verbreitung auf verschiedensten technischen Kanälen geht eine Entgrenzung einher, die audiovisuell präsentierte Geschichte für ihre Zuschauer*innen beinahe allgegenwärtig erscheinen lässt. In jenem Begriff des Supermediums historischer Audiovision vereinen sich unterschiedliche Formen und Formate, durch die ihre Rezipienten*innen mit Geschichte in Berührung kommen können. Unter ihnen ragt der Spielfilm als eine Gattung hervor, die als Medium mit einer bestimmten Dauer – „in Spielfilmlänge“ – vor allem eines ist: eine Erzählung. Historische Spielfilme erzählen uns Geschichten. Wir erfahren von Menschen, Orten und Ereignissen, Veränderungen und Entchen zuwenden, selbst aber der Gegenwart entstammen? Meines Erachtens gehen damit neue Schwierigkeiten einher, insofern das Adjektiv etwa im Kontext der Architektur für Formen Verwendung findet, die bewusst den Eindruck historischer Originalität erwecken sollen – und somit statt sprachlicher Klarheit weitere Verwirrung entstehen könnte. Die aus meiner Sicht einzige Lösung läge in der umständlichen Formulierung mittels Relativsatz, die „Spielfilme, die Geschichte darstellen“ eindeutig als Darstellung der Geschichte post festum identifizierten. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sich die Verwendung des zweideutigen Attributs „historisch“ jedoch in den angesprochenen Zusammenhängen offenbar als funktional erweist, vor allem, weil durch den Kontext der Verwendung meist Klarheit hergestellt werden kann, werde ich in der vorliegenden Arbeit von „historischen“ Spielfilmen, Darstellungen, Medien, Erzählungen usw. sprechen. Sollte ich mit „historisch“ „aus der Geschichte überliefert“ bezeichnen, werde ich dies anhand des Kontexts deutlich machen. 8

„Inglourious Basterds“. Spielfilm, Regie: Quentin Tarantino. USA, Deutschland 2009.

9

Siehe exemplarisch für eine unbestimmbare Menge solcher Videos: „Die verlogene Wehrmachtssausstellung Reemtsma und Heer“, hochgeladen vom User „TheSARGON87“. Online unter https://www.youtube.com/watch?v=xgFBC9M9980 (5.8.2016).

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wicklungen, die sich in einer vergangenen Zeit abgespielt haben. In der Filmgeschichte lassen sich unzählige Beispiele dafür finden, dass der Spielfilm seit seiner Erfindung immer auch schon Geschichten erzählt hat, die sich mit historischen Stoffen auseinandersetzen. Vor allem die Zeitgeschichte liefert dazu häufig den Ausgangspunkt: „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß“ (1978), „Schindlers Liste“ (1993), „Der Untergang“ (2004)10 – selbst eine Liste allein jener Produktionen, die herausragend erfolgreich waren und die gesellschaftlichen Debatten und Diskurse um Geschichte national wie international angestoßen und mitbestimmt haben, ist lang. Spielfilme sind nicht selten diejenigen historischen Audiovisionen, die gesellschaftliche Diskurse am stärksten mitbestimmen, neue Themen-Agenden setzen und bestehende, kollektiv geteilte Geschichtsbilder aufgreifen und verändern. Ihr enormer Erfolg sorgt dafür, dass historische Spielfilme einen kaum zu überschätzenden Einfluss darauf haben, wie wir gesellschaftlich und öffentlich, aber auch individuell und im privaten Raum über Geschichte denken, reden und fühlen. Historische Audiovisionen insgesamt, aber vor allem Spielfilme im Besonderen stellen ein „Leitmedium der Geschichtskultur“11 dar und haben „die Grundversorgung der Gesellschaft mit Geschichtsbildern übernommen“12. Sie unterscheiden sich insbesondere dadurch von anderen Formaten historischer Audiovision, zum Beispiel von Fernsehdokumentationen, dass sie in einem bestimmten Modus erzählen: im Modus der Fiktion. Die Erzählungen bewegen sich dabei in einem eigenartigen Spannungsverhältnis, in dem sie einerseits ‚wahre‘ Geschichte erzählen wollen, andererseits als fiktionale Narrative in den Genuss erzählerischer Freiheiten kommen, die andere Formate nicht besitzen. Dass Zeitgeschichte in Spielfilmen erzählt wird, lässt die Grenze zwischen Fiktivem und historischer Realität, zwischen Story und History verschwimmen. Für ihre Zuschauer*innen werfen die fiktionalen Audiovisionen Fragen auf, die sich auf den unsicheren Status dessen richten, was im Spielfilm erzählt wird: War die DDR tatsächlich ein solcher Unrechtsstaat, wie ihn der Oscar-prämierte Film „Das Leben der Anderen“ (2006)13 darstellt? Gab es im Repressionsapparat der 10 „Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss.“ Spielfilm, Regie: Marvin J. Chomsky. USA 1978; „Schindlers Liste“. Spielfilm, Regie: Steven Spielberg. USA 1993; „Der Untergang“. Spielfilm, Regie: Oliver Hirschbiegel. Deutschland 2004. 11 Quandt, Siegfried: Fernsehen als Leitmedium der Geschichtskultur? Bedingungsfaktoren, Erfahrungen, Trends. In: Mütter, Bernd/Schönemann, Bernd/Uffelmann, Uwe (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000. S. 235-239. 12 Wolfrum, Edgar: Neue Erinnerungskultur? Die Massenmedialisierung des 17. Juni 1953. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2003), H. 40-41. S. 33-39. Hier S. 36. 13 „Das Leben der Anderen.“ Spielfilm, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck. Deutschland 2006.

Einleitung | 15

DDR Menschen wie die Hauptfigur, den MfS-Hauptmann Gerd Wiesler, der erst das System als Hardliner gestützt, sich dann aber für die Menschlichkeit entschieden und daraufhin die Seiten gewechselt hat? Beruht die erzählte Handlung möglicherweise sogar auf einer wahren Begebenheit und gibt es Menschen, die die erzählte Geschichte am eigenen Leibe erfahren haben? An den Abenden des 3. und 4. Oktober 2012 bot sich dem Fernsehpublikum in Deutschland einmal mehr die Gelegenheit, sich in der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte Fragen dieser Art zu stellen. Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) hatte bereits ein Jahr zuvor mit der Arbeit an einem Fernsehzweiteiler begonnen, den die ARD schließlich am „Tag der deutschen Einheit“, nach Festtagsreden und Tagesschau, einem Millionenpublikum vorführte. Etwa 7,5 Millionen Zuschauer*innen schalteten ein14, um das mit Jan-Josef Liefers und Claudia Michelsen hochkarätig besetzte, zweiteilige TV-Drama „Der Turm“15 zu sehen. Als Grundlage der Verfilmung diente der gleichnamige Roman, in dem der in Dresden geborene Autor Uwe Tellkamp16 eine „Geschichte aus einem versunkenen Land“17 erzählte und dafür unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Geboten wird im Fernsehzweiteiler die Geschichte einer Familie im Dresden der Achtzigerjahre, deren Mitglieder das letzte Jahrzehnt der DDR erleben und zwischen Anpassen und Widerstehen ihren eigenen Weg finden müssen. Während der Protagonist Richard Hoffmann als Chirurg opportunistisch seine Karriere verfolgt und der Staatssicherheit Bericht erstattet, stehen dessen Sohn Christian, zunächst als Schüler, später als Wehrpflichtiger bei der Nationalen Volksarmee, und seine Mutter dem Regime kritisch gegenüber. Ihr Leben ist geprägt vom beständigen Ringen um die eigene Position im SED-Staat, und letztlich setzt die „Wende“ den Schluss-

14 Vgl. Schlüter, Jan: „Der Turm“ verliert auf hohem Niveau. Artikel auf dem Online-Portal quotenmeter.de vom 5.10.2012. Online unter http://www.quotenmeter.de/n/59563/derturm-verliert-auf-hohem-niveau (4.8.2012). 15 „Der Turm“. Spielfilm-Zweiteiler, Regie: Christian Schwochow. Deutschland 2012. 16 Erst weit nach dem Erscheinen des Romans und auch dessen späterer Verfilmung begab sich Uwe Tellkamp ab 2017 öffentlich in jenes rechtspopulistische bis neurechte Fahrwasser, das zu einer äußerst kritischen Bewertung seiner Person in der Öffentlichkeit geführt hat. Als ich die Entscheidung getroffen habe, die Verfilmung seines Romans zum Ausgangspunkt dieser Studie zu machen, konnten nur Aspekte eine Rolle spielen, die aus einer fachlichen Perspektive gute Gründe für die Auswahl lieferten. Nach wie vor gibt der Spielfilm ein bemerkenswertes Beispiel historischer Audiovision ab, dessen Rezeption es wissenschaftlich zu untersuchen galt – ungeachtet der Irrwege eines Dresdener Schriftstellers. 17 Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Frankfurt/M. 2008.

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punkt unter die insgesamt 180-minütige Geschichte vom Ende der DDR und dem Leben ihrer Bürger*innen. „Der Turm“ war nicht nur als ein Fernseh-Großereignis konzipiert worden, das ein Millionenpublikum erreichen sollte. Er wurde zu einem TV- und Medien-Event, weil der Spielfilm in einen crossmedialen Kontext eingebettet war, der den Zuschauer*innen ein Erlebnis auf unterschiedlichsten Kanälen ermöglichen sollte. Der Tagesschau-Moderator Marc Bator sprach mit der Autorität eines Anchorman eine Empfehlung aus, das historische TV-Drama im Anschluss nicht zu versäumen; eine eigens zum Spielfilm produzierte Dokumentation 18 lieferte dem Publikum gleich nach dem ersten Teil die historischen Hintergründe zur Story. Die DVD zum Film durfte in diesem Ensemble ebenso wenig fehlen wie eine aufwendig gestaltete, interaktive Website, die die einzelnen Handlungsstränge des Spielfilms penibel nachzeichnete und deren historische Fundamente multimedial aufbereitete. 19 Nicht zuletzt spielte der Roman als Grundlage der Verfilmung insofern eine wesentliche Rolle, als dass nicht nur aus einem höchst erfolgreichen Buch ein Spielfilm, sondern sicher auch aus manche*r Leser*in ein*e Fernsehzuschauer*in wurde, die nicht nur die Geschichte verfolgen, sondern auch erfahren wollte, wie eine Umsetzung des Tellkampschen DDR-Epos in bewegte Bilder gelingen konnte. „Der Turm“ wurde damit zu einem historischen TV-Event, das weit über den Spielfilm selbst hinausging und ein mediales Ereignis für seine Rezipienten*innen darstellte, die auf unterschiedlichsten Kanälen der Geschichte begegnen konnten.20 Der Spielfilmzweiteiler in der ARD basiert also auf einem Roman, der die Phantasie seines Autors und zugleich dessen eigene Erfahrungen als Zeitzeuge miteinander vereint. Auch das TV-Event spielt mit den Grenzen der Fiktion: So erzählt die zugehörige Fernsehdokumentation die Ereignisse um das Jahr 1989 in Dresden, Leipzig und Berlin, während hinreichend unklar ist, inwieweit die Story des Spielfilms auf historischen Vorlagen beruht und wo die Grenze zwischen Phantasie und historischer Realität verläuft. Dieses Spannungsverhältnis zeichnet letztlich alle fiktionalen historischen Erzählungen aus, doch durch ihre Allgegenwart stellen gerade die Audiovisionen ein Paradoxon dar: Ausgerechnet solche Erzählungen der Geschichte sollen als historisches Leitmedium taugen? Ausgerechnet die Fiktion ist in 18 „Der Turm – Die Dokumentation“. Dokumentarfilm, Regie: Jan Lorenzen. Deutschland 2012. 19 Siehe die „Web-Doku“ des MDR zum Spielfilm „Der Turm“, online unter http://www. mdr.de/static/turm/ (23.7.2015). 20 Astrid Erll verwendet für dasselbe Phänomen den Begriff der „plurimediale[n] Netzwerke“. Erll, Astrid: Erinnerungskultur und Medien. In welchem Kontext spielt sich die Diskussion um Geschichtsvermittlung im Fernsehfilm ab? In: Drews, Albert (Hg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm (=Loccumer Protokolle, Bd. 31/07). Rehburg-Loccum 2008. S. 9-27. Hier S. 21.

Einleitung | 17

der Lage, Millionen Menschen für Geschichte zu interessieren, die nie ein wissenschaftliches Fachbuch oder auch nur ein historisches Sachbuch aufschlagen würden? Ausgerechnet fiktionale Erzählungen liefern die Bilder, die viele Menschen im Kopf haben, wenn sie an Oskar Schindler, an die letzten Tage im Berliner Führerbunker oder an die Staatssicherheit in der DDR denken? Die fiktionale Verhandlung von Geschichte in audiovisuellen Medien verdient aufgrund ihrer enormen Bedeutung für die gesellschaftliche, aber auch für die individuelle Auseinandersetzung mit Geschichte wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Wir sollten verstehen können, wie audiovisuelle Fiktionen die Diskurse über unsere Vergangenheit, aber auch das Wissen und die Geschichtsbilder in unseren Köpfen prägen. Diese Arbeit nimmt daher aus dem großen, interdisziplinär verhandelbaren Themenfeld der historischen Audiovisionen einen ausgewählten Bereich in den Blick, der bislang allzu oft nur wenig Beachtung gefunden hat: die Zuschauer*innen, die historische Spielfilme sehen. Die Arbeit geht dafür drängenden Fragen nach, um besser zu verstehen, wie diejenigen, die Geschichte in bewegten Bildern ansehen, mit dem Gesehenen umgehen, wie sie sich die historischen Erzählungen individuell aneignen, welche Relevanz sie historischen Spielfilmen beimessen und welche Bedeutungen sie in den Bildern für sich erkennen. Sie widmet sich der Frage, wie für das Ansehen historischer Audiovisionen auch die Alltagswelt der Zuschauer*innen bedeutsam wird, wie alltägliche Kommunikationen mitbestimmen, auf welche Weise sie audiovisuelle Geschichte sehen, und wie ihre Erfahrungen mit anderen historischen Medien einen Einfluss darauf haben, wie sie die fiktionalen Narrative rezipieren. Damit versucht die Arbeit anhand dieses einen, so enorm populären Mediums einen Beitrag zum Verständnis darüber zu leisten, wie sich die Begegnung des Einzelnen mit der Geschichte in unserer mediatisierten Gegenwart gestaltet. Die Studie wendet sich einer ganz bestimmten Gruppe von Zuschauer*innen zu: Jugendlichen, die sich Geschichte im Spielfilm ansehen. Aus zahlreichen Gründen scheint es dringend geboten, aus dem breiten und vielfältigen Publikum historischer TV-Events genau diese Gruppe von Rezipienten*innen hervorzuheben und empirisch zu untersuchen. Jugendliche sind zunächst wie kaum eine andere soziale Gruppe geradezu gezwungen, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen: Ob im Unterricht oder beim Gedenkstättenbesuch, ob im Rahmen einer Seminarfacharbeit oder auf der Kursfahrt – Jugendliche begegnen historischen Themen unausweichlich in einem institutionellen Kontext: in der Schule. Einerseits geraten sie dort vor allem im Geschichtsunterricht mit historischen Spielfilmen in Kontakt.21 Die Re21 Vgl. Wehen, Britta Almut: „Heute gucken wir einen Film“. Eine Studie zum Einsatz von historischen Spielfilmen im Geschichtsunterricht (=Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft, Bd. 12). Oldenburg 2012, v.a. S. 51-89. Britta Wehen liefert ebenso

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zeption historischer Spielfilme zu erforschen, bedeutet folglich auch, den Geschichtsunterricht und Prozesse historischen Lernens besser zu verstehen. Andererseits liegt darin auch ein besonderes Potential: Wenn wir wissen, wie Jugendliche audiovisuellen historischen Darstellungen begegnen, wie sie mit dem Gesehenen umgehen, dann liegt darin zugleich eine der seltenen Gelegenheiten, auf diesen Umgang gestaltend einzuwirken. Im Gegensatz zu allen anderen Zuschauergruppen könnten hier entsprechend aus den angestrebten Erkenntnissen Schlussfolgerungen zu ziehen sein, an denen insbesondere die Geschichtsdidaktik interessiert sein muss. Darüber hinaus befinden sich Jugendliche in einer Lebensphase, die einen Übergang darstellt und an deren Ende sie mündige, selbstverantwortliche Mitglieder der Gesellschaft werden. Teil dieses Prozesses des Erwachsenwerdens ist freilich auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Gesellschaft, in der sie leben. Die Überzeugungen, Bilder und Kompetenzen, die sie dabei erwerben und entwickeln, stellen eine Grundlage ihrer Sozialisation und ihres späteren individuellen und gesellschaftlichen Handelns dar. Zu erforschen, worauf ein Teil dieses Handelns beruht, nämlich auf der Auseinandersetzung mit der Geschichte via audiovisuelle Medien, ist in der Tat gesellschaftspolitisch von einer hohen Relevanz. Zuletzt rücken Jugendliche als Untersuchungsgruppe ins Zentrum des Interesses, weil sie am Beginn des 21. Jahrhunderts, an dem das digitale Zeitalter längst angebrochen ist, eine gesellschaftliche Gruppe darstellen, die den Umgang mit alten und neuen Medien wie keine zweite beherrscht und miteinander verbindet. Ihre Auseinandersetzung mit audiovisuellen Formen und Formaten, die Geschichte darstellen, fügt sich in einen Medienalltag ein, in dem sie sich zwischen Buch und eBook, zwischen Radio und Podcast und zwischen Fernseher und Online-Mediathek so spielend hin und her bewegen22, dass darin auch die Zukunft der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts aufscheint. Zu verstehen, wie Jugendliche mit audiovisuellen Formen der Darstellung von Geschichte umgehen, könnte so einen Blick eröffnen, der zeigt, wie

wertvolle wie rare empirische Daten zum Einsatz von historischen Spielfilmen in der Schule. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass in den Klassenstufen 5 bis 7 circa zwei Filme pro Schuljahr im Geschichtsunterricht zum Einsatz kommen und sich die Anzahl in höheren Jahrgangsstufen leicht steigert. Ihr zufolge „scheint es, als ob historische Spielfilme noch nicht im Geschichtsunterricht ‚angekommen‘ seien“ (S. 51). In qualitativer Hinsicht mag das stimmen, angesichts der begrenzten Stundenzahl des Schulfaches Geschichte würde ich ihre Daten jedoch anders deuten und betonen, dass dieses Medium im Unterricht einen zumindest quantitativ durchaus relevanten Platz einnimmt. 22 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): JIM-Studie 2016. Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2016. S. 12.

Einleitung | 19

der Umgang mit Geschichte in Zukunft, wie Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts aussehen werden.23 Im Folgenden werde ich die grundlegenden Koordinaten dieser Arbeit bestimmen. Ich werde das Projekt innerhalb des interdisziplinären Feldes verorten, in dem es sich bewegt, davon ausgehend die Forschungsfragen darlegen und Einblicke in den Stand der Forschung geben. Abschließend werde ich den Aufbau der Arbeit darstellen, die sich dem eingangs beschriebenen Spannungsfeld fiktionaler, audiovisueller historischer Erzählungen im Medium Spielfilm und ihren Zuschauer*innen empirisch widmen wird.

1.2 DISZIPLINÄRE ZUGRIFFE, FORSCHUNGSFRAGEN UND FORSCHUNGSSTAND Der Forschungsgegenstand der vorliegenden Studie, der sich aus der Schnittmenge von Geschichte, ihrer Darstellung im Medium Spielfilm und deren Zuschauer*innen ergibt, lässt sich aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Eines scheint offensichtlich zu sein: Zur Erforschung der Aneignung historischer Medien kann nur ein interdisziplinärer Ansatz Aufklärung versprechen, der die Erkenntnisinteressen, die theoretischen Grundlagen, die methodischen Werkzeuge und die Analysefähigkeiten verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen heranzieht, um das hochkomplexe Phänomen angemessen erfassen zu können, das den Mittelpunkt dieser Arbeit bildet. Es sind im Wesentlichen drei Disziplinen, in deren Feld sich diese Arbeit verortet und die zur Beantwortung der Frage, wie Jugendliche mit historischen Darstellungen im Medium Spielfilm umgehen, hier herangezogen werden. Dabei handelt es sich um die Geschichtswissenschaft, die Medien- und Kommunikationswissenschaft und die Narratologie. Die Geschichtswissenschaft und ihre Teildisziplin der Geschichtsdidaktik bringen ein grundsätzliches Interesse dafür mit, wie Spielfilme historische Themen verhandeln. Das Interesse der Geschichtsdidaktik bezieht sich zunächst auf dezidierte Prozesse der Vermittlung der Geschichte, in denen intentional gesteuertes, historisches Lernen im Mittelpunkt steht. Darüber hinaus besteht auch seitens der nicht fachdidaktisch ausgerichteten Vertreter*innen der Disziplin ein zunehmendes Interesse an geschichts- und erinnerungskulturellen Phänomenen, zu denen bedeutende Filmevents und zwangsläufig auch deren Zuschauer*innen zählen. Zusätzlich zu diesem grundsätzlichen Interesse am Forschungsgegenstand tragen geschichtstheoretische Einsichten in das Wesen historischen Erzählens dazu bei, zum Verständnis 23 Siehe dazu die Webseite des Forschungsverbunds GAMe: Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft. Online unter http://www.geschichtsaneignung.ovgu.de/ (19.2.2019).

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des Forschungsgegenstands einen elementaren Beitrag zu leisten. Diese Auseinandersetzung mit theoretischen Fragen historischen Erzählens wird von der Geschichtswissenschaft ebenso wie von der Geschichtsdidaktik betrieben. Insofern stellt die Historiographie – die nicht zuletzt auch die Expertise für das in historischen Spielfilmen Erzählte liefert – die für diese Arbeit zentrale Ausgangsbasis sowie den Fluchtpunkt ihrer Ergebnisse dar. Gleichwohl muss hier die geschichtsdidaktische Ausrichtung der Arbeit präzisiert werden: Helmut Beilner stellt zur Verortung der Geschichtsdidaktik fest, dass sie „stets auch auf eine Verbesserung der Praxis unterrichtlichen Handelns“24 abziele. Diesem Interesse folge ich hier nicht, insofern das unterrichtliche Handeln zwar potentiell relevant für das mediale Agieren meiner Forschungspartner*innen werden kann, jedoch umgekehrt hier nicht nach der Relevanz der Filmrezeption für den Geschichtsunterricht gefragt wird. Auch werde ich keine Schlüsse oder Handlungsempfehlungen für schuldidaktisches Handeln aus den empirischen Erkenntnissen ableiten. In einem weiteren Sinne liegt diese Studie meines Erachtens dennoch im Fokus geschichtsdidaktischen Forschens, als dass die außerschulische, mediale Auseinandersetzung mit Geschichte für ein Verständnis des historisch denkenden Individuums essentiell ist. Die Konfrontation seiner historischen Wissensbestände, Vorstellungen und Kompetenzen, kurz: seines Geschichtsbewusstseins, mit historischen Narrationen, die außerhalb des Schulunterrichts bedeutsam sind, muss für die Geschichtsdidaktik von Interesse sein. Darüber hinaus kann die Disziplin der Medien- und Kommunikationswissenschaft für diese Arbeit zweierlei bereitstellen: Erstens verfügt sie über die theoretischen Konzepte, die den Forschungsgegenstand dieser Arbeit zu erfassen helfen. Wenn Jugendliche Geschichte im Spielfilm ansehen, handelt es sich dabei in erster Linie um einen Akt der medialen Kommunikation, bei dem sich Rezipienten*innen einem bestimmten Medium zuwenden. Im Verlauf meiner Ausführungen werde ich zentrale theoretische Konzepte heranziehen, die für die Erforschung dieses Prozesses als außerordentlich nützlich erscheinen und die die Begegnung des Individuums mit historischen Medien und ihren Inhalten verstehen helfen. Darüber hinaus vermag die ihrerseits interdisziplinäre Ausrichtung jener Disziplin, die sich überdies stark an soziologischen Grundlagen orientiert, auch methodische Impulse liefern. Zuletzt bietet die Narratologie theoretische Anregungen, die ein Verständnis darüber ermöglichen, wie Geschichte in einem fiktionalen Format wie dem Spielfilm erzählt und angeeignet werden kann. Die Historiographie, die professionelle Erzählungen über die Vergangenheit produziert, hat sich in ihren theoretischen Debatten seit den Sechzigerjahren – zu nennen sind hier unter anderem Arthur C. Danto und Hayden White – maßgeblich durch erzähltheoretische Impulse weiterentwi24 Beilner, Helmut: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), H. 5-6. S. 284-302. Hier. S. 284.

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ckelt. Insbesondere das Stichwort Fiktion hat dabei für hitzig geführte Kontroversen gesorgt, die auch für die theoretische Verortung dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielen und Einsichten zum historisch erzählenden Medium Spielfilm und seinem Publikum versprechen. Neben diesen drei Disziplinen sind diverse andere vorstellbar, die ebenfalls für einen Blick auf den Gegenstand der Arbeit herangezogen werden könnten. Hier stehen jedoch weder psychologische noch medienpädagogische, weder film- noch kulturwissenschaftliche Fragestellungen im Zentrum, wenngleich Erkenntnisse dieser Disziplinen in die folgenden Ausführungen einfließen. Umgekehrt können die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit möglicherweise Ansatzpunkte für die genannten und weitere Disziplinen bieten. Die Forschungsfragen dieser Arbeit ergeben sich aus der Schnittmenge der drei genannten Disziplinen. Sie hat zunächst ein allgemeines Interesse daran, zu verstehen, wie die Zuschauer*innen historischer Erzählungen im Medium Spielfilm mit dem Gesehenen umgehen. Damit steht das Medienhandeln von Zuschauern*innen im Zentrum des Interesses, die sich mit historischen Darstellungen im Medium Spielfilm auseinandersetzen. Zugegebenermaßen handelt es sich dabei jedoch um ein allzu weit gefasstes Anliegen, das kaum im Rahmen einer alleinstehenden Forschungsarbeit zu erfüllen wäre. So setzt das Projekt an einem wesentlichen Spezifikum des Mediums Spielfilm an: seiner Fiktionalität. Fiktionen wie „Der Turm“ stellen ihr Publikum grundsätzlich vor die Frage, inwiefern das in ihnen Erzählte eine Entsprechung in der realen Welt aufweist, und besitzen gleichsam alle Freiheiten, auch Fiktives, Nicht-Reales zu erzählen. Ihre Eigenschaft, fiktional zu erzählen, lässt den Status des Erzählten daher unsicher erscheinen. Historische Spielfilme werfen somit per se die Frage auf, ob es sich bei ihnen um eine authentische Erzählung handelt. Welche Elemente der Handlung sind historisch verbürgt und welche Teile ihrer Story sind fiktiv? Sind die Figuren eines Films historisch belegt? Sind die dargestellten Ereignisse tatsächlich geschehen? Dürfen wir der Erzählung glauben, dass sie glaubhaft Geschichte erzählt, oder entspringt die Filmstory vorrangig der Phantasie ihrer Urheber*innen? Eine Vielzahl von Studien hat sich grundsätzlich mit der Rezeption fiktionaler und non-fiktionaler Darstellungen in den unterschiedlichsten audiovisuellen Formaten beschäftigt. Die Frage, wie Fiktion von Film- und Fernsehzuschauern*innen wahrgenommen und von non-fiktionalen Formen unterschieden wird, haben zahlreiche Arbeiten etwa im Kontext der Rezeption von Gewaltdarstellungen im Film zu beantworten versucht.25 Dabei wurde festgestellt, dass Kinder etwa mit Beginn des Schulalters mehr und mehr die Fähigkeit ausprägen, Fiktion im Fernsehen als 25 Für einen Überblick über den ausdrücklich nicht historisch orientierten Forschungsstand siehe Pietraß, Manuela: Bild und Wirklichkeit. Zur Unterscheidung von Realität und Fiktion bei der Medienrezeption. Opladen 2003, vor allem S. 35-55.

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solche zu erkennen.26 Gleichwohl zeigen sich keineswegs alle jungen Zuschauer*innen irgendwann in der Lage, den Unterschied zwischen fiktionalen und nonfiktionalen Darstellungen sicher zu bestimmen. Für ältere Zuschauer*innen im dritten Lebensjahrzehnt zeigte sich jedoch empirisch, dass diese überwiegend in der Lage sind, beide Modi des Erzählens voneinander zu unterscheiden.27 Für ein Verständnis darüber, wie die Zuschauer*innen Spielfilme mit historischer Thematik ansehen und mit der Frage der Fiktion in diesen Kontexten umgehen, liefern diese Studien bisher jedoch nur begrenzte Aufklärung. Einerseits wurde die Rezeption historischer fiktionaler Erzählungen in audiovisueller Form bisher nicht mit diesem Schwerpunkt empirisch erforscht und stellt ein wichtiges Desiderat dar. Andererseits rührt die Frage, ob Zuschauer*innen zwischen non-fiktionalen Formen des Erzählens, etwa Fernsehdokumentationen, und klassischen fiktionalen Genres wie dem historischen Spielfilm, zielsicher unterscheiden können, auch nur teilweise an den Kern der Problematik, die mit solchen Filmen einhergeht: So sind Spielfilme doch in der Regel klar als Fiktionen erkennbar und erzählen dennoch Geschichten, die den Anspruch vertreten, historisch glaubwürdig zu sein. Die Fragen, die sich aus der Fiktionalität des Mediums Spielfilm im Kontext historischen Erzählens ergeben, stellen sich also auch und gerade ihren Rezipientinnen und Rezipienten. Sie müssen diese Fragen im Zuge ihres Umgangs mit historischen Audiovisionen für jeden Spielfilm neu für sich beantworten. Diese Arbeit wird daher die Fragestellung verfolgen, wie fiktionale Spielfilm-Stories in den Augen ihres Publikums zu authentischen historischen Erzählungen werden. Sie begreift den Akt der Rezeption als einen eigenständigen und selbstbestimmten Prozess medialen Handelns und rückt aus diesem Grunde die Zuschauer*innen und ihr Rezeptionshandeln ins Zentrum. Es geht folglich darum, zu verstehen, wie Zuschauer*innen fiktionale Erzählungen im Medium Spielfilm rezipieren und wie und warum diese Erzählungen in ihren Augen zu historisch verlässlichen Darstellungen werden. Diesen Prozess medialen Handelns bezeichne ich als Authentifizierung – ich werde den Begriff an späterer Stelle ausführlich theoretisch fundieren. Es geht dieser Arbeit um eben jenen Prozess, der hier als essentieller Teil der Aneignung historischer Fiktionen verstanden wird. In den Augen des Publikums wird erst durch die Authentifizierung des Gesehenen aus einer fiktionalen Erzählung eine historische Erzählung – der Prozess der Authentifizierung sorgt aus der Perspektive der Zu26 Vgl. beispielsweise Aufenanger, Stefan/Lampert, Claudia/Vockerodt, Yvonne: Lustige Gewalt? Zum Verwechslungsrisiko realer und inszenierter Fernsehgewalt bei Kindern durch humoreske Programmkontexte. München 1996; Moser, Heinz: Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter. 3., überarb. Aufl. Wiesbaden 2000. Hier v.a. S. 148-150. 27 Vgl. Pietraß 2003, S. 151-196.

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schauer*innen dafür, dass Stories zu History werden. Die Authentifizierung stellt insofern eine conditio sine qua non der Aneignung fiktionaler historischer Erzählungen dar, die es hier als Akt historischer Medienaneignung zu erforschen gilt. Vor dem Hintergrund dieses Forschungsinteresses stellt sich die Frage, was wir über die Darstellung von Geschichte im Film und deren Publika bereits wissen. Seitens der Geschichtswissenschaft ist seit den Neunzigerjahren, vor allem aber seit dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, ein enormes Interesse an audiovisuellen Formen erkennbar. Nicht nur sind Filme jeglichen Formats mittlerweile zweifellos als historische Quellen ins Blickfeld der Historiographie gerückt, 28 was insbesondere der Etablierung der Visual History in Deutschland zu verdanken ist.29 Auch das historische Erzählen, das heißt das Erzählen über die Vergangenheit im Medium Film, hat als Forschungsgegenstand eine verstärkte Beachtung erfahren. In dieser Hinsicht dienen Filme, die die Vergangenheit thematisieren, der zeitgeschichtlichen Forschung als Quellen, die einen Zugang zur zeitgenössischen Erinnerungskultur ihrer Entstehungszeit ermöglichen. Dabei geht es der Geschichtswissenschaft letztlich um die Historisierung audiovisuellen Erinnerns: So sind zuallererst30 Narrationen über den Nationalsozialismus erforscht worden, um den geschichts- und erinnerungskulturellen Umgang mit dem „Dritten Reich“ in der BRD, der DDR und dem vereinten Deutschland in seinen Konjunkturen zu erfassen und damit die verschiedenen Erinnerungskulturen und ihre Entwicklung besser zu verstehen. 31 Ent28 Vgl. Riederer, Günter: Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Beziehung. In: Paul, Gerhard (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006. S. 96-113. Hier S. 98. 29 Siehe dazu einführend Paul, Gerhard: Visual History. Version 2.0. 2012. In: DocupediaZeitgeschichte 2012. Online unter https://docupedia.de/zg/Visual_History_Version_2.0_ Gerhard_Paul (27.2.2017). 30 Darüber hinaus haben sich einige Forschungsprojekte und Publikationen auch der Darstellung der DDR im Film zugewendet: Siehe Brockmann, Andrea: Erinnerungsarbeit im Fernsehen. Das Beispiel des 17. Juni 1953 (=Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 30). Köln 2006; Lindenberger, Thomas: Zeitgeschichte am Schneidetisch. Zur Historisierung der DDR in deutschen Spielfilmen. In: Paul, Gerhard (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006. S. 353-372; Ebbrecht, Tobias/Hoffmann, Hilde/Schweinitz, Jörg (Hg.): DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Marburg 2009; Wolle, Stefan: Die Welt der verlorenen Bilder. In: Paul, Gerhard (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006. S. 332-352. 31 Siehe unter einer Vielzahl von Publikationen u.a. Bösch, Frank: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007) 1. S. 1-32; Bösch, Frank: Geschichte mit Gesicht. Zur Genese des Zeitzeugen in Holocaust-Dokumentationen seit den 1950er Jahren. In: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fern-

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standen sind dabei einerseits Einsichten in die inhaltlichen Konjunkturen – etwa in die Frage, inwiefern überhaupt eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust stattgefunden hat,32 oder in welchem Verhältnis sich die Darstellung von Opfern und Tätern des NS-Regimes wandelte.33 Ebenso standen andererseits auch die formalen Konjunkturen der filmischen Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust im Blickpunkt, etwa die Frage nach verschiedenen Stilen und Mitteln des audiovisuellen historischen Erzählens.34 Insbesondere die Rolle von Zeitzeugen*innen in der filmischen Erinnerungskultur nahm dabei eine besondere Stellung ein.35 Gerade diese Figur, deren Existenz die Zeitgeschichte von allen anderen sehen. Konstanz 2008. S. 51-72; Classen, Christoph: Bilder der Vergangenheit. Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955-1965 (=Medien in Geschichte und Gegenwart, Bd. 13). Köln, Weimar, Wien 1999; Kramp, Leif: Gedächtnismaschine Fernsehen. Band 1: Das Fernsehen als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung. Berlin 2011; Lersch, Edgar: Zur Entwicklung dokumentarischer Formen der Geschichtsvermittlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Bundesrepublik. In: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 1). Bielefeld 2009. S. 167-190; Kansteiner, Wulf: Die Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter seiner kommerziellen Reproduktion: Hitler und das „Dritte Reich“ in den Fernsehdokumentationen von Guido Knopp. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), H. 7. S. 626-648. 32 Vgl. Paul, Gerhard: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung. Über Veränderungen im Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus in der Mediengesellschaft. In: Paul, Gerhard/Schoßig, Bernhard (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre (=Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 10). Göttingen 2010. S. 15-38. 33 Vgl. Bösch 2007, S. 13f. 34 Als Beispiel kann hier etwa der Wandel vom „Erklären“ zum „Erzählen“ genannt werden, der sich im dokumentarischen Fernsehen der Achtzigerjahre vollzogen habe: Vgl. Fischer, Thomas: Erinnern und Erzählen. Zeitzeugen im Geschichts-TV. In: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008. S. 33-49. 35 Vgl. Keilbach, Judith: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen. Münster 2008; Keilbach, Judith: Zeugen der Vernichtung. Zur Inszenierung von Zeitzeugen in bundesdeutschen Fernsehdokumentationen. In: Hohenberger, Eva/Dies. (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte (=Texte zum Dokumentarfilm, Bd. 9). Berlin 2003. S. 155-174; Keilbach, Judith: ‚Neue Bilder‘ im Geschichtsfernsehen. Über Einsatz und Verwertung von Laufbildern aus der Zeit des Nationalsozialismus. In: Crivellari, Fabio et al. (Hg.): Die Medien der Geschichte: Historizität und Medialität in interdisziplinärer

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Epochen abgrenzt, mit denen sich die Geschichtswissenschaft befasst, hat medial sukzessive eine immer größere Bedeutung erlangt, sodass sie heute eine „Entgrenzung“ erfahren hat, die ihr eine beispiellose Dominanz in der gegenwärtigen Erinnerungskultur beschert hat.36 Über diese Historisierung der audiovisuellen Erinnerung hinaus setzte sich die Geschichtswissenschaft auch verstärkt – unter dem Rubrum der Public History37 – mit den audiovisuellen historischen Darstellungen der Gegenwart auseinander. Diese Beschäftigung lässt sich als Teil eines erinnerungskulturellen Diskurses verstehen, in dem beide – die Produzenten historischer Audiovisionen auf der einen und die Geschichtswissenschaft auf der anderen Seite – als Teilnehmer desselben Diskurses auftreten. Wohl auch deshalb nimmt die Historiographie gegenüber der gegenwärtigen Filmlandschaft oft eine kritische Haltung ein. Dem Film als Medium historischen Erzählens in unserer Gegenwart schlägt bisweilen eine scharfe Polemik entgegen.38 Der Historiker Michael Wildt vermutet diesbezüglich, dass die Geschichtswissenschaft um ihre Deutungshoheit fürchte39 – möglicherweise glaubt sie diese bereits an Filmemacher*innen und Fernsehschaffende verloren. Insofern kann der Historiographie ein gespaltenes Verhältnis zum Film attestiert werden: Zeigt sie sich einerseits gegenüber dem Film als Quelle aufgeschlossen, positioniert sie sich ihm als konkurrierende Instanz historischer Darstellung hingegen teilweise ablehnend gegenüber.

Perspektive. Konstanz 2004. S. 543-568; Elm, Michael: Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust. Berlin 2008. 36 Vgl. Gries, Rainer: Vom historischen Zeugen zum professionellen Darsteller. Probleme einer Medienfigur im Übergang. In: Sabrow, Martin/Frei, Norbert (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012. S. 49-70. 37 Siehe Bösch, Frank/Goschler, Constantin: Der Nationalsozialismus und die deutsche Public History. In: Bösch, Frank/Goschler, Constantin (Hg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt/M. 2009. S. 7-23. 38 Beispielsweise bezeichnete Wulf Kansteiner – ob zurecht oder zu Unrecht, sei hier dahingestellt – die Dokumentationen, die unter der Leitung von Guido Knopp von der Redaktion Zeitgeschichte des ZDF produziert wurden, auf dem Historikertag 2006 als „Geschichtspornographie“. O.A.: Keine Macht den Zeugen!: Zeitzeugenschaft und Vergangenheitspolitik in den Geschichtsdokumentationen der Ära Knopp. Vortrag von Wulf Kansteiner. In: Wischermann, Clemens u.a. (Hg.): GeschichtsBilder. 46. Deutscher Historikertag vom 19.-22. September in Konstanz. Berichtsband. S. 185. 39 Vgl. Wildt, Michael: „Der Untergang“: Ein Film inszeniert sich als Quelle. In: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008. S. 73-86. Hier S. 86.

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Die angesprochene Public History brachte und bringt eine nicht zu überblickende Flut an Publikationen hervor, die sich kritisch mit den Produktionen des Kinos und des Fernsehens als gegenwärtigen Medien historischen Erzählens auseinandersetzt.40 Bei der Mehrzahl der Arbeiten handelt es sich um unterschiedlich stark theoretisch fundierte Analysen der Produktionen oder des Programms 41 im Kino und 40 Siehe für eine unvollständige Auswahl: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008; Steinle, Matthias: Geschichte im Film: Zum Umgang mit den Zeichen der Vergangenheit im Dokudrama der Gegenwart. In: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 1). Bielefeld 2009. S. 147-165; Steinle, Matthias: Good Bye Lenin – Welcome Crisis! Die DDR im Dokudrama des historischen Event-Fernsehens. In: Ebbrecht, Tobias/Hoffmann, Hilde/Schweinitz, Jörg (Hg.): DDR – Erinnern, Vergessen. Das virtuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Marburg 2009. S. 322-342; Handro, Saskia: Mutationen. Geschichte im kommerziellen Fernsehen. In: Oswalt, Vadim/Pandel, Hans-Jürgen (Hg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart (=Forum Historisches Lernen). Schwalbach/Ts. 2009. S. 75-97; Cippitelli, Claudia: Fernsehen macht Geschichte. In: Dies./Schwanebeck, Axel (Hg.): Fernsehen macht Geschichte. Vergangenheit als TVEreignis. Baden-Baden 2009. S. 7-10; Kilborn, Richard: Neue Zeiten, alte Zeiten. Winfried und Barbara Junges DIE KINDER VON GOLZOW und die Langzeitdokumentation als Erinnerungschronik. In: Ebbrecht, Tobias/Hoffmann, Hilde/Schweinitz, Jörg (Hg.): DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Marburg 2009. S. 235-252; Hoffmann, Kay: Starke Geschichten, Helden und Emotionen. Geschichte im Fernsehen – ein Überblick. In: tv diskurs. Heft 4, 2014. S. 26-31; Theodorakopoulos, Elena: Ancient Rome at the Cinema. Story and spectacle in Hollywood and Rome (=Greece and Rome live). Exeter 2010; Laak, Dirk van: Zeitgeschichte und populäre Geschichtsschreibung. Einführende Überlegungen. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 6 (2009), H. 3. Online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-vanLaak-3-2009 (14.5.2014); Frevert, Ute/Schmidt, Anne: Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder. In: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 5-25; Braun, Michael: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film. Münster 2013. 41 Einige Beispiele für medienwissenschaftliche Programmanalysen: Früh, Werner/Stiehler, Hans-Jörg/Früh, Hannah/Böttcher, Claudia: Mediale Vereinigungsbilanzen. Ost- und Westdeutschland im Fernsehen: Event- und Alltagsberichterstattung (=Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft der mitteldeutschen Landesmedienanstalten, Bd. 3). Berlin 2011; Lersch, Edgar/Viehoff, Reinhold: Geschichte im Fernsehen: Eine Untersuchung zur Entwicklung des Genres und der Gattungsästhetik geschichtlicher Darstellungen im Fernsehen 1995 bis 2003. Berlin 2007.

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Fernsehen. Dabei geht es meist um die dargestellten historischen Inhalte, und nicht selten wird implizit aus einer normativen Perspektive auch die Frage verhandelt, inwieweit die jeweilige Form der Darstellung aus Sicht der Historiographie als legitim anzusehen ist. Hinsichtlich dieser Auseinandersetzungen mit Filmen der Gegenwart, die Geschichte erzählen, wird sichtbar, dass sich die Beschäftigung mit dem Komplex Film als historisches Erzählmedium beinahe ausschließlich auf die filmischen Medienprodukte selbst und deren Analyse beschränkt. Problematisch an diesem einseitigen Blick stellt sich die Tatsache dar, dass zumindest implizit nicht selten von den kritisierten Medienofferten auf ihre Zuschauer*innen geschlossen wird. Dies kritisiert unter anderem Fabio Crivellari: „Das Unbehagen (nicht nur) der Historiker wird zumeist aus einem pädagogischen Anspruch abgeleitet, dem […] ein Verständnis von massenmedialen Kommunikationszusammenhängen entspricht, das einen unmittelbaren und notwendigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung mehr behauptet als belegt. Darin wird unterstellt, dass Massenmedien, insbesondere Fernsehen, eine unilineare Kommunikationsschiene darstellen, deren Rezipienten nahezu ungefiltert die transportierten Inhalte aufnehmen und diese als ihr ‚Geschichtsbild‘ etablieren.“ 42

Insofern beruht ein Teil der Kritik, den die historiographische Forschung gegenüber historischen Audiovisionen übt, auf der Befürchtung, dass problematische Bilder und Narrative in den kritisierten Medien zu verheerenden Folgen für deren Rezipienten*innen führen könnten. Vor dem Hintergrund medien- und kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnisse entpuppt sich dies jedoch als Trugschluss: Medienkommunikation stellt keine schlichte Übertragung von Botschaften auf deren Empfänger*innen dar – somit können Analysen der medialen Offerten, etwa in Form von historischen Spielfilmen, auch keinen Aufschluss über deren vermeintliche Empfänger*innen und ihre Rezeption des Gesehenen geben. Beinahe zwangsläufig ergibt sich daraus die Notwendigkeit, empirisch die Nutzer*innen historischer Medien, hier also die Zuschauer*innen unterschiedlicher audiovisueller Medien des historischen Erzählens, zu erforschen. Freilich wurden hierzu in den letzten Jahren einige Forschungsprojekte angestoßen. Aufhorchen ließ etwa eine Studie, in der sich Harald Welzer, Sabine Moller 42 Crivellari, Fabio: Das Unbehagen der Geschichtswissenschaft vor der Popularisierung. In: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008. S. 161-185. Hier S. 170. Siehe auch Crivellari, Fabio: Lernort Sofa. Vom Nutzen und Nachteil des Geschichtsfilms für die Bildung. In: Drews, Albert (Hg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm (=Loccumer Protokolle, Bd. 31/07). RehburgLoccum 2008. S. 145-165.

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und Karoline Tschuggnall mit Familiengedächtnissen und der tradierten Erinnerung an das „Dritte Reich“ und den Zweiten Weltkrieg auseinandersetzten. In der Analyse der Narrative, die Zeitzeugen*innen der Ereignisse an ihre Kinder und Enkel weitergaben, stellte die Forschergruppe fest, dass die Handlung historischer Spielfilme Einzug in die Erzählungen der Zeitzeugen*innen halten könne.43 Sie sprechen von einer „kunstvollen Kombinatorik von biographischen Erlebnissen und den narrativen Modellen“44, die aus Filmen über den Krieg bekannt sind. Den Zeitzeugen*innen, die über ihre Erlebnisse berichten, sei oftmals nicht klar, dass sie in die eigenen Erlebnisse die Narrative historischer Spielfilme einweben – insofern bezeichnen Welzer, Moller und Tschuggnall historische Spielfilme pointiert als „Drehbücher für das Leben“45. Darin wird deutlich, wie enorm bedeutsam historische Audiovisionen für unseren Umgang mit Geschichte sind, und dass wir folglich zu wenig über die Zuschauer*innen der Produktionen wissen. Ähnliche Erkenntnisse wurden auch im angloamerikanischen Raum erzielt. So hat Sam Wineburg untersucht, welche Rolle historische Audiovisionen für Schüler*innen besitzen, und kommt ebenfalls zum Schluss, dass filmische Narrative problemlos Eingang in die individuellen Geschichtsbilder ihrer Rezipienten*innen halten. Nicht nur nehmen sie Bezug auf historische Spielfilme und führen diese als Argumente ins Feld, wenn sie eine Schilderung historischer Ereignisse äußern. Vielmehr verschwimmen auch hier die Grenzen zwischen der Darstellung im Spielfilm und der Geschichte, wenn etwa der Vietnamkrieg anhand von Bildern aus dem preisgekrönten Drama „Forrest Gump“ veranschaulicht wird. „[T]he fictionalized past, not the historical event, becomes [the viewers’, B.B.] frame of reference for the present.“46 Auch in weiteren Studien rücken gerade Schüler*innen als Rezipienten*innen historischer Audiovisionen, insbesondere historischer Spielfilme, in den Fokus. Wir können als empirisch gesichert annehmen, dass historisches Lernen bei Jugendlichen maßgeblich auch audiovisuell fundiert ist und sich wesentliche historische Wissensbestände auch aus Spielfilmen speisen.47 Diese Erkenntnis wurde vor allem 43 Vgl. Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis (=Die Zeit des Nationalsozialismus). 6. Aufl. Frankfurt/M. 2008. V.a. S. 110-128. 44 Ebd., S. 123. 45 Ebd., S. 110. 46 Alle Zitate Wineburg, Sam: Making Historical Sense. In: Stearns, Peter N./Seixas, Peter/Wineburg, Sam (Hg.): Knowing Teaching and Learning History. National and International Perspectives. New York, London 2000. S. 306-325. Hier S. 318-320. 47 Vgl. Bergold, Björn: „Man lernt ja bei solchen Filmen immer noch dazu.“ Der Fernsehzweiteiler „Die Flucht“ und seine Rezeption in der Schule. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010), H. 9/10, S. 503-515. Für einen umfangreichen Einblick

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für zeitgeschichtliche Narrationen in quantitativen und qualitativen Studien empirisch belegt.48 Darüber hinaus wurde nicht nur nach Faktenwissen und Lernzuwächsen durch historische Audiovisionen geforscht, sondern auch die Erwartungen der Zuschauer*innen49 und insbesondere der kompetente Umgang mit den Produktionen in den Blick genommen. 50 Gerade die Frage nach den Kompetenzen im Umgang mit solchen historischen Narrationen zeigt sich als sehr anschlussfähig an aktuelle schuldidaktische Debatten, und so leistet Britta Wehen in ihrer jüngst erschienenen Dissertationsschrift einen Beitrag zum Verständnis darüber, welche Auswirkungen historische Audiovisionen auf die Entwicklung einer narrativen Kompetenz bei Schülern*innen haben können.51 Sie konstatiert durchaus einen auch in den älteren Forschungsstand siehe Moller, Sabine: Movie-Made Historical Consciousness. Empirische Antworten auf die Frage, was sich aus Spielfilmen über Geschichte lernen lässt. In: GWU 64 (2013), H.7/8. S. 389-404. 48 Vgl. Bergold 2010; Moller, Sabine: Die DDR als Spielfilm und als Familiengeschichte. Wie ost- und westdeutsche Schüler die DDR sehen. In: Handro, Saskia/Schönemann, Bernd (Hg.): Orte historischen Lernens (=Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 18). Berlin 2008. S. 89-98; Hofmann, Wilhelm/Baumert, Anna/Schmitt, Manfred: Heute haben wir Hitler im Kino gesehen. Evaluation und Wirkung des Films „Der Untergang“ auf Schüler und Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse. In: Zeitschrift für Medienpsychologie 17 (2005), H.4. S. 132-146; Neitzel, Sönke: Geschichtsbild und Fernsehen. Ansätze einer Wirkungsforschung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010), H. 9/10. S. 488-502. Für die Aneignung nicht zeitgeschichtlicher Themen existieren deutlich weniger empirische Erkenntnisse. Siehe hierzu Sommer, Andreas: Geschichtsbilder und Spielfilme. Eine qualitative Studie zur Kohärenz zwischen Geschichtsbild und historischem Spielfilm bei Geschichtsstudierenden (=Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 5). Münster 2010; Sommer, Andreas: „Da kommt das Bild aus dem Film“. Eine empirische Studie zur Rezeption und Wirkung von Historienfilmen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), H. 7/8. S. 427-440. 49 Vgl. Meyen, Michael: Was wollen die Zuschauer sehen? Erwartungen des Publikums an Geschichtsformate im Fernsehen. In: Drews, Albert (Hg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm (=Loccumer Protokolle, Bd. 31/07). Rehburg-Loccum 2008. S. 55-73; Meyen, Michael/Pfaff, Senta: Rezeption von Geschichte im Fernsehen. In: Media Perspektiven, Heft 2 (2006). S. 102106. 50 Vgl. Martens, Matthias: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte (=Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 1). Göttingen 2010. 51 Wehen, Britta: Macht das (historischen) Sinn? Narrative Strukturen von Schülern vor und nach der De-Konstruktion eines geschichtlichen Spielfilms (=Geschichtsdidaktische Studien, Bd. 5). Berlin 2018.

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Gewinn des Einsatzes historischer Spielfilme im Geschichtsunterricht, insofern die von ihr erforschten Jugendlichen durch die didaktisch angeleitete Arbeit mit diesem Medium zu elaborierteren historischen Erzählungen in der Lage waren. Vor allem die Frage der Fähigkeit zum kritischen und dekonstruierenden Umgang mit historischen Spielfilmen stellten sich auch Christoph Kühberger u.a., und sie konnten zeigen, dass immerhin etwa zwei Drittel der befragten Schüler*innen in der Lage waren, kritisch mit audiovisuellen Narrationen von Geschichte umzugehen und deren Konstruktcharakter zu reflektieren.52 Gleichwohl widersprechen sich ein kritischer Umgang mit historischen Spielfilmen und historisches Lernen mit eben diesen zumindest in der Medienrealität von Jugendlichen nicht. So konnte Andreas Sommer empirisch zeigen, dass auch Studierende in ihrem Geschichtsbild maßgeblich von historischen Spielfilmen beeinflusst werden und diese für sie einen „Referenzrahmen“ bilden, auf den sie sich im Sprechen über Geschichte immer wieder beziehen.53 Ergänzt werden derartige Befunde von einer jüngst erschienenen Studie, die sich explizit nicht auf Lernprozesse, sondern in der Tradition der Cultural Studies auf eine Aneignung des Gesehenen durch die Zuschauer*innen konzentriert. 54 Dabei wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit audiovisuell erzählter Geschichte und die Lesarten von historischen Spielfilmen nur vor dem Hintergrund der individuellen Profession und Lebenswelt der Zuschauer*innen verstanden werden können. Aus den Ergebnissen lässt sich ableiten, dass die empirische Erforschung der Zuschauer*innen historischer Spielfilme keineswegs an der Tür des Klassenzim52 Vgl. Kühberger, Christoph: Empirische Befunde zum Umgang mit Spielfilmen über die Vergangenheit in der Sekundarstufe 1. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 7-8 (2014). S. 423-438. Hier S. 433. Siehe auch ders. (Hg.): Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel „Spielfilm“. Empirische Befunde – Diagnostische Tools – Methodische Hinweise (=Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte – Sozialkunde – Politische Bildung, Bd. 7). Innsbruck 2013. In dieser wohlreflektierten Arbeit wurde anhand von Antworten von österreichischen Schüler*innen der siebten Klasse unter anderem gefragt, inwieweit sie am Gegenstand Film eine konzeptionelle Unterscheidung von „Geschichte“ und „Vergangenheit“ vorzunehmen imstande seien. Dahinter steht die grundlegende Einsicht in die Konstruktivität historischer Narrationen, die letztlich als Teil einer historischen Medienkompetenz zu verstehen ist. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die Erwartung dieser Einsichten bei 14-jährigen Schülern*innen nicht zu weit geht – zeigen sich doch auch Studierende der Geschichtswissenschaft nicht selten von dieser Perspektive auf historische Narrationen überfordert. 53 Sommer 2010, S. 202. 54 Moller, Sabine: Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer. Berlin 2018.

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mers enden sollte, sondern unbedingt auch ein empirischer Blick auf Rezeptionskontexte außerhalb intentional gestalteter Lernumgebungen geboten ist. Dass historische Audiovisionen auf das Geschichtsbewusstsein ihrer Zuschauer*innen einen erheblichen Einfluss ausüben, kann also als auf breiter empirischer Grundlage gesicherte Annahme gelten. Dennoch muss wohl trotz der hier zitierten Arbeiten konstatiert werden, dass der Blick auf die Vorgänge während der Rezeption noch immer als Desiderat zu bezeichnen ist. Der Geschichtsdidaktiker Matthias Martens hat 2010 festgehalten: „In der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik existieren bisher keine empirischen Studien, die den Umgang mit Darstellungen der Geschichte untersuchen.“55 Wenngleich diese Feststellung bereits zum damaligen Zeitpunkt als zu absolut erschien, gilt die Aussage in ihrer Tendenz jedoch noch immer. In der empirischen Rezeptionsforschung in Bezug auf historische Audiovisionen ein Desiderat zu erkennen, darin besteht bis heute weitestgehend Einigkeit.56 Zudem liegt das mangelnde Verständnis über die Prozesse, die Zuschauer*innen im Zuge der Rezeption eines Films vollführen, nicht nur an der allgemein geringen Anzahl an Forschungsarbeiten zu diesem umfangreichen und komplexen Gegenstand. Auch die methodische Ausrichtung zahlreicher Studien, die quantitativ die Wirkungen und Effekte von historischen Filmen auf ihre Zuschauer*innen erforscht haben, ist dafür mitverantwortlich.57 Oft sind nur die Ergebnisse – „Wirkungen“ – nicht aber die Prozesse selbst in den Blick der Studien geraten. Sabine Moller fordert aus diesem Grund zurecht, den „Primat auf die qualitativen Methoden [zu] legen, um Sinnbildungsvorgänge sichtbar zu machen.“58 Diesem Ziel verschreibt sich 55 Martens 2010, S. 92. 56 Vgl. Falböck, Gaby: Populäre Formen der Vermittlung von Erinnerungskultur in Praxis und Theorie. In: Erker, Linda/Kienesberger, Klaus/Vogl, Erich/Hausjell, Fritz (Hg.): Gedächtnisverlust? Geschichtsvermittlung und -didaktik in der Mediengesellschaft. Köln 2013. S. 218-233. Hier S. 231; Sommer 2010, S. 259; Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: Geschichte in populären Medien und Genres: Vom Historischen Roman zum Computerspiel. In: Dies. (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 1). Bielefeld 2009. S. 9-60. Hier S. 48. 57 Insbesondere die Disziplin der Psychologie verfolgt diesen methodischen Schwerpunkt. Siehe dazu etwa Glaser, Manuela/Garsoffky, Bärbel/Schwan, Stephan: What do we learn from docutainment? Processing hybrid television documentaries. In: Learning and Instruction 22 (2012), S. 37-46; Pouliot, Louise/Cowen, Paul S.: Does Perceived Realism Really Matter in Media Effects? In: Media Psychology (2007), H. 2. S. 241-259. 58 Moller 2013, S. 404. Auch der so wichtige Aspekt der Emotion im Zuge der Rezeption audiovisueller Medien verdient eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Siehe dazu Hochscherf, Tobias/Laucht, Christoph: Geschichtsdarstellung – Geschichtsaneignung. Emotionale Gedächtnisaktivierung am Beispiel des TV-Eventfilms Unsere Mütter, unsere Väter

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auch die vorliegende Studie, die qualitativ das rezipierende Individuum und dessen „Sinnbildungsvorgänge“ im Zuge der Spielfilmrezeption empirisch erforschen möchte.

1.3 AUFBAU DER ARBEIT Um diesem Ansinnen gerecht zu werden, werde ich zunächst die theoretischen Grundlagen des Forschungsgegenstands ausführlich darlegen. Die Schwerpunkte dieser Auseinandersetzung liegen dabei auf einer erzähl- und fiktionstheoretischen Behandlung historischer Audiovisionen. Darüber hinaus werde ich ausführlich die theoretischen Hintergründe des allgegenwärtigen Schlagwortes der Authentizität darstellen und systematisieren. In Verbindung mit kommunikationswissenschaftlichen Theorien zur Medienrezeption gehen die theoretischen Überlegungen schließlich in einer Fundierung des Begriffs der Authentifizierung auf, der das zentrale theoretische Konzept der Arbeit markiert. Nach der anschließenden Darstellung und Begründung des methodischen Vorgehens werde ich im Hauptteil der Arbeit ausführlich die empirischen Ergebnisse darlegen. Dieses Kapitel präsentiert sich dreigeteilt: Zunächst stelle ich verschiedene Typen von Zuschauern*innen und ihrer Rezeption vor, die höchst vielfältig das TV-Event „Der Turm“ rezipiert und folglich auch unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dessen Authentizität gefunden haben. Im zweiten, umfangreicheren Teil der empirisch fundierten Ausführungen soll es darum gehen, die Grundlagen dieser Zuschreibungen von Authentizität zu systematisieren: Welches sind die Argumente, die die Filmstory in den Augen der Zuschauer*innen zu einer authentischen Erzählung über das letzte Jahrzehnt der DDR machen? Worauf berufen sie sich in ihren Einschätzungen, dass es sich um authentische historische Erzählungen im fiktionalen Medium Spielfilm handelt? Die Beantwortung dieser Fragen stellt den umfangreichsten Teil des Kapitels dar und bildet den wichtigsten Schwerpunkt der Arbeit. Abschließend werde ich aus den gewonnenen, empirischen Erkenntnissen allgemeinere Thesen ableiten, die dem Versuch gewidmet sind, den Prozess der Authentifizierung theoretisch zu charakterisieren. Dieser Dreischritt liefert nicht nur ein Verständnis für die Authentifizierung fiktionaler historischer Erzählungen. Aus einer entgegengesetzten Blickrichtung können im gleichen Zuge Einsichten in das geschichtsbewusste Individuum in seiner alltäglichen Lebenswelt, in seinen medialen Alltag, seine Rezeptionsgewohnheiten historischer Medien und insbesondere hinsichtlich historischer Audiovisionen entstehen. Zudem zeigt sich auch, wie groß die Relevanz zeitgeschichtlicher Themen (ZDF 2013). In: Moller, Sabine/Bauer, Matthias (Hg.): Thema: Kulturelle Aneignung von Vergangenheit (=Sonderheft Literatur in Wissenschaft und Unterricht 2013). S. 179-204.

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im Leben Jugendlicher ist und wo ihnen Geschichte in ihrem Alltag begegnet. Die Frage nach der zugeschriebenen Authentizität historischer Erzählungen und den Grundlagen für diese Zuschreibung kann insofern – am Beispiel Jugendlicher – den homo historicus und seine Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts genauer beleuchten.

2

Theoretische Grundlagen

Im Nachdenken über historische Audiovisionen begegnen uns die Begriffe Story und History. Der eine ist assoziiert mit filmischem Geschichten-Erzählen, mit Fiktionen und Phantasie, der andere mit Geschichte und erforschten Geschehnissen der Vergangenheit. Beide Begriffe ähneln sich schon sprachlich, und keineswegs besteht zwischen beiden eine ohne Weiteres zu ziehende Grenze. Vielmehr bewegen sich fiktionale historische Erzählungen im Medium Spielfilm stets im Spannungsfeld zwischen Story und History, zwischen Geschichte und Geschichten, zwischen Fakten und Fiktion. Dieses Spannungsfeld ist die Grundlage dafür, dass seitens der Geschichtswissenschaft gegen so manche Produktion polemisch Stellung bezogen wird, die historische Ereignisse in bewegten Bildern erzählt. Nicht selten bezieht sich die Kritik darauf, dass die Grenze zwischen Story und History unnötig verwaschen oder unzulässig überschritten wird. Um jedoch die Konzepte hinter diesen Begriffen verstehen, den Gegenstand dieser Arbeit theoretisch fassen und in der Folge empirisch erforschen zu können, bedarf es zunächst einer allgemeinen, theoretischen Auseinandersetzung mit den Eigenheiten fiktionalen, audiovisuellen historischen Erzählens. Die folgende Vorstellung der theoretischen Grundlagen soll ein fundamentales Verständnis für das Koordinatensystem ermöglichen, in dem sich diese Arbeit verortet. Es wird erstens bestimmt von der Geschichte, also den auf Quellengrundlage rekonstruierten Geschehnissen der Vergangenheit, und zweitens von ihrer Darstellung in audiovisuellen und vor allem fiktionalen Narrationen des Fernsehens und Kinos. Hinzu kommen drittens die Zuschauer*innen dieser Produktionen, also jene, durch die die audiovisuelle Erzählung von Geschichte zu einer Kommunikationssituation gerät. Es gilt, die Beziehungen zwischen diesen drei Eckpunkten mithilfe bestehender theoretischer Konzepte zu bestimmen, um die empirische Erforschung des Gegenstands zu ermöglichen: Was bedeutet es, wenn Geschichte im Spielfilm erzählt und dargestellt wird? Wie lässt sich der kommunikative Vorgang begreifen, wenn Zuschauer*innen diesen Spielfilm ansehen? Und wie gehen sie mit dem Ge-

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sehenen um, wenn sie sich der Geschichte über dieses populäre Massenmedium zuwenden? Diese Problemfelder behandeln die folgenden Kapitel. Zunächst geht es um die Frage, in welcher Beziehung Geschichte und Fiktion im Kontext historischer Spielfilme stehen. Dabei werden Fragen nach der Narrativität von Geschichte ebenso behandelt wie das Verhältnis von fiktionalen zu nicht-fiktionalen Formen historischen Erzählens. Hierzu werde ich sowohl geschichts- als auch erzähltheoretische Konzepte und Positionen heranziehen. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang das gegenwärtig enorm populäre Schlagwort der Authentizität zu diskutieren und zu klären, wie authentisch Geschichte in fiktionalen Erzählungen allgemein und in Audiovisionen wie dem Spielfilm „Der Turm“ ganz konkret sein kann. Weiterhin wird das Konzept der Medienaneignung vorgestellt und diskutiert, das den Umgang von Mediennutzern mit Medien im Allgemeinen und dem Spielfilm im Speziellen beschreibt. Insbesondere das Verhältnis zwischen FilmZuschauern*innen und Film-Inhalten wird dabei theoretisch fundiert. Dies ist der Komplexität des Kommunikationsprozesses geschuldet: Wenn (jugendliche) Zuschauer*innen eine Erzählung wie den „Turm“ ansehen, so kann dies nicht als lineare Übertragung von Medienbotschaften verstanden werden. Vielmehr findet eine hochkomplexe Interaktion, eine Aushandlung zwischen den historischen Offerten des Spielfilms auf der einen und dem historischen Wissen, dem Geschichtsbewusstsein, den Medienerfahrungen, der Alltagswelt der Jugendlichen und weiteren wesentlichen Aspekten der Kommunikationssituation Spielfilmrezeption statt, die den Verlauf der Medienaneignung mitbestimmen. Den Abschluss der theoretischen Überlegungen bildet schließlich eine Theoriesynthese, die im Begriff der Authentifizierung aufgeht und damit einen spezifischen Fokus im Verhältnis von Geschichte, ihrer Darstellung im Fernsehen und ihren Zuschauern*innen modelliert. Ausgehend von den beschriebenen Theoriekomplexen wird der Prozess der Authentifizierung als das wesentliche Element jeglicher Aneignungsprozesse fiktionaler historischer Medien beschrieben, das grundlegend dafür ist, dass eine Erzählung wie jene des Spielfilms „Der Turm“ aus der Perspektive seiner Zuschauer*innen zu einer historischen Erzählung, dass Story zu History nobilitiert wird. Dieses Konzept der Authentifizierung stellt die Grundlage bereit, um im Anschluss die empirisch beobachtbaren Ausprägungen des Prozesses fundiert zu analysieren.

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2.1 DIE „FIKTION DES FAKTISCHEN“? GESCHICHTS- UND ERZÄHLTHEORETISCHE PERSPEKTIVEN AUF HISTORISCHE ERZÄHLUNGEN IM SPIELFILM 2.1.1 Die Konstruktivität und Narrativität von Geschichte Dass sich die Begriffe Story und History formal und inhaltlich so ähneln, weist darauf hin, dass Erzählen im Spielfilm und historisches Erzählen manches gemeinsam haben. Sprachlich liegt dieser Umstand bereits in der Doppelbedeutung des lateinischen Wortes historia begründet (das aus dem Altgriechischen entlehnt wurde, agr. ἱστορία). Es bedeutete zunächst Erzählung, Geschichte, wurde aber nach und nach auch in der Bedeutung einer Erzählung über die Vergangenheit verwendet. 1 Diese Doppeldeutigkeit setzt sich auch im Deutschen fort. Eine Geschichte (zum Beispiel aus Tausendundeiner Nacht) ist von der Geschichte (zum Beispiel der Geschichte der DDR) semantisch erst anhand des Artikels zu unterscheiden. Zudem existiert die Geschichte, das Arbeitsfeld des*der Historikers*in, in der Regel nur einmal: Der*die Historiker*in erforscht die DDR-Geschichte, nicht DDR-Geschichten.2 Auch im Kontext der geschichtswissenschaftlichen Verwendung des Wortes weist Geschichte eine Mehrdeutigkeit auf:3 Es bezieht sich einerseits auf die res gestae, auf die vergangenen Geschehnisse, über die die Geschichtswissenschaft auf der Grundlage überlieferter Quellen Kenntnis erlangen will. Andererseits meint der Begriff bereits in der Antike die Erzählung von diesen Geschehnissen, die historia

1

Vgl. Herbst, Ludolf: Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte. München 2004. S. 41.

2

Es handelt sich hier um eher unübliche Verwendungen des Plurals, die die Bedeutung des Begriffs Geschichte verändern: Etwa wenn sie sich sehr konkret auf historiographische Werke zum gleichen Gegenstand beziehen, sind zwei Geschichten der DDR von unterschiedlichen Autoren*innen vorstellbar, die verschiedene Deutungen der DDR vorlegen. Die Wendung „DDR-Geschichten“ hingegen könnte sich einerseits auf Anekdoten aus der DDR beziehen, andererseits ist ein literaturwissenschaftliches Verständnis des Ausdrucks denkbar. Demgegenüber steht der „Kollektivsingular“ Geschichte: vgl. Koselleck, Reinhart: Eintrag Geschichte, Historie. Einleitung. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2, E-G. 3. Aufl. Stuttgart 1992. S. 593595. Hier S. 594.

3

Vgl. Goertz, Hans-Jürgen: Geschichte – Erfahrung und Wissenschaft. Zugänge zum historischen Erkenntnisprozess. In: Ders. (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 1998, S. 15-41. Hier S. 32, 34.

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rerum gestarum, eine narrative Handlung, die konstitutiv für die geschichtswissenschaftliche Erkenntnis ist.4 Beide Aspekte des Begriffs machen damit auf ein essentielles Charakteristikum von Geschichte aufmerksam: ihre Konstruiertheit und die Unmöglichkeit, die Vergangenheit objektiv abbilden zu können. Leopold von Ranke hat in seinem berühmten Diktum vor bald zweihundert Jahren bemerkt, dass die Aufgabe der Geschichte als Wissenschaft darin liege, zu „sagen, wie es eigentlich gewesen“5 sei. Freilich haben die Auseinandersetzungen mit der Theorie der Geschichtswissenschaft diese positivistische Vorstellung längst überwunden. Vielmehr gehen nicht erst moderne Positionen davon aus, dass Geschichte ein von der Gegenwart bestimmtes Konstrukt auf der Grundlage der überlieferten Quellen ist. 6 Entsprechend ist Rankes Vorstellung auch nicht haltbar, wie etwa Hans-Jürgen Goertz feststellt: „Man kann nicht sagen, wie es eigentlich gewesen ist, sondern nur, wie es gewesen sein könnte.“7 Die Qualität historischer Erkenntnisse bemisst sich folglich nicht nach der Frage, ob sie die historische Wirklichkeit korrekt abbilden, sondern inwiefern diese als angemessen bezüglich ihres Zustandekommens, insbesondere ihrer Quellengrundlage gelten können. Das Ziel von Historikern*innen ist es, „zwar nicht die Vergangenheit, aber doch eine der Vergangenheit möglichst adäquate Beschreibung zu liefern“8 – so, wie sie sich uns anhand der überlieferten Quellen darstellt. Insbesondere das „Vetorecht“ der Quellen9 stellt hierfür einen wesentlichen Prüfstand dar: Widerspricht eine quellenkritisch betrachtete Quelle einer historischen Darstellung, kann diese nicht mehr als angemessen gelten. Innerhalb des geschichtswissenschaft-

4

Vgl. Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Orientierung Geschichte. Paderborn 2009. S. 17. Weitere Bedeutungen des Wortes, etwa als Bezeichnung der wissenschaftlichen Disziplin, müssen hier nicht weiter vertieft werden.

5

Ranke, Leopold von: Geschichten der romanischen und germanischen Völker: von 1494 bis 1535. Bd. 1. Leipzig, Berlin 1824. S. V-VI.

6

Vgl. unter anderem Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. 3., überarb. Aufl. Leipzig 1882. S. 25.

7

Goertz, Hans-Jürgen: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (=rowohlts enzyklopädie). Reinbek 1995. S. 92.

8

Häfner, Gerd: Konstruktion und Referenz: Impulse aus der neueren geschichtstheoretischen Diskussion. In: Backhaus, Knut/Ders. (Hg.): Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (=Biblisch-theologische Studien, Bd. 86). Neukirchen-Vluyn 2007. S. 67-96. Hier S. 91.

9

Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: Ders./Mommsen, Wolfgang J./Rüsen, Jörn (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit (=Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 1). München 1977. S. 17-46. Hier S. 45f.

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lichen Fachdiskurses findet die beständige Verhandlung darüber statt, was als eine den vergangenen Ereignissen angemessene Darstellung zu gelten hat. Schon auf der Grundlage dieser sehr grundlegenden Anmerkungen über den geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozess wird deutlich, dass Begriffe wie historische Fakten10 oder historische Wirklichkeit11 erkenntnistheoretisch problematisch sind. Vielmehr stellt die Arbeit der Geschichtswissenschaft ein beständiges Ringen um „empirische Triftigkeit“12 der Erkenntnisse im Sinne des Geschichtstheoretikers Jörn Rüsens dar, ohne je eine unumstößliche historische Wahrheit zu generieren. Geschichte bleibt insofern immer ein Konstrukt der Gegenwart, das gleichwohl das Ideal anstrebt, korrekte Erkenntnisse über historische Gegebenheiten auf der Grundlage quellenkritischer Arbeit zu generieren. Zu diesen grundsätzlichen Überlegungen hinsichtlich der Konstruktivität historiographischer Erkenntnisse kommt die Frage nach der Art hinzu, in welcher Gestalt diese in Erscheinung treten. Die wissenschaftliche Darstellung von Geschichte findet in erster Linie in Form schriftlicher Texte statt. Diese sprachlichen Konstrukte stellen immer eine Erzählung dar, ein Narrativ: Erzählungen erzählen von einem Geschehen, von Veränderungen, von Zeitläuften, sie weisen eine zeitliche Entwicklung, einen Anfang und ein Ende auf13 (im Gegensatz zu den sprachlichen Modi Beschreibung und Argumentation)14. Dies gilt prinzipiell für alle Formen der Erzählung, nicht nur, aber auch für Erzählungen von der Geschichte. Geschichte ist damit per se durch die Eigenschaft der Narrativität geprägt. Jörn Rüsen sieht im Vorgang des Erzählens die essentielle Operation historischen Denkens: „Erzählen ist Sinnbildung über Zeiterfahrung und gehört damit zu dem elementaren und allgemeinen Phänomen kultureller Daseinsbewältigung, die die Menschen als Gattung definieren.“15 Es gilt mittlerweile als „Allgemeinplatz“16, dass die Geschichtsschreibung Narrative hervorbringt. Narrativität bedeutet für die Geschichtswissenschaft „in erster Linie den Tatbestand, dass alle Geschichte zunächst in Erzählungen über Ver-

10 Siehe dazu Evans, Richard: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt/M./New York 1998. 11 Vgl. Goertz 1998, S. 35. 12 Rüsen, Jörn: Objektivität. In: Bergmann, Klaus et al. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. überarb. Aufl. Seelze-Velber 1997. S. 160-163. Hier S. 161f. 13 Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998, S. 202. 14 Vgl. Saupe, Achim/Wiedemann, Felix: Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft. Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte 2015. Online unter https://docupedia.de/zg/Narration (30.4.2015), S. 6. 15 Rüsen, Jörn: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. Köln, Weimar, Wien 1994. Hier S. 31. 16 Saupe/Wiedemann 2015, S. 8.

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gangenes, d.h. in Geschichten, präsent ist.“17 Die bloße Aneinanderreihung von Jahreszahlen ist noch keine Geschichte, erst die sinnvolle sprachliche Verknüpfung vergangener Ereignisse macht sie dazu18 – und diese Verknüpfung findet im sprachlichen Modus der Erzählung statt, wie der Philosoph Arthur Danto hergeleitet hat.19 Hier findet sich wieder, was eingangs beschrieben wurde: Der Zusammenhang der Begriffe Geschichte und Geschichten setzt sich in ihrer geschichtstheoretischen Bedeutung fort und stellt somit eine Nähe zwischen geschichtswissenschaftlichem Erzählen und Erzählungen in fiktionalen Medien wie dem Spielfilm her. Fragen nach der Narrativität der Historiographie wurden im Kontext des sogenannten linguistic turn in die theoretischen Debatten der Geschichtswissenschaft eingeführt, die die Rolle der Sprache im Prozess geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis thematisierten. „Grundlegend für den ‚linguistic turn‘ ist die Überzeugung, dass Sprache kein transparentes Medium ist (das eine von ihr unabhängig existierende, darunterliegende Realität beschreibt), sondern ein Instrument zur Konstruktion von Realität.“20 Hayden White ist bis heute der prominenteste Akteur dieses linguistic turn und Vertreter der Erkenntnis, dass „auch Klio dichtet“. 21 Zunächst benennt White damit die Einsicht, dass die Geschichtswissenschaft ihre Ergebnisse in der Form selbst kreierter Sprache darstellt, es sich also um einen kreativen Prozess des Schreibens handle. Doch unterstellt er, dass diese sprachliche Konstruktion von historischer Erkenntnis einer Beliebigkeit unterworfen ist, die sie in die Nähe des Geschichtenerzählens rücke. Seine berühmte Essaysammlung „Tropics of Discourse“ trägt in der deutschen Übersetzung denn auch den Untertitel „Die Fiktion des Faktischen“ und skizziert damit jenes grundlegende Spannungsfeld, das sich aus der These ergibt, die Geschichtswissenschaft sei dichterisch-kreativ tätig und konstruiere eine Erzählung – ebenso, wie Dichter*innen eine literarische Welt erschaffen – und strebe zugleich das Ideal historischer Wahrheit an. Zahlreiche Autoren*innen haben sich kritisch mit Whites Thesen auseinandergesetzt und insbesondere die Frage verhandelt, was Geschichtsschreibung von lite-

17 Baumgartner, Hans-Michael: Narrativität. In: Bergmann, Klaus et al. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. überarb. Aufl. Seelze-Velber 1997. S. 157-160. Hier S. 157. 18 Hayden White nennt diesen Vorgang, der aus bloßen Ereignissen und Jahreszahlen Geschichte macht, emplotment: White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore, London 1973. S. 7. 19 Siehe Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M. 1980. 20 Lorenz, Chris: Postmoderne Herausforderungen an die Gesellschaftsgeschichte? In: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), H. 4. S. 617-632. Hier S. 618f. 21 Siehe White, Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991.

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rarischer Fiktion unterscheide.22 Gegen die Gefahr einer Beliebigkeit der historischen Erkenntnis stellt sich explizit Chris Lorenz, der sich mit der Philosophie der Geschichtsschreibung auseinandersetzt: „Die dritte Voraussetzung des Textualismus [gemeint sind die Thesen Whites, B.B.], die sich als problematisch erwiesen hat, ist die weitgehende Relativierung des Unterschieds zwischen Fakten und Fiktion. Im Gegensatz zu Whites Behauptung unterscheiden Historiker grundsätzlich zwischen beiden und sehen sich sehr wohl in der Lage, die Unterscheidung zu treffen. Wer diesen Unterschied negiert, geht an einer der konstitutiven Voraussetzungen der historischen Forschung vorbei und fordert gerade Missverständnisse heraus. Und wer wie White alles, was in der Sprache formuliert wird, als ‚fiktional‘ charakterisiert, schafft eine unnötige Begriffsverwirrung. Der Begriff der Fiktion verdankt seine Bedeutung ja dem Gegensatz zu der Nicht-Fiktion, das heißt zu dem Begriff des Faktums.“23

Diese grundlegende Kritik nimmt auf zwei verschiedenen Ebenen Bezug zu der Frage nach der Unterscheidung historiographischer und fiktionaler Erzählung: Einerseits betont Lorenz die wesensmäßige Differenz dessen, was erzählt wird, das heißt zwischen historischen Fakten und Fiktion (hier im Sinne von erdachten Ereignissen). Andererseits geht er auf den sprachlichen Akt des historischen Erzählens ein. In Bezug auf den ersten Aspekt stellt White selbst nicht infrage, dass sich fiktionale Literatur und Geschichtsschreibung als zwei Formen des Geschichtenerzählens sehr wohl auf Verschiedenes beziehen: „Historians are concerned with events which can be assigned to specific time-space locations, events which are (or were) in principle observable or perceivable, whereas imaginative writers – poets, novelists, playwrights – are concerned with both these kinds of events and imagined, hypothetical, or invented ones.“24

Deutlich wird daran, dass White in den „Tropics of Discourse“ (1978) den wesensmäßigen Unterschied zwischen historischen Ereignissen und erdachten Geschehnissen in einer Geschichte anerkennt. In dieser Hinsicht setzt er das Erfinden von Er22 Siehe dazu Ankersmit, Frank R.: Historical Representation (=Cultural Memory in the Present). Stanford 2001; Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (=Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 13). Köln/Weimar/ Wien 1997; Evans 1998; auch folgender Tagungsband: Trabant, Jürgen (Hg.): Sprache der Geschichte (=Schriften des Historischen Kollegs – Kolloquien, Bd. 62). München 2005. 23 Lorenz 1997, S. 184. 24 White, Hayden: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore/London 1978. S. 121.

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eignissen in fiktionaler Literatur nicht mit der Geschichtswissenschaft gleich. Dieser erste Aspekt der Kritik von Chris Lorenz geht damit meines Erachtens an den Thesen Whites vorbei, wie ein Blick in einen frühen Essay belegt. Die „Fiktion des Faktischen“ kann folglich nicht auf einem Akt des Erfindens von Ereignissen beruhen, wie dies Autoren*innen fiktionaler Literatur mitunter tun, womit zumindest in diesem Punkt auch bei White eine klare Grenze zwischen diesen und erzählenden Historikern*innen gezogen ist. Abgesehen von den Ereignissen, über die berichtet wird, sieht White jedoch keinen systematischen Unterschied in der Art, wie Historiker*innen und Schriftsteller*innen ausgehend von diesen Ereignissen ihre Erzählung erschaffen: „Novelists might be dealing only with imaginary events whereas historians are dealing with real ones, but the process of fusing events, whether imaginary or real, into a comprehensible totality capable of serving as the object of a representation is a poetic process.“25

Aus Ereignissen, historischen „Fakten“ (in der Form von Quellenbefunden), die erzählerisch in eine Beziehung gesetzt werden, müsse erst eine historische Geschichte entstehen. Während sich laut White die Ereignisse in der Tat von denen der Literatur unterschieden („imaginary“ versus „real“), sei ihre Zusammenfügung – ihr „fusing“, das White auch emplotment nennt – für die Form einer Erzählung jedoch im Falle von Geschichtsschreibung und Literatur von gleicher Art. Für White besteht die „Fiktion des Faktischen“, das heißt das „fiction-making“ des*der Historikers*in im „matching up a specific plot structure with the set of historical events that he wishes to endow with a meaning of a particular kind.“26 White vertritt hiermit seine in der Metahistory entwickelte Position, dass die Wahl der sprachlichen Form, in der Historiker*innen ihre Erkenntnisse verfassen, wesentlichen Einfluss auf die erzählte Geschichte habe, etwa in der Auswahl der einbezogenen Ereignisse27: „I am permitted to assert that different historians stress different aspects of the same historical field, the same set or sequence of events, because they actually see different objects in that field“.28 Darin liege ein schöpferisches Moment auch historischer Erzählung, und entsprechend ließen sich historische „Fakten“ auch anders miteinander narrativ verknüpfen – wohlgemerkt nicht aufgrund verschiedener historischer Interpretationen eines Gegenstands, sondern aufgrund einer 25 White 1978, S. 125. 26 White 1978, S. 85. 27 Die von White herausgearbeiteten Tropen haben viel Beachtung gefunden – positive wie negative. Sie werden an dieser Stelle nicht weiter verfolgt, da sie an den Gegenstand filmischer, historischer Erzählungen weniger anschlussfähig sind als die Verhandlung der Frage nach der Fiktionalität der Geschichtswissenschaft bei White und seinen Kritikern. 28 White 1973, S. 274.

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andersartigen narrativen Modellierung. Darin sehen selbst die Kritiker dieser „postmodernen Anflüg[e]“29 ein zentrales Verdienst Hayden Whites, das die Konstruktivität der historiographischen Erkenntnis im narrativen Prozess betont. Während die grundsätzliche Narrativität der Geschichtswissenschaft und damit eben auch eine gewisse Variabilität der Geschichte also eine weitestgehend akzeptierte Annahme geworden sind, die die Bedingtheit des Erzählten von der Form des Erzählens anerkennt30, stellt die Verbindung der Geschichtsschreibung mit dem Begriff der Fiktion nach wie vor eine Provokation dar.31 Jörn Rüsen sieht darin das Potenzial „zu erheblichen Missverständnissen und zur Verdunkelung des Sachverhalts“32, und in der Tat scheinen sich in der Debatte unterschiedliche Fiktionsbegriffe zu begegnen, die maßgeblich für die Irritationen verantwortlich sind. Dies wird auch mit Blick auf weitere Zitate Hayden Whites deutlich. In der Erwiderung auf eine Polemik von Arthur Marwick33 schreibt er: „The opposition of fact to fiction is a staple of historiographic theory, and the cause of much irritation which traditional historians feel about me or anyone presuming to suggest that there might be a ‚fictional‘ element in the historian’s text, however much he or she has tried to avoid it. […] [E]specially texts cast in a narrative mode of expression, contained an irreducibly fictive element when they did not pass over from an imputed factualness into outright fictionality.“34 „It is only to say that any historian’s account of his or her subject is constrained by conventions of language, genre, mode (for example, narrative), argument, and a host of other cultural and social contextual considerations.“35

29 Hasberg, Wolfgang: Klio im Geschichtsunterricht. Neue Perspektiven für die Geschichtserzählung im Unterricht? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), H. 12. S. 708-726. Hier S. 711. 30 Siehe dazu auch die Verteidigung Hayden Whites vor der Polemik von Arthur Marwick bei Ankersmit 2001, S. 252-261. 31 Vgl. Hasberg 1997, S. 711. 32 Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2013. S. 196. 33 Marwick, Arthur: Two Approaches to Historical Study: The Metaphysical (Including ‚Postmodernism‘) and the Historical. In: Journal of Contemporary History 30 (1995), H. 1. S. 5-35. 34 White, Hayden: Response to Arthur Marwick. In: Journal of Contemporary History 30 (1995), H. 2. S. 233-246. Hier S. 240. 35 White 1995, S. 244.

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White beschreibt in diesen Zitaten die Konstruiertheit der geschichtswissenschaftlichen Erzählung und bezeichnet diese mit dem Begriff der Fiktion. Jede Narration enthalte unweigerlich ein „fictive element“, mache aus der Erzählung aber deshalb nicht gleich „outright fictionality“. Dies weist White stattdessen als Unterstellung zurück, und er betont erneut, dass es ihm um die sprachliche Konstruktivität historischer Erzählungen ginge. Spätestens anhand dieses Zitates zeigt sich, dass in der Debatte Begriffe eine Rolle spielen, die genuin nicht der Geschichtswissenschaft, sondern der Erzähltheorie entstammen. Neben offenbar unterschiedlichen Ansichten über die Bedeutung des Begriffes Fiktion treten zudem Probleme bei der Übersetzung dieses und anderer Begriffe zutage. Aus diesem Grund erscheint es mir geboten, sie inhaltlich zu schärfen, um die aufgeworfene Frage zu beantworten, wo die Grenze zwischen geschichtswissenschaftlichem und fiktionalem Erzählen verlaufe. Erst damit kann ein Verständnis darüber entstehen, in welchem Verhältnis Geschichte im Spielfilm und historisches Erzählen stehen. 2.1.2 Fiktionales und non-fiktionales historisches Erzählen Betrachten wir das Problem also aus der entgegengesetzten Perspektive, das heißt nicht aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, sondern des Erzählens, speziell des filmischen Erzählens: Spielfilme werden gemeinhin mit dem Begriff der Fiktion assoziiert, zumindest in der alltäglichen Verwendung der Filmgattungs-Bezeichnung. In der deutschsprachigen Wikipedia beispielsweise beginnt der Eintrag zum Begriff Spielfilm unmittelbar mit dem Hinweis, es handle sich um einen „Film mit einer fiktionalen Handlung, die unter Umständen realen Ereignissen beziehungsweise Personen nachempfunden sein kann.“36 Auch in filmwissenschaftlichen Zusammenhängen stellt die Zuschreibung, der Spielfilm sei ein fiktionales Medium, oftmals eine explizite oder implizite Grundannahme dar.37 Beim TV-Zweiteiler „Der Turm“ handelt es sich nun gleichsam um einen Spielfilm und um eine Erzählung, die Historisches erzählt. Einerseits gelten für ihn damit die Ausführungen zur Narrativität und Konstruktivität von Geschichte, andererseits handelt es sich bei dieser Filmgattung um ein fiktionales Medium. Doch folgt aus dieser Verbindung von Historie und Spielfilm, dass es sich beim Turm um historische Fiktion beziehungsweise eine Fiktion über Geschichte handelt? Wenn dem so ist: Wie kann eine Erzählung fiktional sein, wenn sie sich zugleich der Geschichte 36 Wikipedia-Artikel zum Stichwort „Spielfilm“. Online unter http://de.wikipedia.org/ wiki/Spielfilm (12.5.2015). 37 Vgl. Hickethier 2001, S. 180ff.; auch bei Beil, Benjamin/Kühnel, Jürgen/Neuhaus, Christian: Studienhandbuch Filmanalyse. Ästhetik und Dramaturgie des Spielfilms. München 2012. S. 176; vgl. auch Wende, Waltraud: Filme, die Geschichte(n) erzählen. Filmanalyse als Medienkulturanalyse. Würzburg 2011. S. 141.

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verpflichtet? Muss sich der Spielfilm, der Geschichte erzählen will, an die historischen Fakten halten, oder dürfen zur Beurteilung von historischen Spielfilmen „ausschließlich kunstinterne Bewertungskriterien herangezogen werden“ 38? Muss sich ein historischer Spielfilm also nicht, wie die Filmwissenschaftlerin Waltraud Wende hier zum Ausdruck meint, an der historischen Angemessenheit seiner Version der Geschichte messen lassen? Es gilt, das geschichtswissenschaftliche Erzählen generell und auch populäre Formen historischen Erzählens wie im Spielfilm „Der Turm“ in ein theoretisches Verhältnis zum fiktionalen Erzählen zu setzen, nicht nur, weil der Vorwurf der Fiktion – wie die Debatten um die Position Hayden Whites gezeigt haben – auch über der historiographischen Erzählung im wissenschaftlichen Kontext schwebt, sondern weil in populären Erzählmedien wie dem Spielfilm die Grenze zwischen Story und History unscharf erscheint. Zunächst bedarf es daher einiger Begriffsbestimmungen, die die Erzähltheorie zu liefern vermag, und die als begriffliche Instrumente zur theoretischen Einordnung des Spielfilms allgemein und der historischen Darstellung in der Form des Spielfilms im Speziellen dienen können. In der Folge werden also die Grundlagen der narratologischen Fiktionstheorie zielführend dargestellt und mit historischem Erzählen in Beziehung gesetzt, ehe sie im Anschluss auf den Spielfilm „Der Turm“ angewendet werden können.39 38 Wende 2011, S. 15. 39 Die Erzähltheorie wird mit diesem Vorgehen auf ein Medium übertragen, das nicht nur aus Sprache, sondern auch aus Bildern, Tönen, Musik etc. besteht. Für die Narratologie ist diese Abkehr vom schriftlichen Text unproblematisch. Entscheidend ist vielmehr, dass das Erzählte eine zeitliche Entwicklung einschließt, unabhängig vom verwendeten Zeichensystem (vgl. Kuhn, Markus: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell (=Narratologica, Bd. 26). Berlin/New York 2011. S. 55.) Dabei handelt es sich um einen weiten Begriff der Erzählung, der nur diese eine Bedingung beinhaltet: dass eine Erzählung ein Ereignis erzählen muss (vgl. ebd., S. 52). Ebenso korrespondiert diese Übertragung des Begriffs der Erzählung auf Spielfilme mit dem weiten Text-Begriff der Cultural Studies (die auch für das hier verwendete Konzept der Medienaneignung eine zentrale Rolle spielen): Andreas Hepp versteht Text als „generell jedes kommunikative Produkt […] in seiner Gesamtheit, einschließlich sprachlicher und weiterer audiovisueller Komponenten“ (Hepp, Andreas: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. 2. Aufl. Wiesbaden 2004. S. 109.), womit auch der Spielfilm als Text bezeichnet werden kann. Demgemäß fielen alle Bedeutungsebenen des Films neben der Sprache – Bilder, Töne, Musik – unter diesen Textbegriff und erfassten damit das Medium in seiner Gänze. Die Sprache, selbstredend ein wesentliches Element vieler Spielfilme, wird insofern durch weitere Mittel des Ausdrucks ergänzt. Dies ändert nichts daran, dass Spielfilme ebenso Geschichten und nicht selten auch Geschichte erzählen und mithilfe der Narratologie theoretisch beschreibbar sind.

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Die Narratologie liefert zunächst einige grundsätzliche Begriffsbestimmungen: Unter Fiktion (lat. fictio von lat. fingere, sich ausdenken, formen, erdichten, darstellen) ist allgemein eine „dargestellte Wirklichkeit ohne überprüfbare Referenz“ 40 zu verstehen, das heißt Fiktion bezieht sich immer nur auf die von ihr selbst narrativ erschaffene Welt, ohne Geltung für die außersprachliche Realität für sich zu beanspruchen. Im deutschen Sprachgebrauch 41 haben sich zudem zwei Begriffe durchgesetzt, die Fiktion differenzierter zu bestimmen vermögen, indem sie diese in zwei Dimensionen unterteilen: fiktional und fiktiv. Fiktiv rekurriert auf das in einer Erzählung Dargestellte selbst, auf die erzählte Welt, während fiktional den Akt des Erzählens beschreibt. Der Begriff fiktiv „bezieht sich auf den ontologischen Status des Dargestellten und damit auf die Referenz, also den Bezug auf eine außersprachliche Wirklichkeit“42, während „Texte, in denen Fiktives dargestellt wird, als fiktional bezeichnet“ werden.43 Entsprechend kann Fiktionalität ein Charakteristikum des Erzählens sein, während Fiktivität eine Eigenschaft des Erzählten ist. Das bedeutet konkret für jede Form der Erzählung, dass etwa Personen, die darin auftauchen, jedoch keine Entsprechung in der Wirklichkeit aufweisen, fiktiv sind. Die Erzählung, die diese fiktiven Elemente darstellt, wäre demnach nicht als fiktiv, sondern als fiktional zu bezeichnen, und zwar dann, wenn sie keinen Anspruch erhebt, auf die Wirklichkeit zu verweisen. Ich halte diese Unterscheidung für wesentlich, weil gerade in den Auseinandersetzungen um fiktionale historische Audiovisionen immer wieder ein zumindest doppeldeutiger Fiktionsbegriff bemüht wird, was für begriffliche Unschärfen sorgt: Wenn das Gegensatzpaar Fiktion versus Fakten in Stellung gebracht wird,44 legt dies eine unüberwindbare Grenze zwischen beiden Begriffen 40 Beil/Kühnel/Neuhaus 2012, S. 167. 41 Zur Problematik der Übersetzung der Begriffe ins Englische und Französische siehe Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (=Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften, Bd. 2.). Berlin 2001. Hier S. 19, Fußnote 24. 42 Saupe/Wiedemann 2015, S. 8. 43 Zipfel 2001, S. 19. 44 Siehe zum Beispiel Barg, Werner C.: Die Herrschaft der Fiktion über die Fakten? Zur Darstellung von (Zeit-) Geschichte in Film und Fernsehen. In: tv diskurs. 70 (2014), Heft 4. S. 38-43; Gottberg, Joachim von: Geschichtsvermittlung durch erfundene Figuren. Interpretation historischer Fakten unterliegt dem Zeitgeist. Interview mit Rainer Rother. In: tv diskurs. 70 (2014), Heft 4. S. 32-37; Brockmann 2006, S. 82; Meyer, Erik: Problematische Popularität? Erinnerungskultur, Medienwandel und Aufmerksamkeitsökonomie. In: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 1). Bielefeld 2009. S. 267-287. Hier S. 271.

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nahe, die, wenn nicht fälschlich angenommen, dann doch zumindest missverständlich formuliert ist. Ich werde in den folgenden Ausführungen zur Fiktivität und zur Fiktionalität darauf zurückkommen. Neben diesen terminologischen Grundlagen liefert die Erzähltheorie zudem einen analytischen Zugang zu ihrem Gegenstand. Sie untergliedert Erzählungen in verschiedene „Instanzen des Erzählwerks“ 45. Zunächst geht sie dabei von einer Dreiteilung der Erzähl-Kommunikation aus: a) von einer Erzählung, die b) von einem*r Urheber*in generiert wurde, die c) wiederum von einem*r Rezipienten*in rezipiert wird.46 Anhand dieser drei Instanzen soll hier nun die Frage geklärt werden, wodurch sich Fiktion und Nicht-Fiktion unterscheiden. Dies stellt die Grundlage für das Verständnis fiktionalen historischen Erzählens bereit und ermöglicht somit die theoretische Einordnung des Forschungsgegenstands.47

45 Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 3. überarb. Aufl. (=de Gruyter Studienbuch). Berlin, Boston 2014. S. 45. 46 Die von mir hinzugefügten Begriffe Urheber*in und Rezipient*in sind bewusst sehr offen formuliert, und zwar aus zwei Gründen: Einerseits lassen sich damit sehr deutlich die Anleihen an kommunikationstheoretischen Modellen markieren, die dem Modell zugrunde liegen. Andererseits sind die Begriffe Urheber*in und Rezipient*in grundsätzlich weit genug, um für viele verschiedene Formen der Erzählung, etwa Bücher, Filme oder PCSpiele, anwendbar zu sein. 47 Das Phänomen der Fiktion wurde in den letzten Jahrzehnten v.a. seitens der Literaturwissenschaft umfangreich diskutiert (für einen knappen Überblick siehe Schmid 2014, S. 3143). Hier soll die Fiktionstheorie jedoch alsbald nutzbar gemacht werden für die Diskussion des Untersuchungsgegenstands. Eine Darstellung der verschiedenen Ansätze spare ich daher bewusst aus. Stattdessen werde ich mich neben einigen anderen maßgeblich auf Frank Zipfel berufen, der mit seiner Dissertationsschrift einen hervorragenden Überblick über den derzeitigen Stand der Fiktionstheorie bzw. narratologischen Verhandlung des Problems der Fiktion liefert. Siehe Zipfel 2001. – Ebenso müssen hier theoretische Aspekte einer Fiktionstheorie ausgeklammert werden, die konsequenterweise zu diskutieren wären. So werde ich beispielsweise nicht Phänomene wie das unzuverlässige Erzählen eingehen etc.

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Erzählung48 Die Frage danach, wann das in einer Erzählung Erzählte fiktiv sei, lässt sich aus narratologischer Perspektive an den drei sogenannten Konstituenten der Handlung, nämlich den Figuren, dem Ort und der Zeit festmachen.49 Fiktivität beschreibt ihren Status als Nicht-Entsprechung mit einer Welt außerhalb der erzählten Welt. Sehr allgemein kann festgestellt werden: Weisen die handelnden Subjekte, die dargestellten Orte und Zeiten keine Entsprechung außerhalb der Filmwelt auf, sind sie, das heißt das in der Erzählung Erzählte, als fiktiv zu bezeichnen.50 Diese allgemeine Definition von Fiktivität stellt sich bei genauerer Betrachtung der Handlungsträger Figuren, Ort und Zeit jedoch als weitaus komplexer dar, als es zunächst den Anschein hat. Denn grundsätzlich ist keine erzählte Welt denkbar, die überhaupt keinen Bezug zu unserer Realität aufweist. Ob die Figuren fiktiver Welten Sprachen sprechen, die in der Realität gesprochen werden, nach einigen der Regeln unserer Realität agieren, etwa der Physik, oder auch Gegenstände und Orte dargestellt werden, die real existieren51 – völlig fiktive Welten und somit die vollkommene Referenzlosigkeit von Erzählungen sind nicht vorstellbar. Vielmehr stellt die Realität grundsätzlich das Reservoir für alle erzählten Welten dar. 52 Daraus ergibt sich für die Verhandlung einer jeden, auch der fiktionalen Erzählung die Frage, in welchem Verhältnis das Dargestellte zur Realität steht, und ob sich dies qualitativ differenzieren lässt. Für die Unterscheidung der Handlungsträger in Erzählungen erscheint die vom Narratologen Frank Zipfel vorgeschlagene Systematik von „nicht-realen Objekten (native objects), pseudo-realen Objekten (surrogate objects) und realen Objekten (immigrant objects)“53 als zielführend, insbesondere für die Darstellung historischer Gegenstände in einer Erzählung. Reale Objekte sind in die Filmhandlung „immigriert“, ihr Ursprung liegt in der Realität, und diese Objekte erscheinen entspre48 Um genau zu sein, hätten hier nochmals untergliederte Bemerkungen zum discourse und der histoire einer Erzählung stehen können, die von Gerard Genette etabliert wurde (siehe für eine Übersicht dieser Differenzierung auch bei anderen Erzähltheoretikern*innen Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. und akt. Aufl. München 2012. Hier S. 28). 49 Vgl. Zipfel 2001, S. 79f. Ich verwende hier den in seinem Status weniger neutralen, jedoch nicht so umständlichen Begriff der Figuren statt der von Zipfel präferierten „Ereignisträger“. 50 Im Folgenden werden als Antonyme der Begriffe fiktional und fiktiv die Worte faktual, non-fiktional bzw. non-fiktiv, nicht-fiktiv oder real verwendet, letzterer durchaus im Bewusstsein um die dargestellte Problematik historischer Realität. 51 Vgl. Zipfel 2001, S. 82. 52 Vgl. Zipfel 2001, S. 90. 53 Zipfel 2001, S. 102.

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chend ihrer realen Existenz auch in der erzählten Welt. Bezogen auf Figuren wären dies etwa Personen von Berühmtheit, die innerhalb von Erzählungen exakt so beschrieben werden, wie sie innerhalb der realen Welt erscheinen. Pseudo-real sind hingegen Figuren, die auf der Grundlage einer realen Erscheinung in der Erzählung auftauchen, die jedoch in der fiktiven Welt anders handeln, als sie dies in der Realität tun oder getan haben. Als Beispiel, das der Gegenwartsliteratur entstammt, können dafür etwa die Figuren der Weltgeschichte gelten, die Allan Karlsson in „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“54 begegnen. Der Charme des Romans besteht vor allem darin, dass der Protagonist scheinbar zufällig General Franco, Josef Stalin, Harry S. Truman und anderen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts begegnet und deren Handeln entscheidend mitbeeinflusst. Dass der US-Präsident Truman in der Realität nicht mit der Hauptfigur befreundet war und ihr sicher auch nicht den Bau der Atombombe verdankte, macht ihn jedoch zu einem pseudo-realen Objekt innerhalb der Erzählung. Zuletzt gelten Figuren als nicht-real, wenn sie tatsächlich innerhalb der fiktiven Welt „geboren“ werden, ihr entspringen, und keine Entsprechung in der Realität aufweisen. Für den überwiegenden Teil der Figuren in der fiktionalen Literatur darf wohl dieser Status gelten. Als Beispiel können etwa die Hauptfiguren des „Herr der Ringe“-Universums um Bilbo Beutlin gelten: Sie entspringen originär der erzählten Welt ohne reale Entsprechung.55 Demgemäß lässt sich dieses Schema auch auf Orte und Zeiträume anwenden: Existieren sie in der Realität? Dann wären sie folglich nicht-fiktiv, das heißt real. Ähneln sie realen Orten und Zeiten, werden jedoch in der erzählten Welt entscheidend verändert, würden sie als pseudo-real gelten. Oder schafft die Erzählung tatsächlich ganz eigene Orte und Zeiten, die in der Realität nicht aufzusuchen sind oder waren? Neben dieser qualitativen Differenzierung lassen sich die Welten, die sich durch Ort, Zeit und Handelnde konstituieren, in zwei grundlegende Kategorien einteilen: in phantastische oder realistische, mögliche oder nicht-mögliche Welten, die die beiden denkbaren Spielarten fiktiver Handlungen darstellen.56 Gerade diese Kategorisierung kann sich im Transfer auf historiographisches Erzählen als sehr fruchtbar erweisen. Per se lassen sich phantastische Welten in keinem Fall als historisch bezeichnen. Dies gilt für Zukunftserzählungen gleichermaßen wie für solche, die sich dem Bild historischer Epochen annähern. Ein Beispiel wäre der Kosmos von Wes-

54 Jonasson, Jonas: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Roman. Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn. München 2013. 55 Siehe Tolkien, John Ronald R.: Der kleine Hobbit. München 1974 sowie Tolkien, John Ronald R.: Der Herr der Ringe. Stuttgart 1984. 56 Zipfel 2001, S. 106-112.

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teros in der Streaming-Serie „Game of Thrones“57, die zweifellos Anleihen am Mittelalter nimmt, aber eine phantastische Welt der Drachen, Zauberer und Untoten erzählt. Phantastische Welten widersprechen in wesentlichen Aspekten der Funktionsweise von vergangenen oder gegenwärtigen Realitäten und sind somit nichtmöglich – sie können keinesfalls historisch sein. Demgegenüber stehen die realistischen Welten: Sie können fiktive und reale Elemente beinhalten, also mögliche und/oder historische Welten abbilden. Dabei fällt die Abgrenzung in der Theorie deutlich leichter, als sich dies später speziell für den Spielfilm „Der Turm“ gestalten wird. Zumindest die geschichtswissenschaftliche Erzählung darf keine fiktiven Figuren oder fiktive Ereignisse enthalten, will sie Geschichtsschreibung sein.58 Auch die Orte, über die sie erzählt, müssen real (gewesen) sein. Und schon gar nicht darf sie nicht-reale Zeiten beschreiben, schließlich ist die Geschichtsschreibung gerade an einer adäquaten Darstellung vergangener Zeiten interessiert.59 Betrachtet man also die Ebene des Erzählten, so liegt der entscheidende Unterschied zwischen Fiktionen und geschichtswissenschaftlichen Narrationen zunächst in der Referentialität des Erzählten begründet.60 Geschichtswissenschaftliche Erzählungen erzählen nicht nur nicht phantastische, sondern auch mehr als nur mögliche, nämlich mindestens wahrscheinliche, reale Welten. Ihre Akteure, Orte und Zeiten weisen eine reale Entsprechung auf (unbeschadet der Konstruktivität historischer Erkenntnis). Die Fiktivität des Erzählten ist ein Attribut, das nicht auf Geschichtsschreibung zutreffen darf. Träfe dies zu, wäre die Erzählung schlicht nicht mehr 57 „Game of Thrones“. Serie. Produktion: David Benioff, D.B. Weiss. USA 2011-2019. 58 Ausgenommen davon sind freilich gedankliche Experimente, die unter dem Schlagwort der kontrafaktischen Geschichte firmieren. Siehe dazu zum Beispiel Bunzl, Martin: Counterfactual History: A User’s Guide. In: The American Historical Review, Bd. 109 (2004), H. 3, S. 845-858; Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn? 3., erw. Aufl. Göttingen 2001. 59 Nicht missgedeutet werden darf in diesem Kontext das Wort möglich: Selbstredend sind Möglichkeiten Teil der historischen Erkenntnis, da der Zugang zur Geschichte per se unvollständig ist und das fundierte Nachdenken über mögliche Deutungen der Quellen und mögliche historische Abläufe zu den Aufgaben des*der Historikers*in gehören. Das narratologische möglich meint jedoch Geschichten, „die im Bereich des in bezug [sic!] auf die Wirklichkeitskonzeption Möglichen liegen.“ (Zipfel 2001, S. 108). Es bezieht sich damit nicht auf naheliegende Schlüsse aus einem begrenzten Informationskontingent, sondern auf einen Rahmen, der sich aus dem allgemeinen Funktionieren der Wirklichkeit speist. 60 Siehe dazu zum Beispiel Roebling-Grau, Iris: Les Bienveillantes – eine ‚Holocaust‘Fiktion? In: Dies./Rupnow, Dirk (Hg.): ‚Holocaust‘-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. Paderborn 2015. S. 237-259. Hier S. 243.

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Geschichte, sondern nur noch eine Geschichte, nicht mehr historiographisch, sondern nur noch narrativ.61 Damit ist auf der Ebene des Erzählten eine klare Grenze zwischen historiographischen und fiktionalen Narrationen gezogen. Zweifellos widersprechen sich wissenschaftliche Geschichtsschreibung und Fiktion in der Hinsicht, als dass fiktive Elemente innerhalb des Erzählten hier die Regel, dort jedoch nicht akzeptiert sind, es sei denn, sie sind als solche markiert, etwa im Rahmen kontrafaktischer Gedankenspiele. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die von mir als unpräzise und doppeldeutig bezeichnete Gegenüberstellung von Fakten und Fiktion: Genauer handelt es sich auf der Ebene des Erzählten um die Differenz zwischen historisch belegbaren Gegebenheiten gegenüber erdachten Ereignissen, Figuren etc., die keine realweltliche Entsprechung besitzen. Ich ziehe zu ihrer Bezeichnung die Substantivierung Fiktives dem doppeldeutigen Begriff der Fiktion vor. Fiktives und historische Ereignisse, Personen, Orte etc. stehen sich in der Tat derart gegenüber, dass sie ein Gegensatzpaar bilden. Wie jedoch verhält es sich nun mit der Fiktionalität historischer Erzählungen, die keinen wissenschaftlichen Anspruch vertreten? Dass die bloße Existenz fiktiver Elemente innerhalb der Geschichte nicht grundsätzlich historisches Erzählen ausschließt, wird mit Blick auf das bereits erwähnte Beispiel „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ erkennbar: In gewisser Weise handelt es sich um die Erzählung von Geschichte, zumindest in manchen Aspekten, wenngleich der Großteil der Story von fiktiven Figuren und Ereignissen um den Protagonisten erzählt. Wir erfahren aus dem Roman Bruchstücke aus der Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts, wenngleich der Schwerpunkt der Story auf den fiktiven Erlebnissen der fiktiven Hauptfigur liegt. Anders ausgedrückt: Historisches Erzählen wird nicht allein dadurch verunmöglicht, dass auf der Ebene des Erzählten Fiktives auftaucht. Zugleich kann Fiktion zweifellos auch nicht-fiktive, hier historische Elemente in die Erzählung aufnehmen. Somit sind fiktionale Erzählungen nicht hinreichend dadurch zu bestimmen, ob ihre Handlung fiktive Elemente aufweist. Zur Abgrenzung zwischen (historischer) Fiktion und Nicht-Fiktion bedarf es also offenbar weiterer Kriterien, und diese finden sich sowohl beim*der Urheber*in einer Geschichte, ob nun einem*r Autor*in oder Regisseur*in, sowie bei deren Rezipienten*innen, ihren Lesern*innen, Zuschauern*innen etc.

61 Zu Ausnahmen von dieser Regel siehe Haas, Stefan: Fiktionalität in den Geschichtswissenschaften. In: Klauk, Tobias/Köppe, Tilmann (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (=Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie, Bd. 4). Berlin, Boston 2014. S. 516-532. Hier S. 526.

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Urheber*in Zur Konstitution eines fiktionalen Erzählmodus auf der Seite des*der Urhebers*in hat der Erzähltheoretiker Gérard Genette, den Stand der narratologischen Debatten um das Phänomen der Fiktion aufgreifend, hergeleitet, welche Aspekte der Erzählung für die Unterscheidung zwischen fiktionalem und non-fiktionalem Erzählen maßgeblich sind. In „Diktion und Fiktion“ analysiert er systematisch alle Eigenschaften von Erzählungen, ohne dass sich zeigt, dass etwa die Ordnung der Erzählung, d.h. das Einhalten der tatsächlichen Chronologie der Ereignisse, hinreichend für die Bestimmung von Fiktion ist.62 Allein in der „Stimme“ des Erzählers sieht er jenen Aspekt des Erzählens, der ein hinreichendes Fiktionsmerkmal darstelle. Genette benennt das Verhältnis zwischen Autor (A) und Erzähler (N) der Erzählung als entscheidend: „Mir scheint, dass ihre strenge Identität (A = N), soweit man sie feststellen kann, die faktuale Erzählung definiert – diejenige, in der […] der Autor die volle Verantwortung für die Behauptungen seiner Erzählung übernimmt und infolgedessen keinem Erzähler irgendeine Autonomie zubilligt. Umgekehrt definiert ihre Dissoziation (A ≠ N) die Fiktion, also den Erzählungstypus, bei dem der Autor nicht ernsthaft auf die Wahrhaftigkeit besteht […].“63

Diese komplexen Überlegungen lassen sich am konkreten Beispiel besser verstehen. J.R.R. Tolkien, der Autor der Erzählungen „Der kleine Hobbit“ und „Der Herr der Ringe“, hätte sich wohl nicht darauf eingelassen, die von ihm erzählte Geschichte zu beglaubigen, ihr zu attestieren, dass sie sich so abgespielt habe. Der Autor übernimmt in diesem Fall nicht die Verantwortung dafür, dass das Erzählte so stattgefunden habe. Folglich handelt es sich bei diesem Roman nach Genette um eine fiktionale Erzählung. Doch daraus erwächst ein Problem: Da wir wissen, dass sich das Erzählte nicht so zugetragen hat, müssten wir Tolkien einen Lügner nennen, schließlich – wenn er der Erzähler ist – erzählt er seinen Lesern*innen Unwahrheiten. Dieser Vorwurf erscheint instinktiv als falsch, als Verwechslung der „Geschäftsgrundlage“64. Sir Philip Sidney sprach Autoren*innen wie Tolkien denn auch 62 Vgl. Genette, Gérard: Fiktion und Diktion (=Bild und Text). München 1992. S. 69-78. So finden sich etwa achronologische Erzählweisen, die der chronologischen Reihenfolge des Erzählten auf der Ebene des Erzählens nicht folgen, sowohl in fiktionalen als auch nonfiktionalen, also auch historiographischen Texten. 63 Genette 1992, S. 80f. In diesem Zitat wird deutlich, wie die Sprache trotz der gelungenen Übersetzung aus dem Französischen Unschärfen hervorbringt. Genette verwendet „Fiktion“ hier in der zuvor beschriebenen Bedeutung des Wortes „Fiktionalität“, bezieht sich also in erster Linie auf den Erzählmodus, nicht auf die Fiktivität des Dargestellten. 64 Martínez/Scheffel 2012, S. 17.

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schon im 16. Jahrhundert von dem Vorwurf der Lüge frei: „[Of] all writers under the sun the poet is the least liar.“65 Wir sind uns darüber im Klaren, dass Tolkien die Romane geschrieben hat, jedoch die darin getätigten Aussagen über die erzählte Welt zwar als Autor „produziert, aber nicht behauptet [d.h. für ihre Wahrhaftigkeit eintritt, B.B.] – vielmehr ist es der fiktive Erzähler, der diese Sätze mit Wahrheitsanspruch behauptet. Die reale Kommunikation zwischen Autor und Leser ist hier nur indirekt und ähnelt dem Zitieren der Rede eines anderen.“66 Dieser andere – der Erzähler – tritt wiederum verlässlich dafür ein, dass das Erzählte stimmt, obschon er selbst fiktiv ist.67 Wir haben keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass sich innerhalb der Erzählung dieses oder jenes so abgespielt hat. Vielmehr würde die Erzählung gar nicht funktionieren, wenn ihr Adressat ständig infrage stellte, dass das Erzählte wahr sei, ob sich etwa Bilbo Beutlin nun wirklich auf eine Reise durch Mittelerde begeben habe. Sehr wohl aber zweifeln wir daran, dass der Erzähler dieser Welt außerhalb der Erzählung existiert. Folglich glauben wir einem Erzähler, was er erzählt, nicht jedoch, dass es diesen Erzähler und damit das Erzählte in der Realität tatsächlich gibt. Fiktionale Erzählungen stellen also eine Kommunikationssituation dar, in der ein*e Autor*in eine Erzählung schafft, in der wiederum ein fiktiver Erzähler eine fiktive Welt erzählt. Innerhalb der Erzählkommunikation tritt der Erzähler für die Zuverlässigkeit seiner Erzählung ein, wenngleich der Autor keineswegs für die Existenz der erzählten Welt bürgt. Zwischen das Erzählen und den Autor wird erzähltheoretisch also eine imaginäre Instanz eingeschoben, der Erzähler, der nicht mit dem*der Autor*in identisch ist. Nur durch die Verschiedenheit von Autor*in und Erzähler wird das erzähltheoretische Problem gelöst, dass wir der Erzählung einerseits glauben sollen, andererseits aber um ihre Unwahrheit wissen. Der Erzähler im Roman besitzt jene Freiheit, die der*die Autor*in nicht hat – sie dürfen Fiktives behaupten, ohne sich der Lüge schuldig zu machen.68 Dass dieser Zustand für alle fiktionalen Erzählungen gilt, führt letztlich zu einer Doppelstruktur fiktionalen Erzählens: Der*die reale Urheber*in einer Erzählung, ob Schriftsteller*in oder Regisseur*in, produziert ein Medium, ob Buch oder Spielfilm, das von realen Rezipienten*innen rezipiert wird, ob Lesern*innen oder Zuschauern*innen. Da im Falle fiktionaler Erzählungen das Erzählte jedoch fiktiv ist, behauptet er*sie nicht die Wahrheit des Erzählten – dies tut ein nicht-realer Erzähler, der damit eine zweite kommunikative Ebene etabliert.

65 Sidney, Sir Philip: An Apology for Poetry (or the Defence of Poesy). Hrsg. von Geoffrey Shepherd. 3., überarb. Aufl. Manchester/New York 2002 [1583]. S. 103. 66 Martínez/Scheffel 2012, S. 17. 67 Vgl. Zipfel 2001, S. 121. 68 Vgl. Martínez/Scheffel 2012, S. 19f.

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Nicht-fiktionale, das heißt faktuale Erzählungen sind hingegen aus erzähltheoretischer Perspektive weniger komplex, der*die Autor*in ist zugleich Erzähler der Geschichte, da er für das Erzählte bürgt. Folglich gilt für alle historiographischen Narrationen, dass deren Autoren*innen gleichsam auch als Erzähler der Geschichte auftreten.69 Ulrich Mählerts „Geschichte der DDR“70 ist von ihm selbst erzählt, er tritt als Autor für das Dargestellte ein, beglaubigt es und müsste letztlich auch verantworten, wenn er Nicht-Wahres in seine Darstellung integriert hätte. Qua seiner Autorität als promovierter Historiker und der Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens steht er dafür ein, dass er die Geschichte der DDR nach dem Postulat der Quellenangemessenheit erzählt. Seine Geschichte verwendet keinen Erzähler, der nicht er selbst wäre, und ist somit als faktual oder non-fiktional zu bezeichnen. Aus dieser Perspektive, die den*die Autor*in und den Erzähler fokussiert, müsste man folglich Hayden White zustimmen, dass Historiker*innen zwar dichten, was die narrative Konstruktion von historiographischen Erzählungen betrifft – ihm aber widersprechen, insofern der entscheidende Unterschied zur Fiktion in der beglaubigenden Haltung der Historiker*innen liegt, die sich für die Adäquatheit ihrer Narrative als Autoren*innen verbürgen: Jörn Rüsen konstatiert, dass im Falle historiographischen Erzählens „die Erzählenden und ihre Zuhörer die Überzeugung teilen, dass sich das Erzählte tatsächlich ereignet hat.“71 Und auch Chris Lorenz sieht die Haltung der Urheber*innen historiographischer Erzählungen als zentral für die Unterscheidung von Fiktion an: „Der Wahrheitsanspruch von Geschichte als Wissenschaft im Unterschied zur fiktionalen Literatur bleibt letztlich grundlegend und darf nicht als akzidentell behandelt werden. Diese ausschlaggebende Grenzziehung sollte uns davon abhalten, den historischen und den fiktionalen Diskurs als zwei Ausprägungen der gleichen Gattung des Narrativen zu betrachten, da wir sonst die inadäquate Ineinssetzung von Geschichtsschreibung und Literatur akzeptieren müssten.“72

Der Vorwurf der Fiktionalität der Geschichtsschreibung wäre vor dem Hintergrund der Erzählsituation und mit einem Blick auf die Haltung, die die Urheber*innen historiographischer Erzählungen einnehmen, entsprechend nicht aufrechtzuerhalten. Allein die sprachliche Erschaffenheit historiographischer Erzählung als Grundlage für ihre Fiktionalität zu bezeichnen, stellt eine Überdehnung des Fiktionsbegriffs dar, der die Unterschiede zwischen fiktionaler Literatur und Geschichtsschreibung,

69 Vgl. Genette 1992, S. 88. 70 Mählert, Ulrich: Geschichte der DDR. 1949-1990. Erfurt 2011. 71 Rüsen 2013, S. 197. 72 Lorenz 1998, S. 632.

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die White ja anerkennt, unnötig verwischt. 73 Geschichtsschreibung ist zweifellos narrativ, sie unterscheidet sich entsprechend der Ausführungen zur Fiktionstheorie aber vor allem dadurch von fiktionalen Erzählungen, dass ihre Autoren*innen für die Wahrhaftigkeit des Erzählten als Historiker*innen bürgen. „Clio dichtet nicht“74, ihre Erzählungen sind nicht durch den Begriff der Fiktionalität zu charakterisieren – dies stellt dementsprechend die innerhalb der Disziplin die dominant vertretene Gegenposition zu Hayden Whites Thesen dar. 75 Rezipient*in Fiktion habe ich damit auf der Ebene des Erzählten (Fiktivität) sowie der Ebene des*der Urhebers*in theoretisch beschrieben und der historiographischen Erzählung gegenübergestellt. Bereits in diesen Ausführungen wurde deutlich, dass Erzählungen nicht per se den Status der Fiktion oder der faktischen Erzählung erlangen, sondern dass dieser Status nicht zuletzt auch von einer spezifischen Haltung, ja von einem Handeln des*der Adressaten*in der erzählerischen Kommunikationssituation abhängig ist. Zusammen mit der Haltung des*der Urhebers*in einer Erzählung wird 73 Stefan Haas fasst die narrativistischen Positionen innerhalb der Geschichtswissenschaft in dem Sinne zusammen, dass ihre Vertreter*innen die Erzählungen der Geschichtsschreibung als fiktional einstuften, da sie zwar auf historische Wahrheit bezogen seien, jedoch durch den narrativen Prozess ihrer Konstruktion, das emplotment, „einen Mehrwert an Bedeutung erhalten, der sich nicht aus der empirischen datengesättigten Geschichtsanalyse ableiten lässt.“ Dem ist zweifellos zuzustimmen, doch setzt es erzählerische Unschärfe und Konstruktivität mit Beliebigkeit und fehlender Referentialität gleich. Insofern halte ich die Verwendung des Terminus fiktional für irreführend und unnötig, das zugrundliegende Phänomen wird mit narrativ bereits hinreichend gefasst. Vgl. Haas 2014, S. 517; siehe zu dieser Überdehnung des Fiktionalitätsbegriffs vor allem Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans (=Literatur – Imagination – Realität, Bd. 11). Trier 1995. V.a. S. 132-152. 74 Kittsteiner, Heinz Dieter: Dichtet Clio wirklich? In: Trabant, Jürgen (Hg.): Sprache der Geschichte (Schriften des Historischen Kollegs – Kolloquien, Bd. 62). München 2005. S. 77-85. Hier S. 85. 75 Siehe dazu exemplarisch für aktuelle Debatten folgenden Tagungsband: Frei, Norbert/Kansteiner, Wulf (Hg.): Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität (=Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien, Bd. 11). Göttingen 2013; insbesondere Martínez, Matías: Ein Faktualitätspakt. In: Frei, Norbert/Kansteiner, Wulf (Hg.): Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität (=Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien, Bd. 11). Göttingen 2013. S. 182-184.

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dadurch die Fiktionalität von Erzählungen bestimmt. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie denn aus erzähltheoretischer Perspektive der*die Rezipient*in von Erzählungen theoretisch zu begreifen sei, ob es so etwas wie eine fiktionale Rezeptionshaltung gebe, und ob sich diese von der Rezeption nicht-fiktionaler Erzählungen unterscheide. Diese Frage berührt zweifellos auch die Erzählsituation, die sich für die Zuschauer*innen fiktionaler historischer Audiovisionen ergibt. Aus dem Ansatz, Erzählungen als eine Kommunikationssituation aufzufassen, resultiert zwangsläufig, dass dem*der Urheber*in der Erzählung ein kommunikativer Partner gegenübergestellt wird. Dieser ist im Falle der Literatur ein*e Leser*in, im Falle des Spielfilms ein*e Zuschauer*in. Keineswegs darf diese*r als bloßer Empfänger der in der Erzählung enthaltenen Botschaften verstanden werden. Textrezeption müsse vielmehr verstanden werden „als eine komplexe Tätigkeit, als eine mehrere Faktoren umgreifende Sprachhandlung des Rezipienten“. 76 Doch wie lässt sich diese Sprachhandlung seitens des*der Rezipienten*in beschreiben? Am Beispiel des Romans „Der Herr der Ringe“ hatte ich bereits angemerkt, dass erzähltheoretisch offenbar die Möglichkeit besteht, Fiktionen als Rezipient*in „falsch“ zu rezipieren: Gegen die „Geschäftsgrundlage“77 verstoßen Rezipienten*innen, die Fiktionen mit der Erwartung begegnen, eine überprüfbare, außertextliche Wahrheit in der Erzählung repräsentiert zu finden. Auf die Frage, ob die Orks, Elben und Hobbits im Universum Tolkiens denn wirklich existierten, gibt es zwar ontologisch eine Antwort – unser Wissen über die Welt legt nahe, dass es sich um fiktive Wesen handelt – im Grunde verfängt diese Frage jedoch nicht, da die Erzählung beziehungsweise ihr Autor gar nicht den Anspruch vertritt, auf eine außertextuelle Realität zu verweisen. Der*die Leser*in des Romans tut folglich gut daran, die erzählte Welt nicht auf eine Referenz in der Realität hin zu überprüfen. Die Rezipienten*innen fiktionaler Texte oder Spielfilme zeichnen sich also durch eine spezifische Rezeptionshaltung aus, die der jeweiligen Erzählung angemessen sein muss. Für fiktionale Erzählungen gilt, dass die Frage nach der Realität des Erzählten nicht gestellt werden darf. Statt die Existenz von Orks und Hobbits in Zweifel zu ziehen, gilt es vielmehr im Rahmen der Lektüre, diese Welt zunächst als glaubwürdig anzuerkennen, wenngleich wohl jede*r von Tolkiens Lesern*innen weiß, dass diese Figuren in der Realität nicht existieren können. Dieses Verhalten der Rezipient*innen fiktionaler Erzählungen wird mit den Begriffen der Narratologie charakterisiert „als make-believe-Spiel […]. Der Leser nimmt gegenüber dem Erzähltext die Haltung des make-believe ein; er lässt sich auf das Spiel ein, den Text für die Zeit der Rezeption für wahr zu halten.“78 Diese Haltung des make76 Zipfel 2001, S. 229. Mit diesem Verständnis korrespondieren die Vorstellungen von Spielfilmkommunikation, die dieser Arbeit zugrunde liegen. 77 Martínez/Scheffel 2012, S. 17. 78 Zipfel 2001, S. 277.

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believe ist durchaus paradox. Einerseits folgt der*die Rezipient*in der Aufforderung, das Erzählte zu glauben. Andererseits weiß er*sie um die Nicht-Realität des Erzählten. Folglich ist seine Haltung gekennzeichnet durch „die für Spiele charakteristische Doppelstruktur des Sich-Einlassens auf das Spiel einerseits und des Spielbewusstseins andererseits“.79 In dieser Beschreibung klingt die Idee der „willing suspension of disbelief“80 durch den*die Leser*in beziehungsweise des Fiktionsvertrages81 zwischen ihm*ihr und dem*der Autor*in an, die für die Rezeption fiktionaler Texte als charakteristisch gilt. Der*die Rezipient*in fiktionaler Texte ist sich über die Fiktionalität der Erzählung im Klaren, suspendiert dieses Bewusstsein aber gleichermaßen, um in einen „fiktionalen Pakt“ mit dem*der Autor*in zu treten. Im Kommunikationsmodell der Erzählung gilt für den*die Rezipienten*in somit die gleiche Doppelstruktur wie für den*die Urheber*in (Autor ≠ Erzähler) fiktionaler Texte, wenngleich diese Unterscheidung sehr viel abstrakter als auf der Seite des*der Urheber*in erscheint: Während sich der*die reale Leser*in über den fiktionalen Status der Erzählung im Klaren ist, nimmt die Narratologie einen imaginären Leser an, der das Erzählte keineswegs anzweifelt. Die Einnahme einer spezifischen Rezeptionshaltung ist offenbar ein ganz wesentlicher Teil seines*ihres Rezeptionshandelns. Doch wie kommt es dazu, dass der*die Rezipient*in einer Erzählung sich in eine adäquate Rezeptionshaltung begibt? In der Regel ist die Entscheidung, eine Erzählung als fiktional oder faktual einzuordnen, keine zufällige. Vielmehr findet die bewusste oder unbewusste Entscheidung für eine spezifische Rezeptionshaltung auf der Grundlage spezifischer Fiktionssignale statt. Darunter werden „Phänomene verstanden, die auf mehr oder weniger eindeutige Weise anzeigen oder nahelegen, dass ein Text fiktional ist.“ 82 Die Rezipienten*innen deuten diese Fiktionssignale und bestimmen so – in der Theorie – ihre Rezeptionshaltung.83

79 Zipfel 2001, S. 278. 80 Coleridge, Samuel Taylor: Biographia Literaria; or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions. Bd. 2. London 1907 [1817]. S. 6. 81 Vgl. Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München, Wien 1994. S. 103. 82 Zipfel, Frank: Fiktionssignale. In: Klauk, Tobias/Köppe, Tilmann (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (=Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie, Bd. 4). Berlin, Boston 2014. S. 97-124. Hier S. 97f. 83 Vgl. Zipfel 2001, S. 232. Zwar handelt es sich dabei um Eigenschaften der Erzählung, die Ausführungen zu den Fiktionssignalen hätten insofern auch weiter oben im Kapitel ihren Platz gefunden. Doch werden aus diesen Text-Charakteristika erst durch ihre Rezeption im eigentlichen Sinne Signale, die eine Bedeutung erhalten – aus diesem Grund habe ich sie diesem Unterkapitel zugeordnet.

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Fiktionssignale an die Rezipienten*innen finden sich auf der Ebene des erzählerischen „Textes“ selbst sowie in dessen kommunikativen Umfeld. Für ersteren kann erneut zwischen den Ebenen des Was? (erzählte Welt) und des Wie? (Erzählen) der Erzählung differenziert werden. Es leuchtet bei genauem Hinsehen durchaus ein, dass die erzählte Welt für die Bestimmung ihres Status gerade am wenigsten ergiebig ist. In der Regel sind die erzählten Welten in sich schlüssig und wecken keinen Zweifel daran, zu existieren. Erst durch ihren Kontext kann Fiktion sichtbar werden84: Dass es einen Ring gebe, der seinem Träger enorme Macht verleihe, daran zweifelt keine der Figuren in Tolkiens Universum. Auch an der Existenz von Gestalten wie Orks und Zwergen nehmen die Akteure keinerlei Anstoß. Mittelerde existiert innerhalb der Erzählung so glaubwürdig, wie in der Realität der Drehort der Verfilmungen existiert. Die Fiktivität der erzählten Welt im „Herr der Ringe“-Universum wird vielmehr erst im Kontext sichtbar: Erst das Wissen des*der Lesers*in um die reale Nicht-Existenz dieser Elemente der erzählten Welt macht sie zu einer fiktiven und bildet damit ein Fiktionssignal für die Leser*innen. Das klassische Beispiel für ein Fiktionssignal auf der Ebene des Erzählens stellt wohl die Formel „Es war einmal“ am Beginn des Märchens dar. 85 Die Leser*innen dieser Eingangsformel wissen unmittelbar, dass es sich bei der folgenden Geschichte um Fiktion handelt. Dieser Fall stellt eine literarische Konvention dar, die die meisten Rezipienten*innen bereits im Kindesalter kennenlernen. Die Art, wie erzählt wird, markiert für den*die in dieser Erzählkonvention unterrichteten Leser*in ein Signal für die Fiktionalität der Erzählung. Zudem werden zu diesen Signalen der Erzählung auch alle Aspekte der Kommunikation gezählt, die gewissermaßen zum Umfeld der Erzählung zählen: Für literarische Erzählungen wären dies etwa Klappentexte, Genrebezeichnungen oder die Gestaltung des Einbands,86 im Fall audiovisueller Erzählungen könnte man beispielsweise den Fernsehsender anführen, der einen Spielfilm ausstrahlt, die Programmankündigung im Videotext, Film-Trailer, Kinokritiken oder Making-OfDokumentationen. Derartige Signale sind nicht im „Text“ der Erzählung selbst enthalten, und werden daher als paratextuelle Fiktionssignale bezeichnet.87 Wie wären gegenüber den Ausführungen zu den Rezipienten*innen fiktionaler Erzählungen nun die Rezipient*innen nicht-fiktionaler Erzählungen theoretisch zu beschreiben? Welche Rezeptionshaltung nehmen etwa die Leser*innen eines ge84 Martínez/Scheffel 2012, S. 17. 85 Vgl. Zipfel 2001, S. 237. 86 Vgl. Zipfel 2001, S. 241. 87 Vgl. Klauk, Tobias/Köppe, Tilmann: Bausteine einer Theorie der Fiktionalität. In: Dies. (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (=Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie, Bd. 4). Berlin, Boston 2014. S. 4-31. Hier S. 10.

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schichtswissenschaftlichen Texts aus der Sicht der Erzähltheorie ein? Analog zu einer spezifischen Haltung gegenüber fiktionalen Erzählungen wäre hier von einer spezifischen Rezeptionshaltung der Faktualität auszugehen. Für Geschichte als eine Variante non-fiktionalen Erzählens gälte dann: Der*die Leser*in von Geschichte wähnt sich keinesfalls bewusst als Teil eines make-believe-Spiels, sondern vertraut auf die Realität des Erzählten und geht damit einen „Wahrhaftigkeitspakt“88 ein. Er rezipiert die Erzählung unter der Voraussetzung, dass das Erzählte eine Entsprechung in der Realität aufweist, dass die erzählte Welt wahr sei. Die paradoxe Doppelstruktur fiktionalen Rezipierens würde sich damit auflösen: Entsprechend der Identität von Autor*in und Erzähler in faktischen Erzählungen gibt es in diesem Fall auch keinen imaginären Adressaten, an den sich der Erzähler einer fiktionalen Geschichte wenden würde. Vielmehr sieht sich der*die tatsächliche Leser*in als direktes Gegenüber des*der tatsächlichen Autors*in des Textes. Er vertraut dem*der Autor*in, dass diese*r sich in seiner*ihrer Geschichte auf eine historische Wahrheit bezieht, dass also zwischen der historia rerum gestarum (der Erzählung) und den ihr zugrundeliegenden Quellen ein Verhältnis der Angemessenheit besteht. Überträgt man die Fiktionstheorie konsequent auf die faktuale Erzählung von Geschichte, so ist von spezifischen Faktualitätssignalen auszugehen, die ihren Rezipienten*innen erlauben, eine entsprechende Rezeptionshaltung einzunehmen: Ein ausführliches Literaturverzeichnis ist in wissenschaftlichen Texten etwa ein starkes Signal dafür, dass der*die Leser*in das Gelesene als nicht-fiktional zu rezipieren habe. Mählerts „Geschichte der DDR“ weist ein solches Literaturverzeichnis ebenso auf, wie es im Umschlagstext den wissenschaftlichen Werdegang des Autors präsentiert. Damit verleiht der Paratext seinem Autor und dessen Text ein hohes Maß an Autorität – und sendet den Lesern*innen entsprechend deutliche Signale, dass es sich tatsächlich um eine faktuale Erzählung der Geschichte der DDR handle. Insbesondere für geschichtswissenschaftliche Darstellungen – aufgrund der Mittelbarkeit und Konstruktivität historischer Erkenntnis – ist in diese Gedanken jedoch eine Besonderheit zu integrieren: Jede wissenschaftliche Disziplin lebt davon, dass das bestehende Wissen permanent infrage gestellt werden kann, und unterscheidet sich dadurch von alltäglichem Denken.89 Der Zweifel am Erzählten ist vor allem in professionellen Rezeptionskontexten konstitutiv für den Umgang mit histo88 Jaeger, Stephan: Erzählen im historiographischen Diskurs. In: Klein, Christian/Martínez, Matías (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nichtliterarischen Erzählens. Stuttgart 2009. S. 110-135. Hier S. 110. 89 Diesen professionellen Zweifel im Widerspruch zum alltäglichen Denken und Handeln hat Alfred Schütz in Anlehnung an Edmund Husserl im allgemeinen Kontext (sozial-) wissenschaftlichen Denkens beschrieben: vgl. Schütz, Alfred: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1. Das Problem der Wirklichkeit. Den Haag 1971. S. 119.

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rischen Erzählungen. Dass sich das Verhältnis von historischer Erzählung und den zugrundeliegenden Quellen an der Norm der Angemessenheit orientiert, ermöglicht letztlich auch dem*der Rezipienten*in, an der Erzählung zu zweifeln, wie es in erster Linie professionelle Leser*innen tun. Was angemessen ist, wird innerhalb der Geschichtswissenschaft vor dem Hintergrund der vorhandenen Quellen und der Plausibilität ihrer Interpretationen stetig ausgehandelt. Der Zweifel an der Geschichte des*der Historikers*in stellt insofern keineswegs einen Wechsel in den fiktionalen Rezeptionsmodus eines imaginären Lesers dar. Auch der zweifelnde Leser historischer Darstellungen geht davon aus, dass er eine Erzählung über historische Wirklichkeit rezipiert, egal wie unangemessen ihm diese erscheint. Der Bezug auf die Geschichte und damit das historische Wahrheitspostulat stellen für ihn und den Autor die conditio sine qua non historiographischer Erzählungen dar.90 2.1.3 Die Historizität fiktionaler historischer Erzählungen Mit dem bisher Gesagten ist nun auf der Ebene des Erzählten die Fiktivität und ihr Verhältnis zu historischem Erzählen beschrieben. Auf der Ebene der Kommunikationssituation, die jede Erzählung konstituiert, habe ich die Fiktionalität aus der Perspektive des*der Urhebers*in und des*der Adressaten*in verhandelt. Fiktionale sowie nicht-fiktional-historische Erzählungen sind dabei in den Blick geraten. Was fehlt, ist eine Übertragung dieser theoretischen Ausführungen auf fiktional-historisches Erzählen, die für historische Spielfilme wie „Der Turm“ Geltung beanspruchen könnte. Blicken wir also konkret auf dieses Beispiel und die an der Erzählung Beteiligten: Als Uwe Tellkamp in einem Interview mit der ZEIT kurz vor der ersten Ausstrahlung des „Turms“ gefragt wird, ob der Fernsehzweiteiler mehr noch als sein

90 Hier könnte man die Konstruktion des Fiktionsvertrages im Kontext historiographischer Erzählungen umkehren: Der Leser geht mit dem*der Autor*in einen historiographischen Pakt ein, der als ein make-disbelieve-Spiel zu fassen wäre, in dem der*die Rezipient*in an der Darstellung und ihrer historischen Entsprechung zweifelt, wenngleich er*sie sich jederzeit bewusst ist, dass sich die Erzählung auf die Geschichte bezieht und der Autor für die Angemessenheit der Darstellung bürgt. Aus der „willing suspension of disbelief“ würde in der professionellen Rezeption historiographischer Erzählungen eine „willing suspension of belief“, die das So-tun-als-ob-es-wahr-wäre in einen professionellen Zweifel an der Angemessenheit der Darstellung verkehren würde. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Rezeption geschichtswissenschaftlicher Erzählungen natürlich auch – im Normalfall nichtprofessionellen Lesens – affirmativ, ohne beständigen Zweifel zu konzeptualisieren ist, wobei der*die Rezipient*in dem*der Autor*in der historischen, faktischen Erzählung vertraut.

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Roman das gesellschaftlich geteilte Bild von der DDR verändern könnte, bricht er zunächst eine Lanze für die Verfilmung: „Der Vorwurf, dass alles ganz anders gewesen sei und ich nur Quatsch erzähle, der wird nun schwerer aufrechtzuerhalten sein. Den Autor Tellkamp kann man zum Idioten und Ahnungslosen stempeln, zum verwöhnten Bürgersöhnchen – geschenkt. Aber einem Film-Stab von vielleicht 400 Leuten, viele davon Ostdeutsche? Denen kann man dies nicht nachsagen. Die Bandbreite an geostetem Leben, das in diesem Film steckt, ist so viel größer als bei einem subjektiven Buch, das einer geschrieben hat, der 22 Jahre alt war, als die DDR unterging.“ 91

Tellkamp antwortet damit zwar an der eigentlichen Frage vorbei, doch sendet er an die Leser der Wochenzeitung eine Botschaft, die ihm ungleich wichtiger erscheint: „Glaubt uns! Der Film ist wahr! Er zeigt historisch verlässlich die Geschichte!“ Als mediale Sekundanten im Duell gegen die imaginierten Zweifler stehen ihm auch der Regisseur Christian Schwochow und der Produzent Nico Hofmann bei. Sie nehmen für ihren Film in Anspruch, dass es sich um einen einzigartigen, nie dagewesenen „Blick auf die DDR-Geschichte“92 handle: „Bisher gab es immer eine Schwarz-Weiß-Darstellung der DDR. […] Und jetzt kriegt die DDR zum ersten Mal Farbe.“93 Diese Darstellung der DDR in Farbe sei zudem so gut gelungen, dass sie für mehr als schnöde Unterhaltung dienen könne: „Natürlich ist auch ‚Der Turm‘ nicht mehr als ein Ausschnitt – aber genau das war ja der Ansatz, nicht zu zeigen, wie es war, sondern wie es auch war. Die DDR, das sind 17 Millionen verschiedene Leben. Und aufgrund dieser Differenziertheit glaube ich schon, dass mein Film als Unterrichtsmaterial taugt.“94

Und auch die prominenten Schauspieler*innen, die am Projekt beteiligt waren, treten in der Rolle der historischen Leumundszeugen auf: Jan-Josef Liefers, der den Chirurgen Richard Hoffmann spielt, erklärt in einer Programmzeitschrift, wie die DDR „wirklich“ war und ist froh, „dass dieses Bild [dank Filmen wie diesem, B.B.] langsam weicht: In der DDR, da war man entweder Täter oder Opfer. Meine Erfah91 Machowecz, Martin/Schirmer, Stefan: Interview mit Uwe Tellkamp am 23. September 2012 in der ZEIT. Online unter http://www.zeit.de/2012/39/Uwe-Tellkamp-Der-TurmFernsehverfilmung/komplettansicht (31.5.2015). 92 O.A.: Interview mit Christian Schwochow im MDR 1 Radio Sachsen am 19. September 2012. Online unter http://www.mdr.de/der-turm/alle-interviews100.html (31.5.2015). 93 O.A.: Interview mit Nico Hofmann im MDR 1 Radio Sachsen am 19. September 2012. Online unter http://www.mdr.de/der-turm/alle-interviews100.html (31.5.2015). 94 Denk, David: Interview mit Claudia Michelsen und Christian Schwochow in der taz am 3. Oktober 2012. Online unter http://www.taz.de/!5082745/ (21.7.2015).

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rungen mit der DDR-Obrigkeit sind nicht so, dass die immer die Schweine waren und ich immer der Gute.“95 Für Claudia Michelsen, die im Spielfilm die Figur Anne Hoffmann verkörpert, und ihre Kollegen*innen war der Dreh scheinbar auch eine kleine Zeitreise: „Wo es bei uns immer wieder etwas ausgelöst hat, war die Ausstattung. […] Das sind so alte Dinge, die man auf einmal so wieder in die Hand bekommt, und sagt, ‚Ja, und guck mal hier dieses alte Telefon!‘ – ‚Ja, genau so, ja so war das!‘“96 Natürlich gehören diese medialen Plädoyers für die Einzigartigkeit der Produktion zu den Routinen der Filmvermarktung. Sie stellen ein eingespieltes Ritual der Filmunterhaltungsindustrie im Verbund von verschiedenen Print- und Rundfunkmedien sowie den Urhebern*innen der filmischen Erzählungen dar. Doch für die filmische Erzählung von historischen Stoffen wie „Der Turm“ tritt ein Aspekt hinzu, der für Produzenten*innen, Regisseure*innen und Schauspieler*innen von größter Bedeutung zu sein scheint: die unumstößliche Versicherung, dass es sich um wahre Geschichte handle, schlägt sich unvermeidbar in medialen Beglaubigungsgewittern nieder.97 Allerdings sprechen die Urheber*innen des „Turms“ ihre Beglaubigungen des Filmgeschehens bei genauem Hinsehen selektiv aus. Sie beziehen sich in den zitierten Beispielen auf die Glaubwürdigkeit historischer Abstrakta in ihrem Spielfilm („DDR-Bild“, „die DDR“, „Täter und Opfer“) oder auf die Echtheit der verwendeten Requisiten („das alte Telefon“). Gerade die Hauptfiguren der Spielfilmhandlung werden jedoch in ein etwas anderes Licht gerückt: Claudia Michelsen ist beispielsweise überzeugt, „dass wir über Roman- beziehungsweise Filmfiguren [des „Turms“, B.B.] so sprechen, als wären sie real“. 98 Und der Darsteller der Figur Christian Hoffmann, Sebastian Urzendowsky, verbindet die Story des Films mit der Geschichte seiner Familie: „Aber einige Sachen in dem Film sind schon ähnlich wie das, was damals in unserer Familie passiert ist. So wird wahrscheinlich jeder, der in der DDR groß geworden ist oder dessen El-

95 Aures, Frank: Interview mit Jan Josef Liefers mit TVTODAY am 9. August 2012. Online unter http://www.tvtoday.de/tv_aktuell/neu_im_tv/interview-mit-jan-josef-liefers-wir-hatt en-grosse-plaene,5072165,ApplicationArticle.html (21.7.2015). 96 O.A.: Interview mit Claudia Michelsen mit stern.de 2012. Online unter http://www. stern.de/kultur/tv/claudia-michelsen-im-interview--ich-bin-eine-ossi-tante--3764960.html (21.7.2015). 97 Vgl. etwa Wildt 2008, S. 74f.; Gries 2012. 98 Denk 2012.

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tern die DDR erlebt haben, einen Teil dieser Geschichte für sich beanspruchen können. Mir hat das sehr geholfen, um da einen Anschluss zu finden.“ 99

Die Beglaubigungen der im Spielfilm dargestellten Figuren unterscheiden sich in ihrer Qualität von jenen Beglaubigungen gegenüber dem Abstraktum des DDRBilds. Während die Beteiligten ein Bild von der DDR darstellen, das richtig, frei von Irrtum, historisch korrekt und wahr sei, während verwendete Requisiten „genau so“ gewesen, ja echt seien, findet demgegenüber die Beglaubigung der Figuren des Spielfilms im Konjunktiv statt. Sie könnten real sein, seien „wahrscheinlich“ für jeden Ostdeutschen anschlussfähig. Die Absolutheit, mit der die Filmschaffenden für das „richtige“ DDR-Bild eintreten, scheint für ihre Figuren verloren gegangen zu sein. Zwar werden die Figuren nicht in ihrer Glaubwürdigkeit grundsätzlich infrage gestellt, diese wird ihnen jedoch nur mittelbar zugesprochen: Die konkrete, historische Existenz von Anne, Richard und Christian Hoffmann wird in keiner Äußerung der Beteiligten sichtbar. Diese Ambivalenzen hinsichtlich der Haltung der Urheber*innen der historischen Erzählung und des darin Erzählten werde ich im Folgenden diskutieren. Aus meinen fiktionstheoretischen Ausführungen lassen sich zwei Wesensmerkmale des historischen Spielfilms entwickeln, die ich als die Historizität der Fiktion und die Historizität des Fiktiven bezeichnen möchte und die zur Beschreibung fiktionaler historischer Audiovisionen dienlich sein können. Zunächst lässt sich abstrakt der Befund festhalten, dass die Urheber*innen des „Turms“ partiell für die Wahrheit des Erzählten eintreten. An der korrekten Darstellung der DDR lassen die Beteiligten keinen Zweifel aufkommen. Damit erfüllen sie in Teilen ein wesentliches Charakteristikum des non-fiktionalen Erzählens, wie ich oben ausgeführt habe. Uwe Tellkamp selbst wehrt sich entschieden gegen den Vorwurf, dass er „nur Quatsch erzähle“ – er will seine Erzählung an der historischen Realität gemessen wissen und stellt sich damit als nicht-fiktionaler Erzähler dar. Mit einem Blick auf die filmische Erzählung, genauer das darin Erzählte, wird denn auch erkennbar, dass sich darin eine Menge historischer Objekte finden 100: Die

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Trautwein, Annabel: Interview mit Sebastian Urzendowsky in der Thüringer Allgemeinen am 29. September 2012. Online unter http://www.thueringer-allgemeine.de/web /zgt/leben/detail/-/specific/Das-Sonntags-Gespraech-Den-richtigen-Ton-gefunden-8655 44224 (23.7.2015).

100 Hier geht es mir nicht um eine Prüfung des Filmes auf historische „Korrektheit“, die sich immer wieder in der v.a. historiographischen Literatur finden lässt. Dieses Vorgehen halte ich erstens nur für sehr bedingt erkenntnisreich, zudem aber soll an dieser Stelle eine theoriegeleitete Diskussion der Erzählung „Der Turm“ stattfinden. Für die-

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Stadt Dresden ist in der Totalen zu sehen, der Hauptbahnhof ist ebenso auszumachen wie die verfallenden Altbauten, die, wenn nicht auf Dresden, dann wohl auf beinahe jede andere ostdeutsche Stadt verweisen könnten. Die Requisiten im Zweiteiler machen zudem unmissverständlich klar, in welchem Land und in welcher Zeit sich die Handlung abspielt. Das Knattern der Trabant-Zweitaktmotoren, die Uniformen der Soldaten und Offiziere der NVA und deren Ausrüstung, die Flaggen der DDR und Symbole der SED zeigen den ostdeutschen Staat der Achtzigerjahre. Und selbst bei den Figuren des Films lassen sich Ähnlichkeiten mit der historischen Welt erkennen: der von Peter Sodann verkörperte SED-Bezirkssekretär und seine Ausführungen über den ewigen, idealistischen Kampf gegen Faschismus und Krieg; die schikanierenden Offiziere der NVA; (der im „Turm“ nur zu hörende) Günter Schabowski während seiner zur historischen Ikone gewordenen Pressekonferenz am Tag des Mauerfalls. Die Handlung greift zudem historische Ereignisse auf, die mit den Figuren des Films in Verbindung stehen: die Räumung des Dresdner Bahnhofes wegen der durchfahrenden Flüchtlingszüge aus Prag; die Demonstranten*innen gegen die SED-Diktatur; Glasnost und Perestroika in der UdSSR; die Kirche als Versammlungsort opponierender Bürger*innen im Zuge der „Wende“. Es handelt sich dabei in der vorgeschlagenen Terminologie um immigrant objects, die der deutschdeutschen Zeitgeschichte entspringen. Demgegenüber bilden insbesondere die fiktiven Hauptfiguren den Kern der Erzählung, die keine realweltliche, in diesem Fall historische Entsprechung aufweisen. Sie sind native objects, entspringen also ausschließlich der Filmwelt selbst. Obschon einige von ihnen, etwa der SEDBezirkssekretär, durchaus eine Ähnlichkeit im Handeln zu historischen Personen erkennen lassen, sind sie fiktiv, erschaffen vom Romanautor Tellkamp und adaptiert vom Filmregisseur Schwochow.101Daneben legen manche Mittel des Erzählens nahe, dass es sich um eine non-fiktionale Darstellung handelt: Eingeblendete Jahreszahlen versichern den Zuschauern*innen die exakte historische Einordnung des Geschehens. Erst recht sendet der Paratext des Spielfilms unzählige Signale an die Zuschauer*innen, dass es sich um wahre Geschichte handle: Eine 45-minütige Dokumentation mit Zeitzeugen*innen, Archivaufnahmen und der Einordnung der sen Zweck genügen die hier dargelegten, nicht systematischen und nicht vollständigen Verweise auf ausgewählte Elemente des Spielfilms. 101 Dass der Film keine realweltliche Grundlage aufweist, ist genau genommen nicht ganz korrekt: Die fiktionale Erzählung des Spielfilms bezieht sich auf den Roman, der als Erzählung sehr real ist. Die Figuren etwa sind in dem Sinne nicht-fiktiv, als dass ihre Darstellung in der Form des Romans tatsächlich in der realen Welt existiert. Die reale Entität Roman wiederum erzählt von fiktiven Figuren, die außerhalb des Romans bis zum Erscheinen des Films kein Pendant in der Realität aufwiesen. Insofern müsste man von einer Fiktivität der Figuren ausgehen, da sie de facto nicht als Menschen existieren, wenngleich eine Erzählung von ihnen in der Form des Romans vorliegt.

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Spielfilmhandlung in die historischen Ereignisse zeigt unmissverständlich, wie historisch ‚wahr‘ das Gezeigte ist. Und eine multimediale Web-Doku, aufwändig als Internetplattform für den Film gestaltet, zeigt „Von A wie Ausreise bis Z wie Zensur“102, dass der Darstellung der Geschichte zu trauen ist, dass das Erzählte eine Entsprechung in der realen, historischen Welt aufweist. Diese Gemengelage aus fiktiven und nicht-fiktiven Elementen auf der Ebene des Erzählten in Verbindung mit der partiell beglaubigenden Haltung der Urheber*innen der historischen Erzählung möchte ich als die Historizität der Fiktion bezeichnen. Damit kann beschrieben werden, dass in einer fiktionalen Erzählung wie „Der Turm“ Geschichte erzählt wird, dass die dargestellte Welt also aus fiktiven und historischen Elementen besteht und mindestens in Teilen eine historische ist, und dass zudem ihre Urheber*innen für diese Historizität beglaubigend eintreten, obschon dies für fiktionale Erzählungen unüblich ist. Regisseur, Produzent und Schauspieler*innen beglaubigen die Historizität und verhalten sich damit nur bedingt einer fiktionalen Erzählung angemessen. Die Eigenschaft der Historizität der Fiktion gilt keineswegs für alle Spielfilme, die historische Elemente in ihre Handlung aufnehmen. Prominente Vertreter des Genres wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ 103 oder „Schindlers Liste“ zeichnen sich sicher auch dadurch aus, dass ihre Urheber*innen für die historische Verlässlichkeit eintreten, und weisen damit ebenso das Charakteristikum der Historizität der Fiktion auf. Demgegenüber stehen Produktionen wie „Inglourious Basterds“: Der Blockbuster integriert in die erzählte Welt zwar durchaus Elemente, die eine historische Entsprechung besitzen, angefangen bei pseudo-realen Figuren wie Adolf Hitler und Joseph Goebbels bis hin zu Symbolen des Nationalsozialismus wie Uniformen und Fahnen. Gleichwohl werden in einem deutlich geringeren Maße historische Elemente integriert: Die Erzählung nimmt zwar ihren Ausgangspunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, widerspricht unserem Bild von der Geschichte des Nationalsozialismus aber in vielen Punkten derart, dass es sich nicht um historisch wahres Erzählen handeln kann, weil die Widersprüche zur historischen Realität zu groß erscheinen. Hitler und Goebbels sterben in der historischen Realität durch Suizid, nicht durch ein Attentat in einem Pariser Kino – der Widerspruch zwischen Story und History macht die Welt der „Inglourious Basterds“ damit in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht zu einer Welt, die wir nicht als historisch identifizieren können. Vor allem aber würde Quentin Tarantino als Urheber des Films wohl nicht behaupten, dass sein Lieutenant Aldo Raine historisch sei, oder dass seine Story über einen amerikanisch-jüdischen GI auf der Jagd nach „one hundred Nazi scalps“ den Anspruch historischer Wahrheit vertrete. 102 „Web-Doku“ des MDR zum Spielfilm „Der Turm“. 103 „Unsere Mütter, unsere Väter“. Spielfilm-Dreiteiler, Regie: Philipp Kadelbach. Deutschland 2013.

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Mit dem Begriff von der Historizität der Fiktion lassen sich also jene historischen Spielfilme kennzeichnen, die nicht allein historische Elemente in ihre Handlung integrieren, wie dies auch „Inglourious Basterds“ tut. Vielmehr werden solche Spielfilme von derartigen Produktionen abgegrenzt, die durch ihre Urheber*innen einen zumindest partiellen Anspruch vertreten, im Modus der Fiktion historische Wahrheit zu erzählen. Ein weiteres Beispiel dafür wären Vertreter des Genres Kostümfilm, die ihre Handlung zwar in einer historischen Epoche verorten, in denen historische Ereignisse jedoch nicht gezeigt werden, sondern denen die Geschichte lediglich als Bühne einer ahistorischen Story dient. 104 Zugleich wird durch diese Überlegungen eine Unsicherheit aufgedeckt: Grundsätzlich lassen sich fiktive und nicht-fiktive Elemente in der Handlung fiktionaler historischer Erzählungen miteinander verbinden. Dies hat zur Folge, dass der Status des Erzählten – ob einer einzelnen Figur, eines Objekts oder eines Ereignisses der Story – per se nicht eindeutig ist. Wir wissen im Einzelfall nicht, ob es sich um die Darstellung eines Objektes mit realweltlicher Referenz handelt, oder ob stattdessen etwas Fiktives Eingang gefunden hat. Nun könnte, nein dürfte uns diese Unsicherheit nicht interessieren, wenn sich die Zuschauer*innen fiktionsadäquat verhielten und die Frage nach der realweltlichen Referenz des Erzählten suspendierten. Doch wird die „suspension of disbelief“ wiederum durch die partiell beglaubigende Haltung der Urheber*innen der Erzählung aufgehoben, sodass eine der Fiktion angemessene Haltung seitens der Rezipienten*innen nicht problemlos eingenommen werden kann. Die Historizität der Fiktion stellt damit jede*n Zuschauer*in eines historischen Spielfilms vor die Aufgabe, den ontologischen Status der Elemente der Story zu bestimmen. Sie können und müssen sich fragen, ob etwa Ereignisse der Spielfilmhandlung mit historischen Ereignissen in einem Verhältnis stehen, die sie zu Darstellungen historischer Geschehnisse machen. Spielfilme wie „Der Turm“ halten jedoch, als wäre diese Bestimmung für die Rezipienten*innen nicht schwierig genug, noch eine weitere Schwierigkeit bereit: Selbst jene Elemente der Handlung, die als fiktiv identifiziert werden können, stellen ihre Zuschauer*innen vor die Frage, inwiefern diese nicht doch in gewisser Hinsicht als historisch wahr eingeschätzt werden könnten. Dies beschreibe ich mit dem Begriff der Historizität des Fiktiven und möchte es an einem Beispiel erläutern: Christian Hoffmann ist die Hauptfigur im Fernsehzweiteiler. Im Zentrum der filmischen Erzählung stehen seine zunehmenden Schwierigkeiten, sich in der Schule und beim Wehrdienst mit den Obrigkeiten des Staates zu arrangieren. Während er in der Schulzeit bereits auf die Grenzen dessen stößt, was er an Systemkritik äußern darf, werden seine Überschreitungen dieser Grenzen während des Wehrdiens104 Vgl. Wulff, Hans Jürgen: Kostümfilm. In: Lexikon der Filmbegriffe. Kiel 2012. Online unter http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=591 (1.8. 2017).

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tes rigoros geahndet. Die Figur wird sogar mit einer Freiheitsstrafe bestraft und verliert daraufhin den sicher geglaubten Studienplatz. Detailliert entfaltet der Film auf diese Weise eine Biographie, die an den Zwängen und an der Repression in der DDR scheitert und letztlich erst durch die deutsche Wiedervereinigung erlöst wird. Die Figur des Spielfilms bildet nun keine reale, historische Person ab. Sie wurde von Uwe Tellkamp für seinen Roman entworfen und so mit den Eigenschaften und Handlungen versehen, die für die Konzeption des Romans sinnvoll erschienen. Die Figur existierte nicht, bevor sie für die Erzählung erschaffen und schließlich für die Verfilmung adaptiert wurde.105 Gleichwohl weist sie eine Ähnlichkeit mit historischen, aber nicht unbedingt prominenten Personen auf: Die Frage des Anpassens oder Widerstehens im Bildungssystem der DDR, Schikanen während des Wehrdienstes in der NVA, die Desorientierung durch die „Wende“ – Tausende junge Ostdeutsche haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Ihnen und ihren Erlebnissen ähnelt die fiktive Figur des Spielfilms. Insofern ist die Figur einerseits fiktiv und nicht historisch, als dass sie keine konkrete historische Referenz aufweist. Sie ist keinesfalls anhand historischer Quellen nachweisbar. Andererseits liefert sie jedoch eine abstrahierte Darstellung historischer Realität: Sie agiert im Modus eines historischen Potentialis, eines Status des potentiell Möglichen, da sie durchaus als Person vorstellbar wäre, die Eigenschaften besitzt und handelt, wie es viele reale Personen in der DDR getan haben. In diesem Sinne ist sie fiktiv und historisch zugleich; anders ausgedrückt handelt es sich dabei um das Phänomen der Historizität des Fiktiven. Letztlich impliziert diese These, das Verhältnis zwischen filmischer Darstellung und historischer Realität weiter zu fassen: Die Darstellung einer nicht-historischen, fiktiven Figur, die dem gegenwärtigen historischen Wissen über die DDR angemessen erscheint, jedoch so nie existierte, weist zwar keine identitäre Entsprechung außerhalb der erzählten Welt auf. Jedoch kann sie als abstraktes Konstrukt, als narratives Vehikel zur Darstellung von DDR-Geschichte als historisch wahr gelten. Sie bildet eine Synthese historischen Wissens (in diesem Fall über Jugend in der DDR, das Bildungssystem, den Wehrdienst etc.), und ist damit auf der konkreten Ebene zwar ahistorisch, als abstraktes historisches Zeichen jedoch historisch angemessen. Nicht nur die Figur Christian Hoffmann ist im „Turm“ fingiert, gleiches gilt für viele andere Figuren, die im Film auftauchen. Der Chirurg Richard Hoffmann ist ein Prototyp für die Entscheidung zwischen Anpassen und Widerstehen, die viele Menschen in der DDR für sich individuell treffen mussten. Die Figur der Anne Hoffmann stellt ein Muster jener Ostdeutschen dar, die – selbst angetrieben von der Vision des Sozialismus – durch dessen reale Umsetzung abgestoßen und Teil einer 105 Hierin liegt ein weiteres Merkmal fiktiver Figuren, Orte oder Zeiten: Sie existierten nicht, bevor sie erzählt werden, wenngleich ein Wesensmerkmal der Fiktion ist, dass dieser Zustand vorgetäuscht wird. Vgl. Martínez/Scheffel 2012, S. 20f.

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Reform- und Protestbewegung wurden. Beide stehen stellvertretend für Tausende historische Personen und könnten im historischen Potentialis mit ihnen übereinstimmen. Die Figuren weisen auf einer konkreten Ebene zwar den Status des Fiktiven auf, es handelt sich jedoch um figürliche Konstrukte, die als personifizierte Symbole und historische Platzhalter präsentiert werden. Sie fügen sich nahtlos in das gegenwärtige Wissen über die Geschichte der DDR ein, sind abstrahierte narrative Konstruktionen auf der Grundlage unseres historischen Wissens – als historische Abstraktionen sind sie damit nicht nur möglich, sondern historisch wahr. Das Fiktive besitzt damit auf abstrakter Ebene die Eigenschaft der Historizität. Für den „Turm“ gilt somit in theoretischer Hinsicht, dass die Fiktivität wesentlicher Teile des Dargestellten keineswegs verhindert, dass es sich dabei dennoch um die Erzählung wahrer Geschichte handelt. Zu stellen ist gegenüber filmischen Darstellungen von Geschichte somit nicht die Frage, ob es sich um erzählte Geschichte oder Fiktion handle, sondern die Frage, ob Geschichte im Erzählmodus der Fiktion oder der Non-Fiktion erzählt wird. Auf der Ebene des Erzählten ist dabei zu differenzieren, inwieweit das Dargestellte als Abstraktum und Konkretum eine historische Referenz besitzt. Hier wird die Position vertreten, dass es sich um die Darstellung von Geschichte handelt, solange sich diese im Modus des historischen Potentialis und damit im Rahmen einer abstrakten historischen Angemessenheit bewegt. Ist diese Bedingung erfüllt, würden selbst konkret fiktive Elemente der Erzählung die Historizität des Dargestellten nicht infrage stellen. Es ist letztlich diese Historizität des Fiktiven, die sich in den Beglaubigungen der Urheber*innen des „Turms“ niederschlägt. Nicht nur behaupten sie, dass ihre fiktionale Erzählung historisch sei, also wahrheitsgetreu von der Geschichte erzählt – sie treten auch dafür ein, dass selbst deren fiktive Elemente auf einer abstrakten Ebene die Eigenschaft der Historizität aufweisen. Gleichsam gilt dann für Spielfilme wie den „Turm“, dass für dessen Bewertung keineswegs nur „ausschließlich kunstinterne Bewertungskriterien herangezogen werden“106 dürfen, wie ich eingangs zitiert habe – wenn der Film und seine Urheber*innen die Historizität des von ihnen erschaffenen Fiktiven behaupten, müssen sie sich auch an eben dieser messen lassen. Die Frage, ob es sich bei der Figur Christian Hoffmanns um eine konkret nachweisbare, historische Person handle, führt angesichts ihrer Fiktivität nicht sehr weit. Ob es sich jedoch um eine adäquate erzählerische Konstruktion handelt, die auf abstrakter Ebene eben doch historisch wahr sei, ist insofern eine berechtigte Frage und widerspricht nicht der „Geschäftsgrundlage“107 fiktionalen historischen Erzählens. Nur so lassen sich auch die wiederkehrenden, teilweise heftig geführten Debatten um die historisch korrekte Darstellung dieser oder jener historischer Sachverhalte in filmischen Fiktionen plausi106 Wende 2011, S. 15, S. 169. 107 Martínez/Scheffel 2012, S. 17.

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bel erklären, die nicht erst in den letzten Jahren eine wesentliche Arena zur Aushandlung erinnerungskultureller Fragen dargestellt haben.108 Auf der Grundlage dieser Ausführungen halte ich auch die These für berechtigt, dass fiktionales Erzählen und darin enthaltene fiktive Elemente für die Darstellung von Geschichte in populären Medien ein großes Potential aufweisen109, das keineswegs mit einer pauschalen Ablehnung aller fiktionalen Formen historischer Darstellung abgetan werden darf. Vielmehr können fiktive Elemente einer fiktionalen Story auf einer abstrakten Ebene ebenso historisch sein, wie es reale, historische Elemente sind. Wenngleich die Figur des Christian Hoffmann keine historische Person darstellt, kann sie doch ebenso sehr der Erzählung einer historischen Realität dienen, wie eine tatsächlich historische Figur. Die Historizität der Fiktion und die Historizität des Fiktiven sind legitime Formen beziehungsweise Elemente historischer Erzählung – solange an diese nicht die Ansprüche geschichtswissenschaftlichen Erzählens angelegt werden. Fiktionale Erzählungen der Geschichte sind in der hier vorgeschlagenen Systematik also mithilfe eines weiten Begriffs von Historizität zu beschreiben. Während fiktive Elemente des Spielfilms als historisch gelten, solange sie abstrakt historisch ‚wahr‘ sind, müssen alle Elemente historiographischen Erzählens auch konkret historisch real sein – die Historizität des Fiktiven ist im Rahmen geschichtswissenschaftlichen Erzählens ein weitgehend ungebrochenes Tabu, während dessen Legitimität im Rahmen fiktionalen historischen Erzählens meines Erachtens nicht anzuzweifeln ist. Diese unterschiedlich weiten Begriffe davon, was historisch sei, halte ich neben anderen für einen der Hauptgründe für die enorme Popularität eines Begriffs, der im Zusammenhang mit historischen Darstellungen in der Form des Spielfilms im wissenschaftlichen und im populären Diskurs immer wieder auftaucht: der Begriff der Authentizität.

108 Ein aktuelles Beispiel stellen etwa die nationalen und internationalen Debatten um „Unsere Mütter, unsere Väter“ dar. Insbesondere in der internationalen Rezeption des Films kam es zu Verwerfungen, die soweit geführt haben, dass sich gar der polnische Botschafter in Deutschland zu einer scharfen Kritik an der Darstellung der Polnischen Heimatarmee veranlasst sah. Siehe Classen, Christoph: Opa und Oma im Krieg Zur Dramatisierung des Zweiten Weltkriegs im Fernsehmehrteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 23 (2014), H. 1. S. 52-74. 109 Vgl. Barg 2014, S. 40; Hoffmann, Kay: Ein Spielfilm kann authentischer sein als ein Dokumentarfilm. Interview mit Carl-Ludwig Rettinger. In: Hoffmann, Kay/Kilborn, Richard/Barg, Werner C. (Hg.): Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung dokufiktionaler Formate in Film und Fernsehen (=Close Up. Schriften aus dem Haus des Dokumentarfilms, Bd. 22). Konstanz 2012. S. 153-166.

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2.2 DAS KONZEPT DER AUTHENTIZITÄT Zweifellos kann der Begriff der Authentizität zunächst als ein „catchword“ 110 bezeichnet werden: Authentisch und Authentizität werden in so unterschiedlichen Zusammenhängen geradezu inflationär verwendet, dass ihre Bedeutung vielfältig und oftmals kaum noch erkennbar ist. Auch die Berichterstattung über den „Turm“ bediente sich des Begriffs der Authentizität: „Ebenso authentisch in Szene gesetzt wurden Fahnenappell, FDJ-Sitzung, Wehrdienst-Drill und Stasi-Methoden, der Kampf um die Ausreise, das Arrangement mit Mangelwirtschaft, […].“111 „Es geht um die Bereitschaft, sich mit diesen Figuren auf Zwischendinge, auf Unvorhergesehenes einzulassen. Das Authentische an diesem Film ist eben, dass er genau dies zulässt.“112 „Die Schauspieler agieren authentisch in akribisch detailgetreuer Kulisse.“ 113 „Wandeln Sie durch authentische Kulissen und erfahren Sie Anekdoten zum Aufenthalt der Stars in Görlitz.“114 „Dass die Hauptdarstellerin Claudia Michelsen wie ihr Filmpartner Liefers selbst in Dresden aufgewachsen ist, macht es ihr, uns, mir einfacher, authentisch und ehrlich zu sein.“ 115 110 Knaller, Susanne/Müller, Harro: Einleitung. Authentizität und kein Ende. In: Dieselben (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006. S. 7-16. Hier S. 7. 111 O.A.: „‚Der Turm‘: Jan Josef Liefers’ Reise in die eigene Vergangenheit.“ OnlineArtikel auf t-online.de. Online unter http://www.t-online.de/unterhaltung/tv/id_600010 96/-der-turm-jan-josef-liefers-reise-in-die-eigene-vergangenheit-.html (27.7.2015). 112 Pilz, Dirk: Interview mit Uwe Tellkamp und Christian Schwochow in der Berliner Zeitung am 2. Oktober 2012. Online unter http://www.berliner-zeitung.de/medien/-derturm--als-film-es-ist-nur-ein-vorschlag,10809188,20072076.html (27.7.2015). 113 Altmann, Claudia: „‚Der Turm‘ kommt ins Fernsehen. Online-Artikel des Deutschlandfunk vom 29. September 2012. Online unter http://www.deutschlandfunk.de/der-turmkommt-ins-fernsehen.691.de.html?dram:article_id=222269 (27.7.2015). 114 Görlitz-Information und Tourist-Service: „Film ab! in Görlitz“. Info-Broschüre. Online unter http://www.goerlitz.de/images/egz_gmbh/Tourismus/Broschueren/FINAL_2013FilminGoerlitz-web_1.pdf (27.7.2015). 115 Ide, Robert: „Ich leb’ mein Leben“. Artikel im Tagesspiegel. Online unter http: //www.tagesspiegel.de/meinung/ddr-drama-der-turm-ich-leb-mein-leben/7216226.html (27.7.2015).

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Authentisch kann offenbar vieles sein: die Art, verschiedene Aspekte der DDR in Szene zu setzen; der Spielfilm „Der Turm“ selbst; das Handeln der Schauspieler*innen im Film; die Kulissen; nicht zuletzt ist es scheinbar sogar möglich, als Zuschauer*in des Films selbst authentisch zu sein. Doch so vielfältig diese „authentischen Dinge“ sind, so vielfältig bedeutsam wird wiederum der Begriff der Authentizität selbst. Was bedeutet Authentizität, was heißt es, wenn Geschichte authentisch ist? Angesichts der bereits auf den ersten Blick sichtbaren Vielschichtigkeit des Begriffs verwundert es nicht, dass auch die wissenschaftliche Beschäftigung damit in den letzten Jahren eine Fülle an Publikationen hervorgebracht hat.116 Innerhalb der wissenschaftlichen Debatte werden viele verschiedene Dimensionen des Begriffs verhandelt, ein Konsens zur Systematik des Konzepts ist jedoch nur schwerlich zu erkennen.117 So stellen Susanne Knaller und Harro Müller einleitend zur Authentizität fest: „Zu den Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff Authentizität gehört es, keine eindeutige Definition sowohl aus historischer wie auch aus aktueller Per116 Siehe hier beispielhaft: Fischer/Wirtz 2008; Funk, Wolfgang/Krämer, Lucia: (Hg.): Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion. Bielefeld 2011; Knaller, Susanne/Müller, Harro: (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006; Rössner, Michael/Uhl, Heidemarie (Hg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen. Bielefeld 2012; Martínez, Matías (Hg.): Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik (=Schrift und Bild in Bewegung, Bd. 9). Bielefeld 2004; Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark et al. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 3). Bielefeld 2010; Schäfer, Robert: Tourismus und Authentizität. Zur gesellschaftlichen Organisation von Außeralltäglichkeit (=Kulturen der Gesellschaft, Bd. 14). Bielefeld 2015; Fischer-Lichte, Erika u.a. (Hg.): Inszenierung von Authentizität (=Theatralität, Bd. 1). 2. Aufl. Tübingen 2007; Knieper, Thomas/Müller, Marion G. (Hg.): Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten. Köln 2003; Kleinschnitger, Jürgen: Realität oder Fiktion? Ästhetik und Authentizität der Fernsehreportage (=Dortmunder Dialoge, Bd. 5). Berlin 2009; Hattendorf, Manfred: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung (=Close up. Schriften aus dem Haus des Dokumentarfilms, Bd. 4.). 2. Aufl. Konstanz 1999; Königer, Judith: Authentizität in der Filmbiografie. Zur Entwicklung eines rezipientenorientierten Authentizitätsbegriffs. Würzburg 2015. 117 Ein Indiz für diese These stellt die Form der Publikationen in der deutschsprachigen Diskussion des Begriffs dar. Monographien und Handbücher fehlen unter den einschlägigen Texten beinahe vollständig, vielmehr sind es Artikel in Sammel- bzw. Tagungsbänden, die maßgeblich die Theoriediskussion vorantreiben.

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spektive geben zu können.“118 Helmut Lethen resigniert gar vor der Aufgabe einer Begriffsbestimmung: „Was authentisch ist, kann nicht geklärt werden.“ 119 Angesichts der Vielfalt und Vieldeutigkeit des Begriffs können diese Positionen kaum überraschen: Als Synonyme für authentisch werden „echt, wahrhaftig, redlich, aufrichtig, unverstellt, unvermittelt, unmittelbar, natürlich, einzigartig, original, ursprünglich, verbürgt, bezeugt, eigentlich“120 und weitere in der Forschungsliteratur verhandelt. Die Vorzeichen stehen für eine präzise Definition und Konzeption des Begriffes also wahrlich nicht gut. Selten findet sich ein Konzept, das sowohl in öffentlichen als auch in wissenschaftlichen Diskursen derart populär vertreten ist – und gleichsam so unscharfe Konturen zeigt wie der Begriff der Authentizität. Trotz oder gerade wegen dieser terminologischen Unschärfe bleibt die Relevanz des Konzepts unbestritten. Antonius Weixler bezeichnet Authentizität „als das übergreifende Leitkonzept der Hoch- wie der Unterhaltungskultur“121 in der Gegenwart. Aus diesem Grund ist es die Aufgabe dieses Kapitels, die für den Gegenstand der Arbeit wichtigen Dimensionen des Authentizitäts-Begriffs herauszuarbeiten und ihn für die Darstellung von Geschichte im Spielfilm und deren Rezeption durch ihre Zuschauer*innen fruchtbar zu machen. Die Antwort auf die Frage, was Authentizität denn eigentlich sei, wird mit Blick auf den Forschungsstand nicht zuletzt dadurch erheblich erschwert, dass sich sehr unterschiedliche Begriffs-Dimensionen darin vereinen: So wird nicht immer klar differenziert zwischen (1) jenen Dingen, die als authentisch gelten, (2) dem, was das Prädikat authentisch als Attribut genau meint, (3) der Modellierung des Prozesses einer Zuschreibung von Authentizität, (4) den Aspekten, die zu dieser Zuschreibung von Authentizität führen, und (5) den Akteuren, die Authentizität zuschreiben.

118 Knaller, Susanne/Müller, Harro: Authentisch/Authentizität. In: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 7. Stuttgart 2005. S. 40-65. Hier S. 40. 119 Lethen, Helmut: Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze. In: Böhme, Hartmut/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle (=rowohlts enzyklopädie). Reinbek 1996. S. 209. 120 Müller, Harro: Theodor W. Adornos Theorie des authentischen Kunstwerks. Rekonstruktion und Diskussion des Authentizitätsbegriffs. In: Knaller, Susanne/Müller, Harro (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006. S. 55-67. Hier S. 55. 121 Weixler, Antonius: Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt. In: Weixler, Antonius (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (=Narratologia. Contributions to Narrative Theory). Berlin 2012a. S. 1-32. Hier S. 2.

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Ich werde Authentizität zunächst aus drei grundlegenden Blickwinkeln näher verhandeln. Sie richten sich auf verschiedene „Adressaten“122 (1), denen Authentizität im Kontext von Geschichte zugeschrieben wird: einerseits auf historische Objekte, das heißt Quellen, und andererseits auf Darstellungen, speziell Erzählungen von Geschichte. Hinzu kommt der Aspekt der Authentizität von Personen. In diesen Zusammenhängen werde ich zudem diskutieren, welche Qualität sich hinter dem Attribut authentisch im jeweiligen Kontext verbirgt (2). Zusätzlich zu diesen „Adressaten“ von Authentizitäts-Zuschreibungen werde ich abschließend auf ein Wesensmerkmal von Authentizität eingehen, das dieses Konzept erst so gewinnbringend für meinen Gegenstand macht, indem ich die Performativität von Authentizität diskutiere und damit den Prozess der Zuschreibung von Authentizität mit Blick auf die Forschungsliteratur modelliere (3). Dabei wird sich zeigen, dass insbesondere dieser Aspekt im Kontext fiktionaler historischer Erzählungen eine zentrale theoretische Säule meines weiteren Vorgehens darstellen kann. Auf die drei genannten Aspekte richten sich schließlich meine späteren empirischen Analysen: Neben dem Prozess der Zuschreibung (3), in dessen Ergebnis einer historischen Darstellung (1) eine spezifische Qualität (2) des Authentischen zugeschrieben wird, stehen die Akteure, die Authentizität zuschreiben (5), und jene Aspekte (4), die die Zuschreibung von Authentizität mitbestimmen, im Fokus meines Projekts. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich damit in die ohnehin verwirrend unübersichtliche Forschungslandschaft zum Begriff der Authentizität eine etwas andere Schwerpunktsetzung einbringe. Mir geht es jedoch in diesem Kapitel um die unbedingte Nutzbarmachung des Konzepts für Prozesse medialer Darstellung von Geschichte und deren Rezeption, sodass sich zwangsläufig manches in den Vordergrund schiebt (wie etwa die Differenz von historischer Quelle und historischer Darstellung), anderes jedoch eher in den Hintergrund rückt (wie etwa philosophische Diskurse um das authentische Individuum und damit zusammenhängende kulturhistorische Fragestellungen). Gleichsam möchte ich auch deutlich machen, was die folgenden Überlegungen nicht leisten wollen: Es geht mir an dieser Stelle nicht um eine vollständig-systematische Behandlung des Begriffs in all seinen Facetten und somit nicht um einen Beitrag zur Theoriebildung eines allgemeinen Authentizitätsbegriffs. Allein die deutschsprachige Forschungsliteratur zur Authentizität stellt sich als enorm vielfältig und bisweilen schwer zu systematisieren dar. Daher kann es hier nur um die Fragen gehen: Was ist unter Authentizität im Zusammenhang mit Geschichte und genauer mit historischen Darstellungen im Spielfilm zu verstehen? Wie lässt sich der Begriff für diesen Gegenstand nutzbar machen?

122 Ich möchte hier nicht von Objekten sprechen, denen Authentizität zugeschrieben wird, weil dies begrifflich mit dem unten dargestellten Konzept der Objektauthentizität kollidiert.

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2.2.1 Die Authentizität historischer Quellen Das Wort Authentizität leitet sich etymologisch aus dem Altgriechischen ab, wo das Adjektiv αὐθεντικóς zunächst so viel wie „nach einem zuverlässigen Gewährsmann“ bedeutet.123 Seine Begriffsgeschichte soll hier weitestgehend ausgeklammert werden,124 zumal der Terminus erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen großen Durchbruch feierte.125 Bis zu jenem Zeitpunkt wurde er in erster Linie verwendet, um die Originalität von Texten, insbesondere von Urkunden, zu beglaubigen,126 und darin zeigt sich bereits eine von mehreren Bedeutungen, die für die Geschichte relevant sind. Letztlich hat diese Verwendung, die die Echtheit einer Urkunde belegen sollte, auch Einzug in die Geschichtswissenschaft gehalten: Für sie spielt der Begriff der Authentizität in erster Linie eine methodische Rolle. Authentisch können aus dieser Sicht Quellen sein, und sie erhalten dieses Gütesiegel der Echtheit 127 auf der Grundlage einer profunden Quellenkritik. 128 Eine authentische Quelle ist demnach eine, deren Originalität und Überlieferung wir trauen können.129 Der Begriff steht hier dem Begriff der Fälschung gegenüber.130 Damit können Synonyme wie echt und unverfälscht mit dieser Bedeutungsdimension assoziiert werden. Dafür haben Eva Ulrike Pirker und Mark Rüdiger den Begriff der „Objektauthentizität“ vorgeschlagen.131 Sie verwenden ihn im Kontext historischer Ausstellungen im Museum und beziehen Objektauthentizität auf Objekte, die „als Repräsentant von Vergangenem“ durch ihre Echtheit beziehungsweise ihre Herkunft und Überlieferung eine besondere Autorität aufweisen. Damit erhält das Konzept 123 Gemoll, Wilhelm/Vretska, K.: Gemoll. Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. 10., völlig neu bearb. Aufl. München 2006, S. 147. 124 Zur Begriffsgeschichte siehe Knaller/Müller 2005, S. 40-43. 125 Vgl. Müller 2006, S. 60; Saupe, Achim: Authentizität. Version 2.0. In: DocupediaZeitgeschichte, 22.10.2012. Online unter http://docupedia.de/zg/Authentizit%C3%A4t_ Version_2.0_Achim_Saupe (abgerufen am 14.1.2013). S. 3f. 126 Vgl. Lethen 1996, S. 210. 127 Vgl. Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen: Annäherungen. In: Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark et al. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 3). Bielefeld 2010. S. 11-30. Hier S. 14f. 128 Vgl. Goertz 1998, S. 32. 129 Vgl. Saupe 2012, S. 11. 130 Vgl. Andree, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung). München 2005. S. 432. 131 Pirker/Rüdiger 2010, S. 20.

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der Objektauthentizität zusätzlich zur Frage nach der Überlieferung von Quellen eine Dimension der Inszenierung: Nicht allein die Originalität eines historischen Objekts, sondern auch seine Inszenierung im Kontext beispielsweise von Ausstellungen oder TV-Dokumentationen seien Wesensmerkmale der Objektauthentizität. 132 Der Begriff kann prinzipiell auf alle historischen Quellen angewendet werden, ob es sich nun um museale Objekte im engeren Sinne oder Quellensorten handelt, die nicht im Museum ausgestellt werden. Ich verwende im Folgenden den Begriff der Quellenauthentizität beziehungsweise Authentizität historischer Quellen – nicht, um die ohnehin komplizierte Gemengelage weiter zu verkomplizieren, sondern um den Begriff spezifisch historiographisch auszurichten.133 Der Begriff der Objektauthentizität – und dies ist bereits zuvor kritisiert worden134 – steht bei Pirker und Rüdiger dem der Subjektauthentizität gegenüber. Während erstere in der Originalität eines Objektes begründet sei, stelle letztere die Folge eines „authentischen Erlebens“135 seitens der (im Kontext von Ausstellungen) Besucher*innen dar, dem kein unverfälschtes Objekt zugrunde liegen müsse, sondern das auch etwa durch genaue Kopien originaler Ausstellungsobjekte erzeugt werden könne. Hier bricht jedoch die Systematik: Während das authentische Objekt bei Pirker/Rüdiger der Adressat ist, dem Authentizität attestiert wird, handelt es sich in ihrem Verständnis von Subjektauthentizität gewissermaßen um jene Akteure, die Authentizität erleben. Daraus ergibt sich die Problematik, dass diese diskursive Zuschreibung von Authentizität durch eine*n Rezipienten*in, die ich im Folgenden noch genauer thematisieren werde, dem Konzept der Objektauthentizität letztlich abgesprochen wird. Systematisch lässt sich ein solcher Begriff der Objektauthentizität damit nicht mit dem Forschungsstand vereinbaren, und in gewisser Hinsicht widerspricht der Vorschlag von Pirker und Rüdiger ihren eigenen theoretischen Prämissen.136 Aus diesen Gründen wähle ich hier den Begriff der Quellenauthentizi132 Siehe dazu auch Kircher, Marco: Babylon & Tutanchamun. Zwei Ausstellungen, zwei Konzepte. In: Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark et al. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 3). Bielefeld 2010. S. 31-46. 133 Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich damit zwangsläufig auch Konnotationen aufgebe: So weist der Begriff der Objektauthentizität – entstanden im Kontext historischer Ausstellungsobjekte – inszenatorische Aspekte mit auf, die im Begriff der Quellenauthentizität verblassen. Dies wird m.E. jedoch kompensiert, indem ich die performativen Aspekte des Authentizitäts-Begriffs gesondert hervorhebe. 134 Siehe dazu Weixler 2012a, S. 19f. 135 Pirker/Rüdiger 2010, S. 17. 136 Vgl. Pirker/Rüdiger 2010, S. 19: Die Autoren*innen argumentieren dafür, „dass auch die Aura eines (Original-)Ortes oder (Original-)Gegenstands keinen Status a priori genießt, sondern durch Prozesse der Bedeutungszuschreibung entsteht“.

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tät, der historische Quellen als „Adressaten“ der Zuschreibung von Authentizität kenntlich macht und zudem genau diesen Akt der Zuschreibung systematisch mitdenkt. Im Kontext des Mediums Film ist dieser Aspekt der Quellenauthentizität vor allem für filmische Quellen, das heißt Filmaufnahmen aus der Vergangenheit, von großer Bedeutung. Insbesondere in Fernsehdokumentationen, aber auch in hybriden Formaten an der Grenze zwischen Dokumentation und Spielfilm spielen solche authentischen Filmbilder eine immense Rolle.137 Die erfolgreichen Dokumentationen aus Guido Knopps ZDF-Redaktion kamen nicht ohne den massenhaften Einsatz authentischer Aufnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus aus, und noch heute finden authentische NS-Wochenschau-Aufnahmen ihren Platz in Fernsehdokumentationen, die den Zweiten Weltkrieg thematisieren.138 Authentische Quellen, in diesem Beispiel also unverfälschte, originale Filmaufnahmen einer vergangenen Zeit, versprechen scheinbar einen ebenso unverfälschten Blick in die Vergangenheit. Freilich ist jedoch bereits der Anspruch an die Echtheit filmischer Quellen im Fernsehen nur schwer einzuhalten: Schon ihre Umwandlung in die heute gängigen, digitalen Sendeformate führt streng genommen dazu, dass das unverfälschte Original durch eine Kopie ersetzt wird und die Authentizität der filmischen Quelle somit verloren geht.139 Die Grenze zur Fälschung – und damit der Schritt von der authentischen zur gefälschten Filmquelle – wird bisweilen auch überschritten, so beispielsweise in der achtteiligen Reihe „Weltenbrand“ im ZDF. 140 Die Doku-Reihe verwendete seltene Filmaufnahmen aus dem Deutschen Kaiserreich zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern bearbeitete diese aufwändig nach, indem sie die originalen Schwarz-Weiß-Bilder nachträglich kolorierte. Dieser Schritt wurde kontrovers diskutiert,141 da er die Authentizität dieser Quellen letztlich auflöste.

137 Siehe zu hybriden Formaten mit historischem Sujet zum Beispiel Steinle 2009. 138 Siehe zu dieser Problematik exemplarisch Keilbach 2004; Lersch 2009. 139 In diesem Zusammenhang ist der vielzitierte Aufsatz von Walter Benjamin zu nennen: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (=edition suhrkamp, Bd. 28). 1. Aufl. [Nachdruck]. Frankfurt/M. 2010 [1963]. 140 Siehe „Weltenbrand“. Achtteilige Dokumentation zum Ersten Weltkrieg. Regie: Guido Knopp, ZDF. Deutschland 2012. 141 Siehe etwa Kellerhoff, Sven Felix: Guido Knopp tappt in die Kolorierungsfalle. In: Die Welt Online 2012, online unter http://www.welt.de/vermischtes/article109295252/Gui do-Knopp-tappt-in-die-Kolorierungsfalle.html (1.8.2015); Dörting, Thorsten: TV-Doku „Weltenbrand“ von Guido Knopp: Hitler mit Hipstamatic-Flair. In: Spiegel Online 2012, online unter http://www.spiegel.de/kultur/tv/kritik-zur-zdf-serie-weltenbrand-von -guido-knopp-a-856218.html (31.7.2015).

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An diesem Beispiel wird deutlich, wie schwierig sich die Anwendung des Begriffs der Quellenauthentizität gestaltet. Die Grenze zwischen authentischen und nicht-authentischen Quellen ist fließend, und manche stellen aus diesem Grund die Rede von solcher Art Authentizität generell infrage: 142 Ist etwa der Ort, an dem heute die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn steht und der jahrzehntelang die wichtigste Grenzübergangsstelle zwischen DDR und BRD war, noch ein authentischer Ort, mit authentischen Gebäuden, authentischen Gegenständen und authentischen Ausstellungsobjekten? Oder machen die aktiven (z.B. die Gestaltung der Gedenkstätte) und unwillkürlichen Veränderungen (z.B. die Einflüsse der Witterung) des Ortes143 ihn zu einem nicht-authentischen? Sind Filmaufnahmen, die aus ihrem Zusammenhang gerissen und neu in gegenwärtigen Dokumentationen kompiliert werden, noch authentisch? Ist es überhaupt möglich, authentische, originale, unverfälschte Quellen zu bewahren? Wenngleich im „Turm“ keine originalen Filmaufnahmen verwendet werden, betrifft das Konzept der Quellenauthentizität doch auch den ARD-Zweiteiler: Wenn etwa Requisiten oder Kulissen im Spielfilm auftauchen, so lassen sich diese Objekte darauf prüfen, ob sie tatsächlich authentisch sind. Dies gilt für das von Claudia Michelsen angesprochene „alte Telefon“ ebenso wie auch für die Fahrzeuge, Uniformen, Einrichtungsgegenstände und für Gebäude, Stadtviertel oder Landschaften: Befinden sie sich in einer originalen, unverfälschten Form, und finden sie in diesem authentischen Zustand Einzug in die Verfilmung? Gleichwohl mag zugespitzt die Frage gestellt werden, ob diese Authentizität der Objekte im Film denn überhaupt von Bedeutung ist. Macht es für die Darstellung von Geschichte einen Unterschied, ob es sich bei den Requisiten um Originale handelt, oder erfüllen detailgetreue Repliken nicht denselben Zweck? Walter Benjamin hat in diesem Zusammenhang etwas metaphysisch von einer „Aura“ des Originals gesprochen, die vor allem auf dessen Einzigartigkeit und Echtheit beruhe.144 Diese Aura gehe in der Moderne durch die Möglichkeit der technischen Reproduktion verloren, und der Verlust der Aura des Originalen führe letztlich dazu, dass an ihre Stelle die Vorstellung von der 142 Vgl. Norden, Jörg van: Authenticity is Fiction? Relicts, Narration and Hermeneutics. In: EXARC 2012, H. 3. Online unter http://222.exarc.net/issue-2012-3/aoam/authenticityfiction-relicts-narration-and-hermeneutics (1.8.2015). Wenn Folgendes gilt: „Therefore the object cannot be authentic after leaving ist original time, place and function“, dann stellt das das Konzept der Authentizität historischer Quellen per se infrage. 143 Siehe dazu Bergold, Björn/Kalinna, Yvonne/Stanisavljevic, Marija: Lehre interdisziplinär – Ein Projektseminar zur geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Erforschung von Gedenkstätten.“ In: Senger, Ulrike/Robel, Yvonne/Logge, Thorsten (Hg.): Projektlehre im Geschichtsstudium. Verortungen, Perspektiven und Berichte. Bielefeld 2015. S. 321-340. 144 Vgl. Benjamin 2010, S. 12-18.

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Authentizität einer Reproduktion trete.145 Die Einzigartigkeit des Originals werde durch die Authentizität seiner Reproduktion – gleichermaßen als Ersatz-Aura – teilweise kompensiert. Insofern erhält das Konzept der Quellenauthentizität hier eine weitere Facette: Nicht so sehr der objektiv feststellbare Status eines Objekts (wenn es so etwas wie objektiv feststellbar überhaupt gibt), sondern der Anschein dieses Status bestimmt die Authentizität einer Sache. Nicht, ob eine Quelle echt ist, sondern vielmehr, ob sie echt, unverfälscht, original scheint, wird damit zur Gretchenfrage der Quellenauthentizität.146 Dieses Charakteristikum des Konzepts der Quellenauthentizität ist letztlich wohl einer der Hauptgründe, der seine Bedeutung rechtfertigt: Während die Echtheit von Quellen eine ontologische Eigenschaft postuliert, erscheint mir in der Rede von authentischen Quellen nicht nur diese Absolutheit im positiven Sinne aufgeweicht: Wenn Helmut Lethen „alle Vorstellungen von Identität, Echtheit und Autorschaft im besten Fall als nützliche Fiktionen“147 bezeichnet, gerät Authentizität hier zur adäquaten Ersatzkategorie, die erst in der Inszenierung des historischen Objektes Anwendung finden kann. Der Begriff fügt somit auch eine Ausstrahlung im Sinne einer (Ersatz-)Aura historischer Quellen hinzu. Insbesondere in Kontexten der Inszenierung, auf die ich im folgenden Kapitel eingehen werde, halte ich diese Begriffskomponente für überaus relevant.

145 Vgl. Benjamin 2010, S. 17. 146 Ich möchte die Debatten um die verschiedenen Dimensionen der Authentizität hier nur insofern aufgreifen, solange sie dem Gegenstand der Arbeit nützlich erscheinen. Dennoch muss ich an dieser Stelle eine Abgrenzung vornehmen: Der Begriff der Objektauthentizität nach Pirker/Rüdiger (2010) meint konzeptuell etwas anderes als jener von Susanne Knaller: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs. In: Knaller, Susanne/Müller, Harro (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006. S. 17-35, der in der Folge auch von Antonius Weixler (2012a) aufgegriffen wird. Insbesondere Weixler leistet zwar eine beachtliche Systematisierung, jedoch spielt Authentizität für ihn lediglich in zeichentheoretischen Kontexten eine Rolle. Diese werden in den folgenden Kapiteln auch durchaus relevant, die hier beschriebene Objektauthentizität als Eigenschaft der Überlieferung historischer Objekte steht zeichentheoretisch jedoch meines Erachtens nicht im Fokus des Konzepts. Es handelt sich etwa bei einem Filmdokument erst einmal nicht um die Frage, was dieses Objekt kommuniziert, sondern um seinen Status der Überlieferung. Zumindest aus historiographischer Perspektive gilt es, diesen Begriff von Authentizität in einer Systematik mit zu berücksichtigen. 147 Lethen 1996, S. 227.

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2.2.2 Die Authentizität historischer Darstellungen Da es sich beim Gegenstand dieser Arbeit nicht um historische Quellen handelt, sondern „Der Turm“ eine filmische Darstellung von Geschichte ist, kann diese nicht im Sinne einer Quelle als echt oder unverfälscht betrachtet werden. Lediglich für die darin befindlichen Objekte ist die Frage nach ihrer Echtheit von Relevanz. Der Spielfilm als historia rerum gestarum ist jedoch ein mediales Produkt unserer Gegenwart (wenngleich er für andere, etwa erinnerungskulturelle Fragestellungen zur Quelle werden kann), und daher nicht Gegenstand einer Quellenkritik. Die Frage, ob der Spielfilm als Objekt unverfälscht und echt ist, macht somit wenig Sinn. Wie bei anderen (audiovisuellen) Medien rückt vielmehr die Frage in den Fokus, in welchem Verhältnis der Film zu dem steht, was er darstellen will. Am Beispiel von Filmaufnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus lässt sich diese Frage verdeutlichen. Dass die NS-Wochenschau-Bilder, die noch heute in Fernsehdokumentationen verwendet werden, im Sinne einer Quellenauthentizität authentisch sind, bedeutet noch nicht, dass sie glaubwürdige filmische Abbilder einer wie auch immer zu verstehenden Realität sind. Die Aufnahmen von erbittert kämpfenden Landsern an der Front, von Jagdfliegern im „heldenhaften“ Luftkampf oder von zum Mythos gewordenen Panzern wie dem Panzerkampfwagen VI „Tiger“ – es sind zumeist mit höchstem propagandistischen Impetus produzierte und ausgewählte Bilder. 148 Diese zeigen nicht die Realität des Zweiten Weltkrieges, sondern jene Realität, die der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels in Auftrag gegeben hatte und die von den Propagandakompanien der Wehrmacht inszeniert wurde. Auch die zu Ikonen gewordenen Filmaufnahmen des Nürnberger Reichsparteitages von 1934 können nicht dessen Realität abbilden, sondern präsentieren eine filmische Realität, die Adolf Hitler persönlich bei Leni Riefenstahl geordert hatte. Wenn auch der daraus entstandene Film „Triumph des Willens“ 149 heute ein quellenauthentisches Filmdokument darstellt (insofern er über die Jahrzehnte nicht verfälscht wurde), so können wir darin jedoch nicht die authentische Darstellung einer vergangenen Realität sehen. Vielmehr zeigen auch quellenauthentische, das heißt echte, unverfälschte Filmbilder, keinen unverstellten Blick auf die Vergangenheit: Jede noch so ‚neutrale‘ Auswahl des Filmausschnitts stellt eine Selektion und Konstruktion dar, sodass aus einer „nichtfilmischen Realität“ eine spezifische „Realität Film“ geschaffen wird.150 Das bedeutet, dass dieses Medium ebenso wenig in der Lage ist, die Realität abzu148 Keilbach 2004, S. 547f. 149 Siehe „Triumph des Willens“. Dokumentarfilm, Regie: Leni Riefenstahl. Deutschland 1935. 150 Hohenberger, Eva: Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film (=Studien zur Filmgeschichte, Bd.5). Hildesheim, New York, Zürich 1988. S. 29f.

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bilden – gleichsam vermag aber wohl kein anderes so eindrucksvoll diesen Schein der unverfälschten Darstellung von Realität zu erzeugen.151 Es ist die „Indexikalität des fotografischen Bildes“152 einerseits und zudem die Dynamik von bewegten Bildern, die zu diesem Anschein von der Objektivität der Abbildung verleitet: Filmaufnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus entstanden durch Belichtung, einen physikalisch-chemischen Prozess, und scheinen damit eine naturwissenschaftliche Glaubwürdigkeit des Abbilds nahezulegen. Zudem zeigen Audiovisionen, die nicht statisch sind wie die Fotografie, Bewegungen lebensecht-dynamisch. Gerhard Paul spricht in der Konsequenz von einer „Reflexionsprozesse lähmende[n] Authentizität“153 der Bilder. Weil diese eine physikalisch-chemische Folge dessen sind, was vor der Kamera passierte, entsteht der Eindruck ihrer unmittelbaren Verlässlichkeit. Doch die Realität vor dem Apparat darf insofern nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden, als dass sie für und durch die Kamera konstruiert wurde. Dass die Propagandaaufnahmen des Nationalsozialismus heute in so mancher Dokumentation zum Einsatz kommen, um die Realität des Krieges darzustellen, kann daher als „der späte Triumph des Joseph Goebbels“154 gelten – die für die Propaganda inszenierten Bilder werden im Fernsehen der Gegenwart nicht selten als Abbildungen vergangener Wirklichkeit eingesetzt. In diesen Überlegungen zur Schein-Authentizität von Filmbildern scheint vielmehr eine zweite, hier wesentliche Dimension des Authentischen durch: Während die Authentizität von Quellen eine Eigenschaft beschreibt, die sich auf ihre Überlieferung bezieht und den Anschein des Originalen fokussiert, verhandelt dieser Aspekt das Verhältnis einer Darstellung zum Dargestellten: Wenn wir fragen, ob das Bild des Krieges in den NS-Wochenschauen ein authentisches ist, dann fragen wir letztlich danach, ob das, was dargestellt wird, auch tatsächlich so war, wie es dargestellt wird. Noch etwas abstrakter: Authentizität bezeichnet hier eine bestimmte Art von Beziehung, einen „Relationalitätscharakter“; „‚Authentisch‘ ist ein Prädikat, das eine bestimmte Art der Beziehung eines Zeichens zu einem Referenten bezeichnet.“155 Entsprechend erscheint für diesen Aspekt der Begriff der Referenz-156 oder Darstellungsauthentizität als angemessen. 151 Siehe zur Diskussion des Mimesis-Begriffs im Kontext auch der filmischen Erzählung des Holocaust: Loewy, Hanno: Fiktion und Mimesis. Holocaust und Genre im Film. In: Frölich, Margit/Loewy, Hanno/Steinert, Heinz (Hg.): Lachen über Hitler – AuschwitzGelächter? München 2003. S. 37-64; weiterhin Saupe/Wiedemann 2015, S. 4f. 152 Keilbach 2003, S. 155. 153 Paul, Gerhard: Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn 2004. S. 269. 154 Paul 2004, S. 268. 155 Schäfer 2015, S. 40. Angemerkt sei hier noch, dass Schäfer den Terminus des Referenten in der gleichen Bedeutung verwendet, wie hier v.a. im Kapitel zur Fiktion der Be-

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Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft mag dies zunächst sehr abstrakt erscheinen, doch lassen sich die hier angerissenen Debatten um die Fiktion und ihr Verhältnis zur Geschichte letztlich ebenso als zeichentheoretische verstehen: 157 Wie ich gezeigt habe, geht es dabei um das Verhältnis zwischen der Geschichte (res gestae) und ihrer Darstellung (historia rerum gestarum), und auch dieses Verhältnis ist eines von Zeichen und Bezeichnetem. Darstellungs-Authentizität lässt sich als Konzept damit nicht nur auf Quellen anwenden, die wie das Beispiel der NSFilmaufnahmen eine eigene Wirklichkeit konstruieren und präsentieren wollen, sondern auch übertragen auf die gegenwärtige Darstellung von Geschichte wie im Zweiteiler „Der Turm“. Doch welchen Anschein muss diese Beziehung zwischen Dargestelltem und Darstellung haben, um das Prädikat authentisch zu erhalten? Anders gefragt: Welche Bedeutung von authentisch verbirgt sich hinter diesem Begriff der Referenz- oder Darstellungsauthentizität? Von welcher Qualität sind authentische Darstellungen? „Anstelle von ‚authentisch‘ werden in diesem Zusammenhang auch Ausdrücke wie ‚wirklich‘, ‚wahr‘, ‚wahrhaftig‘ […] oder ‚unmittelbar‘ verwendet und in einen Gegensatz zu ‚erfunden‘, ‚manipuliert‘, ‚simuliert‘ oder ‚künstlich‘ gestellt.“ 158 All griff der Referenz Anwendung fand. Beide beziehen sich auf das zugrundeliegende Bezeichnete. Schäfers Bezeichnung liegt offenbar das dreiseitige Zeichen-Modell von Charles Ogden und Ivor Richards zugrunde: siehe Ogden, Charles K./Richards, Ivor A.: The Meaning of Meaning. A Study of The Influence of Language upon Thought and of The Science of Symbolism. 10. Aufl. London 1960. 156 Der Begriff findet sich mehrfach, so bei Knaller/Müller 2006, S. 13; Martínez, Matías: Zur Einführung: Authentizität und Medialität in künstlerischen Darstellungen des Holocaust. In: Ders. (Hg.): Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik (=Schrift und Bild in Bewegung, Bd. 9). Bielefeld 2004. S. 7-20. Hier S. 14. Er ist jedoch auch kritisiert worden: So widerspricht Weixler (2012a, S. 12), indem er gerade die Abkehr von einer referentiellen Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem im postmodernen Authentizitätsbegriff feststellt, die auf die Willkürlichkeit von Zeichen in der Kommunikation zurückgeht. Er plädiert für den Begriff der Relation, der ihm wohl neutraler erscheint. Wenn ich hier von der Authentizität der Darstellung spreche, so unterstelle ich gleichermaßen diese Neutralität für den von mir verwendeten Begriff. Vor allem ziehe ich den Begriff der Darstellungsauthentizität vor, weil ich ihn im Kontext historischer Darstellungen bereits verwendet habe und er in der Terminologie der Geschichtswissenschaft gebräuchlich ist in der Opposition Quelle – Darstellung. 157 Zu den Grundlagen der Semiotik siehe Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 3. Aufl. Berlin/New York 2001. S. 78f. 158 Martínez 2004, S. 10. Keineswegs bin ich hier versucht, Matías Martínez’ Zusammenstellung unlauter zu verkürzen. Anstelle der von mir gesetzten Klammern fügt er in sei-

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diese Begriffe drücken ein Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Darstellung in dem Sinne aus, dass sie glaubwürdig dem Dargestellten entspricht. Authentische Darstellungen von Geschichte weisen „das Prädikat der Glaubwürdigkeit“ und „letzten Endes Wahrhaftigkeit“ auf.159 Das Verhältnis von historischer Darstellung im Medium Film und den zugrunde liegenden historischen Ereignissen ist scheinbar dann authentisch, wenn ihnen plakativ bescheinigt werden kann: „so war’s“ 160. Erneut trägt hier das Beispiel der NS-Filmpropaganda zum Verständnis bei: Die glorifizierenden Aufnahmen sollen nach dem Wunsch ihrer Urheber*innen den Anschein erwecken, beispielsweise die Realität des Reichsparteitages in Nürnberg beziehungsweise des Krieges glaubhaft abzubilden. Ihr propagandistischer Erfolg hängt geradezu davon ab, dass die in den Filmaufnahmen dargestellte Realität selbst als authentische Darstellung der realen Ereignisse verstanden wird. Wäre dies nicht der Fall, würden sie also als manipulierte Schein-Bilder der Realität gelten, dann hätte die Propaganda nachgerade einen gegenteiligen, entlarvenden Effekt. Für ihr Funktionieren kommt folglich eine weitere Bedingung hinzu: Damit die filmische Propaganda ihren persuasiven Zweck erfüllen kann, ist es nicht nur notwendig, dass sie als getreue Darstellung der Realität gilt, sondern auch, dass ihre Künstlichkeit und Geschaffenheit unsichtbar bleibt. Die Zehntausenden auf dem Zeppelinfeld während des Reichsparteitags in Nürnberg, gestaffelt in perfekt choreografierter Formation: Wer die Bilder als eigens erschaffene Konstruktionen für die filmische Darstellung Leni Riefenstahls entlarvt, entzieht sich der Wirkung der Propaganda – für ihn*sie sind die Bilder nicht authentisch. Darin zeigt sich ein Phänomen, das bisweilen als das „Paradoxon des Authentischen“161 verhandelt wird: Es zeichnet „den ambivalenten Charakter des Authentizitätsbegriffs“ aus, darin eine „‚vermittelte Unmittelbarkeit‘“162 zu sehen. Eine Darstellung ist entsprechend dann authentisch, wenn es ihr mit den ihr zur Verfügung nem Text noch „‚echt‘, ‚original‘“ hinzu. Die Kürzung erscheint mir hier angemessen, da seine Zusammenstellung verschiedener Synonyme in der Tat ‚quer‘ zur hier vorgeschlagenen, historiographisch sinnvolleren Unterteilung in Quelle und Darstellung verläuft. Insofern halte ich diese Kürzung des Zitats für legitim, als dass sie m.E. keinen Widerspruch oder eine Entstellung des eigentlichen Sinns des Zitates darstellt. 159 Wirtz, Rainer: Das Authentische und das Historische. In: Fischer, Thomas/Ders. (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008b. S. 187-203. Hier S. 188. 160 Siehe Wirtz, Rainer: alles authentisch: so war’s. Geschichte im Fernsehen oder TVHistory. In: Fischer, Thomas/ders. (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008a. S. 9-32. 161 Zeller, Christoph: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1979 (=Spectrum Literaturwissenschaft: komparatistische Studien, Bd. 23). Berlin 2010. S. 8. 162 Pirker/Rüdiger 2010, S. 18.

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stehenden Mitteln gelingt, ihr Dargestelltsein zu verschleiern. 163 Jeglicher Darstellung liegt freilich ein aktives Darstellen, ein konstruktiver Akt des Erschaffens zugrunde, gleich mit welchen Mitteln oder Medien. Wenn ihre Authentizität jedoch darauf beruht, dass dieser Akt nicht sichtbar wird, handelt es sich bei authentischen Darstellungen um das paradoxe Phänomen, dass sich „das Dargestellte durch die Darstellung als nicht Dargestelltes präsentiert“164. Festhalten lässt sich vorerst, dass das Konzept der Authentizität historischer Darstellungen auf das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem beziehungsweise auf einen „Relationalitätscharakter“165 verweist, und dieses Verhältnis nicht nur als glaubwürdig, wahrhaftig qualifiziert, sondern zugleich auch noch die Verschleierung des Konstruktionscharakters der Darstellung beinhaltet. Dieser Anschein von Unmittelbarkeit stellt ein wesentliches Charakteristikum authentischer Darstellungen dar, das wiederum dazu beiträgt, ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. 166 Die Authentizität historischer Darstellungen bezieht sich damit auf das Verhältnis der historia rerum gestarum zu den res gestae, und dieses Verhältnis wird mit dem Prädikat der Authentizität versehen, wenn die Erzählung ein glaubwürdiges und anscheinend unvermitteltes Bild der Geschichte präsentiert. „Der Turm“ als Erzählung vom Ende der DDR ist eine authentische Erzählung, wenn das, was sie erzählt, mit dem etablierten Bild vom Ende der DDR in einem glaubhaften Zusammenhang steht, und zugleich dessen filmische Konstruiertheit in den Hintergrund tritt. 167 163 Vgl. Strub, Christian: Trockene Rede über mögliche Ordnungen der Authentizität. In: Berg, Jan/Hügel, Hans-Otto/Kurzenberger, Hajo (Hg.): Authentizität als Darstellung (=Medien und Theater, Bd. 9). Hildesheim 1997. S. 7-17. Hier S. 9. 164 Strub 1997, S. 9 (Hervorhebung im Original); siehe auch Funk/Krämer 2011, S. 11. 165 Schäfer 2015, S. 40. 166 Hieran schließt sich notgedrungen die Frage an, in welchem Verhältnis die vermittelte Unmittelbarkeit authentischer Darstellungen und ihre Glaubwürdigkeit zueinander stehen. Entsprechend der von mir vorgeschlagenen Differenzierung zwischen jenen Qualitäten (2), die authentischen Darstellungen zugesprochen werden, und den Faktoren und Ursachen, die zu dieser Zuschreibung führen (4), betrachte ich das Paradoxon, dass authentische Darstellungen als nicht-künstlich und unvermittelt erscheinen mögen, aus zwei verschiedenen Blickwinkeln. Einerseits kann ihre Unvermitteltheit als Eigenschaft einer authentischen Darstellung gelten, die ihr zugeschrieben wird. Andererseits kann diese Eigenschaft wiederum mit-ursächlich für die ihr zugeschriebene Glaubwürdigkeit sein. In diesem Sinne wäre die Glaubwürdigkeit primäre Qualität historischer, authentischer Darstellungen. Sekundär könnten diese auch als unvermittelt, nicht-künstlich beschrieben werden, wobei dieses sekundäre Merkmal wiederum Faktor für die Zuschreibung von Glaubwürdigkeit wäre. 167 Die Authentizität als Norm historischer Darstellungen ist jüngst als überwunden beschrieben worden: Iris Roebling-Grau und Dirk Rupnow stellen ihrem Tagungsband die

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2.2.3 Personale Authentizität Die beschriebene Unmittelbarkeit findet sich ebenso im Konzept der personalen Authentizität. „Das authentische Selbst ist […] immer mit der Vorstellung der Identität und Autonomie von Personen, d.h. ihrer Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, sowie der Sinnhaftigkeit, Konsistenz und Konsonanz der Existenz verbunden.“168 Auch personale Authentizität betrifft eine „Topographie des Authentischen“169, die eine Unverstelltheit des Individuums thematisiert und somit den äußeren Anschein einer Person mit ihrem „darunterliegenden“ Ich in unmittelbaren, unverstellten Zusammenhang bringt. Ein authentisches Individuum ist damit einerseits unabhängig, selbstbestimmt, selbstverwirklicht, wobei Authentizität eine Kategorie der „Selbstverständigung“ darstellt, andererseits gewährt es einen unverfälschten, unverstellten Einblick in sein Ich, wobei Authentizität hier eine Kategorie der „Selbstdarstellung“170 bildet. Personale oder Subjektauthentizität171 lässt sich wie folgt beschreiben: Leitthese voran, dass die erzählerische Erinnerung an den Holocaust nicht mehr am Ideal der Authentizität gemessen werde, was sich beispielsweise in Produktionen wie Inglourious Basterds zeige. Dessen ungeachtet „erwarten wir nach wie vor, dass eine Darstellung des ‚Holocaust‘ uns einen Zugang zu den Ereignissen eröffnet“, wie sie selbst einräumen. Roebling-Grau, Iris/Rupnow, Dirk: Einleitung. In: Dies. (Hg.): ‚Holocaust‘-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. Paderborn 2015. S. 9-15. Hier S. 12. In dem Zuge stellt sich die Frage, ob das vielzitierte Ende der Zeitzeugenschaft und die Singularität des Holocaust die Konjunkturen der Authentizität als Norm mitbestimmen. Angesichts der medialen Diskurse um den „Turm“ und zahlreiche andere aktuelle Produktionen jedenfalls kann eine Absage an das Ideal des Authentischen nicht nachvollzogen werden. 168 Saupe 2012, S. 6. 169 Lethen 1996, S. 229. 170 Beide Zitate bei Rouvel, Kristof: Zur Unterscheidung der Begriffe Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität. In: Berg, Jan/Hügel, Hans-Otto/Kurzenberger, Hajo (Hg.): Authentizität als Darstellung (=Medien und Theater, Bd. 9). Hildesheim 1997. S. 216-226. Hier S. 216. 171 Beinahe alle Autoren*innen verwenden die Begriffe personale bzw. Subjektauthentizität für „die Zuschreibung ‚authentisch‘ in Bezug auf das Subjekt […] einer medialen Kommunikation“, also etwa einen literarischen Autor (Weixler 2012a, S. 12). Eine Ausnahme stellen Pirker/Rüdiger (2010, v.a. S. 20) dar: Subjektauthentizität bezieht sich hier nicht auf den Adressaten der Zuschreibung authentisch, sondern letztlich auf den Akteur dieser Zuschreibung, den sie als „Subjekt“ bezeichnen. Damit brechen sie jedoch ihre eigene Systematik, da sie demgegenüber mit Objektauthentizität in der Tat den Adressaten der Zuschreibung, authentische Objekte, für die Benennung des Kon-

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„Diese Art von Authentizität bezieht sich auf die Eigenschaft von Menschen, aufrichtig und wahrhaftig zu sein. Was dabei erwartet wird, ist eine Übereinstimmung und Kohärenz zwischen dem, was diese Person ‚äußerlich‘, also für andere wahrnehmbar, darstellt und ausdrückt und dem, was sie ‚innerlich‘, also für sich selbst, ‚tatsächlich‘ ist.“172

Vor allem die personale Authentizität findet derzeit eine weite gesellschaftliche Verbreitung: Wenn etwa Führungskräften in der Wirtschaft als ultimativer Schlüssel zu einer steilen Karriere nahegelegt wird, möglichst authentisch zu sein, wenn ihnen zum Auftritt „ohne Maske“173 geraten wird – dann ist damit nicht mehr und nicht weniger als das Konzept der personalen Authentizität angesprochen. Diese personale Authentizität kann für den „Turm“ insofern relevant sein, als etwa die Schauspieler*innen, die gleichsam häufig selbst Ostdeutsche und damit Zeitzeugen*innen sind, gewissermaßen authentisch eine Rolle verkörpern, die sich zepts heranziehen. Ihr Konzept der Subjektauthentizität betrifft folglich eher den von mir später verhandelten Aspekt der performativen Eigenschaft von Authentizität. – Gleichwohl ist die Verengung Weixlers auf „mediale Kommunikation“ nicht in der Lage, die von mir beschriebene Authentizität von Objekten/Quellen systematisch zu integrieren. Objektauthentizität ist für ihn keine zugeschriebene Eigenschaft von Objekten, sondern bezieht sich auf das Verhältnis von Darstellung und der dargestellten Realität (die das Objekt der Darstellung sei). Weixler bezeichnet die „Referenz auf die ‚Wirklichkeit‘“ als „Objekt-Authentizität“ (S. 14). Ich halte diese Verwendung von Objektauthentizität für missverständlich, die zudem das hier vertretene Konzept von Objektauthentizität ausschließt und damit gerade für historiographische Fragestellungen weniger nutzbar ist. Demgegenüber ist seine Konzeption von Subjekt- und AutorAuthentizität, die andere auch als personale Authentizität fassen, für historiographische Fragestellungen weniger relevant als für in seinem Fall philologische: Ob ein Text authentisch auf eine*n Autor*in zurückzuführen ist, stellt für die Einschätzung historischer Darstellungen allenfalls eine untergeordnete Frage dar. Siehe dazu auch Weixler, Antonius: Post-autoritäre Authentizität. Eine Rezeptionsanalyse von Eric Friedlers Aghet, Helene Hegemanns Axolotl Roadkill und Margaux Fragosos Tiger, Tiger. In: Weixler, Antonius (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (=Narratologia. Contributions to Narrative Theory). Berlin 2012. S. 321-351. Hier S. 328-331. 172 Krämer, Sybille: Zum Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung. Ein Kommentar über Authentizität in fünf Thesen. In: Rössner, Michael/Uhl, Heidemarie (Hg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen. Bielefeld 2012. S. 15-26. Hier S. 16. 173 Kläsgen, Michael: „Ohne Maske“. Online-Artikel auf sueddeutsche.de vom 3. April 2015. Online unter http://www.sueddeutsche.de/karriere/fuehrungskraefte-ohne-maske1.2419589 (16.10.2015).

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zumindest teilweise mit ihrer eigenen Biographie deckt. Der bereits zitierte Artikel zum „Turm“ bezieht sich somit auf dieses Verständnis der Authentizität: „Dass die Hauptdarstellerin Claudia Michelsen wie ihr Filmpartner Liefers selbst in Dresden aufgewachsen ist, macht es ihr, uns, mir einfacher, authentisch und ehrlich zu sein.“174 Die personale Authentizität der Schauspieler*innen liefert damit aus der Sicht der Urheber*innen ein Argument für die Authentizität des Films und begründet so auch die Relevanz dieses Konzepts für den vorliegenden Gegenstand. 2.2.4 Authentizität als Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses Angesichts des oben ausgeführten konstruktiven und narrativen Charakters von Geschichte – und ebenso aufgrund der postmodernen Einsicht in „die Unmöglichkeit einer ‚authentischen‘, unmittelbaren Referenz zwischen ‚Wirklichkeit‘ und medialer Kommunikation“175 – gerät vor allem das Konzept der authentischen Darstellung von Geschichte ins Wanken. Wenn die eine historische Wahrheit nicht existiert und zudem mediale Kommunikation aufgrund ihrer Zeichenhaftigkeit kein bloßes Abbild einer außerkommunikativen Realität sein kann: Wie kann das Konzept der Darstellungsauthentizität dann die Beziehung von Darstellung und Dargestelltem beschreiben? Diese Gedanken können auch auf den historischen Spielfim übertragen werden: Wenn die eine historische Realität vom Ende der DDR überhaupt nicht existiert; wenn jede filmische Darstellung immer eine eigenständige filmische Realität erzeugt, die niemals identisch ist mit dem, was sie darstellen will – wie kann dann der Spielfilm „Der Turm“ als authentisch, das heißt als glaubwürdige, wahrhaftige und zudem noch unmittelbare Erzählung vom Ende der DDR gelten? Noch einmal möchte ich an dieser Stelle einen Zeitungsartikel aus der Berichterstattung um die Erstausstrahlung des „Turms“ zitieren, um das Konzept der Authentizität theoretisch zu fassen: „Viele der Beteiligten an dem rund 6,3 Millionen Euro teuren Film kommen ursprünglich aus Dresden und brachten ihre Erfahrungen mit der Normalität von einst ein. Alle lobten die Authentizität und Genauigkeit. Und wie es eben so ist mit der Kunst: Gedreht wurde vor allem in Görlitz und Pilsen.“176

174 Ide 2015. 175 Weixler 2012a, S. 13. 176 Jähner, Harald: „Ein halbes Gerippe“. Artikel in der Berliner Zeitung. Online unter http://www.berliner-zeitung.de/medien/-der-turm----verfilmung-ein-halbes-gerippe, 10809188,18576202.html (27.7.2015).

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Der Autor des Artikels entlarvt hier scheinbar mit feiner Ironie die Authentizität des „Turms“: Die Schauspieler*innen, der Regisseur und viele andere Beteiligte attestieren der von ihnen erarbeiteten historischen Darstellung Authentizität, und tun dies sogar mit der Autorität der eigenen Zeitzeugenschaft. Sie loben die Glaubwürdigkeit und Genauigkeit der historischen Geschichte – so war es! Doch der Journalist widerspricht, er demaskiert die scheinbare Authentizität des Spielfilms, indem er dem „so war es“ gleichsam ein „so war es wirklich“ entgegenhält. Nicht Dresden sähen wir im Spielfilm, sondern eine Filmkulisse, die eigentlich nur eine Illusion sei – und wenn schon die Kulisse nicht echt quellenauthentische Objekte zeigt, wie könnte dann die historische Erzählung im „Turm“ darstellungsauthentisch sein? Die Authentizität des „Turms“ gerät hier zur bloßen Illusion, der Schauspieler*innen und Zuschauer*innen gleichermaßen erliegen. Entsprechend schlägt sich dies auch in der wissenschaftlichen Terminologie nieder: Begriffe wie „Authentizitäts-Illusion“177 oder „Authentizitätsfiktionen“178 verdeutlichen, dass das Prädikat authentisch für Objekte, Personen und auch für historische Darstellungen keine ihnen innewohnende Eigenschaft, sondern ein zugeschriebenes Attribut ist, das zugleich Ausdruck einer Illusion ist. Sie legen nicht nur nahe, dass sich etwa ein Filmpublikum auch bezüglich der Authentizität des Gesehenen irren kann, sondern stellen gänzlich infrage, dass es so etwas wie Authentizität als absolute Kategorie überhaupt gibt. Vielmehr entsteht Authentizität erst in einem Akt von Wahrnehmung und Zuschreibung. Damit geraten automatisch jene Objekte, Subjekte oder Darstellungen in den Hintergrund, denen Authentizität attestiert wird, und jene Akteure in den Fokus, die ihnen Authentizität zuschreiben. Ich möchte dies erneut an einem Beispiel erläutern 179: Jahr für Jahr werden in unzähligen Städten in Deutschland und anderswo Mittelaltermärkte in die Innenstädte gebaut und als wochenlanges „Spectaculum“ inszeniert.180 Der „Met“, ausgeschenkt in tönernen Krügen, wird dort mit Talern bezahlt. Spanferkel werden über 177 Wirtz 2008b, S. 189. 178 Pirker/Rüdiger 2010; der von ihnen verwendete Begriff geht auf Siegfried J. Schmidt zurück: Lernen, Wissen, Kompetenz, Kultur. Vorschläge zur Bestimmung von vier Unbekannten. Heidelberg 2005. 179 Ein weiteres, sehr oft zitiertes Beispiel ist der „Fall Wilkomirski“, bei dem sich autobiographische Erinnerungen an den Holocaust erst sehr spät als unwahr herausgestellt haben. Siehe Mächler, Stefan: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich 2000. 180 Siehe zur gegenwärtigen kulturellen Verarbeitung des Mittelalters Buck, Thomas Martin/Brauch, Nicola (Hg.): Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis. Münster 2011. In diesem Band dezidiert zum Phänomen der Mittelaltermärkte: Kommer, Sven: MittelalterMärkte zwischen Kommerz und Historie. S. 183-200.

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Feuer gedreht von vollbärtigen Jutebekleideten, und Damen in Samtkleidern verkaufen Steine an die Besucher*innen, denen eine heilsame Wirkung nachgesagt wird. Nicht fehlen dürfen freilich Barden und Musiker, die hölzerne Instrumente zupfen und in ihren Gesängen Geschichten von Maiden und edlen Rittern erzählen. Man kann diese Märkte als historische Darstellungen begreifen, in denen die dort Handelnden und ihre Requisiten als Medien zur Repräsentation eines Mittelalterbildes dienen. Bei einem prüfenden Blick auf diese Darstellungen wird schnell deutlich, dass sich dieses „Mittelalter“ von jenem, das Historiker*innen kennen, doch stark unterscheidet. Wären die Historiker*innen daher nicht eigentlich gefragt, ihr erarbeitetes Wissen heilsam den Darstellern dieses „falschen“ Mittelalterbildes zu überbringen, und müssten sich die Besucher*innen nicht eigentlich aufgrund der zahlreichen historischen „Fehler“ enttäuscht von solch nicht-authentischen Darbietungen abwenden? Jede*r, der*die auf einem solchen Markt einmal versucht hat, sich bis zum*r Verkäufer*in von Speis und Trank zu drängen, weiß, wie kommerziell erfolgreich diese Darstellungen des Mittelalters sind, obwohl sie dieses Zeitalter nicht historisch „korrekt“ darstellen. Dieser Makel scheint jedoch kein Hindernis dafür zu sein, das Mittelalter auf diese ganz andere Art zu zelebrieren. Folglich steht für die Besucher*innen, das heißt die Rezipienten*innen dieser historischen Darstellung, nicht die geschichtswissenschaftlich prüfbare „Korrektheit“ im Zentrum ihres Interesses, ihnen genügt allein die Überzeugung, dass es sich um eine Darstellung des Mittelalters handle – die Illusion, ein authentisches Mittelalter zu sehen. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass es „gar nicht primär um das historische Mittelalter als vergangene Epoche geht“181. Vielmehr werden auf diese Weise Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, etwa „die Kompensation von Modernisierungsverlusten“182 durch eine Flucht in eine zwar ahistorische, aber entschleunigte und heile Welt eines für seine Besucher*innen authentischen Alternativmittelalters. Aus einem statischen Verständnis von Authentizität wird somit ein dynamisches. Authentizität erhält eine performative Komponente. „Authenticity is not about factuality or reality. It is about authority.“183 Sie wird damit zum Resultat in einem kommunikativen Prozess der Zuschreibung: „Dinge werden authentisch gemacht und, solange die Autorität [jener, die diese Dinge/Darstellungen präsentieren

181 Buck, Thomas Martin: Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. In: Buck, Thomas Martin/Brauch, Nicola (Hg.): Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis. Münster 2011. S. 21-54. Hier S. 23. 182 Buck 2011, S. 53. 183 Crew, Spencer R./Sims, James E.: Locating Authenticity: Fragments of a Dialogue. In: Karp, Ivan/Lavine, Steven D. (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics of Museum Display. 5. Aufl. Washington 1996. S. 159-175. Hier S. 163.

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und produzieren, B.B.] unbestritten ist, von einem Publikum, das diese Autorität akzeptiert, auch für authentisch gehalten.“184 Die Bestandteile dieses kommunikativen Prozesses sind also wiederum Urheber*innen und Rezipient*innen sowie ein Objekt oder eine Darstellung, dem beziehungsweise der Authentizität zugeschrieben wird. Das gilt natürlich auch und vor allem für filmische Darstellungen. So ist „die Frage nach der Authentizität eine Frage der Glaubwürdigkeit und nicht der Bildinhalte […]. Authentizität ist hier keine Beschreibungskategorie, die sich über den Abgleich mit einer außerfilmischen Referenz herstellt. Der inszenatorische Status medialer Wirklichkeiten schließt diese Möglichkeit aus. Vielmehr geht es um die Vermittlung von ‚Echtheit‘ oder ‚Glaubwürdigkeit‘, die durch bestimmte filmische Mittel produziert werden kann.“185 Und nicht nur derartige Charakteristika des Films sind entscheidend, sondern vielmehr ein bestimmtes Verhältnis zwischen den gezeigten Bildern sowie der erzählten Story und ihrem Publikum: „[I]t is the familiarity of these images and their accessibility to audiences, rather than their intrinsic relationship to the past, which creates the sense of ‚historical plausibility‘.“186 Zugespitzt bedeutet das nichts anderes, als dass im Zweifel die historisch genaue Darstellung weniger authentisch zu sein vermag, als jene, die die etablierten Images aufgreift, welche über die Geschichte im Umlauf sind. Wenn eine Dokumentation über den Ostfeldzug der Wehrmacht die militärische Bedeutung der Schlacht von Stalingrad geringer einschätzt, als dies dem verbreiteten Mythos vom „Wendepunkt des Krieges“ entspricht – ist die dokumentarische Darstellung dann noch für ihre Zuschauer*innen glaubwürdig? Wenn ein Spielfilm über die DDR auf den plakativen Verweis auf fehlende Südfrüchte verzichtet – kann er dann authentisch sein? Wenn ein Dokudrama ohne die zu Ikonen eingebrannten Bilder von der Bornholmer Brücke oder der Pressekonferenz von Günter Schabowski arbeitet – fehlen dann zur Authentizität der Sendung nicht entscheidende Bausteine? Diese Fragen verdeutlichen, dass das Streben nach Authentizität, die in den letzten zwanzig Jahren zum Gütekriterium Nummer 1 des Geschichtsfernsehens avanciert ist, einen etwas anderen Kern aufweist, als es uns die Nico Hofmanns in ihrer hochprofessionalisierten Maschinerie des History-Marketings weismachen wollen: Nicht immer geht es gerade den großen Produktionen darum, die immer wieder zur Maxime erkorene historische Präzision, Genauigkeit, ja das Abbilden der historischen Realität auf möglichst wissenschaftlicher Grundlage zu erreichen. Vielmehr 184 Lethen 1996, S. 228. 185 Schulte-Eversum, Kristina M.: Zwischen Realität und Fiktion. Dogma 95 als postmoderner Wirklichkeits-Remix? Konstanz 2007. S. 35. 186 Stubbs, Jonathan: Historical Film. A Critical Introduction. New York/London 2013. S. 40.

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müssen die auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Produktionen darauf bedacht sein, statt einer historischen „Wahrheit“ punktgenau das filmisch umzusetzen, was ihr Publikum für historische „Wahrheit“ hält. Die großen TV-Events leben nicht vom Segen der Geschichtswissenschaft – sie leben davon, dass ihnen ein breites Publikum Authentizität zuschreibt, und müssen sich folglich auch an dessen Geschichtsbildern orientieren. In dieser Erweiterung des Konzepts der Authentizität um einen Aspekt der Zuschreibung sehen Wolfgang Funk und Lucia Krämer einen „performative turn“187 des Authentizitätsbegriffs. Aufgegeben wird mit dieser performativen Wende „die Vorstellung von Authentizität als etwas Unhintergehbarem, dem Subjekt/Objekt Wesentlichem (im Sinne von ‚das innerste Wesen dieses Subjekts/Objekts betreffend‘). Authentizität kann, sofern sie überhaupt noch eine Rolle spielt, nur mehr als Resultat spezieller Darbietungsformen des individuellen und künstlerischen Selbstverständnisses aufgefasst werden […].“188

Die eingangs zitierte Weigerung Helmut Lethens, zu bestimmen, welche Objekte, Personen oder Darstellungen authentisch seien, erscheint somit konsequent. An die Stelle des essentiell Authentischen tritt nun der „Effekt des ‚Authentischen‘“189, der als Resultat einer Zuschreibung durch eine*n Rezipienten*in konzeptualisiert werden muss. Der Blick auf die Entwicklung des Begriffs macht diese Wende deutlich: Zunächst diente das Konzept der Authentizität dazu, Objekte als ihrem Wesen nach authentisch beziehungsweise nicht-authentisch zu bezeichnen.190 Authentizität ist in dieser Hinsicht eine absolute Kategorie, die Ausdruck vom Glauben an eine objektive, allzeit gültige Wahrheit ist. Mit der Auflösung dieser Überzeugung – nicht nur im Bereich der Geschichtswissenschaft – entwickelt sich auch das Konzept der Authentizität hin zu einer „relationale[n] Authentizität der Zuschreibung“191. Nicht die Frage, ob ein Objekt oder eine historische Darstellung objektiv authentisch sind, sondern die Frage, ob sie für authentisch gehalten werden, steht damit im Zentrum des Konzepts. Jegliche Vorstellung des essentiell Authentischen kann somit als überwunden gelten.

187 Funk, Wolfgang/Krämer, Lucia: Vorwort: Fiktionen von Wirklichkeit – Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion. In: Dies. (Hg.): Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion. Bielefeld 2011. S. 7-23. Hier S. 10. 188 Funk/Krämer 2011, S. 10. 189 Lethen 1996, S. 209. 190 Vgl. Weixler 2012a, S. 8. 191 Weixler 2012a, S. 8.

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Beim Begriff der Authentizität handelt es sich insofern um einen Krisenbegriff192: In ihm drückt sich eine „Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, nach Ursprünglichkeit, nach Echtheit, nach Wahrhaftigkeit“ 193 aus, die in der Postmoderne scheinbar verloren gegangen sind. Wenn ich davon gesprochen habe, dass eine historische Realität nicht mehr erreichbar ist; wenn zeichenhafte Darstellungen wie das Medium Spielfilm nur in einem unsicheren Verhältnis zu dem stehen, was sie darstellen, dann handelt es sich dabei um eine doppelte Verunsicherung – der historischen Erkenntnis und ihrer Repräsentation – und somit um eine veritable Krise auch populärer Formen historischer Darstellung. Dieser Doppel-Krise begegnet Authentizität als Konzept, als dass sie gewissermaßen für die abhandengekommenen Kategorien der Echtheit und der abbildhaften Darstellung einspringt, und darin liegt meines Erachtens ein wesentlicher Grund für die Hochkonjunktur des Begriffs. Weder ein Objekt noch eine Darstellung sind per se authentisch – „vielmehr muss durch eine kontextuelle Konstruktion oder eine Erzählung eine Zuschreibung des Qualitätsmerkmals ‚authentisch‘ angeregt werden. Damit wird die Frage nach der Wahrheit des Dargestellten durch die nach der Wahrhaftigkeit der Darstellung ersetzt“194. Wenn Wahrhaftigkeit (als die Intention des*der Kommunizierenden, Wahres zu kommunizieren) jedoch für die Kommunikationspartner*innen nur als Glaubwürdigkeit sichtbar wird195, müsste man präzisieren: In der Frage der Authentizität geht es nicht um die Wahrheit des Dargestellten, sondern den Anschein von Wahrhaftigkeit für eine*n Akteur*in, um die durch ihn*sie attestierte Glaubwürdigkeit der Darstellung. Susanne Knaller und Harro Müller sprechen hier von einer rezeptiven Authentizität, und wenngleich ich diese Bezeichnung für missverständlich halte, so betont sie doch die entscheidende These, dass der Effekt des Authentischen insbesondere in der Rezeption einer historischen Darstellung begründet sei. 196 Im Rahmen dieser theoretischen Ausführungen möchte ich nicht den Versuch unternehmen, systematisch die möglichen Faktoren dafür zu erörtern, die ein Objekt oder eine Darstellung in den Augen seiner Rezipienten*innen authentisch wirken lassen. Zu diesem Zwecke wurde bereits mancher Versuch unternommen, der gleichwohl die begriffliche Vielfalt noch steigerte: So führt etwa Rainer Wirtz die Unterscheidung zwischen „innerer“ und „äußerer“ Authentizität ein. Innere Authen192 Vgl. Krämer 2012, S. 25. 193 Knaller/Müller 2006, S. 8. 194 Weixler 2012a, S. 2. 195 Vgl. Rouvel 1997, S. 218. 196 Knaller/Müller 2006, S. 13. Ich verwende den Begriff hier nicht, weil er die Systematik durchbrechen würde: Während sich Quellen-, personale Authentizität und die Authentizität der Darstellung darauf beziehen, wem oder was Authentizität zugeschrieben wird, beschreibt „rezeptive Authentizität“ vielmehr ein Charakteristikum von Authentizität bzw. ihres Zustandekommens.

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tizität beziehe sich auf die Stimmigkeit historischer Darstellungen, gewissermaßen die bruchlose, in sich widerspruchsfreie Erzählung. Äußere Authentizität hingegen wäre als historische Faktentreue zu verstehen.197 Andere fragen filmanalytisch nach jenen Elementen, die Authentizitäts-Effekte in historischen Darstellungen auslösen können, und finden dabei Strategien und Elemente, die eine Darstellung authentisch machen,198 etwa den Einsatz von Zeitzeugen*innen in historischen Dokumentationen. An dieser Stelle ist für die theoretische Darstellung des Konzepts jedoch die Feststellung relevant, dass die Zuschreibung von Authentizität durch die Rezipienten*innen in der Auseinandersetzung mit einer (filmischen) historischen Darstellung und ihren spezifischen Eigenschaften geschieht. Als Zwischenfazit zum Konzept der Authentizität lässt sich mit Blick auf audiovisuelle, fiktionale historische Darstellungen das Folgende festhalten und veranschaulichen:

197 Vgl. Wirtz 2008b, S. 190; darin bildet sich letztlich das Konzept der Triftigkeit ab, einerseits als empirische Triftigkeit, die Wirtz überführt in die äußere Authentizität einer historischen Darstellung im Spielfilm, andererseits (vage) als narrative Triftigkeit, die bei Wirtz der inneren Authentizität entspricht; siehe Rüsen 1997; innere und äußere Wahrscheinlichkeit so auch bei Königer 2015, S. 117. 198 Siehe beispielsweise Zok, Michael: „Selbst das Lagerorchester ist authentisch.“ Strategien der Generierung von Authentizität im polnischen Nachkriegsfilm. Vier Beispiele zur Besatzungs- und Lagerthematik. In: Heinemann, Monika et al. (Hg.): Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch. Konstruktionen historischer Erinnerungen (=Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 121). München 2011. S. 135-159; Möller, Frank: Authentizität und Aura. Überlegungen zu einer Theorie des Zeitzeugen im historischen Dokumentarfilm. In: Güth, Luise et al. (Hg.): Wo bleibt die Aufklärung? Aufklärerische Diskurse in der Postmoderne. Festschrift für Thomas StammKuhlmann (=Historische Mitteilungen – Beihefte, Bd. 84). Stuttgart 2013. S. 273-284; Kreuzer, Stefanie: Künstl(er)i(s)che Strategien von Authentizitätskonstruktion – Beispiele aus Literatur, Film und bildender Kunst. In: Funk, Wolfgang/Krämer, Lucia (Hg.): Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion. Bielefeld 2011. S. 179-204; Schlanstein, Beate: Echt wahr! Annäherungen an das Authentische. In: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008. S. 205-225; Heuer, Christian: „...authentischer als alle vorherigen“: Zum Umgang mit Ego-Dokumenten in der populären Geschichtskultur. In: Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark et al. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 3). Bielefeld 2010. S. 75-91.

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Abbildung 1: Authentizität – Adressaten und zugeschriebene Attribute (eigene Darstellung) Zugeschriebene Attribute (2) Originalität, Echtheit

Glaubwürdigkeit, Unvermitteltheit

Selbstverwirklichtheit, Unverstelltheit

Quellen

Darstellungen der Geschichte

Personen

Adressaten der Zuschreibung (1) Das Konzept der Authentizität ist in geschichts- und erinnerungskulturellen Zusammenhängen von höchster Relevanz, die sich in der enormen Bedeutung von Authentizität sowohl in populären wie auch wissenschaftlichen Diskursen zeigt. Dem steht jedoch eine erhebliche begriffliche Unschärfe gegenüber. Dieser Unschärfe begegne ich hier mit dem Versuch, den Begriff für historische Phänomene und Fragestellungen zu systematisieren. Demnach ist Authentizität zunächst auf aus der Vergangenheit überlieferte Objekte zu beziehen und entspricht damit der Frage nach der Authentizität von Quellen. Die Qualität authentischer Quellen fokussiert hier ihre Überlieferung und umfasst die Bedeutungen echt, original und unverfälscht. Demgegenüber stehen nicht-authentische Quellen, die entsprechend in einem nicht ursprünglichen Zustand überliefert sind, wenngleich die strikte Dichotomie dieser Kategorien generell infrage zu stellen ist. Im Kontext des Spielfilms „Der Turm“ spielt weiterhin auch die Authentizität von Personen eine Rolle. Sie gelten allgemein als authentisch, wenn sie unverstellt erscheinen und damit zwischen ihrem äußeren Auftreten und ihrem Selbst eine Kongruenz besteht. Die personale Authentizität der am Fernsehzweiteiler Beteiligten, die in den von ihnen dargestellten Figuren ein Stück ihrer eigenen Identität einbringen können, scheint für die Auswahl der Schauspieler*innen (oder zumindest für die Marketingstrategie der Produktionsfirma) eine nicht unerhebliche Rolle gespielt zu haben. Indem sie als Zeitzeugen*innen vermeintlich eigene Erlebnisse in die Figuren des Spielfilms einbringen können, können sie offenbar als authentisch gelten. Als zentrale Dimension von Authentizität erweist sich im Kontext des „Turms“ die Authentizität historischer Darstellungen und damit die Frage, ob die historischen Ereignisse in einer glaubhaften Relation zu ihrer Darstellung stehen. Da die generelle Möglichkeit der exakten Abbildung der Realität im Medium Film bestritten wird, erhält authentisch hier Bedeutungsaspekte wie glaubwürdig, wahrhaftig und unmittelbar. Zusätzlich zu diesem positiv konnotierten Relationalitätscharakter

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authentischer Darstellungen umfasst der Begriff der Darstellungsauthentizität die vermittelte Unvermitteltheit, die authentischen Darstellungen den Anschein der nicht-konstruierten, nicht-künstlichen Darstellung verleiht. Ich erachte diese Dimension von der Authentizität der Darstellung in der Tat als zentral für meinen Gegenstand: Sowohl die Authentizität von Quellen als auch die personale Authentizität können durchaus relevant für den „Turm“ sein, jedoch spielt ihre Authentizität in meinen Augen erst sekundär eine Rolle, als dass sie wiederum zur Authentizität der historischen Darstellung beitragen könnten. Insofern erachte ich etwa die Authentizität der Hauptdarsteller*innen Claudia Michelsen und Jan Josef Liefers, beide in Dresden geboren und damit in ihrer Rolle scheinbar besonders authentisch, als Beitrag zur Authentizität der Darstellung der DDR im Film. Die Darstellungsauthentizität ist folglich der Fluchtpunkt aller weiteren Dimensionen von Authentizität, die im Kontext des „Turms“ eine Rolle spielen. Statt diese Dimensionen jedoch als Qualitäten historischer Darstellungen, Objekte und auch Personen und Figuren zu begreifen, stellen sie Zuschreibungen dar, die ein Publikum im Prozess der Rezeption vornimmt. Damit verliert das Attribut authentisch jeglichen essentialistischen Charakter, Authentizität erhält stattdessen eine performative Dimension. Authentizität ist als Effekt zu konzeptualisieren, der das Ergebnis eines Medienrezeptionsprozesses sein kann. 2.2.5 Zwischenfazit: Authentizität und Fiktion Bevor ich diesen Medienrezeptionsprozess genauer thematisieren werde, erscheinen mir – gewissermaßen als theoretisches Innehalten gegenüber dem bisher Gesagten – einige zusammenführende Gedanken sinnvoll, die sich dem Verhältnis der hier dargestellten Themenfelder Fiktion und Authentizität im Kontext historischen Erzählens widmen. Die Notwendigkeit einer solchen Zusammenführung ergibt sich schon daraus, dass sowohl in der Fiktionstheorie als auch in der Auseinandersetzung mit dem Authentischen die Rezipienten*innen eines Mediums, die in dieser Arbeit im Zentrum stehen werden, eine hervorgehobene Stellung einnehmen und sich in Vorstellungen eines „Fiktionsvertrages“ beziehungsweise der Zuschreibung des Authentischen wiederfinden. Daher möchte ich beide Aspekte in eine Beziehung setzen und gegebenenfalls auch voneinander abgrenzen, um so für eine größere terminologische und konzeptionelle Klarheit zu sorgen – auch, um dem möglichen Vorwurf entgegenzutreten, dass Authentizität als weitgehend inhaltsleeres und redundantes Konzept neben bereits bestehende träte. In welchem Verhältnis stehen also Authentizität und Fiktion im Kontext historischen Erzählens im Spielfilm? Zunächst liegt die Versuchung nahe, die authentische historische Erzählung mit der nicht-fiktionalen Erzählung gleichzusetzen. Entsprechend wäre authentisch ein Synonym für nicht-fiktionales, faktuales Erzählen,

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demgegenüber wäre nicht-authentisches Erzählen mit fiktionalem gleichzusetzen. Und tatsächlich treten die Erzähltheoretiker Matías Martínez und Michael Scheffel genau für diese Verwendung des Begriffs ein: „Fiktional steht im Gegensatz zu ‚faktual‘ bzw. ‚authentisch‘ und bezeichnet den pragmatischen Status einer Rede.“199 Mit dieser synonymen Verwendung von authentisch und faktual stellen sie jedoch aus meiner Sicht unter den Vertretern*innen der Narratologie die Ausnahme dar. Im Sinne von Martínez und Scheffel wäre es genau genommen unmöglich, Geschichte in Spielfilmen wie „Der Turm“ als authentisch zu bezeichnen, da es sich zweifellos um fiktionale Erzählungen handelt und sich darin ambivalente Produktions- und Rezeptionshaltungen zeigen. Dementsprechend könnten diese per definitionem nicht authentisch sein. Nach meinen bisherigen Ausführungen wird jedoch deutlich, dass die Verwendung des Attributs authentisch – so, wie sie sich in der öffentlichen und fachwissenschaftlichen Debatte um Geschichte im Spielfilm zeigt – im Zusammenhang mit historischen Darstellungen durchaus, mithin in erster Linie, auf fiktionale Produktionen ausgerichtet ist. Insofern widerspricht die dargestellte Konjunktur des Begriffs dem Vorschlag von Martínez/Scheffel. Der Versuch, den hochkomplexen Begriff der Authentizität für das bereits bestehende Konzept der Non-Fiktionalität zu verwenden, wird damit aus meiner Sicht von der Realität sowohl populärer als auch wissenschaftlicher Diskurse überholt. Wenn Authentizität und Non-Fiktionalität jedoch Unterschiedliches bezeichnen, ergibt sich der dringende Bedarf danach, Authentizität in die existierende Terminologie der Fiktionstheorie einzufügen, speziell in die theoretische Beschreibung fiktionaler historischer Erzählungen in audiovisueller Form. Als ein erstes Argument, das für die Verwendung des Konzepts der Authentizität im Kontext historischer Darstellungen spricht, erscheint mir die stärkere Betonung der Rezeptionsperspektive. Authentisch ist, was als authentisch rezipiert wird, „Authentizität besitzt keine ontologische Qualität“200. Zwar bezeichnen auch Fiktionalität beziehungsweise Faktualität einen Modus der Erzählung, der von einer Rezeptionshaltung und damit durch den oder die Rezipienten*in einer Erzählung mitbestimmt ist. Im Konzept der Authentizität wird jedoch die Rezipienten*innenperspektive zur alleinigen Entscheidungsinstanz erhoben, die eine Darstellung als authentisch charakterisiert, während die fiktionstheoretische Perspektive hierbei auch auf die Urheber*innen einer Erzählung ebenso wie auf den realweltlichen Status des Erzählten blickt. In der radikalen Betonung des*der Rezipienten*in und seines Handelns liegt meines Erachtens ein Mehrwert des Konzepts, der ihm zu einem ersten Alleinstellungsmerkmal verhilft.

199 Martínez/Scheffel 2012, S 15. 200 Weixler 2012b, S. 347.

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Hinzu kommt insbesondere aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, dass Authentizität ungleich vielfältiger und dadurch universeller nutzbar in historischen Kontexten erscheint. Die Fiktionstheorie stellt ein wesentliches begriffliches Instrumentarium der Erzähltheorie bereit, dient jedoch nur eben diesem Zweck: der Beschreibung von Erzählungen. Dieses Element findet sich in der von mir diskutierten Authentizität der Darstellung wieder, die weiteren Dimensionen des Begriffs jedoch sind mit narratologischen Begriffen und Konzepten nicht beschreibbar. Insbesondere aber die in Spielfilmen mit historischer Thematik vorgefundene Gemengelage aus der Authentizität der Darstellung, gegebenenfalls der Quellenauthentizität beispielsweise der Filmausstattung sowie der personalen Authentizität von Figuren und/oder Darstellern*innen lässt sich mit dem Konzept des Authentischen umfassender beschreiben, während die Fiktionstheorie in den beiden letztgenannten Dimensionen keine Hilfe verspricht. Insofern würde eine Beschränkung auf das Konzept der Fiktion zur Verhandlung historischer Audiovisionen eine Engführung darstellen, die der Komplexität des Gegenstands nicht angemessen ist. Anders gewendet: Die Popularität des Konzepts der Authentizität lässt sich auch mit seiner Mehrdimensionalität erklären, die eine umfassende Anwendung auf den Gegenstand audiovisueller Erzählungen von Geschichte ermöglicht. Authentizität weist somit einen erheblichen Mehrwert zur Beschreibung populärer Formen des Umgangs mit Geschichte gegenüber anderen Konzepten auf. Als die entscheidende Facette von Authentizität erachte ich jedoch aus der historiographischen Betrachtung meines Gegenstands die Möglichkeit, verschiedene Modi des Erzählens sowie verschieden weite Begriffe von der Historizität historischer Darstellungen mit dem Begriff des Authentischen zu erfassen. Dies setzt an meinen Ausführungen zur Historizität der Fiktion und zur Historizität des Fiktiven an (siehe Kapitel 2.1.3): Das Konzept der Authentizität erlebt meines Erachtens vor allem deshalb eine derartige Konjunktur, weil es eine doppelte Überschreitung der Grenzen erlaubt, die die Fiktionstheorie hinsichtlich der Fiktionalität der Erzählung und der Fiktivität des Erzählten zieht. Erstens kann Geschichte fiktional und nicht-fiktional erzählt werden, wie ich in der Anwendung der Fiktionstheorie auf historisches Erzählen deutlich gemacht habe. So ist ein Spielfilm wie „Der Turm“ ebenso in der Lage, über die Geschichte zu berichten, wie es etwa eine nicht-fiktionale Fernsehdokumentation über das Ende der DDR oder ein historisches Sachbuch wäre. Der Begriff der Authentizität tritt im Kontext der Erzählsituation historischer Narrationen nun auf, indem er die Historizität der Fiktion erfasst, also erlaubt, eine fiktionale Erzählung als historisch angemessen zu bezeichnen, obwohl die Urheber*innen und Rezipienten*innen lediglich für einen Teil des Erzählten eine beglaubigende Haltung einnehmen. Ein Spielfilm wie der ARD-Zweiteiler kann authentisch Geschichte erzählen, ungeachtet der Beobachtung, dass sich die an der Produktion Beteiligten und die Zuschauer*innen darin einig sind, dass wesentliche Teile der Story erfunden sind. Diese Ambivalenz

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lässt sich in den Begriffen und Konzepten der Erzähltheorie meines Erachtens nur unzureichend erfassen, während Authentizität hier ein für fiktionales historisches Erzählen typisches Phänomen konzeptualisiert. Die Authentizität fiktionaler historischer Darstellungen im Spielfilm stellt eine Quasi-Faktualität dar, die sie trotz ihrer offenbaren Fiktionalität in die Nähe nonfiktionaler Erzählungen rückt. An einem weiteren Beispiel wird dies deutlich: Erst durch den Begriff des Authentischen kann erklärt werden, dass sich an Spielfilmen oftmals Debatten um die historisch „korrekte“ Darstellung der Geschichte entzünden, wie etwa am deutschen Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“. So hat sich der polnische Botschafter im Jahr 2013 öffentlich über die Darstellung der polnischen Widerstandskämpfer in der Produktion der deutschen Ufa Fiction GmbH beschwert und kritisiert, dass die Partisanen der „Armia Krajowa“ vollkommen unausgewogen als Antisemiten dargestellt würden, während die deutsche Schuld am Holocaust in den Hintergrund trete.201 Wenn er in dieser Art Position bezieht, dann ist dies letztlich Ausdruck davon, dass der polnische Botschafter im Hinblick auf die Darstellung des polnischen Widerstands keinen „Fiktionsvertrag“ mit dem Spielfilm und seinen Urhebern*innen einzugehen bereit ist – obwohl ihm doch klar sein müsste, dass es sich um ein fiktionales Medium handelt. Gewiss bewusst ist ihm auch in seiner Kritik, dass wesentliche Teile der Erzählung, etwa die fünf Hauptfiguren, fiktiv sind. Sicher nimmt er für ebendiese Elemente, etwa die konkreten biografischen Stationen der fünf Hauptfiguren, auch eine Rezeptionshaltung ein, die als ein Fiktionsvertrag verstanden werden kann. Den Urheber*innen würde er wohl kaum vorwerfen, dass sich etwa die Karriere der Figur Greta als Musik-Sternchen in der nazideutschen Propagandamaschinerie gar nicht oder ganz anders zugetragen habe. Dementsprechend müsste seine Unterstellung, es handle sich bei dem dargestellten polnischen Widerstandskämpfern um eine falsche Darstellung der historischen Realität, als Verwechslung der „Geschäftsgrundlage“202 charakterisiert werden, weil er in diesem Punkt keine fiktionsadäquate Rezeptionshaltung gegenüber dem Dreiteiler einnimmt. Ganz offenbar jedoch scheinen er und gleichsam der Großteil der in der öffentlichen Debatte Beteiligten eher jene Ansprüche an derartige Produktionen zu stellen, mit denen non-fiktionale Erzählungen konfrontiert sind. Trotz der Fiktivität zentraler Aspekte der Erzählung erwartet das Publikum zumindest in bestimmten Aspekten eine historisch angemessene Darstellung innerhalb der Filmstory. Folgerichtig hat der Produzent Nico Hofmann in seiner Rechtfertigung gegenüber den Kritikern von „Unsere Mütter, unsere Väter“ auch nicht das Argument bemüht, dass 201 Vgl. o.A.: „Polens Botschafter verärgert über ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘“. OnlineArtikel auf ZEIT-online.de vom 28. März 2013. Online unter http://www.zeit. de/politik/deutschland/2013-03/weltkriegsdrama-polen-protest (30.10.2015). 202 Martínez/Scheffel 2012, S. 17.

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es sich um eine audiovisuelle Fiktion handle und die Vorwürfe daher unberechtigt seien, sondern sich stattdessen für die undifferenzierte, mithin historisch verzerrte Darstellung entschuldigt.203 Darin kommt die Erwartung an eine Historizität der Fiktion zum Ausdruck, die letztlich im Konzept der Authentizität der Darstellung aufgeht. Die Authentizität der Darstellung wird so zu einem Konzept, das Spielfilme mit historischer Thematik gleichsam als fiktional und historisch glaubwürdig, also an der historischen Realität orientiert, charakterisieren hilft. Insofern überbrückt Authentizität den Widerspruch, dass die Erzählung ambivalent in der Haltung des non-fiktionalen und des fiktionalen Erzählens produziert und rezipiert wird. Ist eine Geschichte wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ auch fiktional, kann sie gleichwohl authentisch, also eine glaubwürdige Darstellung der Geschichte sein, die an ihrer historischen Richtigkeit gemessen wird. Ich sehe darin eine spezifische „Geschäftsgrundlage“204 der authentischen, fiktionalen historischen Darstellung: Sie entspricht (zumindest in der Theorie) der Rezeptionshaltung, dass das Publikum Spielfilmen wie dem „Turm“ einerseits mit einem Anspruch begegnen kann, eine glaubwürdige, historisch angemessene Darstellung der Geschichte zu sehen (im Sinne non-fiktionalen Erzählens), und andererseits die Überzeugung teilt, dass es sich um ein fiktionales Medium handelt und insofern dieser Anspruch nur in Grenzen gerechtfertigt ist. Dementsprechend lassen sich Vorwürfe an solche Spielfilme, nicht historisch angemessen zu erzählen, keineswegs mit einem bloßen Verweis auf ihre Fiktionalität entkräften.205 Wenn es so einfach wäre, ihren Status der Erzählung zu behaupten und ihnen zugleich jegliche Sorgfaltspflicht der historisch angemessenen Darstellung abzusprechen, würden die populären und wissenschaftlichen Debatten um diese Frage schlicht ohne sinnhafte Grundlage geführt werden. Auf der anderen Seite gehen Ansprüche ins Leere, die eine Story ohne fiktive Elemente fordern. Fiktion darf per se Fiktives erzählen, und die Produzenten*innen historischer Spielfilme nehmen zurecht erzählerische Freiheiten für sich in Anspruch. Die authentische Darstellung von Geschichte im Spielfilm befindet sich zwischen diesen beiden Positionen in einem Modus authentischen Erzählens, der durch seine Ambivalenz zwischen Fiktionalität und Faktualität auf der Ebene der Produktion und Rezeption der Erzählung einhergeht. 206 Dieser Mo-

203 Vgl. Classen 2014, S. 71. 204 Martínez/Scheffel 2012, S. 17. 205 Wie etwa bei Braun 2013, S. 175; Wende 2011, S. 15, S. 169. 206 Diese Ambivalenz kommt auch bei Margit Tröhler zum Ausdruck, die von einem von einem „konstante[n] Oszillieren zwischen Fiktion und Nichtfiktion“ spricht, der das Wesen filmischer Authentizität darstelle: Filmische Authentizität. Mögliche Wirklichkeiten zwischen Fiktion und Dokumentation. In: montage/av 13 (2004), H. 2, S. 149169. Hier S. 152.

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dus ist für die Darstellung von Geschichte im Spielfilm ein zentrales Charakteristikum. Mit dieser „Geschäftsgrundlage“207 historischer Spielfilme steht zweitens die Historizität fiktiver Elemente des Erzählten in enger Verbindung: Obschon Figuren wie etwa die fünf Protagonisten*innen in „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder auch Familie Hoffmann im „Turm“ als fiktive Figuren markiert werden, stellen sie dennoch historisch glaubwürdige, authentische Muster einer Generation im Zweiten Weltkrieg beziehungsweise der ostdeutschen Gesellschaft in den Achtzigerjahren dar. Die Personen selbst sind nicht historisch, sie haben niemals existiert – und doch stellen sie authentisch dar, was Tausende so oder ähnlich erlebt haben. Auf einer abstrakten Ebene sind sie damit historisch, konkret jedoch ahistorisch. Metaphorisch gesprochen liegt ihre Wahrheit nicht auf der Ebene des Filmbildes, sondern auf einer abstrakteren Ebene: Die bildlich identifizierbare Figur im Spielfilm ist nicht wahr – die Erzählung insgesamt strebt diese historische Wahrheit jedoch an. Für eben diesen Zwischenstatus halte ich ebenfalls den Begriff des Authentischen für sinnvoll, ermöglicht er doch, ein wesentliches Paradoxon von Geschichte im Spielfilm zu benennen: die Möglichkeit, dass das Ahistorische manchmal authentischer ist als tatsächlich Historisches. „Der Turm“ vereint wesentliche Erfahrungen, die seine Zuschauer*innen möglicherweise in der DDR selbst gemacht haben, mit historiographischen Einsichten in das letzte Jahrzehnt der DDR in einer Synthese, indem er fiktive Figuren und eine Handlung erschafft, die als historisches Destillat aus tatsächlich Historischem gewonnen werden. Ich habe dies oben bereits an einer Figur des Spielfilms ausgeführt und als narrativen Platzhalter bezeichnet. Die Figur ist in konkretem Sinne nicht historisch – als symbolhafte Personifikation der DDR-Geschichte jedoch möglicherweise authentischer, als dies tatsächlich historische Figuren sein könnten:208 Erst die Fiktion ermöglicht es den Filmemachern*innen, Geschichte pointiert und fokussiert zu erzählen und damit mehr Elemente und Aspekte der Geschichte narrativ anzubieten, als dies die Nacherzählung tatsächlicher Biografien gestattet hätte. Diese fiktiven Elemente der Handlung sind somit authentische Darstellungen 207 Martínez/Scheffel 2012, S. 17. 208 Für die Erzählung des Holocaust, der in vielerlei Hinsicht singulär und mit der DDRGeschichte nicht vergleichbar ist, hat diese These von der authentischeren Fiktion bereits Jorge Semprún aufgestellt – als Antwort auf die Frage, wie das Erlebte denn überhaupt erzählbar sei. Die Zeugnisse der Vergangenheit hinterließen zwar ein historisches Bild, seien aber nicht in der Lage, „die wesentliche Wahrheit“ über den Holocaust auszudrücken. Die literarische, i.e. fiktionale Erzählung hingegen sei genau dazu imstande. Vgl. Dunker, Axel: Zwang zur Fiktion? Schreibweisen über den Holocaust in der Literatur der Gegenwart. In: Roebling-Grau, Iris/Rupnow, Dirk (Hg.): ‚Holocaust‘-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. Paderborn 2015. S. 221-235. Hier S. 222.

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der Geschichte, obwohl sie selbst nicht historisch sind. Authentizität als Begriff bezeichnet in diesem Zusammenhang die Historizität des Fiktiven und überwindet damit die starre Dichotomie der Erzähltheorie, um den Gegenstand der fiktionalen historischen Erzählung besser beschreiben zu können. Ich habe nun den Begriff der Authentizität ausführlich dargestellt und versucht, ihn auf den Gegenstand dieser Arbeit zu fokussieren und nutzbar zu machen. Dafür habe ich erläutert, was authentisch sein kann, welche Qualitäten dem konkret attestiert werden und dass dieser Vorgang als eine Zuschreibung durch die Rezipienten*innen historischer Darstellungen zu verstehen ist. Jene Zuschreibung von Authentizität bildet einen Teil eines Prozesses, der einen Umgang mit dem Medium Spielfilm seitens seines Publikums darstellt. Diesen Prozess werde ich im Folgenden genauer erläutern.

2.3 MEDIENREZEPTION UND MEDIENANEIGNUNG Wie lässt sich der Vorgang des Medienkonsums beschreiben, bei dem Zuschauer*innen einen Spielfilm sehen? Was geschieht also in der konkreten Situation, wenn Rezipienten*innen einen historischen Spielfilm anschauen und sich über dieses Medium der Geschichte zuwenden? Grundsätzlich lässt sich die „Begegnung“ eines*r Zuschauers*in mit einem Spielfilm auf sehr unterschiedliche Arten theoretisch modellieren, und dabei können ebenso unterschiedliche Aspekte dieser Begegnung in den Blick genommen werden. Bereits die begriffliche Festlegung zur Bezeichnung dieses Komplexes stellt eine weitreichende, konzeptionelle Entscheidung dar. Ein nicht geringer Teil der Forscher*innen konzipiert die genannte „Begegnung“ als Mediennutzung und fokussiert sich vor allem auf Prozesse der Medienauswahl. Die Mediennutzungsforschung fragt dabei insbesondere nach Motiven der Mediennutzern*innen zur Mediennutzung, während der eigentliche Akt des Medienkonsums in dieser Perspektive nur eine geringe Rolle spielt.209 In dieser Arbeit steht jedoch die Interaktion mit einem Medium selbst, das heißt konkret der tatsächliche Umgang mit einem Spielfilm und alle währenddessen und danach stattfindenden Prozesse, im Zentrum des Interesses. Wie diese Begegnung zwischen Spielfilm und Zuschauer*in verstanden wird, hat maßgeblichen Einfluss darauf, wie dieser Vorgang zu erforschen ist, das heißt mit welchen methodologischen Paradigmen und mithilfe welcher Methoden er empirisch erfasst werden kann. Die gewählten Methoden bedingen wiederum die 209 Hasebrink, Uwe: Nutzungsforschung. In: Bentele, Günter/Brosius, Hans-Bernd/Jarren, Otfried (Hg.): Öffentliche Kommunikation. Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft (=Studienbücher zur Kommunikations- und Medienwissenschaft). Wiesbaden 2003. S. 101-127. Hier S. 101f.

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aus den Ergebnissen einer empirischen Erforschung des Phänomens abgeleiteten theoretischen Modelle für den Vorgang des Medien- und Spielfilmkonsums. Der Soziologe Alexander Geimer beschreibt die verschiedenen Forschungsansätze der Rezeptionsforschung – etwa die kognitive Filmpsychologie, die systemtheoretische Rezeptionsforschung und die Aneignungsforschung der Cultural Studies210 – als jeweils sehr weit entwickelte und voneinander unabhängige Herangehensweisen an den Forschungsgegenstand. Sie können als ‚Schulen‘ der Rezeptionsforschung verstanden werden, die je eigene theoretische, methodologische und methodische Prämissen entwickelt haben, deren verschiedene Ansätze „nicht ineinander überführbar sind“ und die ihre je eigene „Daseinsberechtigung“ 211 besitzen. In der vorliegenden Arbeit verfolge ich den Ansatz der Cultural Studies für den Blick auf den Umgang jugendlicher Zuschauer*innen mit Geschichte im Medium Spielfilm.212 Wie ich zeigen werde, sind es insbesondere die theoretischen Prämissen dieses Ansatzes zur Beschreibung der Interaktion zwischen Spielfilm und Zuschauer*innen, die für das Interesse dieser Arbeit eine besonders gewinnbringende Basis darstellen können. Die ursprünglich in Großbritannien beheimatete Forschungsrichtung der Cultural Studies hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Aufmerksamkeit in unterschiedlichen Themenbereichen erfahren – nicht zuletzt, weil sie gegenüber etablierten Paradigmen der Medien- und Kommunikationsforschung überzeugende theoretische und methodologische Alternativen entwickeln konnte.213 Die Konzeption der Medienrezeption als Prozess stellt ein zentrales Anliegen der Cultural Studies dar, das unter anderem auf das „Encoding-Decoding-Modell“ des Briten Stuart Hall zurückgeht. Hall entwickelte in Abgrenzung zu der Annahme, dass es sich beim Medienkonsum vorrangig um eine Übertragung einer Botschaft von einem Sender zu einem Empfänger handele, ein alternatives Verständnis des Rezeptionsprozesses: Er begreift die Rezeption eines Spielfilms als ein Medienhandeln der Zuschauer*innen und wendet sich damit gegen Medienwirkungsannahmen, die eine lineare oder auch

210 Siehe dazu den hervorragenden Überblick zur Filmrezeptionsforschung bei Geimer, Alexander: Filmrezeption und Filmaneignung. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie über Praktiken der Rezeption bei Jugendlichen. Wiesbaden 2010. Hier S. 61-101. 211 Beide Zitate Geimer 2010, S. 61. 212 Die Darstellung weiterer möglicher Blickwinkel auf meinen Forschungsgegenstand, etwa den der Kognitionspsychologie, spare ich an dieser Stelle aus. 213 Zur Einführung in diesen „Ansatz“ siehe Hepp, Andreas/Krotz, Friedrich/Thomas, Tanja: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies (=Medien – Kultur – Kommunikation). Wiesbaden 2009. S. 7-17.

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multifaktorielle Wirkung von Medienangeboten auf ihre Nutzer*innen behaupten.214 Grundsätzlich basiere laut Hall jegliche Kommunikation auf einem Prozess der Verständigung, der nur mithilfe sprachlicher oder auch visueller Zeichen möglich sei.215 Ein Spielfilm etwa wird zwar von denen, die an der Produktion beteiligt sind, mit bestimmten gewünschten Bedeutungen versehen. So haben sich die Beteiligten am „Turm“ verschiedene Ziele gesetzt, was sie in ihrem Zweiteiler darzustellen anstrebten, welches Bild der DDR sie zeigen wollten usw. Die ihnen dafür zur Verfügung stehenden Mittel sind jedoch in der von Stuart Hall eingenommenen, semiotischen Perspektive auf Medienkonsum allesamt Zeichen, denen ihre Bedeutung nicht per se innewohne, sondern die arbiträr, das heißt in gewisser Weise willkürlich sei.216 So wie der Buchstabe „A“ keine tatsächliche Ähnlichkeit mit dem Laut [a] hat, sondern deren Bezug zueinander per sprachlicher Konvention geregelt ist, so sehr sind auch weitaus komplexere Zeichen – wie etwa ein knatternder „Trabant“ als audiovisuelles Zeichen im „Turm“ – keineswegs fest an eine bestimmte Bedeutung geknüpft. Während für manche*n Zuschauer*in der lärmende Zweitakter etwa ein Symbol für die technische Zurückgebliebenheit der ostdeutschen Volkswirtschaft darstellt, ist er für andere Zuschauer*innen möglicherweise die symbolhafte Vergegenwärtigung einer persönlichen Erinnerung an die Reise in die Sommerferien oder löst Glücksgefühle über das erste eigene Auto (freilich nach meist jahrelanger Wartezeit) aus. Aufgrund dieser Zeichenhaftigkeit betont Stuart Hall, dass der*die Zuschauer*in eines Spielfilmes, oder weiter gefasst jede*r Rezipient*in eines Mediums, einen eigenständigen, eigenwilligen Akt der Interpretation und Bedeutungskonstruktion vornehme. Er*sie „dekodiert“ das zeichenhafte mediale Kommunikat, den Spielfilm, der von einer Polysemie seiner Zeichen geprägt sei, vor seinem eigenen Wissenshorizont und dem Hintergrund seiner sozialen Umwelt und schreibt ihm so eigenständig Bedeutung zu.217 Diesen Prozess des Dekodierens bezeichnet Hall auch als „reading“ und beschreibt drei mögliche Lesarten (preferred, negotiated, 214 Siehe dazu etwa den sogenannten „dynamisch-transaktionalen Ansatz“: Früh, Werner: Medienwirkungen. Das dynamisch-transaktionale Modell. Theorie und empirische Forschung. Opladen 1991; ders.: Der dynamisch-transaktionale Ansatz als spezifisch kommunikationswissenschaftliches

Theorie-Rahmenkonzept.

In:

Wünsch,

Cars-

ten/Früh, Werner/Gehrau, Volker (Hg.): Integrative Modelle in der Rezeptions- und Wirkungsforschung: Dynamische und transaktionale Perspektiven (Reihe Rezeptionsforschung, Bd. 14). München 2008. S. 29-43. 215 Vgl. Hall, Stuart: Encoding, decoding. In: During, Simon (Hg.): The Cultural Studies Reader. London 1993. S. 90-103. Hier S. 91. 216 Vgl. Hall 1993, S. 96. 217 Vgl. Hall 1993, S. 93.

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oppositional), die in einem spezifischen Verhältnis zu den Intentionen der Produzenten*innen eines Mediums stehen:218 Die Zuschauer*innen können Filme grundsätzlich so „lesen“, wie deren Urheber*innen dies auch vorgesehen haben (preferred reading), sie können sich gegen diese Lesart wenden und eine den eigentlichen Intentionen widersprechende Interpretation eines Spielfilms entwickeln (oppositional reading) oder eine vermittelte Position zwischen diesen beiden Polen entwickeln (negotiated reading). Wenn auch die Starrheit dieses Modells von Rezeption – nicht zuletzt wurde empirisch eine erheblich größere Vielfalt möglicher Lesarten von Medien erforscht – und die darin durchscheinende politisch-ideologische Blickrichtung Kritik erfahren haben219, so kann die Bedeutung dieses Entwurfs, insbesondere das Postulat einer grundlegenden Polysemie eines jeden „Texts“, die verschiedene Lesarten seiner Rezipient*innen erst ermöglicht, für die heutige Medienrezeptionsforschung nicht überschätzt werden. Das Modell wurde weiterentwickelt und vielfach für die empirische Erforschung von Fernseh- und Filmpublika angewendet.220 Es rückt den*die Zuschauer*in eines Spielfilms ins Zentrum eines jeden Medienrezeptionsprozesses, indem es das Medium als Offerte konzipiert, die von ihren Rezipienten*innen sehr individuell rezipiert wird.221 218 Vgl. Hall 1993, S. 99-103. 219 Siehe dazu etwa Röser, Jutta: Rezeption, Aneignung und Domestizierung. In: Hepp, Andreas u.a. (Hg.): Handbuch Cultural Studies und Medienanalyse (=Medien – Kultur – Kommunikation). Wiesbaden 2015. S. 125-135. Hier S. 128; Winter, Rainer: Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess. 2. erw. und überarb. Aufl. Köln 2010. S. 124; Schrøder, Kim Christian: Making sense of audience discourse. Towards a multidimensional model of mass media reception. In: European Journal of Cultural Studies 3 (2000), H. 2, S. 233-258. 220 Hier sind nur exemplarisch zu nennen: Morley, David: The Nationwide Audience. Structure and Decoding (=British Film Institute Television Monograph, Bd. 11). London 1980; Ang, Ien: Watching Dallas. Soap opera and the melodramatic imagination. London 1996; Winter 2010; Hepp, Andreas: Fernsehaneignung und Alltagsgespräche. Fernsehnutzung aus der Perspektive der Cultural Studies. Wiesbaden 1998. 221 An diesem Punkt sind die systemtheoretische Rezeptionsforschung und die Aneignungsforschung der Cultural Studies durchaus miteinander kompatibel: „Medienrezeption lässt sich als die Tätigkeit eines Bewusstseinssystems (Kognition) definieren, welche im Prozess der Rezeption Sinn konstituiert und nicht etwa Sinn (als in einem Text oder Film vorhanden) ermittelt.“ (Drinck, Barbara/Ehrenspeck, Yvonne/Hackenberg Achim u.a.: Von der Medienwirkungsbehauptung zur erziehungswissenschaftlichen Medienrezeptionsforschung. Ein Vorschlag zur Analyse von Filmkommunikaten. In: Medienpädagogik 3 (2001), S. 1-24. Online unter http://www.medienpaed.com/global assets/medienpaed/3/drinck1.pdf (8.10.2015)).

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Friedrich Krotz erweitert dieses Konzept und beschreibt den Prozess der Medienrezeption genauer als eine „Rezeptionskaskade“, nimmt also die zeitliche Ordnung des Prozesses in den Blick: „Rezeption als Prozess findet […] nicht nur im Moment des Wahrnehmens, also des Herstellens von Rezeptionskontexten im aktuellen Moment statt (1. Art), sondern auch in darauf folgenden Momenten, die in ganz unterschiedliche Situationen eingebettet sein können, in denen ganz andere Kontexte zur Interpretation herangezogen werden (2. Art).“222

Demgemäß beginnt und endet die Rezeption eines Spielfilms wie „Der Turm“ keineswegs mit der ersten Szene beziehungsweise dem Abspann, vielmehr stellt der Vorgang des konkreten Anschauens eines Spielfilms lediglich einen Teil des Prozesses der Spielfilmrezeption dar. Krotz veranschaulicht diesen Prozess mit der Metapher des Dialogs: Während und nach dem Anschauen eines Spielfilms befinde sich der*die Zuschauer*in in einem Dialog mit sich selbst und mit seiner*ihrer sozialen Umwelt, der dazu führe, dass er*sie sich sinnhaft das Gesehene erschließe.223 In diesem Verständnis von Rezeption sind also jedes Nachdenken des*der Zuschauers*in und jedes Gespräch über den Film, jede damit zusammenhängende weitere Medienkommunikation (etwa bei der Internet-Recherche über eine*n Schauspieler*in), jede wie auch immer geartete Verarbeitung des Gesehenen konsequent Teil der Spielfilmrezeption selbst. Der „aktive Prozess der Bedeutungsproduktion“224, als der Rezeption in dieser Arbeit verstanden wird, wird in den Cultural Studies im Sinne einer Aneignung beschrieben – ein Konzept, das auf Michel de Certeau zurückgeht. 225 Aneignung wendet sich wie der Rezeptionsbegriff der Cultural Studies explizit gegen Vorstellungen einer „eindimensionalen Wirkung, Gratifikation oder Manipulation“226 der Rezipienten*innen durch ein beliebiges (Massen-)Medium. „Stattdessen wird Aneig222 Krotz, Friedrich: Der Symbolische Interaktionismus und die Kommunikationsforschung. Zum hoffnungsvollen Stand einer schwierigen Beziehung. In: Rössler, Patrick/Hasebrink, Uwe/Jäckel, Michael (Hg.): Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung (=Angewandte Medienforschung. Schriftenreihe des Medien Instituts Ludwigshafen, Bd. 17). München 2001. S. 73-95. Hier S. 88. 223 Vgl. Krotz 2001, S. 89-92. 224 Krönert, Veronika: Michel de Certeau: Alltagsleben, Aneignung und Widerstand. In: Hepp, Andreas u.a. (Hg.): Handbuch Cultural Studies und Medienanalyse (=Medien – Kultur – Kommunikation). Wiesbaden 2015. S. 47-57. Hier S. 49. 225 Siehe Certeau, Michel de: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988. 226 Lingenberg, Swantje: Überblicksartikel: Aneignung und Alltagswelt. In: Hepp, Andreas u.a. (Hg.): Handbuch Cultural Studies und Medienanalyse (=Medien – Kultur – Kommunikation). Wiesbaden 2015. S. 109-115. Hier S. 109.

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nung als produktiver und kulturell umfassend kontextualisierter Prozess des Sichzu-Eigen-Machens verstanden“.227 Andreas Hepp bezeichnet den Prozess der Medienaneignung denn auch als „ein In-Beziehung-Setzen von alltagsweltlichem Diskurs mit dem medialen Diskurs“.228 Damit wird die Aneignung als Prozess der Aushandlung der Rezipienten*innen konzipiert, der zwischen dem medialen Angebot, z.B. einem Spielfilm, und den eigenen Wissensbeständen, Emotionen usw., aber unumstößlich auch und vor allem ihrem sozialen Umfeld stattfindet.229 Die Rezeption beziehungsweise Aneignung eines historischen Spielfilms muss somit als ein Vorgang verstanden werden, der zeitlich und räumlich über den Akt des Sehens deutlich hinausgeht. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der beständig Interpretationen und Re-Interpretationen des Gesehenen hervorbringt, eine unbestimmte Menge an Kommunikationen ausgehend vom und über den „Turm“ mit einschließt und der letztlich nur umfassend zu verstehen ist, wenn die jeweilige Alltagswelt der Zuschauer*innen mitgedacht wird. Die Aneignung der Romanverfilmung „Der Turm“ durch eine*n einzelne*n Zuschauer*in ist damit als sozial verortet zu verstehen – die Entwicklung von Lesarten und die individuelle Zuschreibung von Sinn und Bedeutung erfolgt immer vor dem sozialen und alltagsweltlichen Hintergrund des*der einzelnen Zuschauers*in. Welche Lesart die Rezipienten*innen etwa von der dargestellten Handlung um Christian Hoffmann und seinen Wehrdienst in der NVA entwickelt, ergibt sich damit einerseits aus dem individuellen Wissen und dem sozialen Kontext, in dem sich ein*e Zuschauer*in befindet. Ein ehemaliger Offizier der NVA mag die Szenen möglicherweise als unzulässig dramatisiert wahrnehmen (und damit tatsächlich im Sinne Halls eine oppositionelle Lesart entwickeln), während etwa einer jüngeren Zuschauerin diese Geschichte vollkommen fremd bleiben könnte und erst durch Gespräche innerhalb der Familie für sie Bedeutung erhält. Andererseits ist dieser Prozess der Aneignung als zeitlich offen und prozesshaft zu verstehen. Folglich mag eine erste Lesart des Spielfilms, die ein*e Zuschauer*in unmittelbar während des Ansehens entwickelt hat, in der Folge etwa durch Gespräche mit Arbeitskollegen, Familienmitgliedern oder Freunden maßgeblich modifiziert werden. Auch hierfür sind die spezifischen sozialen Kontexte der Alltagswelt ausschlaggebend, in denen ein*e Rezipient*in über einen historischen Spielfilm kommuniziert.

227 Lingenberg 2015, S. 109f. 228 Hepp 1998, S. 44. 229 Die umfassende Verortung des Prozesses der Medienrezeption in populärkulturelle Diskurse geht zurück auf Fiske, John: Understanding Popular Culture. 2. Aufl. London/New York 1994; siehe dazu auch Mikos, Lothar: John Fiske: Populäre Texte und Diskurs. In: Hepp, Andreas/Krotz, Friedrich/Thomas, Tanja (Hg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies (=Medien – Kultur – Kommunikation). Wiesbaden 2009. S. 156-164.

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Beide Begriffe, Rezeption und Aneignung, werden innerhalb der Cultural Studies bisweilen in recht unscharfer Abgrenzung zueinander verwendet. Dagegen hat etwa Alexander Geimer Position bezogen: „[E]ine Rezeption, die keine Aneignung ist, scheint geradezu undenkbar und beide Begriffe könnten letztlich durch den der Interpretation oder Deutung weitgehend verlustfrei ersetzt werden“.230 Seine Kritik liegt vor allem in der relativen theoretischen Offenheit der Konzepte Rezeption und Aneignung begründet.231 Lothar Mikos und Ralf Bohnsack haben zwei unterschiedliche Vorschläge der Differenzierung der Begriffe Rezeption und Aneignung vorgelegt: Mikos plädiert für eine letztlich zeitliche Unterscheidung beider Begriffe, in der Rezeption die konkrete Zuwendung zu einem Medium in einer Rezeptionssituation meint, während er Aneignung als „Übernahme des Gesehenen in den Alltag“ versteht. 232 In diesem Sinne folgt auf die konkrete Rezeptionssituation eines Spielfilms die individuelle Aneignung durch die Rezipienten*innen. Demgegenüber differenziert Bohnsack anhand einer qualitativen Hierarchisierung von Rezeptionsprozessen: Während es sich bei Rezeption in diesem Sinne um einen bewussten, interpretierenden Medienumgang handle, fuße der Prozess der Aneignung auf der Ähnlichkeit und Anschlussfähigkeit des Gesehenen mit der Alltagswelt der Zuschauer*innen. Aneignung finde demnach nur statt, wenn „die im Bild oder Film dargestellte Praxis also anschlussfähig ist an die Erfahrungsräume der Rezipient(inn)en“ 233, „wenn also beispielsweise in einem Film Situationen einer Alltagspraxis inszeniert werden, in denen sich Handlungsprobleme und Handlungsorientierungen einer Praxis dokumentieren, die Homologien, also strukturelle Ähnlichkeiten, zu selbst erfahrenen Situationen der eigenen Praxis der Rezipient(inn)en aufweisen.“234 Demgemäß wäre durchaus die Rezeption eines Spielfilms ohne Aneignung vorstellbar. Beide Differenzierungsversuche können meines Erachtens insbesondere an den Grenzbereichen zwischen Rezeption und Aneignung problematisiert werden: So wäre zu fragen, inwiefern denn eine konkrete Rezeptionssituation im Sinne Mikos’ nicht ebenso Teil des (Medien-)Alltags sei und ob eine zeitliche Unterscheidung beider Prozesse denn auch empirisch plausibel scheint: Findet die Rezeption eines Spielfilms denn in einer Enklave statt, die die Aneignung in der Alltagswelt aus230 Geimer 2010, S. 96. 231 Vgl. Geimer 2010, S. 99. 232 Mikos, Lothar: Medienhandeln im Alltag – Alltagshandeln mit Medienbezug. In: Hasebrink, Uwe/Mikos, Lothar/Prommer, Elisabeth (Hg.): Mediennutzung in konvergierenden Medienumgebungen (=Reihe Rezeptionsforschung, Bd. 1). München 2004. S. 2140. Hier S. 27. 233 Bohnsack, Ralf: Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode. 2., überarb. Aufl. Opladen/Farmington Hills 2011. S. 129. 234 Bohnsack 2011, S. 130.

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schließt, und werden Spielfilme erst nach der konkreten Rezeptionssituation vor dem Hintergrund der Alltagswelt interpretiert und weiterhin über sie kommuniziert? Spätestens neueste Mediennutzungsphänomene wie etwa die Second-ScreenNutzung235 – beispielsweise das Twittern von Zuschauern*innen während des Ansehens eines Spielfilms – lassen eine derartige Trennung zwischen ‚Rezeptionswelt‘ und Alltagswelt lediglich als analytisch naheliegend, in der Realität der Mediennutzung aber kaum plausibel erscheinen.236 Ebenfalls ist zu fragen, ob denn im Sinne Bohnsacks und Geimers überhaupt eine Rezeption denkbar wäre, die ohne Aneignung vor sich geht, also ohne ein „Verstehen auf einer impliziten und atheoretischen Ebene des Wissens“ 237, die eine Verbindung des Films zur eigenen Alltagswelt beinhaltet. Die Hierarchisierung von Rezeption und Aneignung in diesem Verständnis bedeutet, dass Medien- und Spielfilmkonsum auch ohne den Anschluss an die Alltagsdiskurse der Zuschauer*innen stattfinden könnte. So eingängig diese Vorstellung zunächst auch sein mag, haben gerade die frühen Aneignungsstudien der Cultural Studies gezeigt, dass unterschiedlichste Formate des Fernsehens Anschlussfähigkeit an und Bedeutung für den Alltag ihrer Zuschauer*innen ermöglichen.238 Und letztlich zeigen auch die empirischen Befunde Alexander Geimers selbst, dass die Rezeption eines Spielfilms zwar idealtypisch-analytisch von ihrer (alltagsrelevanten) Aneignung unterschieden werden kann – in der empirischen Realität jedoch zeigt sich gerade eine Amalgamierung von Rezeptions- und Aneignungsprozessen, die diese Trennung künstlich erscheinen lässt. 239 235 Siehe dazu etwa Wegener, Claudia: First Screen – Second Screen – Multiscreen. Neue Parameter der Bewegtbildnutzung. In: Eichner, Susanne/Prommer, Elisabeth (Hg.): Fernsehen: Europäische Perspektiven. Festschrift Prof. Dr. Lothar Mikos (=Alltag, Medien und Kultur, Bd. 16). Konstanz/München 2014. S. 197-212. 236 Insbesondere in der psychologischen Literatur taucht auch der Begriff der Perzeption auf, um den konkreten Vorgang des Ansehens zu bezeichnen. Dieser findet Niederschlag in der Wahrnehmungspsychologie, einer Forschungstradition, die mit den hier vertretenen theoretischen und methodologischen Prämissen nur schwer vereinbar ist. Die Wahrnehmungspsychologie fragt vielmehr nach den Mechanismen, nach denen unsere individuelle Wahrnehmung funktioniert, wie also Umweltreize ganz konkret über die Sinnesorgane aufgenommen und im Gehirn verarbeitet werden (siehe Flade, Antje: Wahrnehmung. In: Asanger, Roland/Wenninger, Gerd (Hg.): Handwörterbuch Psychologie. Weinheim 1999. S. 833-838). Den Begriff der Perzeption aus dieser Tradition zu entnehmen und in einen vollkommen anderen Zusammenhang zu überführen, halte ich für wenig zielführend. 237 Geimer 2010, S. 128. 238 Siehe u.a. Morley 1980; Ang 1996; Winter 2010. 239 Siehe hierzu die Auswertung der Passagen aus dem Interview mit „Mevlüt“ in Geimers Studie (2010), S. 52-54.

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Entgegen dieser zwei Vorschläge, die Begriffe der Rezeption und Aneignung trennscharf voneinander zu unterscheiden, folge ich der etwa von Jutta Röser vertretenen Nutzung beider Begriffe im Verständnis einer „Rezeption als Aneignung“240. In der Tradition der Cultural Studies betonen beide Begriffe den Prozesscharakter, die Aktivität der Rezipienten*innen und die soziale beziehungsweise alltagweltliche Verortung jeder Spielfilm-Zuschauer*innen-Interaktion. Der Schwerpunkt des Begriffs der Rezeption liegt dabei auf der Prozesshaftigkeit und Dauer des Akts der Mediennutzung (im Sinne der „Rezeptionskaskade“ Krotz’), während Aneignung stärker die soziale Verortung dieses Prozesses und die Herstellung eines Passungsverhältnisses zwischen Filmangebot und Alltagswelt des*der Medienrezipienten*innen beschreibt. Insbesondere die Konzeption eines aktiven Zuschauers und die Ablehnung eines Medienwirkungsmodells sind jedoch in beiden Begriffen enthalten, weshalb mir eine scharfe Grenzziehung in diesem Fall als wenig gewinnbringend erscheint. Medienrezeption (im Sinne Mikos) ist losgelöst von der Alltagswelt ebenso wenig denkbar wie Medienrezeption ohne Aneignung (im Sinne Geimers) – ein integriertes Verständnis eines Medienumgangs im Sinne einer „Rezeption als Aneignung“ bildet daher die theoretische Grundlage dieser Arbeit. Im Hinblick auf Medienrezeptionsprozesse, die historische Domänen betreffen, erscheint angesichts des überschaubaren Forschungsstands die hier dargestellte Perspektive der Cultural Studies als nützlich zu ihrer Beschreibung. Zahlreiche Studien, die ganz unterschiedliche Kontexte des Umgangs mit Geschichte in den Medien erforscht haben, legen die Bedeutung der Rezipienten*innen-Aktivität sowie die soziale und alltägliche Verankerung im Akt der Medienrezeption nahe. Dies gilt etwa für Geschichte im Fernsehen und Spielfilmen, die beispielsweise eine wesentliche Bedeutung für die kommunikative Verhandlung des Familiengedächtnisses besitzen.241 Auch in anderen Zusammenhängen wurde die „Dominanz von familiärem Kontext und öffentlicher Geschichtskultur“242 und damit der von den Cultural 240 Röser 2015, S. 125. 241 Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall 2008. Weitere empirische Belege für das Medium Fernsehen/Spielfilm hier in exemplarischer Auswahl: Vgl. Kühberger 2014; ders. (Hg.): Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel „Spielfilm“. Empirische Befunde – Diagnostische Tools – Methodische Hinweise (=Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte – Sozialkunde – Politische Bildung, Bd. 7), Innsbruck 2013; Kölbl, Carlos: Geschichtsbewusstsein im Jugendalter. Grundzüge einer Entwicklungspsychologie historischer Sinnbildung (=Zeit – Sinn – Kultur). Bielefeld 2004; Moller, Sabine: Possibly Confused Viewers? Zur Aneignung von Geschichte im Blockbuster-Kino. In: Dies./Bauer, Matthias (Hg.): Thema: Kulturelle Aneignung von Vergangenheit (=Sonderheft Literatur in Wissenschaft und Unterricht 2013). S. 123-142. 242 Martens 2010, S. 311.

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Studies so deutlich akzentuierte Alltag der Medienrezipienten*innen empirisch belegt. Demgemäß erscheint der Aneignungsbegriff der Cultural Studies als außerordentlich anschlussfähig an Prozesse des „historischen“ Medienumgangs und damit auch für die Rezeption des Fernsehzweiteilers „Der Turm“ durch jugendliche Zuschauer*innen.243 In den bisherigen Bemerkungen zur Filmrezeption und Filmaneignung tauchte immer wieder der Begriff der „Alltagswelt“ auf. Er stellt für die vorgestellten Konzepte der Cultural Studies eine wesentliche Grundlage dar und bedarf daher einer begrifflichen Klärung, auch weil er für die Strukturierung der empirischen Ergebnisse eine wichtige heuristische Kategorie bilden wird. Prägend für das Konzept waren die Phänomenologie Edmund Husserls244, vor allem aber Alfred Schütz’ Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Konstitution und Konstruktion von Wirklichkeit aus der Perspektive eines Individuums zu beschreiben sei. Schütz verwendete in erster Linie die Bezeichnung der „alltäglichen Lebenswelt“, und bereits darin zeigt sich eine gewisse Unschärfe zwischen den Begriffen Alltagswelt und Lebenswelt, die bisweilen Kritik erfahren245 und mittlerweile zu einer fast synonymen Verwendung beider Begriffe geführt hat. Er fasste die „alltägliche Lebenswelt“ als jene Wirklichkeit auf, an der Individuen in „regelmäßiger Wiederkehr“ teilnähmen, die sich vor allem aber dadurch auszeichne, dass sie von ihnen zunächst als gegeben angenommen werde und unhinterfragt bleibe: „Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet.“246 Diese Definition betont die Alltäglichkeit, Selbstverständlichkeit und Problemlosigkeit als ein Wesensmerkmal der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner alltäglichen Lebenswelt, gerade in der Abgrenzung zu anderen Wirklichkeitsbereichen wie der Wissenschaft oder auch dem Traum. Jedoch ist damit noch nichts über die Form gesagt, in der Individuen ihre alltägliche Lebenswelt vorfinden. Von 243 So vertritt auch Moller für ihre empirischen Studien der historischen Spielfilmaneignung diese Position. Siehe Moller, Sabine: Modelle, Medien und Modalitäten der Aneignung von Vergangenheit. In: Dies./Bauer, Matthias (Hg.): Thema: Kulturelle Aneignung von Vergangenheit (=Sonderheft Literatur in Wissenschaft und Unterricht 2013). S. 89-103. 244 Siehe in diesem Zusammenhang Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (=Philosophische Bibliothek, Bd. 641). Hrsg. von Elisabeth Ströker. Hamburg 2012. 245 Vgl. Hepp 1998, S. 76. 246 Alle Zitate: Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1. Frankfurt/M. 1979. S. 25.

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welcher Gestalt sind die Elemente, aus der sich die Alltagswelt jedes*r Einzelnen zusammensetzt? Erneut sei hier auf Schütz verwiesen: „Die alltägliche Wirklichkeit schließt also nicht nur die von mir erfahrene ‚Natur‘, sondern auch die Sozial- und Kulturwelt, in der ich mich befinde, ein. Die Lebenswelt besteht nicht erschöpfend aus den bloß materiellen Gegenständen und Ereignissen, denen ich in meiner Umgebung begegne.“247

Deutlich wird, dass der Alltagswelt nicht nur in einem Modus der Selbstverständlichkeit begegnet wird, sondern dass diese Welt sich neben natürlichen Teilen vor allem aus Elementen zusammensetzt, die von anderen Menschen gemacht oder mitbestimmt sind. Die Erfahrung der Alltagswelt ist für Schütz damit die alltägliche Auseinandersetzung mit natürlichen Aspekten der Wirklichkeit, vor allem aber mit einer „Sozial- und Kulturwelt“, die sich aus der Interaktion mit anderen Individuen und kulturellen Gegebenheiten ergibt. „In ihr verbinden sich materielle Gegenstände, Ereignisse und Handlungen zu einem sinnhaften Ganzen, entsprechend stellt sie ein Bindeglied zwischen individuellem Handeln einerseits und der Gesellschaft andererseits dar.“248 Dieses Verständnis von Alltagswelt scheint sehr abstrakt, lässt sich aber für kommunikations- und medienwissenschaftliche Fragestellungen, auch für den Bereich der Rezeption historischer Medien, der hier von Interesse ist, hervorragend nutzen. So ließen sich audiovisuelle Medien, die sich historischen Themen zuwenden, als ein eigener Wirklichkeitsbereich fassen, „der für die Zuschauer von der Wirklichkeit des Alltags unterscheidbar [ist] und auch unterschieden“249 werde. Gleichwohl, so stellt Andreas Hepp in seiner Anwendung des Konzepts auf die Aneignung des Fernsehens fest, stünde dieser Bereich in einer Relation zur alltäglichen Lebenswelt der Rezipienten*innen,250 sodass dort stattfindende Erlebnisse und Erfahrungen für die Rezeption audiovisueller Medien ebenfalls bedeutsam wären und mit herangezogen würden. Damit rücken alltagsweltliche Interaktionen mit anderen in den Blick, wenn die Rezeption von Medien durch ihre Rezipienten*innen verstanden werden will. In der vorliegenden Arbeit sind dies kommunikative Interaktionen mit anderen Menschen, die für die Rezeption einer historischen Darstellung im Spielfilm und deren Authentifizierung eine gewisse Bedeutung erlangen können. Weiterhin erfahren Produkte der „Kulturwelt“ eine Beachtung, die möglicherweise ebenso relevant werden können – ein Beispiel für ein solches Element der Kulturwelt, das eine geschichtliche 247 Schütz/Luckmann 1979., S. 27. 248 Hepp 1998, S. 76. 249 Hepp 1998, S. 77. 250 Hepp 1998, S. 78.

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Dimension aufweist und menschengemacht in der Lebenswelt von SpielfilmRezipienten*innen auftauchen könnte, wäre eine historische Gedenkstätte. Für einen bestimmten Bereich der alltäglichen Lebenswelt, der für die Rezeption eines historischen Spielfilms ebenso Relevanz besitzt, halte ich ein weiteres Konzept der Kommunikationswissenschaft für nützlich, das ich hier abschließend einführen möchte. Insbesondere integriert es die weiteren Medien, die bei der Rezeption eines Spielfilms herangezogen und konsumiert werden können, konzeptionell zu einem individuellen Medienrepertoire. Insofern schließt es nahtlos an die „alltägliche Lebenswelt“ Alfred Schütz’ an und gereicht zu dessen Systematisierung auf konkreterer Ebene: „Media repertoires are conceived as comprehensive patterns of media use. […] [A media, B.B.] repertoire can be made up by certain portions of use of media in general (e. g., TV, radio, newspapers, Internet etc.), or by certain topics used in any media (e. g., politics, economy, sports, culture etc.), or by certain genres (e. g., drama, comedy, action, romance etc.).“ 251

Wesentlich für dieses Konzept sind vor allem zwei Aspekte: Zunächst wird ein Medienrepertoire durch das Handeln eines Individuums, das heißt vor allem durch eine Auswahl und Hinwendung zu bestimmten Medien individuell konstruiert. Dieses Repertoire besitzt für den*die Mediennutzer*in eine persönliche Bedeutung, die auch in anderen Rezeptionsprozessen zum Tragen kommt: So ist darüber hinaus die Vorstellung maßgeblich, dass es sich beim Konzept des Medienrepertoires um „die Gesamtheit der genutzten Medienangebote (Prinzip der Ganzheitlichkeit) und die wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen innerhalb des Medienrepertoires“ 252 handelt. Insofern liegt die Bedeutung dieses Theorems für den Rezeptionsprozess eines Spielfilms in der Vorstellung, dass die unterschiedlichen Bestandteile eines individuellen Medienrepertoires innerhalb des Prozesses miteinander interagieren und die Spielfilmrezeption damit von der Gesamtheit aller individuell relevanten Medien mitbestimmt wird.

251 Hasebrink, Uwe/Popp, Jutta: Media repertoires as a result of selective media use. A conceptual approach to the analysis of patterns of exposure. In: Communications 31 (2006), Heft 31. S. 369-387. Hier S. 374f. 252 Hasebrink, Uwe/Domeyer, Hanna: Zum Wandel von Informationsrepertoires in konvergierenden Medienumgebungen. In: Hartmann, Maren/Hepp, Andreas (Hg.): Die Mediatisierung der Alltagswelt (=Medien – Kultur – Kommunikation). Wiesbaden 2010. S. 49-64. Hier S. 51.

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2.4 DIE AUTHENTIFIZIERUNG FIKTIONALER HISTORISCHER DARSTELLUNGEN 2.4.1 Ausgewählte Modelle der Authentifizierung Zu Beginn meiner theoretischen Ausführungen habe ich vom Koordinatensystem dieser Arbeit gesprochen, das sich aus dem Gegenstand der Geschichte, ihrer audiovisuellen Erzählung im Spielfilm und dessen Zuschauern*innen konstituiert. Innerhalb dieses Feldes habe ich eingehend fiktionales historisches Erzählen, die Authentizität historischer Darstellungen im Spielfilm sowie die Aneignung von Spielfilmen verhandelt. Auf dieser Grundlage möchte ich zum Abschluss der theoretischen Ausführungen die diskutierten Aspekte zusammenführen und damit einen Prozess der Aneignung fiktionaler historischer Darstellungen im Medium Spielfilm modellieren, der im Begriff der Authentifizierung aufgeht. Das Wort Authentifizierung erscheint zunächst ungewohnt technisch. Authentifizierung stellt eine Wortschöpfung aus dem altgriechischen αὐθεντικóς und dem lateinischen facere (machen, herstellen) dar, die im Alltag vor allem im Bereich der Informationsverarbeitung genutzt wird. Der Begriff der Authentifizierung wird jedoch auch in filmwissenschaftlichen Kontexten verwendet, und er findet sich vor allem in der Schnittmenge von historischer Darstellung und filmischen Medien.253 In diesem Zusammenhang liegen verschiedene Vorschläge vor, wie ein solcher Authentifizierungsprozess modelliert werden kann.254 Ein Großteil der Zugänge blendet die Zuschauer*innen allerdings

253 Siehe unter anderem Königer 2015, z.B. S. 191; Elm, Michael: Hitler in echt. Die Authentifizierung des Führerbildes durch Zeitzeugendarstellungen im Film Der Untergang und der TV-Dokumentation Holokaust. In: Frölich, Margrit/Schneider, Christian/Visarius, Karsten (Hg.): Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus (=edition text + kritik). München 2007. S. 142-155; Bernold, Monika: TeleAuthentifizierung: Fernseh-Familien, Geschlechterordnung und Reality-TV. In: Dorer, Johanna/Geiger, Brigitte (Hg.): Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung. Wiesbaden 2002. S. 216-234; Lang, Heinrich: Der italienische condotiero im Film. Historische Authentifizierung und die verfilmte Kriegsführung des Giovanni dalle Bande Nere. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 15 (2011), H. 2. S. 311-355; Würstlein, Thomas: Strategien der Authentifizierung im Kriegsfilm. Eine Analyse von Spielbergs „Saving Private Ryan“. Saarbrücken 2008; Möller 2013; Funk/Krämer 2011. 254 Neben den hier explizit besprochenen wäre etwa noch Roger Odins Modell einer dokumentarisierenden Lektüre zu nennen, das sich eng an die Fiktionstheorie anlehnt und vor allem den*die Urheber*in einer Erzählung – in Odins Worten der Enunziator – in

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weitgehend aus und geht filmanalytisch vor, indem er nach den filmischen Charakteristika fragt, die eine historische Darstellung authentisch machen. Wie ein Blick auf den Forschungsstand zum Konzept der Authentizität offenbart, steht diese Perspektive dazu in einem gewissen Widerspruch, denkt sie doch die Zuschreibungsabhängigkeit des Authentischen nicht konsequent mit. Weiterhin – und auf diese Vorschläge werde ich etwas genauer eingehen – finden sich Konzepte einer Authentifizierung filmischer Darstellungen, die die Zuschauer*innen zwar integrieren, ihnen jedoch in unterschiedlichem Maße Bedeutung innerhalb dieses Prozesses zuschreiben. So hat Manfred Hattendorf für Dokumentarfilme ein Modell entwickelt, das die Rezeption und damit die Zuschauer*innen als wesentliches Element der Authentifizierung betont.255 Sogenannte „Authentizitätssignale“ und „Authentisierungsstrategien“, die ein Dokumentarfilm an sein Publikum aussende und einsetze, führten im Prozess der Rezeption dazu, dass die Rezipienten*innen einen „Wahrnehmungsvertrag“ der Authentizität mit dem Film eingingen: „Dem Vertragsabschluss entspricht das Zustandekommen eines bewussten oder unbewussten Vertrages zwischen filmischer Instanz und dem Zuschauer, der von dem Authentizitätsversprechen des Filmes aufgrund seiner persuasiv angelegten Authentisierungsstrategien überzeugt worden ist.“256 Dies führe im Ergebnis zur Überzeugung des*der Zuschauers*in, der Film sei authentisch, also „[glaubwürdig, B.B.] in seinem Postulat, eine verlässliche Aussage über einen Vorgang oder ein Ereignis zu machen, das sich so zugetragen hat, wie es im Film dargestellt wird“ 257. Demgegenüber würden filmische Eigenschaften, die einen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Dargestellten hervorrufen würden, diesen Vertragsabschluss verhindern beziehungsweise aufkündigen. Hattendorf identifiziert für den Dokumentarfilm denn auch fünf filmische Strategien, die den*die Zuschauer*in vom Abschluss des Wahrnehmungsvertrages

der Vorstellung der Zuschauer*innen die zentrale Rolle spiele. Ein Film werde dann dokumentarisch gelesen, wenn dieser Enunziator von den Zuschauern*innen als real angenommen werde. Die Parallelen zur doppelten Erzählsituation innerhalb fiktionalen Erzählens sind unübersehbar, wenngleich ich die von mir dargestellten Modelle der Fiktionstheorie für inzwischen differenzierter halte. Siehe Odin, Roger: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre. In: Blümlinger, Christa (Hg.): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien 1990. S. 125-146; dazu auch: Hißnauer, Christian: MöglichkeitsSPIELräume. Fiktion als dokumentarische Methode. Anmerkungen zur Semio-Pragmatik Fiktiver Dokumentationen. In: MEDIENwissenschaft (2010), H. 1. S. 17-28. 255 Vgl. Hattendorf 1999, S. 72-80. 256 Hattendorf 1999, S. 77. 257 Hattendorf 1999, S. 78.

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überzeugen sollten, so zum Beispiel selbstreflexive Verweise und Selbstthematisierungen im Dokumentarfilm.258 Ein spezifisch historischer Fokus spielt in Hattendorfs Arbeit keine Rolle. Zudem wird der hier vorgeschlagene Authentizitäts-Begriff gerade nicht auf die von ihm bearbeiteten dokumentarischen (und damit non-fiktionale), sondern auf fiktionale Erzählungen angewendet. Wenn also die für den Dokumentarfilm entwickelten Konzepte hier nicht weiterführen, so bietet doch das Konzept des Wahrnehmungsvertrags der Authentizität einen produktiven Ansatz, der sich als unmittelbar anschlussfähig an die theoretischen Ausführungen zum Authentizitätsbegriff zeigt. Dieses Modell des Wahrnehmungsprozesses, der zur Zuschreibung von Authentizität führt, versteht ihn durchaus als kommunikative Aktivität des Publikums. Entscheidender Ausgangspunkt dafür sind in Hattendorfs Entwurf jedoch ausschließlich die Charakteristika eines Films, aufgrund der Signale und „persuasiv angelegten Authentisierungsstrategien“259 eines Dokumentarfilms gehe das Publikum diesen Wahrnehmungsvertrag des Authentischen ein. Dem Modell liegt damit ein spezifisches Verständnis medialer Kommunikation zugrunde, das – wenngleich Authentizität erst in der Rezeption „entstehe“ – den*die Zuschauer*in letztlich zur bloßen Wirkfläche filmischer Strategien macht, in der er*sie lediglich auf die filmischen Impulse reagiert. Hier scheint ein Wirkungsmodell der Filmwahrnehmung durch, das die von den Cultural Studies stark betonte Zuschaueraktivität vernachlässigt. Authentifizierung wird hier in einem Verständnis eines Stimulus-ResponseModells, also im Hinblick auf eine etwaige Filmwirkung betrachtet. Die Individualität des*der Zuschauers*in und der Prozesse der Rezeption kommen dabei jedoch nicht zum Tragen, vielmehr handelt es sich um einen stark medienzentrierten Blick auf Prozesse der Authentifizierung. Demgegenüber hat Judith Königer jüngst einen „rezipientenorientierten Authentizitätsbegriff“ entwickelt, der Hattendorfs Modell aufgreift, die Zuschauer*innen als Akteure einer jeden Authentifizierung jedoch stärker betont.260 Sie modelliert dies anhand ihres Gegenstands, des Genres der Filmbiografie historischer Persönlichkeiten, sogenannter „Biopics“: „Die authentische Lesart eines Biopics wird angestoßen beziehungsweise unterbunden durch entsprechende Signale des Films. Diese Signale werden kontextualisiert mithilfe der Wissensbestände“261, über die die Zuschauer*innen verfügten. Königer sieht die Zuschreibung von Authentizität damit als vorrangig kognitiv geprägten Prozess der Filmwahrnehmung und versteht diesen als kognitive Auswertung des Gesehenen im Prozess der Rezeption. Konsequenterweise wendet Judith Königer auch ein Modell der Filmpsychologie an, um 258 Vgl. Hattendorf 1999, S. 312-314. 259 Hattendorf 1999, S. 77. 260 Siehe Königer 2015, S. 125-147. 261 Königer 2015, S. 144.

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die Zuschreibung von Authentizität durch die Zuschauer*innen eines Spielfilms als Prozess zu erläutern. In diesem Modell spielen die Wissensbestände der Rezipienten*innen die entscheidende Rolle: Die vom Film ausgehenden Stimuli würden laut Königer in einem mentalen „Situationsmodell“, einer mentalen Repräsentation des Films, vor dem Hintergrund ihrer Wissensbestände überprüft. Auf dieser Grundlage würde dem Gesehenen gegebenenfalls Authentizität zugeschrieben.262 So könne dieser Abgleich von Filmnarrativ und bestehendem Wissen über die erzählte Geschichte zu Authentizitätseffekten führen, wenn eine Kongruenz zwischen dem Wissen des*der Zuschauers*in und dem Narrativ eines Films bestünde: „Ein Biopic über Vincent van Gogh muss zwangsläufig enttäuschen ohne das Biographem des abgeschnittenen Ohrs.“263 Automatisch geht mit der Anwendung dieses Modells ein Blick vor allem auf die individuell verlaufenden, psychologischen Aspekte der Zuschreibung von Authentizität auf der Grundlage der Kognition einher. In Königers Modell kann Authentifizierung als Begegnung zwischen einem psychologischen „System“ Zuschauer*in und einem „System“ Film verstanden werden. Die Authentifizierung wird hier vor allem als Prozess der Rezeption auf der Grundlage der individuellen Wissensbestände aufgefasst, die die Rezipienten*innen an einen Spielfilm herantragen. Wenn dies auch den Zuschauern*innen die zentrale Rolle im Prozess der Authentifizierung zuschreibt, verlieren jedoch zentrale, von den Cultural Studies stark betonte und von mir dargelegte Aspekte an Bedeutung: Vor allem die Verortung einer jeden Filmwahrnehmung im Alltag ihrer Zuschauer*innen, die damit einhergehenden prozesshaften Rezeptionshandlungen und Kommunikationen sowie die individuell verlaufende Entwicklung von Lesarten von Filmen vor der Folie der sozialen und alltäglichen Lebenswelt der Zuschauer*innen geraten in Königers Modell in den Hintergrund.264 2.4.2 Authentifizierung als Element der Aneignung fiktionaler historischer Darstellungen Als Synthese meiner theoretischen Ausführungen – insbesondere der Auseinandersetzung mit fiktionalem historischen Erzählen, dem Begriff der Authentizität und dem Medienrezeptionsbegriff der Cultural Studies – und zugleich als Weiterent262 Vgl. Königer 2015, S. 144f. 263 Königer 2015, S. 145. 264 Vgl. Bergold, Björn: Rezension zu Königer, Judith: Authentizität in der Filmbiografie. Zur Entwicklung eines rezipientenorientierten Authentizitätsbegriffs. Würzburg 2015. In: H-Soz-Kult, 21.10.2015. Online unter http://www.hsozkult.de/publicationreview/id /rezbuecher-24913 (24.10.2015).

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wicklung der dargestellten Modelle möchte ich die Authentifizierung von historischen Erzählungen im Medium Spielfilm wie folgt definieren und im Anschluss erläutern: Die Authentifizierung einer historischen Erzählung im Spielfilm stellt eine spezifische Aktivität des*der Zuschauers*in im zeitlich unabgeschlossenen Prozess der Rezeption dar. In der Auseinandersetzung mit einer historischen Erzählung in Form eines Spielfilms führt dieser Prozess dazu, dass der*die Zuschauer*in die Darstellung oder Elemente dieser Darstellung als authentisch charakterisiert. Die zugeschriebene Authentizität der Darstellung bildet somit das Ergebnis eines Authentifizierungsprozesses und mithin einen Aspekt jener Lesart, die auf der Grundlage einer individuellen Auseinandersetzung mit einem Spielfilm entwickelt wird. Für diese Zuschreibung greift der*die Zuschauer*in auf Ressourcen zurück, die ihm*ihr zur Authentifizierung der Darstellung zur Verfügung stehen. Dabei ist er*sie insbesondere in seiner*ihrer Alltagswelt verortet, die einen wesentlichen Horizont der Spielfilmaneignung und der Authentifizierung der historischen Erzählung bildet. Das folgende Schema visualisiert mein Modell der Authentifizierung historischer Darstellungen im Spielfilm (Abbildung ). Dabei handelt es sich um Überlegungen, die einen theoretischen Rahmen für die späteren empirischen Erkenntnisse aufspannen sollen:

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Abbildung 2: Authentifizierung fiktionaler, audiovisueller Darstellungen der Geschichte (eigene Darstellung)

Authentifizierungs-Ressourcen

Zuschauer*in

Originalität, Echtheit

historische Glaubwürdigkeit, Unvermitteltheit

Selbstverwirklichtheit, Unverstelltheit

Filmausstattung

Fiktionale, audiovisuelle historische Erzählungen

Schauspieler* innen – Figuren

Zunächst werden in diesem Modell die Zuschauer*innen einer filmischen historischen Erzählung ins Zentrum des Authentifizierungsprozesses gestellt. Sie sind es, die aktiv werden, in einem individuellen Prozess der Rezeption eine Lesart des Spielfilms entwickeln und ihm gegebenenfalls Authentizität zuschreiben. Damit kommt hier ein Verständnis der Medienrezeption zum Tragen, das die Cultural Studies begründet und das ich ausführlich behandelt habe. Die Frage nach der Authentifizierung eines Spielfilms, der Geschichte erzählt, führt zur Frage danach, auf welcher Grundlage dieser von seinen Zuschauern*innen für authentisch gehalten wird. Der analytische Blick fällt damit auf jene Aspekte, die einen Spielfilm in den Augen seiner Zuschauer*innen authentisch machen. Diese möchte ich als Ressourcen der Authentifizierung bezeichnen. Die Ressourcen der Authentifizierung dienen den Rezipienten*innen als Grundlage des Authentifizie-

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rungsprozesses, sie stehen ihnen für die Authentifizierung der Darstellung zur Verfügung. Authentifizierungs-Ressourcen bezeichnen also jene Aspekte, die die Zuschauer*innen zur Authentifizierung des Gesehenen bewusst oder unbewusst heranziehen und die zum Ergebnis einer subjektiv wahrgenommenen und zugeschriebenen Authentizität der Darstellung führen.265 Insofern stellen die Authentifizierungs-Ressourcen die Grundlagen des Prozesses der Authentifizierung dar, auf die ein*e Rezipient*in in der Auseinandersetzung mit einer historischen Darstellung zur Authentifizierung des Gesehenen zugreifen kann. Aus der entgegengesetzten Perspektive sind die Authentifizierungs-Ressourcen folglich alle Argumente, die aus der Sicht eines*r Zuschauers*in für die Authentizität der Darstellung oder ihrer Elemente sprechen. Der Begriff der Authentifizierungs-Ressourcen wird damit in einem maximal weiten Verständnis verwendet, das alles umfasst, was aus der Sicht der Rezipienten*innen einen historischen Spielfilm authentifiziert. Ohne der Darstellung der empirischen Ergebnisse vorwegzugreifen: Wenn einige Fernsehzuschauer*innen des Zweiteilers „Der Turm“ am Tag seiner Ausstrahlung zu dem Schluss gekommen sind, es handle sich um eine authentische Darstellung der DDR-Geschichte, und wenn sie dafür eigene Erlebnisse in der DDR der Achtzigerjahre als Argument ins Feld führen, dann wäre dieses biographische Wissen entsprechend meines Modells als Authentifizierungs-Ressource zu bezeichnen. Es bildet die Grundlage für ihre individuell vorgenommene Zuschreibung, dass es sich um eine authentische historische Darstellung handelt, und stellt damit eine Ressource dieses Prozesses dar. Im Vergleich zu Manfred Hattendorfs Modell wird Authentifizierung damit nicht nur als Resultat filmischer Strategien betrachtet, die den*die Zuschauer*in eine Darstellung als authentisch empfinden lassen. Vielmehr stellt die Authentifizierung das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem Gesehenen vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden und von den Zuschauer*innen genutzten Authentifizierungs-Ressourcen dar. Anders gewendet findet die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen im Film und seinen filmischen Eigenschaften vor dem Hintergrund dieser Authentifizierungs-Ressourcen statt und kann gegebenenfalls zur Zuschreibung von Authentizität führen. Der Prozess der Authentifizierung ist damit in jedem Fall vom*von der Zuschauer*in und seinem oder ihrem Rezeptionshandeln abhängig. Diesem Verständnis von Authentifizierung liegt insofern weniger die Annahme einer Wirkung filmischer Strategien und Mittel, sondern vielmehr ein 265 Den Begriff halte ich vor allem im Vergleich zu möglichen Alternativen für dienlich: Der Terminus Ressource setzt weniger einen Wirkungszusammenhang voraus als etwa der Begriff Faktor der Authentifizierung, er unterstellt weniger eine zielgerichtete Rezeptionshandlung als Strategie, er ist reicher an Bedeutung als bloße Platzhalter wie Aspekt oder Element und ist dennoch sprachlich verständlicher als Wortschöpfungen wie etwa Authentifikator.

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Verständnis der Zuschaueraktivität „als ein aktiver Prozess der Schaffung eigener Bedeutungen“266 zugrunde. Wenn ein*e Zuschauer*in also einer historischen Darstellung im Spielfilm Authentizität zuschreibt, dann aufgrund einer Rezeptionshandlung, die auf der individuellen Auseinandersetzung mit dem Gesehenen beruht und nicht als bloßes Resultat filmischer Strategien zu verstehen ist. Diese können durchaus eine Rolle als Authentifizierungs-Ressource spielen, sind aber nur in einem größeren Kontext zu denken, in dem sie sich einreihen in ein theoretisch endloses Reservoir an individuell bedeutsamen Ressourcen, die keineswegs dem Spielfilm entstammen müssen. Insbesondere jene Elemente der „Rezeptionskaskade“ nach dem Ansehen des Spielfilms bilden wichtige Schritte zur Entwicklung einer individuellen Lesart und gegebenenfalls zur Authentifizierung. Diese kann folglich auch kaum als abgeschlossen bezeichnet werden, vielmehr bieten jegliche Kommunikation und jedes Nachdenken über das Gesehene neuerliche Anlässe zur Überarbeitung dieser Lesart. Für den Prozess der Authentifizierung wiederum bedeutet dies, dass die mögliche Zuschreibung der Authentizität gegenüber einer Spielfilm-History als kontinuierlich und nicht zielgerichtet zu beschreiben ist. Wenn Authentifizierung ein zeitlich nicht abgeschlossener Prozess ist, dann kann sein Ergebnis in der Rezeption eines Spielfilms auch jederzeit seitens der Zuschauer*innen verändert werden. Die Alltagswelt liefert ein vielfältiges Inventar von AuthentifizierungsRessourcen, die durch eine*n Rezipienten*in genutzt werden können, um der historischen Darstellung Glaubwürdigkeit zuzuschreiben. Der dort stattfindenden Kommunikation im Zusammenhang mit einem Spielfilm spreche ich – den theoretischen Maßgaben und empirischen Erkenntnissen der Cultural Studies folgend – eine enorme Relevanz zu, die die Entwicklung einer Lesart maßgeblich mitbestimmt. Gespräche und Mediennutzungen im Zusammenhang mit einem gesehenen Spielfilm stehen folglich ebenso im Zusammenhang mit der vom Publikum zugeschriebenen Authentizität einer historischen Darstellung wie die soziale Verortung eines*r jeden Zuschauers*in, die auch für die nichtkommunikative Verarbeitung des Gesehenen eine wesentliche Rolle spielt. Die Frage, ob die Zuschauer*innen eines Spielfilms die Darstellung für historisch glaubwürdig erachten, hängt damit von einer Auseinandersetzung mit dem Medium ab, die nur vor der Folie der Alltagswelt der Zuschauer*innen zu verstehen ist. Diese Akzentuierung stellt eine Schwerpunktverlagerung und Weiterentwicklung des Authentifizierungsmodells von Judith Königer dar, die die Rezipienten*innen, über ihre individuellen Wissensbestände hinaus, als sozial verortete Medienrezipienten*innen konzipiert und deren Alltagswelt als elementar für den Prozess der Authentifizierung begreift. Damit ist in der Theorie die Grundlage der Authentifizierung definiert, noch nicht hinreichend jedoch, was denn von den Rezipienten*innen als authentisch 266 Lingenberg 2015, S. 109.

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wahrgenommen wird. Der Prozess der Authentifizierung und damit die Zuschreibung von Authentizität kann sich nicht nur auf den rezipierten Spielfilm selbst (dargestellt in der Mitte des Modells), sondern auch auf einzelne Elemente beziehen: Die Authentifizierung von im Film verwendeter Ausstattung im Sinne einer Quellen-Authentizität kann ebenso Ergebnis der Rezeption sein wie die Authentifizierung der Darsteller*innen und Figuren dazu im Sinne personaler Authentizität denkbar ist. Diese beiden Dimensionen von Authentizität im Kontext authentischer historischer Erzählungen im Spielfilm bilden gleichwohl in meinem Modell Authentizitätszuschreibungen sekundärer Art, insofern sie die Authentifizierung der historischen Darstellung aus der Perspektive der Rezipienten*innen letztlich stützen können.267 So kann etwa die Überzeugung der Zuschauer*innen, ein verwendetes Requisit sei echt, die Einschätzung des Spielfilms als authentische Darstellung befördern. Authentifizierung ist folglich als Prozess zu verstehen, der die konzeptionelle, theoretische Vielfalt des Authentizitäts-Begriffs im Kontext filmischer Erzählungen der Geschichte angemessen berücksichtigt. Nimmt man das Lesarten-Konzept der Cultural Studies und damit die Möglichkeit ernst, dass jeder Spielfilm potentiell unendlich vielfältig rezipiert werden kann, dann bedeutet das für die Rezeption historischer Darstellungen, dass ihnen keineswegs zwangsweise Authentizität zugeschrieben werden muss. Vielmehr stellt die Authentifizierung des Gesehenen eine mögliche Rezeptionshandlung dar. Dem liegt die Überlegung zugrunde, den Status einer filmischen Erzählung aus der Perspektive seines Publikums zunächst als neutral im Hinblick auf ihre Authentizität zu erachten: Die erzählte Story eines Spielfilms ist für die Zuschauer*innen am Beginn eines Rezeptionsprozesses idealiter nicht mehr als eben dies – eine Narration. Jede*r Einzelne kann für sich diese Story authentifizieren, das heißt ihr im Prozess der Rezeption Authentizität zuschreiben – denkbar ist aber ebenfalls, dass die Authentifizierung ausbleibt und das Gesehene nicht als glaubwürdige historische Erzählung identifiziert wird.268 Die „objektive“, gar eine professionelle Einschätzung, 267 Aus diesem Grunde habe ich sie im Modell rechts und links angeordnet und mit Pfeilen markiert, dass die Quellen-Authentizität der Ausstattung bzw. die personale Authentizität der Schauspieler*innen ggf. die Authentizität der Darstellung untermauert. 268 Die Identifikation eines Teils des Gesehenen als historisch geht damit mit der Zuschreibung einer historischen Glaubwürdigkeit einher: Nur, wenn ein*e Zuschauer*in mindestens einem Teil des Gesehenen dessen historische Adäquatheit glaubt, handelt es sich für ihn*sie letztlich um eine zumindest teilweise historische Erzählung. Das Beispiel „Inglourious Basterds“ kann hier vor allem wegen seiner Phantastik zum Verständnis beitragen: Insgesamt ist nur schwer vorstellbar, dass die Erzählung im Ganzen von einem*r Zuschauer*in als historisch glaubwürdig beschrieben wird. Gleichwohl enthält der Film aber freilich Elemente, die in der Tat authentisch sind – so zeigt der Film etwa Hakenkreuzfahnen, deren Symbolik selbstverständlich als historisch erkannt

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ob die erzählte Geschichte eines bestimmten Films historisch glaubwürdig ist, spielt für den Prozess der Authentifizierung durch eine*n Zuschauer*in damit zunächst keine Rolle. Vielmehr führt erst der Prozess der Authentifizierung, genauer der Authentifizierung zumindest eines Teils des Gesehenen, zu der Zuschreibung, dass es sich bei der erzählten Story tatsächlich auch um Geschichte handle. Aus dieser Perspektive stellt die Story eines Spielfilms auch erst Geschichte dar, wenn diese Story durch ihre Zuschauer*innen zumindest in Teilen authentifiziert wurde. Die Authentifizierung fiktionaler historischer Darstellungen im Spielfilm, aber auch in anderen medialen Formen, bildet damit eine conditio sine qua non der historischen Medienaneignung. Anders gewendet handelt es sich bei der Rezeption eines Spielfilms, bei der keine Authentifizierung stattfindet, in dieser rezipientenorientierten Perspektive auch nicht um die Rezeption eines historischen Mediums. Die Rezeption eines Spielfilms ohne den Prozess der Authentifizierung mag dementsprechend die Rezeption einer audiovisuell erzählten Story sein, zu History wird sie in der Perspektive eines*r Zuschauers*in jedoch unumgänglich erst durch die Authentifizierung des Gesehenen. Damit geht eine scheinbare Beliebigkeit im Status einer Erzählung einher, die ein erhebliches provokatorisches Potential aufweisen mag. Sie entzieht einer Darstellung konsequent einen objektiv feststehenden Status des Authentischen. Keinesfalls möchte ich jedoch bestreiten, dass es auch für historische Erzählungen Kriterien gibt, die Historiker*innen ein Urteil erlauben, ob die Erzählung angemessen und glaubwürdig sei. Vielmehr würde ich dem Vorwurf der Beliebigkeit historischen Erzählens entgegenhalten, dass auch die professionelle Einschätzung, inwiefern eine Erzählung historisch angemessen und glaubwürdig sei, letztlich ein subjektiver Akt der Authentifizierung ist. Die Authentifizierung einer Erzählung, die sie zu einer historisch glaubwürdigen macht, ist insofern keineswegs dem Laien in der Rezeption medialer Repräsentationen der Geschichte vorbehalten, sondern kann als Modell für jeglichen Umgang mit der fiktionalen Darstellung der Historie angenommen werden. Auch Historiker*innen, die die Frage stellen, ob ein Spielfilm historisch angemessen ist, vollziehen damit selbst – als professionelle Rezipienten*innen und insofern aufgrund eines fundierten Urteils – den Prozess der Authentifizierung. Systematisch erscheint mir die Authentifizierung eines Spielfilms durch Historiker*innen oder Laien jedoch als ähnlich, auch wenn jene freilich andere Kriterien heranziehen, um das Gesehene gegebenenfalls zu authentifizieren. Wie lässt sich dieses Modell der Authentifizierung nun auf das dieser Arbeit zugrundeliegende Filmbeispiel „Der Turm“ und seine Rezeption übertragen? wird, auch wenn diese in einer ahistorischen, kontrafaktischen Erzählung Verwendung finden. Insofern werden diese Symbole authentifiziert, wenngleich dies nicht mit der Authentifizierung der gesamten Erzählung einhergeht.

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Zunächst schätze ich die Frage, ob es sich bei der Erzählung des ARDZweiteilers über die fiktive Familie Hoffmann oder andere Elementen der Story um „echte Geschichte“269 handle, als für die meisten Zuschauer*innen ganz selbstverständlich relevant ein. Wenn das Fernsehen ein Medium der kollektiven Erinnerungskultur darstellt, dann gilt: „Glaubwürdigkeit steht am Anfang allen Erinnerns.“270 Die Frage nach dem Status des Erzählten stellt sich damit bewusst oder unbewusst allen Fernsehzuschauern*innen. Folglich ist die eventuelle Authentifizierung des Dargestellten sogleich auch Teil ihrer Rezeption des Spielfilms. Indem die Zuschauer*innen eine eigene Lesart, ein individuelles Verständnis des Spielfilms entwickeln und ein Passungsverhältnis zwischen dem Gesehenen und ihrer eigenen Alltagswelt herstellen, begegnen sie auch der Frage nach der Authentizität des Dargestellten. Aus der Perspektive der Zuschauer*innen geht es dabei um die Frage, ob es sich beim „Turm“ um eine glaubwürdige Darstellung der DDR-Geschichte handelt. Stellen etwa die im Spielfilm dargestellten Monate, in denen hunderttausende DDRBürger gegen die SED und für Freiheit und Einheit auf den Straßen der DDR protestierten, für die Zuschauer*innen ein glaubwürdiges, authentisches Bild der Geschichte dar? Werden bestimmte Teile der Filmausstattung, etwa die Uniformen der NVA-Offiziere oder die Kulissen, von ihnen für originale, echt authentische Objekte gehalten? Erzählt der „Der Turm“ eine Story, die eine Familie in der DDR so hätte erleben können? Der Spielfilm bietet als enorm vieldeutiges Medium potentiell eine unendliche Menge an möglichen Lesarten, und das gilt freilich auch für den Teilaspekt seiner Authentizität: Die Frage, ob es sich bei der erzählten Geschichte um eine historisch glaubwürdige Darstellung handelt, kann potentiell vollkommen unterschiedlich beantwortet werden. Die Einschätzung der Zuschauer*innen, ob der Spielfilm authentisch erzählt, fußt auf Authentifizierungs-Ressourcen, die den Zuschauer*innen zur Verfügung stehen. Für die filmische Erzählung zeitgeschichtlicher Stoffe wie im Spielfilm „Der Turm“ stellt die Alltagswelt mutmaßlich einen eminent wichtigen und vielfältigen Referenzhorizont dar. So dürfte es keine unerhebliche Rolle spielen, inwiefern sich die Zuschauer*innen die im Film erzählte Geschichte, die im letzten Jahrzehnt der DDR spielt, in einer ost- oder westdeutschen Alltagswelt aneignen. Die im Verlauf der Rezeption stattfindenden, möglichen Gespräche über den Film etwa könnten mit Gesprächspartner*innen, die das Ende der DDR überwiegend jenseits des „Antifaschistischen Schutzwalls“ erlebt haben, ganz anders verlaufen, als etwa bei Zuschauern*innen, die mit ehemaligen Bürgern*innen der DDR über den Film sprechen oder gar eigene Erfahrungen als Zeitzeugen*innen gemacht haben. Viele weitere Bestandteile der Alltagswelt sind denkbar, die die Frage nach der Glaub269 Pirker/Rüdiger 2010. 270 Kramp 2011, S. 360.

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würdigkeit der historischen Erzählung mitbeeinflussen, etwa die Nutzung weiterer Medien im Zusammenhang mit der Geschichte des „Turms“. All diese alltagsweltlichen Authentifizierungs-Ressourcen können letztlich Argumente für oder gegen die Authentizität des Zweiteilers oder einzelner Teile daraus im Prozess der Authentifizierung darstellen. Einige wenige empirische Erkenntnisse aus sehr unterschiedlichen Disziplinen liegen derzeit vor, die ersten Aufschluss über den Prozess der Authentifizierung geben können. Wenn sie auch überwiegend nicht Geschichte im Spielfilm behandeln, können sie dennoch indirekt für die empirische Analyse erste Anhaltspunkte liefern. Vor allem im Kontext des Museumsbesuches scheint die Erfahrung von Authentizität ein zentrales Bedürfnis der Besucher*innen zu sein.271 Eine Befragung von Museumsbesuchern*innen etwa hat die Bedeutung der Kategorie Authentizität für diese Rezipienten*innengruppe überdeutlich herausgestellt: 60 Prozent der Befragten „raised authenticity as an imperative for museums.“272 Insbesondere das Wissen der Besucher*innen, dass die im Museum bereitgestellten Informationen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhten, stellte eine wesentliche AuthentifizierungsRessource in dieser Befragung dar. Darüber hinaus erkennt Saskia Böcking in ihrer Studie zum Umgang mit fiktionalen Filmen, dass erst erhebliche Brüche zwischen Darstellung und Realität, das heißt sehr unrealistische, teils phantastische Erzählungen dazu führen, dass ihre Zuschauer*innen deren Realismus infrage stellten. Folglich geht sie von einer grundlegenden Haltung der Toleranz gegenüber fiktionalen Erzählungen aus.273 Entsprechend wäre zu vermuten, dass die Authentizität historischer Darstellungen zunächst wohlwollend angenommen würde und erst erhebliche Widersprüche mit dem individuellen, historischen Wissenshorizont der Zuschauer*innen Zweifel daran aufkommen ließen. Weiterhin ergibt sich aus Böckings Studie die Annahme, dass die Konsistenz von filmischen Erzählungen die Zuschreibung der Authentizität befördere. Erst starke Brüche in der Erzählung – den Begriff der „inneren Authentizi-

271 Vgl. Cameron, Catherin M./Gatewood, John B.: Excursions into the Un-Remembered Past: What People Want from Visits to Historical Sites. In: The Public Historian 22 (2000), H. 3. S. 107-127. Hier u.a. S. 123. 272 Reachadvisors: Authenticity and Museums. In: Museum Audience Insight: Audience research, trends, observations from Reach Advisors and friends vom 7. April 2008. Online unter http://reachadvisors.typepad.com/museum_audience_insight/2008/04/authen ticity-an.html (18.11.2015). 273 Böcking, Saskia: Grenzen der Fiktion? Von Suspension of Disbelief zu einer Toleranztheorie der Filmrezeption (=Unterhaltungsforschung, Bd. 5). Köln 2008. S. 305.

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tät“274 habe ich bereits behandelt – hinderten Zuschauer*innen an einer Zuschreibung der Glaubwürdigkeit gegenüber einer filmischen Erzählung. 275 Die Frage, inwieweit der Abgleich zwischen individuellen Wissensbeständen mit der Darstellung eines Films die wahrgenommene Authentizität beeinflusse, ist verschiedentlich in psychologischen Studien bearbeitet worden. Generell kann die Bedeutung dieses Aspekts wohl nicht überschätzt werden: Dass die Zuschauer*innen von fiktionalen Spielfilmen über ein stabiles Wissensreservoir verfügen, mit dem sie „objektiv“ die Authentizität der Darstellung prüfen könnten, scheint als Annahme bereits widerlegt. Vielmehr werden auch „falsche“ Informationen aus fiktionalen Erzählungen gelernt und damit in das individuelle Wissen über die Welt integriert.276 Diese Erkenntnis ist mehrfach belegt worden und bedeutet für die Frage nach der Authentizität einer filmischen historischen Erzählung, dass möglicherweise eher die individuellen Wissensbestände an das Gesehene angepasst werden, statt einer historischen Darstellung ihre Authentizität abzusprechen. Der Geschichtsdidaktiker Christoph Kühberger hat in seiner Untersuchung, die sich mit dem Umgang von Schülern*innen mit Geschichte im Spielfilm beschäftigte, Ähnliches herausgefunden: Anhand eines Fallbeispiels stellte er fest, „dass eine möglichst authentisch wirkende Umgebung und deren Unterfütterung mit einigen weit verbreiteten Einzelaspekten (Jahreszahl, Namen o.ä.) offenbar ausreichen, um bei dem Schüler, aber vermutlich auch bei Zuschauern*innen ganz generell nicht nur eine Stimmigkeit zu erreichen, sondern auch die Vorstellung, dass das Gezeigte der Vergangenheit (weitestgehend) entspricht.“277 Somit deuten einige Ergebnisse darauf hin, dass Spielfilmen per se mit einer authentifizierungsfreundlichen Haltung begegnet wird. An dieser Stelle verspricht die Diskussion potentiell denkbarer Authentifizierungs-Ressourcen oder die theoretische Mutmaßung darüber, wie der Prozess der Authentifizierung sich im Verlauf der Spielfilmrezeption vollzieht, keine weiteren Erkenntnisse. Angesichts des überschaubaren Forschungsstands wird vielmehr die unbedingte Notwendigkeit zur empirischen Erforschung dieses Feldes offensicht274 Wirtz 2008b. 275 Böcking 2008, S. 306. Ebenso bei Hall, Alice: Reading Realism: Audiences’ Evaluations of the Reality of Media Texts. In: Journal of Communication 53 (2003), H. 4. S. 624-641. Hier S. 636f. 276 Vgl. Marsh, Elizabeth J./Meade, Michelle L./Roediger, Henry L.: Learning facts from fiction. In: Journal of Memory and Language 49 (2003), H. 4. S. 519-536. 277 Kühberger, Christoph: Fallbeispiele. In: Ders. (Hg.): Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel „Spielfilm“. Empirische Befunde – Diagnostische Tools – Methodische Hinweise (=Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte – Sozialkunde – Politische Bildung, Bd. 7). Innsbruck 2013. S. 102-110. Hier S. 102.

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lich und von zahlreichen Autoren*innen betont.278 Im Folgenden möchte ich ein methodisches Design vorstellen, um die drei wesentlichen Aspekte der historischen Medienaneignung und der Authentifizierung historischer Darstellungen zu verstehen: Erstens gilt es, zu erfahren, inwiefern und mit welchem Ausgang Zuschauer*innen fiktionale historische Erzählungen für authentisch halten. Dies nimmt also die möglichen Resultate der Rezeption historischer Erzählungen im Spielfilm und der Authentifizierungs-Prozesse in den Blick. Zweitens muss die Frage beantwortet werden, auf welcher Grundlage es zu dieser Zuschreibung der Authentizität kommt, und dies ist die Frage nach den Authentifizierungs-Ressourcen, die für die Authentifizierung von im Spielfilm erzählter Geschichte bedeutsam sind. Drittens gilt es, den Versuch zu unternehmen, den Prozess der Authentizitäts-Zuschreibung selbst genauer verstehen und beschreiben zu können. Nur mit diesem Dreischritt lässt sich letztlich umfassend verstehen, wie in den Augen der Zuschauer*innen aus Geschichten im Spielfilm Geschichte wird.

278 Auch bei Hattendorf wird dieses Desiderat betont: siehe Hattendorf 1999, S. 68. Die von Weixler (2012b) vorgelegten „Rezeptionsanalysen“, die sich auf Kritiken des Feuilletons beziehen und diese auf Fragen nach der Authentizität ausgewählter Erzählungen hin analysieren, können in dieser Hinsicht nur ein erster Ansatz sein. Mutmaßlich verorten sich diese „Rezeptionen“, selbst Teil eines hochkulturellen Diskurses, eher nahe an der wissenschaftlichen Verhandlung des Authentischen, als dass sie im Sinne einer Rezeptionsforschung einzelne Zuschauer*innen in den empirischen Blick nehmen. Im ebenfalls von Weixler herausgegebenen Sammelband findet sich gar ein ganzer Abschnitt zur „Rezeption von Authentizität“ – ohne jedoch die Rezipienten*innen authentischer Erzählungen tatsächlich empirisch zu betrachten. Siehe Weixler, Antonius (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (=Narratologia. Contributions to Narrative Theory). Berlin 2012. S. 239-351.

3

Methodisches Vorgehen

Das methodische Design der Arbeit sieht sich der Aufgabe gegenüber, die in der Theorie beschriebenen Authentifizierungsprozesse sichtbar werden zu lassen, die in den Augen von Zuschauern*innen aus einer Filmstory eine authentische Darstellung von Geschichte machen. Die zentrale Schwierigkeit im Erreichen dieses Ziels besteht darin, dass die Rezeption und Aneignung von Spielfilmen und insbesondere die Authentifizierung des Gesehenen nicht unmittelbar der forschenden Beobachtung zugänglich sind. Weder ist sichtbar, wie Zuschauer*innen einen Film für sich deuten und ihn in eine Beziehung mit sich und ihrer Alltagswelt setzen, noch sind die spezifischen Aspekte der Authentizität und Authentifizierung des Gesehenen ohne Weiteres von ihnen zu verbalisieren und somit im Gespräch mit ihnen zu erfahren. Welche Methoden der Datenerhebung, Datenaufbereitung und Datenauswertung stehen also zu diesem Zweck zur Verfügung, um jugendliche Zuschauer*innen und ihre Aneignung fiktionaler, historischer Audiovisionen empirisch erforschen zu können? Das folgende Kapitel stellt den Forschungsprozess transparent dar und begründet und plausibilisiert das Konzept und die Ideen zum methodischen Vorgehen. Die Geschichtswissenschaft und die Geschichtsdidaktik stehen – wollen sie selbst die Nutzer*innen historischer Medien empirisch erforschen, statt theoretisch zu arbeiten oder im Sinne einer Pragmatik historische Lernprozesse zu gestalten 1 – dem Problem gegenüber, dass sie sich zu diesem Zweck der Methoden anderer wissenschaftlicher Disziplinen bedienen müssen. Methodisch entstehen daraus große Herausforderungen an Forscher*innen, die sich an der interdisziplinären Schnittstelle zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik auf der einen und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Fachgebieten auf der anderen Seite bewegen. Diese Herausforderungen mögen eine Ursache für das immer wieder beklagte Em-

1

Vgl. die klassische Aufteilung des Fachgebietes Geschichtsdidaktik in Rohlfes, Joachim: Theoretiker, Praktiker, Empiriker. Missverständnisse, Vorwürfe, Dissonanzen unter Geschichtsdidaktikern. In: GWU 47 (1996), H. 2, S. 98-110. Hier S. 101.

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piriedefizit der Geschichtsdidaktik darstellen.2 Jedoch können dem insbesondere in den letzten Jahren mehr und mehr Arbeiten entgegengehalten werden, die sich der medialen Auseinandersetzung des Individuums mit Geschichte empirisch genähert und zu diesem Zweck eine Vielfalt sozialwissenschaftlicher Instrumente genutzt haben.3 So zeigt sich eine erkennbare Konjunktur empirischer Arbeiten innerhalb der Disziplin. Dabei werden sowohl quantitative als auch qualitative Ansätze verfolgt. Wolfgang Hasberg stellt in neueren Arbeiten der Geschichtsdidaktik eine zunehmende Tendenz zur Anwendung qualitativer Verfahren fest, nicht zuletzt, weil diese letztlich in hermeneutischer Manier Erkenntnisse generierten und somit den Traditionen des eigenen Fachs nahe lägen.4 Unter den qualitativen Verfahren scheint sich mithin vor allem die dokumentarische Methode in der Tradition Ralf Bohnsacks5 einiger Popularität zu erfreuen, die in diversen geschichtsdidaktischen Forschungsprojekten angewandt wird.6 Dennoch konstatieren manche Vertreter*innen der Disziplin, dass sich die empirische Geschichtsdidaktik nach wie vor schwer tue, ein eigenes Methodenbewusstsein zu entwickeln.7 Ein Grund dafür mag wohl vor allem in der methodischen 2

Vgl. u.a. Lange, Kristina: Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen? Ein Beitrag zur geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung. Berlin 2011, S. 15; Beilner 2003, S. 285f.

3

Siehe dazu: Thünemann, Holger/Zülsdorf-Kersting, Meik (Hg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung (=Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 5). Schwalbach/Taunus 2016; Hodel, Jan/Waldis, Monika/Ziegler, Béatrice (Hg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 12. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 12“ (=Geschichtsdidaktik heute, Bd. 4). Bern 2013; Hodel, Jan/Ziegler, Béatrice (Hg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 09“ (=Geschichtsdidaktik heute, Bd. 3). Bern 2011; Handro, Saskia/Schönemann, Bernd (Hg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung (=Zeitgeschichte, Zeitverständnis, Bd. 10). Münster 2002.

4

Vgl. Hasberg, Wolfgang: Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik. In: Arand, Tobias/Seidenfuß, Manfred (Hg.): Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014, S. 15-62. Hier S. 35.

5

Siehe Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 9., überarb. und erw. Aufl. Opladen 2014.

6

Siehe exemplarisch: Lange 2011; Martens 2010; explizit methodologisch Kölbl, Carlos: Zum Nutzen der dokumentarischen Methode für die Hypothesen- und Theoriebildung in der Geschichtsbewusstseinsforschung. In: Günther-Arndt, Hilke/Sauer, Michael (Hg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen (=Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 14). Berlin 2006. S. 29-48.

7

Vgl. Martens 2010, S. 106f.

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Tradition der Geschichtswissenschaft auf der einen und in der Fülle an Erhebungsund Auswertungsmethoden in der empirischen Sozialforschung auf der anderen Seite liegen: Die allermeisten Geschichtsdidaktiker*innen sind zu Historikern*innen ausgebildet worden. Die eigenständige Produktion von Daten spielt innerhalb ihrer Disziplin nur in der Oral History, in der Zeitzeugen*innen befragt werden, eine wichtige Rolle und ist dort methodologisch fundiert worden.8 So diskutiert die Oral History beispielsweise intensiv über die angemessene Form der Interviewführung und hat sehr wohl ein Bewusstsein dafür entwickelt, welche methodischen Gütekriterien an Zeitzeugeninterviews angelegt werden sollten.9 Die meisten anderen Teilbereiche der Geschichtswissenschaft befassen sich jedoch überwiegend mit der Auswertung bereits vorhandener Quellen. Insofern zählt die methodisch geleitete Produktion von Untersuchungsmaterial zunächst nicht zu den Kernkompetenzen von Historikern*innen. Auch die Verfahren der Datenauswertung betrifft dieses Spannungsverhältnis: Die präzise Darlegung und Reflexion der Auswertungsverfahren, die auf die verwendeten Quellen angewendet werden, wird für Historiker*innen oftmals erst dann relevant, wenn die zu bearbeitende Menge an Quellen derart groß ist, dass die Geschichtswissenschaft mit ihrer traditionellen, hermeneutischen Arbeitsweise an ihre Grenzen stößt.10 In vielen historiographischen Arbeiten findet hingegen eine Diskussion der Auswertungsmethoden nur marginal statt, ein bloßer Verweis auf ein hermeneutisches Vorgehen zur Auswertung der vorliegenden Quellen steht häufig an ihrer Stelle. Die empirische Sozialforschung eröffnet der Geschichtsdidaktik somit ein methodisches Repertoire, das enormes Potential für die empirische Arbeit bietet, zugleich aber im Hinblick auf die methodische Tradition der Geschichtswissenschaft auch verwirren, überfordern oder fehlleiten kann. Letztlich befindet sich jedoch jede empirisch forschende Arbeit aus dem Bereich der Public History oder der Geschichtsdidaktik in einem Spannungsfeld: zwischen dem Zweifel einerseits, „ob klassische geschichtswissenschaftliche Hermeneutik bei der Interpretation [beispielsweise, B.B.] von verschrifteten Schüleräußerung [sic!] zu einer validen wis8

Siehe dazu Wierling, Dorothee: Oral History. In: Maurer, Michael (Hg.): Aufriss der Historischen Wissenschaften. Bd. 7. Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2003, S. 81-151.

9

Siehe dazu beispielsweise von Plato, Alexander: Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss. In: BIOS 13 (2000), H. 1, S. 5-29. Hier S. 21.

10 Siehe Neitzel, Sönke/Welzer, Harald: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt/M. 2012. Das von Neitzel und Welzer geleitete Forscher*innen-Team wählte ein inhaltsanalytisches, softwaregestütztes Vorgehen zur Bewältigung der 150.000 Seiten Abhörprotokolle deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft.

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senschaftlichen Erkenntnis führt“11, und der Maßgabe andererseits, sich auf methodischen Pfaden zu bewegen, die noch die eigenen sind. Zweifelsfrei jedoch „muss sich die Geschichtsdidaktik den sozialwissenschaftlichen Standards empirischer Forschung anpassen“12, um das eigene empirische Arbeiten methodisch weiterzuentwickeln. In welchem Maße diese Anpassung vonstattengeht, ist indes eine methodische Frage, die jedes empirisch arbeitende Projekt für sich zu beantworten hat. Ich verfolge in dieser Arbeit die Strategie, solche etablierten Methoden der qualitativen Sozialforschung anzuwenden, die dem historiographischen Methodenrepertoire nahestehen. Insbesondere der hermeneutische, tiefgründig analysierende und interpretierende Zugang zu schriftlichen Interviewtexten steht dabei im Zentrum, doch vor allem für die Datenproduktion und -aufbereitung kommen Methoden zum Einsatz, die innerhalb der Geschichtswissenschaft kaum Anwendung finden. Der Logik des Forschungsprozesses folgend, werde ich im Folgenden die Erhebung, Aufbereitung und Auswertung der Daten nacheinander darstellen.

3.1 DATENERHEBUNG 3.1.1 Sampling Die Bemerkungen zur Datenerhebung möchte ich mit ihrem Ergebnis beginnen: Die Datengrundlage der Arbeit stellen 18 Einzelinterviews mit Jugendlichen dar, die als Interviewpartner*innen rekrutiert und ausführlich befragt wurden. Sie absolvierten als Abiturient*innen zum Zeitpunkt der Erhebung ihr vorletztes Schuljahr an zwei Schulen in Braunschweig und Magdeburg und waren 16 bis 18 Jahre alt. Die Zusammenstellung dieser Gruppe, die in Einzelinterviews befragt werden sollte, folgte dem Vorgehen des theoretical sampling, einer Strategie, die ein wesentliches Element der von Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelten Grounded Theory-Methodologie darstellt.13 In dessen Kern steht die theoriegeleitete Auswahl der Forschungspartner*innen sowie die sukzessive Erweiterung des Samples anhand empirischer Zwischenergebnisse. So „werden Personen, Gruppen etc. nach ihrem (zu erwartenden) Gehalt an Neuem für die zu entwickelnde Theorie […] in die Untersuchung einbezogen“.14 Vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen und erster Beobachtungen sucht der*die Forscher*in folglich zielgerichtet nach

11 Martens 2010, S. 107. 12 Ebd. S. 107. 13 Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L.: The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. 7. Aufl. New York 2012 [1967], S. 45-77. 14 Flick, Uwe: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 4. Aufl. Reinbek 2011, S. 159.

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Interviewpartnern*innen, die für die Theoriegenese vielversprechende Erkenntnisse versprechen. Mit diesem Vorgehen beziehungsweise allgemeiner mit der Festlegung auf einen qualitativen Ansatz geht zugleich der Verzicht auf eine weitgehende Generalisierbarkeit der Daten einher, sodass die gewonnenen empirischen Erkenntnisse keine Repräsentativität für eine große Grundgesamtheit für sich beanspruchen können und wollen. Stattdessen geht es tatsächlich im Sinne einer explorativen Forschung um erste Erkenntnisse zur Aneignung und Authentifizierung von Geschichte im Spielfilm. Dafür ist ein genauer analytischer Blick auf einige wenige Forschungspartner*innen besser geeignet als die Erforschung großer Zahlen an Studienteilnehmer*innen und der Anspruch, für eine wie auch immer geartete Grundgesamtheit verallgemeinerbare Aussagen treffen zu können. Ebenfalls im Sinne dieses qualitativen Vorgehens wurde zunächst auf eine Engführung des Samples im Hinblick auf bestimmte soziodemographische Merkmale geachtet. Bezüglich ihres Alters, der sozialen Herkunft und des Bildungshintergrunds wurde eine relativ homogene Untersuchungsgruppe zusammengestellt, um die Vergleichbarkeit der Fälle zu gewährleisten. So beschränkt sich die Gruppe auf Abiturient*innen beiderlei Geschlechts, Jugendliche also, die den gleichen Schulabschluss anstrebten und im gleichen Alter waren. Das Interesse an bestimmten Einflussgrößen der Aneignung audiovisueller Narrative, etwa ein Blick auf deren Entwicklung im Hinblick auf das Lebensalter15, muss damit wohl oder übel auf künftige Studien vertagt werden. Im Zeichen des theoretical sampling und der theoretischen Vorannahmen stehen zudem die Entscheidung, Jugendliche mit unterschiedlicher Herkunft als auch mit einem durchgehend vorhandenen Interesse an historischen Darstellungen im Fernsehen zu rekrutieren. Die Interviewpartner*innen unterscheiden sich durch ihre regionale und nationale Herkunft insofern, als dass sie erstens aus den alten bzw. neuen Bundesländern stammten: So lag die Annahme nahe, dass die Interviewpartner*innen in ihrer Alltagswelt in verschiedener Art und Weise mit der Geschichte der deutsch-deutschen Teilung konfrontiert werden und dies einen Einfluss auf ihren Umgang mit der im Zweiteiler „Der Turm“ dargestellten DDR-Geschichte haben könnte.16 Damit finden sich theoretische Setzungen im Sinne der Cultural 15 Einer ontogenetischen Perspektive hat sich die Geschichtsdidaktik etwa mit Blick auf die Entwicklung des Geschichtsbewusstseins vielfach gewidmet, siehe dazu exemplarisch: Borries, Bodo von: Genese und Entwicklung von Geschichtsbewusstsein. Lern- und Lebensalter als Forschungsproblem der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 44-58; Kölbl 2004. 16 Wohlgemerkt sind es nicht Ansprüche der Repräsentativität, die dieses Vorgehen legitimieren, sondern eben theoretische Überlegungen, die tiefergehende Erkenntnisse der zu untersuchenden Phänomene versprechen. Ziel der Entscheidung, Jugendliche aus Ost und

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Studies in der Auswahl der Interviewpartner*innen wieder. Die Jugendlichen sind zwar deutlich nach den Ereignissen der Jahre 1989/1990 geboren worden, die Erinnerungen und Erzählungen ihrer Familien, in ihrem weiteren Bekanntenkreis, der von ihnen erfahrene Schulunterricht et cetera – so eine Vorannahme während der Konstruktion des Samples – dürften jedoch zu einem durchaus unterschiedlichen Blick auf das im Film dargestellte Ende der DDR beitragen. Aus diesen Gründen habe ich Jugendliche in Magdeburg und Braunschweig rekrutiert. Die Varianz der Gruppe in regionaler Hinsicht versprach die Möglichkeit, unterschiedliche Aneignungsweisen zeitgeschichtlicher Spielfilme sichtbar zu machen, die in einer Beziehung zur Herkunft der Zuschauer*innen aus den alten und neuen Bundesländern und damit verschiedenen geschichtskulturellen Alltagswelten stehen. Zweitens wurden Jugendliche in die Untersuchungsgruppe aufgenommen, deren Familiengeschichte weder ost- noch westdeutsch geprägt war: Sie selbst waren in ihrer Kindheit mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Vielversprechend erschienen sie als Interviewpartner*innen im Vorfeld folglich, da ihre Verbindung zur Geschichte der deutsch-deutschen Teilung noch weit mittelbarer als die der nach 1990 Geborenen zu sein versprach. Ihre Berücksichtigung erscheint schon angesichts der demographischen Realitäten, die gegenwärtig auch in das gesellschaftliche Bewusstsein vordringen, als eine Selbstverständlichkeit.17 Darüber hinaus ermöglichten ihre spezifischen familiären Kontexte Einblicke in den Umgang mit Themen deutscher Zeitgeschichte im Spielfilm, die den Blick auf ost- und westdeutsche Jugendliche ergänzen konnten. Eine weitere Überlegung bei der Zusammensetzung der Untersuchungsgruppe bestand darin, ausschließlich mit Jugendlichen mit einem grundlegenden Interesse an historischen Audiovisionen zu sprechen. Ziel war es, eine ohnehin recht unnatürliche, quasi-experimentell konstruierte Forschungssituation an die Gewohnheiten der Jugendlichen anzupassen und somit kein unnötig konstruiertes Setting zu schaffen, in dem im Extremfall die Teilnehmer*innen im Alltag gar keine historischen Spielfilme oder andere audiovisuelle, historische Formate ansehen. Alle Teilnehmer*innen können folglich als zumindest gelegentliche Zuschauer*innen historischer Audiovisionen gelten, einige der Interviewpartner*innen hatten sogar den West in die Studie aufzunehmen, war nicht die Verallgemeinerung der Ergebnisse auf ost- und westdeutsche Jugendliche insgesamt. Die vergleichende Analyse dieses Unterschieds versprach vielmehr einen theoretischen Mehrwert für die Ergebnisse der Arbeit. 17 Zahlreiche neuere Arbeiten in der Geschichtsdidaktik erforschen mittlerweile die Bedeutung, die Migration auch für historische Lern- und Aneignungsprozesse trägt. Siehe dazu etwa Köster, Manuel: Historisches Textverstehen. Rezeption und Identifikation in der multiethnischen Gesellschaft (=Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 11). Berlin 2013; Zülsdorf-Kersting, Meik: Historische Identität und geschichtskulturelle Prägung: empirische Annäherungen. In: GWU 59 (2008), H. 11. S. 631-646. Hier S. 636ff.

Methodisches Vorgehen | 133

„Turm“ bereits im Fernsehen gesehen. Gleichwohl besteht im Sample eine Vielfalt bezüglich der Häufigkeit und Intensität der Nutzung von historischen Sendungen. Gelegenheitszuschauer*innen stehen Jugendlichen gegenüber, die in den Interviews angaben, mehrmals in der Woche historische Audiovisionen zu rezipieren. Auch dieser Aspekt wurde in der Auswertung der einzelnen Fälle berücksichtigt. Wie erwähnt liegt ein wesentliches Element des theoretical sampling darin, im Forschungsprozess gewonnene Einsichten in weitere Datenerhebungen einfließen zu lassen, das heißt gezielt auf der Grundlage theoretischer Überlegungen Gesprächspartner zu rekrutieren, die nach der Auswertung erster Daten vielversprechende weitere Erkenntnisse ermöglichen. Diese Strategie schlägt sich in einer zweiten Erhebungsphase nieder. Nach der Durchführung und Auswertung von zunächst zehn Interviews kontaktierte ich erneut an beiden Standorten Jugendliche, um bestehende Leerstellen innerhalb der vorläufigen Erkenntnisse zielgerichtet füllen zu können. Zwei Eigenschaften standen in der zweiten Teilerhebung im Mittelpunkt: Einerseits sollten Schüler*innen in die Untersuchungsgruppe aufgenommen werden, die einen weniger stark analytisch geprägten Zugang zum Medium wählten. Innerhalb der ersten Gruppe Interviewpartner*innen fanden sich zahlreiche Jugendliche, deren Interviews einen hochreflektierten und quasi-analytischen Umgang mit historischen Fernsehformaten zeigten. Bezogen auf die mich interessierenden Aneignungsprozesse gaben diese Interviews zum Teil in quasi-filmwissenschaftliche beziehungsweise historisch-analytisch orientierte Aneignungsweisen Einblick, ließen jedoch die Leerstelle des intuitiven, nicht hochreflektierten Zuschauers teilweise offen. Diese Konzentration sollte um andere Herangehensweisen zu historischen Audiovisionen ergänzt werden, sodass Jugendliche rekrutiert wurden, die am unteren Rand des schulischen Leistungsspektrums lagen und die Erwartung an vielfältige Rezeptionsweisen innerhalb des Samples erfüllen sollten. Andererseits wurde in der zweiten Erhebungsphase ein Fokus auf eine größere Relevanz der DDR im Familienkontext gelegt. Ein Zwischenergebnis der Analyse war, dass die Familiengeschichte der befragten Jugendlichen insbesondere für Prozesse der Authentifizierung des Gesehenen eine erhebliche Rolle spielte. Insofern wurden in der zweiten Erhebungsphase gezielt Jugendliche rekrutiert, in deren Familien die Geschichte der DDR beziehungsweise das Ende der deutschen Teilung eine größere Rolle spielten: Die Eltern einiger Jugendlicher hatten Ausreiseanträge gestellt, waren in der Bürgerbewegung in der DDR aktiv, sind mehrfach als westdeutsche Besucher in die DDR gereist oder hatten in Gesprächen in der Familie regelmäßig über ihre Erfahrungen im geteilten Deutschland berichtet. Zur Kontrastierung wurden zudem Interviewpartner*innen ausgewählt, für die die Geschichte der DDR im familiären Rahmen keinerlei Bedeutung aufwies. Durch dieses theoretisch fundierte Sampling konnten Aspekte der Familiengeschichte der Zuschauer*innen, die sich zunächst nur diffus als hoch relevant erwiesen hatten, genauer untersucht werden.

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Nach der zweiten Phase der Datenerhebung und der intensiven Auswertung der geführten Interviews zeigte sich eine „theoretische Sättigung“, die gerechtfertigt erscheinen ließ, keine weiteren Daten zu erheben. „Mit Sättigung ist der Punkt im Verlauf der Analyse gemeint, an dem zusätzliches Material und weitere Auswertungen […] zu keiner relevanten Verfeinerung des Wissens“18 mehr führen. Es ist offensichtlich, dass es sich dabei gleichermaßen um „eine subjektive und riskante Entscheidung“19 seitens des Forschers handelt – ich werde in der Darstellung der empirischen Ergebnisse jeweils plausibel machen, aus welchen Gründen ich die erarbeiteten Erkenntnisse für theoretisch gesättigt halte. Die in die Untersuchungsgruppe aufgenommenen Forschungspartner*innen werden in dieser Arbeit im Übrigen ganz bewusst als Jugendliche, nicht als Schüler*innen bezeichnet. Die wenigen statistischen Daten, die zur Nutzung historischer Spielfilme vorliegen, deuten darauf hin, dass ihr Einsatz im Schulunterricht in Relation zu alltagsweltlichen Rezeptionen eher selten stattfindet.20 Das Medium Fernsehen ist im privaten Alltag Jugendlicher jedoch nach wie vor sehr präsent: 83% der Jugendlichen gaben in der aktuellen JIM-Studie, einer der wichtigsten Untersuchungen zur Mediennutzung Jugendlicher in Deutschland, an, mindestens mehrmals wöchentlich fernzusehen, mehr als die Hälfte der Befragten sogar täglich. 21 Darüber hinaus zeigt sich das Supermedium historischer Audiovision auch im Internet allenthalben, welches das Fernsehen in der Gunst der Jugendlichen nun erstmals vom ersten Platz verdrängen konnte: 92% nutzen das World Wide Web mindestens mehrmals wöchentlich, und dabei kommen sie auch mit historischen Audiovisionen in Berührung.22 Daraus lässt sich eines ableiten: Wenn Geschichte in audiovisuellen Formen rezipiert wird (wofür es leider keine umfassenden statistischen Daten gibt), dann wohl im privaten Bereich. Insofern war von Beginn an ein wesentliches Anliegen der Studie, die Teilnehmer*innen in erster Linie als jugendliche Zuschauer historischer Audiovision, nicht als historische Lerner*innen und Schüler*innen zu verstehen.

18 Strübing, Jörg: Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung eines pragmatischen Forschungsstils (=Qualitative Sozialforschung). 3. überarb. u. erw. Aufl. Wiesbaden 2014, S. 32. 19 Ebd., S. 33. 20 Vgl. Wehen 2012, S. 51. 21 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): JIM-Studie 2015. Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2015, S. 11. 22 Vgl. ebd.

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3.1.2 Setting Ausgehend von dieser Annahme dienten die Schulen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt als bloße Rekrutierungsinstitution, um Kontakt zur Altersgruppe der Jugendlichen herzustellen. Im Verlauf der Datenerhebung spielte die Schule dann keine Rolle mehr. Der weitere Kontakt fand über Facebook, E-Mail oder Telefon statt. Mit dem bewussten Ausklammern der Institution Schule aus der vorliegenden Studie war einerseits die Überlegung verbunden, der vermuteten Realität der Mediennutzung nahe zu kommen, die sich eben vor allem im privaten Bereich wiederfindet. Diese Annahme wurde im Übrigen zumindest im von mir erhobenen Sample fast durchweg bestätigt. Andererseits folgte die Entscheidung gegen die Schule als Ort der Durchführung der Hoffnung, die Jugendlichen außerhalb einer formalisierten, institutionalisierten, intentional-strukturierten Lernumgebung tatsächlich als Zuschauer*innen empirisch betrachten zu können. Ausrücklich habe ich damit ein Vorgehen gewählt, das gegenüber den Forschungs-Settings einschlägiger Arbeiten der Geschichtsdidaktik einen anderen Weg einschlägt.23 Potentiell von den Jugendlichen wahrgenommene Erwartungshaltungen, etwa die Notwendigkeit, aus dem Spielfilm „Der Turm“ etwas lernen zu müssen, Notendruck oder das Gefühl, in der eigenen „beruflichen“ Umwelt an einem derartigen Forschungsprojekt teilzunehmen, wären dem Ziel dieser Arbeit grundsätzlich zuwidergelaufen.24 Die Interviews wurden in Räumen der Technischen Universität Braunschweig beziehungsweise der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg durchgeführt. Auch bei der Raumwahl wurde darauf geachtet, den Erhebungskontext aus der Perspektive der Jugendlichen nicht als Lernumgebung darzustellen, die sie in eine „professionelle“ Schülerrolle hätte versetzen können. Aus diesem Grund wurden die Filmvorführungen und Interviews nicht in Seminarräumen abgehalten, sondern in Besprechungsräumen, die weniger als Lernumgebung erschienen. Die Jugendlichen in erster Linie als junge Zuschauer*innen, nicht als Schüler*innen zu begreifen und zu erforschen, war das Ziel dieser konzeptionellen Überlegungen. Das Setting der Erhebung behält trotz aller Versuche, eine natürliche Situation des Fernsehens zu schaffen, einen wissenschaftlich konstruierten und somit partiell künstlichen Charakter. Die Vorführung des Spielfilms „Der Turm“ sowie die Ge23 Vgl. etwa Wehen-Behrens, Britta: Auswirkungen einer Unterrichtseinheit zum Spielfilm „Schicksalsjahre“ auf historische Erzählungen von Schülern. Praktische Erprobung und empirische Befunde. In: Henke-Bockschatz, Gerhard (Hg.): Neue geschichtsdidaktische Forschungen. Aktuelle Projekte. Göttingen 2016. S. 143-162; Martens 2010; Sommer 2010. 24 Die Erhebung beispielsweise einem schulischen 45-Minuten-Rhythmus zu unterwerfen, erschien mir als gleichermaßen unnötige und kontraproduktive Verkomplizierung der Datenerhebung. Im Vergleich dazu siehe Martens 2010, S. 136.

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spräche mit den Interviewpartnern*innen sind durchweg aktiv im Forschungsprozess geschaffene Momente. Die Alternative dazu, eine solche Situation herbeizuführen, hätte in der teilnehmenden Beobachtung „echter“ Momente des Fernsehens und möglicherweise spontan stattfindender Anschlussgespräche gelegen. Diese ‚natürlichen‘ Daten böten im Hinblick auf ihre Alltagsnähe, das heißt umgekehrt im Hinblick auf die Frage, wieviel Einfluss der*die Forscher*in auf die erforschten Phänomene nimmt, zweifellos Vorteile gegenüber der künstlichen Schaffung einer Rezeptionssituation.25 Einerseits wäre jedoch auch in diesem Fall die Erwartung, ein unbeeinflusstes Rezeptionserlebnis zu beobachten, naiv und gleichermaßen gar nicht anzustreben. Die qualitative Sozialforschung begreift den*die Forscher*in als ohnehin zwingend am Forschungsprozess Beteiligten und weist damit Versuche, seinen Einfluss auf Forschungspartner*innen und die Ergebnisse zu eliminieren, als Jagd nach einer Schein-Objektivität zurück.26 Andererseits lag die Vermutung nahe, dass Rezeptionssituationen, in denen historische Audiovisionen gesehen werden, seltener zu beobachten sind, als die (auf der Grundlage des überschaubaren Forschungsstands zu vermutende) Relevanz dieser seltenen Nutzungssituationen für den*die historisch interessierte*n Mediennutzer*in einzuschätzen ist. Die quantitative Relevanz historischer, audiovisueller Medien im Alltag Jugendlicher steht somit seiner qualitativen Bedeutung für das individuelle Geschichtsbewusstsein seiner Zuschauer*innen mutmaßlich diametral gegenüber. Das Warten auf eine natürliche Gelegenheit zu deren Erforschung, wie es etwa Andreas Hepp in seiner Studie zur Aneignung von Fernsehsendungen durch-

25 Vgl. Salheiser, Axel: Natürliche Daten: Dokumente. In: Baur, Nina/Blasius, Jörg (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden 2014, S. 813-827. Hier S. 816. Der in der sozialwissenschaftlichen Literatur zu findende Vergleich der Einteilung in natürliche und nicht-natürliche Daten mit der quellenkundlichen Unterteilung in Tradition und Überrest in der Tradition Droysens und Bernheims ist bei genauer Betrachtung falsch: Während aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Übermittlungsabsicht eines an den vergangenen Prozessen Beteiligten im Zentrum steht, meint die Bezeichnung natürliche Daten die Beteiligung des*der Forschers*in an der Produktion des eigenen Untersuchungsmaterials – ein grundlegender erkenntnistheoretischer Unterschied; vgl. Meyen, Michael et al.: Qualitative Forschung in der Kommunikationswissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden 2011, S. 48. 26 Vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 4., erw. Aufl. München 2014, S. 27; Fritzsche, Bettina: Mediennutzung im Kontext kultureller Praktiken als Herausforderung an die qualitative Forschung. In: Bohnsack, Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arnd-Michael (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 3., akt. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 33-50. Hier S. 48.

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geführt hat,27 wäre angesichts des fokussiert historischen Interesses forschungspragmatisch nicht vertretbar gewesen. Während bei Hepp Fernsehaneignung als thematisch unspezifischer Prozess im Zentrum des Interesses steht, kommen im Rahmen der vorliegenden Studie per se nur Momente infrage, in denen historische Themen eine Rolle spielten. Dies hat eine enorme Verringerung der ‚natürlich‘ auftretenden Rezeptionssituationen zur Folge, wofür der Erhebungsaufwand nicht zu rechtfertigen gewesen wäre und somit eine natürliche Fernsehsituation als Ziel unerreichbar bleiben musste. Ebenso diente dem Ziel, möglichst alltagsnahe Rezeptionssituationen zu schaffen, das konkrete Setting der durchgeführten Studie. Der zweite Teil des Zweiteilers „Der Turm“ wurde in Räumen gezeigt, in denen bewusst eine nichtprofessionelle, weil nicht konventionell-schulische Fernsehumgebung hergestellt wurde: Coca Cola, Süßigkeiten und Kartoffelchips trugen ebenso dazu bei wie die Tatsache, dass ich den Erwartungen an meine Funktion als professioneller Studienleiter mit demonstrativ auf den Tisch gelegten Füßen sogleich eine symbolische Absage erteilte. In dieser möglichst ‚unprofessionellen‘ Umgebung wurde den Jugendlichen an mehreren Abenden in Kleingruppen von bis zu drei Personen der zweite Teil des Spielfilms und im Anschluss die eigens für dieses „TV-Event“ produzierte Dokumentation vorgeführt. Die Entscheidung, den zweiten Teil des Spielfilms zu zeigen, wurde einerseits durch die ansonsten ausufernde Länge des „Fernsehabends“ notwendig, andererseits aber auch ermöglicht durch eine dem Film vorangestellte Zusammenfassung des ersten Teils, der erstmals am 3. Oktober 2012 ausgestrahlt wurde. Diese anderthalbminütige Rückblende diente bereits zum Zeitpunkt der TVAusstrahlung dazu, Zuschauer*innen des zweiten Teils am Folgetag in die Handlung des Films einzuführen, falls diese den ersten Teil nicht gesehen hatten. Ebenso als Teil des TV-Events, das ich bereits eingangs dargestellt habe, kann die 45-minütige Dokumentation begriffen werden, die unmittelbar nach dem ersten Teil des Spielfilms gesendet wurde. Ihre enge inhaltliche Verbindung zum Spielfilm war durch die ARD angestrebt worden, und so erschien es opportun, sie auch in das Setting der Studie zu integrieren. Den Jugendlichen auch die Dokumentation zu zeigen, versprach insbesondere im Hinblick auf die Ressourcen der Authentifizierung des Spielfilms vielversprechende Einblicke, die mithin in der „echten“ Ausstrahlung des TV-Events so von den Produzenten*innen und Programmplanern*innen angelegt waren. Trotz all dieser Bemühungen hinsichtlich der Konstruktion des Settings bleibt festzuhalten: Die Natürlichkeit der gewonnenen Daten bleibt eine Illusion. Ohne Zweifel handelt es sich für die jugendlichen Forschungspartner*innen nicht um eine Situation, in der sie in alltäglicher Umgebung eine gewohnte Medienhandlung vollziehen. Davon unbeschadet sorgten die getroffenen Entscheidungen für eine Atmo27 Vgl. Hepp 1998, S. 16.

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sphäre nicht-‚professioneller‘ Rezeption, die sich an alltägliche Mediennutzungen der Befragten anlehnt. 3.1.3 Konzeption, Durchführung und Aufbereitung der Einzelinterviews Im Abstand von ein bis drei Tagen nach den beschriebenen „Fernsehabenden“ mit den jugendlichen Zuschauern*innen führte ich mit ihnen in den gleichen Räumlichkeiten Leitfaden-Einzelinterviews durch. Diese Gesprächsform erlaubte die gezielte Fokussierung der für diese Arbeit relevanten Themen. Beispielsweise ein spontanes Familiengespräch über einen historischen Spielfilm – dessen zufällige Beobachtung einem großen Glücksfall gleichkäme – wäre zwar tatsächlich der Realität entsprungen, hätte aber vermutlich Fragen offengelassen, die in einem strukturierten Interview gestellt werden können. Die Wahl der sehr offen gehaltenen Leitfadeninterviews stellte insofern einen meines Erachtens angemessenen Kompromiss zwischen dem Ideal einer natürlichen Datengrundlage und einem zielgerichteten Forschungsprozess dar. Der zeitliche Abstand der Interviews zum „Fernsehabend“ folgt den theoretischen Überlegungen zum Prozess der Aneignung, zu dem die „Rezeptionskaskaden“, also alle einschlägigen Kommunikationen nach der Medienrezeption, ebenso wie eine individuelle Verarbeitung des Gesehenen zählen (siehe Kapitel 2.3). Dass ich die Gespräche ein bis drei Tage nach dem Ansehen des Films geführt habe, stellte mutmaßlich den besten Kompromiss zwischen der Zeit, in der die Aneignungsprozesse nach dem Ansehen eines Filmes stattfinden, und der noch gegebenen Präsenz des Gesehenen im Bewusstsein meiner Interviewpartner*innen dar. Die Gespräche dauerten zwischen 45 und 100, im Durchschnitt rund 70 Minuten, und wurden mithilfe eines Diktiergerätes aufgenommen. Zu allen Interviews wurde ein Protokoll inklusive besonderer Beobachtungen und Bemerkungen erstellt. Im Anschluss wurden die gewonnenen Daten vollumfänglich (erste Erhebungsphase) beziehungsweise selektiv (zweite Erhebungsphase) anhand des Transkriptionssystems TiQ (Talk in Qualitative Social Research) für die Auswertung transkribiert.28 Dieses Transkriptionssystem, das in den meisten Arbeiten der rekonstruktiven Sozialforschung in der Tradition Ralf Bohnsacks Anwendung findet, erschien für die Zwecke der vorliegenden Arbeit als zielführend, da es eine hinreichende sprachliche Präzision mit einem noch akzeptablen Aufwand zur Datenaufbereitung verbindet. So werden Abweichungen von schriftlicher Standardsprache, etwa Pausen, Abbrüche, Zusammenziehungen von Wörtern und auch Unverständlichkeiten im Transkript sichtbar gemacht. Diese Abweichungen im Transkript zu tilgen, erschien als wenig zielführend, da ich sie als relevant für die Interpretation 28 Siehe dazu Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, S. 167-169.

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der Interviews erachte und in der Auswertung auch auf sprachliche Besonderheiten wie etwa längere Pausen oder besonders stark betonte Ausdrücke eingehen werde. Zwar hätte die Tilgung solcher Abweichungen für eine deutlich bessere Lesbarkeit der Transkriptpassagen gesorgt, aber eben auch für mich wesentliche Informationen daraus eliminiert. Zugleich verzichtet TiQ aber auf die allzu detaillierte Berücksichtigung sprachlicher Merkmale im Interview, die vor allem für sprachwissenschaftliche Arbeiten von größerer Wichtigkeit sind. Das System offeriert damit einen angemessenen Kompromiss aus Genauigkeit, Informationsfülle und Transkriptionsaufwand. Nicht zuletzt erweisen sich die Transkriptionsregeln nach dem System TiQ als schnell verständlich, sodass die Transkripte verhältnismäßig gut lesbar sind. Da ich in der Darstellung der Ergebnisse immer wieder Interviewpassagen zitiere, um meine Analysen nachvollziehbar darzustellen, sei hier auf die kurze, übersichtliche Darstellung der Transkriptionsregeln im Anhang verwiesen. Die durchgeführten Einzelinterviews wurden durch einen zuvor entwickelten Leitfaden strukturiert, dessen Themen in allen Interviews angesprochen wurden. Im Hinblick auf die Dauer und Reihenfolge der einzelnen Gesprächsthemen fand der Leitfaden jedoch eine flexible Anwendung. Dieses Vorgehen sollte ein maßgebliches Ziel und Gütekriterium qualitativer Forschung erreichen: die Offenheit der Datenerhebung, die als „eine der methodischen Säulen qualitativer Forschung“ 29 gilt. So plädieren die Vertreter*innen „einer primär qualitativ orientierten Vorgehensweise dafür, den Wahrnehmungstrichter empirischer Sozialforschung so weit wie möglich offen zu halten, um auch unerwartete und dadurch instruktive Informationen zu erhalten.“30 Statt also Antwortmöglichkeiten vorzugeben und damit letztlich bestehende Hypothesen zu überprüfen, gilt es in einem qualitativen Leitfadeninterview, als Forscher*in eine Erwartungshaltung für Unerwartetes zu bewahren. Nur auf diese Weise können Prozesse wie die historische Medienaneignung, die noch weitestgehend unverstanden sind, erforscht werden, ohne lediglich die eigenen Vorannahmen zu bestätigen. Für offen gehaltene Interviewsituationen bedeutet dies freilich, dass sie weniger standardisiert und damit untereinander vergleichbar sind, demgegenüber aber dem*der Interviewpartner*in ein großes Maß an kommunikativem Gestaltungsspielraum im Verlauf des Interviews beimessen. Auch nach dem Kriterium der Offenheit geht es jedoch um einen Kompromiss des Forschungsdesigns: „Offenheit der Kommunikation bedeutet allerdings nicht, dass in der rekonstruktiven Sozialforschung Interviews jeglicher Strukturierung entbehrten. Interviews werden immer durch die Interaktion zwischen Forschenden und Erforschten strukturiert, wobei es in unterschiedlichem Maße zu Interviewereingriffen kommen

29 Flick 2011, S. 268. 30 Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 5., überarb. Aufl. Weinheim, Basel 2010, S. 19.

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kann.“31 Die von mir durchgeführten Interviews sind folglich als thematisch vorstrukturierte Gespräche zu verstehen, in deren Verlauf den Interviewpartner*innen weitreichende Möglichkeiten eingeräumt wurden, das Interview selbst zu gestalten und damit eigene Schwerpunktsetzungen vorzunehmen. Um ungeachtet aller Offenheit auch möglichst vielversprechende Vergleichsmöglichkeiten der geführten Interviews zu schaffen, wurde neben einer einheitlichen Themensetzung auf einen gleichförmigen Erzählimpuls am Beginn des Interviews großen Wert gelegt, auf den ich sogleich noch näher eingehen werde. Die von den jugendlichen Interviewpartnern*innen angebotenen Erzählungen als Einstieg ins Interview werden dadurch direkt miteinander vergleichbar. Während weitere Sequenzen der Interviews immer auch in ihrem Gesprächskontext gedeutet werden müssen, sind die Eingangserzählungen als solche vergleichsweise unabhängig von zuvor Geäußertem. Der Gesprächseinstieg enthielt zunächst die Bitte, ausführlich und umfänglich zu antworten. Gerade in empirischen Arbeiten, die Jugendliche befragen, stellt die Kürze der Antworten nicht selten eine methodische Herausforderung dar. 32 Den inhaltlichen Kern des Gesprächseinstiegs stellte die Aufforderung dar: „Ich würde dich bitten, dass du mir aus deiner Sicht den Film den Turm erzählst und zwar von Anfang an, möglichst ausführlich. Erzähl mir die Geschichte des Turms!“ 33 Inhaltlich war diese Bitte bewusst vieldeutig gewählt und ermöglichte den Interviewpartnern*innen eine eigene Schwerpunktsetzung. Für die Zuschauer*innen des Spielfilms ergaben sich nämlich verschiedenste Möglichkeiten: Sie konnten über die historischen Ereignisse, auf die der Film Bezug nimmt, oder über die Story des Filmes sprechen, von der die Darstellung der DDR-Geschichte ebenso Teil ist wie die fiktiven Elemente der Handlung, etwa das konkrete Agieren der fiktiven Figuren. Sie hatten die Möglichkeit, wenn sie den Film zum Thema ihrer Erzählung machten, darin wiederum die Darstellung der historischen Ereignisse stärker in den Mittelpunkt zu rücken oder eher auf die Aspekte der Story einzugehen, die keine unmittelbare Beziehung zur DDR-Geschichte aufweisen. Die Möglichkeiten, die die Aufforderung zu Beginn jedes Interviews bot, waren vielfältig – und alle hier genann31 Nohl, Arnd-Michael: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis (=Qualitative Sozialforschung). 4., überarb. Aufl. Wiesbaden 2012, S. 13. 32 Siehe dazu zum Beispiel die Aufgabenstellung an die befragten Jugendlichen bei Kühberger, Chistoph: Aufbau der Untersuchung. In: Ders. (Hg.): Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel „Spielfilm“. Empirische Befunde – Diagnostische Tools – Methodische Hinweise (=Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte – Sozialkunde – Politische Bildung, Bd. 7). Innsbruck 2013. S. 39-48. Hier S. 43. 33 Transkript TO, BS, Z. 71-73. Die Aufforderungen der anderen Interviews variieren im genauen Wortlaut, sind inhaltlich jedoch genauso offen gehalten.

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ten Erzählungen beziehungsweise Lesarten zeigten sich dann auch in den Interviews. Methodisch profitiert das Vorgehen hier von der strukturellen Ähnlichkeit des filmischen Narrativs und der Erzählung der Jugendlichen im Interview, die sich als Re-Interpretation des Gesehenen darstellt. Mit der Aufforderung, „die Geschichte des Turms“ nachzuerzählen, sind die Interviewpartner*innen aufgerufen, ihre Lesart des Spielfilms zu explizieren und in der Schaffung einer eigenen Narration Auskunft über die zugeschriebene Authentizität des Gesehenen zu geben. Im Akt des Erzählens über den „Turm“ kamen meine Interviewpartner*innen gar nicht umhin, sich und mir als Interviewer darzulegen, in welcher Beziehung für sie die FilmStory zur DDR-Geschichte steht. Sie gaben zwangsläufig Auskunft darüber, ob und in welchem Maße sie den „Turm“ für authentisch hielten, welche Elemente daraus für sie historisch und damit eben auch historisch glaubwürdig, und welche Teile der Handlung nicht historisch und damit eben auch nicht authentisch erschienen. Ein Beispiel kann dies veranschaulichen: Gegen Ende des zweiten Teils des Spielfilms laufen einige Figuren der Filmhandlung in einer großen Menschenmenge durch eine Stadt. Dieses Ereignis lässt sich im Interview nun in ein Verhältnis zur außerfilmischen Realität setzen, kann aber auch ohne diese Referenz nacherzählt werden. Im ersten Fall würde es sich aus der Sicht des*r Interviewpartners*in um ein historisches Ereignis handeln (die Demonstrationen am Dresdner Hauptbahnhof im Herbst 1989), das im Film dargestellt wird. Folglich würde die audiovisuelle historische Darstellung in diesem Fall als authentisch gelten können, falls der*die Interviewpartner*in nicht explizit Zweifel an dieser Darstellung geltend machte. Im zweiten Fall hingegen, in dem das Ereignis der Filmhandlung in kein Verhältnis zur außerfilmischen Realität gesetzt würde, wäre die Authentizität der Darstellung nicht gegeben, weil es sich aus der Perspektive des*der Nacherzählenden nicht um die Darstellung eines historischen Ereignisses handelt. Beide Fälle, dies sei hier bereits bemerkt, finden sich so in den Daten wieder, und werden in der Darstellung der Ergebnisse ausführlich verhandelt. Die Offenheit der Erzählaufforderung ist damit das zentrale Element jedes Interviews, in dem die Frage nach der Authentizität des Gesehenen operationalisiert wird. Sie erlaubt eine Antwort auf die Frage, ob die Film-Story für ihre Zuschauer*innen eine authentische historische Erzählung darstellt, und welche ihrer Elemente sie für historisch angemessen und glaubwürdig erachten. In der Rückbindung an meine theoretischen Ausführungen bedeutet dies, dass mithilfe der Eingangserzählungen sichtbar gemacht werden kann, ob und inwiefern die Zuschreibung von Authentizität im Kontext des Spielfilms „Der Turm“ bei meinen Interviewpartnern*innen stattgefunden hat. Darüber hinaus wird diese Zuschreibung auch in den weiteren Verläufen der Gespräche sichtbar, findet jedoch bereits am Beginn aller Interviews ihren Niederschlag. Die Eingangserzählungen der Jugendlichen besitzen damit einen hervorgehobenen Erkenntniswert für das Ziel dieser Arbeit.

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Im weiteren Verlauf der Gespräche wurde davon ausgehend sehr klar, welche Authentifizierungs-Ressourcen von besonderer Relevanz für den*die Einzelne*n waren. In allen Interviews stellte ich weitere Fragen zum Spielfilm und zur Dokumentation, zu persönlichen oder medialen Folgekommunikationen nach dem Fernsehabend, zu eigenen Erfahrungen mit Geschichte in Film und Fernsehen sowie anderen Medien, zur Bedeutung der DDR-Geschichte in der eigenen Alltagswelt sowie zuletzt zur Authentizität des Gesehenen. Dieser letzte Teil des Leitfadens, der explizit die Authentizität des Gesehenen thematisierte und der wohlgemerkt am Ende der Interviews angesprochen wurde, sofern die Interviewpartner*innen nicht bereits eigenständig ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet hatten, diente dem Ziel, die Authentifizierung des Gesehenen durch die Jugendlichen nochmals sichtbar zu machen. Die meisten Interviews verhandelten bis dahin zwar ausführlich die Filmhandlung und zeigten damit deutlich das Resultat des individuellen Prozesses der Authentifizierung der Story. Zudem tauchten durchweg die AuthentifizierungsRessourcen im Verlauf der Interviews auf, die für diese Zuschreibung herangezogen wurden. Häufig waren diese Ressourcen jedoch nur beiläufig angesprochen worden, sodass eine explizite Fokussierung auf die Argumente, die in den Augen der Rezipienten*innen die Authentizität des Gesehenen stützten, sinnvoll erschien. Leitendes Motiv bei der Konstruktion dieses letzten Leitfadenteils war die „Provokation“ der Interviewpartner*innen: Die Befragten sollten hier in der eigenen Zuschreibung der Authentizität „verunsichert“ und somit zu Passagen der Argumentation herausgefordert werden, die die eingenommene Position begründen: So wurde ihnen beispielsweise ein Eintrag aus einem Internet-Forum vorgelegt, in dem ein Zeitzeuge die Glaubwürdigkeit der Darstellung anhand eigener Erfahrungen in der DDR in Abrede stellte.34 Auch ein Online-Artikel von BILD.de („Zeigt ‚Der Turm‘ die wahre DDR?“35) diente diesem Zweck. Zuletzt versuchte ich, meine Interviewpartner*innen auf vermeintliche Widersprüche in der historischen Darstellung des Films aufmerksam zu machen. Dem mussten die Jugendlichen nun argumentativ begegnen und die eigene Position explizit in Form von Argumentationen vertreten. Als Argumente dafür traten hier die individuell wichtigsten Authentifizierungs-Ressourcen sprachlich zutage. Somit zeigte sich nun nochmals explizit und argumentativ, auf welcher Grundlage die Story des Films für die befragten Jugendlichen den Status des Authentischen erhielt. 34 Foren-Eintrag auf Spiegel Online vom User „peter_aus_radeberg“ vom 5. Oktober 2012. Online unter http://forum.spiegel.de/f22/ard-bestseller-verfilmung-der-turm-die-ddr-lebtam-ende-auf-72118-5.html (12.2.2013). 35 Fischer, C./Schacht, M.: Zeigt ‚Der Turm‘ die wahre DDR? Bild beantwortet die wichtigsten Fragen zum ARD-Zweiteiler. Online-Artikel vom 4. Oktober 2012. Online unter www.bild.de/unterhaltung/tv/film/zeigt-der-turm-die-wahre-ddr-26547988.bild.html (31. 1.2013).

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Mithilfe des beschriebenen Vorgehens konnte ich achtzehn äußerst gehaltvolle, individuell sehr verschiedene und dennoch in vielen Punkten vergleichbare Interviews erheben. Die folgenden Bemerkungen zur Auswertung der gewonnenen Daten vervollständigen das Methoden-Kapitel.

3.2 DATENAUSWERTUNG Auch die Auswertung der Daten muss sich der Herausforderung stellen, die ich eingangs beschrieben habe und die sich aus dem Spannungsfeld zwischen geschichtswissenschaftlichen und -didaktischen Methoden auf der einen und der Öffnung hin zu Methoden anderer Disziplinen, insbesondere der empirischen Sozialforschung, auf der anderen Seite ergibt. Die zahlreichen, oft gelungenen Versuche der Geschichtsdidaktik, im Bereich der Datenauswertung methodisches Neuland zu betreten, sind bisweilen allzu kritisch aufgenommen worden36 – dennoch erscheint es notwendig und sinnvoll, die methodische Expertise anderer Fachrichtungen zur Kenntnis zu nehmen und sinnvoll zu nutzen. Welches Vorgehen bietet sich für den Umgang mit 18 geführten Interviews, mit mehr als 20 Stunden Audio-Mitschnitten und etwa 350 eng bedruckten Seiten Transkript an, um dieser – aus einer qualitativen Perspektive – sehr umfangreichen Datengrundlage gerecht zu werden? Im Anschluss an die Transkription wurden die Interviewmitschnitte sowie die Transkripte zunächst mehrfach in ihrer Gänze angehört und gesichtet. Dabei wurden erste Beobachtungen und Überlegungen unsortiert in Memos festgehalten. 37 Mit zunehmender, vertiefter Kenntnis der Daten ging die Arbeit in ein offenes Kodieren über, ein Schritt, der etwa in der Grounded Theory38 von großer Bedeutung zur Ordnung und Strukturierung des Materials ist. Er dient nicht nur der Verschlagwortung der Daten, sondern vor allem auch der Abstraktion und Theoretisierung der vorläufigen Beobachtungen am Material. Dieser Arbeitsschritt ermöglichte in der Folge, ähnliche Phänomene innerhalb desselben Interviews, aber auch in verschiedenen Gesprächen miteinander zu vergleichen und auf der Grundlage dieses Vergleichs theoretisch weiterzuentwickeln. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ein im Spielfilm gezeigter „Trabi“ schien für eine Jugendliche eine Rolle im 36 Siehe Hasberg 2007. 37 Zur Rolle von Memos in der Fortentwicklung der Analyse und Theoriegenese siehe Mey, Günter/Mruck, Katja: Grounded-Theory-Methodologie: Entwicklung, Stand, Perspektiven. In: Dies. (Hrsg.): Grounded Theory Reader. 2. akt. und erw. Aufl. Wiesbaden 2011, S. 11-48. Hier S. 26. 38 Siehe Corbin, Juliet/Strauss, Anselm: Grounded Theory Research: Procedures, Canons and Evaluative Criteria. In: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), H. 6, S. 418-427. Hier S. 423.

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Prozess der Authentifizierung zu spielen. Dies wurde auf der Grundlage theoretischer Überlegungen als eine „historische Ikone im Spielfilm“ kodiert. Im Überblick über die Gespräche zeigten sich ähnliche Passagen, die auf demselben Muster beruhten. In der Folge konnten diese zu einer gemeinsamen AuthentifizierungsRessource zusammengefasst und genauer analysiert werden. Mithilfe der wiederholten Analyse und Kodierung der Interviewdaten konnte im Folgenden eine Auswahl an Passagen vorgenommen werden, die einer eingehenden Untersuchung unterzogen wurde. Diese Auswahl erfolgte entsprechend der unterschiedlichen Teilfragen der Arbeit in zweigeteilter Weise: Für die Frage, welchen Status die Rezipienten*innen dem Gesehenen beimaßen, mithin inwiefern sie im Spielfilm eine authentische Erzählung der Geschichte sahen, stellten die Nacherzählungen des Films zu Beginn der Interviews die zentrale Datengrundlage dar. Für die weiterführenden Fragen nach den Grundlagen und der Beschaffenheit des Authentifizierungs-Prozesses wurden darüber hinaus anhand der folgenden Kriterien Passagen für die genauere Analyse ausgewählt: Erstens gerieten solche Interviewabschnitte in den Fokus, die individuell für die jugendlichen Filmrezipienten*innen eine besondere Relevanz aufzuweisen schienen. Diese Relevanz zeigte sich sprachlich vor allem an besonders dynamischen, lebhaften Passagen in den Interviews, in denen zudem eine große Detailliertheit der Ausführungen und damit eine besondere persönliche Involviertheit der Interviewpartner*innen sichtbar wurde.39 Zweitens wurden solche Passagen zur detaillierten Analyse ausgewählt, die im Vergleich mit anderen Passagen im gesamten Sample vielversprechend erschienen. Drittens wurden die analysierten Sequenzen auf der Grundlage von theoretischen Überlegungen ausgewählt, um ein genaueres Verständnis und die Weiterentwicklung vorläufiger theoretischer Konzepte auf empirischer Grundlage zu ermöglichen. Wichtig erscheint mir eine kurze Bemerkung zur Länge der ausgewerteten Sequenzen: diejenigen Passagen des Interviews, deren hermeneutische Interpretation Erkenntnisse im Hinblick auf die gestellten Fragen versprach, wurden als zusammenhängende Sinneinheiten verstanden und folglich als kohärente Sequenzen interpretiert. Damit einher geht freilich, dass die Zitate in den Kapiteln, die die empirischen Ergebnisse präsentieren, teilweise sehr umfangreich ausfallen. Gleichwohl bietet dieses Vorgehen in der Darstellung der Interpretation den Vorteil, dass die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse erhöht wird, indem der*die Leser*in die Schritte von der Datengrundlage hin zur Interpretation nachvollziehen 39 Siehe dazu den Begriff der „Fokussierungsmetapher“, der in der rekonstruktiven Sozialforschung Ralf Bohnsacks das zentrale Konzept für die Datenauswahl darstellt: Bohnsack, Ralf: Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse: Grundprinzipien der dokumentarischen Methode. In: Ders./Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, ArndMichael (Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 3., akt. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 241-270. Hier S. 250.

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und überprüfen kann. Insofern trägt das Verfahren dazu bei, in der Nachvollziehbarkeit der Erkenntnisse ein zentrales Gütekriterium sozialwissenschaftlichen Arbeitens zu erfüllen.40 Die ausgewählten Gesprächspassagen wurden hermeneutisch ausgewertet, und damit orientiert sich der Umgang mit den Transkripten an der Arbeitsweise der Geschichtswissenschaft. Wenn sich die Disziplin in ihrer Fortentwicklung auch immer neuen Themenbereichen, Quellensorten und theoretischen Paradigmen der Forschung geöffnet hat, so geht ihr Vorgehen in der Analyse ihrer Quellen doch grundsätzlich auf die methodischen Grundlegungen des Faches zurück: die von Johann Gustav Droysen beschriebene historische Methode, deren Wesen es sei, „forschend zu verstehen.“41 Im Kern der geschichtswissenschaftlichen Hermeneutik steht die genaue Beschreibung und kritische Interpretation der Quellenbasis, um den darin verborgenen Sinn verstehend herauszuarbeiten. Dieses „Sinnverstehen durch das Verstehen seines Ausdrucks“42 erscheint vor allem für die Auswertung textsprachlicher Quellen von besonderem Wert. „Das intuitive, erahnende, und erratende Erfassen des anderen, das heißt des Sinns, der der andere seinen Gedanken, seinem Handeln und sich selber gibt, macht den eigentlichen Akt des Verstehens aus.“43 Freilich handelt es sich bei diesem Vorgehen nicht um einen willkürlichen Umgang mit den ausgewählten Materialien. Vielmehr basiert die hermeneutische Analysearbeit auf Vorannahmen des*r Forschenden, die den Blick auf die analysierten Quellen beziehungsweise Daten prägen. Diese theoretischen Vorannahmen erfahren wiederum durch die Arbeit mit dem analysierten Material eine Weiterentwicklung und bilden die neuerliche Basis für Fragen innerhalb der Analyse. Hans-Georg Gadamer hat dieses Wechselspiel aus „Vormeinung“ und „Meinung des anderen oder des Textes“44 als „hermeneutischen Zirkel“45 bezeichnet und dies als ein grundlegendes Charakteristikum hermeneutischen Arbeitens beschrieben. 40 Bei der Entscheidung für das beschriebene Vorgehen spielten auch die Alternativen eine Rolle: Möglich wäre auch gewesen, die Sequenzen nicht im Haupttext, sondern im Anhang der Arbeit zu präsentieren. Für den*die Leser*in hätte dies aber im Zweifel bei jeder Analyse in der Aufgabe resultiert, je die entsprechende Seite im Anhang aufzuschlagen. Angesichts der Vielzahl der Stellen, an denen ich in den Auswertungskapiteln detailliert mit den Interviewdaten arbeite, würde entweder der Lesefluss durch das ständige Suchen im Anhang massiv beeinträchtigt, oder die Leser*innen würden sich entscheiden, ohne den ständigen Rückgriff auf die Daten zu lesen. Beides halte ich für nicht wünschenswert. 41 Siehe Droysen 1882, S. 9. 42 Goertz 1995, S. 110. 43 Goertz 1995, S. 109. 44 Beide Zitate Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960, S. 252 und 253.

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Die hermeneutische Analyse der ausgewählten Interviewpassagen wird zudem von einem grundlegenden Prinzip der Auswertung geprägt, das auch in historiographischen Arbeiten46, vor allem aber in der empirischen Sozialforschung einen hohen Stellenwert besitzt: die „Constant Comparative Method“47 – den beständigen Vergleich. Dieser stellte ein leitendes Prinzip bei der Auswertung der Datengrundlage dar. Für zahlreiche qualitativ-sozialwissenschaftliche Methoden und Methodologien ist er viel mehr als ein konkreter Arbeitsschritt, eher eine grundsätzliche Forschungshaltung.48 Erst dadurch werden „die Entdeckung, Generalisierung und Spezifizierung“49 von Phänomenen möglich, die ohne den Vergleich kaum sichtbar würden. Die beständigen Vergleiche fanden in dieser Arbeit auf mehreren Ebenen statt: auf der Ebene einzelner Sequenzen desselben Interviews, über den Vergleich mit Passagen anderer Gespräche, bis hin zum Vergleich unterschiedlicher Typen der Aneignung und Authentifizierung von audiovisueller Geschichte wurden gezielt Gemeinsamkeiten und Unterschiede gesucht, um das Verständnis der analysierten Daten zu schärfen. Die hier beschriebenen Methoden und Prinzipien der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von Interview-Daten wurden gewählt, um die Aneignung historischer Darstellungen im Spielfilm bei Jugendlichen fundiert erforschen zu können. Dabei galt es, den Usancen der Geschichtswissenschaft und zugleich der methodischen Expertise in der empirischen Sozialforschung, die ein enorm wertvolles Repertoire bereithält, gerecht zu werden. Die Ergebnisse des beschriebenen Vorgehens werden in den folgenden Kapiteln eine ausführliche Darstellung erfahren.

45 Gadamer 1960, S. 275. 46 Hier wird der historische Vergleich eher auf höheren analytischen Ebenen als einzelnen Passagen von Quellen systematisch beschrieben und angewandt, während er auf der Ebene von Sinneinheiten innerhalb der Quellengrundlage intuitive Verwendung findet. Siehe Kaelble, Hartmut: Historischer Vergleich, Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte 2012. Online unter https://docupedia.de/zg/Historischer_Vergleich (15.8.2016). 47 Glaser/Strauss 2012, S. 101. 48 Siehe dazu u.a.: Palmberger, Monika/Gingrich, Andre: Qualitative Comparative Practices: Dimensions, Cases and Strategies. In: Flick, Uwe: The SAGE Handbook of Qualitative Data Analysis. Los Angeles u.a. 2014, S. 95-108; Bohnsack 2014, S. 216-223; Glaser/Strauss 2012, S. 101-115; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, S. 32-34. 49 Nohl, Arnd-Michael: Komparative Analyse. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried/ Meuser, Michael (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. 3. Aufl. Opladen/Farmington Hills, MI, USA 2011. S. 100-101, hier S. 100.

4

Darstellung der empirischen Ergebnisse

Wie authentisch kann ein Spielfilm für Jugendliche sein, der mithilfe einer fiktionalen Story die Geschichte vom Ende der DDR erzählt? Welche Elemente der erzählten Geschichte nehmen die Rezipienten*innen als glaubwürdige History wahr, und worin sehen sie fiktive Geschichten ohne historischen Bezug? Worauf stützen Zuschauer*innen historischer Audiovisionen ihre Zuschreibung der Authentizität? Welche Ressourcen ziehen sie heran, um das Gesehene für sich zu authentifizieren? Und wie lässt sich dieser Prozess der Authentifizierung als ein Teil der Aneignung historischer, fiktionaler Erzählungen charakterisieren? Die Authentifizierung audiovisueller historischer Narration als Prozess wird in den folgenden Kapiteln ausführlich auf einer empirischen Grundlage herausgearbeitet. Die Analysen betrachten diesen Prozess zunächst von seinem Resultat her und stellen die Frage, inwiefern dem Spielfilm „Der Turm“ von seinen Zuschauern*innen Authentizität zugeschrieben wird. Dabei werde ich verschiedene Typen der Rezeption und Authentizitätszuschreibung beschreiben, die es sich aus der Analyse ergeben haben und voneinander abgegrenzt werden können. Im Anschluss erfahren jene Ressourcen der Authentifizierung Aufmerksamkeit, die aus der subjektiven Perspektive der Zuschauer*innen für die Authentizität der audiovisuellen, fiktionalen Erzählung sprechen. Hierbei werden unterschiedliche Ressourcen systematisch analysiert, die aus unterschiedlichen „Domänen“ der Filmrezeption stammen und die die Zuschauer*innen für bedeutsam halten. Dies können einzelne Filmmerkmale sein bis hin zu Gesprächen der jugendlichen Fernsehzuschauer*innen in ihrer Alltagswelt, die ihnen als Grundlage zur Authentifizierung dienen. Zu guter Letzt wird auf der Grundlage dieser beiden Analyseschritte der Versuch unternommen, die Authentifizierung als den wesentlichen Aspekt der Aneignung fiktionaler historischer Erzählungen zu beschreiben und einige seiner Wesensmerkmale herauszuarbeiten. Die aufzustellenden Thesen darüber, welche Eigenschaften diesen Prozess charakterisieren, sollen damit ein umfassendes Bild ergeben, das zu einem tiefergehenden Verständnis der Frage beiträgt, wie Geschichte im Supermedium historischer Audiovision von ihrem Publikum rezipiert wird. Dies stellt aus ge-

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schichtswissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive ein lohnendes Erkenntnisinteresse dar und verspricht Einsichten in und den Umgang von Nutzern*innen mit historischen Medienangeboten, darüber hinaus aber auch in die gegenwärtige, mediatisierte Geschichtskultur, in der das bewegte Bild die bedeutendste Form historischen Erzählens repräsentiert.

4.1 TYPEN DER REZEPTION UND AUTHENTIZITÄTSZUSCHREIBUNG Für wie authentisch halten die jugendlichen Rezipienten*innen also den von ihnen gesehenen Spielfilm über das Ende der DDR? Ein allererstes Fragment aus den geführten Gesprächen verdeutlicht die Relevanz dieser Frage: ST: […] ähm also bei der Dokumentation spielt mir die Glaubwürdigkeit eine größere Rolle als beim Film, weil beim Film ja auch oft vieles dazugedichtet wird oder dazugeschrieben wird.1

Die Glaubwürdigkeit des Spielfilms „Der Turm“ ist in diesem kurzen Ausschnitt nicht nur für die Interviewpartnerin Stacy offenbar ganz grundsätzlich ungewiss: Während Glaubwürdigkeit in ihren Augen für eine Fernsehdokumentation eine wesentliche Eigenschaft sei, werde die Frage danach bei einem Spielfilm dadurch verkompliziert, dass die Dichtung hier buchstäblich eine Rolle spielt. In Stacys Verständnis wird die Grenze zwischen „Dazugedichtetem“ und einem imaginierten Ursprünglichen, Historischen unscharf. Somit stellt sich umso mehr die Frage – nicht nur für den ARD-Zweiteiler „Der Turm“, sondern für alle Spielfilme, die Geschichte und Geschichten erzählen – wo für Zuschauer*innen Geschichte endet und Dichtung beginnt, was für sie authentisch, und was fiktive Filmstory ohne historischen Bezug ist. Im Folgenden möchte ich daher zunächst der Frage nachgehen, ob die im „Turm“ erzählte Geschichte für meine Interviewpartner*innen authentisch ist, ob der Film als historische Erzählung für sie glaubwürdig Geschichte erzählt. Wie se1

Transkript ST, BS, Z. 974-976. Die Verweise auf die Transkripte enthalten hier und im Folgenden das Kürzel der maskierten Namen der Interviewpartner*innen, das Kürzel für den Ort des Interviews (MD entspricht Magdeburg, BS steht für Braunschweig) sowie die Zeilenangaben im Transkript, das sich jeweils im Anhang der Arbeit befindet. Alle von mir verwendeten Namen stellen Maskierungen dar, um die Anonymität meiner Interviewpartner*innen zu gewährleisten. „Bei allen Namen wird versucht, den kulturellen Kontext, aus dem ein Name stammt, beizubehalten“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, S. 167).

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hen Jugendliche diesen Spielfilm, der deutsche Zeitgeschichte erzählt? Welchen Elementen der Filmstory schreiben sie Authentizität zu? Diese Fragen nach der Rezeption und Authentizität des Spielfilms lassen sich anhand der Nacherzählungen des „Turms“ beantworten, um die ich meine Interviewpartner*innen gebeten habe. Sie zeigen eine Lesart auf, die das Ergebnis der Rezeptions- und Aneignungsprozesse meiner Gesprächspartner*innen darstellt. Die Frage nach der Authentizität der Erzählung zeigt sich hier in der Frage, ob denn das Erzählte für die Jugendlichen historisch, ob die Filmstory in ihren Augen auch History ist. Was meine Interviewpartner*innen in ihrer Nacherzählung als historisch charakterisieren und nicht mit einem Zweifel versehen, lässt in der Analyse den Schluss zu, dass sie dies auch für authentisch erzählte DDR-Geschichte im Spielfilm „Der Turm“ halten. Anders gewendet: Das für die Jugendlichen Authentische des Spielfilms taucht in ihren Eingangserzählungen als historisches Narrativ wieder auf. Zudem geben die Eingangserzählungen Einblick darin, wo für die Jugendlichen konkret die Grenze zwischen Geschichte und „Dazugedichtetem“ verläuft, welche Elemente der Spielfilmhandlung für sie also fiktiv und nicht historisch, und welche Elemente für sie authentisch sind. Die wesentlichen Elemente der audiovisuellen Erzählung, die hier in den analytischen Fokus treten, leiten sich aus den oben gemachten, erzähltheoretischen Bemerkungen ab: Als Konstituenten der Handlung des Spielfilms werden vor allem die Figuren, der Ort und die Zeit in den Nacherzählungen der Jugendlichen genauere Betrachtung erfahren.2 Die Frage, inwieweit diese drei bestimmenden Elemente der Erzählung in den Auftaktsequenzen der Interviews als historisch glaubwürdig bewertet werden, stellt das implizite Analyseraster des folgenden Kapitels bereit. 4.1.1 Authentische Fiktion: Potentiell historische Figuren in einer historischen Spielfilmwelt Der Blick auf eine erste Interviewsequenz erlaubt es, sich der Frage anzunähern, wie authentisch die historische Audiovision für die Jugendlichen ist. LudwigTheodor stammt aus Magdeburg und steht zum Zeitpunkt des Interviews knapp eineinhalb Jahre vor dem Abschluss des Abiturs. Er ist ein vielseitig interessierter junger Mann, in der Schule sehr leistungsstark und selbstbewusst. Gleich am Beginn unseres Gespräches gibt mein Interviewpartner aus seiner Perspektive Auskunft darüber, wie authentisch der historische Spielfilm für ihn ist. I: […] gibt=s bis dahin erstmal Fragen deinerseits? LT: °Nee.°

2

Vgl. Zipfel 2001, S. 79f.

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I: Okay. dann würde ich dich bitten, zum Anfang mir den Turm zu erzählen, ganz ausführlich von Anfang an. LT: Okay. das das ist an oder? I: Das ist an, ja. LT: Wär schade, wenn nicht. I: @(.)@ ja die rote Lampe zeigt es an. LT:

└Okay.┘(.) °Tu-° also der Turm (.) spie:lt zum Ende: (.) de:r Zeit

der Deutschen Demokratischen Republik, ähm speziell in Dresden, und handelt von der Geschichte der Familie:, ähm einer dort lebenden (.) °ja Familie=eben,° //mhm// (.) und zwar ist diese Familie ein bisschen besser gestellt, also der Vater ist Arzt, (.) äh guter Chirurg, ähm und sie leben im (.) Turm quasi nennt man dieses Gebiet, in dem sie leben in (.) Dresden, das ist so=n bisschen höher als der Rest, u:nd ja (.) es geht eben darum, wie diese Familie (.) quasi diese Gratwanderung zwischen ähm Parteilinie und Individualität versucht zu machen, also (.) die haben persönliche Ziele, Sachen die sie erreichen möchten, zum Beispiel möchte der Vater ähm Klinikchef werden, und der Sohn möchte studieren, und das allerdings während sie gleichzeitig eben mit dieser (.) politischen Ideologie der DDR nicht so ganz klarkommen. da müssen sie versuchen, irgendwie so den Mittelweg zu gehen, auf der einen Seite, dass sie es sich nicht komplett verscherzen mit dem System, denn wie auch im Film gezeigt wird, ist die Stasi überall und greift ein, auf der anderen Seite möchten sie natürlich ihre Ziele erreichen und (.) das ist so das Hauptproblem. und dann zeigt der Film quasi die letzten Jahre der DDR, (.) und man sieht dann, wie so langsam wirklich immer mehr der Widerstand der Bevölkerung wächst, wie: dann: die Leute auf die Straße gehen, sich dagegen auflehnen, wie aber gleichzeitig die DDR äh die Stasi auch irgendwie Sachen dagegen unternimmt, wobei das ein bisschen untergeordnete Rolle spielt in diesem Film, es geht mehr um das persönliche Schicksal einzelner Leute, //mhm// (.) also: dann ausführlicher dargestellt wird (.) das Leben in der NVA, aus Sicht eines jungen (.) Soldaten, der auch eher regimekritisch ist, beziehungsweise (.) ähm einfach andere Interessen hat, also er ist ininteressiert an Literatur, er ist ähm Cellist, spielt Schach anstelle von anderen Sportarten, und damit von Anfang an irgendwie so ein bisschen abgegrenzt in der NVA, //mhm// und (.) das merkt man zum einen daran, dass die Offiziere (.) gleich von Anfang an: so=n bisschen gegen ihn sind quasi, weil er eben anders ist, aber auch seine Mitkameraden. das merkt man auch daran, dass in dieser einen Szene, wo: (.) sein Freund dann quasi dort ähm (.) ja quasi gefoltert wird, als Strafe dafür, dass er (.) ein Gedicht geschrieben hat, möchte er sich dafür einsetzen, dass das nicht gemacht wird, während die anderen ihn einfach foltern. °ihren Mitkameraden.° (2)

ja und die: Geschichte endet dann damit, dass (.) die

DDR (.) ähm offen wird nach außen, dass die Grenzen (.) offen sind und (.) dass sich die Schicksale quasi (.) positiv ände- k- ändern, auflösen kann man jetzt nicht sagen, denn (.) der

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 151

Vater hat sein Ziel den Klinikchefposten nicht erreicht, aber die DDR löst sich auf, also noch nicht ganz, aber ist kurz vor der Auflösung, und da freuen sich alle drüber und (.) ja.

3

Ludwig-Theodor reagiert zunächst überraschend auf die Erzählaufforderung. Er antwortet mit einer Gegenfrage, die sich auf das Aufnahmegerät bezieht. Er möchte wissen, ob es denn auch angeschaltet sei, und damit sichergehen, dass seine Antwort auch dokumentiert wird. Statt diese Frage bereits im Vorgespräch zu stellen, stellt er sie erst nach der Bitte, den „Turm“ zu erzählen. Und erst nach der Versicherung, dass seine Antwort auch tatsächlich digital festgehalten wird, beginnt er mit der eigentlichen Erzählung. Ludwig-Theodor dokumentiert hier ein regelrechtes Sendungsbewusstsein und schreibt seiner folgenden Antwort damit eine Bedeutung zu, die über das Interview selbst hinauszugehen scheint – so, als ob er hinter dem Aufnahmegerät ein Publikum wähnt, das größer ist als in der konkreten Situation des Interviews. Seine Nacherzählung beginnt unmittelbar mit einer historischen Verortung der Spielfilmhandlung: „der Turm (.) spie:lt zum Ende: (.) de:r Zeit der Deutschen Demokratischen Republik, ähm speziell in Dresden“. Damit versetzt Ludwig-Theodor die Story des Films in eine Situation, die er verhältnismäßig präzise zeitlich, räumlich und ereignisgeschichtlich benennt. Dass ihm die historische Präzision bei der Erzählung seiner Lesart besonders wichtig ist, wird auch in der Wortgruppe „Deutschen Demokratischen Republik“ sichtbar – so als würde er, einem Vokabeltest gleich, hier ausbuchstabieren und damit eindeutig kenntlich machen wollen, was sich hinter der umgangssprachlich viel gebräuchlicheren Abkürzung „DDR“ genau verbirgt. Der Jugendliche will nicht nur sichergehen, dass er gehört wird – er will präsentieren, was er über die historischen Umstände der Filmhandlung weiß. Die Welt, in der die Handlung des „Turms“ spielt, ist für meinen Gesprächspartner zweifellos eine historische. Nicht nur die erzählte Zeit identifiziert er relativ präzise, interessanterweise bestimmt er auch den Ort der Spielfilmhandlung genauer: dass es sich dabei nämlich um den namensgebenden „Turm“ handelt, wie „man“ dieses Gebiet nenne. Eben in diesem „man“ zeigt sich, dass Ludwig-Theodor hier vermeintliches historisches Wissen über die Stadt Dresden in die Nacherzählung integriert – „man“ wisse schließlich, dass dieses Viertel in Dresden in der Realität existiere. Tatsächlich heißt besagtes Viertel im realen Dresden „Weißer Hirsch“, erst Uwe Tellkamp nennt den Ort seiner Romanhandlung den „Turm“. Ungeachtet 3

Transkript LT, MD, Z. 132-156. Bei der Zitation der Eingangssequenzen gilt es abzuwägen zwischen der Lesbarkeit des Analysekapitels und der Nachvollziehbarkeit der Interpretationen. Letztendlich halte ich letztere für wichtiger, bin mir aber zugleich über den Bruch des Leseflusses im Klaren. Eingangserzählungen bis zu einer Länge von einer Seite zitiere ich vollständig, die längeren auszugsweise. Meine Interviewpartner*innen werden maskiert, meine eigenen Passagen markiere ich mit einem „I“ (Interviewer).

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dessen – ähnliche Phänomene werde ich an späterer Stelle thematisieren – ist hier entscheidend, dass aus der Sicht von Ludwig-Theodor die Filmhandlung in einem Viertel der Stadt spielt, das seines Wissens der historischen Realität entspringt, und der ARD-Zweiteiler damit an einem historischen Ort zu einer historischen Zeit spielt. Beide sind für ihn ganz offenbar historisch und die filmische Erzählung in diesen Punkten damit zweifellos für ihn authentisch. Zugleich offenbart sich im Beginn der Erzählung auch die von ihm vorgenommene Schwerpunktsetzung: Noch bevor auch nur ein einziges Wort auf die konkrete Filmhandlung oder ihre Figuren verwendet wird, wird die Story aus einem historischen Blickwinkel heraus eingeleitet. „Der Turm“ ist als Film für ihn offenbar vor allem insofern wichtig, als dass er deutsche Zeitgeschichte erzählt, und diese Perspektive bildet den Rahmen seiner gesamten Filmnacherzählung. Erst in der Folge fokussiert die Sequenz stärker auf die Filmhandlung und wird im eigentlichen Sinne eine Nacherzählung. Mein Interviewpartner berichtet von den Figuren des Spielfilms, er spricht über Ziele und Handlungen vor allem der Figur des „Arztes“ und seines Sohnes. Er erzählt von der Karriere des einen und den Plänen des anderen, und vor allem die Figur des Christian Hoffmann wird mit einer Episode der Filmhandlung, die seinen Wehrdienst bei der NVA detaillierter ausführt, etwas intensiver dargestellt. Gleichwohl fällt aber über die gesamte Erzählung auf, dass die konkrete Filmhandlung und ihre Figuren nicht nur relativ distanziert erzählt werden, sondern dass Ludwig-Theodor die Nacherzählung des Figurenhandelns im Film immer wieder unterbricht. Mit Einschüben löst sich seine Erzählung vom Filmgeschehen. Mein Gesprächspartner ordnet dieses immer wieder historisch ein, sei es als Erläuterung, „(.) Turm quasi nennt man dieses Gebiet, in dem sie leben in (.) Dresden,“ oder in der Form einer Abstraktion des Geschehens wie „quasi diese Gratwanderung zwischen ähm Parteilinie und Individualität versucht zu machen,“. Auch im Folgenden oszilliert die Interviewsequenz so zwischen dem konkreten Filmgeschehen und seiner Einordnung und Bewertung in historischer Hinsicht. So abstrahiert Ludwig-Theodor innerhalb der Eingangserzählung mehrfach, welche historischen Aspekte der Film darstelle, wie in der Passage „denn wie auch im Film gezeigt wird, ist die Stasi überall und greift ein“. Er nimmt in seine Erzählung sogar Bereiche der DDR-Geschichte auf, die ihm zufolge gar nicht Teil der Spielfilmhandlung des „Turms“ seien, sondern wie etwa die konkreten operativen Maßnahmen der Staatssicherheit wohl in anderen Filmen stärker im Mittelpunkt stünden. Darin zeigt sich deutlich, dass er den Film aus einer historisch fokussierten und informierten Perspektive rezipiert und dessen konkrete Handlung, das Agieren der Filmfiguren, erst in zweiter Instanz für ihn bedeutsam wird. Zugespitzt ließe sich dies als eine historisierende Rezeptionshaltung interpretieren, die sich überwiegend in einem Willen zur historischen Abstraktion von der konkreten Darstellung in der

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Filmhandlung hin zu geschichtlich relevanten, allgemeineren Themenbereichen dokumentiert. Die einzige Episode innerhalb der Eingangssequenz, in der er tatsächlich eine Nacherzählung einer konkreten Szene des Spielfilms liefert, taucht erst kurz vor dem Ende der Eingangserzählung auf. Hier erzählt Ludwig-Theodor vom Außenseiterdasein des Protagonisten, und in der Tat steht hier etwas lebhafter ein konkreter Aspekt der Handlung des „Turms“ im Zentrum. Aber auch diese Episode ist in einen abstrakten Rahmen eingebettet: „[…] (.) also: dann ausführlicher dargestellt wird (.) das Leben in der NVA, aus Sicht eines jungen (.) Soldaten, der auch eher regimekritisch ist, beziehungsweise (.) ähm einfach andere Interessen hat, also er ist in- interessiert an Literatur, er ist ähm Cellist, spielt Schach anstelle von anderen Sportarten […]“. Die Nacherzählung verfährt auch an dieser Stelle nach dem Muster, von einem Abstraktum, einem historischen Themenbereich, dem „Leben in der NVA“, auf die konkrete Darstellung dieses Bereiches im Film zu kommen. Ludwig-Theodor dokumentiert darin seine Blickrichtung auf den Film, die deduktiv ausgerichtet ist, indem die Story einer Figur hier als bloßes Anschauungsmaterial, als Ins-Bild-Setzen für einen zuvor angesprochenen abstrakten Themenbereich der DDR-Geschichte erzählt wird. Anders gewendet wird das Handeln der Figuren im Film für ihn nur dann bedeutsam, wenn sich aus seiner Perspektive darin historische Aspekte zeigen – er sieht den Spielfilm durch eine historisierende Brille. Auch den anderen Figuren des Films möchte sich Ludwig-Theodor nur bedingt nähern. Ihre Namen werden allesamt nicht genannt, sie werden stattdessen nach ihrer sozialen beziehungsweise professionellen Rolle im Spielfilm („Vater“, „Arzt“, „Sohn“, „Soldat“) bezeichnet und bleiben insofern anonym. Ihre Entwicklung und ihr Handeln sind für ihn nur von Interesse, wenn sie Historisches darstellen, ihre Story wird durchweg der erzählten History untergeordnet. Das zeigt sich auch an dem von ihm zugeschriebenen Status der Figuren: Sie sind von Beginn der Sequenz an mit dem historischen Ort und der historischen Zeit verbunden, von der er erzählt. Deutlich wird aber hier erneut, dass sich in den Figuren konkretisiert, was für Ludwig-Theodor historisch abstrakt relevant ist: Allen Passagen, die vom Handeln der Filmfiguren erzählen, ist ein historischer Rahmen vorangestellt: „es geht eben darum, wie diese Familie (.) quasi diese Gratwanderung zwischen ähm Parteilinie und Individualität versucht zu machen, also (.)“; „und dann zeigt der Film quasi die letzten Jahre der DDR,“; „also: dann ausführlicher dargestellt wird (.) das Leben in der NVA,“. Auch mit Blick auf seine Charakterisierung der Protagonisten ist folglich die Abstraktion das leitende Muster seiner Rezeption. Dies wiederum gibt Einblick in die Frage nach der Authentizität der Figuren aus der Perspektive des jugendlichen Film-Zuschauers: Wenn die Protagonisten des Spielfilms Ludwig-Theodor erlauben, in ihnen allgemeine historische Phänomene der DDR-Geschichte zu entdecken und von ihnen damit auf allgemeine historische Gegebenheiten zu abstrahie-

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ren, müssen die Figuren für ihn authentisch sein, insofern sie für ihn historisch glaubwürdiges Handeln darstellen. Diese Authentizität der Figuren speist sich aus der thematischen Schwerpunktsetzung, die Ludwig-Theodor im Film erkennt. Für ihn steht vor allem die Verknüpfung von Alltags- und politischer Geschichte im Zentrum der Erzählung. Nachdem er das „Hauptproblem“ des Films (Anpassen vs. Widerstehen des*r Einzelnen) benannt hat, führt er die Opposition der Bürger*innen und die Staatssicherheit als Themen ein. Die filmische Darstellung dieser politikgeschichtlichen Problematik verortet er jedoch auf einer individuellen Ebene: „es geht mehr um das persönliche Schicksal einzelner Leute“. Insofern zeigen sich für ihn anhand der Darstellung der Figuren die Auswirkungen der politischen Gegebenheiten in der DDR auf den*die Einzelne*n in dessen*deren Alltag. Es sind die relative Unbedeutsamkeit und buchstäbliche Anonymität der Figuren, die aus seiner Perspektive erlauben, diese als authentisch zu beschreiben. Ihr Handeln findet zwar an einem Ort und in einer Zeit statt, die für ihn vor allem mit Blick auf die politischen Ereignisse historisch sind, auf beides jedoch nehmen die Figuren des Spielfilms keinen Einfluss – das Handeln der Figur der Anne Hoffmann etwa, die als Teil der Bürgerbewegung dargestellt wird, bleibt in der Eingangserzählung des jungen Magdeburgers gänzlich unerwähnt. Die Figuren und ihr Handeln im Film sind für Ludwig-Theodor nicht konkret historisch, da sie keine bedeutenden Akteure der Geschichte, sondern nur anonyme Handelnde sind, die gewissermaßen die Auswirkungen der Politik in ihrem Alltag spüren. So sind sie Objekte des Films, an denen sich die historischen Gegebenheiten in ihren Auswirkungen zeigen, sie werden jedoch nicht zu Subjekten, die diese Umstände mitbestimmen. In dieser Darstellung der Auswirkungen der Politik auf den Alltag in der DDR sind sie für Ludwig-Theodor authentisch. Sie erhalten von ihm den Status erzählerischer Platzhalter, sind für ihn Personifizierungen der politischen Unterdrückung in der DDR und deren Auswirkungen auf den Alltag der Bürger, auf die namenlosen Individuen, die die Politik der DDR mit ihren Konsequenzen im Alltag ertragen. Die Figuren dienen Ludwig-Theodor in seiner Erzählung somit als Illustrationen und Konkretionen glaubwürdiger historischer Sachverhalte. Seine Nacherzählung endet mit einem Blick auf den historischen Rahmen, in dem sich die Handlung des „Turms“ bewegt. Nach einer längeren Pause blickt Ludwig-Theodor zusammenfassend auf das Filmende und charakterisiert es als Darstellung vom Ende der DDR, in dem sich die Figuren – er korrigiert diese Formulierung sogleich – in der Ereignisgeschichte der DDR „auflösen“, ganz genau so, wie sich die DDR als Staat auflöse. In dieser sofort revidierten Aussage zeigt sich das Ergebnis der Analyse – die Figuren lösen sich in der historischen Thematik, die mit ihrer Hilfe dargestellt wird, buchstäblich auf. Auch zum Abschluss der Sequenz wird damit ein historischer Rahmen um die Story gespannt, für den die dargestellten Figuren eine erst in zweiter Instanz relevante, filmische Konkretion darstellen.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 155

Die vorliegende Filmnacherzählung stellt zusammengefasst eine betont sachliche, wohlüberlegte und reflektierte Lesart dar, die von ihrem Erzähler als beispielhaft und insofern auch der digitalen Dokumentation würdig erachtet wird. Er schreibt der fiktionalen Erzählung im „Turm“ den Status einer glaubwürdigen, auch in ihren Figuren authentischen Erzählung von der DDR zu. Sichtbar wird allerdings die unterschiedliche Charakterisierung von Zeit und Ort gegenüber den Figuren und ihrem Handeln: Während die Welt des Films zweifellos für ihn das historische Dresden der späten Achtzigerjahre zeigt und damit ganz konkret historisch ist, charakterisiert er die Protagonisten und ihr Handeln durchaus als authentisch, schreibt ihnen jedoch keine buchstäbliche Historizität zu. Die Figuren des Filmes stellen für ihn keine historischen Personen dar. Stattdessen sind sie für Ludwig-Theodor anonyme, potentiell mögliche und plausible, authentische Figuren zur Darstellung der Politik- und Alltagsgeschichte der DDR: es handelt sich um fiktive, aber authentische Figuren in einer ebenso authentischen historischen Erzählung. Dass es sich bei den Filmfiguren jedoch um tatsächlich historische Personen handeln könnte, ist für meinen Interviewpartner keine Überlegung wert. Damit werden sie für ihn in einem Modus des historischen Potentialis erzählt, der allgemeine Phänomene der DDRGeschichte mithilfe der Filmfiguren darstellbar macht. Das starke Sendungsbewusstsein, das sich eingangs der Nacherzählung bei Ludwig-Theodor dokumentiert, fügt sich in dieses Rezeptionsmuster und die Art der Authentizitäts-Zuschreibung: Die Lesart des Spielfilms von Ludwig-Theodor und seine differenzierte Zuschreibung von Authentizität gegenüber den Elementen des Spielfilms können geradezu als ‚beispielhaft‘ beschrieben werden, die wohlüberlegt und reflektiert vorgetragen werden und dem ‚aufgeklärten‘ Diskurs um fiktionale historische Spielfilme in ihrer Authentizitäts-Zuschreibung entsprechen. Gerade dieser Mustergültigkeit ist sich Ludwig-Theodor offenbar bewusst, sie legitimiert das Sendungsbewusstsein, das sich in der Interviewsequenz dokumentiert. Die beschriebene Art des Umgangs mit dem Spielfilm, die sich für dieses Medium in erster Linie als historische Darstellung interessiert, Ort und Zeit der Handlung historisch verortet und die fiktiven Elemente zurückstellt beziehungsweise nur in ihrem historisch-erzählerischen Zweck beachtet, zeigt sich auch bei anderen Interviewpartnern*innen. Insbesondere das Leitmotiv der Abstraktion und die differenzierte Zuschreibung von Authentizität gegenüber Ort, Zeit und Figuren finden sich ähnlich auch bei Laura Pia, die ebenfalls aus Magdeburg stammt: I: […] ich würde vorschlagen, wir fangen erstmal an, ich würde dich bitten, mir den Turm zu erzählen, also die Geschichte des Turms zu erzählen, ähm ganz ausführlich von Anfang an. LP: @(.)@. also soweit ich mich da noch erinnern kann, war das so, dass der Turm ist ähm ein höher gelegener Stadtteil von: °Leipzig, oder so,° und also ich weiß nicht da war auch irgendwas mit nem weißen Hirsch, //mhm// also das (.) heißt irgendwie so, und ähm (.) das war so, dass da die Leute sozusagen also da so ja haben eben Leute gelebt und die (.) das war

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vor allen=Dingen in der DDR so, dass unten im in der Stadt Dresden fand eben so das normale DDR Leben statt, und die Leute die da oben gewohnt haben, haben sozusagen so=n bisschen davon ja entfernt gefühlt, und sich so ihr eigenes privates Leben aufgebaut, //mhm// was ja ähm generell so ein Motiv der DDR war, dass man sich immer weiter °so ins Private zurückzog,° und ähm (.) ja (.) dann wurden sie aber damit eben dann doch konfrontiert wenn sie ähm sozusagen runter in die Stadt gehen mussten und um da zu arbeiten oder einzukaufen oder irgendwas zu machen, aber dass sozusagen der Turm so (.) also (.) so=ne eigene kleine Welt war sozusagen in der man (.) °gelebt hat.° ja das war so das was ich so mitbekommen habe und (.) ja das (.) was ich auch noch weiß ist dass ähm (.) also ich glaube in=der=DDR aber das war glaube ich generell in Dresden so, dass da viele alte Häuser standen, die dann auch verfallen sind, u:nd °(

) nee, @(.)@° und ähm (.) ja die sind verfallen und °dass das

sozusagen ja so=n bisschen das Bild zerstört hat, von Dresden, aber (.) //mhm// also mehr würde mir dazu jetzt persönlich nicht unbedingt @einfallen.@°4

Formal fällt die Kürze der Antwort auf. Laura Pia antwortet hier stark fokussiert, und erst im Verlauf dieser Passage wird klar, worauf ihr Fokus genau liegt: Sie reagiert auf die Aufforderung, „mir den Turm zu erzählen, also die Geschichte des Turms zu erzählen,“, indem sie sich zunächst allein auf das namensgebende Stadtviertel konzentriert, in dem „Der Turm“ spielt. Unmittelbar am Beginn ihrer Antwort ist sie bestrebt, diesen Ort möglichst genau zu bestimmen. Selbst wenn sie den „Turm“ als Viertel in „Leipzig“ statt in Dresden identifiziert und sich dabei nicht sehr sicher zu sein scheint („oder so“), handelt es sich damit doch beim Handlungsort des Films für sie zweifellos um eine ostdeutsche Stadt. Zudem ist diese Stadt für sie konkret identifizierbar, sie ist mit ihrem Namen benennbar und keineswegs nur irgendeine, sondern eine bestimmte ostdeutsche Stadt. Implizit revidiert sie zwar ihre Verortung im Folgenden und konzentriert sich in ihrer Antwort dann doch auf die Stadt „Dresden“ – gleichwohl handelt es sich bei beiden Orten um Großstädte, die nicht nur in Ostdeutschland liegen, sondern auch für die deutsche Zeitgeschichte und die Geschichte der deutsch-deutschen Teilung bedeutsam sind und insofern ihre historische Bedeutsamkeit Teil ihres ‚Images‘ ist. Ähnlich wie Ludwig-Theodor bestimmt die Interviewpartnerin damit einerseits präzise den Ort der Spielfilmhandlung, andererseits aber zumindest implizit auch die Zeit, in der der Film spielt. Nicht nur die Verbindung beider Orte mit der DDR-Geschichte macht dies deutlich, auch die mehrmalige Nennung der „DDR“ zeigt in dieser Interviewpassage, dass Laura Pia die Handlung des Filmes ohne Zweifel im sozialistischen Teil Deutschlands verortet. Demnach findet die Spielfilmhandlung für meine Interviewpartnerin an einem präzise identifizierbaren, in der DDR gelegenen Ort statt – dessen Darstellung im Spielfilm ist insofern für sie zweifellos authentisch.

4

Transkript LP, MD, Z. 17-39.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 157

Zudem dokumentiert sie in dieser Passage sehr klar, wie stark sie die filmische Erzählung für eine authentische Darstellung der DDR-Geschichte hält. An zwei Stellen generalisiert sie Filminhalte zu allgemeingültigen Aussagen über das Leben in der DDR: Auf ihre sehr allgemeinen Ausführungen über die Bewohner des Stadtviertels und deren Leben im Privaten folgt die allgemeine Erkenntnis: „was ja ähm generell so ein Motiv der DDR war, dass man sich immer weiter °so ins Private zurückzog,°“. Auch die Darstellung verfallender Gebäude verallgemeinert sie auf die DDR insgesamt oder zumindest auf das Dresden während der zweiten deutschen Diktatur („in=der=DDR aber das war glaube ich generell in Dresden so“), und nicht zuletzt die Verwendung des unbestimmten „man“ signalisiert, dass sie die filmische Erzählung für eine verallgemeinerbare und folglich authentische Darstellung der DDR hält. Somit ist auch in diesem Fall erkennbar, was bereits für das vorige Fallbeispiel galt: Der Ort im Film und das Handeln der Filmfiguren erscheinen der Rezipientin als derart authentisch, dass die Darstellung beispielhaft als Illustration geschichtlicher Aspekte gelten darf. Wenn die Figuren in diesem Fall ebenfalls namenlos bleiben und nicht identifiziert werden, zeigt sich darin eben jene anonyme Authentizität, die bereits Ludwig-Theodor den Figuren des Spielfilms zugeschrieben hatte. Nicht zufällig geht dieser Befund damit einher, dass es hier erneut alltagsgeschichtliche Aspekte sind, für die die anonymen Filmfiguren authentische Personifizierungen darstellen, in diesem Fall die Wohn- und Lebensverhältnisse in Dresden in der DDR. In weiteren Passagen des Interviews5 zeigen sich auch im Fall von Laura Pia die gleichen Muster wie zuvor bei Ludwig-Theodor. Sie berichtet zwar noch ausführlicher über die konkrete Filmhandlung, verbleibt jedoch ebenfalls in einer auffälligen Distanz zu den Figuren und versucht, von deren konkretem Handeln auf allgemeinere Aussagen zur Geschichte der DDR zu abstrahieren. Diese auffälligen Parallelen zwischen beiden Fallbeispielen und weiteren Interviewpartner*innen, die in den Interviews einen ähnlichen Umgang mit dem Spielfilm „Der Turm“ dokumentieren, deuten damit auf einen gemeinsamen Typus der Rezeption und AuthentizitätsZuschreibung hin: Sein Wesen besteht zusammengefasst in der konkreten Identifikation des Handlungsortes des Spielfilmes mit der DDR, und überwiegend wird sogar die Stadt, in der der Zweiteiler spielt, präzise benannt. Es handelt sich bei der Filmstory für diesen Typus nicht um eine Handlung an irgendeinem möglichen, sondern einem bestimmten, historisch genau identifizierbaren Ort. Die Spielfilmhandlung wird mit einer konkreten außerfilmischen Realität verbunden, statt allein innerhalb einer fiktiven Filmwelt zu verbleiben. Die fiktionale Erzählung des Spielfilms handelt für diesen Typus nicht von einem Nicht-Ort – so, wie etwa Märchen an realweltlich nicht identifizierbaren Orten spielen –, sondern wird klar als Referenz auf einen außerhalb der Filmwelt liegenden, historischen Ort verstanden. 5

Vgl. Transkript LP, MD, Z. 41-81.

158 | Wie Stories zu History werden

Ähnliches gilt für die Identifikation der Zeit, in der diese Handlung angesiedelt ist: Die Interviewpartner*innen, die ich diesem Typus zurechne, bestimmen die Handlung zeitlich relativ präzise und verorten sie bisweilen bis auf die Jahreszahl genau im letzten Jahrzehnt der DDR. Auch hierin zeigt sich eine Bestimmtheit, die die Handlung nicht nur vage in eine wie auch immer geartete historische Zeit oder nur grob in die Geschichte der DDR versetzt, sondern der audiovisuellen Darstellung eine ganz konkrete Authentizität zuschreibt. Der hier beobachtete Typus der Rezeption ist bestrebt, die Ereignisse auf dem Bildschirm als historische Ereignisse zu identifizieren, und verweist damit auch bezüglich der im Film erzählten Zeit auf eine ganz konkrete außerfilmische, historische Realität. Der Spielfilm wird damit im Hinblick auf die Zeit als authentische Darstellung der DDR in den Achtzigerjahren rezipiert. Ich halte diese Beobachtung für höchst relevant: Statt die Handlung schlicht vage in der DDR zu einer nicht genauer benannten Zeit innerhalb der DDR-Geschichte zu verorten, werden diese beiden Koordinaten der Story sehr präzise bestimmt. Darin verborgen liegt eine Authentizitäts-Zuschreibung, die wohl über das Maß anderer fiktionaler Erzählsituationen hinausgeht. Ort und Zeit werden als Darstellungen der DDR-Geschichte identifiziert, die ganz konkret authentisch, bis ins Detail (ob Jahreszahlen oder städtisches Erscheinungsbild) historisch glaubwürdig erscheinen. Die im Film dargestellten Handlungen der Figuren hingegen werden von den Rezipienten*innen dieses Typus nicht als konkret historisch, wohl aber abstrakt als authentisch charakterisiert. So ist es insbesondere das alltägliche, nicht-politische, jedoch von der Politik bestimmte private Handeln innerhalb einer historischen Film-Welt, die sie zu glaubwürdig agierenden Figuren und zu authentischen Personifizierungen potentiell vorstellbarer Handlungsträger macht. Die Zwänge, in denen sich die Figuren bewegen, die Auswirkungen staatlichen Handelns auf das alltägliche Leben Einzelner in der DDR, beurteilen die Jugendlichen als authentisch dargestellt. Die Figuren werden von ihnen in diesem Fall durchaus als fiktiv, gleichwohl aber als historisch glaubwürdig identifiziert, und stellen somit erzählerische Platzhalter für das alltägliche Leben der Bürger in der DDR dar, die ihren Alltag zwischen politischer Repression und selbstbestimmtem Handeln gestalten mussten. Der Spielfilm wird vom vorgestellten Typus damit als authentische Fiktion rezipiert: Wenn auch die Figuren keine historischen Personen sind, wenn auch ihr Handeln im Spielfilm kein konkretes historisches Vorbild besitzt und sie damit fiktiv sind, so handeln sie doch an einem präzise identifizierbaren historischen Ort und stellen sehr glaubwürdig dar, wie das alltägliche Leben in der DDR für den*die Einzelne*n im Spannungsfeld zwischen Politik und Alltag ausgesehen hat.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 159

4.1.2 Ahistorische Lesarten: Film-Geschichten ohne Geschichte Dass gegenüber diesem Typus und den dargestellten Authentizitätszuschreibungen auch vollkommen andere Lesarten möglich sind, zeigt sich bereits in der folgenden Nacherzählung: Michaela ist eine Braunschweiger Abiturientin, für die ihre Familie – dies wird für die bei ihr erkennbaren Authentifizierungs-Ressourcen noch wichtig werden – eine bedeutende Rolle in ihrem Leben spielt. Insbesondere begegnet ihr die Geschichte der deutsch-deutschen Teilung in den Zeitzeugen*innenErzählungen ihrer Familienmitglieder, wie sie an zahlreichen Stellen im Interview ausführt. Zudem gehört sie innerhalb der Gruppe meiner Interviewpartner*innen zu jenen, die besonders regelmäßig Geschichte im Fernsehen ansehen, vor allem im Format von Dokumentationen. Sie erzählt mir die Geschichte des „Turms“ zu Beginn des Interviews mit einer ganz anderen Schwerpunktsetzung als die zuvor gezeigten Fallbeispiele: I: Ich würde dich bitten, dass du mir ganz ausführlich von Anfang an den Turm erzählst. MI: Oh Gott, (.) das habe ich schon bei meinem Freund am gleichen Tag noch probiert, nur das ging echt schwer. weil (.) es war schon schlimm, dass man (.) oder nicht schlimm, aber komisch, dass man nur den zweiten Teil gesehen hat, //mhm// und dadurch konnte man also ich habe die ganzen Familienverhältnisse das //mhm// passiert mir (glaub) bei mir eigentlich immer, dass ich die ganzen Familienverhältnisse sowieso immer nicht verstehe, weil die Menschen für mich alle @gleich aussehen@, also das ist wirklich schlimm, aber zum Glück hatte ich einmal einen ganz kleinen Teil schon früher mal bei meinen Eltern gesehen, als die den geguckt haben, dadurch konnte ich ihn dann wieder besser verstehen, u:nd (.) also es ging ja darum, dass der (.) Sohn von einem Pärchen aus der DDR jetzt zur Volksarmee musste, wobei mir da aufgefallen ist, dass Volksarmee ja niemals genannt wurde, //mhm// (.) u:nd (.) ja der musste dahin und die Mutter äh fand das aber nicht gut, und hatte sich auch Sorgen die ganze Zeit um ihren Sohn gemacht, und der Vater war Arzt und sollte ihn auch dafür krankschreiben, aber der Vater hat das nicht gemacht, warum habe ich das nicht richtig verstanden, u:nd (.) dann war der Sohn halt bei der Volksarmee (.) u:nd hat dana- äh da auch neue Freunde kennengelernt und auch einen dickeren Freund sozusagen, und der wurde da aber sehr gemobbt, weil der halt dicker war und das alles nicht so gut konnte und dann mussten die da so solche Übungen machen wie zum Beispiel (.) über so einen Tur- also keinen Turm über so //mhm// eine Mauer klettern und das hat der Dickere aber nicht geschafft und dann haben die anderen alle gesagt ja, dann müssen wir ihn wohl zurücklassen, weil es so eine Kriegsübung war, (.) u:nd (1)

dann hat aber der (ä-) Sohn von den ähm (.)

anderen Pärchen währ- äh das da (.) @der Sohn da halt@ I: MI:

└@(.)@ gesagt, man sollte ihm helfen, und

dann hat der Vorgesetzte halt gesagt ja okay, dann helft ihm, beziehungsweise hilf du ihm,

160 | Wie Stories zu History werden

und die anderen mussten dann irgendwas anderes machen, ich glaub die mussten im Entenmarsch um den I:

└@(.)@

MI:

Typen da herumtanz- oder im Entenmarsch halt rum- äh schleichen, und

der andere hat ihm dann geholfen, und das hat dann so lange gedauert u:nd (.) dann haben sie es aber geschafft, und dann wurden die anderen äh dann auch fertiggemacht, weil die ihm nicht helfen wollten und zurücklassen wollte und deswegen (.) wär- wäre ja dann keine Kameradschaft aufgebaut worden, und deswegen haben die das dann halt gemacht, weil im Ernstfall wäre das ja wahrscheinlich //mhm// auch doof gewesen, (.) u::nd dann haben sie ihn aber wieder äh fertiggemacht und haben ihn auch ins Klo gesteckt und (.) weiß ich nicht, @da war irgendwie (.) Kacke @(.)@ im Klo(loch)@ (.) u:nd ja dann haben die den ähm kopfüber da reingesteckt und (.) a- der Sohn hat das aber wieder mitbekommen und hat ihm dann versucht zu helfen aber konnte ihm einfach nicht helfen, weil (.) die ja einfach alle stärker waren, (.) u:nd danach (.) ähm hat der äh Dicke aber äh dann gesagt nee, das war doch nicht schlimm, dass du mir nicht geholfen hast, weil (.) das kenne ich schon alles, dass ich halt so gemobbt werde, u:nd das fand ich eigentlich so ganz rührend irgendwie so (.) dass wirklich so (.) Dickere sagen so ja ich kenne das schon, das ist ganz normal, wenn ich gemobbt werde, weil (.) wenn ich das irgendwie hätte dann °weiß ich nicht, könnte das glaube ich gar nicht ab° dass ich irgendwie gemobbt werde und dann (.) gleich noch sage ja nee, ich brauche keine Hilfe, ich kenn das schon. u:nd dann war wieder eine Übung, das war im Gefechtsdienst, (3)

äh

da

wurden

die

nachts

rausgeholt,

u::nd

(.)

ähm

oh Gott, (.) ach ja und dann wurden die

rausgeholt u:nd mussten dann solche Gasmasken anziehen also ABC-Masken und mussten dann da äh so ein Gefecht äh nachspielen u:nd unter dieser Gasmaske kriegt man ja immer Platzangst, und der Dickere hat auch Platzangst bekommen und hatte auch irgendwie Atemnot bekommen, dann hat der Sohn ihm wieder geholfen, (.) u:nd

(1,5)

°ähm° dann a- hat der Vorgesetzte aber gesagt nein, äh der wird das doch wohl noch ausstehen können, und (.) der Dicke hat dann auch gleich wieder gesagt ja, ist alles okay, u:nd dann (haben die) weitergemacht und dann ist er aber tot umgekippt, und dann ist der auch total ausgerastet der Sohn wieder und hat den Vorgesetzten auch geschlagen und alles und dafür ist er dann auch ins Gefängnis gekommen, und die Mutter hat das dann halt auch mitbekommen, (.) u:nd also er (hat) dann seiner Mutter natürlich dann geschrieben und die Mutter hat dann (.) ähm (.) a- auch wieder rumgeheult und alles, u:nd (.) a- denn war der aber im Gefängnis und da hat er sich sogar richtig wohlgefühlt, weil er (.) weil da eigentlich so alle äh Leute so d- waren, die eigentlich gegen die DDR war, waren, und deswegen war das dann wirklich so eine Kameradschaft und deswegen hat er sich da auch wohlgefühlt, (.) u:nd (.) adann ging der Film aber auch noch um die Mutter und um den Vater, also der Vater hatte auch eine Affäre, (.) mit einer anderen, die schon auch lange anhielt, also er hatte auch eine Tochter, äh mit der A- Affäre, u:nd (.) das hat man dann auch mitbekommen, als dann (.) eine Hochzeit irgendwie war, aber ich weiß nicht, welche Hochzeit das war, u:nd ähm da war die Affäre und die Frau ha- also seine Frau und er war halt mit seiner Frau da und die Affäre war

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aber auch da und das Kind kam dann zu ihm an und meinte Papa Papa u:nd (.) dann ähm hat dann die Mutter gesagt ach du verwechselst das nur, das //mhm// ist gar nicht dein Papa, und dann wurde das Kind auch sofort beiseite geschafft sozusagen, u:nd er hat einfach nur gehofft, dass das (.) a- seine Frau halt nicht so mitbekommen hat, aber die hat es halt mitbekommen, aber sie hat es nicht offen zugegeben, dass sie es halt mitbekommen hat, und der Sohn war auch dabei, und (.) ähm der hatte dann Freigang und (.) naja der hat sich da nicht so wohl gefühlt, weil (.) er halt total kaputt war äh und halt ja (.) er wollte das halt eigentlich gar nicht mehr so beim Militär sein oder bei der Volksarmee; (.) u:nd (2) Gott (.) °wie ging das dann zu Ende?° (.) ja und dann war der Sohn halt wieder (.) a- bei der Armee, o- oder beziehungsweise war der war ja im Gefängnis und der kam dann aber wieder irgendwann aus dem Gefängnis raus, und musste dann die Grundausbildung weitermachen, (.) ein paar Tage u:nd im Gefängnis hatte er aber auch (.) noch einen anderen, mit dem er davor schon Grundausbildung zusammen gemacht hat, mit dem war er auch im Gefängnis, weil der ihm geholfen hatte, und der Typ war aber auch gleichzeitig äh einer vom Zirkus, u:nd (2)

die äh stimmt die äh der Bruder oder die Schwester

von dem aus dem Zirkus, äh der ist mal gestü- oder der die Person ist auf jeden Fall gestürzt, //mhm// und hat sich dann irgendwie was gebrochen und hatte ne Stange im Körper drin, und dadurch dass der eine äh der andere halt (.) ähm dessen Vater war ja Arzt, und der hat ihm ja das Leben gerettet, (.) u:nd deswegen war er äh waren die dann halt so verbrüdert; und jetzt fällt mir gerade auf, dass es ganz schön schwer ist, das alles wiederzugeben, weil ich mir die Namen gar nicht gemerkt habe, //mhm// (2)

ja das stimmt, u::nd

(.) ja dann sind die aber auf jeden Fall Freunde geworden, der äh aus dem Zirkus und der Sohn, (.) u:nd haben da diese Grundausbildung auch weiter zuende gemacht, und haben sich aber auch da wieder (.) äh gegen gewehrt, u:nd (.) der Vater hatte auch noch einen (na) besten Freund, der war auch Arzt, und der hat noch ein äh hat halt so ein Flugzeug gebaut, um aus der DDR zu flüchten, (.) u:nd (.) das äh hat also der beste Freund hat dem Vater das auch gezeigt, aber (.) aber er wollte das halt eigentlich alles gar nicht sehen, weil in der DDR durfte man das ja (.) eigentlich nicht so sehen, weil (das) sonst hätte man das gleich der Stasi melden müssen, u::nd (.) das hat er aber natürlich dann nicht gemacht, und dann irgendwann kommt dann auch die Volkspolizei ins Krankenhaus und sagt dann ja, sie wussten das doch alles hier, äh teilen sich doch da diese (.) das war so ein Stall oder sowas, oder Scheune, u:nd äh da müssen sie doch gesehen haben, dass da ein Flugzeug drinsteht, //mhm// und außerdem wurden hier die äh ganzen Materialien aus dem Krankenhaus entwendet, und sie arbeiten ja auch zusammen in einem Krankenhaus, da muss man das doch merken, h- und da hat er halt das aber alles mal verneint und dann haben die hat die Volkspolizei aber ihn auch (.) also unter Druck gesetzt, wenn man äh also die haben dann so getan, oder wollten so tun, als ob sie den besten Freund so sagen ja (.) ihr bester Freund hat sie verpfiffen und //mhm// dann hätte man ja halt das mitbekommen, ob er sie wirklich oder ober er das wusste oder nicht wusste, (.) u:nd (.) naja dann ging auch die Ehe in die Brüche, weil (.) er das dann mitbekommen (.) also nee die Frau das dann mitbekommen hat, das er halt diese Affäre (au-) hatte, und auch diese Tochter schon seit acht Jahren oder so, also so alt schätze ich sie

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zumindest, //mhm// die Tochter, u::nd ja dadurch ging das halt in die Brüche, und (.) dann war der Sohn eigentlich mit der Grundausbildung fertig und die Eltern waren dann aber schon getrennt, und dann hat die Mutter ihren Sohn abholen wollen aus der Kaserne, u:nd (.) dann hat der Sohn aber gesagt nee, ich möchte äh nicht mit dir mit, äh ich möchte jetzt mein eigenes Leben leben und (.) ich brauche einfach Abstand von dir, und dann ist die Mutter halt war die Mutter geknickt, aber ich glaube die hat sich auch irgendwo gefreut, und konnte °das so akzeptieren°. ja, das war es eigentlich, //mhm// da war dann das Ende. //mhm// glaube ich. ja.6

Aus formaler und inhaltlicher Perspektive unterscheidet sich Michaelas Erzählung von den zuvor dargestellten Fallbeispielen erheblich. Zunächst fällt die schiere Länge der Erzählung ins Auge: Michaelas Eingangssequenz ist beinahe dreimal so lang wie die oben zitierten. Ganz offensichtlich hält Michaela vieles aus dem Film für berichtenswert. Weiterhin fällt die Struktur der Nacherzählung auf: Die Interviewsequenz ist überwiegend zeitlich strukturiert, das heißt sie folgt dem chronologischen Verlauf der Filmstory. „und dann“ ist die strukturgebende Wortgruppe in Michaelas Nacherzählung, die die einzelnen Aspekte in eine schlicht lineare zeitliche Abfolge stellt. Der Film erscheint in ihren Augen damit als Aneinanderreihung verschiedener Episoden, die in erster Linie durch ihr Nacheinander-Erzählen im „Turm“ verbunden sind. Das zuvor beschriebene Muster der Abstraktion, das die Rezeption des ersten vorgestellten Typus charakterisierte, findet sich in dieser Eingangserzählung hingegen keineswegs in dem Maße, vielmehr bewegt sich die Nacherzählung überwiegend auf dem Niveau der bloßen Beschreibung der Story. Michaela bettet ihre Nacherzählung zu Beginn in ihre eigene Alltagswelt ein: Bereits vor dem Zeitpunkt des Interviews spielte die Kommunikation über das Gesehene in ihrem Alltag eine Rolle, sie hatte ihrem Freund vom „Turm“ erzählt. Am Beginn der Sequenz zeigt sich somit zunächst ein Akt der kommunikativen Aneignung des Spielfilms, der durch ein Gespräch mit ihm in ein Verhältnis zur eigenen Alltagswelt gesetzt wurde. Dem Spielfilm wird so eine konkrete, alltagsweltliche Bedeutung zugewiesen. Die Nacherzählung des Films stellte sich schon dort dies als schwierig heraus: „das habe ich schon bei meinem Freund am gleichen Tag noch probiert, nur das ging echt schwer.“ Die Schwierigkeiten erwachsen für sie anscheinend aus dem Setting dieser Studie, wodurch sie nur den zweiten Teil des Zweiteilers sehen konnte und dadurch vor allem ein Verständnis für „die ganzen Familienverhältnisse“ erschwert worden sei. Jedoch relativiert sie dies sogleich, offenbar sei dieses Problem ein Muster, dass sich bei ihr regelmäßig findet, „weil die Menschen für mich alle @gleich aussehen@“. In dieser expliziten Thematisierung der Probleme mit der Aufgabe des Nacherzählens dokumentiert sich vor allem eines: dass Michaela über nennenswerte Erfahrung mit dem Genre Spielfilm verfügt 6

Transkript MI, BS, Z. 60-183.

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und sich der „Turm“ für sie in eine Reihe von Sendungen einfügt, bei denen sich immer wieder dieses von ihr erwähnte Muster zeigt, in dem sie Schwierigkeiten hat, die Beziehungen der Figuren untereinander und deren Handeln für sich zu ordnen. Der alltagsweltlichen Rahmung der Nacherzählung stehen ihre ausführlichen Äußerungen im Folgenden inhaltlich allerdings entgegengesetzt gegenüber: Während sie die Verhältnisse der Figuren explizit als schwer für sie nachzuvollziehen bezeichnet, handeln ihre Ausführungen beinahe ausschließlich von genau diesen. Offenbar scheint sie keinerlei Schwierigkeiten zu haben, die einzelnen Handlungsstränge um die Figuren und ihre Beziehungen untereinander für sich zu ordnen. Vielmehr zeigt sich hier eine Diskrepanz zwischen ihrer verbalisierten Aussage und ihrem kommunikativen Handeln im Interview. In aller Ausführlichkeit berichtet Michaela, was sie für den erzählerischen Schwerpunkt des Films hält: „also es ging ja darum, dass der (.) Sohn von einem Pärchen aus der DDR jetzt zur Volksarmee musste, wobei mir da aufgefallen ist, dass Volksarmee ja niemals genannt wurde,“. In dieser Formulierung deuten sich die Schwerpunkte an, auf die sie in ihrer gesamten Nacherzählung den Fokus legen wird: auf das Handeln und die Entwicklung der persönlichen Verhältnisse der Hauptfiguren, während zugleich ein Hauptaugenmerk der erzählten Sphäre der „Volksarmee“ gilt. Michaela beginnt zunächst ihre Ausführungen, indem sie einen „Sohn von einem Pärchen aus der DDR“, genauer dessen Wehrpflicht, ins Zentrum der Spielfilmhandlung setzt. Der Kontrast zum zuvor beschriebenen Typus wird hier schon in der genauen Analyse dieser Wortgruppe erkennbar: Der Film handelt für sie nicht in erster Linie von einem historischen Zeitraum (wie etwa Ludwig-Theodor seinen Bericht eingeleitet hatte), sondern zeigt eine individuelle Begebenheit. Diese findet in einem Raum statt, der nur indirekt – die Eltern des Sohnes stammten aus der DDR – mit einem historischen Begriff verknüpft wird. Dieser Ort beziehungsweise Zeitraum steht für Michaela nicht im Zentrum der Erzählung, sondern ist dem Handeln der Figuren nachgeordnet. Die DDR im Film bildet vielmehr den Hintergrund für die Erzählung vor allem von der Wehrpflicht des „Sohnes“. Die Charakterisierung der Spielfilmwelt bleibt trotz der enormen Länge der Filmnacherzählung bemerkenswert vage: Die Schwerpunktsetzung auf das ganz konkrete Handeln der Figuren geht hier einher mit einer nur marginalen Beschreibung des Ortes und der Zeit, an denen die Handlung des „Turms“ angesiedelt ist. Die Welt, in der der Film spielt, erhält zwar mit dem Schlagwort „DDR“ in Michaelas Nacherzählung durchaus ein Etikett, das einen historischen Ort bezeichnet, es wird von Michaela jedoch über die gesamte Länge der Nacherzählung nur selten verwendet. Über diese bloße Benennung der Welt des Spielfilms hinaus erfolgt keine genauere Beschreibung dieser historischen Welt. Wir erfahren von Michaela nichts über die Stadt, in der der Film spielt, lesen nichts etwa von der im Film dargestellten Räumung des Dresdner Hauptbahnhofs, und erhalten auch keine detail-

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liertere Beschreibung, wie die DDR im „Turm“ aussieht und wodurch sie sich auszeichnet. Vielmehr liefert Michaela eine Nacherzählung ab, die von einer Filmwelt berichtet, die vage als „DDR“ bezeichnet wird, deren Beschreibung jedoch ausbleibt und sich im Grunde auf ihre bloße Benennung beschränkt. Es handelt sich bei der Filmwelt in Michaelas Nacherzählung um eine DDR, die zwar diesen Namen trägt, in ihrem Wesen jedoch nicht historisch ist. Die historische Spezifik dieses Ortes spielt für Michaelas Lesart eine vernachlässigbare Rolle. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die von ihr rezipierte Film-DDR mit der historischen DDR nur den Namen gemein hat und die Historizität der Filmwelt vor allem durch ihre Bezeichnung aufscheint, die Filmwelt darüber hinaus jedoch eine Welt von lediglich historischem Anschein ist. Hinzu kommt das von ihr beschriebene Figurenhandeln: Eine einzige Stelle innerhalb dieser Interviewsequenz dokumentiert, dass die Handlung an einem historischen Ort und einer historischen Zeit angesiedelt ist. Im letzten Drittel der Erzählung werden von Michaela die Topoi Flucht und „Stasi“ knapp angerissen: „der Vater hatte auch noch einen (na) besten Freund, der war auch Arzt, und der hat noch ein äh hat halt so ein Flugzeug gebaut, um aus der DDR zu flüchten,“. Zunächst erscheint bemerkenswert, dass diese Topoi hier wiederum – ähnlich wie am Beginn der Nacherzählung – nur in Verbindung mit dem konkreten Handeln der Figuren eingeführt werden, gewissermaßen mit deren Handeln eng verknüpft sind. Das wird auch sprachlich in diesem Satz deutlich, in dem sie während der Schilderung der Beziehungen zwischen den Figuren („der Vater hatte auch noch einen (na) besten Freund,“) über die historische Thematik der Flucht aus der DDR quasi stolpert. Der historische Topos der Flucht taucht hier auf, weil er eng mit der fiktiven Hauptfigur des „Arztes“ beziehungsweise seinem Freund und Kollegen verbunden ist. Darüber hinaus fallen jedoch auch hier und in Michaelas folgenden Bemerkungen weder historische Begrifflichkeiten, noch finden Beschreibungen statt, die die Welt der Filmhandlung in irgendeiner Weise als DDR der Achtzigerjahre identifizieren. Und selbst an dieser dezidiert historischen Stelle der Nacherzählung finden sich keinerlei Abstraktionen oder Bewertungen des Gesehenen, wie es etwa in Ludwig-Theodors Sequenz sichtbar war. Michaela nimmt keine historische Einordnung dieser FilmEpisode vor. Ihre Erzählung weist beispielsweise keinerlei Referenzen auf einen etwaigen Unrechts- oder Zwangsstaat DDR auf, mit dem die Topoi Flucht und „Stasi“ üblicherweise verknüpft sind. Stattdessen ist der Fluchtversuch einer Nebenfigur im Film ein Ereignis unter vielen anderen, ohne dass dessen historische Spezifik für sie eine herausgehobene Bedeutung besäße. Die Jugendliche erzählt demgegenüber vor allem von den Beziehungen innerhalb der Protagonisten-Familie, von den Sorgen der Mutter um ihren Sohn und den Karriereplänen des Vaters. Sie berichtet über dessen Affäre, seine uneheliche Tochter und eine Hochzeit, bei der die Dreiecksbeziehung auffliegt und daraufhin „auch

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die Ehe in die Brüche“ gegangen sei. All diese Schilderungen von zwischenmenschlichen Beziehungen und den daraus entstehenden Dramen bedürfen keiner historischen Spielfilmwelt, es handelt sich um zeitlose, ahistorische Geschichten, die zu jeder Zeit an jedem Ort stattfinden könnten. Vielmehr erinnert die Schilderung an diesen Stellen eher an die Nacherzählung einer Soap-Opera, die sich dem Zeitlos-Menschlichen in all seinem Facettenreichtum widmet, ohne einer zeitlichen oder lokalen Verortung zu bedürfen. Die von Michaela nacherzählte Handlung spielt damit nicht nur an einem nur vage bestimmten Ort, die Handlung des Spielfilms selbst wird nicht an eine außerfilmische, historische Realität geknüpft. Das von ihr derart in den Mittelpunkt gestellte Figurenhandeln scheint für sie weitestgehend historisch unabhängig zu sein, es stellt sich in dieser Sequenz überwiegend nicht historisch beeinflusst oder motiviert dar. So bleibt etwa unerwähnt, dass der dreijährige Wehrdienst des Protagonisten Christian die Grundlage für ein späteres Studium in der DDR darstellte. Stattdessen wird er als Faktum der Story ohne historische Spezifik eingeführt. Als weiteres Beispiel ließe sich anführen, dass etwa der Neubeginn, den dieselbe Figur mit dem Ende ihres Wehrdienstes für ihr eigenes Leben anstrebt, auch durch die historischen Ereignisse der „Wende“ beeinflusst ist – die Fahne der DDR ist zu diesem Zeitpunkt der Handlung bereits zum letzten Mal eingeholt worden in der Kaserne, die die Hauptfigur für immer hinter sich lässt. Doch anstatt eine Verbindung zwischen den historischen Ereignissen und dem Handeln der Figuren herzustellen, sind die Aktionen der Figuren in Michaelas Lesart aus sich selbst heraus beziehungsweise aus den fiktiven, allgemein zwischenmenschlichen Handlungssträngen heraus motiviert. Michaelas Nacherzählung zeichnet sich somit insgesamt dadurch aus, dass zwischen der Film-Welt und einer außerfilmischen Realität keine oder nur marginale Beziehungen hergestellt werden. Einen Schwerpunkt innerhalb ihrer Nacherzählung nimmt die von Michaela ausführlich dargestellte Sphäre des Militärischen ein: Stellt sie eine Ausnahme von dem beschriebenen Anschein der Geschichtslosigkeit der Spielfilmhandlung dar? Die historischen Begriffe „Volksarmee“ und „Volkspolizei“ geben der erzählten Sphäre zunächst einen geschichtlichen Anstrich. Meine Interviewpartnerin erzählt im Zusammenhang mit der „Volksarmee“ von Freundschaften, die sich zwischen der Hauptfigur und einigen Kameraden entwickeln, von der Ausbildung und damit verbundenen Schikanen während des Wehrdienstes. Vor allem das Leid vom „dickeren Freund sozusagen, und der wurde da aber sehr gemobbt,“ ist für Michaela ein zentraler Aspekt der Filmhandlung. Ihre Erzählung über diesen Teil der Spielfilmhandlung, der bei der Armee spielt, dokumentiert vor allem eines: Expertenwissen über das Militär. Begrifflich spricht sie sehr präzise und detailliert über die Zeit des Protagonisten „beim Militär“, wo dieser „Grundausbildung“ und „Gefechtsdienst“ ableiste, sie berichtet von einer „Kriegsübung“ mit „ABC-Masken“ und dem „Freigang“ des Christian Hoffmann. Sie präsentiert hier deutlich ein vertieftes Verständnis und Spezialwissen über das Militär im Allgemeinen, wie sich etwa in

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der begrifflichen Präzisierung „solche Gasmasken anziehen also ABC-Masken“ zeigt. Gleichwohl fällt bei genauer Betrachtung auf, dass diese Begrifflichkeiten zwar für eine Jugendliche außergewöhnlich genaue Kenntnisse über das Militär dokumentieren, jedoch auch diese Schilderung und die Begrifflichkeiten wiederum zeitlos beziehungsweise gegenwärtig sind. Bei der erzählten Handlung, die um den Protagonisten Christian Hoffmann kreist, könnte es sich in Michaelas Darstellung auch um Ereignisse in jeder anderen modernen Armee handeln, in der es eine „Grundausbildung“, „Freigang“ und „ABC-Masken“ gibt. Von den spezifisch historischen Elementen dieses Teils der Spielfilmhandlung – beispielsweise sei hier erneut auf die Räumung des Dresdner Hauptbahnhofs verwiesen, die im „Turm“ minutenlang in Szene gesetzt wird und an der die Wehrdienstleistenden teilnehmen müssen – erzählt sie nicht. Auch die Schilderung dieses Teils der Spielfilmhandlung weist mit Ausnahme der begrifflichen Rahmung „Volksarmee“ keinerlei Spezifik hinsichtlich der DDR-Geschichte auf, sie ist in ihrem Wesen nicht historisch. Hier findet sich in ihrer Nacherzählung wiederum ein bloßes historisches Etikett („Volksarmee“) für eine ansonsten nicht historisch motivierte und beeinflusste Filmstory wieder. Der Begriff der „Volksarmee“ ist sogar Anstoß für eine zu Beginn der Nacherzählung von der Jugendlichen thematisierte Irritation: „wobei mir da aufgefallen ist, dass Volksarmee ja niemals genannt wurde,“. Von der fehlenden Nennung des Begriffs „Volksarmee“ ist Michaela offensichtlich überrascht, wenngleich sie dies nicht weiter ausführt. Grundsätzlich zeigt diese Passage, dass ihre Lesart mit der Art, den Film nachzuerzählen, korreliert: Der Film nenne den Begriff der „Volksarmee“ nicht, und zugleich bleibt die Spielfilmhandlung in ihrer Nacherzählung weitestgehend ahistorisch. Die Sphäre der Volksarmee steht nicht nur in der Eingangserzählung im Zentrum, sondern bildet auch im weiteren Verlauf des Interviews einen Schwerpunkt. Michaela nennt den Begriff ganze 38 Mal während unseres Gespräches. Die wesentliche Ursache dafür liegt sicher darin begründet, dass in ihrer gegenwärtigen Alltagswelt das Militär ein hochrelevantes Thema darstellt: MI: […] (.) ähm so im zweiten Teil fand ich wirklich die Bundeswe- oder die Volksarmee als Hauptthema. I: └Mhm.┘ Warum hast du gerade mit der Bundeswehr zu tun? MI: Mein Freund ist jetzt bei der Bundeswehr seit (.) zweiten Januar,7

In dieser Passage, die fast unmittelbar auf die Eingangserzählung folgt, liefert sie nicht nur den Grund für ihre Schwerpunktsetzung, auch hier zeigt sich die verhältnismäßige Unwichtigkeit des Historischen für ihre Lesart. Sie bezeichnet die im Film dargestellte Armee zunächst als „Bundeswe-“, korrigiert dies aber sogleich. 7

Transkript MI, BS, Z. 201-207.

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Dass diese Korrektur mit der Konjunktion „oder“ eingeleitet wird, verdeutlicht, dass es Michaela hier nicht in erster Linie um eine korrekte historische Bezeichnung geht. Die Unterschiede zwischen dem historischen Begriff der „Volksarmee“ und der gegenwärtigen „Bundeswehr“ besitzen für Michaela keine besondere Relevanz. Vielmehr verwendet sie beide Begriffe zur generellen Bezeichnung eines militärischen Ortes, wenngleich ersterer freilich von einer historischen Begrifflichkeit entlehnt ist. Ihre Nutzung des Begriffs „Volksarmee“ verweist auf die NVA und damit eine historische Armee, kurioserweise bemerkt sie aber erst am Ende des Interviews: „da ist mir aufgefallen °ja okay es heißt ja Nationale Volksarmee°.“ 8 Erst nach einem fast 90-minütigen Interview, das sich mit zahlreichen historisch fokussierten Fragen auf die Geschichtlichkeit des „Turms“ konzentriert hat, zeigt Michaela das Bedürfnis, sich begrifflich zu präzisieren, und benennt die militärische Sphäre im Spielfilm präzise als einen historischen Ort. Zuvor jedoch, in der eingangs von ihr gelieferten Filmnacherzählung ist diese – ebenso wie die als „DDR“ bezeichnete Filmwelt – eher ein ahistorischer Kosmos, der lediglich mit dem historischen Etikett „Volksarmee“ versehen wird, ohne darüber hinaus historisch zu sein. Die Filmstory um den Wehrdienst der Hauptfigur weist für sie viel stärker eine alltagsweltliche Relevanz auf, statt für sie als historische Darstellung bedeutsam zu sein. Sie fokussiert die filmische Erzählung auf die für sie gegenwärtig relevante Thematik des Wehrdienstes. Ihre Alltagswelt stellt somit eine Grundlage, einen Filter für die Aneignung des Spielfilmes dar. Ich interpretiere diese Beobachtungen zusammenfassend als Zeichen einer weitestgehend ahistorischen Lesart des Spielfilms. In Ansätzen dokumentiert meine Interviewpartnerin in ihrer Nacherzählung zwar, dass sie sich über den historischen Hintergrund der Spielfilmhandlung im Klaren ist. Grundsätzlich bleibt die Spielfilmhandlung in Michaelas Nacherzählung jedoch ein von der Zeit der Handlung unbeeinflusstes Geschehen. Die von mir bereits verwendete Analogie der SoapOpera korreliert nicht nur mit der inhaltlichen Schwerpunktsetzung zeitloser Themen des Menschseins. Auch die lose und nur chronologisch strukturierte, enorm lange Nacherzählung ähnelt dem episodenhaften, endlosen Wiederkehren mehr oder minder bedeutsamer Ereignisse in TV-Soaps. Und nicht zuletzt Michaelas starke Verbindung des Gesehenen mit der eigenen Alltagswelt fügt sich eher zur Aneignung einer Soap-Opera als der Rezeption historischer, zeitlich entfernter Darstellungen im Spielfilm. In Abgrenzung zur historisierenden Lesart des ersten Typus, den ich weiter oben vorgestellt habe, ließe sich die hier sichtbare Art, mit dem Spielfilm umzugehen, als eine gegenwartsfokussierte, nicht historisierende Aneignungsweise bezeichnen, die zwischen der filmischen Fiktion und einer historischen Realität keine nennenswerte Beziehung etabliert. Als vorläufige Hypothese kann al8

Transkript MI, BS, Z. 1175f.

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so gelten, dass die von der Jugendlichen gesehene Story für sie nicht als History rezipiert wird. Für die Frage, inwiefern Michaela der Story des „Turms“ Authentizität zuschreibt, erlaubt dies zwei unterschiedliche Interpretationen: Möglich wäre einerseits, dass die Authentizität des Spielfilms für sie derart selbstverständlich ist, dass sie keiner weiteren Ausführungen bedarf und diese Selbstverständlichkeit es meiner Interviewpartnerin erlaubt, sich auf andere Aspekte der Story zu konzentrieren. Dann stünde am Ende der Interpretation jedoch zumindest der Befund, dass für Michaela die Figuren und ihr Handeln zwar in einer historischen Welt angesiedelt sind (deren Authentizität sie für nicht erläuterungswürdig hält), die Story um die Filmfiguren jedoch tatsächlich keine historischen Bezüge aufweist. Der Kontrast zum Typus, der den Spielfilm als authentische Fiktion einschätzt, wäre hier offensichtlich: Während für jenen die Figuren als authentisch-fiktiv galten, die plausible Lebensgeschichten von DDR-Bürgern darstellten, wäre in diesem Fall eher von einer geschichtslosen Story auf historischer Bühne auszugehen – gewissermaßen eine zeitlose Soap-Opera vor historischer Kulisse. Andererseits liegt die Möglichkeit nahe, dass es sich bei dem hier dargestellten Fall um eine ahistorische Lesart handelt, die einen Fernsehzweiteiler wie den „Turm“ – so überraschend diese Hypothese sein mag – gar nicht als historische Erzählung begreift. Die Frage nach der zugeschriebenen Authentizität wäre in diesem Fall obsolet: Ob es sich um eine glaubwürdige Darstellung der Geschichte handelt, würde für Rezipienten*innen, die einen solchen Film ahistorisch rezipieren, schlichtweg überhaupt keine Relevanz besitzen. Um diesen Sachverhalt zu schärfen, möchte ich im Folgenden einen ähnlichen Fall beleuchten, der wie die Nacherzählung von Michaela die Hypothese einer ahistorischen Lesart und damit einer Nicht-Authentifizierung des Gesehenen stützt. Die Eingangssequenz entstammt dem Interview mit der Braunschweiger Abiturientin Stacy: I: okay. ähm (1)

dann würde ich gerne gleich mit dieser Expertenschaft von dir

anfangen ähm und zum Einstieg dich fragen, oder dich bitten, mir den Turm zu erzählen, ähm ganz ausführlich von Anfang an. ST: Tja, @ob ich das hinkriege@? also ich habe ja nur die Vorsch- also die Vorschau vom ersten Teil gesehen, da ähm geht es ja um den (.) er ist Ch- er ist ein Chefarzt glaube ich, //mhm// und ähm ja um seine Familie und er hat halt sozusagen ein Doppelleben geführt, also er hat ja seine Frau und einen Sohn Chr- Christian Christopher //mhm// und ähm aber auch noch eine Geliebte, die ähm und eine Tochter mit der, und äh:m (.) genau dann war irgendwie ich glaube das ähm Ende vom ersten Teil oder irgendwie was da nochma- was man im Vorschau geseh- in der Vorschau gesehen hat, dass die Frau sich irgendwie oder sich umbringen wollte oder sind äh ja Selbstmord begehen wollte und dann im Krankenhaus lag, seine Geliebte, ähm (.) dass der Sohn also sein Sohn, a- ja sein Sohn ähm zur Bundeswehr gegangen ist, (.) j::a genau (.) der war dann bei der Bundeswehr, äh:m (.) dann hat man

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erstmal einen längeren Teil von der ähm bei der Bundeswehr von dem Sohn gesehen, äh:m und er war eher so ein Außenseiter und hatte noch einen Freund, der war ein bisschen robuster, ein bisschen dicker, @(.)@ und ähm den hat er aber auch so unterstützt und ist ihm hat ihm immer so beigestanden, weil die ihn immer relativ gemobbt worden, und ähm (5) ich weiß nicht, was nebenbei da so lief, auf jeden Fall wollte ähm ging es ja darum, (.) obwohl ich weiß nicht, es ging da irgendwie darum, wer Chefarzt oder neuer neuer Oberarzt wird, //mhm// und ähm (.) ich weiß nicht, ob das relativ am Ende war, oder in der Mitte, auf jeden Fall ähm hat er also der wie heißt der Mann? I: Äh welcher? ST: Der äh eigentlich so die Hauptperson, also der ältere, der von Jan-Josef Liefers oder wie der heißt gespielt wird, I:

└Achso, ähm┘ (.) wie heißt der (.) äh Hoffmann glaube ich,

ST: Hoffmann; I: ST:

└Glaube Richard Hoffmann └Okay, ┘ ich nenne ihn Hoffmann ja Richard, genau. //mhm// äh ja

dass ähm Richard dann doch nicht ähm (.) der neue Chefarzt wird, sondern wohl ein anderer, und der hat dann auch ganz schöne Depressionen glaube ich gehabt, und ähm mit seiner Frau lief es ja glaube ich auch nicht mehr so gut, also die hatten irgendwie mir kam es so vor, als ob sie keine gute Beziehung miteinander hätten, ähm (.) irgendwann gab es dann auch so ein (.) da waren sie auf einer Hochzeit, ich glaube das war dann die Hochzeit von dem sogar neuen Chefarzt, (.) und ähm also der dann Chefarzt werden sollte und ähm da war dann auch wieder sein Sohn von der Bundeswehr da, hatte irgendwie eine Auszeit //mhm// oder (.) ja (.) und ähm da war dann aber auch seine Geliebte mit der Tochter und da hat dann halt auch seine Frau mitbekommen, dass er eine Gelieb- also sie wusste davon nichts, hat dann mitbekommen, dass sie äh dass er eine Geliebte hat und eine Tochter, u:nd (2) dann (.) wa::r=es jetzt springe ich @wieder zur Bundeswehr@, dann ähm bei der Bundeswehr (.) waren die dann irgendwie (.) wie nennt man das? (.) auf dem Feld, //mhm// haben da ihre Übungen gemacht und der Dicke ist dann wieder nicht klargekommen, und ähm (.) hatte irgendwie der hatte auch eine Herzstörung, oder irgendwas mit dem Herzen, und konnte deswegen nicht so gut atmen, und dann ähm ja wollte er halt oder (.) hatte irgendwelche Atemprobleme und der andere hat ihm dann geholf- Christian hat ihm dann geholfen, und dann meinte aber der O- ähm Offi:zie:r oder Ober- wie er auch immer heißt, ähm ja ((tiefer)) willst du uns jetzt im Stich lassen oder machst du weiter, dann hat er natürlich gesagt, dass er weitermachen will, weil er jetzt (.) nicht als Dummer dastehen wollte; und na das kam ihm dann zum (.) das kam zur Folge, dass er dann (.) gestorben ist, und da ähm so ist also aufgrund dessen ist halt (.) Christian auf den Offizier losgegangen und dadurch (.) genau, er hatte dann noch aber so einen Gefolgen, der hatte eine Glatze, glaube ich, ich weiß nicht, wie der hieß, auf jeden Fall stand der dem eigentlich immer (.) ja so im Rücken, hat ihn immer unterstützt und geholfen, und die beiden mussten dann (.) sind ins Gefängnis glaube ich gekommen, (.) u:nd (.) mussten dann irgendwie zehn Monate (1)

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°zehn Monate° zwanzig Monate ich glaube zwanzig Monate mussten sie dann arbeiten, und ähm (.) innerhalb der Arbeit hat er so ein (.) also hat er sich (.) na hat er irgendwie so eine auch wie so eine Familie mit den äh Arbeitern da geschlossen, also er hat sich da auch total wohl gefühlt, er hat ja auch immer Briefe an seine Freundin und (so) an seine Familie geschrie- äh geschickt, und ähm hat dann auch gesagt, dass er endlich mal wieder ein Gefühl hat, gebraucht zu werden und also dass dass sie ihn auch brauchen da dort und ähm (.) na nach den zehn Monaten ist er dann oder nach den zwanzig Monaten, wieviele es dann auch immer waren, ist er dann wieder zurück ähm zum Bund gegangen und musste dann halt (.) nochmal die Jahre dr- oder die die anderthalb Jahre dann dranhängen, //mhm// die weitermachen, und ähm dort war er aber dann nicht mehr so der der unterdrückt wurde, sondern war eher so der (.) der auch mit das Sagen hatte //mhm// oder war so ein bisschen höhergestellt, und ähm ich glaube jetzt kam das erst mit dem D- mit den Depressionen des Va:ters (.) so groß raus (.) und ähm (3)

ach

genau dann war der der Vater war dann ja ähm (.) ähm äh in Behandlung oder so //mhm// und ähm währenddessen hat die Frau sich irgendwie ähm ja einer Gruppe angeschlossen, ich glaube es war zu- äh die ha- also die haben immer demonstriert oder //mhm// haben dann Demonstrationen gemacht ähm wegen (.) ja der Ausrei- wegen des Ausreisens und (.) ähm dann ist dann haben die irgendwie eine Versammlung im Haus gehabt oder so und wollten dann auf die Straße gehen und demonstrieren und dann ist auch der Mann wieder von seiner (.) ä:h ja von seiner (.) aus @der Klapse wiedergekommen oder was auch immer@, I: @(.)@ ST: Und äh dann sind die auf äh sind sie zur Demonstration gegangen, und sind ähm sind an den Bahnhof gegangen, und ähm Dresden war das? ja ne? //mhm// und ähm dann vom Bund her musste der Sohn die mussten halt die Polizei dort unterstützen und dann hat er seine Mutter gesehen, und ist dann wieder auf einen ähm (.) weil die Mutter irgendwie nach vorne gegangen ist und einen retten wollte, weil die Polizisten auf den losgegangen sind, und dann wollte er halt seine Mutter schützen und ist auch auf einen Polizisten auf oder auf mehrere Polizisten losgegangen, und ähm (3)

ehrlich

gesagt weiß ich das Ende nicht mehr. (2) I: Was war das letzte, was du gesagt hast? ST: Das mit der Demonstration, mit dem (.) @(.)@ (9) I: °Passiert dann noch irgendwas?° ST: °Nicht viel, oder? Er kommt dann nach Hause oder so glaube ich noch?° nee sie nein, sie holt ihn dann er er wird äh also er hat dann (.) beim Bund abgeschlossen und äh si:e und der Mann mit @der Brille@ I: @(.)@ ST: holen ihn dann ab und dann ja (.) °ja ich glaube, das war es. //mhm// dann war Ende.° 9

9

Transkript ST, BS, Z. 74-188.

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Im Vergleich mit Michaelas Filmnacherzählung zeigen sich in der Sequenz von Stacy viele formale und inhaltliche Ähnlichkeiten: Ihre Erzählung ist ebenfalls sehr ausführlich, auch sie thematisiert die Schwierigkeiten, die Handlung des „Turms“ zu erzählen, auch sie strukturiert ihre Nacherzählung vor allem chronologisch mit dem Adverb „dann“. Vor allem aber fällt auf, dass die Spielfilmhandlung in Stacys Erzählung noch weniger historisch verortet wird und der Schwerpunkt der Nacherzählung noch stärker auf dem zeitlich unspezifischen Handeln der fiktiven Filmfiguren liegt. Während Michaela die Sphäre des Militärischen zwar unpräzise, aber zumindest vage historisch bei der „Volksarmee“ verortet, bezieht Stacy die Erlebnisse des Protagonisten Christian Hoffmann auf die „Bundeswehr“ beziehungsweise den „Bund“. In der Art der Verwendung des Begriffes lässt sich bei ihr erkennen, dass sie nicht auf die historische Bundeswehr der Achtzigerjahre verweist, sondern eine für sie gegenwärtige Bezeichnung für das Militär im Allgemeinen verwendet – „Bund“ entstammt klar der Umgangssprache und findet sich seltener in historischen Diskursen, sondern eher in einer alltagsweltlichen Kommunikation, die beispielsweise Abiturienten*innen führen, weil die Thematik in dieser Phase ihres Lebens von Relevanz ist. Um welche historische Armee es sich im „Turm“ handelt, wird in Stacys Erzählung zu keinem Zeitpunkt deutlich. Nur an zwei Stellen der sehr langen Eingangserzählung, am Ende der Sequenz, verknüpft sie die Spielfilmhandlung überhaupt mit einer außerfilmischen Realität. Fraglich ist, ob diese Realität für sie auch auf die Geschichte bezogen ist: Beide Verweise finden nur in Ansätzen statt und tangieren einerseits den historischen Topos der Ausreise aus der DDR, andererseits die Demonstrationen in Dresden. Ähnlich wie in Michaelas Interviewsequenz „stolpert“ auch Stacy dabei unwillkürlich über das Historische in der Filmgeschichte: „und ähm währenddessen hat die Frau sich irgendwie ähm ja einer Gruppe angeschlossen, ich glaube es war zu- äh die haalso die haben immer demonstriert oder //mhm// haben dann Demonstrationen gemacht ähm wegen (.) ja der Ausrei- wegen des Ausreisens und (.) ähm dann ist dann haben die irgendwie eine Versammlung im Haus gehabt oder so und wollten dann auf die Straße gehen und demonstrieren“. In ihren knappen Bemerkungen schimmern diese zwei Themenbereiche durch, die wesentlich mit Debatten um die DDR-Geschichte verbunden sind: die Demonstrationen in der DDR sowie die Möglichkeit der dauerhaften Ausreise (und damit indirekt auch die Thematik der Flucht). Die Demonstrationen, die nicht nur im öffentlichen Diskurs um die „Wende“ unter dem Stichwort „Montagsdemonstrationen“ eine zentrale Rolle spielen, thematisiert Stacy jedoch nicht als solche. Für sie handelt es sich in der Darstellung des Films um nicht bestimmte oder bestimmbare Demonstrationen, was sich bei ihr nicht nur sprachlich in der Verwendung unbestimmter Artikel äußert. Die Gruppe, der sich die Protagonistin anschließt, zeichne sich vor allem durch die Tätigkeit des Demonstrierens aus, wenngleich der Sinn des

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Zusammenschlusses für die Rezipientin zunächst unklar bleibt („irgendwie eine Versammlung“). Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens benennt meine Interviewpartnerin dann doch ein Ziel dieser Demonstrationen: „(.) ja der Ausrei- wegen des Ausreisens und (.)“. Die Motive der Demonstranten, die wegen der Möglichkeit „des Ausreisens“ auf die Straße gingen, lassen einen historischen Horizont in Stacys Nacherzählung aufscheinen. Bemerkenswert ist hier, dass sie sprachlich den Begriff „der Ausrei-[se, B.B.]“ durch „Ausreisen“ ersetzt. Sie wechselt damit vom historisch eng mit der DDR und ihrer öffentlichen Darstellung verbundenen Begriff zu einem allgemeineren, historisch unbestimmten Terminus: „Ausreise“ ist als Substantiv mit der Geschichte der DDR und ihrer öffentlichen Thematisierung verknüpft, etwa durch den zur Ikone gewordenen Nachrichten-Bericht aus der Prager Botschaft, in der Genschers „…dass heute ihre Ausreise…“ 10 im Jubel untergeht, oder den Begriff des „Ausreiseantrags“, der für die Geschichte der DDR in den Achtzigerjahren bedeutsam ist. Stattdessen verwendet Stacy hier das zeitlose Verb „ausreisen“ und tilgt damit die historische Konnotation des Begriffes in ihrer Nacherzählung. Die erzählte Filmhandlung wird somit auch an dieser Stelle nicht historisch eingebettet, obwohl der Film diese Möglichkeit nahelegt. Einzig stellt die Verknüpfung zur Stadt Dresden, die am Ende der Sequenz geäußert wird, die Handlung zumindest in einen lokalen Rahmen, der der außerfilmischen Realität entspringt. Gleichwohl wird hier nicht deutlich, ob es sich um ein zeitlich spezifisches beziehungsweise historisches Dresden handelt, das die Rezipientin hier anspricht. Und selbst dieses lokalen Bezuges ist sich die Interviewpartnerin nicht sicher, sondern fragt behutsam nach und erwartet eine Bestätigung durch den Interviewer. Im Vergleich mit dem zuvor dargestellten Fall zeigt sich hier, dass die historische Verortung der Spielfilmhandlung noch weitaus marginaler ausgeprägt ist, wenn die wenigen Indizien überhaupt dafür sprechen, dass Stacy die Filmstory für eine historische und damit in Ansätzen historisch glaubwürdige Darstellung hält. Deuteten in Michaelas Nacherzählung noch einige wenige Begrifflichkeiten und zumindest die kurz angerissenen historischen Themenbereiche auf eine marginale Zuschreibung von Authentizität durch sie hin, so finden sich in Stacys Interviewsequenz nur noch minimale Spuren davon. Damit stellt sich die Frage nach der Authentizität der filmischen Darstellung in ihrem Fall gar nicht erst – vielmehr lässt sich hier noch deutlicher eine ahistorische Lesart des Spielfilms erkennen, die dokumentiert, dass sie den Spielfilm nicht als filmische Erzählung über das Ende der DDR rezipiert. Ich halte diese Interpretation auf der Grundlage der vorgestellten Interviewsequenzen für plausibel. Gleichwohl bedarf es einer weiteren Differenzierung dieses Befundes, dass Spielfilme, die nicht nur aus der Sicht von Historikern*innen 10 Tagesschau vom 1. Oktober 1989. Online unter https://www.tagesschau.de/multimedia/ video/video565980.html (4.2.2016).

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scheinbar selbstverständlich Geschichte erzählen, in den Augen mancher Rezipienten*innen durchaus als nicht-historische Erzählungen rezipiert werden können. Einen solchen Bedarf sehe ich nicht nur, weil dieses Ergebnis überraschend sein dürfte und damit umso plausibler und nachvollziehbarer sein muss. Die weitere Plausibilisierung und Differenzierung halte ich vorrangig aus zwei weiteren Gründen für angezeigt, wovon sich einer aus einer theoretischen, der andere aus einer methodischen beziehungsweise empirischen Perspektive ergibt. Mit Blick auf die erhobenen Daten offenbart sich erstens für beide hier diskutierten Fälle ein Bruch zwischen der Eingangssequenz der Interviews und dem weiteren Gesprächsverlauf: Auch jene Rezipienten*innen, die in ihrer Eingangserzählung eine ahistorische Lesart dokumentieren, sprechen im späteren Verlauf der Interviews über die historische Authentizität des Spielfilms. Dem liegt folglich durchaus die Annahme zugrunde, es handle sich beim „Turm“ auch um die Darstellung von Geschichte. Insofern steht der Befund der ahistorischen Lesarten, die sich in der Filmnacherzählung am Beginn der Interviews zeigen, inhaltlich dem weiteren Verlauf der Interviews gegenüber. Ich habe in meinen methodischen Bemerkungen argumentiert, dass der Beginn eines Leitfadeninterviews, insbesondere wenn er offen und narrativ gestaltet ist, vor allem deshalb einen gesteigerten Erkenntniswert für die qualitative Forschung bietet, da hier die Relevanzsetzungen des*der Interviewpartners*in besonders zum Vorschein kommen.11 Erst im weiteren Verlauf des Interviews können die Fragen des Leitfadens Schwerpunkte setzen, die stärker vom Interviewer und damit vom Forschungsinteresse ausgehen. Der den Gesprächen zugrundeliegende Leitfaden verschiebt insofern aufgrund der durch ihn eingeführten Themen und Fragen automatisch den Schwerpunkt der Interviews – zugunsten des Forschungsinteresses und zulasten eigenständiger Schwerpunktsetzungen der Interviewten. Alle geführten Gespräche müssen somit beinahe gezwungenermaßen im Sprechen über die Authentizität der Erzählung aufgehen – selbst wenn die Interviewpartner*innen in ihren thematisch selbstbestimmten Eingangserzählungen einen anderen Gesprächsrahmen vorgeben. Aus einer empirischen Perspektive stellt sich somit die Frage, wie es möglich ist, dass die Eingangserzählungen eine ahistorische Lesart dokumentieren und zugleich im Verlauf der Interviews diese Lesart revidiert wird; indem nämlich der Leitfaden das Gespräch notgedrungen auf Fragen der Authentizität des Gesehenen lenkt, obwohl diese Fragen möglicherweise zunächst keine oder nur geringe Relevanz für manche jugendlichen Filmzuschauer*innen besitzen. In den Interviews müsste folglich ein Wendepunkt sichtbar sein, an dem die Rezipienten*innen ihre ahistorische Rezeption des Filmes aufgeben. Aus einer stärker theoretisch orientierten Perspektive bedarf die Hypothese vom Typus der ahistorischen Lesart ebenfalls einer Plausibilisierung. In den Bemerkungen zur Fiktionstheorie habe ich dargestellt, dass das Wesen fiktionaler Erzählun11 Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, S. 85.

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gen unter anderem darin besteht, dass sich deren Rezipienten*innen in eine angemessene Rezeptionshaltung begeben. Diese bestünde vor allem darin, die Frage nach deren realweltlicher Verortung auf der Grundlage eines Fiktionsvertrages zu suspendieren. Verwiesen sei hier auf die „willing suspension of disbelief“12. Insofern ließe sich in Bezug auf die hier problematisierten Fälle die Frage stellen: Handelt es sich beim Typus der ahistorischen Lesart möglicherweise um eine fiktionsadäquate Rezeptionshaltung, die die Frage nach der Authentizität des Erzählten schlicht zurückstellt? So, wie sich ein*e Leser*in eines Romans wie „Schuld und Sühne“, dessen Handlung im Sankt Petersburg des 19. Jahrhunderts spielt, nicht beständig der historischen Glaubwürdigkeit der Handlung versichert, wäre auch für die filmische Erzählung im „Turm“ und ihre Rezeption zu fragen, ob die hier besprochenen Fälle nicht fiktionsadäquat die Handlung des Films nacherzählen und sich eben aus diesem Grund in ihrer Lesart keine Zuschreibung von Authentizität dokumentiert. Dieser vorrangig erzähltheoretischen Logik folgend müsste sich die Bewertung der bisherigen Auswertungen genau genommen ins Gegenteil verkehren: Der Typus der ahistorischen Lesart wäre insofern keineswegs eine empirische Überraschung, sondern müsste die „korrekte“, fiktionsadäquate Form der Rezeption einer fiktionalen Erzählung dokumentieren. Vielmehr wäre gerade sein empirisches Gegenüber als bemerkenswert einzuschätzen: Der am Beginn des Kapitels vorgestellte Typus, der die Erzählung des Spielfilms als eine authentische Darstellung der DDR-Geschichte charakterisiert, stellte folglich eine Verwechslung der „Geschäftsgrundlage“13 fiktionaler Erzählsituationen dar. Hierin zeigt sich, dass die Fiktionstheorie gegenüber dem Konzept der Authentizität an ihre Grenzen gerät, insbesondere was das fiktionale Erzählen zeitgeschichtlicher Stoffe betrifft. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage bestehen, ob die analysierten Nacherzählungen tatsächlich ahistorische Lesarten dokumentieren, oder ob vielmehr ein fiktionsadäquater Rezeptionsmodus eingenommen wird, in dem die Interviewpartnerinnen die Spielfilmhandlung nicht nicht authentifizieren, sondern lediglich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der historischen Erzählung zurückstellen. In dieser Hinsicht liefert eine dritte Sequenz aufschlussreiche Einblicke, die dem Interview mit der Magdeburger Jugendlichen Valentina entstammt. Ihre Eltern stammen aus Osteuropa, sie selbst ist in Magdeburg aufgewachsen. Ausnahmsweise beginnt das Zitat hier erst am Ende der Eingangserzählung, nachdem sie wie die beiden vorherigen Fallbeispiele sehr ausführlich, bis ins Detail die Filmstory erzählt hat, fast ohne diese historisch zu verorten.14 Bei ihr zeigen sich ähnliche Muster wie zuvor, etwa die Andeutung der Geschichtlichkeit der Spielfilmhandlung mit histori12 Coleridge 1907, S. 6. 13 Martínez/Scheffel 2012, S. 17. 14 Aus diesem Grund verzichte ich hier auf die Zitation der gesamten Eingangserzählung.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 175

schen Begrifflichkeiten („Stasi“15, „Republikflucht“16), ohne dass in ihrer Schilderung das Handeln der Figuren eine historische Dimension erhält. Auch findet sich hier erneut die Bezeichnung der „Bundeswehr“ für das im Film gezeigte Militär wieder, an deren Schilderung die zitierte Sequenz einsetzt: VA: […] und dann waren da halt diese Offiziere und sonstwas und die haben dann halt gesagt, ja was machen wir denn mit dem, der kann sie äh macht- also der ist nicht- zu nichts nutze, haben sie gesagt ja Innendienst, und das Kretzschmann das auch mit dem macht, und sja der meinte so sind wir ja nun i- nicht und (.) //mhm// ist @ganz sozial gewesen@ und dann durften die da drinne bleiben und dann hat sich äh Christian wieder langsam erholt und so, hatte (.) ah und parallel, Meno da da hab ich ja noch gesagt, hab ich vergessen zu erzählen, während dieser Sache, am Bahnhof, als es zu diesem: Konflikt kam, hat er also er hat schon gesehen, dass da ( ) äh die Leute kommen, alle die ganze Menge und wollte sich in Sicherheit bringen, und währenddessen, weil die alle aufeinander losgegangen sind, hat er seine Akte aus den Händen verloren und (.) sein Koffer oder ja sein Koffer ist aufgegangen, und die ganzen Blätter rausgefallen und (.) äh alles durcheinander gewesen, und ähm:: ja damit war das Skript von dieser Schriftstellerin //mhm// halt hin, und er hatte ein paar Blätter noch in der Hand, als er da ins Krankenhaus eingeliefert wurde, und Herr Hoffmann ihn dann gesehen hat, meinte=er ja, alles okay mit dir und so und ihn dann behandelt hat, dann:::: (.) ich überlege noch, was da alles noch war, dann war er (.) ich glaub, das war=es schon (oder) nur dass die Schlussszene, dass (.) seine Mutter und Meno dann vor den Toren standen vor der Bundeswehr, vor diesen ganzen äh Gebäuden da, weil er seinen Dienst äh absolviert hatte, und er wurde zugelassen, an die Uni, und das wollte ihm die Mutter halt auch mitteilen, er war fertig, kam an, und äh die Mutter ganz glücklich, meinte ja du wurdest da aufgenommen und darfst studieren und so, °weshalb er studieren° (.) doch er durfte °ganz normal studieren weil (.) ja er durfte studieren und° (.) hat er gesagt ja Mama, ich hab das mein Leben lang getan, was ihr wolltet, und jetzt muss ich meinen eigenen Weg gehen, hat er sich von Kretzschmann verabschiedet, der seine (.) ich glaube ukrainischen Blondinen@zwillinge da gefunden hatte mit Beinen bis zum Himmel oder so,@ I: @(.)@ VA: und äh (.) hat sich von denen verabschiedet, meinte ja wir sehen uns, und ist dann einfach losgegangen, (.) °und ich glaube das war auch schon das En-° also i- das war das Ende als er losgegangen ist und die Eltern also die Mutter und Meno standen da, haben sich nur angeguckt, und er ist halt seinen Weg gegangen, aber °ich weiß nicht, inhaltlich noch was vergessen, (muss ich nochmal)° @(.)@ also mir fällt jetzt nichts mehr (.) ein inhaltlich, //mhm// dazu. I: Was ist das für eine Welt, die du da im Film präsentiert bekommen hast? VA: Wie meinen Sie das? 15 Transkript VA, MD, Z. 236. 16 Transkript VA, MD, Z. 259.

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I: Wie würdest du die Welt beschreiben, die da erzählt wurde? VA:

└Also übrigens┘ (.) Dresden. @(.)@

I: Mhm. @okay.@ @(.)@ VA: Dresden. Neunzehn::dreiundachtzig bis (.) ah bis zu der Wende, da war noch (ir-) jetzt fällt mir inhaltlich noch was ein, da haben die halt erfahren, dass die auch rüber dürfen, wo die dann (.) äh gesagt bekommen haben, übers Radio, wo die dann alle gelauscht haben, ja äh offiziell dann alle (.) äh Anträge bewilligt werden, auf äh (.) hier Ausreise in den Westen //mhm// die haben sich natürlich alle gefreut und (.) sie wollten alle rüber:machen und (.) ja. //mhm// was das für eine Welt ist? (.) ich g- soll ich jetzt auch die (.) Dokumentation in dem Sinne, mit dem Weißer Hirsch und so beziehen? I: Wie du möchtest. wenn du möchtest ja. VA:

└Na ich┘ find (.) das war keine Ahnung wie das mit der Welt

(s-) also ich kann es ja erstmal praktisch bezogen auf die Dokumentation erzählen, die das äh dort gesagt wurde, es war ja so, dass die gewohnt haben in dem Viertel der äh als Weißer Hirsch praktisch bekannt ist, und die das=ist ein bisschen höher gelegen, und das sie: praktisch ein ganz anderes Leben geführt haben, als die Menschen in der Stadt, wenn sie jetzt bei i- bei sich im Viertel geblieben sind, und (.) sie konnten immer alles sehen, überblicken, und tagsüber wenn sie arbeiten mussten, mussten sie sich natürlich da runter begeben, //mhm// und haben sich in den Tummel, die Aufregung, das was alles (.) das normale Menschenleben praktisch war im Krankenhaus, sonstwo (.) hineinbegeben, und dass da dieser ähm:: Kontrast °praktisch herrschte,° ansonsten fand=ich (.) die Welt, es wirkte teilweise zum Beispiel (.) man weiß ja, hinter dem historischen Kontext wie angespannt das eigentlich alles war, //mhm// und das hat man auch im Film sehr gut gemerkt, dass es halt nicht nur (.) politisch son- äh war, sondern auch (.) durch die familiären Konflikte nochmal ein bisschen zum Ausdruck kam, und (.) alles sehr sehr durcheinander, sehr jeder hat seine eigene (.) jeder will seinen eigenen Weg praktisch leben und sowas wie (.) einig- auch s- nicht mal in dem eFreundeskreis war da was Einiges zu sehen, sondern was also was (.) Gemeinsames, weil jeder was anderes hatte, jeder hat sich betrogen, @belogen, keine Ahnung,@ jahrelang oder seinen besten Freund und der der Sohn will seinen eigenen Weg gehen, lässt die Mutter da allein

stehen,

und

(.)

ich

fand

(.)

die

Welt,

also

(1,5)

@nicht so schön in dem Sinne@, weil (.) weil das=ist halt ganz anders jetzt als das, was man als normaler Mensch, als sozialer Mensch in dem Sinne °@Anführungsstriche@° braucht.17

Erkennbar werden in dieser Sequenz eine inhaltliche Zweiteilung der Erzählung und ein Wendepunkt, der durch die erste Nachfrage des Interviewers nach dem Ende der Eingangserzählung ausgelöst wird: In der ersten Hälfte der zitierten Passage zeigt sich das bereits als Muster erkennbare Bild. Valentina erzählt eine ahistorische Geschichte nach. Nichts lässt darauf schließen, dass die Spielfilmhandlung für sie 17 Transkript VA, MD, Z. 457-538.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 177

in einer historischen Welt spielt. Stattdessen berichtet sie von nicht genauer bestimmten Offizieren, von Figuren, die sie mit ihrem fiktiven Namen benennt, und insgesamt von einer Handlung, die in einer nicht-historischen Zeit spielt. Auch deutet sie Ereignisse der Spielfilmhandlung an, die von anderen Interviewpartnern*innen eindeutig als Darstellung geschichtlicher Ereignisse definiert werden: „während dieser Sache, am Bahnhof, als es zu diesem: Konflikt kam“ ist insofern ein bemerkenswertes Beispiel, als dass sie vermeintlich unverkennbare Ereignisse der DDR-Geschichte hier als rein fiktive Events der Spielfilmhandlung charakterisiert. Sie nimmt damit Bezug auf die Szene am Bahnhof, die gegen Ende des zweiten Teils des Spielfilms das Aufeinandertreffen von Bürgerrechtsbewegung und Sicherheitskräften der DDR inszeniert. Für Valentina jedoch handelt es sich in ihrer Nacherzählung nicht um ein im Film dargestelltes historisches Ereignis, sondern lediglich um eine „Sache“ beziehungsweise einen „Konflikt“, der nicht näher erläutert wird. Diese Formulierungen bezeichnen zwar einen Höhepunkt der Spielfilmhandlung, verdrängen jedoch gleichzeitig jeden Verweis darauf, dass die Ereignisse am Bahnhof im „Turm“ Ereignisse im historischen Dresden darstellen. Damit charakterisiert die jugendliche Zuschauerin Ereignisse der Filmhandlung, die vermeintlich stark auf die DDR-Geschichte verweisen, explizit als nicht historische Ereignisse. Ebenso geht Valentina in der ersten Hälfte der zitierten Sequenz auf das anstehende Studium der Hauptfigur ein, die historische Spezifik dieses Aspektes bleibt jedoch unscharf: „und äh die Mutter ganz glücklich, meinte ja du wurdest da aufgenommen und darfst studieren und so, °weshalb er studieren° (.) doch er durfte °ganz normal studieren weil (.) ja er durfte studieren und° (.)“. „Der Turm“ thematisiert mehrfach, dass die unangepasste Haltung des Protagonisten für die Möglichkeit, in der DDR zu studieren, ein großes Problem darstellt. Letztlich wird ihm sogar aus politischen Gründen in einem Militärgerichtsverfahren der Studienplatz aberkannt. In der Nacherzählung von Valentina zeigt sich hingegen, dass diese Thematik von der Rezipientin nicht in dieser Hinsicht aufgenommen wurde, sie aber zugleich ahnt, dass das Film-Thema Studium eine besondere Relevanz besitzt und gewissermaßen einen ‚historischen Haken‘ hat. Valentina zeigt sich deshalb an dieser Stelle des Interviews irritiert und zögerlich, sie spricht leiser, unterbricht ihren Satz durch mehrere kurze Pausen, wiederholt sich und bekräftigt ihre Aussage letztlich in einer Art Selbstvergewisserung („ja“), die Ausdruck ihrer Irritation ist. Die Irritation resultiert – und hier wird die Beobachtung für die Frage nach der ahistorischen Lesart bedeutsam – aus Valentinas Rezeptionshaltung an dieser Stelle: Ohne den Film in einer historischen Welt zu verorten, die den Zugang zum Studium an die individuelle Zustimmung zur bestehenden politischen Ordnung knüpft, wird die Filmhandlung für sie in diesem Aspekt nicht verständlich. Erst durch die Erkenntnis, dass es sich bei der dargestellten Welt im Spielfilm um die DDR mit ihrem politisch selektiven Bildungssystem handelt, kann die Szene des Films nicht voll ver-

178 | Wie Stories zu History werden

standen werden. Vielmehr muss eine Irritation entstehen, wenn die Handlung nicht historisch eingeordnet, sondern implizit mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Standards verknüpft wird. In Valentinas Gegenwart ist kein bisschen nachvollziehbar, warum jemand aus politischen Gründen nicht studieren dürfen sollte. Zugleich legt der Film in ihrer Wahrnehmung jedoch nahe, dass der Zugang zum Studium in der Welt der Filmhandlung keine Selbstverständlichkeit darstellt. Valentina schwankt hier also zwischen ihrem alltagsweltlich-gegenwärtigen Unverständnis und der abweichenden, historisch orientierten Filmlogik, was sich in der gebrochenen Satzstruktur und dem leisen Sprechen ausdrückt. Somit kollidiert an dieser Stelle ihre ahistorische Lesart der Handlung mit dem Spielfilm, der eine historische Einordnung des Geschehens für sein tieferes Verständnis geradezu voraussetzt. 18 Der Wendepunkt ihrer Lesart geht von der ersten Nachfrage aus, die ihr nach dem Ende der Eingangserzählung, welches sie auch als solches markiert („also mir fällt jetzt nichts mehr (.) ein inhaltlich, //mhm// dazu.“19), gestellt wird: I: Was ist das für eine Welt, die du da im Film präsentiert bekommen hast? VA: Wie meinen Sie das? I: Wie würdest du die Welt beschreiben, die da erzählt wurde? VA:

└Also übrigens┘ (.) Dresden. @(.)@

I: Mhm. @okay.@ @(.)@ VA: Dresden. Neunzehn::dreiundachtzig bis (.) ah bis zu der Wende,20

Diese Interviewstelle ist wahrlich außergewöhnlich: Aus einer Erzählung, die sich allein auf die Welt des Spielfilms bezieht, die also in keine Verbindung mit einer 18 Ein weiteres Fallbeispiel repräsentiert ebenfalls dieses Muster: Mein Interviewpartner Thorsten schildert die dargestellte Räumung des Dresdner Hauptbahnhofes durch Einheiten der Volkspolizei und der NVA als einen „Aufstand“, bei dem der junge Protagonist des Filmes notgedrungen mit zu den „Verteidigern“ gehört, sich dann aber auf die Seite der Mutter geschlagen hätte, um sie zu beschützen. Damit wird diese Szene für ihn zu einem vollkommen geschichtslosen Moment der Spielfilmhandlung, der erstens nur mit historisch unspezifischem Vokabular beschrieben werden kann, zweitens aber auch dessen historisch motivierte Bedingungen des Figurenhandelns nicht mehr verständlich sind. In Thorstens Lesart bleibt unklar, wer warum am „Aufstand“ beteiligt ist und in welchem historischen die dargestellten Ereignisse anzusiedeln sind. Transkript TH, BS, Z. 288296. 19 Hier handelt es sich um eine in der Methode der Narrationsanalyse als „Koda“ bezeichnete Markierung des Erzähl-Endes, mit dem der*die Interviewte die eigene Narration abschließt. Fast alle in diesem Projekt geführten Interviews enden in der Eingangserzählung mit einer solchen Koda. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, S. 232, 234. 20 Transkript VA, MD, Z. 495-505.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 179

außerfilmischen, gegebenenfalls historischen Realität gesetzt wird, wird innerhalb weniger Worte genau dies: eine betont räumlich und zeitlich verortete Geschichte, die bis hin zur präzisen Jahreszahl als Darstellung der DDR-Geschichte identifiziert wird. Wohlgemerkt geht dieser Wendepunkt von einer Intervention des Interviewers aus, die dementsprechend die Relevanzsetzung des Interviews zugunsten des Forschungsinteresses verlagert. Zunächst bittet Valentina um eine Präzisierung der Frage, welcher Art die im Film dargestellte Welt sei. Die Umformulierung fordert sie zur Beschreibung dieser Welt auf, und möglicherweise ist es dieser Operator „beschreiben“, der ihre Aufmerksamkeit auf die Beziehung der Film-Erzählung zu einer außerfilmischen, historischen Realität lenkt. Simultan zur Umformulierung der Frage seitens des Interviewers beginnt sie, die filmische Erzählung historisch zu verorten. Sie leitet diese Verortung mit „Also übrigens“ ein, so als wäre dies für sie einerseits eine Selbstverständlichkeit, andererseits aber plötzlich eine hochrelevante Information zur Nacherzählung des Spielfilms. In diesem Ausspruch zeigt sich weniger ein Moment der Erkenntnis über die Geschichtlichkeit des Erzählten, die ihr offenbar auch zuvor klar war („übrigens“), sondern vielmehr ein neu gesetzter Fokus des Nacherzählens über den Film, ein Wechsel des Schwerpunkts, auf den Valentina ihre Aufmerksamkeit legt. Dass ihr die Geschichtlichkeit der Film-Story plötzlich enorm wichtig ist, kommt ebenso in der stark betonten und zudem wiederholten Aussprache der Stadt „Dresden“ sowie der sehr präzisen zeitlichen Verortung und der lauten Aussprache „ah bis zu der Wende,“ zum Ausdruck. Auch das kurze Auflachen von Valentina („@(.)@“) ist aufschlussreich: Es drückt wiederum die Offenkundigkeit für meine Interviewpartnerin aus, dass das Erzählte eine historische Entsprechung aufweise – so als sei diese zwischen dem Interviewer und ihr geradezu lächerlich selbstverständlich. Diese hier dokumentierte Selbstverständlichkeit wird daher vom Interviewer auch umgehend mit einem Auflachen erwidert. In der Folge verortet die Jugendliche die Filmhandlung historisch, und der Kontrast zum zuvor Erzählten wird überdeutlich: Nicht nur benennt sie präzise den Abschnitt der DDR-Geschichte von „Neunzehn::dreiundachtzig bis (.) ah bis zu der Wende,“, auch verknüpft sie nun das Handeln der Filmfiguren mit den historischen Ereignissen, indem sie schildert, wie beispielsweise die berühmte Pressekonferenz von Günter Schabowski von den Filmfiguren erlebt wird. Valentina kommt daraufhin erneut auf die Frage nach der erzählten Welt zurück, die sie offenbar noch immer irritiert. Sie fragt nach, ob sie die Dokumentation zum Spielfilm, die sie auch gesehen hat, in ihre Erklärung mit einbinden solle. Mit ihrer Rede vom Dresdner Stadtviertel „Weißer Hirsch“ macht sie schließlich deutlich, dass es dabei um die historischen Aspekte der Erzählung ginge. Ohne hier genauer auf die Rolle der Dokumentation zum Spielfilm einzugehen, die in einem späteren Kapitel im Zentrum stehen wird, bedeutet der Verweis auf dieses TV-Format doch vor allem eines: dass sie hier in einen anderen Modus,

180 | Wie Stories zu History werden

eine andere Lesart wechselt, die eher einer dokumentarischen, non-fiktionalen Rezeptionshaltung entspricht, und vor allem nach dem Verhältnis der Darstellung zu dessen realweltlicher Entsprechung fragt. Dieser Wechsel der hier schon einige Male zitierten „Geschäftsgrundlage“21 kristallisiert sich im Interview mit Valentina in der Gegenüberstellung der Worte „inhaltlich“, bezogen auf den Spielfilm, und der „Welt“, die bei Valentina an einigen Stellen auftauchen. Schon den Auftakt ihrer Nacherzählung stellt eine in dieser Hinsicht präzisierende Nachfrage von Valentina dar: I: Und ich würde gleich gerne anfangen mit deinem ganz persönlichen Blick sozusagen. ich würde dich bitten, dass du mir den Turm erzählst, ganz ausführlich, von Anfang an. VA: Den Inhalt.22

Mit dieser als Aussagesatz formulierten Nachfrage – „Den Inhalt.“ –, worauf sich die Erzählaufforderung des Interviewers genau beziehe, legt sie für sich den Modus fest, in dem sie im Folgenden berichten möchte. „Inhalt“ stellt für sie offenbar die Bezeichnung der Filmwelt dar, die in keinem Verhältnis zur außerfilmischen Welt steht. Der Begriff „Welt“ wiederum bringt sie dazu, die Filmhandlung in eine Beziehung zur historischen Realität zu setzen. Insofern stellen diese Begriffe für sie Schlüsselbegriffe dar, die mit zweierlei Modi verbunden sind, den fiktionalen Spielfilm zu rezipieren: Ganz offenbar ist es ihr möglich, sich in der Nacherzählung einerseits ausschließlich auf die fiktive Filmwelt zu beziehen, ohne die historische Referenz zu beachten. Andererseits kann sie ohne Weiteres in einen Erzählmodus wechseln, der die Spielfilmhandlung mit filmexternen, historischen Referenzen versieht. Mithin ist die Interviewpartnerin problemlos in der Lage, zwischen einer ahistorischen Lesart und einer Lesart zu wechseln, die den „Turm“ als authentische Erzählung der DDR-Geschichte einschätzt. Gleiches gilt auch für die anderen Fälle, die zunächst in ihrer Eingangserzählung eine weitestgehend ahistorische Lesart dokumentieren. Sie alle zeigen im Verlauf der Interviews früher oder später, dass sie auch in der Lage sind, die Spielfilmhandlung zumindest vage historisch in der DDR zu verorten. Insofern lässt sich für dieses Rezeptionsmuster der ahistorischen Lesart hier zusammenfassend festhalten, dass diejenigen Interviewpartner*innen, die dieses Muster zeigen, den Spielfilm nicht ausschließlich ahistorisch rezipieren, wohl aber eine ahistorische Lesart der filmischen Darstellung entwickeln können und dieser zunächst den Vorzug geben gegenüber einer stärker auf die Authentizität der Darstellung konzentrierten Art des Umgangs mit dem Spielfilm. Sie zeigen, dass „Der Turm“ einerseits als Erzählung vom Ende der DDR, andererseits – in den beschriebenen Fällen wohlgemerkt vor21 Martínez/Scheffel 2012, S. 17. 22 Transkript VA, MD, Z. 145-149.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 181

rangig, bevor der Interviewer den inhaltlichen Schwerpunkt verändert – aber auch als geschichtslose Story des menschlichen Daseins ohne jegliche historische Verortung des Geschehens gesehen werden kann. Der Fernseh-Zweiteiler stellt damit ein offenes Rezeptionsangebot dar, das in seiner Vielschichtigkeit freilich historisch rezipierbar ist, die Zuschreibung von historischer Authentizität aber keineswegs eine Zwangsläufigkeit darstellt. Ein Wesensmerkmal dieser Rezeptionshaltung scheint zudem in der nur oberflächlichen Verbindung der Spielfilmhandlung mit ihren historischen Grundlagen zu liegen. Allen hier vorgestellten Fällen ist gemein, dass sie die Filmhandlung zu einem gewissen Zeitpunkt des Interviews durchaus mit einem historischen „Etikett“ versehen – wie etwa Michaela, die Begriffe wie „DDR“ und „Volksarmee“ in der Nacherzählung verwendet. Die konkreten Ereignisse der Filmhandlung jedoch werden von ihnen nicht als filmische Darstellungen der Geschichte rezipiert. Es lässt sich konstatieren, dass die Zuschreibung von Authentizität bei diesem Typus qualitativ nur sehr schwach ausgeprägt ist: Der Spielfilm ist für diese jugendlichen Zuschauer*innen nur ganz allgemein eine historische Darstellung, die konkreten Elemente seiner Handlung spielen für diese Rezipienten*innen jedoch nicht in der Historie – ihre Authentizität besitzt nur eine geringe oder keine Relevanz. Die Authentizitäts-Zuschreibung verbleibt in diesen Fällen also nur an der Oberfläche des Films: Gewissermaßen wird dieser allgemein in einen historischen Rahmen eingebettet und als eine solche Erzählung etikettiert, ohne dass die einzelnen Elemente seiner Handlung auch als historische Handlungen rezipiert werden. Dies lässt sich sogar dann beobachten, wenn das Handeln der Figuren ohne ein grundlegendes Verständnis, dass es sich um Vorgänge in der Geschichte der DDR handeln könnte, gar nicht in sich schlüssig und verständlich ist, wie etwa das dargestellte Beispiel um das Studium des Protagonisten gezeigt hat. Die vorgeführten Beispiele haben damit gezeigt, dass diejenigen Jugendlichen, die dem Typus der ahistorischen Lesart zugeordnet werden können, nicht nur ihre Rezeptionshaltung wechseln können. Vielmehr offenbaren die analysierten Interviewpassagen weiterhin, dass die Unfähigkeit, Filmereignisse in ihrem historischen Kontext zu erkennen, mit einer Fokussierung auf die ahistorischen Aspekte der Story des Filmes einhergeht. Die Zuschauer*innen, die also die ganz dezidiert geschichtlichen Ereignisse in der Darstellung des Spielfilmes nicht als solche erfassen können, tendieren somit zu einer insgesamt ahistorischen Lesart, die den „Turm“ als eine Erzählung des Zeitlos-Menschlichen, nicht aber als historische Erzählung begreift. Pointiert lässt sich festhalten: Es findet sich ein Typus von Zuschauern*innen, der die Spielfilmhandlung selbst dann, wenn er ihr grundsätzlich historische Authentizität zuschreibt, nur sehr vage auch in konkreten Elementen als historisch identifiziert. Diese Rezipienten*innen tendieren eher dazu, ihre Lesart stärker ahistorisch zu orientieren und den Film als zeitlose Darstellung nichthistorischen

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menschlichen Handelns in einer fiktionsadäquaten Rezeptionshaltung anzusehen. Sie fragen nicht nach der historischen Entsprechung und Glaubwürdigkeit des im Film Dargestellten, wenngleich sie sich grundsätzlich dazu in der Lage zeigen. Der Kontrast zum ersten Typus, der eine stark historisch fokussierte Rezeptionshaltung zeigte und für den die fiktiven Elemente des Spielfilms lediglich der Darstellung historischer Sachverhalte dienen, mithin die Filmstory der Geschichte geradezu untergeordnet ist, ist hier augenfällig. 4.1.3 Maximale Authentifizierung: Die Faktizität des Fiktiven Damit sind bereits zwei sehr unterschiedliche Typen beschrieben, den Spielfilm zu rezipieren und der filmischen Darstellung historische Authentizität zuzuschreiben. Neben einer weitestgehend ahistorischen, allerhöchstens oberflächliche Authentizität zuschreibenden Lesart, und demgegenüber einer Rezeptionsweise, die Ort und Zeit der Spielfilmhandlung als höchst authentisch und das Handeln der Figuren zwar als fiktiv, die Inszenierung aber als historisch glaubwürdige Erzählung alltagsgeschichtlicher Aspekte der DDR-Geschichte einstuft, zeigt sich ein dritter Typus, der darüber noch hinaus geht: Die jugendlichen Zuschauer*innen, die dieses Muster der Rezeption zeigen, schreiben einigen fiktiven Elementen des Spielfilms eine ganz konkrete Historizität zu. Im Gespräch mit der Magdeburgerin Larissa folgt nach ihrer Eingangserzählung eine in dieser Hinsicht aufschlussreiche Interviewpassage. Zuvor erzählt sie den Film ähnlich zu den Fallbeispielen des ersten Typus nach. Sie ordnet die Story historisch als Darstellung der DDR-Geschichte ein, bestimmt die im Spielfilm erzählte Zeit als Endphase der DDR und erkennt auch das historische Dresden im Film wieder. Bezüglich der Figuren des Spielfilms weicht ihre Nacherzählung jedoch von den anderen Nacherzählungen ab. In der folgenden Sequenz geht sie zunächst auf die Dokumentation zum Spielfilm ein, die sie ebenfalls gesehen hat und die für ihre Lesart des Spielfilms von großer Bedeutung scheint: I: ähm (.) wofür war die Doku w- war die Doku wichtig für dich? LA: Also ich fand schon, das hat das ganze Hintergrundwissen noch ein bisschen bestärkt, //mhm// was man schon sowieso hatte, und ähm (.) hört sich @jetzt zwar doof an, aber@ (.) das ist halt ein Film gewesen, und da wusste man nicht, ob das (.) so eins zu eins richtig war, //mhm// und die Dokumentation hat halt auch nochmal gezeigt, dass es genauso war. I: Aha. was heißt das, es ist halt ein Film gewesen. LA: Na oft ist im Film ja so die Freiheit, die den Regisseuren obliegt, da was anderes äh reinzuinterpretieren, oder das anders zu verfilmen, und äh in historischen Fakten kann man halt (.) wenig reininterpretieren. //mhm// also es ist halt so oder es ist nicht so, und das hat

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 183

halt nochmal gezeigt, dass der Film (.) auf (.) sehr wahren Tatsachen beruht hat, //mhm// und sehr nah an der Realität war, weil=es ja auch so ähnlich auch passiert ist. I: Mhm. mhm. (.) was heißt so ähnlich passiert? LA: Es ist (.) genauso passiert, nur eben halt mit anderen Figuren, dass=es halt diesen Arzt gab, und (.) //mhm// °und so weiter° ja, @dass sie@ (.) I: Ähm das in- das interessiert mich noch, ähm (.) LA: @(.)@ I: dass=es (.) nur halt mit anderen Figuren, dass=es halt diesen Arzt gab. (hast du gerade gesagt.) LA:

└Na den Arzt┘ gab=es ja auch und den gab=es (.) in echt als Zeitzeuge

hat es ja auch erklärt, //mhm// wie die ganze Situation da war, und was er machen musste um=einen bestimmten Grad zu erreichen, und äh das gab=es im Film eben auch diese ähm (.) ähm diesen Konflikt, dass man (.) dem Staat helfen musste, sonst würde man zum Beispiel er wurde ja kein ähm (1)

na wie heißt das Chef vom Hotel, //mhm// (.) äh Hotel vom

Krankenhaus, @(.)@ I: @ah ja@ @(.)@ LA: und ähm weil er eben nicht äh der Stasi so viel geholfen hat, das wurde ihm (.) halt nicht v- gem- vermöglich- ermöglicht, //mhm// und dem Jungen halt auch nicht, wenn er nicht zur (.) °Bundeswehr gegangen wäre,° und äh so war das halt auch (.) oder dass es eben diese Rebellin gab, gab=es in (dem) Zeitzeugenbericht auch, //mhm// und der Junge wurde ja auch praktisch so dargestellt, dass er eher (.) ein rebellisches Gedankengut hatte, I:

└ja.┘

In

welchem

Verhältnis stehen diese Figuren (.) im Film zu denen aus der Dokumentation? LA: Ähm dass es glaube=ich ein ähnliches Alter war, also (.) //mhm// ähm zurückgerechnet war der Arzt ja halt auch schon (.) in dem Alter von dem Schauspieler damals dann, und: (.) es war zwar das Geschlecht ist zwar unterschiedlich, aber der Junge und ähm die: (.) Frau, die das auch miterlebt hat, waren auch so im Jugendlichen- Heranwachsenden-Alter, (.) und ja. I: Mhm. LA: Dass die Jugendlichen dann sich dann vielleicht einfach nicht so dem System gebeugt haben, wie die Älteren die schon wussten, wie das alles abläuft. I: Ja.23

Am Beginn der Sequenz steht Larissa vor dem gleichen Problem, das auch Stacy eingangs des Kapitels beschäftigt hatte: „Der Turm“ „ist halt ein Film gewesen, und da wusste man nicht, ob das (.) so eins zu eins richtig war“. Aufgrund ihrer Eigenschaft, ein Spielfilm zu sein, sei folglich nicht klar, ob der Erzählung auch zu trauen sei. Doch Larissa bestimmt das Problem hier noch etwas genauer: Sie treibt offenbar nicht nur die allgemeine Frage nach möglicherweise Hinzugedichtetem um,

23 Transkript LA, MD, Z. 94-153.

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vielmehr beschäftigt sie, „ob das (.) so eins zu eins richtig war“ – das heißt, ob der Spielfilm bis in die Details eine exakte Darstellung der Geschichte darstellt. Diese Überlegung erscheint gegenüber einem Spielfilm doch bemerkenswert: Letztlich fragt Larissa damit nach der dokumentarischen Qualität des „Turms“ Nicht umsonst steht ihre Überlegung hier im Kontext des Nachdenkens über die Fernsehdokumentation – die Frage, ob die Darstellung des Spielfilms „eins zu eins richtig“ sei, entspringt einer Rezeptionshaltung, die aus einer theoretischen Sicht in nicht-fiktionalen Erzählsituationen wie einer Dokumentation angemessen erscheint. Damit überträgt Larissa ihre Anspruchshaltung gegenüber der Dokumentation auf den Spielfilm selbst. Dass diese Haltung möglicherweise unangemessen ist, räumt sie implizit selbst ein, indem sie ihre Ausführungen zur Authentizität des Spielfilms mit der Formel „hört sich @jetzt zwar doof an, aber@“ einleitet und damit ihre Unsicherheit gegenüber ihrer eigenen Rezeptionshaltung thematisiert. In der Folge äußert sie einige Gedanken, die für die an späterer Stelle zu beantwortende Frage nach den Authentifizierungs-Ressourcen, die die Rezipienten*innen für ihre Authentizitäts-Zuschreibungen heranziehen, von großer Relevanz sind. So hebt sie etwa die Bedeutung von Zeitzeugen*innen-Aussagen hervor, die das im Spielfilm Gezeigte beglaubigten. Darüber hinaus lässt sich jedoch einiges erfahren, inwiefern Larissa dem Spielfilm an dieser Stelle überhaupt Authentizität zuschreibt. So scheint es, dass sie sich in ihrer Einschätzung der Authentizität im Verlauf der Sequenz erheblich steigert: Zunächst behauptet sie, „dass der Film (.) auf (.) sehr wahren Tatsachen beruht hat, //mhm// und sehr nah an der Realität war, weil=es ja auch so ähnlich auch passiert ist“. Schon diese Einschätzung übersteigt das bisher in den anderen Fallbeispielen zugeschriebene Maß an Authentizität: Das Attribut „wahr“ ist in der Regel nicht steigerbar, genügt Larissa zur Erläuterung jedoch nicht, sodass die dem Film zugrundeliegenden Tatsachen von ihr als „sehr [wahr, B.B.]“ charakterisiert werden. Damit differenziert sie implizit zwischen zwei Graden historischer Wahrheit und ordnet sie in eine Hierarchie ein: einer abstrakt historischen, plausiblen, potentiell möglichen Darstellung, die grundsätzlich historisch wahr ist, und einer historischen Darstellung, die darüber noch hinausgeht, indem sie sich ganz konkret auf historisches Handeln historischer Personen bezieht. Zwar ist in beiden Einschätzungen die historische Darstellung für Larissa wahr, gegenüber einer nur grundsätzlichen historischen Plausibilität des Gesehenen erreicht der Spielfilm jedoch mit einer ganz konkreten historischen Wahrheit ein größeres Maß an Authentizität. Wenngleich sie hier noch nicht genauer erläutert, was „es“ denn genau sei, auf welche Elemente des Spielfilms sich ihre Einschätzung also bezieht, hält sie doch bereits mit dieser Aussage die Spielfilmhandlung für authentischer als nur potentiell möglich. Vielmehr schreibt sie der dargestellten Handlung eine konkrete Ähnlichkeit zu mit dem, „was passiert ist“, und betrachtet die Ereignisse der Spielfilmhandlung damit nicht nur als plausible, potentiell mögliche historische Erzählung, son-

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dern als Darstellung, die sich an tatsächlich historische Ereignisse so stark anlehnt, dass sie diesen Ereignissen ähnlich ist. Die historische Grundlage der Spielfilm-Erzählung ist für sie zudem kaum grundsätzlich beeinflussbar („also es ist halt so oder es ist nicht so“). Hier dokumentiert sich ein geradezu unerschütterlicher Glaube in die der Dokumentation zugrundeliegenden „historischen Fakten“, die „halt so“ und folglich auch für eine fiktionale Erzählung kaum veränderbar seien. Letztlich handelt es sich bei dieser Überzeugung um eine ganz eigene Geschichtstheorie der Jugendlichen, die die Authentizität des Spielfilms allein dadurch steigert, dass hier Geschichte erzählt wird, in die sich grundsätzlich nur „wenig reininterpretieren“ lasse und die durch ihre angenommene Unveränderlichkeit eine maximale Glaubwürdigkeit verspreche. Auf Nachfrage führt Larissa dann aus, worauf sich ihre Einschätzung der Authentizität denn konkret bezieht: „Es ist (.) genauso passiert, nur eben halt mit anderen Figuren, dass=es halt diesen Arzt gab“. Die Figuren des Spielfilms und deren Handlungen stehen in ihrer Einschätzung offenbar im Mittelpunkt. Bei ihnen und ihren im Film dargestellten Handlungen handelt es sich laut Larissa um solche mit ganz konkreten historischen Vorbildern – der Spielfilm bildet dementsprechend mithilfe der Figuren ab, was in der Geschichte „genauso passiert“ sei, er stellt historische Personen dar. Das Verhältnis der filmischen Darstellung zum historischen Dargestellten wechselt somit von einem Ähnlichkeitsverhältnis in ein Verhältnis der Deckungsgleichheit. Die Figuren fügen sich für sie nicht nur plausibel in die dargestellte DDR-Geschichte ein, wie dies noch beim ersten Rezeptionstypus der Fall war – sie sind Abbilder von Menschen und deren Handlungen, die die DDR erlebt haben und deren Erlebnisse im Film eine abbildhafte Darstellung finden. Die Zuschreibung einer ganz konkreten Historizität der Film-Figuren und ihres Handelns stellt damit eine maximale Authentifizierung der Spielfilmhandlung dar: Die Figuren sind Darstellungen der Geschichte, die „eins zu eins richtig“ so geschehen sei. Die Differenzierung zwischen „wahr“ und „sehr“ wahr erlaubt es Larissa, im Interview die von ihr zugeschriebene maximale Authentizität der Figuren und ihres Handelns sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Die Jugendliche macht diese Einschätzung vor allem an der Figur des Arztes Richard Hoffmann fest. Aus ihren Ausführungen wird deutlich, dass sie der Überzeugung ist, dass diese Figur auf einer konkret identifizierbaren, historischen Person basiert, und ihre Handlungen im Spielfilm damit eine historische Vorlage besitzen. Im Folgenden wird auch erkennbar, womit sie die Film-Figur verknüpft: „Na den Arzt gab=es ja auch und den gab=es (.) in echt als Zeitzeuge hat es ja auch erklärt, //mhm// wie die ganze Situation da war, und was er machen musste um=einen bestimmten Grad zu erreichen, und äh das gab=es im Film eben auch“.24 Hier verbindet Larissa die Figur des Richard Hoffmann im Spielfilm mit einem 24 Transkript LA, MD, Z. 123-126.

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Zeitzeugen. Sie beginnt ihre Ausführungen noch während der Frage des Interviewers und drückt auch mit ihrer Lautstärke die Klarheit aus, die diese Verbindung für sie aufweist. Die Figur des Arztes im Film wird eins zu eins mit einem Zeitzeugen identifiziert, der das Handeln der Figur beglaubigt. Damit wird diese Figur zum Abbild einer historischen Person, die möglicherweise sogar noch mehr als ein Zeitzeuge, nämlich ein Augenzeuge der historischen Ereignisse ist – er erklärt die im Film dargestellte „Situation“ (wenngleich die Bedeutung dieses Begriffs hier nicht ganz deutlich wird). Auch eine zweite Figur kann Larissa mit einer Zeitzeugin in der Dokumentation identifizieren: Sie spricht von einer „Rebellin“, die in ihrem „Zeitzeugenbericht“ ein ebenso „rebellisches Gedankengut“ zum Ausdruck bringt, wie es der „Junge“ im Spielfilm, die Figur Christian Hoffmann, an den Tag legt. In dieser Authentizitäts-Zuschreibung fällt ein Unterschied zur Beurteilung der Figur des Arztes auf: Während dort historische Person und filmische Figur in einem Deckungsverhältnis standen, es sich in den Augen meiner Interviewpartnerin also um eine historisch vollkommen präzise Darstellung oder ein Abbild der Erlebnisse eines Zeit- oder Augenzeugen handelte, wird die Authentizität des jungen Protagonisten hier als etwas geringer beurteilt. Vielmehr handelt es sich bei dieser Figur um die erzählerische Umsetzung von Zeitzeuginnen-Aussagen und die Darstellung einer historischen Person, ohne diese jedoch „eins zu eins“ abzubilden. Aus der historischen Person der „Rebellin“ wird vielmehr eine Filmfigur konstruiert, die zwar historisch glaubwürdig ist, insofern sie auf einem Zeitzeuginnenbericht beruht, jedoch keine Identität mit einer historischen Person im ganz konkreten Sinne aufweist. Deutlich wird, dass die Differenzen zwischen historischer Person und Figur vor allem im Geschlecht zu finden sind, während für Larissa insbesondere die Gleichheit des Alters entscheidend für ihre Einschätzung der Authentizität der Figur ist. Beide genannten, historischen Personen stellen also in der Bewertung der Rezipientin höchst authentische Abbilder dar. Die fiktiven Figuren werden in ihrer Lesart als historisch real beschrieben, wenngleich sich diese Einschätzung graduell unterscheidet. Bei beiden zeigt sich dennoch, dass es sich um eine Steigerung in der Zuschreibung von Authentizität handelt: Die Differenz zum ersten Typus, der der Darstellung im „Turm“ eine abstrakte Authentizität zuschreibt, das heißt die Erzählung an einem historischen Ort und einer historischen Zeit verortet, die konkreten Handlungen und Ereignisse des Films jedoch als (lediglich) potentiell möglich, historisch plausibel einschätzt, ist augenfällig. So folgt die Handlung für die Interviewpartnerin hier präzise historischen Quellen (an dieser Stelle einer Zeitzeugenaussage), und bildet nicht potentiell mögliche Geschehnisse der DDR-Geschichte ab, sondern übersetzt eine für sie zugrundeliegende historische Wahrheit abbildhaft und wahrheitsgetreu in das Medium Spielfilm. An dieser Stelle kommt noch die Überzeugung der Jugendlichen ins Spiel, die Geschichte sei in einer wie auch immer gearteten Darstellung kaum veränderbar: Wenn der Spielfilm seine Figuren aus

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einer historischen Welt bezieht, dann muss deren Darstellung innerhalb der hier gültigen Logik zwangsläufig vollkommen glaubwürdig sein. Diese Rezeptionshaltung, die dem „Turm“ quasi dokumentarischen Charakter zuschreibt, ist auch bei einigen anderen jugendlichen Zuschauern*innen zu beobachten. Bei Cem, der in Braunschweig lebt, Italiener ist und einen türkischstämmigen Vater hat, spielt für seine Lesart die Dokumentation zum Spielfilm ebenfalls eine entscheidende Rolle. Er nennt sie „Reportage“ und kommt darauf kurz nach seiner Eingangserzählung zu sprechen: I: Äh (.) was war diese Reportage? CE: Die Reportage war nochmal zum Schluss so (1,5)

ähm wie halt die

Menschen (.) also es waren ja Schauspieler in dem Film, und die: Schauspieler haben ja die Rollen eingenommen, die echten Menschen, die da damals in der DDR halt gelebt haben, und dann haben nochmal diese (.) richtigen (.) Menschen also diese (.) alten Menschen, die halt damals in der DDR gelebt haben, deren Rolle dann gespielt wurde nochmal selber ihre Rolle beschrieben ausgesagt, ja und das nochmal so (.) das hat dann nochmal in mir so nochmal persönlich so=ne (.) so=n Schlussstrich oder so (.) so ein //mhm// wie sagt man das so so=ne (1)

Bestätigung nochmal so okay, selber die Menschen reden und (.) ja der Film hat

das schon übermittelt, //mhm// aber °dann nochmal selber die Menschen das persönlich° sagen, mit den eigenen Eindrücken, und dann gab es auch noch so=ne Szene, da wo ich selber Gänsehaut bekommen habe, als der etwas ältere Mensch gesagt hat, (.) ähm als verkündet wurde, dass in (.) als sie auf=m Balkon standen, und das verkündet haben, dass irgendwie die Mauer gef- jetzt fällt und so, dann alle in dem Moment geschrien haben oder so. das war etwas abends, //mhm// weißt du noch ungefähr? //mhm// da habe ich auch Gänsehaut bekommen. °ja und das war=s so.°25

Aus der kurzen Passage wird ersichtlich, in welchem Verhältnis die Figuren des Spielfilms für Cem zu den Personen in der Dokumentation und den geschichtlichen Grundlagen genau stehen. In seiner Beschreibung stellen die „Schauspieler in dem Film“ „Rollen“ dar, die sich auf „die echten Menschen, die da damals in der DDR halt gelebt haben“ beziehen und „deren Rolle dann gespielt wurde“. Zunächst wird hier also eine Unterscheidung zwischen „Schauspieler[n]“ im Spielfilm und ihren „Rollen“ deutlich, die insofern überraschen mag, als dass sie zur Klärung der Authentizität der Darstellung eigentlich nicht nötig ist. Das Verhältnis zwischen Film-Figuren zu ihren historischen Vorbildern zu klären, hätte dafür ausgereicht. Dass Cem dennoch eine Differenzierung vornimmt, das heißt die Spielfilm-Figuren quasi in Mittel (Schauspieler) und Objekt (Rollen) der Darstellung differenziert, betont an dieser Stelle vor allem, dass er eine grundsätzliche Einsicht in die Geschaffenheit der Spielfilm-Erzählung teilt. Hier von Schauspielern zu 25 Transkript CE, BS, Z. 268-285.

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sprechen, die Rollen verkörpern, verweist für ihn auf die Tatsache, dass der Film ein künstlerisch geschaffenes Produkt darstellt. Dadurch markiert Cem einen Unterschied zur „Reportage“, mit der er seine Ausführungen einleitet – darin sind diejenigen, die der Darstellung dienen (im Spielfilm die „Schauspieler“) und die dargestellten Personen (im Spielfilm die „Rollen“) identisch, er bezeichnet sie durchweg als „Menschen“. Und auch die Bezeichnung der Dokumentation als „Reportage“ ist vielsagend, handelt es sich doch um ein journalistisches Genre, das einen sehr genauen Blick auf die Welt werfen will und darin der Wahrheit verpflichtet ist. Insofern zeigt sich in seinen Ausführungen, dass er Spielfilm und Dokumentation grundsätzlich im Grad der künstlerischen Konstruiertheit und ihrem Wahrheitsanspruch unterscheidet. Beide stehen für ihn bezüglich ihrer Authentizität auf unterschiedlichen Stufen: Für die Authentizität des Spielfilms muss letztlich die „Reportage“ bürgen, die auch die Authentizität der „Rollen“ bestätigt. In der Interviewpassage wird erkennbar, dass auch Cem die Filmfiguren mit historischen Personen identifiziert. Er markiert deutlich, dass es sich ganz konkret um die Erzählung von „echten Menschen“ handelt, die die DDR auch persönlich erlebt haben. Eine abstrakte Authentizität der Figuren – als wären diese lediglich potentiell mögliche, historisch plausible Figuren – weist er zugunsten einer ganz konkreten Authentizität zurück. Auch für Cem stellen die Figuren des Spielfilms die Erlebnisse und Erfahrungen von identifizierbaren Menschen dar, die in der DDR gelebt haben. Die Figuren des Spielfilms sind für ihn damit nicht fiktiv und nur auf einer abstrakteren Ebene historisch glaubwürdig, sondern filmische Abbilder realer, historischer Personen. Klar wird ebenfalls, dass diese Maximal-Authentifizierung wesentlich durch die Zeitzeugen*innen in der Dokumentation ausgelöst wird. Es sind „diese (.) alten Menschen, die halt damals in der DDR gelebt haben, deren Rolle dann gespielt wurde nochmal selber ihre Rolle beschrieben ausgesagt“ haben. Durch ihr Auftreten erhält der Spielfilm für Cem eine maximale Glaubwürdigkeit, sie liefern eine „Bestätigung“ des Gesehenen. Für die Frage nach der zugeschriebenen Authentizität wird hierin auch ersichtlich, dass es die Dokumentation ist, die eine Steigerung bewirkt: „und (.) ja der Film hat das schon übermittelt, //mhm// aber °dann nochmal selber die Menschen das persönlich° sagen, mit den eigenen Eindrücken“. Die eingangs analysierte, künstlerische Geschaffenheit, die mein Interviewpartner als ein Charakteristikum des Spielfilms begreift, wird somit hier überwunden. Die Zeitzeugen*innen in der Dokumentation steigern die grundsätzlich „schon“ bestehende Authentizität des Spielfilms und sorgen dafür, dass in den Augen des Jugendlichen eine fiktive Filmfigur identisch mit einer historischen Person ist. Die fiktive Figur des Richard Hoffmann im Spielfilm wird also auch in diesem Fall als etwas rezipiert, das sie eigentlich nicht ist – als Abbild einer faktischen, historisch realen Person, die die DDR selbst erlebt hat und darüber als Zeitzeuge Auskunft gibt.

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Diese Zuschreibung höchster Authentizität tritt mit Blick auf alle Fallbeispiele, die diesem Typus zuzuordnen sind, vor allem im Zusammenhang mit der FilmFigur des Arztes Richard Hoffmann auf. Offenbar sticht sie aus dem Ensemble der im Spielfilm Handelnden durch eine maximale Authentizität deutlich hervor. Mehrere Jugendliche rezipieren die Figur als Abbild einer historischen Person, die in der Dokumentation als Zeitzeuge auftritt und damit die Handlungen der Figur im Spielfilm verifiziert. Ganz offenbar entsteht hier eine Interdependenz zwischen Dokumentation und Spielfilm, die in der Rezeption der Jugendlichen zu einer höchst effektiven Authentifizierungs-Ressource wird. Wie dieser Prozess verläuft, wird an späterer Stelle noch zu thematisieren sein. Für die Frage danach, welchen Elementen die Jugendlichen in welchem Maße Authentizität zuschreiben, ist hier aber eine weitere Erkenntnis relevant: Von einer Filmfigur, die einige junge Zuschauer*innen als Darstellung einer historischen Person und damit maximal authentisch rezipieren, scheint eine Signalwirkung der Authentizität auszugehen, die den Spielfilm insgesamt betrifft. So bemerkt Cem etwa: „also es waren ja Schauspieler in dem Film, und die: Schauspieler haben ja die Rollen eingenommen, die echten Menschen, die da damals in der DDR halt gelebt haben,“.26 In dieser Passage generalisiert er seine Aussage auf alle Schauspieler, Rollen und Menschen, die im Spielfilm und der Dokumentation auftauchen. In der Folge jedoch beziehen sich seine Ausführungen allein auf die Figur des Arztes Richard Hoffmann. Diese dient ihm also als alleiniges Beispiel für seine generelle Einschätzung, dass alle Figuren maximal authentisch seien. Er exemplifiziert an ihr seine generelle Zuschreibung der Authentizität. Die Authentizität dieser einen Figur führt dazu, dass alle „Rollen“ als „[echte] Menschen“ charakterisiert werden und ihnen und ihren Handlungen eine maximale Authentizität zugeschrieben wird. Deren Authentizität strahlt somit auf die gesamte filmische Erzählung aus und führt zur Maximal-Authentifizierung des Spielfilms. Die bis hierhin vorgeführten Analysen bedeuten zugespitzt und zusammengefasst vor allem eines: Die Grenze zwischen Fakt und Fiktivem wird bei diesem Typus im Prozess der Rezeption eindeutig überschritten und verwischt. Das Fiktive innerhalb der fiktionalen Erzählung des Spielfilms wird zu einer Abbildung des Historischen, ihm wird eine Faktizität und Historizität zugeschrieben, die es nicht besitzt. Der im ersten Typus erkennbare Modus des historischen Potentialis wird hier aufgegeben zugunsten der unterstellten Faktizität der Darstellung. Für den vorliegenden Rezeptionstypus wird deutlich, dass die „Geschäftsgrundlage“ fiktionalen Erzählens von den Jugendlichen verlassen wird und der Spielfilm stattdessen in der Rezeptionshaltung gesehen wird, die non-fiktionalen Narrationen angemessen ist: Sie schreiben dem Dargestellten eine maximale Authentizität zu und sehen den Spielfilm damit in einem Modus, der TV-Formaten wie der Dokumentation oder auch anderen nicht-fiktionalen Medien historischen Erzählens angemessen er26 Transkript CE, BS, Z. 271f.

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scheint. Nicht umsonst spielt die Dokumentation zum Spielfilm als non-fiktionales Genre für die Zuschauer*innen, die diesen Umgang mit dem Spielfilm dokumentieren, eine wesentliche Rolle. Sie bildet in allen Fällen dieses Typus den Ausgangspunkt für die Zuschreibung maximaler Authentizität. 4.1.4 Zwischenfazit Die dargestellten, empirischen Analysen richteten sich auf die Frage, inwiefern „Der Turm“ als fiktionale, audiovisuelle Narration für jugendliche Zuschauer*innen eine authentische Erzählung der DDR-Geschichte darstellt. In den von ihnen entwickelten Lesarten, die sie in den Interviews über den Film präsentierten, zeigte sich die subjektiv zugeschriebene Authentizität der filmischen Darstellung. Sichtbar wurde nicht nur, welches Maß an Authentizität Jugendliche dem Spielfilm in der Darstellung des letzten Jahrzehnts der DDR und den Ereignissen in Dresden vor der Wende attestierten, auch konnte herausgearbeitet werden, welchen Elementen des Films sie Glaubwürdigkeit in der Darstellung der Geschichte beimaßen. Im Überblick über alle Fälle kristallisierten sich drei Typen heraus, die in außerordentlich unterschiedlichem Maße der filmischen Darstellung Authentizität zuschrieben. So zeigte sich ein erster Typus, der die Darstellung als authentische Fiktion auffasste: Während die Jugendlichen Ort und Zeit der Handlung präzise mit der DDR der Achtzigerjahre identifizierten und die Handlung im historischen Dresden ansiedelten, bewerteten sie die im Film auftretenden Figuren und ihr Handeln als fiktiv und authentisch zugleich. Zwar maßen sie ihnen keine konkrete Historizität bei, erkannten sie also nicht als Filmfiguren, denen eine historische Person mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen als Vorlage diente, sondern erkannten deren Fiktivität. Auf einer abstrakteren Ebene jedoch betrachteten sie sie als mögliche, historisch plausible Figuren, die das Themenfeld von Politik- und Alltagsgeschichte in der DDR glaubwürdig darstellten und somit ein hohes Maß an Authentizität aufwiesen. Zugleich zeigte sich bei diesen jugendlichen Zuschauern*innen, dass sie den Film in einer historisierenden Rezeptionshaltung sahen: Für sie spielten vorrangig die historischen Elemente der Spielfilmhandlung eine Rolle, wohingegen die fiktiven nicht-historischen Aspekte, etwa die Erzählung zwischenmenschlicher Konflikte der Protagonisten, nur geringe Aufmerksamkeit erfuhren. Nicht nur in diesem Aspekt unterschieden sich die Jugendlichen stark von jenem zweiten Typus von Zuschauern*innen, die eine vorrangig ahistorische Lesart des „Turms“ entwickelten: Für sie spielten vor allem die zeitlich unspezifischen Narrative menschlichen Handelns im Film eine Rolle. So fokussierten sie sich fast ausschließlich auf die Beziehungen der Figuren untereinander, auf die zwischenmenschlichen Probleme und Konflikte, und berichteten insofern von einer zeitlich unspezifischen, ja zeitlosen Spielfilmhandlung. Dieser Fokus auf das Zeitlos-

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Menschliche ging so weit, dass selbst Passagen des Films, die nur in ihrer historischen Spezifik verständlich waren, nicht als historische Narrative rezipiert wurden. Stattdessen bildete für die Jugendlichen ihre eigene Alltagswelt einen zentralen Filter für den Umgang mit dem Gesehenen: Im Mittelpunkt ihres Interesses standen vorrangig jene Elemente des Spielfilms, die anschlussfähig an den Alltag der Zuschauer*innen waren. Während der zuvor beschriebene Typus vor allem historisierend auf die filmische Darstellung blickte, suchten diese Rezipienten*innen vornehmlich nach den ihrer Lebenswelt nahestehenden Narrativen im Film und nutzten damit nicht die Geschichte, sondern ihre eigene Gegenwart als maßgeblichen Fluchtpunkt ihrer Rezeption. Damit ging einher, dass sie der Erzählung keine oder nur eine sehr oberflächliche Authentizität zuschrieben: Für die Vertreter*innen dieses Typus spielte die Frage nach der historischen Authentizität des Gesehenen eine so geringe Rolle, dass ihre Art des Umgangs als ahistorische Lesart bezeichnet werden kann. Allerhöchstens etikettierten sie sehr vage und nur allgemein den Film als Erzählung von der DDR, eine tatsächliche Authentizität wiesen sie Zeit und Ort sowie den konkreten Figuren und Ereignissen der Handlung jedoch nicht oder nur in geringstem Maße zu. Für sie handelte der Film von den Beziehungen, Problemen und Konflikten der Figuren, die in einer Filmwelt ohne historische Referenz stattfanden. Die Jugendlichen zeigten sich zwar grundsätzlich in der Lage, nach einem Verhältnis der Darstellung zur Geschichte der DDR zu suchen und damit die Authentizität des Gesehenen zu thematisieren. In erster Linie sahen sie den Spielfilm jedoch in einer fiktionsadäquaten Rezeptionshaltung, in der sich die Frage nach der realweltlichen, historischen Wahrheit des Gesehenen für sie nicht stellte. Dass es sich beim „Turm“ um eine historische Erzählung handelt, die die letzten Jahre der DDR erzählt, wurde von ihnen so sehr im Prozess der Rezeption vernachlässigt, dass sie die Handlung des Spielfilms als eine ahistorische Story rezipierten. Vollkommen entgegengesetzt dazu präsentierte sich in der Analyse ein dritter Typus der Rezeption: Jene Jugendlichen übertrafen in ihrer AuthentizitätsZuschreibung alle anderen Zuschauer*innen, indem sie der audiovisuellen Erzählung ein Maximum an Authentizität zuschrieben. In ihren Augen löste der Spielfilm das Versprechen, dass in seiner Darstellung „alles authentisch“ 27 sei, vollumfänglich ein. Für sie handelte es sich nicht nur um eine Filmwelt, die konkret als Darstellung der DDR der späten Achtzigerjahre zu identifizieren war, auch sahen sie die im Film auftretenden Figuren als Abbilder historischer Personen an. Damit charakterisierten sie die Darstellung der Historie nicht mehr nur als plausibel und po27 Im Titel des von Thomas Fischer und Rainer Wirtz herausgegebenen Sammelbands (2008) wurde die Wendung „alles authentisch“ mit einem Fragezeichen versehen – die Jugendlichen dieses Rezeptionstypus fügen ihr metaphorisch gesprochen stattdessen ein Ausrufezeichen bei.

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tentiell möglich, sondern sahen diese als filmische Abbildung historischer Realität an, die genau so stattgefunden hatte. Die fiktiven Figuren des Spielfilms wiesen für sie eine historische Faktizität auf, die diese objektiv nicht besitzen, die ihnen jedoch im Rezeptionsprozess zugeschrieben wurde. Das Fiktive wurde für die jugendlichen Zuschauer*innen so zum historischen Faktum. Somit überstiegen die Jugendlichen, die ich dem dritten Typus zuordne, die Authentizitäts-Zuschreibung des ersten nochmals, indem sie die Darstellung im Film als präzise Erzählung historischer Personen und Ereignisse bewerteten. Der Spielfilm „Der Turm“ wies für jene Jugendlichen eine Authentizität auf, die über das Normalmaß fiktionaler historischer Erzählung weit hinausgeht. Sie rezipierten den Spielfilm in einer Rezeptionshaltung, die nicht-fiktionalen, dokumentarischen Darstellungen der Geschichte angemessen erscheint, und unterstellten dem Spielfilm damit eine Verpflichtung zur historischen Wahrheit, die er in ihren Augen einlösen konnte. Diese Maximierung der zugeschriebenen Authentizität ist ohne die Dokumentation zum Spielfilm – die wohlgemerkt auch jene Jugendlichen angesehen haben, die ganz andere Rezeptionsmuster zeigten – allerdings nicht denkbar. Vielmehr hängt sie offenbar stark von diesem dokumentarischen Element des TV-Events und seiner individuellen Bewertung ab.28 Durch eine Interaktion zwischen Spielfilm und Dokumentation im Prozess der Rezeption verknüpften einige Zuschauer*innen die Filmfiguren mit Zeitzeugen*innen, die in der eigens zum Film produzierten und ausgestrahlten Dokumentation über die Ereignisse in Dresden berichteten. Diese Verbindung zwischen den Figuren des Films und der Medienfigur des*r Zeitzeugen*in, die ohnehin den Nimbus höchster Quellen-Authentizität besitzt,29 wirkte sich tiefgreifend auf die von den Jugendlichen attestierte Authentizität des gesamten Films aus: Indem eine Verknüpfung von Zeitzeugen*innen in der Dokumentation mit einer Hauptfigur etabliert wurde, die als ein Verhältnis der mimetischen, wahrheitsgetreuen Abbildung wahrgenommen wurde, wurde die gesamte SpielfilmHandlung authentifiziert. Die maximale Authentizität schrieben die Jugendlichen jedoch immer mit Verweis auf die Dokumentation zu, sodass davon auszugehen ist, dass sich die non-fiktionale Rezeptionshaltung gegenüber der Dokumentation auf den Spielfilm übertragen hat. Die enge Verquickung beider Formate in einem TV-

28 Mit Ausnahme von Stacy, bei der eine technische Schwierigkeit das Ansehen der Dokumentation verhindert hat, haben alle anderen Forschungspartner*innen die Dokumentation gesehen. In der Analyse dieses einen Falles zeigte sich jedoch keine systematische Auswirkung dieser Änderung des Settings, vielmehr ergaben sich keine grundlegenden Unterschiede in der Zuschreibung von Authentizität zwischen ihr und den anderen Vertretern*innen ihres Rezeptionstypus. 29 Vgl. Lersch/Viehoff 2007, S. 187f; Gries 2012.

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Event übte insofern einen gewaltigen Einfluss auf die Authentizitäts-Zuschreibung gegenüber dem fiktionalen Spielfilm aus. Im Überblick dieser drei Rezeptionsmuster und die damit verbundene Zuschreibung der Authentizität lässt sich somit ein differenziertes Spektrum erkennen, in dem Jugendliche mit historischen Fiktionen im Medium Spielfilm sehr unterschiedlich umgehen. Die Bandbreite der zugeschriebenen Authentizität lässt sich darin zwischen zwei Polen verorten: Der Typus der ahistorischen Lesart, für den die Frage der Authentizität keine oder nur eine minimale Rolle spielt, steht jenem Typus gegenüber, der der filmischen Darstellung ein Maximum an historischer Glaubwürdigkeit attestiert. Zwischen diesen beiden Polen lässt sich der Typus verorten, der den Spielfilm als authentische Fiktion auffasst und damit die fiktiven Elemente auch als solche begreift, wenngleich sie im Modus des historischen Potentialis als durchaus authentisch und historisch plausibel rezipiert werden. Kongruent zu diesen unterschiedlichen Authentizitäts-Zuschreibungen lassen sich auch verschiedene Rezeptionshaltungen identifizieren, die zwischen einer konsequent fiktionsadäquaten und einer non-fiktionalen Rezeptionshaltung angesiedelt sind: Die Jugendlichen, die eine ahistorische Lesart zum Ausdruck brachten, verblieben in ihrer Rezeption des „Turms“ innerhalb der Filmwelt, ohne diese auf Referenzen zur historischen Realität hin zu befragen. Der Typus der authentischen Fiktion changierte in diesem Punkt bereits, indem sich die Jugendlichen zwar der Fiktivität des Erzählten im engeren Sinne bewusst waren, jedoch eine von der konkreten Darstellung abstrahierte Entsprechung des Erzählten in der historischen Realität annahmen. Der dritte Typus schließlich präsentierte sich in einer Haltung, die durchgehend eine Deckungsgleichheit zwischen filmischer Darstellung und dargestellter historischer Realität unterstellte, und nahm damit eine Rezeptionshaltung ein, die non-fiktionalen Erzählsituationen entspricht. Die drei identifizierten Typen lassen sich als empirisch gesättigt bezeichnen, finden sich doch zu jedem identifizierten Rezeptionsmuster mehrere Fallbeispiele, die den Typus repräsentieren und dazu beitragen konnten, dessen Charakteristika an unterschiedlichen Beispielen zu schärfen. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse zum Umgang mit fiktionalen historischen Erzählungen im Spielfilm bestätigen eine These überdeutlich: dass es sich bei Spielfilmen, die Geschichte erzählen, um höchst offene Rezeptionsangebote handelt, die wiederum enorm unterschiedlich von ihren Zuschauern*innen rezipiert werden. Die Grenzen zwischen fiktionalen und nonfiktionalen Erzählungen verschwimmen im Prozess der Rezeption, und auch die Grenze zwischen fiktiven Elementen und historisch gesicherten „Fakten“ ist für jugendliche Zuschauer*innen bisweilen ungewiss. In der Folge schreiben sie historischen Spielfilmen in höchst unterschiedlichem Maße Authentizität zu. Diese Erkenntnis richtet den Blick auf die Frage, auf welcher Grundlage die hier vorgestellten Authentizitäts-Zuschreibungen erfolgen: Wodurch wird ein Spielfilm, der eine Story erzählt, in den Augen jugendlicher Zuschauer*innen zu einer authentischen

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filmischen Darstellung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte? Welche Aspekte spielen im Prozess der Rezeption die entscheidende Rolle, um eine filmische Erzählung zu einer glaubwürdigen historischen Darstellung zu machen? Welches sind die Ressourcen, die Zuschauer*innen im Prozess der Filmrezeption heranziehen, um das Gesehene zu authentifizieren?

4.2 RESSOURCEN DER AUTHENTIFIZIERUNG I: Und was (.) w- wenn du wenn du jetzt dieses Urteil jetzt fällen müsstest, ähm Lüge oder Wahrheit, welchen Stempel würde der Film von dir kriegen? der Turm. AN:

└Wahrheit.┘

I: Warum? AN: @(.)@ I: Ich frage immer nach warum. AN: Ähm. (4)

hieß es

nicht, dass (.) war es nicht am Anfang so, dass es hieß, dass es auf wahrer Begebenheit stattfand? eigentlich schon, oder?30

Die Liste von Filmen, die für sich in Anspruch nehmen, auf einer wahren Begebenheit zu beruhen, ist lang. Ob visuell, also etwa mithilfe einer Einblendung, oder hörbar, per Erzähler-Stimme aus dem Off – wenn Filme über sich behaupten, auf „wahrer Begebenheit“ zu beruhen, nutzen sie ein enorm verbreitetes filmisches Selbstbeglaubigungsmittel, das die Zuschauer*innen der Tatsächlichkeit des Erzählten versichern soll.31 Sie basierten auf historischen Tatsachen, so verkünden es zahl30 Transkript AN, BS, Z. 682-695. 31 Siehe dazu etwa Wehen, Britta: Historische Spielfilme – ein Instrument zur Geschichtsvermittlung? In: Dossier Kulturelle Bildung der Bundeszentrale für politische Bildung. 2012. Online unter http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/143799/ historische-spielfilme (13.4.2016). So naheliegend die Überlegung erscheint, dass sich historische Spielfilme mehrheitlich dieses Mittels bedienen, so wenig hält sie einer ersten Prüfung stand: Ein exemplarischer Blick auf einige der erfolgreichsten Vertreter des Genres wie etwa „Schindlers Liste“, „Der Untergang“ oder „Die Flucht“ zeigt, dass dieses Element keineswegs in allen historischen Spielfilmen zu finden ist, um ihre Zuschauer*innen mit der zitierten Einblendung von seiner Authentizität zu überzeugen. Stattdessen liegt die Annahme nahe, dass es eher für diejenigen filmischen Erzählungen relevant ist, die sich nicht den großen politik- und militärgeschichtlichen Ereignissen widmen, sondern sich mit einer weniger dezidiert historischen Thematik auseinandersetzen. Zu vermuten wäre, dass – je deutlicher eine historische Thematik im öffentlichen Diskurs verankert und damit für die Zuschauer*innen als solche erkennbar ist – die filmische

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lose Produktionen ausdrücklich zu Beginn, um ihre Zuschauer*innen keinen Moment an ihrer Authentizität zweifeln zu lassen. Auch beim „Turm“ scheint die explizite filmische Selbstbeglaubigung für die Strategie der Produzenten perfekt aufzugehen. Nichts anderes dokumentiert der Interviewausschnitt mit der Braunschweiger Abiturientin Anja, die sich – hier ganz direkt mit der Frage nach der historischen „Wahrheit“ der Darstellung konfrontiert – sofort auf „Wahrheit“ festlegt und nach langem Überlegen die Selbstbeglaubigung als einziges Argument anführt. Das Gesehene ist für sie glaubwürdig, weil der Spielfilm am Beginn verkündet habe, er beruhe „auf wahrer Begebenheit“. Dies allein bürge aus ihrer Sicht verlässlich für die „Wahrheit“, die „Der Turm“ darstelle. Damit wird die Einblendung für Anja zu einer zentralen AuthentifizierungsRessource: Sie stellt für sie die wichtigste Grundlage für ihre sofortige Einschätzung dar, es handele sich beim Film um die authentische Darstellung der DDRGeschichte. Nicht nur die einseitige Argumentation der Interviewpartnerin ist an dieser Stelle bemerkenswert. Vielmehr gibt es in der Sache noch einen Haken: „Der Turm“ blendet gerade nicht ein, dass er auf einer wahren Begebenheit beruhe. Dennoch führt die Jugendliche eine solche Selbstbeglaubigung, die in der Regel „am Anfang so“ aufgestellt werde, in ihrem Interview als Eigenschaft des Films argumentativ ins Feld, um die Authentizität des Gesehenen zu bekräftigen. Diese kurze Episode verdeutlicht, dass die Authentifizierung historischer Spielfilm-Narrative offenbar ein Prozess ist, dessen Grundlagen – die ich Authentifizierungs-Ressourcen nenne – empirischer Aufklärung bedürfen. Diese Aufklärung steht im Zentrum der kommenden Ausführungen. Das folgende Kapitel befasst sich deshalb mit der Frage danach, auf welcher Basis die jugendlichen Zuschauer*innen das Gesehene als glaubwürdige historische Erzählung bewerten. Welche Ressourcen für die Authentifizierung der audiovisuell erzählten Geschichte ziehen sie heran, um ihre Zuschreibung der Authentizität vorzunehmen und zu begründen? Welches sind die in den Interviews verbalisierten Grundlagen für die Einschätzung, es im „Turm“ mit authentisch dargestellter Geschichte zu tun zu haben? In den theoretischen Überlegungen habe ich den Prozess der Spielfilmrezeption aus einer Perspektive dargestellt, die sich den Cultural Studies anschließt, die jegliche Momente der Auseinandersetzung mit einem Film, vor allem in kommunikativer Form, darin einbeziehen und insbesondere der alltäglichen Lebenswelt der Zuschauer*innen eine besondere Relevanz beimessen. In der Konsequenz dieser theoretischen Setzung werde ich auch die Authentifizierungs-Ressourcen als maximal weites Konzept definieren und folglich alles innerhalb des Datenmaterials als Ressource der Authentifizierung verstehen, was die Authentizität der filmischen DarSelbstverortung als „true story“ mithilfe der Einblendung auch weniger notwendig würde. Freilich müsste diese These weiter verfolgt werden, wofür hier nicht der Ort ist.

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stellung aus der Sicht der Zuschauer*innen untermauert. Dem*r einzelnen Zuschauer*in steht somit für die Authentifizierung eines historischen Spielfilms potentiell eine unendliche Zahl von Argumenten jeglicher Art zur Verfügung, die jedoch erst durch die individuelle Rezeption und die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit das Gesehene authentisch sei, zu Ressourcen der Authentifizierung werden. Pointiert handelt es sich bei Authentifizierungs-Ressourcen also um jegliche im Prozess der Rezeption relevanten Aspekte, die in der subjektiven Perspektive des*r Zuschauers*in die Zuschreibung von Authentizität gegenüber der historischen Darstellung stützen und für die Authentifizierung bewusst oder unbewusst herangezogen werden. Folglich fallen darunter zunächst Äußerungen in der sprachlichen Form von Argumenten. Authentifizierungs-Ressourcen finden sich also in Gesprächsabschnitten, in denen die Zuschreibung von Authentizität von den Interviewpartnern*innen dezidiert argumentativ begründet wird. Die eingangs zitierte Passage stellt dafür ein erstes Beispiel dar, wird doch die These der Jugendlichen, der Film stelle „Wahrheit“ dar, von ihr im Anschluss argumentativ durch die unterstellte Selbstbeglaubigung des Films ins Feld untermauert. Darüber hinaus geraten auch andere Aussagen in den Blick, die sich ebenfalls in den Interviews zeigen, die jedoch sprachlich nicht als Argumente für die Authentizität des Gesehenen eingeführt werden. Vielmehr handelt es sich dabei um Äußerungen, die etwa in beschreibenden oder erzählenden Passagen der Interviews getätigt werden. Ein häufig zu findendes Beispiel dafür sind von den Jugendlichen berichtete Gespräche mit Zeitzeugen*innen in ihrer Alltagswelt, etwa den eigenen Eltern oder Großeltern, die einen Bezug zur Filmstory aufweisen. Sie bilden für die Jugendlichen oftmals eine ganz zentrale Authentifizierungs-Ressource; nicht selten tun sie dies jedoch, ohne sprachlich direkt als Argument für die Authentizität des Spielfilms angeführt zu werden. Vielmehr stellen diese Erzählungen der Zeitzeugen*innen eine Grundlage zur Bewertung des Spielfilms dar, die häufig nicht kommunikativ in den Interviews reflektiert wird, aber dennoch in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Die herausgearbeiteten Authentifizierungs-Ressourcen werde ich im Folgenden anhand zahlreicher Interviewpassagen darstellen und analysieren. Zu diesem Zweck verschiebt sich die analytische Zielstellung: Ging es im vorhergehenden Kapitel noch darum, anhand der Fallbeispiele verschiedene Typen der Rezeption und Authentizitäts-Zuschreibung zu identifizieren und voneinander abzugrenzen, so wird eine weitere Typenbildung von nun an keine Rolle mehr spielen. Stattdessen soll es darauf ankommen, die vielfältigen Ressourcen der Authentifizierung jeweils zu verstehen und zu systematisieren. Damit wird der Blick vom rezipierenden Individuum weg, hin zu den Ressourcen selbst gelenkt, die die Zuschauer*innen für diesen Prozess heranziehen. Entsprechend gliedert sich das folgende Kapitel auch nicht um voneinander abzugrenzende Rezeptionstypen, sondern stattdessen um Authentifizierungs-Ressourcen, die sich systematisch nahestehen.

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Für dieses Vorgehen sprechen vor allem empirische Gründe: Zunächst hat sich im Überblick über die Ressourcen der Authentifizierung keine Systematik ergeben, die eine an den jeweiligen Rezipienten*innen orientierte Typisierung erlauben würde. Freilich finden sich Jugendliche, die etwa die Dokumentation zum Spielfilm als ganz besonders wichtig für die Authentifizierung des „Turms“ charakterisieren. Dies hatte sich etwa für den letzten Typus der maximalen Authentifizierung so angedeutet. Gleichwohl sind für sie andere Ressourcen ebenfalls wichtig, die wiederum von anderen Jugendlichen ebenfalls benannt werden. Auch stehen ihnen beispielsweise Jugendliche gegenüber, die sich in allererster Linie auf die Zeitzeugen*innen -Erzählungen eines Elternteils berufen und auf dieser Grundlage die Glaubwürdigkeit des Spielfilms beurteilen. Jedoch lassen sich die individuell relevanten Authentifizierungs-Ressourcen nicht trennscharf und exklusiv bestimmten Typen zuordnen, sondern verteilen sich in gewisser Weise unsystematisch über die gesamte Gruppe der Interviewpartner*innen: Im Überblick über die geführten Interviews sind die einzelnen Ressourcen so verstreut zu beobachten, dass eine Typenbildung – etwa die Beschreibung eines Typus der „Authentifizierung durch kommunikative Validierung“ (beispielsweise im Gespräch mit Zeitzeugen*innen) – mit der Vernachlässigung von Authentifizierungs-Ressourcen einher gehen müsste, die für die Fallbeispiele zu diesem Typus ebenfalls relevant sind. Das bedeutet umgekehrt, dass etwa eine Zuschauerin, für die „Der Turm“ vor allem authentisch ist, weil er mit den Zeitzeuginnenerzählungen der Mutter übereinstimmt, auch zahlreiche andere Authentifizierungs-Ressourcen ins Feld führt, die für sie ebenfalls nicht unwichtig sind. Diese zugunsten einer weitergehenden, idealisierenden Typenbildung auszublenden, erscheint mir der Datengrundlage nicht angemessen.32 32 Letztlich steht dahinter die Entscheidung gegen eine weiter abstrahierende und sich von den empirisch beobachtbaren Fällen weiter lösende Typenbildung, die sich Idealtypen annähert, die mit der zweiten, hinzugekommenen Dimension – neben der Art der Rezeption und Authentizitäts-Zuschreibung nun die Frage nach deren Ressourcen – keine empirische Entsprechung mehr aufweisen. Siehe dazu Kluge, Susann: Empirisch begründete Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung. In: Forum Qualitative Sozialforschung 1 (2000), H. 1, Art. 14. Online unter http://www.nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0 001145 (26.4.2016); Nohl, Arnd-Michael: Relationale Typenbildung und Mehrebenenvergleich. Neue Wege der dokumentarischen Methode. (=Qualitative Sozialforschung). Wiesbaden 2013; Kuckartz, Udo: Typenbildung. In: Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden 2010. S. 553-568; Nentwig-Gesemann, Iris: Die Typenbildung der dokumentarischen Methode. In: Bohnsack, Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arnd-Michael (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 3. Aufl. Wiesbaden 2013. S. 295-323.

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Selbst wenn dieser Einwand unberücksichtigt bliebe, ergäbe sich ein zweites Problem: Die aus den jeweils relevanten Authentifizierungs-Ressourcen abgeleiteten Typen ließen sich in keine systematische Beziehung zu jenen bereits zuvor beschriebenen Typen der Rezeption und Authentizitäts-Zuschreibung bringen. Das bedeutet, dass die hier eventuell zu erarbeitenden Typen – etwa der eventuell denkbare Typus der „Authentifizierung durch kommunikative Validierung“ – empirisch nicht in ein Passungsverhältnis zu bringen wären mit den zuvor identifizierten, etwa jenem der historisierenden Lesart beziehungsweise der authentischen Fiktion. Stattdessen sind die beobachteten Authentifizierungs-Ressourcen im Datenmaterial auf alle Typen der Rezeption und Authentizitäts-Zuschreibung verteilt. Im Resultat hätte eine zweite Typisierung zur Folge, dass zwei verschiedene Systematiken bestehen würden, die parallel und aus einer empirisch fundierten Sicht nicht kombinierbar das Datenmaterial beschrieben. Beide Argumente halte ich für hinreichend gewichtig, um hier von einer zweiten Typenbildung beziehungsweise deren weiterer Differenzierung und Idealisierung abzurücken und im Folgenden einen systematischen Überblick über die Authentifizierungs-Ressourcen zu erarbeiten. Dieser orientiert sich daran, welchen Bezugspunkt die Ressourcen aufweisen: Naheliegend erscheint zunächst, all jene Aspekte in den Blick zu nehmen, bei denen der Spielfilm selbst und die direkte, individuelle Auseinandersetzung mit seinen filmischen Charakteristika und Mitteln als Authentifizierungs-Ressource dienen. Das Beispiel der scheinbaren Einblendung habe ich bereits vorgeführt und werde es im Anschluss weiter vertiefen. Diese ist aus der Sicht einiger Jugendlicher ein Element des Films (unter vielen anderen), auf dem die Authentifizierung fußt. Das erste Teilkapitel bezieht sich somit auf die unmittelbare Auseinandersetzung der Jugendlichen mit dem Spielfilm selbst und deren Bedeutung für die Authentifizierung.33 Daraufhin werde ich mich mit den Elementen des TV-Events „Der Turm“ auseinandersetzen, das heißt jene Authentifizierungs-Ressourcen in den Blick nehmen, die unmittelbar mit dem Spielfilm in einem Zusammenhang stehen: Die Dokumentation zum Spielfilm, aber auch die Romanvorlage oder etwa die Website des produzierenden Mitteldeutschen Rundfunks gehören zu einem Medienensemble, das in einem Produktions- und Sendezusammenhang mit dem Zweiteiler „Der Turm“ steht und von den Verantwortlichen intentional als ein solches Ensemble konzipiert wur33 Bei der Betrachtung dieser Authentifizierungs-Ressourcen ist der Spielfilm Ausgangspunkt und Ziel des Authentifizierungs-Prozesses gleichermaßen: Die Jugendlichen ziehen Merkmale und Elemente des Films heran, um ihn als authentische historische Erzählung einzuschätzen. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Zirkelschluss. Vielmehr bildet die Auseinandersetzung der Rezipienten*innen mit einzelnen Aspekten der audiovisuellen Erzählung die Grundlage für die Einschätzung, dass es sich beim „Turm“ um eine authentische Erzählung über die DDR-Geschichte handelt.

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de.34 Inwiefern die weiteren Teile dieses Ensembles neben dem Spielfilm selbst in authentifizierender Funktion auftauchen, wird hier zu beantworten sein. Im Anschluss werden weitere mediale Authentifizierungs-Ressourcen in den Blick geraten, die jedoch in keinem derart engen Zusammenhang zum TV-Event „Der Turm“ stehen. Die Frage, die sich in diesem Teilkapitel stellt, lautet: Inwiefern ziehen die Jugendlichen andere Medien zur Authentifizierung des Gesehenen heran? Zu nennen sind etwa Vergleiche mit anderen Spielfilmen, aber auch andere weitere Offerten der Geschichts- und Erinnerungskultur wie etwa Gedenkstätten, die im Datenmaterial in authentifizierender Funktion auftauchen. Zuletzt richtet sich der analytische Blick verstärkt auf Authentifizierungs-Ressourcen, die ebenfalls der alltäglichen Lebenswelt der Rezipienten*innen entstammen, aber in erster Linie nicht medial sind. Zuvorderst sind hier Zeitzeugenerzählungen im sozialen Umfeld der Jugendlichen zu nennen, die häufig eine ganz wesentliche Grundlage zur Bewertung und Authentifizierung des ARD-Zweiteilers bilden. Die Gliederung folgt insofern einer Logik, die sich nach den medialen Formen der Ressourcen richtet: Sie beginnt mit einem Blick auf das im Zentrum stehende Medium selbst, den Spielfilm. Nach der Analyse seiner ihn unmittelbar umgebenden medialen Kontexte, die für die Zuschauer*innen in der Form des Medien- und TV-Events relevant werden können, weitet sich die Analyse nach und nach auf weitere Medien aus, die der Lebenswelt der Jugendlichen entstammen und in eine Verbindung zum „Turm“ gebracht werden. Zuletzt wird mit einem Blick auf den Teil der alltäglichen Lebenswelt der Zuschauer*innen, der nicht in erster Linie medial geprägt ist, die Perspektive einerseits größtmöglich geöffnet. So geraten alle potentiell relevanten Ressourcen in den Blick, derer sich die Jugendlichen bedienen könnten. Andererseits wird damit insgesamt der Schwerpunkt weg vom historischen Spielfilm, hin zu den Zuschauern*innen und deren alltäglicher Lebenswelt verlagert.35 Eine Anmerkung erscheint an dieser Stelle wichtig: Die vorgeschlagene Strukturierung versucht, anhand von empirischen Beobachtungen und Zwischenergebnissen sowie theoretischen Überlegungen eine analytische Systematik in die Authenti34 Freilich richtet sich der analytische Blick in diesem wie in den anderen Kapiteln allein auf jene Aspekte, die in den Gesprächen von den Jugendlichen hervorgebracht und insofern auch von ihnen selbst mit Bedeutung versehen werden. Erst dadurch können sie als Ressourcen des Authentifizierungs-Prozesses beschrieben werden. 35 Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Trennung zwischen den relevanten Medien und der Alltagswelt in dieser Form eine künstliche ist. Zweifellos wird die alltägliche Lebenswelt heutzutage massiv auch von Medien und deren Nutzung mitbestimmt. Gerade aufgrund der großen Bedeutung, die sowohl mediale als auch nichtmediale Elemente der Alltagswelt in der Datengrundlage aufweisen, halte ich eine analytische Trennung beider Bereiche jedoch für gerechtfertigt.

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fizierungs-Ressourcen zu bringen, die genau dies ist: eine analytische Unterteilung. Empirisch sind die Ressourcen mitunter eng miteinander verknüpft und lassen sich auch unter Blickwinkeln verhandeln, die anderen Teilkapiteln entstammen. Gleich das erste Beispiel verdeutlicht dies: Zwar ist eine explizite filmische Selbstbeglaubigung, etwa in Form einer Einblendung „Nach einer wahren Geschichte“, zunächst ein Merkmal, das unmittelbar dem Spielfilm selbst entstammen könnte und als Authentifizierungs-Ressource für die Jugendlichen bedeutsam wird. Gleichwohl ist die Verbindung zu anderen Ressourcen hier offensichtlich: Wenn auch die Einblendung ein filmisches Mittel darstellt, ist dessen Funktion als Ressource der Authentifizierung nicht vorstellbar, ohne dass die Jugendlichen auf ihr Wissen über andere Spielfilme und deren filmische Mittel zurückgreifen. Folglich könnte diese Ressource auch im Teilkapitel zu den medialen Authentifizierungs-Ressourcen verhandelt werden, wo Vergleiche mit weiteren Spielfilmen eine Rolle spielen. Die Gliederung ist als eine analytische Schneise durch die Vielzahl der Ressourcen zu verstehen – empirisch zeigen sich die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Bereichen oft als weniger trennscharf, als dies die Systematik bisweilen nahelegen mag. Mit diesem Vorgehen soll ein differenzierter Überblick erarbeitet werden, der die Vielfalt der Ressourcen zeigt, die den jugendlichen Zuschauern*innen als Grundlage für die Authentifizierung historischer Darstellungen im Spielfilm dienen. Damit wird ein Verständnis darüber ermöglicht, worauf die individuelle Lesart eines historischen Spielfilms fußt und auf welcher Grundlage historische Darstellungen für Jugendliche authentisch werden. 4.2.1 Authentifizierung auf Grundlage der direkten Auseinandersetzung mit dem Spielfilm Die Frage, wie authentisch das im Spielfilm Gesehene sein kann, wird zunächst mitbestimmt dadurch, welche Erwartungen die Jugendlichen an die Authentizität des historischen Spielfilms stellen. Damit rücken die Filmgattung Spielfilm und deren Einschätzung seitens der Rezipienten*innen in den Blickpunkt. Haben die theoretischen Ausführungen bereits gezeigt, dass die Authentizität fiktionaler historischer Erzählungen im Medium Spielfilm eine Menge komplexer Fragen aufwirft, so lässt sich dies aus empirischer Sicht umso stärker betonen. Die Genreerwartungen an den historischen Spielfilm liefern den Jugendlichen Anhaltspunkte für die Einschätzung der Authentizität des Zweiteilers. Zum Beispiel skizziert die Abiturientin Grit ein Spannungsverhältnis zwischen fiktionalem Erzählen und glaubwürdiger Geschichte: I: Wie fiktiv darf denn dann ein Spielfilm deiner Meinung nach noch sein?

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GR: Uff::: (.) ähm (.) ich denke mal es kommt so=ein bisschen (.) auf die Zeit an, in der es spielt, //mhm// also wenn man halt über die DDR noch viel weiß, dann darf man sich natürlich weniger erlauben, weil man immer so (.) schon wenn man ja den Anspruch hat, ein historischer Film zu sein, muss man ja auch mit der Zeitgeschichte sozusagen gehen, und das darstellen, was passiert ist. und ähm (.) fiktiv natürlich, in den Personen, ist ja klar, und ähm:: (.) in ihren Beziehungen zueinander, aber generell so was Menschen zu der Zeit gefühlt haben, ich denke mal da gab=es auch gewisse (.) Ähnlichkeiten und Sachen, die sich so betroffen haben, ähm (.) es gab immer so Leute, die dann irgendwann auf Demonstrationen ge- so gegangen sind, weil sie halt (.) dachten, dass es richtig ist, und (.) ähm ja also, s- wenn so=ein Film, ich denke er ist auch ganz gut, weil er halt versucht, die verschiedenen Facetten zu zeigen, man weiß natürlich ganz genau, dass er (.) nie wirklich das Wahre ist, man weiß auch, dass er fiktiv ist, (.) aber ich denke so so=ein DDR-Film sollte schon versuchen, möglichst wahrheitsgetreu zu sein.36

Die Rezipientin verdeutlicht in dieser Sequenz grundsätzlich zwei Aspekte, die die Erzählung von Geschichte im Spielfilm aus ihrer Sicht auszeichnen. Einerseits solle eine Produktion, die „ja den Anspruch hat, ein historischer Film zu sein,“ auch „das darstellen, was passiert ist.“ Andererseits sei die Gattung Spielfilm „ähm (.) fiktiv natürlich, in den Personen, ist ja klar, und ähm:: (.) in ihren Beziehungen zueinander,“. Auffällig ist in der Passage, dass für die Jugendliche darin keineswegs ein Widerspruch besteht, sondern beide Aspekte – der Anspruch der Wirklichkeitsdarstellung einerseits, andererseits die Fiktivität bestimmter Elemente der Handlung – selbstverständlich miteinander im Spielfilm vereinbar sind. Grit geht von dem Anspruch aus, den ein Spielfilm an seine eigene Authentizität stelle. Sie bezieht sich mit dem Ausdruck „man“ auf die Erzählinstanz, und erst durch deren eigenen Anspruch formuliert sie als Rezipientin eine entsprechende Erwartungshaltung an die Glaubwürdigkeit der Erzählung. Erst diese Anspruchshaltung der Erzählinstanz setzt dem Erzählen überhaupt Grenzen. Überraschen mag, dass diese Grenzen offenbar eng an die dargestellte Zeit gebunden sind. So hebt die Zuschauerin explizit hervor, dass die Frage, wie fiktiv das Erzählte sein dürfe, im Kontext der historischen Thematik, hier der Darstellung der DDR betrachtet werden müsse, und die Frage nach der Authentizität historischer Spielfilme keineswegs pauschal zu beantworten sei („ich denke mal es kommt so=ein bisschen (.) auf die Zeit an, in der es spielt“). Entsprechend deutet sie damit an, dass andere historische Epochen auch auf andere Erwartungshaltungen seitens der Zuschauer*innen stoßen würden, und hier tritt die Schwelle der Zeitgeschichte als Grenzmarkierung hervor, die noch in weiteren Zusammenhängen eine Rolle spielen wird. Ein Spielfilm, der den Anspruch vertrete, zeitgeschichtliche Stoffe 36 Transkript GR, MD, Z. 940-957. Die Verwendung des Begriffs „fiktiv“ durch den Interviewer folgt hier der Bedeutung, die die Interviewpartnerin zuvor selbst etabliert.

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darzustellen, sei in gewisser Weise besonders mit einer Erwartungshaltung der Authentizität konfrontiert. Gegenüber Darstellungen weiter zurückliegender Epochen seien für die Erzählung fiktiver Handlungen durch die Thematik der Zeitgeschichte engere Grenzen gezogen. Ein Grund dafür sei beim Publikum zu finden („wenn man halt über die DDR noch viel weiß,“), und damit deutet sie an, dass historische Erzählungen im Spielfilm nur im Kontext der gesellschaftlichen Diskurse um sie zu verstehen sind, wenngleich dieser Aspekt hier nur angerissen wird. Der Anspruch, der Spielfilm über die DDR-Geschichte müsse „das darstellen, was passiert ist“, steht für Grit wie selbstverständlich der Tatsache gegenüber, dass insbesondere das Handeln der Figuren „ähm (.) fiktiv natürlich“ sei. Dieses Spannungsverhältnis stellt keinesfalls einen Widerspruch für die Rezipientin dar, vielmehr drückt sich aus dem Gesagten eine Haltung aus, die sich eben dieser Spannung bewusst ist und sie für konstitutiv für die Gattung des Spielfilms und die historische Erzählung innerhalb dieser Erzählform ansieht. „man weiß natürlich ganz genau, dass er (.) nie wirklich das Wahre ist,“ – darin spiegelt sich eine Rezeptionshaltung wider, die „als make-believe-Spiel“37 bezeichnet worden und sich der Fiktionalität der Erzählung vollkommen bewusst ist, zugleich aber den Anspruch an authentisches historisches Erzählen vertritt und dieses Spannungsverhältnis in einer entsprechenden Rezeptionshaltung integriert. Die Ausführungen der Magdeburgerin zeugen von spezifischen Überzeugungen gegenüber der Gattung Spielfilm und im besonderen Fall dem Anspruch jener Spielfilme, die zeitgeschichtliche Stoffe erzählen, „möglichst wahrheitsgetreu zu sein.“ Zweifellos ist sie sich der Fiktivität von Teilen der Handlung bewusst, zugleich aber stellt sie deren Historizität grundsätzlich nicht infrage. Wenn auch im engeren Sinne die „Personen ist ja klar, und ähm:: (.) in ihren Beziehungen zueinander,“ fiktiv seien, wohne ihnen doch eine allgemeinere, historisch abstrahierte Wahrheit inne: So stelle der Film authentisch „generell so was Menschen zu der Zeit gefühlt haben“ dar. Darin zeigt sich eine Einschätzung der Authentizität, die von der konkreten Fiktivität der Handlung, hier von den Figuren des Spielfilms, unabhängig und unbeschadet erscheint. Die historische Wahrheit stellt für die Zuschauerin ein nicht infrage zu stellendes Ideal dar, und ihre Erwartungshaltung richtet sich auf die Historizität des Fiktiven, die die Jugendliche an historisches Erzählen (zeitgeschichtlicher Stoffe) im Spielfilm stellt. Obwohl sie erkennt, dass die Figuren im Film fiktiv sind, sieht sie in ihnen auf einer abstrakten, allgemeineren Ebene Personen, die glaubhaft die Erlebnisse der Menschen in der DDR darstellen. Die analytisch herausgearbeiteten Überzeugungen über die Gattung Spielfilm und fiktionale historische Erzählungen im audiovisuellen Medium besitzen auch eine authentifizierende Funktion. Wenn Grit als Norm für den historischen Spielfilm setzt, dass dieser trotz fiktiver Elemente der Handlung authentisch die DDR37 Zipfel 2001, S. 277.

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Geschichte darstelle, wirkt diese Norm auch entgegengesetzt: Die historische Erzählung in der Gattung Spielfilm würde allein dadurch weniger frei erzählen und sich folglich an die von ihr zugrunde gelegte historische Wahrheit halten, dass es sich um eine historische Thematik handelt. Damit besäßen Spielfilme, die historische Stories erzählen, per se eine grundsätzliche Glaubwürdigkeit, insofern der Bruch der unterstellten Norm für unwahrscheinlich erachtet wird. Die Frage nach der Filmgattung und den Implikationen, die dies für die Authentizität der Erzählung nach sich zieht, beschäftigt auch andere Jugendliche. Sie rückt vor allem dann in den Fokus, wenn sie den Spielfilm im Vergleich zu anderen Filmgattungen thematisieren. Insbesondere die Dokumentation zum „Turm“ bot dafür in den Interviews häufig Anlass. Die Zuschauerin Valentina vergleicht den Spielfilm mit der eigens dazu produzierten und ausgestrahlten TV-Dokumentation. Sie reagiert an dieser Stelle des Interviews auf einen User des Forums zum „Turm“ auf Spiegel-Online38, der dessen Authentizität massiv infrage gestellt hatte: I: Mhm. also würdest du da:: seine Kritik ein bisschen zurücknehmen, oder (.) findest du VA:

└Ja, ein bisschen,

I: das legitim, dass er den Film so angreift. VA: Ein bisschen, aber (.) nicht absolut, also er sagt ja °sind absolut überzogen und realitätsfern,° //mhm// und (.) es sagt ja keiner, dass es hundert Prozent Wahrheit ist, weil es ist ja ein Film, es ist ein Film, da kann ja (.) es wird doch nirgendwo gesagt, dass das ein Dokumentationsfilm oder Dokumentarfilm ist, //mhm// und ä::h (.) deshalb finde ich kann er sollte er auch bei seiner Kritik das beachten, dass (.) das halt ein Schauspielfilm oder ein Spielfilm ist //mhm// und kein (.) Dokumentarfilm und deshalb (.) dass=er (.) diese Absichten des Films auch abwägen muss, mit dem was er dann sagt und (.)//mhm// diese Realitätsferne (.) finde ich ist äh (.) nicht unbedingt praktisch das (sch-) (.) also erstens finde ich den Film gar nicht so realitätsfern, also (2)

rela- (1)

nicht

absolut realitätsfern, //mhm// so sagen wir es so, weil ich habe ja auch selbst am Anfang gesagt, dass ich nicht denke, dass sich das alles genauso zugetragen haben kann, //mhm// deshalb kann ich jetzt dem auch nicht komplett (.) ähm dem was er sagt da äh entgegen::stehen, aber (1)

ich fand den Film im Großen und Ganzen als (.) Film halt

(.) relativ glaubwürdig und gut gemacht //mhm// und (.) keine Ahnung was er erlebt hat.39

In dieser Sequenz zeigt sich erneut der ambivalente Status, den ein Spielfilm, der historisch erzählt, auch in den Augen seiner Zuschauer*innen besitzt. Dabei tritt Valentina mit ihrem vehement geäußerten Standpunkt den Vorwürfen des Users entgegen, der vom Spielfilm eine historische Genauigkeit erwarte, die „hundert Prozent Wahrheit“ darstelle. Dieser Forderung widerspricht die Jugendliche mit ei38 Vgl. Foren-Eintrag auf Spiegel Online vom User „peter_aus_radeberg“. 39 Transkript VA, MD, Z. 1596-1617.

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nem energischen Verweis auf die Filmgattung: „es ist ja ein Film, es ist ein Film,“ – sie spricht hier lauter und stark betont, drückt damit also aus, wie grundsätzlich, prinzipiell ihr Verweis auf die Gattung als Argument dienen kann, um die aus ihrer Sicht unberechtigten Ansprüche zurückzuweisen. Die Parallelen zur vorhergehenden Interviewsequenz werden hier deutlich: Wie zuvor Grit, vertritt auch diese Rezipientin mit vehement formulierter Selbstverständlichkeit die Überzeugung, dass der Spielfilm hinsichtlich der Authentizität der historischen Erzählung eine ambivalente Gattung darstelle, die Fiktion und historische Glaubwürdigkeit miteinander vereine. Den Spielfilm ordnet sie als Gattung ein, die keineswegs den Anspruch vertrete, „dass es hundert Prozent Wahrheit ist,“. Sie gewährt ihm erzählerische Freiheiten, die zunächst nicht genauer bestimmt werden. Klar ist für sie, dass ein Spielfilm nie vollkommen wahrheitsgetreu erzähle – und dies vor allem gar nicht müsse. Eben darin liegt auch der Grund für Valentinas Bestimmtheit: Es geht ihr nicht um eine detaillierte Diskussion, welche Aspekte der Handlung wahrheitsgetreu oder nicht seien, sondern vor allem darum, dass der User des Forums eine ungerechtfertigte Anspruchshaltung an den Spielfilm-Zweiteiler stellt, die er per se nicht erfüllen müsse. Hierin wird erkennbar, dass sie den Film an den eigenen Ansprüchen misst, und da dieser keineswegs die vollkommene Wahrhaftigkeit seiner Erzählung vermittle, sei diese auch nicht von ihm einzufordern. Darin zeigt sich, dass Valentina eine Rezeptionshaltung einnimmt, deren Erwartungen sich an den Ansprüchen der Urheber*innen der Erzählung orientieren. Während sie in der Sequenz prinzipiell gegen die hundertprozentige Wahrheitstreue des Spielfilms mit dem Verweis auf die Gattung an sich argumentiert, so scheint aus der entgegengesetzten Perspektive nicht selbstverständlich, dass sich der Spielfilm als fiktionale Erzählform überhaupt auf eine außerfilmische Wahrheit beziehe. Damit steckt die Jugendliche gewissermaßen den Gegenhorizont ab: Spielfilme an sich seien in jedem Fall nicht gezwungen, wahrheitsgetreu zu erzählen, grundsätzlich bestehe jedoch die Möglichkeit dazu, dass sie sich teilweise auf die außerfilmische Realität beziehen. Durch diese grundsätzliche Möglichkeit wird erst die Einschätzung des Erzählten durch die Zuschauer relevant, und so findet Valentina hier keine grundsätzlichen Argumente, sondern wirft ihr eigenes Urteil in die argumentative Waagschale: „also erstens finde ich den Film gar nicht so realitätsfern“. Die prinzipielle Sicherheit fehlt dieser Einschätzung freilich, sodass sie unbestimmt in ihrer Aussage bleiben muss: „ich fand den Film im Großen und Ganzen als (.) Film halt (.) relativ glaubwürdig und gut gemacht“. Beim Spielfilm handelt es sich damit für einige der jugendlichen Rezipienten*innen um eine Filmgattung, die hinsichtlich der Frage, welche Elemente seiner Handlung historisch glaubwürdig seien, einen nicht eindeutigen Status besitzt. Insofern liefert die Tatsache, dass die Jugendlichen das Gesehene als Spielfilm identifizieren, für sie auch ambivalente Argumente für die Authentizität der historischen

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Erzählung: Die Gattung signalisiert ihnen per se, dass es sich bei der Story nur zu einem gewissen Grad um historisch „wahre“ History handelt. Die Tatsache, dass sie zumindest in Teilen der Handlung historische Bezüge wiedererkennen, führt allerdings dazu, dass die Rezipienten*innen von einem Mindestmaß an Authentizität ausgehen – schließlich liege insbesondere in der zeitgeschichtlichen Thematik eine größere Verpflichtung zum authentischen Erzählen. Jedoch erlaubt die Zuordnung zu diesem Genre es den Jugendlichen nicht, auf der Grundlage ihres Genrewissens von vornherein eindeutig festzulegen, inwiefern es sich beim Erzählten um eine authentische Darstellung der DDR-Geschichte handelt. Damit rücken weitere Elemente und Charakteristika des Spielfilms in den Blick, die die Jugendlichen zur Beantwortung der Frage heranziehen, inwiefern es sich beim fiktionalen Fernsehzweiteiler um eine authentische Erzählung handelt. Die eingangs dargestellte, explizite Selbstbeglaubigung eines Spielfilms, die für die Braunschweigerin Anja ein scheinbares Filmelement darstellt, steht nicht ohne Grund als erstes Beispiel für ein solches Element des Films am Beginn dieses Kapitels. Sie veranschaulicht einerseits, wie bestimmte Ressourcen grundlegend für den Prozess der Authentifizierung sein können, taucht andererseits aber auch bei weiteren Jugendlichen im Gespräch auf und verdeutlicht zudem die Komplexität des Prozesses in seiner konkreten Ausgestaltung. Bei Ludwig-Theodor zum Beispiel, der im vorhergehenden Kapitel bereits als Fallbeispiel für eine historisierende Lesart besprochen wurde, findet sich eine sehr ähnliche Formulierung wie bei Anja in der eingangs zitierten Sequenz. In einer Passage, in der es um die Frage geht, inwiefern „Der Turm“ aus seiner Sicht tatsächlich Geschichte erzähle, kommt auch er darauf zu sprechen: I: Geht es denn im Turm aktiv um Geschichte? LT: Ja, denn (.) im Turm wi:rd zum einen (.) auch ein längerer (.) Zeitraum gezeigt, und dann die Veränderungen, die so stattfanden während des Zeitraums; also dass am Anfang noch kaum Opposition war in dem Sinne so öffentlich, und zum Ende dann doch. also man merkt wo richtig Veränderungen in der DDR stattgefunden haben, (.) man (.) me:rkt wie ich auch angesprochen habe, persönliche Schicksale, die damit in Verbindung hängen, (denn=das) das zähle ich auch zu Geschichte, //mhm// weil=man daran eben auch irgendwie vieles auch festmachen kann, (.) an persönlichen Schicksalen, und (2,5)

ja

(.) ist=eben (.) dass es wirklich noch genauer gezeigt wurde, also dass=es (.) also direkt ähm DDR gezeigt wurde, wie das war damals, und es war ja doch ein recht realistischer Film, ich weiß nicht mehr genau, ob zum Anfang gesagt wurde, mit einer wahren Geschichte und so weiter dass (1)

@nee ich glaube nicht eher,@ //mhm// aber gut, auf jeden Fall

(.) hätte ich mir denken können, dass es genau so auch in echt stattgefunden hat, //mhm// und das ist auch ein Argument dafür, dass es ein Geschichtsfilm ist, denn er ist realistisch.

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//mhm// also genau so hätte es sich auch ereignen können damals und nicht nur einmal, sondern vielfach, und (.) ja.40

Die Denkfigur der Filme, die „aktiv“ Geschichte darstellen, wurde von LudwigTheodor selbst im Gespräch entwickelt. Er differenziert damit zwischen Fernsehsendungen, die sich tatsächlich einer historischen Thematik verschreiben, und jenen Produktionen, die nur eine historische Bühne für ihre Story nutzen. Wohlgemerkt ordnet er den „Turm“ unmissverständlich der ersten Gruppe zu, was sich zu seiner historisierenden Lesart fügt, die im vorhergehenden Kapitel beschrieben wurde. An dieser Stelle ist der zweite Abschnitt der Passage von größerer Bedeutung: Nach einer längeren Pause reformuliert der Interviewpartner zunächst seine ursprüngliche These, dass es „ja doch ein recht realistischer Film“ sei. Unmittelbar schließt er daraufhin die Vermutung an, dass „zum Anfang gesagt wurde, mit einer wahren Geschichte und so weiter“, wenngleich er diese Aussage auch sofort mit Zweifeln versieht. Als Argument für seine Einschätzung könnte für ihn potentiell dennoch die Vermutung dienen, der Film beglaubige an seinem Beginn explizit („gesagt“) die im Folgenden erzählte Geschichte. Diese Stelle ähnelt sehr auffällig der Eingangspassage, in der die Abiturientin Anja dasselbe filmische Mittel der Selbstbeglaubigung anspricht. Die Ähnlichkeit ist jedoch nicht nur im Verweis auf dieses Filmelement selbst zu erkennen, sondern auch in der Struktur der Aussage: Mit einem quasi unerschütterlichen Urteil über die für beide offensichtliche Authentizität des Gesehenen geht eine erhebliche Unsicherheit über die Existenz einer expliziten filmischen Selbstbeglaubigung einher. Um in der Systematik der Begriffe zu bleiben: Während beide eine verhältnismäßig sichere Authentizitäts-Zuschreibung gegenüber dem Film vornehmen, sind sie sich der Existenz der von ihnen dafür ins Feld geführten Authentifizierungs-Ressource als Argument für ihre Einschätzung keineswegs sicher. Die Braunschweigerin Anja erhofft sich daher vom Interviewer eine Bestätigung ihrer Annahme, doch Ludwig-Theodor geht in seinen Zweifeln deutlich weiter. Indem er seine Vermutung erstens mit einem Zweifel einleitet und zudem im Anschluss negiert, (wenngleich auch diese Negation unsicher wirkt), drückt er seine eigene Unsicherheit aus, ob der Film tatsächlich auf Mittel der expliziten Selbstbeglaubigung zurückgreift. Anhand seiner lachenden Aussprache, der simultanen Bestätigung durch den Interviewer und nicht zuletzt der Konklusion, die beide Varianten offenlässt („aber gut, auf jeden Fall“) könnte zwar auch vermutet werden, dass er seine Zweifel gewissermaßen vorauseilend äußert, um die angenommene, vom Interviewer erwünschte Antwort zu geben. Unabhängig von der konkreten Bewertung des von ihm geäußerten Satzes scheinen seine Zweifel dennoch deutlich durch. Insofern haben wir es in beiden Fällen mit einer unsicheren Authentifizierungs40 Transkript LT, MD, Z. 725-741.

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Ressource zu tun. Diese Erkenntnis deckt sich mit weiteren Fällen, denn auch bei anderen wird die explizite Selbstbeglaubigung des Spielfilms an dessen Beginn als Mutmaßung eingeführt.41 Zu dieser grundsätzlichen Unsicherheit kommt hinzu, dass auch LudwigTheodor zwar den Zeitpunkt benennt, an dem dieses Mittel seiner Meinung nach im Film auftaucht, er sich jedoch nicht zu dessen konkreter Form äußert. So erfahren wir, dass sich der Film „zum Anfang“ selbst beglaubige, nicht aber, in welcher Form dies geschieht, ob es also beispielsweise eine Einblendung oder etwa eine Erzählerstimme aus dem Off ist, die diese Beglaubigung vornimmt. Wie lässt sich diese Ungewissheit verstehen? Zunächst stellt die vermutete, explizite Selbstbeglaubigung nichts anderes als eine narrative Rahmung dar, die die Jugendlichen dem Film zuschreiben. Nicht von ungefähr legen beide Interviewpartner*innen die narrative Selbstverortung an den Beginn der filmischen Erzählung. Die berühmte Einblendung „Nach einer wahren Begebenheit“ formuliert für jene Filme, die sie als filmisches Mittel einsetzen, eine Erzählhaltung, die den Zuschauern*innen vor dem Beginn der eigentlichen Geschichte mitgeteilt wird, um die Position des Erzählers deutlich zu kennzeichnen und damit die Erzählsituation für die Rezipienten*innen zu klären. Sie vermittelt ihrem Publikum, dass dem Folgenden zu trauen sei, und hofft zugleich, dass das Publikum eine entsprechende Rezeptionshaltung einnehme. Wenn die jugendlichen Zuschauer*innen also von der Existenz einer derartigen erzählerischen, selbstverortenden Rahmung ausgehen, dann zeigt sich darin vor allem, dass sie sich in eine bestimmte Rezeptionshaltung begeben haben und sich der mutmaßlichen Erzählhaltung des Spielfilms gegenüber bestätigend und angemessen verhalten. Dass die Jugendlichen vermuten, es habe eine explizite Selbstbeglaubigung am Beginn des Films tatsächlich gegeben, ist zunächst also gar keine Ressource, die für sie den Film authentifiziert, wenn dies auch in ihrer Argumentation so erscheinen mag. Vielmehr drückt sich darin ihre Einschätzung der Authentizität des Spielfilms aus; sie halten die historische Erzählung für authentisch, suchen nach einer Begründung für ihre Einschätzung und ziehen dann die mutmaßliche Selbstbeglaubigung des Spielfilms als Argument heran. Folglich liegt in der scheinbaren Ressource ein Indiz dafür, dass sie das Gesehene für authentisch halten, wenngleich die explizite Selbstbeglaubigung objektiv betrachtet nicht Teil des Films ist. Auf der Grundlage dieser Interpretation verwundert es auch nicht, dass sie sich in den zitierten Passagen zwar der Glaubwürdigkeit des Erzählten, nicht aber der Existenz und insbesondere nicht der konkreten Form der unterstellten Selbstbeglaubigung sicher sind. Vielmehr nehmen sie die Glaubwürdigkeit des Filmes an und führen dann ein ihnen bekanntes filmisches Mittel heran, das der Authentizität des Gesehenen Ausdruck verleiht. Dies geht auf ein offenbar „erlerntes“ und eingeübtes Muster zurück, ein erworbenes Wissen über filmische Mittel. 41 Beispielsweise Transkript GR, MD, Z. 908-926.

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Dass es sich dabei um ein kanonisches Filmwissen handelt, zeigt sich beispielsweise in einer Formulierung des Braunschweigers Cem: „also (2) das=ist ne wahre Geschichte, nach ner wahren Begebenheit,“42. Er äußert sich hier im ersten Teil des Satzes zur Authentizität des Films und wiederholt seine Feststellung im zweiten Teil mit einer Formulierung, die typisch für die explizite Selbstbeglaubigung von Spielfilmen ist. „Nach einer wahren Begebenheit“ könnte in diesem exakten Wortlaut so als einleitende Einblendung am Beginn des Films stehen. Er unterstützt seine These hier also mit einer Formel, die ihm aus anderen Filmen bekannt ist. Dass er genau diese formelhafte Phrase wiederholend verwendet, zeigt, dass er auf ein erlerntes Filmgenre-Wissen zurückgreift. Ob die Einblendung tatsächlich Teil des „Turms“ ist, interessiert in dieser Hinsicht nicht – bedeutsam ist einzig, dass die Erzählhaltung des Films individuell von ihm und den anderen Rezipienten*innen entsprechend wahrgenommen und infolge dessen die Selbstbeglaubigung als filmisches Mittel unterstellt wird. Damit liefert der narrative Rahmen in Form der Behauptung „Nach einer wahren Begebenheit“, den die Jugendlichen als Argument anführen, eine imaginierte Authentifizierungs-Ressource, die sie aus ihren Erfahrungen im Umgang mit anderen Filmen ziehen. Sie erfüllt letztlich denselben Zweck, als hätte es tatsächlich vor der ersten Einstellung eine entsprechende Einblendung gegeben: Die imaginierte, explizite Selbstbeglaubigung des Zweiteilers authentifiziert für sie die Erzählung. Darin drückt sich auch ein Zirkelschluss der Authentifizierung aus: Die Jugendlichen sind von der Authentizität des Gesehenen überzeugt, vermuten auf dieser Grundlage die explizite Selbstbeglaubigung des Films, die ein für sie allgemein bekanntes Genre-Muster darstellt, und sehen dies dann wiederum als unterstützendes Argument an, das als Ressource für die von ihnen angenommene Authentizität dient. Die explizite Selbstbeglaubigung am Beginn des Films betrifft aus einer erzähltheoretischen Perspektive betrachtet die Haltung, die die Erzählinstanz des Films gegenüber dem Erzählten einnimmt. Systematisch lässt sich eine solche Einblendung dem Erzählen, der Art, wie die Handlung erzählt wird, zuordnen. Dem gegenüber steht die analytische Ebene des Erzählten, das die Ereignisse der Handlung selbst bezeichnet und damit das Was? vom Wie? der Erzählung unterscheidet. Ich habe diese grundlegende analytische Trennung, die der Literaturwissenschaft entstammt, in den theoretischen Ausführungen knapp ausgeführt und halte sie zur Strukturierung der Authentifizierungs-Ressourcen für sinnvoll. Daher werde ich nun weitere Ressourcen herausarbeiten, die auf der analytischen Ebene des Erzählens liegen, das heißt dem Wie? der Erzählung nachgehen, und im Anschluss das Erzählte selbst als Analyseebene für weitere Authentifizierungs-Ressourcen verhandeln. 42 Transkript CE, BS, Z. 1093f.

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Die im Folgenden dargestellten Ressourcen unterscheiden sich in ihrer Bedeutung für die Jugendlichen und auch in ihrer konzeptionellen Reichweite. Bei einigen handelt es sich um einzelne, isolierte Beobachtungen kleiner filmischer Details, die die jugendlichen Rezipienten*innen anführen. Andere wiederum stellen für viele Jugendliche höchst wichtige, umfangreiche Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Spielfilm dar. Dementsprechend unterscheidet sich auch der Umfang, der den verschiedenen Ressourcen hier in der Analyse eingeräumt wird. Ich werde jedoch Wert darauf legen, die jeweilige Bedeutsamkeit der behandelten Ressourcen auch im Vergleich deutlich zu machen. Ein Beispiel für eine Ressource, die eher geringe konzeptionelle Komplexität besitzt und stattdessen auf der Beobachtung eines isolierten Elements des Spielfilms fußt, liefert die Magdeburgerin Grit. Sie nimmt in der Argumentation für die Authentizität der Darstellung auf den Fernsehsender Bezug, von dem „Der Turm“ ausgestrahlt wurde. Auf die Frage, warum sie das Gesehene für historisch glaubwürdig halte, äußert sie: I: Was macht dich da so sicher? GR: Ähm weil er glaube=ich auf ZDF oder auf=dem Ersten irgendwie schon das ist ja auch schon mal erstmal Bildungsfernsehen, und //mhm// relativ gesicherte Sachen einfach auch, und dann vertraut man dem natürlich so=ein bisschen, Staatsfernsehen okay, ähm im Ersten halt, steht ja da, (.)43

Das ZDF und die ARD gelten für die Abiturientin als glaubwürdige Instanzen für die Ausstrahlung authentischer historischer Erzählungen. Es scheint wenig überraschend, dass beide Sender sich als Marke profiliert haben, die „Bildungsfernsehen“ liefere und „relativ gesicherte Sachen“ zeige.44 Mit ihnen ist offenbar eine Ernsthaftigkeit verknüpft, die den Gedanken, es könnte sich um nicht authentische Darstellungen handeln, beinahe ausschließt und stattdessen Vertrauen in die Erzählinstanz schafft. Das Senderlogo und die damit verknüpften Bedeutungen lassen sich damit aals Signale begreifen, die dem Spielfilm eingeschrieben sind und für einige Jugendliche authentifizierend wirken. Zu vermuten ist, dass auch das „paratextuelle“ 43 Transkript GR, MD, Z. 990-995. 44 Diese Beobachtung lässt sich auch über diese Arbeit hinaus bestätigen: So scheiterte die Miniserie „Deutschland ’83“ im Jahr 2015 nicht zuletzt daran, dass sie bei RTL ausgestrahlt wurde und damit unter einer Marke Platz fand, die ungewohnt für hochwertiges, geschichtliche Themen aufgreifendes Fernsehen war. Entgegen positiver Kritiken lagen die Einschaltquoten deutlich unter den Erwartungen. Siehe Hanfeld, Michael: Wieso sieht das keiner? Online-Artikel auf faz.net vom 19.12.2015. Online unter http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/medien/die-rtl-serie-deutschland-83-war-hochgelobt-aber-ein-flop-1397 3730.html (13.5.2016).

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Umfeld des Spielfilms, also die vor dem Abend-Spielfilm ausgestrahlte Tagesschau, aber auch die fehlenden Werbeunterbrechungen Teil dieser Sender-Identität sind, die die Erzählinstanz um ein Vielfaches glaubwürdiger erscheinen lassen, als dies anderswo der Fall wäre. Damit geht in die Authentifizierung an dieser Stelle ein erlerntes Wissen über die Fernsehlandschaft des Geschichtsfernsehens ein, das sich auch auf weitere öffentlich-rechtliche Sender erstreckt, die ein ähnliches Image besitzen.45 Für einige Jugendliche tragen die öffentlich-rechtlichen Sender im deutschen Fernsehen ein Gütesiegel für authentisches historisches Erzählen. Der Fernsehsender, den die Jugendlichen erkennen und einordnen, gehört wie zuvor die Einblendung zu jenen Ressourcen, die für die Jugendlichen Anhaltspunkte liefern, wie die Erzählinstanz des Films bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit einzuschätzen ist. Darüber hinaus findet sich eine Authentifizierungs-Ressource, die ebenfalls wie das Senderlogo vor allem visueller Natur ist und die bemerkenswerterweise nur in wenigen Gesprächen mit den Jugendlichen Erwähnung gefunden hat. Dennoch möchte ich behaupten, dass sie für die historische Verortung der Handlung eine wichtige Rolle spielt. Bei diesem erzählerischen Mittel handelt es sich um ein Element des Zweiteilers, das formal betrachtet eher selten in Spielfilmen zu finden ist, im Genre der historischen Spielfilme aber seinen Platz hat: die Einblendung von Jahreszahlen. Im „Turm“ werden von Beginn des ersten Teils bis zum Ende des zweiten immer wieder Jahreszahlen eingeblendet, die die Handlung zeitlich verorten. Sie versetzen das Erzählte in die Jahre 1983 bis 1989 und verdeutlichen in der Form einer Einblendung, in welchem Jahr der DDR die Story sich gerade befindet. Interessanterweise nehmen nur die wenigsten Jugendlichen überhaupt explizit Bezug auf dieses Mittel des Erzählens. Der Magdeburger Abiturient Julius, der die Spielfilmhandlung klar als authentisch erzählte Geschichte einer Familie in der DDR bewertet, verweist noch am Beginn seiner Eingangserzählung darauf, in welche Zeit die Handlung einzuordnen sei: „ähm (.) ja das ähm dreht sich alles (irgendwie=so=um) in den 80er Jahren, so zwischen 1982 und 1989, ähm“.46 Wenn Julius hier auch die Handlung um ein Jahr früher datiert, als es die Einblendungen nahelegen: Da „Der Turm“ über die eingeblendeten Jahreszahlen hinaus größtenteils nur ungenaue Rückschlüsse auf die präzise Zeit zulässt, in der die Story spielt, und sich Julius kaum zufällig auf diese Jahre festgelegt hat, kann es als sicher gelten, dass er sich hier auf die eingeblendeten Zahlen beruft, ohne dass er dieses filmische Mittel explizit anspricht. Vielmehr geht es unbewusst in seine Nacherzählung ein und verortet die Geschichte zeitlich präzise in den Achtzigerjahren.

45 Vgl. Transkript LA, MD, Z. 345-349. Sie attestiert hier dem ZDF eine hohe Glaubwürdigkeit. 46 Transkript JU, MD, Z. 87f.

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Nur bei wenigen weiteren Rezipienten zeigt sich im Interview ein Verweis auf die Jahreszahlen, in einem Fall aber explizit: Nur beiläufig spricht etwa der Braunschweiger Sven in seiner Nacherzählung über „Jahressprünge“47 in der Handlung des Films, und auf Nachfrage erklärt er äußerst knapp: „Es wurden zwischenzeitlich immer Jahreszahlen unten eingeblendet,“48. Weiter geht er im Interview nicht auf dieses filmische Mittel ein. Dass „Der Turm“ also im Fortschreiten der Erzählung regelmäßig eine historische Verortung seiner Handlung per Einblendung vornimmt, scheint keine erhöhte Aufmerksamkeit bei den Zuschauer*innen zu erregen. Dieses filmische Mittel führt bei den Jugendlichen eher selten dazu, dass sie das Erzählte so präzise zeitlich einordnen, wie die eingeblendeten Jahreszahlen dies ermöglichen würden. Keineswegs käme eine*r der Jugendlichen etwa auf die Idee, die Handlung nach den erzählten Jahren strukturiert nachzuerzählen. Stattdessen werden die Jahreszahlen nur als grobe historische Einordnung der Erzählung rezipiert. Gleichwohl kann hier davon ausgegangen werden, dass die Authentizität der Erzählung im Allgemeinen durch dieses filmische Mittel in der Rezeption durchaus gestützt wird. Die wenigen Interviewpassagen dokumentieren zumindest, dass die Einblendung von Jahreszahlen wahrgenommen wird, wenngleich sie fast nie explizit angesprochen wird. Eher liegt die Vermutung nahe, dass die Jugendlichen die Einblendung diffus als Authentifizierungs-Ressource heranziehen, wofür die Beobachtung spricht, dass sie in einigen Interviews eben implizit beachtet wird, wenn die Jugendlichen etwa „Jahressprünge“ in der Handlung ausmachen können. Ein Film, der seine Handlung mit Jahreszahlen historisch präzise verortet, wird – diese Annahme liegt aus der Perspektive der Zuschauer*innen nahe – in der Tendenz eher authentisch Geschichte erzählen, als ein Spielfilm ohne diese Einblendungen. Eine weitere Ressource von größerer Relevanz bezieht sich ebenfalls auf ein visuelles Merkmal des Erzählens, das aber über die gesamte Dauer der Erzählung zwangsläufig sichtbar ist: auf die Farbe des Spielfilms. Wenn zunächst doch überraschen mag, dass ein so grundlegendes Merkmal des Spielfilms hier überhaupt als Ressource der Authentifizierung zur Sprache kommt, wird aus den Analysen der Gespräche mit den Interviewpartnern*innen dessen Relevanz deutlich. Die Farbe des Spielfilms ziehen mehrere Jugendliche für die Bewertung seiner Authentizität heran. Die Magdeburgerin Valentina zum Beispiel denkt gegen Ende ihres Interviews über die Bedeutung der Farbe im „Turm“ nach, indem sie überlegt, wie der Film in Schwarz-Weiß auf sie wirken würde. Sie ist sich darüber im Klaren, dass sie hier gewissermaßen kontrafaktisch über die Bedeutung dieses filmischen Merkmals spekuliert. Sie lenkt zuvor jedoch selbst das Gespräch darauf:

47 Transkript SV, BS, Z. 10. 48 Transkript SV, BS, Z. 17.

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I: Was würde das für einen Einfluss haben, du hast gerade gesagt, (.) VA:

└Ja.┘

I: wenn das schwarz weiß wäre. VA: @(.)@, das wirkt dann halt sehr (.) @geschichtlich@, @(.)@ I: Warum? VA: Weil schwarz weiß praktisch auch die Zeit (.) naja, man (3) schwarz weiß wirkt auf den Inhalt reduzierend finde ich, //mhm// wenn das bunt ist oder so, dann nimmt man auch das alles anders wahr, dann konzentriert man sich keine Ahnung w- ihr Mantel war grün oder so und aber wenn du schwarz weiß äh Filme guckst, dann weißt du, dass (.) dass es halt um den Inhalt geht, und nicht um das ganze Schnickschnack drumherum. nicht wie die Tür aussieht oder sonstwas, und dann weißt du auch, was im Mittelpunkt steht. (.) der Inhalt, die Handlung, die Geschichte. I: Und was steht im Mittelpunkt beim Turm? VA: Auch die Geschichte, I: VA:

└Okay. aber die menschliche Seite davon.

I: Aha. das heißt schwarz weiß reduziert den Film auf den Inhalt, (.) VA: Auf die, also nur auf die Geschichte, I:

└und ansonst-

VA:

meistens. aber (.) es gibt ja auch Schwarzweißfilme

von damals, die auch (.) keine geschichtlichen waren. gibt=es ja auch, //mhm// aber (.) schich sag=es mal, schwarzweiße Dokumentarfilme //mhm// reduzieren das auf die (.) Handlung, auf die Geschichte. //mhm// weil sonst wäre es ja falsch.49

Diese Sequenz zeigt, wie die Farbe des Films mit der Frage nach seiner Authentizität für Valentina verknüpft ist. Schon am Beginn wird klar, dass die Abiturientin mit schwarz-weißen Bildern das Attribut „geschichtlich“ verbindet. Dass „Der Turm“ nicht in Schwarz-Weiß, sondern in Farbe gedreht wurde, führt sie konsequenterweise zu der Einschätzung, es handle sich um einen Film, der lediglich „halb geschichtlich“50 sei. Dass der Spielfilm durchgängig farbige Bilder zeigt, stellt hier insofern ein Hindernis für die Jugendliche dar, ihn als vollkommen „geschichtlich“ anzusehen. Die farbigen Bilder stehen seiner Authentizität stilistisch im Wege. Um eine Begründung gebeten, führt Valentina einen Gedanken ein, der jedoch leider Fragment bleibt: „Weil schwarz weiß praktisch auch die Zeit (.)“. Ohne unnötige Spekulation wird hierin jedoch ersichtlich, dass das filmische Merkmal Farbe für sie mit historischer Zeit direkt verbunden ist, genauer gesagt mit einer bestimmten („die“) Zeit. Im Umkehrschluss stellen schwarz-weiße Bilder für sie eine 49 Transkript VA, MD, Z. 1296-1330. 50 Transkript VA, MD, Z. 1266.

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Ressource zum Identifizieren einer historischen Zeit in einem Film dar. Bei schwarz-weißen Bildern handelt es sich aus ihrer Sicht um ein filmisches Merkmal, das die Authentizität des Gezeigten stark unterstreiche und damit als Authentifizierungs-Ressource infrage käme. Valentina bringt zum Ende der Sequenz die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Dokumentarfilm und anderen, nicht weiter definierten Filmen ein. Sie verbindet das Schwarz-Weiß ausdrücklich mit Dokumentarfilmen, und damit ist klar, inwiefern die Farbe ihre Einschätzung der Authentizität beeinflusst: Valentina kann sich auf ihre Kenntnisse über das Genre des historischen Dokumentarfilms beziehen, dessen vermeintliche Authentizität sie mit seinen schwarz-weißen Bildern verbindet. Da jedoch auch historische Dokumentarfilme meist in Farbe produziert werden, etwa die Interviews mit Zeitzeugen*innen und Historikern*innen, aber auch Drehs an vormals historisch bedeutsamen Orten nicht schwarz-weiß gehalten sind, bezieht sie sich hier wohl auf ein ganz bestimmtes Element in historischen Dokumentationen: die schwarz-weißen Filmdokumente, also auf quellenauthentische Aufnahmen, die aus den Archiven den Weg in viele Dokumentarfilme finden. Dieses Vertrauen in die Authentizität schwarz-weißer Bilder, das also zunächst der (vermeintlichen) Quellen-Authentizität authentischer Filmdokumente entspringt, überträgt die Jugendliche offenbar problemlos auch auf Spielfilme, die Geschichte erzählen. Damit hebt sie genau genommen die fundamentalen Unterschiede von Quelle und Darstellung auf: Wenn historische Filmdokumente in SchwarzWeiß authentische Quellen seien, würde kurzerhand aus einem Film, der in schwarz-weißen Bildern Geschichte erzählt, eine authentische historische Darstellung. Für die junge Rezipientin ist die vorhandene Farbe im „Turm“ jedoch keine im Film gegebene Authentifizierungs-Ressource, und wenn dies der Authentizität des Gesehenen offenbar auch nicht widerspricht, so stützt sie doch zumindest nicht die Zuschreibung von Authentizität. Schwarz-weiße Bilder hätten aus ihrer Sicht die Erzählung authentischer erscheinen lassen. Daran knüpft auch die Magdeburgerin Larissa in der folgenden Passage an, indem sie darüber spricht, welche Bedeutung Farbe im Spielfilm beziehungsweise deren Fehlen besitzt. Sie kommt hier auf eine der erfolgreichsten fiktionalen Produktionen zu sprechen, die sich dem Holocaust thematisch widmen, und die zudem auch für ihren Umgang mit dem filmischen Mittel Farbe berühmt geworden ist: LA: Mhm. (.) was ich relativ interessant fand, war äh Schindlers Liste. //mhm// das=ist aber auch schon (.) paar Jahre her, dass ich das geguckt habe, //mhm// das fand ich au- eigentlich auch ganz gut, vor allem (.) aber weil es halt auch (.) hört sich jetzt blöd an, aber schwarzweiß war, und das Ganze noch so=n bisschen näher gebracht hat, //mhm// wie=es eben (.) die ganze Zeit war. I:

└Aha.┘ Wie hat das (.) was hat dieses Schwarz-Weiß äh (.)

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LA:

└Na das┘ deutet ja an, dass=es äh

auf jeden Fall schon wesentlich älter ist, (.) I: Ja, LA: und ähm (.) war auch nicht so=ne krasse Auflösung oder (.) irgendwas in der Art, sondern (.) es war halt auch schon=n älterer Film, //mhm// ähm und ja das hat (.) halt verdeutlicht, dass es schon ein bisschen länger her ist, @(.)@ I: Mhm. Hätte man den Turm ähm in schwarz weiß drehen können, deiner Meinung nach? LA: (2)

Nee. glaube ich nicht.

I: Warum nicht. LA: Das hätte nicht so gewirkt. Na man weiß ja, dass in der DDR dann irgendwann schon mal so die (.) vor allem dann zum Ende hin die Farbfernseher gab=es ja, //mhm// und ähm das wäre dann auch gar nicht mehr authentisch gewesen. I: Aha. LA: Also ich find- das wäre wieder zu alt. I: Das musst du mir noch (.) das verstehe ich noch nicht. LA: Na das schwarz weiß das verbinde ich so mit eher (.) zurückliegender Zeit, //mhm// und ich meine die DDR °das ist jetzt auch nicht° (.) so weit zurückliegend, ich meine (.) meine Eltern haben das halt auch noch miterlebt und alles und (.) da kennt man halt schon noch viel drüber, und schwarz weiß verbinde ich mehr so mit (.) was extrem Alten. 51

Larissa beginnt ihre Einschätzung von „Schindlers Liste“ 52 beinahe entschuldigend, indem sie sich ein Stück weit davon distanziert, überhaupt auf die Farbe zu sprechen zu kommen („hört sich jetzt blöd an,“). Damit verdeutlicht sie zunächst, dass sie dieses filmische Element für die Bewertung von Spielfilmen eigentlich für unangebracht hält. Dennoch ist es für ihre positive Einschätzung von Steven Spielbergs Produktion das wesentliche Kriterium und besitzt damit für sie eine herausgehobene Bedeutung. Im Folgenden findet sich eine ganz ähnliche Denkfigur wie in der zuvor analysierten Sequenz: Der kategoriale Unterschied zwischen authentischer Quelle und authentischer Darstellung der Geschichte wird auch hier aufgehoben. Für die Rezipientin deuteten die schwarz-weißen Bilder „ja an, dass=es äh auf jeden Fall schon wesentlich älter ist, (.)“. Nun ist „Schindlers Liste“ zweifelsfrei in einer Zeit gedreht worden, in der bereits die technischen Möglichkeiten zur Produktion farbiger Spielfilme zur Verfügung standen. Dass die schwarz-weißen Bilder dennoch ein scheinbar hohes Alter des Films suggerierten, unterstreicht hier, was bereits die Zuschauerin zuvor zum Ausdruck gebracht hat: Schwarz-weiße Bilder 51 Transkript LA, MD, Z. 252-290. 52 Die 1993 erschienene Produktion verzichtet freilich nicht vollkommen auf den Einsatz von Farbe: Sowohl der narrative Rahmen um die erzählte Geschichte, der am Ende des Films die Nachfahren der von Oskar Schindler Geretteten an dessen Grab zeigt, als auch das „Mädchen im roten Mantel“ sind farbliche Elemente des Spielfilms.

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sind für beide unumstößlich mit der Wahrnehmung eines hohen Alters dieser Bilder verknüpft. Insofern wird hier das Alter von Filmaufnahmen, die mangels der verbreiteten Möglichkeit zur Herstellung farbiger Bilder schwarz-weiß gedreht wurden, auf solche Filme projiziert, die aufgrund einer ästhetischen Entscheidung bewusst auf den Einsatz von Farbe verzichten. Dass es sich im einen Fall um filmische Quellen, im anderen um historische Darstellungen im Medium Film handelt, stellt für diese Projektion offenbar kein Hindernis dar. Erst durch diese Voraussetzung kann die Authentizität der Erzählung – Larissa verwendet den Begriff „authentisch“ in der Passage sogar explizit – davon abhängig gemacht werden, inwiefern das Erzählte mit der auf das Merkmal Farbe bezogenen Art des Erzählens in einem Übereinstimmungsverhältnis steht. Entsprechend sind schwarz-weiße Bilder wie in „Schindlers Liste“ dann Voraussetzung für die Zuschreibung von Authentizität, wenn filmische Quellen aus der dargestellten Zeit überwiegend in Schwarz-Weiß vorliegen. Zwar existieren für die Zeit des Nationalsozialismus auch kolorierte Aufnahmen und sogar Spielfilme.53 Vor allem in der visuellen Erinnerungskultur ist diese Epoche jedoch von schwarz-weißen Bildern dominiert, etwa von den zahllosen Aufnahmen der NS-Wochenschauen in Dokumentationen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Diese Dominanz des SchwarzWeißen spiegelt sich auch in den Vorstellungen der jugendlichen Zuschauer*innen wider. Durch die Dominanz in den filmischen Quellen des Nationalsozialismus werden Spielfilme aus unserer Zeit, die diese Epoche abbilden, dann authentisch, sobald sie ebenfalls in Schwarz-Weiß erzählen – zumindest aus der Perspektive der beiden Jugendlichen. Für die Authentizität des „Turms“ bedeutet dies wiederum, dass im Fall von Larissa die farbigen Bilder die Authentizität der Erzählung stützen, weil die DDR in der Wahrnehmung der Jugendlichen eine Epoche der farbigen Bilder ist: „Na man weiß ja, dass in der DDR dann irgendwann schon mal so die (.) vor allem dann zum Ende hin die Farbfernseher gab=es ja,“. Da die filmischen Quellen aus der Zeit der DDR aufgrund der technischen Möglichkeiten vorwiegend farbig seien, würde die Erzählung über diese Zeit in gleichsam farbigen Bildern quasi ein Erfordernis für deren Authentizität darstellen. Am Ende der Sequenz äußert die Rezipientin noch einige Gedanken, die aus der Perspektive der Jugendlichen nicht weniger als eine visuelle Epochenschwelle skizzieren. Im Gegensatz zum Nationalsozialismus verbinde die Jugendliche die DDR eher nicht mit „zurückliegender Zeit“, was durchaus bemerkenswert erscheint. Insbesondere die Tatsache, dass dieses Stück deutscher Vergangenheit ein Thema sei, dass sie mit ihren Eltern auf der Grundlage ihrer Erlebnisse diskutieren könne, stelle den wesentlichen Unterschied zu „was extrem Alten“ dar. Letztlich ist es die his53 Siehe dazu Alt, Dirk: „Der Farbfilm marschiert!“ Frühe Farbfilmverfahren und NSPropaganda 1933-1945. München 2013.

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torische Schwelle der Zeitgeschichte, die sich hier auch visuell niederschlägt. Die Eltern verkörpern diese zeitgeschichtliche Grenze der „Epoche der Mitlebenden“54. Diese Grenze muss sich dann eben auch in der Farbe der Bilder abbilden: Die jüngere Zeitgeschichte hat farbig zu sein, um sie authentisch wirken zu lassen, während frühere Epochen jenseits der Zeitgeschichte55 nur in Schwarz-Weiß authentisch seien. Ebenso kommen auch im nächsten und zugleich letzten Beispiel für diese Authentifizierungs-Ressource individuelle Überzeugungen zum historischen Erzählen zum Tragen, die die Frage der Authentizität mit der Farbe des Films verknüpfen. Keineswegs geht es in der folgenden Passage aber nur um die Unterscheidung zwischen farbigen und schwarz-weißen Film-Bildern: MI: Ja also (.) dadurch dass schon dieser (.) also wenn man jetzt zum Beispiel neue Filme sieht oder äh Serien sieht, die sehr zeitgemäß sind wie weiß ich nicht, Gute Zeiten Schlechte Zeiten oder so, die sind immer sehr hell dargestellt und die Klamotten sind sehr hell, und (.) wirklich so zeitgemäß, aber die Filme aus der DDR finde ich bei allen, sind immer so ein bisschen dunkler, die haben eine an- einen anderen Farbton, //mhm// und das ist jetzt auch bei den der Turm so, u:nd auch zum Beispiel dass die (.) Trabis da so sind u:nd dass die ganzen Klamotten, die sind so ein bisschen dunkler, und das finde ich immer das ist sofort für mich DDR oder //mhm// beim Zweiten Weltkrieg, also wenn Filme über den Zweiten Weltkrieg kommen, dann sind die noch ein bisschen dunkler, und dadurch also das finde ich immer so total (.) spannend irgendwie, dass man das so (.) °macht immer @(.)@°56

Die hier von der Braunschweigerin Michaela vorgetragenen Gedanken zum „Turm“ und dessen farblicher Gestaltung ermöglichen einen nochmals differenzierteren Blick auf Farbe des Spielfilms als Authentifizierungs-Ressource. Auch hier wird der Unterschied zwischen historischer Quelle und Darstellung negiert: Die Jugendliche spricht über den „Turm“ als ein Beispiel für „Filme aus der DDR“. Darin zeigt sich erneut, dass die farbliche Qualität der Bilder aus einer historischen Zeit mit der 54 So der erste Teil der berühmten Definition von Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), H. 1. S. 1-8. Hier S. 2. 55 Das vielzitierte Ende der Zeitzeugenschaft bezeichnet Jan Taubitz als einen „seit mehr als dreißig Jahren existierende[n] Topos der Holocaust-Erinnerung.“ (Taubitz, Jan: Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft. Göttingen 2016, S. 10.) Gleichwohl wird der Topos derzeit mehr und mehr zur empirischen Tatsache, womit sich auch die Epochengrenze der Zeitgeschichte verschiebt. Dass dies für einige Jugendliche offenbar bereits der Fall ist, dass also die Geschichte des Nationalsozialismus als längst vergangene Zeit gilt und keine Verbindung ins Heute aufweist, deuten die besprochenen Passagen augenfällig an. 56 Transkript MI, BS, Z. 252-262.

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farblichen Gestaltung audiovisueller Erzählungen über eine Zeit aus der Sicht der jungen Zuschauer*innen übereinstimmend gestaltet sein sollte. Sowohl Filmdokumente als auch gegenwärtiges filmisches Erzählen über die DDR sind für die Rezipientin mit einer ganz bestimmten Farbe verbunden. Michaela skizziert ein Spektrum von Farbtönen, das nicht unmittelbar von der Unterscheidung zwischen Schwarz-Weiß und farbigen Bildern, sondern von einer graduellen Abstufung auf einer Hell-Dunkel-Skala charakterisiert ist. Innerhalb dieses Spektrums verbindet sie eine „sehr hell[e]“ Farbgebung mit der Gegenwart, die etwa in der Soap Opera „Gute Zeiten Schlechte Zeiten“ zu beobachten sei. Entsprechend könnten auch farbige Bilder dunkler oder heller gestaltet sein, etwa mit heller farbiger Kleidung und anderen Ausstattungsstücken eines Films. Je weiter jedoch die thematisierte Epoche zurückliege, desto dunkler wirkte die farbliche Gestaltung der Filme auf sie. Der Zweite Weltkrieg würde folglich „noch ein bisschen dunkler“ dargestellt, als dies bereits für die DDR-Geschichte der Fall sei. Interessant ist an dieser Stelle, dass dieses Spektrum nicht nur eine zeitliche Achse von der Gegenwart bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück mit einer Hell-Dunkel-Skala kombiniert. Zudem wählt die Zuschauerin als Beispiel für „hell“ dargestellte Produktionen ausgerechnet die bekannteste und erfolgreichste deutsche Soap Opera aus, einen Inbegriff des Erzählens fiktiver Geschichten. Diesem Beispiel stehen in ihren Ausführungen historische Erzählungen gegenüber. Darin lässt sich erkennen, dass authentisches historisches Erzählen für Michaela mit einem farblichen Eindruck von Dunkelheit assoziiert ist, oder anders gewendet: Geschichte ist visuell nur dunkler zu erzählen als die Gegenwart, um authentisch zu sein. Je länger vergangen die Geschichte zudem ist, desto stärker wird sie mit dunklen Bildern assoziiert. Im Überblick über die Authentifizierungs-Ressource Farbe im Spielfilm ist deutlich geworden, wie relevant dieses Element für die Zuschreibung von Authentizität für einige jugendliche Zuschauer*innen ist. Die farbliche Gestaltung von Spielfilmen, die Geschichte erzählen, vermittelt einigen Gesprächspartnern*innen einen Eindruck davon, inwiefern es sich bei der Darstellung um authentische historische Erzählungen handeln könnte. Dabei sind die erzählten historischen Epochen eng mit Erwartungen an deren farbliche Umsetzung verbunden, und einiges deutet darauf hin, dass es die Filmdokumente der jeweiligen Zeit sind, die einen Standard, eine visuelle Norm auch für die gegenwärtige Erzählung über diese Zeit setzen. Insgesamt möchte ich diese Authentifizierungs-Ressource als eher subtil wirksam beschreiben, ihre Relevanz gerade aufgrund dessen jedoch als hoch einschätzen. Die Farbgebung eines Spielfilms wie „Der Turm“ ist über den gesamten Verlauf des Filmes ein wesentliches visuelles Merkmal desselben, ohne immer im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen. Wenn den Jugendlichen dies auffällt, und die Farbgebung zudem mit einem offenbar „erlernten“ Farbton einer historischen Epoche stark verknüpft ist, dann wirkt sich diese Übereinstimmung maßgeblich auf die Zuschreibung von Authentizität aus. Insbesondere die Tatsache, dass diese „erlern-

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ten“ Farbtöne der dominanten Farbgebung der visuellen Dokumente der dargestellten Zeit entstammen, macht die Farbe des Spielfilms zu einer wichtigen Authentifizierungs-Ressource, indem sie die Unterscheidung von historischer Quelle und Darstellung der Geschichte negiert und somit die Authentizität von Filmdokumenten auf filmische Darstellungen überträgt. Bei den bis hierhin herausgearbeiteten Authentifizierungs-Ressourcen handelt es sich um Elemente beziehungsweise Eigenschaften und stilistische Mittel des Spielfilms und seiner Art des Erzählens, die für die jugendlichen Zuschauer*innen einen spezifisch historischen Fluchtpunkt aufweisen. Die Ressource der Farbe des Spielfilms etwa ist für die Rezipienten*innen ein Charakteristikum des „Turms“, das konnotativ auf historische Zeiten verweist und damit authentifizierend bedeutsam ist. Für die Frage, inwieweit weitere erzählerische Mittel des Spielfilms für die Authentifizierung von seinen Zuschauern*innen mit herangezogen werden, geraten darüber hinaus aber auch Aspekte in den Blick, die auf einer nicht spezifisch historischen Ebene dafür sorgen, dass die Jugendlichen den Spielfilm für authentisch halten. Diese Aspekte sollen im Folgenden betrachtet werden. Es handelt es sich dabei um historisch unspezifische Ressourcen der Authentifizierung, insofern sie nicht historisch ausgerichtet sind, sondern hier allgemeine Charakteristika des Erzählens relevant werden, die „nur“ indirekt die Authentizität der historischen Erzählung aus Sicht der Zuschauer*innen stützen. Ein Beispiel, das sich aus den theoretischen Betrachtungen zum Begriff der Authentizität ergibt und das diese Unterscheidung besser veranschaulichen kann, wäre etwa die personale Authentizität, mit der die Schauspieler*innen ihre Figuren darstellen: Eine besonders gelungene Darstellung einer Filmfigur, die sie als menschlich glaubwürdig erscheinen lässt, besitzt zunächst keine historische Spezifik. Die glaubhafte Darstellung einer Figur als Ergebnis einer schauspielerischen Leistung ist für Filme, die nicht Geschichte darstellen, ebenso bedeutsam wie für historische Audiovisionen. Gleichwohl könnte sie für die Einschätzung, es in einem Spielfilm wie dem „Turm“ mit einer historisch glaubwürdigen Story zu tun zu haben, für die Zuschauer*innen eine Relevanz besitzen. Damit würde ein historisch unspezifisches Merkmal des Films zu einer Ressource zu dessen Authentifizierung. Diese Ressourcen, so lässt es sich bereits im Vorfeld einer eingehenden Analyse feststellen, weisen eine große Bedeutung für den Prozess der Authentifizierung auf. Sie zeigen sich in vielen Interviews, und stellen dort auch qualitativ ein oft gewichtiges Argument für die Authentizität der filmischen Erzählung dar. In einer Interviewsequenz mit dem Abiturienten Thorsten kommt seine Bewertung der Inszenierung zur Sprache. Deutlich wird, dass auch, wenn dieses Merkmal zunächst nichts mit Geschichte zu tun hat, es mittelbar seinen Eindruck unterstützt, einen historisch verlässlichen Film zu sehen:

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 219

I: Mhm. Würdest du sagen würdest du das diesen Stempel auf den Film den Turm drücken? TH: (1,5)

Ja ich denke schon.

I: (.) Warum? TH: (.) Naja weil also der Film kam alleine schon mal deswegen ein bisschen authentischer rüber, weil es jetzt einfach nicht (.) äh ein Film ist, der von Action oder v- Spezialeffekten so gelebt hat ne, es war halt ein Film, wo wirklich halt auch nur also wo man sich dann auch an (.) manchen Passagen so (.) ich weiß nicht, also ein normaler Kinogänger würde jetzt wahrscheinlich sagen so oah, das ist mir jetzt ein bisschen zu langweilig ne? aber wenn man sich dann wirklich so mit der Sache beschäftigt also (.) ich gucke mir solche Filme in der Freizeit nicht soviel an und äh aber ich habe mich halt hier hingesetzt und habe mir gedacht so, du achtest jetzt einfach mal auf das, was dann halt in dem Film passiert ne? und nicht halt so auf das Außenherum, auf die Verpackung oder sowas. und ich habe dann halt auch wirklich darauf geachtet, wie der Film einfach wie das alles inszeniert wurde, (.) wie ähm die Sachen einfach dargestellt wurden, und das war für mich halt in keinster Weise irgendwie übertrieben; (.)57

In dieser Passage zeigt sich, dass die Bewertung der Inszenierung durch die Zuschauer*innen eine Relevanz als Authentifizierungs-Ressource aufweist. Thorsten leitet seine Gedanken ein mit einer grundsätzlichen Bewertung der Art, wie der Film seine Story erzählt. Der Film sei „alleine schon mal deswegen ein bisschen authentischer“, weil er nicht von „Action oder v- Spezialeffekten“ geprägt sei. In seiner Schilderung löst der Verzicht auf diese Mittel der Inszenierung eine besondere Haltung aus, die Thorsten in der Folge gegenüber dem Spielfilm einnimmt. Er grenzt diese Haltung von seinen üblichen Gewohnheiten ab und achtet stattdessen „jetzt einfach mal auf das, was dann halt in dem Film passiert ne? und nicht halt so auf das Außenherum, auf die Verpackung oder sowas.“ Erst durch diese ungewohnte Praxis des Filmanschauens stellt sich bei ihm letztlich das Gefühl ein, dass die Darstellung „für mich halt in keinster Weise irgendwie übertrieben;“ sei. Der Verzicht, den „Turm“ besonders spektakulär zu inszenieren, stellt für den Rezipienten einen Grund dar, eine besondere Haltung gegenüber dem Film einzunehmen. Diese Haltung resultiert aus seiner Einschätzung, dass die Inszenierung des ARD-Zweiteilers gewisse Aspekte vermeidet. Er setzt in seiner Argumentation implizit ein Ideal, wie Filme authentisch erzählen könnten, und grenzt dieses Ideal vor einem negativen Horizont ab. Dieser Horizont scheint in seiner Argumentation durch, wenn der Zuschauer Filme mit „Action oder v- Spezialeffekten“ dem „Turm“ gegenüberstellt, welcher durch eine gegenteilige Art der Inszenierung geprägt sei. Der „normal[e] Kinogänger“ sei eher an Darstellungsweisen gewöhnt, die nicht „zu langweilig“ seien, und so scheint es für Thorsten auch ungewohnt, einen

57 Transkript TH, BS, Z. 928-947.

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so nüchtern erzählenden Film anzusehen. Wie ist dieser negative Horizont, vor dem sich „Der Turm“ positiv, das heißt als besonders authentisch absetzt, zu verstehen? Der Vergleich zu weiteren Interviewpassagen erlaubt Antworten auf diese Frage: Auch andere Jugendliche dokumentieren in den Gesprächen einen Horizont, vor dessen Hintergrund sie die Inszenierung bewerten. Nicht selten sind ihre Ausführungen mit einem Schlagwort verbunden: „Hollywood“. So zieht der Magdeburger Jugendliche Tim eine scharfe Grenze zwischen den amerikanischen Produktionen aus Los Angeles und deutschen Filmen, die sich auf die Inszenierung bezieht, sich aber offenbar auf die wahrgenommene Darstellung von Wirklichkeit auswirke. Er behauptet über den „Turm“: „nee, so würden die das in Hollywood nie machen, sondern einfach (.) das ist wirklich so, dass man da (.) ähm (.) sagt ja, so ist=es.“58 Darin drückt sich nicht nur die Überzeugung aus, „Der Turm“ sei eine authentische Erzählung; zudem zeugt dies von einer subjektiv erheblichen Kluft zwischen dem deutschen Zweiteiler und Filmen der Marke „Hollywood“. In dieser Kluft dokumentiert sich ein erlerntes Wissen über Spielfilme unterschiedlicher Herkunft und mutmaßlich auch Genres. In einer Sequenz dieses Gesprächs, vor der die amerikanische Verfilmung des Stauffenberg-Stoffs mit Tom Cruise in der Hauptrolle zur Sprache kam, führt Tim diesen Unterschied zwischen Hollywood-Produktionen und deutschen Filmen detaillierter aus: I: Als- Tom Cruise, du hattest ja vorhin schon das Stichwort Hollywood genannt, //mhm// ähm (.) macht das n Unterschied, ob das in Hollywood oder in Deutschland oder ob das ein deutscher oder ein Hollywood-Film ist? TI: Ja. I: └Für dich? TI: Auf alle Fälle. (.) Äh wenn ich mir nen Hollyw- Hollywood-Film angucke, dann weiß ich immer es kommt irgendwas (.) so (.) naja was ich mir jetzt hier nicht so: (.) so direkt vorstellen kann, es kommen immer irgendwelche Kulissen, wo ich sage, okay, das sieht alles wunderschön aus, aber (.) ich weiß jetzt nicht wo=es ist oder so, //mhm// und wenn ich mir jetzt ähm den Turm angucke oder was weiß ich abends nen Tatort, oder sowas, dann kenne ich zum Teil die Plätze, und kann mir wirklich (.) anders nochmal vorstellen, was da wirklich passiert ist. //mhm// so: sind das immer irgendwelche Dinger, die vor ner Leinwand gedreht werden oder mit Computer bearbeitet //mhm// und so weiter. ähm das ist halt alles nochmal ein Stück weit mehr erfunden und wei- äh weiter weg von der Realität, finde ich. also (.) wenn ich weiß okay, den Platz gibt=es wirklich, da=ist so das passiert, dann: kann ich mir das noch besser vorstellen.59

58 Transkript TI, MD, Z. 59-61. 59 Transkript TI, MD, Z. 198-217.

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In seinen Überlegungen treffen zwei unterschiedliche Vorstellungen aufeinander, wie Filmwelten beschaffen seien. Auf der einen Seite sieht Tim die Welt in Hollywood-Produktionen als konstruiert an, als aus „Kulissen“ bestehend. Das Gütekriterium für die Beurteilung dieser Filmwelten stellt denn auch die Ästhetik dar, und in der Tat gelinge es amerikanischen Filmen, dass „alles wunderschön“ aussehe. Davon setzen sich deutsche Spielfilme – Tim bleibt mit seinen Beispielen „Der Turm“ und „Tatort“ im Bereich fiktionalen Erzählens – deutlich ab. Hier ginge es darum, dass die dargestellten Orte in der realen Welt für ihn wiedererkennbar seien. Wenngleich seine Argumentation aufgrund der vorhergehenden Gesprächsthemen auf die Kategorie „Orte“ beschränkt bleibt, so zeigt doch dieses Wiedererkennen einen anderen Blick auf das Dargestellte: Die entscheidende Frage richtet sich nicht mehr auf die Ästhetik der Filmwelt, sondern auf das, „was da wirklich passiert ist“. Die realweltliche Verankerung des Gezeigten stellt somit den Fluchtpunkt seiner Wahrnehmung dar und steht dem Kriterium der Ästhetik bei Hollywood-Erzählungen gegenüber. Filme unter dem Schlagwort „Hollywood“ könnten ersteres nicht erfüllen, gingen doch diese Filme sogar soweit, dass das Publikum seinen Augen nicht trauen könne, insofern durch den „Computer“ die Bilder ihrer letzten Glaubwürdigkeit beraubt würden. Somit legt Tim hier eine Unterscheidung fiktionaler Inszenierungen vor: Die Produktionen Hollywoods seien „nochmal ein Stück weit mehr erfunden und weiäh weiter weg von der Realität,“. Damit erkennt er die Fiktionalität auch anderer Spielfilme wie dem „Turm“ zweifellos an, das Wiedererkennen realweltlicher Orte jedoch versetzt derartige Spielfilme grundsätzlich in die Lage, authentische Geschichten zu erzählen. Wenn hier also eine Unterteilung fiktionaler filmischer Erzählungen dokumentiert wird, zeigt sich darin eine Verbindung der Frage, wie erzählt wird, mit der Frage, was erzählt wird: Die Art, wie Hollywood inszeniert – mit Spezialeffekten und Nachbearbeitung der Bilder – besitzt einen Einfluss auf die Einschätzung des Erzählten und seiner realweltlichen Verknüpfung. Diejenigen Erzählungen, die sich von Hollywoodproduktionen möglichst stark absetzen und sich nicht der genannten Mittel der Inszenierung bedienen, werden als grundsätzlich authentischer wahrgenommen. Eine Passage aus dem Gespräch mit der Abiturientin Stacy kann diesen Unterschied zwischen Hollywood-Produktionen und Spielfilmen, die eher wie der Fernsehzweiteiler inszenieren, weiter schärfen. Sie dreht sich um die Darstellung antiker Geschichte in einem Spielfilm, konkret um das von ihr eingeführte Beispiel „Troja“ – ein sehr bekanntes Beispiel für einen modernen Historienfilm à la Hollywood. Auch Stacy zieht einen Vergleich heran, um die Authentizität des „Turms“ argumentativ zu untermauern:

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I: Aha. ähm und wie würdest du den Turm da einordnen? ST: Ob er viel Wahrheit hat oder //mhm// (.) ähm (3) äh ich würde auf jeden Fall sagen, dass er mehr Wahrheit (.) enthält als Troja, weil @ah ich@ ((lacht)) I: @(.)@ ST: Äh, das ist so (.) ja wenn man das jetzt auch vergleicht, Troja ist ja wahrscheinlich kommt ja aus Amerika oder so, und äh das ist ja jetzt ein deutscher Spielfilm (.) und (4) weiß ich nicht, ich finde auch die deutschen Schauspieler, die (.) ja ich das ist der Film der war halt auch nicht so künstlich bearbeitet oder so künstlich, ich weiß nicht ob das ob künstlich das richtige Wort ist, aber halt so (.) so dass das wirklich so ge- gespielt war, so und bei @wenn wir jetzt wieder Troja nehmen@ //mhm// das das ist das ist halt so wirklich (.) () das ist halt das könnte auch Science Fiction oder irgendwie sowas //mhm// das ist so f- für mich so gesp- für mich so gespielt also das ist ist für mich auch nicht echt.60

Stacy dokumentiert hier ebenfalls den Gegensatz zwischen deutschen und Hollywood-Produktionen. Bezüglich des „Turms“ als Beispiel ist sie überzeugt, „dass er mehr Wahrheit (.) enthält“. Den Vergleich zu „Troja“ empfindet sie buchstäblich lächerlich, so als wären beide Beispiele in der Frage nach ihrer Authentizität derart unterschiedlich, dass sie unmöglich in ein Verhältnis gesetzt werden könnten. Entscheidend dafür sind die Begriffe „künstlich“, „bearbeitet“ und „gespielt“, denen sie implizit „natürlich“, „unbearbeitet“ und eventuell „nicht gespielt“ gegenüberstellt und mit jenen den amerikanischen Blockbuster, mit diesen den deutschen Fernsehfilm charakterisiert. Bemerkenswert und allemal erkenntnisreich für die Frage nach phantastischem Erzählen ist ihre Erwähnung des Filmgenres „Science Fiction“, in dessen unmittelbare Nähe sie „Troja“ rückt. Eine Erzählung über die Belagerung Trojas als Science Fiction? Die Abiturientin ist sich durchaus im Klaren darüber, dass Troja eine historische Stadt ist, ein Film darüber somit nur schwerlich eine Utopie sein kann. Dennoch bezeichnet sie den Blockbuster mit einem Genre, das par excellence für phantastisches Erzählen, das heißt für die Darstellung utopischer, zweifellos nicht historischer Welten steht. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Hier wird deutlich, dass es der jugendlichen Zuschauerin eigentlich nicht um die Frage geht, was denn in „Troja“ oder dem „Turm“ dargestellt werde. Sichtbar wird hier stattdessen, dass der Schwerpunkt auf dem Erzählen, der Frage nach der Art der Inszenierung liegt. In diesem Kriterium unterscheidet sich der deutsche Fernsehzweiteiler für die Jugendlichen so grundlegend von amerikanischen Kino-Blockbustern, dass das Bewusstsein über diese filmischen Differenzen authentifizierend wirksam ist.

60 Transkript ST, BS, Z. 1079-1093.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 223

Zwar wird von den Gesprächspartnern*innen meist nur angedeutet, worin die Unterschiede in der Inszenierung genau liegen – eine kulissenhaft konstruierte Filmwelt, die Nachbearbeitung der Bilder, der Einsatz von Spezialeffekten, das Gegenteil einer nüchternen Inszenierung – doch umso wichtiger scheint dieser grundlegende Unterschied zwischen „Hollywood“ und anderen Produktionen für die Authentifizierung des Gesehenen zu sein. Dass die Jugendlichen nicht ausführen, auf welchen Beobachtungen der filmischen Eigenschaften diese Einschätzung denn genau beruht, spricht dafür, dass sie aus einer Vielzahl filmischer Merkmale intuitiv einen sicheren Eindruck gewinnen, mit welcher Art der Produktion sie es zu tun haben. Filme, die nicht den Anschein erwecken, aus amerikanischer Produktion zu stammen und nach diesem Muster zu inszenieren, besitzen für sie dann offenbar einen erheblichen Vorsprung im Hinblick auf ihre Möglichkeiten, Geschichte authentisch zu erzählen. Dass weder die amerikanische noch die deutsche Filmindustrie derart uniform je ein einziges Schema, ein Ensemble immer wiederkehrender Elemente der Inszenierung einsetzen, ist davon freilich unbestritten – in der Wahrnehmung der Zuschauer führen diese Stereotypen bezüglich der Inszenierung jedoch zu relativ dichotomen Einschätzungen, die die Authentizität des Erzählten im Falle der Hollywoodproduktionen eher stören, im anderen Fall, sprich: bei denjenigen Filmen, die in ihrer Inszenierung gerade nicht an „Hollywood“ erinnern, die Authentizität eher subjektiv stützen. Darin ist auch eine Beziehung zu der Ressource der historischen Marke der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in Deutschland erkennbar, die bereits diskutiert wurde: In „Hollywood“ ist ebenso ein Markenkern enthalten wie in der Authentifizierungs-Ressource des Fernsehsenders des „Turms“. Doch während gerade die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland eine Instanz glaubwürdigen historischen Erzählens repräsentieren, handelt es sich bei „Hollywood“ offenbar nicht um eine Marke für authentische Geschichte im Film, die sich unter den jugendlichen Zuschauern*innen etabliert hat. Filme, die wie Hollywood-Produktionen wirken, nehmen die Jugendlichen als wenig authentisch wahr – umgekehrt scheint für authentisches historisches Erzählen im Spielfilm wichtig, sich in der Art der Inszenierung klar von amerikanischen Blockbustern abzusetzen. Diesen Aspekt der Differenz zu Hollywood-Produktionen als eigenständige Authentifizierungs-Ressource zu bezeichnen, wäre jedoch voreilig. Vielmehr stellt der wahrgenommene Kontrast in der Art der Inszenierung einen Aspekt einer umfassenderen Ressource dar, die sich zwar auch in der Abgrenzung zu amerikanischen Filmspektakeln niederschlägt, sich darin aber keineswegs erschöpft. Wenn es dabei im Kern darum ging, dass die Künstlichkeit und künstlerische Konstruiertheit der Inszenierung gegen die Authentizität amerikanischer Filme spräche, dann zeigt sich dieses Muster auch anhand anderer Aspekte des Spielfilms. Die Abgrenzung von

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„Hollywood“ ist somit nur eine Ausprägung einer Authentifizierungs-Ressource, die auch in anderer Form sichtbar wird. Als Beispiel dient etwa eine sehr kurze Passage aus dem Gespräch mit Magdalena, die beinahe beiläufig eine sehr aufschlussreiche Bemerkung äußert. Die Magdeburgerin hat genau vor diesem Punkt im Interview jene Szene des Spielfilms gesehen, in der „Der Turm“ im zweiten Teil davon erzählt, wie die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft über den Dresdner Hauptbahnhof in die BRD gebracht werden. Mehrere Hauptfiguren befinden sich am Ort des Geschehens, wenn auch in sehr unterschiedlichen Funktionen: Als Wehrdienstleistender der NVA soll Christian Hoffmann den Bahnhof evakuieren helfen, während seine Mutter Anne auf der Seite der Demonstranten steht und für einen friedlichen Protest eintritt. Magdalena trägt an dieser Stelle ihre eigene Einschätzung dieser Szene vor: I: Ähm (.) was ist konkret an dieser Szene äh:: für dich echte Geschichte? MAG: Ähm (.) eben die Besetzung des Bahnhofs, °durch die Soldaten und die Polizei,° //mhm// ich g:laube (.) au:ch dass die eigentlich keine Gewalt anwenden wollten, ( ) denn die haben ja dann auch geschrien keine Gewalt, keine Gewalt, a::uch die Mutter, (1,5)

ja.

(3) I: Und was is- was ist für dich dann ausgedacht daran? MAG: Zum Beispiel dass der Sohn gerade von ihr da auch mit stand, dass die sich getroffen haben, (1)

und er dann °auch so ausgerastet ist,° //mhm// und zu ihr wollte. 61

In dieser Antwort liefert sie zweierlei: Einerseits benennt sie jene Elemente der Handlung, die ihr in der Szene als authentisch erscheinen, und vor allem ist es hier der Topos von Repression und Gewalt, der ihr als authentische Darstellung der DDR-Geschichte erscheint. Aufschlussreich ist jedoch auch, wo die Zuschauerin diese Authentizität infrage stellt: Andererseits nämlich bezieht sie sich hier auf die besondere Figurenkonstellation der Szene, die sie mit dem Attribut „ausgedacht“ statt mit „echte[r] Geschichte“ verbindet. Dieser Zuschreibung liegt ein Unbehagen zugrunde, das sich aus einem Blick auf die Dramaturgie des Spielfilms in dieser Szene speist. Sie kritisiert implizit, „dass der Sohn gerade von ihr da auch mit stand“, und bezieht sich damit auf die dramaturgische Entscheidung, in einer von ihr als historisch glaubwürdig bezeichneten Szenerie beide Protagonisten in einer Szene zusammentreffen zu lassen. In ihrer Betonung wird deutlich, dass die Dramaturgie offenbar in Magdalenas Augen eine Grenze überschreitet. Dass zu einem historischen Ereignis ausgerechnet zwei Familienmitglieder unabhängig voneinander aufeinandertreffen und zu allem Überfluss „er dann °auch so ausgerastet ist,°“, dass also die Figur Christian Hoffmann sich gewaltsam gegen die eigenen Kameraden und die Kräfte der Volkspolizei wendet, um seine Mutter vor den Schlägen der 61 Transkript MAG, MD, Z. 116-128.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 225

Gummiknüppel zu schützen – das ist in den Augen der Abiturientin zu viel des Guten. Der Film durchbricht mit dieser dramaturgischen Entscheidung, beide Figuren an einem historischen Ort während eines historischen Ereignisses aufeinandertreffen und handeln zu lassen, eine imaginäre Grenze, die Zweifel an seiner Authentizität weckt. Er widerspricht einem implizit geäußerten Ideal, dass nämlich der Zufall im Leben die Regel sei – und damit ein derartiges Zusammentreffen wie in der gezeigten Szene des Fernsehzweiteilers äußerst unwahrscheinlich und nicht-zufällig erscheint. Darin zeigt sich empirisch, welche Bedeutung – der theoretische Verweis erscheint hier sinnvoll – das Konzept der Authentizität auch für die Rezeption von audiovisuellen Erzählungen besitzt. Unter dem Begriff des „Paradoxon des Authentischen“62 habe ich verhandelt, dass Erzählungen aus der Sicht der Narratologie dann authentisch seien, wenn sie sich durch eine „‚vermittelte Unmittelbarkeit‘“ 63 auszeichneten. Genau dieser wesentliche Baustein des Konzepts der Authentizität findet sich in dieser Authentifizierungs-Ressource wieder: Mit der Konzentration mehrerer Protagonisten während eines im Film dargestellten, als historisch wahrgenommenen Ereignisses durchbricht die Dramaturgie eine Schwelle, an der die Erzählung plötzlich als nicht mehr unmittelbar, sondern vielmehr als konstruiert und komponiert erscheint und so eben nicht mehr authentisch wirken kann. Aus dramaturgischen Gesichtspunkten ist diese Entscheidung nachvollziehbar, die Bahnhofsszene stellt einen Höhepunkt im Spannungsverlauf des Zweiteilers dar und führt mehrere Konflikte und Handlungsstränge hier in einem Kristallisationspunkt zusammen. Allerdings zerstört eben diese erzählerische Verdichtung in den Augen einiger Jugendlicher den Eindruck, dass der Film auf gewisse Weise unmittelbar die Geschichte erzähle. Stattdessen tritt hier für die Rezipientin die Komposition und Konstruiertheit der Erzählung zutage. Im Resultat stellen sie und andere das Figurenhandeln in einen klaren Gegensatz zu den für sie historischen Ereignissen am Dresdner Hauptbahnhof, was subjektiv von weitreichender Tragweite ist: Aus einer fiktionalen Erzählung, in der fiktive Figuren authentisch in einer historischen Welt handeln, wird für die Abiturientin Magdalena stattdessen eine fiktionale Erzählung, in der eben diese Figuren nur noch auf einer historischen Bühne, jedoch ohne eigene Authentizität, ohne glaubhafte Verbindung zu den historischen Ereignissen stehen. Das historische Ereignis in der Erzählung des Films bleibt ein solches, aber die Figuren verlieren jegliche Authentizität. Den Einfluss der Dramaturgie des Spielfilms auf dessen Authentifizierung führt auch Valentina näher aus:

62 Zeller 2010, S. 8; siehe Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit. 63 Pirker/Rüdiger 2010, S. 18.

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I: […] (.) ist der Film für dich (.) glaubwürdig? VA: (1,5)

Nicht ganz. (1)

weil es zuvie:l äh (.) also ich sage=es mal so zuviel

aktives Handeln in einer Familie in einem Umfeld war würde ich es mal sagen, im Sinne von, (.) man hat nur Vater Mutter Kind, und das sind drei komplett verschiedene Sachen. die Mutter keine Ahnung politisch engagiert sonstwas, der Vater eher dagegen, machtbesessen Arzt, und der Sohn ist auch wiederum eine komplett andere Richtung, ich glaube das hat man selten. dann der Verle::ger, dieses poltische Drucken, und diese ganzen Zufälle, dass er auch am Bahnhof, steht, während seine Mutter da ist, //mhm// und (.) war ein bisschen (.) zuviel des Guten, in dem Sinne, aber es war trotzdem (.) es war jetzt (3) es war scho:n (.) in Maßen realistisch, also nicht so sehr ich denke auch nicht, zum Beispiel dass die Frau in der eigenen Wohnung diese ganzen Leute versammelt da, obwohl sie weiß, dass ihr Mann ja jetzt bei der Stasi war und so, //mhm// und äh dass das so Zufälle beziehungsweise zu große Widersprüche gewesen wären. //mhm// (.) um das jetzt (.) obwohl es das natürlich interessanter macht, gerade diese Widersprüche, beim Zuschauen aber (.) I: Inwiefern? VA: Naja man (.) hätte man nur eine Sichtweise:: gehabt, wäre der Film glaube=ich langweilig gewesen, weil man nur eins hat und dann nervt das die ganze Zeit nur das eine das selbe zu sehen, aber wenn man halt diese komplett drei verschiedenen vier fünf verschiedenen Richtungen hat, dann ist da auch mehr los. @also@ I:

└Aha.

VA: @Action im deutschen Film sozusagen,@ °auf verschiedenen ja.° I: Und warum macht diese zuviel Action, diese zuviel des Guten wie du sagst, den Film unglaubwürdig? VA:

└Naja┘ es macht ihn ja nicht (.) es macht ihn nicht unglaubwürdig, es ist alles halt

immer noch so dargestellt, dass die einzelnen Geschichten (.) die sind trotzdem noch glaubhaft, also (.) es- es ist ja nicht (.) nix Fantastisches oder so, man glaubt das ja alles, ich glaube auch, dass es sich alles abgespielt hat, aber (.) dass es zusammen in einem so v- (.) praktisch zusammen in einem auf- in so einem kleinen Umfeld passieren könnte, das ist halt (.) dieses komplett Verschiedene, //mhm// weil ich denke, wenn man sich so in einem Umfeld bewegt, ist ja immer noch (.) meistens so, dass man eine ähnliche Richtung geht, //mhm// und hier war das halt nicht so und (.) dass das (.) diese Entwicklung, diese starke, diese so krasse Entwicklung, //mhm// bisschen zuviel war, aber ich würd- (.) aber, weil es ein Film ist, kann ich=es auch nachvollziehen, weil man wil- will ja in kurzer Zeit viel darstellen, und da zeigen, deshalb fand ich das jetzt nicht schlimm. das hat gar nicht gestört.64

Die jugendliche Rezipientin setzt am gleichen Kritikpunkt an wie zuvor Magdalena: Sie greift die Komposition der Figuren auf und stellt insbesondere die Protagonisten-Familie in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit infrage. Dass „drei komplett verschiedene Sachen“, das heißt drei Menschen, die vollkommen unterschied64 Transkript VA, MD, Z. 1128-1171.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 227

lich mit dem DDR-Regime umgehen, in einer Familie zusammenkommen, ist für Valentina ein klares Signal dafür, an der Authentizität des Films zu zweifeln. Die Zusammenstellung dieser Figuren hält sie für „zuviel des Guten“, und letztlich zweifelt sie daran, dass es sich um „Zufälle“ handelt. Vielmehr ist sich die Jugendliche absolut darüber im Klaren, dass die Figurenkonstellation auf einer Entscheidung der Filmemacher beruht – und Valentina zeigt sogar ausdrücklich Verständnis dafür. Damit drückt sie den Widerspruch aus zwischen dramaturgischen Verdichtungen auf der einen Seite, die die Erzählung „natürlich interessanter“ machten und verhindern, dass der Film „langweilig“ werde. Auf der anderen Seite steht für sie jedoch implizit die Vorstellung einer historischen Filmwelt, die sich durch ihre Durchschnittlichkeit und Normalität auszeichnet. Die Resultate der dramaturgischen Verdichtungen, ganz konkret die Existenz so unterschiedlicher Verhaltensweisen und Überzeugungen wie diejenigen, die sich in der Film-Familie zeigen, seien nicht mit dieser Normalität vereinbar. Das Handeln der Figuren selbst stellt sie wohlgemerkt nicht infrage: „die einzelnen Geschichten (.) die sind trotzdem noch glaubhaft, also (.) es- es ist ja nicht (.) nix Fantastisches oder so, man glaubt das ja alles, ich glaube auch, dass es sich alles abgespielt hat, aber (.) dass es zusammen in einem so v- (.) praktisch zusammen in einem auf- in so einem kleinen Umfeld passieren könnte,“ – erst die dramaturgische Zusammenstellung der Figuren stellt für sie einen Bruch der Authentizität dar. Aus dem Widerspruch zwischen Dramaturgie und Normalitätserwartung resultiert für die Jugendlichen gewissermaßen ein allgemeines Dilemma der Authentizität und der Authentifizierung, und im Falle des „Turms“ konstatieren auch andere Rezipienten*innen, dass dieses Dilemma in der filmischen Umsetzung nicht erfolgreich aufgelöst werde.65 Darin wird auch die Qualität dieser AuthentifizierungsRessource erkennbar: Das hier vorgeführte Beispiel der Sichtbarkeit der Dramaturgie, konkret einer Figurenkonstellation, die zu stark komponiert erscheint, wird dann relevant, wenn sie ein für die Zuschauer*innen akzeptables Maß überschreitet. Unterhalb dieser Schwelle gerät die Dramaturgie erst gar nicht in ihr Blickfeld. Überschreiten die dramaturgischen Konstellationen, die sich im Film zeigen, jedoch ein Maß, das sich an einer zum Ideal erklärten Normalität orientiert, und rückt die Dramaturgie somit erst in den Fokus der Zuschauer*innen, so ist dies der Zuschreibung von Authentizität hinderlich. Ich hatte bereits argumentiert, dass die angesprochenen Aspekte der nüchtern gehaltenen Inszenierung, die sich klar von audiovisuellen Erzählungen der Marke „Hollywood“ abgrenzt, und auch die Nicht-Sichtbarkeit der Dramaturgie keine eigenständigen Ressourcen der Authentifizierung darstellen, die die jugendlichen Rezipienten*innen zur Einschätzung des Spielfilms heranziehen. Vielmehr erscheint 65 Siehe neben den zitierten Beispielen ebenfalls die Transkripte AN, BS, Z. 654-658; LP, MD, Z. 865-867; TH, BS, Z. 1532-1566.

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mir sinnvoll, diese Aspekte einer Authentifizierungs-Ressource zuzuordnen, die mit der Unsichtbarkeit des Erzählens bezeichnet werden kann. All den dargestellten Beispielen liegt dieses Ideal letztlich zugrunde: dass die Erzählung dann besonders authentisch erscheint, wenn der Film die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer*innen nicht auf die Art und Weise lenkt, wie er die Handlung erzählt und filmisch umsetzt, und sie sich stattdessen der Handlung selbst widmen können. In den vorgeführten Beispielen – dem Verzicht auf Computer-Nachbearbeitungen und Spezialeffekte (oder der Nutzung solcher, die nicht erkannt werden), aber auch der Filmdramaturgie, die einer erwarteten Normalität gleicht – dokumentieren die Jugendlichen dieses Ideal der Unsichtbarkeit des Erzählens, das für sie damit eine höchst bedeutsame Ressource zur Authentifizierung des Spielfilms darstellt. Damit kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass Spielfilme von vielen Jugendlichen dann für authentische Erzählungen gehalten werden, wenn die erzählte Handlung im Vordergrund steht, das Erzählte hingegen nicht konstruiert oder künstlich erscheint, sich gewissermaßen unmittelbar den Rezipienten*innen präsentiert und der Vorgang des Erzählens somit unsichtbar bleibt und nicht in den Fokus der Rezeption rückt. Dieses Gefühl ist jedem, der regelmäßig Spielfilme schaut, bekannt: Ein einzelner Moment, ein kleines Detail des Films kann dafür sorgen, dass man als Zuschauer*in aus der Welt herausgeworfen wird, in die man sich empathisch hineinbegeben hatte. Dabei mag es sich um eine schwache schauspielerische Darbietung handeln, einen misslungenen Spezialeffekt oder eben eine wenig glaubwürdige, dramaturgische Verdichtung, die die Illusion der Fiktion aufhebt – auch für die Zuschauer*innen historischer Spielfilme existieren diese Momente und können, wie sich gezeigt hat, die Zuschreibung historischer Authentizität beeinträchtigen. Dass die herausgearbeitete Ressource für die Einschätzung, es mit einer historisch glaubwürdigen Erzählung zu tun zu haben, wohl eher mittelbar bedeutsam ist, haben die Auszüge aus den Interviews gezeigt. Am Beispiel der Protagonisten der Story wurde dies deutlich: Problematisch war zunächst die dramaturgische Zuspitzung, so unterschiedliche Charaktere in einer Familie zusammenzubringen. Dies hatte auch Einfluss auf die Einschätzung der Jugendlichen, inwiefern es sich bei ihnen um historisch glaubwürdige Figuren handelte. Wenngleich die Ressource der Unsichtbarkeit des Erzählens nicht per se eine historische Spezifik aufweist, so wirkt sie sich dennoch auf die Authentizität der Darstellung aus. Die bis hierhin herausgearbeiteten Ressourcen beziehen sich allesamt auf das Erzählen des Spielfilms, auf das Wie?, also auf seine filmischen Mittel und Eigenschaften und deren Wahrnehmung durch die jugendlichen Rezipienten*innen. Gleichwohl wurde vor allem in der Ressource der Unsichtbarkeit des Erzählens auch deutlich, dass der Blick auf das Erzählen in einer direkten Verbindung zum Erzählten, zum Was? steht. So blicken die Jugendlichen natürlich nicht nur darauf, wie der Spielfilm Geschichte erzählt, sondern ebenso darauf, was er erzählt. Für die Einschätzung, inwieweit „Der Turm“ in ihren Augen eine authentische Erzählung

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über das letzte Jahrzehnt der DDR darstellt, spielt ihr Blick auf die Handlung und die Einschätzung derselben eine grundlegende Rolle. Die dabei sichtbaren Ressourcen sollen im Folgenden eine präzise Analyse erfahren. Als erstes Beispiel für einen Blick auf das Erzählte, der die Jugendlichen in ihrer Einschätzung der Authentizität bestärkt, kann etwa eine Sequenz aus dem Gespräch mit der Magdeburger Schülerin Grit dienen. Sie wird explizit auf die Authentizität des Spielfilms angesprochen und begründet ihre Einschätzung auch: I: […] gibt=es bestimmte Szenen, die dir besonders wahrheitsgetreu erscheinen? oder die dir wahrheitsgetreuer als andere erscheinen? GR: ((atmet laut aus)) (2)

also (3)

ich

denke mal mit der Stasi eigentlich, als er ihn als er Richard da in diesem Hauseingang anspricht, °denke ich schon, (.) weil ähm (.) das halt auch so dieses dieses Prinzip glaube=ich war, dass allgegenwärtig zu sagen so, ähm° (.) ja der (.) ich meine der Drill in der (.) Armee da so ein bisschen, das finde ich auch, es ist ja (.) ganz sicher so gewesen, dass sie da (.) ähm sehr streng erzogen wurden, und halt wirklich in jedem Moment dann vielleicht auch auf eigene Landsleute zu schießen, das war ja ganz wichtig, dass es irgendwie auch so=eine (.) so Leute bereitstanden, die dann alles gemacht haben, was das für das System richtig war. und ähm (.) gleichzeitig aber auch zu zeigen, dass es halt auch menschliche Seiten gibt, und so kleine (.) Sachen, wie halt dieses äh rausschleichen, äh zum Notfall im Arztzimmer, //mhm// und man halt danach auch gesagt bekommt, dass es wahr ist, ähm ja also es gab immer wieder es also eigentlich (.) hatte ich jetzt keine Szene, wo ich gedacht habe, das ist aber jetzt echt überhaupt nicht möglich oder so, //mhm// sondern (.) eigentlich so der ganze Film (.) war halt in seiner Gesamtheit für mich sehr überzeugend. 66

Zunächst beginnt die Antwort von Grit in der zitierten Passage auf die Frage nach besonders wahrheitsgetreuen Szenen – ein Mittel im Interviewleitfaden, das die Detaillierung der Antworten fördern sollte – mit einem Ausatmen, Pausen und einem nach Orientierung suchenden „also“. Offenbar benötigt die Jugendliche einen Augenblick, um sich auf eine Szene des Spielfilms festzulegen, die in ihren Augen zur Beantwortung der Frage nutzbar wäre. Die Erzählung der Szene gerät dann ausgesprochen kurz: „mit der Stasi eigentlich, als er ihn als er Richard da in diesem Hauseingang anspricht,“. Genau betrachtet benennt die Interviewpartnerin damit gar keine Szene, sondern zunächst eine im Film verhandelte Thematik, die „Stasi“. Erst im Anschluss gestaltet sie diese Thematik sogleich mit dem knappen Verweis auf eine Szene aus, in der der Protagonist Richard Hoffmann von einem anonymen „er“ angesprochen wird. Insofern benennt sie einen historischen Themenbereich im Spielfilm, den sie für besonders glaubwürdig dargestellt hält.

66 Transkript GR, MD, Z. 962-982.

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Erkenntnisreich ist auch, wie sie diese Thematik einleitet: Mit ihrem Ausspruch „ich denke mal“ verknüpft sie ihre eigene Einschätzung der Authentizität mit einem aus ihrer Sicht allgemein geteilten Wissen. Die Formulierung erscheint beispielsweise in Situationen angebracht, in der eine Befragte eine Antwort geben soll, die durchaus nicht die einzig mögliche, wohl aber orientiert an den Erwartungen des*der Gesprächspartners*in ist. Vorstellbar sind etwa Prüfungssituationen: Dem Gegenüber kommt die Phrase „ich denke mal“ inhaltlich entgegen und kündigt eine Aussage an, die der*die Fragende erwarten könnte. Dass Grit sich hier also mit dieser Einleitung auf die „Stasi“ bezieht, drückt vor allem aus, dass sie ihre Einschätzung, dieser Themenbereich sei im Film sehr authentisch dargestellt, für absolut konsensfähig und möglicherweise von ihrem Gegenüber erwartet hält. Zugleich zeigt sich darin aber auch, dass das Wissen über dieses Thema als weitverbreitet und gemeinschaftlich geteilt gelten kann. Mit der „Stasi“ spricht Grit freilich einen zentralen Topos im Diskurs über die DDR an.67 Gesellschaftlich ist die Thematisierung der DDR-Geschichte fast immer eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit und dessen Repressionsapparat verbunden. Dass die Jugendliche in dieser Sequenz als erstes eben diese Thematik als besonders glaubwürdig einführt, zeigt somit auch, inwiefern dies im Prozess der Rezeption authentifizierend wirkt: Die filmische Darstellung dieses Themas scheint für sie deckungsgleich mit dem kollektiv geteilten und auch dem ihr subjektiv verfügbaren Wissen über die „Stasi“ in der DDR. Grits eigenes Bild von der „Stasi“ und ihre Einschätzung des öffentlichen Sprechens über die DDR als repressives System liefern aus ihrer Sicht Argumente für die Glaubwürdigkeit der Darstellung dieses Themas im „Turm“. Sie stellt die filmische Darstellung ihrem Geschichtsbild68 in der vorgestellten Passage gegenüber, wenn auch implizit: Nachdem sie das Thema mit der dazugehörigen Szene eingeführt hat, argumentiert sie für deren Authentizität mit Verweis auf allgemeinere Wissensbestände: „°denke ich schon, (.) weil ähm (.) das halt auch so dieses dieses Prinzip glaube=ich war, dass allgegenwärtig zu sagen so, ähm°“. Hier 67 Vgl. etwa Gieseke, Jens: Die Stasi und ihr IM. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München 2009. S. 98-108. 68 Der Begriff des Geschichtsbilds entstammt der Geschichtsdidaktik, die darunter „das stabilisierte Gefüge der historischen Vorstellungen einer Person oder Gruppe“ versteht. Die hier von Grit vorgetragenen Vorstellungen von der „Stasi“ können damit als „ein mehr oder minder fixer Bestand vermeintlich sicheren historischen Wissens“ begriffen werden, aus dem sie sich im Sinne einer Ressource für die Authentifizierung des Spielfilms bedient. Beide Zitate Demantowsky, Marko: Geschichtsbild. In: Mayer, Ulrich et al. (Hg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2006. S. 82. Siehe auch Schneider, Gerhard: Geschichtsbild. In: Bergmann, Klaus et al. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. überarb. Aufl. Seelze-Velber 1997. S. 290-293.

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verlässt sie in ihrer Argumentation die Betrachtung des Spielfilms, was sie durch Partikeln wie „halt auch so“ oder die Phrase „glaube=ich“ dokumentiert. Stattdessen thematisiert sie ein allgemeines, ihr bekanntes, historisches „Prinzip“, das sie offenbar auch aus anderen Kontexten kennt und das zu ihrem Geschichtsbild von der „Stasi“ gehört. Dieses individuelle Bild deckt sich mit der filmischen Erzählung – filmisches Narrativ und ihr individuelles Geschichtsbild lassen sich für sie problemlos in Kongruenz bringen. Es ist genau diese Möglichkeit des Passend-Machens, die für sie maßgeblich die Authentizität des Fernsehzweiteilers stützt, schließlich taucht sie als erste und damit bedeutsamste Ressource in ihrer Argumentation auf. Auch jenseits des Topos „Stasi“ zeigt sich in der Folge dieselbe Authentifizierungs-Ressource: In diesem Teil der bereits zitierten Passage stellt die junge Rezipientin dem im Film dargestellten Bild eigene Überzeugungen und Wissensbestände gegenüber: GR: ich meine der Drill in der (.) Armee da so ein bisschen, das finde ich auch, es ist ja (.) ganz sicher so gewesen, dass sie da (.) ähm sehr streng erzogen wurden, und halt wirklich in jedem Moment dann vielleicht auch auf eigene Landsleute zu schießen, das war ja ganz wichtig, dass es irgendwie auch so=eine (.) so Leute bereitstanden, die dann alles gemacht haben, was das für das System richtig war.69

Zunächst spricht sie hier über das im Film („da“) Gesehene. Unmittelbar im Anschluss bewertet sie dies im Hinblick auf die Authentizität des Erzählten und bestätigt diese „ganz sicher“. Deutlich wird jedoch, dass diese Bestätigung keineswegs auf einem präzise benennbaren Wissensbestand, etwa einer Jahreszahl oder einem historischem „Faktum“, sondern auf einer verhältnismäßig diffusen Grundlage beruht. Die Magdeburger Jugendliche kann keineswegs den „Drill“ in der Armee mit einem konkreten Beleg versehen, der ihrem historischen Wissen entspringt. Vielmehr zieht sie hier einen Schluss, der sich nicht aus einem konkreten Faktenwissen, sondern einer diffusen Gemengelage ihres Geschichtsbildes ergibt: Subjektiv tritt ihr Wissen über das DDR-Regime in Erscheinung, das sich in der repressiven Durchdringung des Lebens der Bürger*innen, aber auch im Schießbefehl und dem unbedingten Willen des „Systems“ zum Machterhalt ausdrückt. Auf der Grundlage dieses eigenen Geschichtsbilds von der DDR als Unrechts- und Repressionsstaat authentifiziert Grit die Darstellung des Filmes im Motiv des „Drill[s]“, die ihr vor der Folie ihrer individuellen Kenntnisse als zweifelsfrei glaubwürdig und plausibel erscheint. Filmisches Narrativ und individuelles Geschichtsbild erweisen sich somit als kompatibel, was hier als Grundlage für die Authentifizierung der Darstellung dient.

69 Transkript GR, MD, Z. 971-976.

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Diese Beobachtung, dass das subjektive Geschichtsbild einer Rezipientin und dessen Übereinstimmung beziehungsweise Vereinbarkeit mit der filmischen Erzählung vor allem diffus wirksam sind, lässt sich als Charakteristikum der Authentifizierungs-Ressource Übereinstimmungen der filmischen Narrative mit dem individuellen Geschichtsbild beschreiben. Überwiegend zeigt diese sich nicht als ein solcher Teil der Filmrezeption, in dem bewusst und analytisch das eigene Geschichtsbild mit den Bildern des Filmes abgeglichen wird. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen vor allem unbewusst und kontinuierlich verlaufenden Prozess des Kompatibel-Machens und In-ein-Passungsverhältnis-Setzens von Film und individuellem Geschichtsbild, das die Rezipienten*innen vollziehen. Dieser Vorgang zeigt sich in sehr vielen narrativen Passagen der Interviews wie auch in der Folgenden, in der Cem das Filmende erzählt: CE: […] und dann gab=s noch (.) in d- in seiner (.) Stasizeit muss ja dann der Junge irgendwie also=es war ja in Leipzig alles, hat er so=nen Befehl bekommen, dass äh am Bahnhof der Zu- erste Zug also da wurde schon bekannt gegeben, dass (.) die ersten (.) DDR (.) äh (.) Einwohner in den Westen gehen, da kam der Zug aus Prag glaube ich, durch Leipzig und (.) dann haben haben haben haben halt schon welche protestiert und so, und mit Kerzen auf die Straße gegangen war glaub ich symbolisch alles gemeint gewesen, //mhm// und da hat halt (.) die Polizei und die Stasi dann in dem Fall alles abgeriegelt am Bahnhof und in dem Fall war dann der Sohn auch dabei und die Mutter auf der anderen Seite die (.) die Revolution angezettelt hat glaube ich, ah ja doch mit den ganzen Flyern davor, (.) und (.) ja und dann wurde seine (.) also wurde die Mutter von ihm irgendwie (.) der Freund von der Mutter wurde dann irgendwie zusammengeschlagen, und dann ist die Mutter dazwischen gegangen, hat der Junge das gesehen, auch dazwischen gegangen, (.) ja und dann wurde er glaube ich nochmal verurteilt, (da eigentlich) aber nur auf dass er nur //mhm// auf in diesem Stasigelände bleiben durfte mit seinem Freund, //mhm// die letzten zwei Monate die er absolvieren musste, (.) ja und zum Schluss (.) wurde die DDR aufgelöst °glaub ich.° //mhm// ja (.) also hauptsächlich war das die (.) es war nicht die Anfangs-DDR-Zeit sondern eher so zum Schluss so (.) wo die Revolution begann und (.) die Mauer dann fie:l und (.) °alle immer (.) raus und rein durften und so Westen Osten alles dann vereint wurde. das war=s°. 70

Cem berichtet von der Bahnhofsszene im „Turm“, die den dramaturgischen Höhepunkt der Handlung bildet und die Ereignisse am Dresdner Hauptbahnhof darstellt, der gewaltsam geräumt wurde, um die Geflüchteten mit dem Zug aus der Prager Botschaft in die Bundesrepublik zu bringen. Während seiner Schilderung wechselt er immer wieder zwischen der Beschreibung des Filmhandlung und dem historischen Narrativ, das er im Prozess der Rezeption daraus macht. So sind beispielsweise historisch konnotierte Begriffe wie „Leipzig“, „der Zug aus Prag“, „die Re70 Transkript CE, BS, Z. 165-184.

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volution“ oder auch „die Mauer“ keineswegs expliziter Teil des „Turms“, sondern müssen, wenn sie in der Nacherzählung auftauchen, einen anderen Ursprung haben. Sie entstammen freilich seinem Geschichtsbild, seinem Wissen und seinen Vorstellungen, die der Jugendliche subjektiv über die DDR besitzt. In der Nacherzählung und im Prozess der Rezeption verschränken sich so die Darstellung des Films und das individuelle Geschichtsbild zu einer Lesart, die viel mehr ist als das, was in Bildern und Tönen dargestellt wird.71 Wenn also die Jugendlichen – die zitierte Passage steht beispielhaft für viele vergleichbare Sequenzen der Filmnacherzählung – das im Film Sicht- und Hörbare mit ihrem eigenen Geschichtsbild verknüpfen und ergänzen, zeigt sich darin auch die Relevanz dessen für die Authentifizierung der historischen Erzählung: Lässt sich das Geschichtsbild der Jugendlichen und die Darstellung des Filmes weitestgehend bruchlos zu einem kombinierten historischen Narrativ ergänzen (das in den Interviews Ausdruck findet), so wirkt im Umkehrschluss das subjektive Geschichtsbild authentifizierend auf die filmische Darstellung. Passt das Gesehene zu dem, was die Zuschauer*innen über die Geschichte wissen (oder zu wissen glauben), handelt es sich beim Film für sie um eine authentische Erzählung von Geschichte. Im Gegensatz zu dieser unbewussten beziehungsweise meist nicht explizit thematisierten Relevanz, die die Vorstellungen über die DDR für die Authentifizierung des Films besitzen, finden sich auch Passagen, in denen historisches Wissen ganz explizit als Ressource herangezogen wird. Gleichwohl muss betont werden, dass solche Verweise deutlich seltener zu finden sind. Dennoch vergleicht zum Beispiel Ludwig-Theodor in der folgenden Passage ausdrücklich die Darstellung des Films mit dem, was er über den Sachverhalt weiß: LT: Wahre Geschichte deswegen, weil: (.) ich jetzt von der DDR (.) also von meinem Wissen über die DDR und so weiter auch eher solche Sachen weiß, also nicht nur aber (.) //mhm// auch solche Sachen, dass eben wirklich die Stasi überall ist, dass man system::kritisch kaum ne Chance hat, dass man: unterdrückt wird als Individuum, dass (.) man sich an:passen muss und so weiter und das wurde ja im Film alles gezeigt, //mhm// und deswegen kann ich mir das durchaus vorstellen, also dass: es nicht nur Leute gab, die wirklich mitgemacht haben, ist selbstverständlich, und dass jetzt in der NVA irgendwelche Rekruten dann Gedichte lesen und so weiter auch und (.) das ist das sind alles so Sachen, die ich mir durchaus vorstellen könnte, dass sie in echt passiert sind, und die sind sicher auch in echt passiert, //mhm// und 71 Die Filmwissenschaft markiert diese Differenz mithilfe der Begriffe „Plot“ und „Story“, wobei jener das auf visueller und auditiver Ebene Gezeigte, dieser das damit Erzählte und Repräsentierte bezeichnet. Deutlich wird, dass die Aktivität des*der Rezipienten*in als notwendige Voraussetzung des Filmverstehens verstanden werden muss. Vgl. zu den Begriffen etwa Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse. 2., überarb. Aufl. Konstanz 2008. S. 112ff.

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ich glaube auch nicht dass alle (.) wirklich ausnahmslos alle irgendwie höher (.) angestellten: Leute also Ärzte oder so weiter in der Partei waren, (.) und (1)

ja al- all solche

Sachen, dass=ich das alles für: möglich halte. //mhm//72

Auch hier sind es ähnliche Topoi, die angesprochen werden, und die die DDR aus der Sicht des Jugendlichen charakterisieren. Insbesondere die Repression der DDRBürger steht im Zentrum seiner Ausführungen. Nachdem er sie benannt hat, führt er einen Vergleich zum im Film Dargestellten vor, und verwendet diesen als Argument für dessen Glaubwürdigkeit: „und deswegen kann ich mir das durchaus vorstellen“. In diesem expliziten Vergleich – gegenüber der unausgesprochenen Verzahnung von Film und Geschichtsbild, die in den Passagen zuvor sichtbar wurde – dokumentiert sich stärker eine beinahe analytische Handlung, die auf der Basis eigenen Wissens das im Film Gesehene bewertet und auf dieser Grundlage schließlich authentifiziert. Gleichwohl ist kaum sicher zu identifizieren, inwiefern diese Analyse tatsächlich strikt zwischen eigenem historischen Wissen und dem Spielfilm trennt.73 „dass eben wirklich die Stasi überall ist, dass man system::kritisch kaum ne Chance hat, dass man: unterdrückt wird als Individuum, dass (.) man sich an:passen muss“ – ob Ludwig-Theodor hier auf „Wissen“ zurückgreift, das er unabhängig vom Film erworben hat, ist zumindest fraglich. Zu unkonkret und zögerlich (siehe etwa die Wort-Dehnungen) formuliert sind die Bemerkungen einerseits, zu sehr passen sie zum filmischen Narrativ andererseits, um daraus abzuleiten, dass der Film hier von ihm sachlich auf seine Richtigkeit geprüft und für authentisch befunden wird. Plausibler erscheint, dass das Geschichtsbild des jugendlichen Rezipienten auch in diesem Fall eine enge Verbindung mit der Darstellung des Films eingeht und er erst im Nachhinein diese explizite Argumentation vorführt, um seine Bewertung mit einer sachlichen „Analyse“ zu untermauern. Diese Interpretation würde sich auch mit seiner historisierenden und analysierenden Rezeptionshaltung decken. Letztlich werden die filmische Darstellung und die individuellen historischen Vorstellungen aber während der Rezeption so stark miteinander verknüpft, dass sich

72 Transkript LT, MD, Z. 749-761. 73 Während Menschen in der Lage sind, sich eine unglaubliche und schier unendliche Zahl von Wissensbeständen zu merken, so gilt dies nicht für die Herkunft dieses Wissens. Dafür findet sich in der Literatur unter anderem der Begriff der „Quellen-Amnesie“ (Welzer, Harald: Die Medialität des menschlichen Gedächtnisses. In: BIOS 21 (2008), H. 1, S. 1527, hier S. 18), der nicht nur Oral Historians vor die unlösbare Aufgabe stellt, die Herkunft von Wissen und Erinnerungen zu bestimmen. Aus diesem Grund wird auch hier auf Mutmaßungen über die Herkunft bestimmter Elemente des individuellen Geschichtsbildes verzichtet, es sei denn, die Äußerungen der Jugendlichen lassen entsprechend aussagekräftige Rückschlüsse zu.

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beide nur analytisch, nicht jedoch empirisch im Wortlaut der Interviews voneinander unterscheiden lassen. Diese explizit vorgeführten Übereinstimmungen der filmischen Narrative mit dem individuellen Geschichtsbild stellen eine Authentifizierungs-Ressource für den Jugendlichen dar, die sich qualitativ von dem nicht explizit thematisierten, eher unbewussten Passend-Machen der filmischen Erzählung mit dem Geschichtsbild abhebt. Offen bleibt jedoch, wie sich dieser Unterschied auf die Bedeutsamkeit der Ressource auswirkt. Einerseits könnte der explizite Vergleich von filmischen Narrativen und eigenem Geschichtsbild individuell höchst bedeutsam sein, weil er eben eine bewusste, argumentativ hergeleitete, sachlich begründete Ressource darstellt. Andererseits erscheint denkbar, dass die Ressource gerade in ihrer impliziten, unreflektierten und diffus bedeutsamen Form für die Glaubwürdigkeit der Darstellung wichtiger wird, ist doch gerade der fiktionale Spielfilm ein Medium, das seine Zuschauer*innen auch jenseits der Kognition, in unbewussten und auch emotionalen Aspekten anspricht. Ohne die Antwort auf die Frage verallgemeinern zu wollen, so deuten die Ergebnisse hier darauf hin, dass die Relevanz in dieser Hinsicht nur differenziert, das heißt typenabhängig und individuell zu beantworten ist. Der sehr kühl und strukturiert argumentierende Ludwig-Theodor führt eben bewusst und explizit die Ressource ins Feld, während andere Jugendliche eher zu einer weniger reflektierten Rezeption des Films neigen und sich dies auch in einer anderen Ausprägung der Ressource niederschlägt. Für sie alle jedoch scheinen die Übereinstimmungen zwischen filmischem Narrativ und eigenem Geschichtsbild auf diese oder jene Weise als äußerst bedeutsam. Zudem ergibt sich aus beiden Arten, die Übereinstimmungen von filmischem Narrativ und individuellem Geschichtsbild zu thematisieren, ein deutlicher Eindruck: Fast ausnahmslos verfügen die Jugendlichen über ein weitestgehend negatives Bild von der DDR, das sie im Film bestätigt sehen. Es sind Topoi der Repression, Überwachung und Unfreiheit, die in so gut wie allen Interviews zur Sprache kommen und die das Wesen des Geschichtsbildes der Jugendlichen maßgeblich prägen. Die Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit nehmen dabei eine herausgehobene Stellung ein. Ihnen gegenüber stehen die unbescholtenen Bürger*innen der DDR, die ihren Alltag trotz der Zwänge des Systems gemeistert und sich friedlich die über vierzig Jahre lang vermissten Bürgerrechte erkämpft haben. Das Bild der DDR, das die Jugendlichen dokumentieren, ist insofern auch als ein Negativhorizont zu erklären, der sich von der Gegenwart der Jugendlichen abhebt – von den eingelösten und den versprochenen politischen Idealen in der vereinigten Bundesrepublik. Mit diesem Negativ gegenüber der freiheitlich-demokratischen Gegenwart der Jugendlichen treten sie an den Film und dessen Darstellung der DDR heran. Dabei finden sie viele der negativen Aspekte wieder, die ihrem eigenen Bild von der DDR entsprechen, was aus ihrer Sicht ein wichtiges Argument für die Authentizität der Darstellung bildet.

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Wie die subjektiven Vorstellungen der Jugendlichen im Prozess der Rezeption und Authentifizierung mit dem Filmbild verknüpft werden, lässt sich noch etwas genauer verstehen. Der Braunschweiger Abiturient Thorsten schildert die Demonstration vor dem Dresdner Hauptbahnhof am Ende des „Turms“ so: TH: ähm da gab es dann äh eine Schlüsselszene wo sie äh alle auf der Straße waren und buh gerufen haben und so, also haben die Leute dazu animiert auf die Straße zu gehen, haben so gerufen ab auf die Straße und dann haben sie später gerufen wir sind das Volk74

Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass er den Demonstranten im Film zunächst Worte in den Mund legt, die eher zur Schilderung eines Sportereignisses passen: Die Menge im Spielfilm ruft keineswegs „buh“, um ihrem Unmut Luft zu verschaffen. Vielmehr bringt Thorsten in die Beschreibung der Szene an dieser Stelle einen Bezugsrahmen aus seiner Alltagswelt ein, in dem Buhrufe etwas Gewöhnliches sind, etwa aus dem Erleben von Fußballspielen oder weniger unterhaltsamen Konzerten. Darin offenbart sich eine gewisse Unsicherheit über die historischen Implikationen der Szene: Welches Ziel die Demonstranten im Film verfolgen, scheint für ihn nicht ganz klar, sonst könnte er über die tatsächlichen Rufe der Filmfiguren Auskunft geben. Folglich überwindet er dieses Unverständnis während seiner Nacherzählung, indem er den Figuren mit einem verhältnismäßig bedeutungsarmen „buh“ Worte in den Mund legt, die für ihn einen Sinn ergeben. Eine tatsächlich historische Konnotation besitzt erst sein Verweis auf den Ausspruch „wir sind das Volk“. Damit bezieht er nicht weniger als eine zentrale Ikone der Friedlichen Revolution 1989 in seine Erzählung ein. Gerhard Paul beschreibt Ikonen als einen erinnerungskulturellen Begriff, mit dem symbolhafte „Kristallisationspunkt[e] kollektiver Erinnerung und Identität“ bezeichnet werden können. 75 74 Transkript TH, BS, Z. 230-233. 75 Gerhard Paul beschreibt visuelle Ikonen als Abbilder bedeutsamer geschichtlicher Ereignisse oder Personen, in denen sich vielfältig Bedeutungen verdichteten. Daraus resultiere ein enormer Symbolgehalt von medialen Ikonen, wodurch „sie zu Kristallisationspunkten kollektiver Erinnerung und Identität“ würden und als dominante Erinnerungsbilder auch individuell wirksam seien (direktes und indirektes Zitat: Paul, Gerhard: Bilder, die Geschichte schrieben. Medienikonen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Einleitung. In: Ders. (Hg.): Bilder, die Geschichte schrieben. 1900 bis heute. Göttingen 2011. S. 717. Hier S. 8.). Als bildliches Beispiel nutzt er etwa Fotografien der sogenannten „mushroom clouds“, die bis heute Symbole für atomares Wettrüsten, Kalten Krieg, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die Technisierung des Krieges im 20. Jahrhundert usw. sind. Da der Begriff Ikone nicht nur religiösen Ursprungs ist, sondern auch in der Zeichentheorie eine zentrale Rolle spielt, sehe ich keine Hindernisse, ihn nicht nur für visuelle Medien, sondern auch für auditive bzw. audiovisuelle zu verwen-

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Und tatsächlich haftet an kaum einem anderen zeitgenössischen Ausspruch die Erinnerung an die „Wende“ so stark, wie an diesem kämpferischen Ausdruck der Demonstranten*innen in der DDR.76 Er ist verbunden mit Vorstellungen von einer friedlichen Menge, einer Bevölkerungseinheit, die gegen ein System auf die Straße geht, was längst jegliche Legitimation verloren hat. Er ist verbunden mit Bildern der Montagsdemonstrationen, die seit den 1990er-Jahren in zahllosen Dokumentationen und zu Jahrestagen der Friedlichen Revolution auch in den Nachrichten immer wieder gezeigt werden. Der Ausruf ist nicht zuletzt verbunden mit den Aufnahmen von den „Mauerspechten“, die vor dem Brandenburger Tor mithelfen, die ersten Segmente des „Antifaschistischen Schutzwalls“ umzureißen, und in einer gesamtdeutschen, von Feuerwerk begleiteten Euphorie aufzugehen. „Wir sind das Volk!“ ist der Leitspruch, der in der Erinnerung an das Ende der DDR absolute Dominanz erlangt hat und damit zu einem Kristallisationspunkt, einer Ikone des kollektiven und öffentlichen Gedächtnisses avanciert ist. Diese enorme Bedeutung der Ikone mag die Ursache dafür sein, dass Thorsten den Figuren im „Turm“ diese Worte in den Mund legt, wohlgemerkt – wie die Analyse des Beginns dieser Passage zeigt – in einer Szene, deren historische Hintergründe er nur bedingt erfasst. Im Film rufen die Akteure tatsächlich andere Losungen, um sich Zugang zum Hauptbahnhof zu verschaffen und ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen.77 Dass der Interviewpartner aber hier diese Ikone in den Spielfilm projiziert, ist vor allem Ausdruck dafür, dass die Authentifizierungs-Ressource Übereinstimmungen mit dem individuellen Geschichtsbild eng mit derartigen, historischen Ikonen verbunden ist. Die Szene am Bahnhof wird für Thorsten hier authentisch, weil sie nahtlos anschlussfähig ist an eine ihm bekannte Ikone der Erinnerung an die DDR. Die Demonstration im Film passt aus seiner Perspektive zu jenem Bild, das er von Demonstrationen in der DDR besitzt, und das einen ikonenhaften Status aufweist. Mit demonstrierenden Massen ist für ihn offenbar unmittelbar der berühmte Ausruf verbunden – folglich wird diese historische Ikone mit der filmischen Darstellung problemlos vereinbar, sogar subjektiv impliziert und wirkt damit authentifizierend. den. Siehe dazu das Konzept der Erinnerungsorte: Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/M. 1998; Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR (=Schriftenreihe der bpb, Bd. 1116). Bonn 2010. 76 Dass dieser Ausspruch seit dem Jahr 2015 von fremdenfeindlichen Demonstrationen in ganz Deutschland kannibalisiert und seiner historischen Würde beraubt wird, spielt für die Interpretation an dieser Stelle keine Rolle – die Interviews wurden zeitlich vor der Entstehung von Phänomenen wie „Pegida“ und anderen geführt. Siehe dazu auch Wildt, Michael: Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburg 2017. 77 Sie rufen „Auf die Straße!“, „Wir wollen raus!“ und „Wir bleiben hier!“. „Der Turm“, 2. Teil, Timecode 1:14:51 bis 1:21:22.

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Der Bezug auf derartige Ikonen der Erinnerung an die DDR findet sich in den Gesprächen mit den Jugendlichen an mehreren Stellen. So ist etwa das Wiedererkennen der berühmten Pressekonferenz des Politbüromitglieds Günter Schabowski ebenfalls dieser Kategorie zuzurechnen. Die Szene, die am 9. November 1989 den Fall der Mauer und das Ende der deutsch-deutschen Teilung einleitete, wird im „Turm“ nicht gezeigt, wohl aber als Zitat in den Zweiteiler montiert: 78 Zwar finden weder die Original-Videoaufnahmen noch die tatsächliche Stimme Schabowskis darin als authentische Quelle Verwendung. Stattdessen werden die revolutionären Neuigkeiten als Radio-Übertragung inszeniert und von einer ähnlich klingenden Stimme nachgesprochen. Ihrer Authentizität tut das indes keinen Abbruch – mehrere Jugendliche erkennen die Pressekonferenz als jene Ikone der „Wende“ wieder,79 die Einzug in die kollektive Erinnerung an das Ende der DDR gefunden hat, nicht zuletzt, weil sie in unzähligen TV-Dokumentationen der Marke „ZDF History“ verwendet wurde. Es erscheint durchaus bemerkenswert, dass Ikonen keineswegs nur visuelle Phänomene sind: Ein weiteres Beispiel für eine Ikone, die im Film auftaucht und für seine Rezipienten*innen Bedeutung trägt, stellt die darin gesprochene Sprache dar. Dabei handelt es sich um eine auditive Ikone der Erinnerung an die DDR. So scheint der sächsische Dialekt – der keineswegs durchgängig präsent ist, sondern nur sehr sporadisch im „Turm“ auftaucht – für die Jugendlichen relevant zu sein. Eine Magdeburger Abiturientin hebt positiv hervor, dass im Film in einer Szene „ziemlich gesächselt“80 wurde, was aus ihrer Sicht dessen Authentizität stütze, schließlich werde damit Dresden als Ort der Spielfilmhandlung treffend dargestellt. Eine Jugendliche aus Braunschweig bezeichnet diesen Dialekt indes mit einem anderen Wort: „So (.) ostdeutsch.“81 Dies würde sie davon überzeugen, „[d]ass das (.) äh wirklich im Osten spielt, u:nd (.) dass das auch in der DDR-Zeit“82 spiele. Zweifellos ist dies eine der selteneren Stellen in den Interviews, an denen die unterschiedliche Herkunft der Interviewpartner*innen innerhalb Deutschlands rele-

78 „Der Turm“, 2. Teil, Timecode 1:22:00 bis 1:23:34 79 Vgl. Transkript VA, MD, Z. 506-509; Aufnahme TI, MD, 35:35-35:45. 80 Transkript MAG, MD, Z. 138f. 81 Transkript MI, BS, Z. 275. Zwar äußert die Jugendliche an dieser Stelle ihr Bedauern darüber, dass eben nicht „ostdeutsch“ gesprochen werde, für die Erörterung dieses Aspekts hat die negative Rahmung jedoch keine weitere Bedeutung. Das Fehlen des Dialekts zeigt ebenfalls, dass es sich für sie um eine bedeutsame AuthentifizierungsRessource handelt, die zwar für den „Turm“ nicht bedeutsam ist, grundsätzlich aber in dieser Funktion auftauchen könnte. 82 Transkript MI, BS, Z. 305.

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vant wird.83 Es ist mutmaßlich der sächsische Dialekt, wie er in unzähligen anderen Spielfilmen über die DDR immer wieder aufgegriffen und auch persifliert wird, den sie von der Darstellung im „Turm“ erwartet, und die sie der Authentizität der Erzählung versichern könnte. Die Braunschweigerin hätte den Dialekt wohl anders bezeichnet, würde sie aus den ‚neuen‘ Bundesländern stammen. Stattdessen drückt sich im Begriff „ostdeutsch“, der einen imaginierten Dialekt bezeichnet, den die Menschen in der DDR gesprochen hätten, eine erhebliche kulturelle Distanz zu den angenommenen Sprechern dieses Dialekts aus. Aus einem anderen Blickwinkel zeigt sich die gesprochene Sprache damit als Ikone, die aus der Sicht der Braunschweigerin dominant das öffentliche Erinnern an die DDR prägt und für die Authentizität des Films wichtig ist: Für die Jugendliche, der die DDR zeitlich und räumlich enorm fremd ist, die also eine starke Außenperspektive darauf einnimmt, ist eine einheitlich gesprochene Sprache, die sie trotz der grundsätzlichen Distanz zu dieser historischen Welt wiedererkennen kann, eine zentrale Ressource zur Authentifizierung der Erzählung. Erkennbar wird daran aber auch und vor allem eines: dass die Ikonen der Erinnerung, die als Authentifizierungs-Ressourcen wirksam werden, ganz maßgeblich von ihrer Präsenz in der Alltagswelt der jeweiligen Rezipienten*innen abhängen. Was für eine Magdeburger Jugendliche der zweifellos bekannte sächsische Dialekt ist, den sie im Spielfilm wiedererkennt und der somit für sie ein stimmiges Bild der Menschen in Dresden in der DDR ergibt, ist hier für eine Braunschweiger Abiturientin vor allem eines: eine plakative Reminiszenz an eine ihr fremde Zeit an einem weitestgehend fremden Ort. Dass sie für die Darstellung der DDR einen Dialekt erwartet, der für sie ein starkes Zeichen dafür wäre, dass es sich beim Dargestellten tatsächlich um die DDR der 1980er-Jahre handelt, verdeutlicht: Beim Prozess der Authentifizierung geht es vor allem darum, dass die individuellen Erwartungen an eine historische Erzählung – ob objektiv richtig oder nicht – für die Rezipienten*innen erkennbar erfüllt werden. Wie stark diese Vorstellungen von Ikonen geprägt sind, die auch in der Alltagswelt der Zuschauer*innen präsent sind, zeigt sich insbesondere an diesem Beispiel einer auditiven Authentifizierungs-Ressource. Das Wiedererkennen solcher Ikonen, die die gesellschaftliche Erinnerung an die DDR bis heute maßgeblich prägen, tritt noch in anderen Formen auf. Neben den nur hörbaren Ikonen sind es freilich auch visuelle Ikonen, deren Auftreten im Spielfilm die Jugendlichen von der Authentizität des Gezeigten überzeugen. So bezieht sich 83 Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Diese Beobachtung lässt sich nicht über den Einzelfall hinaus verallgemeinern; weder für das hier vorliegende Sample noch darüber hinaus handelt es sich hier um ein generalisierbares Phänomen. Dennoch erlaubt es Einblicke darin, wie die Sprache authentifizierend bedeutsam sein kann, wie Ikonen der öffentlichen Erinnerung authentifizierend wirksam werden und weiterhin darin, wie alltagsweltlich verortet dieser Prozess der Authentifizierung verläuft.

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Michaela auf das Fahrzeug der DDR schlechthin, das sie im Film vorfinde: „u:nd auch zum Beispiel dass die (.) Trabis da so sind u:nd […] (.) ja mit den Autos finde ich natürlich auch immer sehr gut, weil da passt einfach kein VW oder so rein,“84. Hier thematisiert sie nicht nur einen „Erinnerungsort der DDR“, der als bedeutungsträchtiges Symbol bis heute eine „repräsentative Rolle“85 in der Erinnerung an die unterschiedlichsten Facetten der DDR einnimmt. Vielmehr markiert sie zugleich eine Distanz zur Bundesrepublik, ob nun der historischen oder der gegenwärtigen, für die der Volkswagen ein ebensolches Symbol ist wie der Trabant. Darin wird auch deutlich, welche besondere Funktion Ikonen der Erinnerung in historischen Erzählungen wie dem „Turm“ versprechen: So sehr sie Kristallisationspunkte öffentlichen Erinnerns sind, so sehr erfüllen sie eine authentifizierende Funktion, indem sie höchst plakativ und mit maximalem Wiedererkennungswert Geschichte vergegenwärtigen können. Eine Ikone wie der „Trabi“ im Spielfilm stellt für viele Zuschauer*innen ein so klares, ein historisches Super-Zeichen dar, dass die Erzählung – auch ohne detailliertes historisches Wissen, wie manche Fallbeispiele zeigen – zweifelsfrei als historische Darstellung identifizierbar wird. Welch zentrale Rolle die Erwartungen der Rezipienten spielen, lässt sich darüber hinaus am Beispiel einer Passage zeigen, die sich den Schauplätzen der filmischen Erzählung widmet. Der Magdeburger Tim nimmt Bezug auf einige dargestellte Orte, die in seinen Augen verdeutlicht hätten, dass es sich bei der Film-Story um eine historische Erzählung gehandelt habe: I: Was sind das für Schauplätze, von denen du sprichst? TI: Äh das war jetzt zum einen glaub=ich der Marktplatz, °wo die Frauenkirche zu sehen war?° //mhm// ähm (.) […]86

Er führt diesen Ort durchaus zweifelnd ein, spricht leise und fragend über das Wahrzeichen Dresdens, das im Film gezeigt werde. Letztlich zeigt sich hierin ein ähnliches Muster, wie ich es bereits am Beginn des Kapitels vorgeführt habe: Im Spielfilm wird diese Ikone Dresdens, die sinnbildlich insbesondere für die Zerstörung der Stadt durch die alliierten Bombenangriffe 1945 sowie den Wiederaufbau nach der Wiedervereinigung steht, gar nicht gezeigt. Vielmehr handelt es sich erneut um eine Projektion seitens des Rezipienten, der im Film etwas sieht, das erst im Prozess der Rezeption zu einem Teil des Mediums wird. Dies liefert Einblicke darin, wie die Authentifizierung mithilfe derartiger Ikonen vor sich gehen könnte: Der Zuschauer nimmt die Authentizität der Darstellung auf der Grundlage von Au84 Transkript MI, BS, Z. 257f., 262f. 85 Merkel, Ina: Der Trabant. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München 2009. S. 363-373. Hier S. 373. 86 Transkript TI, MD, Z. 53-56.

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thentifizierungs-Ressourcen an, die in dieser Passage nicht geäußert werden, verbindet seine Einschätzung mit Ikonen, die für ihn eine Beziehung zur dargestellten, historischen Film-Welt aufweisen, und projiziert diese Ikonen letztlich in den Film – ungeachtet dessen, ob sie darin zu sehen sind oder nicht. Im Ergebnis der Rezeption ist damit nicht mehr voneinander zu unterscheiden, welche Eigenschaften oder Elemente des Films der Authentifizierung zugrunde liegen und welche erst in den Film projiziert werden – letztlich unterstützt aber auch die Ikone der Dresdner Frauenkirche, die nicht im Film, wohl aber in dessen Wahrnehmung durch den Jugendlichen auftaucht, seine Einschätzung, es bei der Filmwelt mit dem historischen Dresden zu tun zu haben. Die Erwartungen an den historischen Ort werden damit auf eine Stufe gestellt mit den Bildern, die der Film tatsächlich zeigt – und Authentifizierung damit zu einem Prozess, der vor allem von den Erwartungen und Vorstellungen der Zuschauer*innen abhängt. Hier und an anderen Stellen zeigt sich, dass sie bereit sind, ihre Erwartungen in der audiovisuellen Darstellung zu suchen und wiederzufinden – und insbesondere historische Ikonen als symbolische Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung spielen dabei eine zentrale Rolle. Ikonen, die die jugendlichen Zuschauer*innen im Film erkennen, dienen für sie gewissermaßen als Orientierungspunkt zur Identifizierung der Historie in der im Film dargestellten Welt. Die enorme Popularität dieser Ikonen – ob „Trabi“, „Wir sind das Volk!“, oder Günter Schabowskis berühmte Pressekonferenz – versichert sie unmissverständlich in ihrer Einschätzung, es handle sich bei der dargestellten Welt um eine historische. Gerade das Beispiel „Wir sind das Volk!“ unterstreicht aus der Perspektive einiger Rezipienten*innen zudem nicht nur eine allgemeine Verortung der Handlung in der DDR, sondern ermöglicht eine präzise zeitliche Einordnung der Handlung in der deutsch-deutschen Geschichte. Systematisch stehen diese Ikonen als Authentifizierungs-Ressourcen sehr nahe bei den zuvor beschriebenen Übereinstimmungen mit dem individuellen Geschichtsbild der jungen Zuschauer*innen. Selbstredend sind auch die Ikonen der Erinnerung an die DDR ein Bestandteil der Geschichtsbilder der Jugendlichen. Sie stechen aus ihren Vorstellungen, ihrem historischen Wissen, ihren Überzeugungen über die DDR jedoch insofern hervor, als dass es sich um Kristallisationspunkte handelt, die nicht nur für sie selbst, sondern auch in der kollektiven Erinnerung eine herausragende Bedeutung besitzen. Wo sie auftauchen, wird offenbar DDRGeschichte thematisiert. Wenn die Jugendlichen einen „Trabi“, „Wir sind das Volk!“-Rufe oder die berühmte Pressekonferenz sehen und hören, spricht dies aus ihrer Perspektive für die Glaubwürdigkeit der historischen Erzählung. In ihrer subjektiven Rezeption des Spielfilms wird das Erkennen der historischen Ikonen damit zu einer Authentifizierungs-Ressource, die ihren eigenen, aber auch den gesellschaftlich geteilten Vorstellungen vom Ende der DDR entspringt. Das individuelle Bewusstsein über die große Bedeutung dieser Ikonen im öffentlichen Sprechen über

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die DDR stützt umso mehr die Authentizität jener Erzählung, die diese Ikonen audiovisuell aufgreift. Diese beiden Authentifizierungs-Ressourcen, die Übereinstimmungen der filmischen Narrative mit dem individuellen Geschichtsbild sowie Ikonen des kollektiven Gedächtnisses, besitzen wohl die qualitativ und quantitativ größte Bedeutsamkeit in der Authentifizierung historischer Spielfilme – zumindest, was die Authentifizierung durch Elemente des Films selbst angeht. Eine große Zahl von Sequenzen findet sich in der Datengrundlage dieser Arbeit, die anhand unterschiedlicher thematischer Topoi letztlich immer dieselbe Authentifizierungs-Ressource dokumentieren, in ihrer thematischen Ausprägung jedoch vielfältig sind. Immer ist es die Vereinbarkeit und fortwährende Verknüpfung des eigenen Geschichtsbildes beziehungsweise historischer Ikonen mit den Bildern des Spielfilms, die eine wesentliche Grundlage des Authentifizierungs-Prozesses bildet. Die Kompatibilität beziehungsweise das In-ein-Passungsverhältnis-Setzen der filmischen Erzählung zu den Vorstellungen, die die Jugendlichen über die dargestellte DDR-Geschichte bereits besitzen, sorgt ganz vorrangig dafür, dass die Darstellung in ihren Augen authentisch wirkt. Angesichts ihrer enormen Bedeutung können beide Aspekte als SuperRessourcen der Authentifizierung bezeichnet werden. Ähnlich wie bei jenen Ressourcen, die sich auf die Mittel des Erzählens bezogen haben, finden sich auch im Blick auf das Erzählte darüber hinaus weniger spezifisch historische Aspekte, die für die jugendlichen Zuschauer*innen die Authentizität des Gesehenen stützen. So tauchen auch Ressourcen in den Gesprächen auf, die zunächst in keiner Weise einen historischen Bezug besitzen. Das Handeln der Figuren in der filmischen Erzählung stellt einen solchen Aspekt dar, der für die Rezipienten*innen von großer Bedeutung für die Frage nach der historischen Glaubwürdigkeit ist. In einer Interviewpassage mit dem Braunschweiger Jugendlichen Thorsten wird seine Bewertung des Figurenhandelns deutlich. Das Zitat setzt unmittelbar an der Stelle an, die hier bereits zitiert wurde; in der er nämlich zuvor den Verzicht auf Spezialeffekte im „Turm“ und damit die Inszenierung des Films thematisiert hatte: TH: […] und das war für mich halt in keinster Weise irgendwie übertrieben; (.) so die Sache zum Beispiel mit der Toilette, die da dargestellt wurde, ähm (.) das sind halt Sachen, äh wo iwo ich mir durchaus vorstellen kann, dass (.) sowas in der Art wirklich passiert ist, das muss jetzt nicht genau das gewesen sein; aber das sind halt auch Sachen, die heute noch irgendwo passieren können. in irgendwelchen Jugendcamps, wo dann Leute ähm (.) was weiß ich irgendwen verpetzt haben oder sowas äh wo die dann irgendwie so (.) gelyncht wurden. also ich kenne das selber, ich war mal im Jugendzeltlager auf Sylt, da wurde nicht sowas mit einem gemacht, aber (.) da wurde man dann mit unter die Dusche gezerrt oder sowas ne? das sind dann halt- das sin- das ist dann halt die Kinderversion von sowas ne? und ähm ich kann mir schon vorstellen, dass das jetzt bei solchen Sachen oder auch zum Beispiel im Gefängnis

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oder sowas, dass das dann unter den (.) Achtzehn bis Fünfundzwanzigjährigen halt so gehandhabt wird ne, dass die da erstmal den Großen markieren müssen und dann halt auch andere Leute unterbuttern müssen, und das ist jetzt halt nichts, was mich jetzt (.) also es hat mich schon ein bisschen geschockt, aber es ist halt nicht sowas wo ich mir dann so im ersten Moment gleich dachte so (.) ja, als ob das jetzt so passieren würde ne also, ich hab das dem Film eigentlich (.) ich hab dem das so geglaubt.87

Der junge Zuschauer nimmt hier Bezug auf eine Nebenhandlung im zweiten Teil des DDR-Epos, in der ein Rekrut bei der NVA, der ein Freund des Protagonisten ist, von seinen Kameraden gequält wird und schließlich auf einem Truppenübungsplatz zu Tode kommt. Auch für einige andere Interviewpartner*innen ist die „Toilettenszene“, in der die Quälereien der Kameraden extreme Ausmaße annehmen, ein negativer Höhepunkt des Films. Für Thorsten spielt die Bewertung der Handlung in dieser Szene eine wichtige Rolle für die Frage, wie glaubwürdig die Story für ihn ist. Am Beginn des Zitats reißt er die Szene nur knapp an. Bereits zuvor im Gespräch hatte er die Geschehnisse ausgiebig geschildert, sodass hier nur noch ein kurzer Verweis nötig ist. Statt einer Nacherzählung führt er hier jedoch seine persönliche Einschätzung des Erzählten aus. Die Szene dient ihm als ein Beispiel: „ähm (.) das sind halt Sachen, äh wo i- wo ich mir durchaus vorstellen kann, dass (.) sowas in der Art wirklich passiert ist“. Damit wird deutlich, dass die Beurteilung für weitere Teile der Handlung ebenso gültig ist, und es hat den Anschein, als wäre diese Bewertung auf den gesamten Film übertragbar. Gleichwohl wird ersichtlich, dass er beispielsweise in der Szene um das Mobbing bei der NVA keineswegs eine Darstellung konkret realer beziehungsweise historischer Ereignisse („das muss jetzt nicht genau das gewesen sein“), sondern möglicher Geschehnisse sieht, die nicht exakt so, sondern „in der Art wirklich passiert“ seien. Er hält das Dargestellte für absolut plausibel, und wir erfahren auch die Grundlage für diese Einschätzung. Er schlägt in seiner Argumentation eine Brücke zur Gegenwart, in der das Gleiche „heute noch irgendwo passieren“ könnte. Mit bemerkenswerter Detailgenauigkeit beschreibt er eine recht spezielle Situation, in der er in einem „Jugendcamp“ mutmaßlich selbst Erfahrungen mit Mobbing sammeln musste. Dass er das Wort „gelyncht“ verwendet, deutet an, wie extrem diese Erfahrung für den Jugendlichen persönlich gewesen sein mag, wenn er auch in seinen weiteren Ausführungen die Drastik dieses Wortes relativieren will. Mit einer solchen eigenen Erfahrung vergleicht er die Handlung des Zweiteilers, und er kommt zu der Einschätzung, dass die Darstellung des Figurenhandelns, verglichen mit menschlichem Handeln in der Gegenwart des Zuschauers, als glaubhaft einzuschätzen ist.

87 Transkript TH, BS, Z. 947-963.

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Auch an einer zweiten Szene führt Thorsten die Argumentation an dieser Stelle weiter aus. Die Zeit im Film, die der Protagonist Christian Hoffmann im Militärgefängnis verbringt, erscheint ihm ebenfalls in ihrer Darstellung als vollkommen plausibel. Wieder sind es hier die gruppendynamischen Prozesse, die sich „unter den (.) Achtzehn bis Fünfundzwanzigjährigen halt so“ abspielen würden. Nicht zufällig wählt er auch hier ein Beispiel aus dem Film, das er auf der Grundlage eigener Erfahrungen einzuschätzen imstande ist. Die Erfahrung von Mobbing, aber auch „den Großen markieren müssen und dann halt auch andere Leute unterbuttern“ unter männlichen Jugendlichen sind offenbar unmittelbar an sein gegenwärtiges Leben anschlussfähig und aus seiner Perspektive nachvollziehbar. Damit ist die Frage, für wie glaubwürdig der Rezipient die dargestellte Handlung hält, nicht nur von analytischer Relevanz für die Filmrezeption – sie betrifft ihn ganz persönlich und macht sie zu einem wesentlichen Moment der Aneignung der filmischen Erzählung. In der zitierten Passage wird klar, dass Thorsten hier überhaupt nicht mit historischen Argumenten für die Glaubwürdigkeit der Story argumentiert, sondern diese Ressource der Authentifizierung „nur“ mittelbar für ihn wirksam wird. Er bringt hier kein Wissen ein über die Zustände innerhalb der Nationalen Volksarmee oder in den Gefängnissen der DDR. Vielmehr bewertet er die Darstellung nach dem Kriterium der Plausibilität menschlichen Handelns, fragt sich also, inwiefern unabhängig von jeglichen historischen Bedingungen Menschen so handeln und miteinander umgehen, wie sie es in der Fernsehproduktion „Der Turm“ tun. Der Hintergrund der Gegenwart und der eigenen Erfahrungen im Handeln mit anderen Menschen stellt hier die zentrale Bewertungsfolie dar. Ähnliche Passagen finden sich im Überblick über die Interviewdaten sehr häufig, doch nicht nur ein derart „quantitativer“ Eindruck spricht für eine große Relevanz der Ressource der Plausibilität menschlichen Handelns, die von den Jugendlichen als authentifizierend betrachtet wird. Es ist die Verbindung der Story des Spielfilms mit der eigenen Alltags- und Erfahrungswelt, die nahelegt, dass die Ressource individuell enorm wichtig für die Authentifizierung des Gesehenen ist. Für die Frage nach der Plausibilität menschlichen Handelns kommen die individuellen Erfahrungen ins Spiel, die die Zuschauer*innen in ihrer eigenen Alltagswelt gemacht haben. Die unmittelbare Verknüpfung des eigenen Lebens mit dem Handeln der Figuren und dessen Bewertung ermöglichen jedem*r Zuschauer*in, auf der Grundlage eigener Erfahrungen und Erlebnisse die Plausibilität des Handelns selbst zu beurteilen – unabhängig von historischen Wissensbeständen. Wirklich jede*r Zuschauer*in verfügt somit über diese Ressource und kann sie zur Bewertung des Gesehenen heranziehen, wodurch sie so ein großes Potential erhält und bedeutsam wird. Über die erste Beobachtung hinaus, dass plausibles menschliches Handeln der Filmfiguren von einigen Jugendlichen authentifizierend wahrgenommen wird, erlauben die geführten Interviews noch weitere Erkenntnisse. So gewähren sie etwa

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einen Einblick darin, wie sich diese wahrgenommene Plausibilität menschlichen Handelns im Film auf der einen Seite zu auf der anderen Seite dezidiert historischen Argumenten für die Authentizität der Erzählung verhält. Im Gespräch mit Anja spielt die Plausibilität des Handelns der Figuren eine Rolle für die Authentifizierung des Gesehenen: I: Warum glaubst du, ist es keine erfundene Geschichte? AN: ((hustet)) (2)

@(.)@ ähm (2)

ja weil ich mir einfach vorstellen

kann, dass (.) ähm dass es so ein typisches Leben damals war in der DDR //mhm// dass es einfach so=ne (.) na ich will jetzt nicht sagen Durchschnittsge- Familie war, aber so=ne ja (.) Art Familie, wie es vielen ging irgendwie (.) also dass der Sohn irgendwie der (.) zur Wehrmacht gezogen wurde und (.) die Familie gucken musste, dass sie durchkommt, dass dann der Vater vielleicht (.) als Oberhaupt der Familie äh in die SED mit eintreten sollte, und wenn er das nicht tut, dann bekommt er halt das nicht, was er erreichen möchte und //mhm// (.) °ja.°88

Die Antwort beginnt zögernd und verlegen, die Jugendliche sucht angestrengt nach Argumenten dafür, dass es sich beim „Turm“ um „keine erfundene Geschichte“ handle – und führt in dieser Sequenz zweierlei Argumente ins Feld. Zunächst scheint das Gesehene mit dem Geschichtsbild, das die Jugendliche über die DDR besitzt, vereinbar zu sein. Ihre Argumentation beruft sich jedoch nur sehr vage auf historische Kenntnisse. Für sie scheinen die Tatsache, „dass der Sohn irgendwie der (.) zur Wehrmacht [sic!] gezogen wurde“, und darüber hinaus das Narrativ, dass „der Vater vielleicht (.) als Oberhaupt der Familie äh in die SED mit eintreten sollte“, zu ihrem Bild von der DDR zu passen. Erkennbar wird in beiden Aspekten jedoch, dass ihre Kenntnisse über die Gesellschaft der DDR nicht besonders fundiert sind – nicht nur der Begriff „Wehrmacht“ verdeutlicht dies. Vielmehr handelt es sich geradezu um Allgemeinplätze, die sie argumentativ ins Feld führt, die allerdings kaum als historische Argumente für die Authentizität der historischen Erzählung taugen. Darüber hinaus dokumentiert diese Passage, dass für sie die allgemeinen Dynamiken menschlichen Miteinanders für die Authentizität des Films eine Rolle spielen. In den Ausdrücken der „Durchschnittsge- Familie“ und der Einschätzung, dass diese ein „typisches Leben“ – hier sei die Betonung hervorgehoben – kommt diese nicht spezifisch historische Einschätzung des Figurenhandelns zum Ausdruck. Dass „die Familie gucken musste, dass sie durchkommt“, ließe sich als Behauptung für alle Familien zu allen Zeiten aufstellen – die jugendliche Zuschauerin bezieht sich auf zeitlich unspezifisches, menschlich plausibles Handeln, das sie im Agieren der Figuren erkennt. Bedenkt man zudem die nur begrenzten Kenntnisse über das Leben in der DDR, die Anja hier dokumentiert, wird deutlich, dass es 88 Transkript AN, BS, Z. 899-908.

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ebenso wie beim Jugendlichen Thorsten die Einschätzung ist, inwiefern die Hauptfiguren menschlich plausibel handeln, die hier zur Authentifizierung herangezogen wird. Dass Anja die Authentizität der Erzählung beurteilt, indem sie das Figurenhandeln auf seine allgemeine Plausibilität hin überprüft, zeigt darüber hinaus, dass diese Ressource für sie aus einer Position heraus wichtig wird, in der sie das Gesehene nicht vor einer Folie historischer Kenntnisse bewerten kann. Damit ist die Einschätzung, die Figuren des Spielfilms handelten menschlich nachvollziehbar und plausibel, eine Authentifizierungs-Ressource, die vor allem dann eine größere Bedeutung erhält, wenn spezifisch historische Kenntnisse zur Beurteilung des Erzählten fehlen.89 Die Plausibilität menschlichen Handelns kann somit nicht nur als historisch unspezifische, sondern zudem als Authentifizierungs-Ressource des Defizits beschrieben werden, die einigen Rezipienten*innen als „Rückzugsposition“ dient, wenn ihnen spezifisch historische Argumente für die Authentizität des Gesehenen fehlen. Gleichwohl soll dies jedoch nicht heißen, dass die Plausibilität des Handelns der Figuren nur in diesen Fällen eine Rolle spielt. Dieses Kriterium findet auch die Aufmerksamkeit jener jugendlicher Rezipienten*innen, die auf fundiertes Wissen über die erzählte Zeit der DDR zurückgreifen können. So findet sich in der folgenden Interviewpassage mit dem Abiturienten Julius eine der ganz wenigen Stellen in den geführten Gesprächen, in der explizit Zweifel an der Authentizität der historischen Darstellung im „Turm“ geäußert werden. Um hier Missverständnisse zu vermeiden: Ich habe im vorhergehenden Kapitel argumentiert, dass bei Weitem nicht alle Zuschauer*innen den „Turm“ als authentische Erzählung über das Ende der DDR rezipiert haben. Diesen Befund möchte ich hier keineswegs infrage stellen. Im Fall von Julius ist dies ohnehin nicht gegeben, er hält die Darstellung für eine äußerst authentische Fiktion. Seine Zweifel stellen insofern eine Besonderheit dar, gerade weil er den Film für eine authentische Erzählung hält. Aus einer Rezeptionshaltung, die sich der Fiktionalität des Films ebenso bewusst ist wie seines Anspruchs, Geschichte zu erzählen, wirft er ihm nämlich vor, hier nicht glaubwürdig zu erzählen: I: Mhm. gab es Punkte in dem Film, wo du gesagt hast, da (.) da ist es wirklich nur Schein, da findest du es nicht realitätsentsprechend? JU: Ja. bei dem (.) °wo wir vorhin schon drüber gesprochen haben,° wo der Offizier so äh (.) recht äh nett reagiert hat, und und ihn dann in den @Innendienst versetzt hat,@ //mhm// und und auch gleich so=ne so=ne mitfühlende Miene auf hatte, das hat mich ganz gewundert, der 89 Dies wird auch in einer weiteren Passage mit der Interviewpartnerin Anja sichtbar, auf die ich, um Dopplungen zu vermeiden, im Zusammenhang der Zeitzeugen*innen als Authentifizierungs-Ressource gesondert eingehen werde. Siehe dazu Kapitel 4.2.4.

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hat vorher immer so (.) geguckt, als ob er jetzt ein Gesicht aus Eisen hätte, //mhm// @und auf einmal (.) hach, was ist denn mit dir los? mhm.@ ja das das war die Stelle, //mhm// die wo es mir am meisten aufgefallen ist.90

Julius bezieht sich auf eine Szene, die im „Turm“ die gesellschaftlichen Veränderungen nach den Massendemonstrationen 1989 verdeutlicht. Der angesprochene Offizier – ein Hardliner, der durch seinen Drill mitverantwortlich für den Tod eines Rekruten ist – reagiert auf die veränderten Machtverhältnisse auf seine Weise. Während er vor dem Erfolg der Bürgerbewegung noch für die Inhaftierung der renitenten Wehrdienstleistenden um die Hauptfigur Christian Hoffmann gesorgt hatte, nimmt er diesen nach neuerlichen Konflikten in Schutz. Dieser extreme Umschwung im Handeln der Figur fällt Julius auf und wird von ihm kritisch im Interview angesprochen. Der Jugendliche führt das Verhalten als den einen Aspekt der Handlung an, der ihm nicht „realitätsentsprechend“ erscheine. Er zeigt sich geradezu überrascht vom Verhalten der Figur, die plötzlich „nett“ erscheine und eine „mitfühlende“ Haltung gegenüber den Rekruten einnehme. Er führt lachend aus, dass er die aufmüpfigen Rekruten lediglich in den „@Innendienst versetzt hat,@“ und unterstreicht damit, dass ihn diese Wandlung „ganz gewundert“ habe. Als Grund dafür führt er das Verhalten des Vorgesetzten zuvor an, der „ein Gesicht aus Eisen“ und sich durch Härte statt Einfühlungsvermögen ausgezeichnet hätte. Julius erkennt im Handeln der Figur einen extremen Bruch, die sich auf die menschliche Glaubwürdigkeit, auf die personale Authentizität der Figur bezieht. Er markiert den Umschwung in deren Handeln mit starken Zweifeln, die es aus seiner Sicht nicht plausibel erscheinen lassen, dass ein Charakter sich durch so gegensätzliche Verhaltensweisen auszeichne. Diese Zweifel an der Plausibilität des Handelns beziehen sich allein auf allgemein menschliche, historisch nicht spezifische Einschätzungen. So führt Julius hier beispielsweise nicht ins Feld, dass er sich einen solchen Umschwung im Agieren der Akteure am Ende der DDR vorstellen könne – seine Einschätzung begründet er ohne Rekurs auf historische Bedingungen für dieses Handeln. Damit wird erkennbar, dass die Bewertung des Figurenhandelns an dieser Stelle daran gemessen wird, ob es nach zeitlich unspezifischen, allgemein menschlichen Maßstäben als authentisch einzuschätzen ist. Der Bruch erscheint dem Rezipienten an dieser Stelle als so stark, dass diese Einschätzung negativ ausfällt. Folglich ist die Plausibilität menschlichen Handelns nicht nur eine Ressource, die für die Authentizität der Erzählung angeführt wird, wie dies in den vorhergehenden Zitaten erkennbar wurde. Vielmehr zeigt sich hier, dass der Bruch mit dieser Norm bei einigen Jugendlichen im Eindruck resultiert, es mit nicht glaubwürdigen Charakteren im Spielfilm zu tun zu haben, und dies lässt letztlich Zweifel an 90 Transkript JU, MD, Z. 526-535.

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der Authentizität der Erzählung aufkeimen. Dass es ausgerechnet eine historisch unspezifische Ressource ist, die in der gesamten Datengrundlage für einen der wenigen, geäußerten Zweifel an der Authentizität der Erzählung sorgt, unterstreicht die Bedeutung, die die Ressource der Plausibilität menschlichen Handelns für den Prozess der Authentifizierung besitzt. Gleichwohl zeigt ein Blick auf die Passage, dass diese Zweifel zwar die Glaubwürdigkeit der Figur in den Augen des Jugendlichen infrage stellen, die zugeschriebene Authentizität der erzählten History jedoch keinen größeren Schaden nimmt. Julius hält die Darstellung des Spielfilms für nach wie vor authentisch – dass er die personale Authentizität einer Figur infrage stellt, führt folglich nicht dazu, die gesamte Erzählung als nicht authentisch wahrzunehmen. An der Authentifizierungs-Ressource, die sich um die Einschätzung der Plausibilität menschlichen Handelns seitens der Figuren der Erzählung dreht, ist sichtbar geworden, dass die Gegenwart der jugendlichen Rezipienten*innen, insbesondere ihre persönlichen Erfahrungen, einen hohen Stellenwert im Prozess der Authentifizierung einnimmt. Dies ist auch bei der Ressource der Wahrnehmung von Differenz zur Gegenwart der Fall, die ich im Folgenden beleuchten möchte. Auch diese Ressource bezieht sich auf eine Einschätzung der im Film erzählten Handlung durch die Jugendlichen. Ludwig-Theodor, der hier schon mehrfach Erwähnung gefunden hat, schildert in der folgenden Passage, in welchen Zwängen sich die jugendliche Hauptfigur bei der NVA, aber auch darüber hinaus in der nicht freiheitlichen Gesellschaft befindet, und welche Konflikte daraus entstehen: I: Was sind die Zwänge, die zu diesem Konflikt führen, wie du sagst? (1)

Woher

rührt dieser Konflikt? LT: Naja in der Behandlung des Menschen oder generell in dem, was die Offiziere dort vorleben, was ein Mensch für sie ist, nämlich irgendwie gar nichts. //mhm// also nichts was jetzt irgendwie einen Wert hat. oder so; denn wenn=man jetzt so irgendwie heute (sch-) heute schaut, auch im Grundgesetz Artikel 1 Absatz 1, die Würde eines Menschen ist unantastbar, und das stellt ganz klar den Mensch als Oberstes heraus und (.) in der DDR wurde das irgendwie nicht so gemacht, da war der Mensch nichts wert, in dem Sinne, sondern es wurde ganz aufs Objektive runtergeschraubt, auf die Leistung, die der Mensch erbringt, ob er sich unterordnen kann, und das war wohl auch der Zwang dass (.) er eben quasi: nicht mehr Mensch sein konnte, sondern ein Teil dieses (.) Getriebes DDR NVA °was da laufen muss.° I: Wie wird diese DDR für dich dargestellt im Film? LT: Negativ. auf jeden Fall negativ, (.) ähm auch gar nicht positiv. also (.) ich kann mich an keine wirklich positive Szene erinnern, die die DDR jetzt irgendwie besonders hervorhebt, //mhm// aus anderen St- also im Vergleich mit anderen Staaten, (.) °also ich° zum einen, wie es in der NVA dort abläuft, (.) dann: mit der Stasi auch, dass die Stasi überall ist und Leute verhaftet, (.) ähm (.) die DDR ist quasi überall=und die DDR ist quasi Schuld daran, was ich

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angesprochen habe, dass der Mensch so: (.) ja schlecht also nichts wert ist. und (1) ähm naja die DDR ist (.) für die DDR (.) sinnbildlich stehen dann die Stasileute, die Offiziere, und auch die Parteis- also dieser Parteisekretär der da gezeigt wurde, //mhm// quasi als das Böse, was es gibt was es zu besiegen gilt //mhm// und auch um dann wieder frei zu sein. 91

Der Abiturient schildert ausführlich, wie er die im Film dargestellte DDR, ihre Gesellschaft und die handelnden Personen wahrgenommen hat. Er bezieht sich in dieser Darstellung auf hohe Werte: auf das Menschenbild, die im Grundgesetz der Bundesrepublik garantierte Menschenwürde, auf den Wert eines Menschen. Diese Maßstäbe erscheinen nicht nur dahergesagt, die Dynamik der Passage, aber auch die Detaillierung der Ausführungen zeigen, dass es dem Jugendlichen um für ihn hochrelevante Themen geht. Leitendes Motiv seiner Schilderung in Bezug auf diese Themen ist der enorme Kontrast zwischen der im Film dargestellten Welt und der Gegenwart. Während ein Mensch in der Filmwelt „irgendwie gar nichts“ wert sei, sichere das Grundgesetz, das er hier präzise zitiert, einem jeden die Menschenwürde zu. Während in der DDR im Film eine Person „auf die Leistung, die der Mensch erbringt“ reduziert worden und ein Teil „ein Teil dieses (.) Getriebes DDR“ sei, würden die Menschen in der Gegenwart entgegengesetzt behandelt. Dieser Gegensatz zwischen der DDR im Spielfilm und dem heutigen Deutschland zeige sich in der Darstellung der NVA, aber auch im Topos Stasi, und anhand der Figuren des Zweiteilers. Der Zuschauer nimmt hier einen enormen Kontrast zwischen der historischen Filmwelt und der Gegenwart wahr, den er detailliert ausführen kann, der letztlich aber zu einer Dichotomie im Vergleich beider Welten führt, die sich als „negativ“ und „positiv“ maximal unterscheiden und gegenüberstehen. Mit dieser Wahrnehmung steht er bei Weitem nicht allein, auch andere Zuschauer*innen folgen dieser Einschätzung. Die Frage ist: Inwieweit kann die Wahrnehmung dieses maximalen Kontrasts zwischen der im Film dargestellten DDR auf der einen und der eigenen Gegenwart der Zuschauer*innen auf der anderen Seite authentifizierend wirksam sein? Inwiefern trägt die Differenz dazu bei, die Darstellung für authentisch zu halten? Im Zitat aus dem Gespräch mit Ludwig-Theodor zeigen sich erste Erklärungsansätze: Neben einer extrem unterschiedlichen Bewertung der DDR im Film und der Gegenwart des Jugendlichen dokumentiert sich darin eine erhebliche Distanz des Zuschauers zur erzählten, historischen Welt des Films. Diese wird mit den Adverbien „dort“ und „da“ so weit wie möglich von einem „heute“ weggerückt, wodurch neben die qualitativen Unterschiede zwischen der historischen Filmwelt und der Gegenwart – Stichwort Menschenbild – auch zeitlich und räumlich eine Distanz und ein Kontrast aufgebaut wird. Dieser Kontrast sorgt dafür, dass der Rezipient die Filmwelt als maximal fremd wahrnimmt. 91 Transkript LT, MD, Z. 344-369.

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Erkennbar ist in der Passage, dass gerade dieser Aspekt des Kontrasts und der Fremdheit auf eine Art und Weise geschildert wird, die die Beobachtung der Filmwelt und Ludwig-Theodors Kenntnisse über die DDR eng verbindet. Allgemeine Aussagen verbindet er mehrfach mit Szenen des Films. Das heißt, dass er die filmische Darstellung für äußerst authentisch hält, insofern sie eben seine allgemeinen Aussagen zur DDR verbildlichen kann. Dass dies insbesondere für die Wahrnehmung des Kontrasts zwischen Filmwelt/DDR und Gegenwart gilt, deutet an, dass es sich dabei um eine Authentifizierungs-Ressource handelt. Sichtbar wird dies auch in einer weiteren Passage, die abermals eine große Differenz zwischen vergangener Filmwelt und gegenwärtiger Alltagswelt in der Wahrnehmung der Zuschauer*innen verdeutlicht. Wie andere Sequenzen des Gesprächs mit Michaela bereits gezeigt haben, beschäftigt sie insbesondere jener Teil der Spielfilmhandlung, der dem jungen Protagonisten beim Wehrdienst folgt. Der Grund liegt darin, dass die Thematik einen aktuellen Bezug zu ihrem Alltag besitzt, in dem ihr Freund freiwilligen Wehrdienst bei der Bundeswehr ableistet: I: Was hast du was hast du mit deinem Freund darüber gesprochen? du hattest vorhin erwähnt, dass ihr euch unterhalten habt MI:

└Dass die da so┘ fertiggema:cht wu:rden. also der dickere Junge da so

fertiggemacht wurde, und dass die da auch generell äh sehr viel (.) härter drangenommen wurden also so angeschrien wurden die ganze Zei:t //mhm// u::nd (.) ja über die Betten habe ich auch noch gesprochen, die Betten sind ja solche Metallbetten gewesen, u:nd (.) das ist ja heute (auc-) also heute schon ein bisschen besser, also (.) er meinte, es ist immer noch äh relativ unbequem, aber es ist besser geworden, da habe ich gesagt nee also (.) in solchen Metallbetten das ist ja wirklich schon menschenunwürdig und ich kann mir wirklich sehr gut vorstellen, dass das wirklich so war, wenn nicht sogar schlimmer und (.) °darüber habe ich eigentlich mit ihm geredet,° //mhm// dass halt generell die Volksarmee wird da sehr menschenunwürdig vorgestellt, //mhm// und (.) das glaube ich aber auch, dass das wirklich so war früher.92

Hier zeigt sich ein ähnliches Muster wie bei Ludwig-Theodor, wenngleich die Thematik stärker die konkreten Bedingungen bei der Armee betrifft: Michaela konstatiert auf der Grundlage eines Gespräches mit ihrem Freund einen enormen Kontrast zwischen der Filmwelt und der Gegenwart. Dieser zeige sich beim Militär unter anderem daran, „dass die da auch generell äh sehr viel (.) härter drangenommen wurden“ als in der heutigen Bundeswehr, aber auch in der weniger luxuriösen Ausstattung der NVA, denn „in solchen Metallbetten das ist ja wirklich schon menschenunwürdig“. Nicht zufällig kommt auch hier wieder das Thema der Menschenwürde zur Sprache, offenbar handelt es sich in den Augen mehrerer Jugendli92 Transkript MI, BS, Z. 234-247.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 251

cher dabei um einen Aspekt, bei dem der Kontrast zur Gegenwart besonders stark ausgeprägt ist. Während in der vorhergehenden Passage jedoch nur indirekt vermutet werden konnte, dass dieser Kontrast zwischen der Filmwelt und der Gegenwart der Jugendlichen eine Authentifizierungs-Ressource darstellt, wird der Zusammenhang hier noch offensichtlicher. Die Beobachtung der enormen Unterschiede führt Michaela zu dem Schluss: „ich kann mir wirklich sehr gut vorstellen, dass das wirklich so war, wenn nicht sogar schlimmer“. Im letzten Teil dieses Ausspruchs („wenn nicht sogar schlimmer“) drückt sich aus, dass diese Differenz in den Augen der Zuschauerin offenbar sogar noch stärker sichtbar werden könnte. Darin zeigt sich eben jene Erwartung des Kontrasts, die der ARD-Zweiteiler erfüllt. Die Wahrnehmung, dass zwischen der dargestellten DDR im Spielfilm und ihrer Gegenwart erhebliche Differenzen bestehen, stellt insofern ein Argument für die Authentizität der audiovisuellen Erzählung dar. Es ist diese Fremdheit, die eine Erwartungshaltung einiger Zuschauer*innen befriedigt und dadurch authentifizierend wirken kann. Die Jugendlichen sehen den historischen Spielfilm „Der Turm“ nicht in der Haltung, eine Story erzählt zu bekommen, die in ihrer Gegenwart vorstellbar wäre. Für sie ist die DDR Teil einer Vergangenheit, die sie nie erlebt haben und die sie nur mittelbar aus Schulbüchern, Erzählungen von Familienmitgliedern oder den Medien kennen. Die DDR ist für die Jugendlichen, bei denen die beschriebene Ressource zu finden ist, eine längst vergangene, aber eben auch in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens fundamental andersartige Welt, die in enormem Gegensatz zu ihrer Alltagswelt steht. Im präsentierten Menschenbild der NVA-Offiziere, in den grundsätzlich anderen Lebensbedingungen, aber auch in weiteren Aspekten wie etwa dem Umgang mit Privatsphäre oder im Strafrecht,93 nehmen sie diesen Gegensatz zu ihrer Gegenwart wahr. Indem der Film sie in diesem Eindruck des Kontrasts, der Differenz zwischen Gegenwart und DDR-Geschichte bestärkt, stellt ihre Wahrnehmung ein Argument für die Authentizität des Gesehenen für die jugendlichen Rezipienten*innen dar. Es mag paradox erscheinen, aber gerade die Fremdheit der erzählten Welt, die in wesentlichen Aspekten grundverschieden zur Gegenwart der jugendlichen Filmzuschauer*innen funktioniert und insofern extrem weit vom Leben der Rezipienten*innen entfernt ist, macht sie in ihren Augen historisch glaubwürdig. Damit sind zahlreiche Ressourcen beschrieben, die in den Interviews auftauchen und die den Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit dem Film, das heißt seinen Elementen und Charakteristika, die Einschätzung der Authentizität der Erzählung ermöglichen. Sowohl verschiedene Eigenschaften des filmischen Erzählens, als auch diverse Ressourcen, die sich aus dem Erzählten ergeben haben, sind zur Sprache gekommen. Gerade wenn Filmrezeption jedoch nicht als eine von der Lebenswelt der Zuschauer*innen unabhängige, isolierte Aktivität verstanden werden soll, 93 Vgl. Transkript TH, BS, Z. 484-518.

252 | Wie Stories zu History werden

liegt jedoch auf der Hand, dass weitere Ressourcen ebenfalls eine Rolle spielen müssen. Sie ergeben sich nicht aus der Auseinandersetzung mit dem Spielfilm selbst und werden doch zu dessen Authentifizierung herangezogen. Dieses Kapitel hatte ich mit einem Blick auf die Genreerwartungen der Jugendlichen an historische Spielfilme eingeleitet. Dabei hatte sich gezeigt, wie ambivalent sie das Genre hinsichtlich seiner Authentizität bewerten. Dieser Ambivalenz, dem verbleibenden Rest Ungewissheit über die „Wahrheit“94 des Erzählten im Spielfilm, wird der Dokumentarfilm zum „Turm“ von vielen Jugendlichen als nicht-fiktionale Gattung gegenüber gestellt. Während die Tatsache, dass es sich beim „Turm“ um die Gattung Spielfilm handele, beispielsweise von der bereits zitierten Jugendlichen Valentina als Argument angeführt wird, das ihn vom Vorwurf der „Realitätsferne“ per se freispricht, weil er dieser Realität eben nicht verpflichtet sei – „es ist ja ein Film, es ist ein Film“ – besitzt die Gattung Dokumentarfilm in ihren Augen einen ganz anderen Status. Sie dokumentiert gegenüber dem „Dokumentationsfilm“ eine Rezeptionshaltung, die erheblich höhere Ansprüche vertritt: Der TV-Dokumentation werden keine erzählerischen Freiheiten eingeräumt, sie werde einzig und allein daran gemessen, „dass es hundert Prozent Wahrheit ist“, was in der Dokumentation erzählt werde. Wenn die Überzeugungen der jugendlichen Rezipienten*innen über die Glaubwürdigkeit des Erzählten also auch maßgeblich davon mitbestimmt werden, in welcher filmischen Gattung erzählt wird, rückt im Folgenden fast zwangsläufig das Verhältnis zwischen dem Spielfilm-Zweiteiler und der eigens dazu produzierten Dokumentation in den Fokus des Interesses. Der Ungewissheit über den Status des Erzählten auf der einen Seite, mit der der Spielfilm seine Zuschauer*innen per se zurücklässt, steht die Dokumentation als Erzählform auf der anderen Seite gegenüber, die aus Sicht der Jugendlichen grundsätzlich der historischen Wahrheit verpflichtet ist. Dass zum Spielfilm-Zweiteiler „Der Turm“ ein 45-minütiger Dokumentarfilm produziert und ausgestrahlt wurde, macht diesen Teil des TV-Events damit potenziell zu einer enorm wichtigen Ressource zur Authentifizierung des Gesehenen. Das folgende Kapitel geht daher der Frage nach, wie die FernsehDokumentation als zentraler Bestandteil des TV-Events von den Jugendlichen wahrgenommen wird und inwiefern sie aus ihrer Perspektive die Authentizität des im Spielfilm Erzählten maßgeblich unterstützt.

94 Die Zitate dieses Absatzes Transkript VA, MD, Z. 1603-1617.

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4.2.2 Elemente des Medienevents als Authentifizierungs-Ressource Spielfilme, die Geschichte erzählen, sind in der modernen Fernsehlandschaft schon lange keine Solitäre mehr: Sie sind eingebettet in einen Kontext aus anderen Formaten und Medien, die daraus ein Ensemble machen, in dem multimedial auf vielen Kanälen Geschichte erzählt wird. Dieses Ensemble wird zusammengehalten durch einen gemeinsamen Produktions- und Distributionskontext, das heißt die einzelnen Teile zeichnen sich nicht selten durch gemeinsame Urheber*innen und Produzenten*innen aus, die vom Beginn der Produktion bis hin zur Ausstrahlung und Verbreitung des audiovisuellen Produkts bestrebt sind, dessen einzelne Elemente als ein gemeinsames Ganzes erscheinen zu lassen. Dass zwischen den unterschiedlichen medialen Formaten ein enger inhaltlicher und zudem zeitlicher Zusammenhang besteht, macht daraus letztlich ein historisches „TV-Event“95. Auch „Der Turm“ wurde als ein solches Event konzipiert:96 Im unmittelbaren Kontext zum fiktionalen Spielfilm steht die Dokumentation zum Spielfilm, die dem*r Fernsehzuschauer*in in 45 Minuten dokumentarische Hintergrundinformationen liefern sollte. Darüber hinaus gestaltete der federführende Mitteldeutsche Rundfunk eine aufwendige Website zum Fernsehereignis. Abgesehen von den zahlreichen Ankündigungen und Bezugnahmen in verschiedensten anderen Sendungen der ARD, die auf den Fernsehzweiteiler aufmerksam machen sollten, stehen zudem die DVD, die nach der Erstausstrahlung verkauft wurde, sowie die Romanvorlage in einem unmittelbaren Produktions- und Distributionszusammenhang mit dem Spielfilm. Die Geschichte um die fiktive Familie Hoffmann im letzten Jahrzehnt der 95 Der Begriff des TV-Events scheint eine Bezeichnung zu sein, die die Produzenten derartiger Formate etabliert haben. So hat etwa die Produktionsfirma „teamworx“ (jetzt UFA Fiction) ihre Produktionen wie „Die Flucht“ oder „Dresden“ Anfang der 2000er-Jahre als „Event“-Produktionen bezeichnet. Der Begriff hat aber durchaus Einzug in die wissenschaftliche Debatte um historische Audiovisionen gefunden, siehe etwa Drews, Albert: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm (=Loccumer Protokolle, Bd. 31/07). Rehburg-Loccum 2008. S. 5-6; Janke, Hans: EVENTuell. Über die Erfolgsbedingungen der Event-Produktionen. In: Cippitelli, Claudia/Schwanebeck, Axel (Hg.): Fernsehen macht Geschichte. Vergangenheit als TV-Ereignis. Baden-Baden 2009. S. 57-64; Ebbrecht, Tobias/Steinle, Matthias: Dokudrama in Deutschland als historisches Ereignisfernsehen – eine Annäherung aus pragmatischer Perspektive. In: MEDIENwissenschaft 2008, Heft 3. S. 250-255. 96 Herter, Jasmin: Zusammen schaut man weniger allein. Online-Artikel auf ard.de. Online unter

http://www.ard.de/home/ard/Mitdiskutieren_bei_Social_TV_und_Social_Radio__

Zusammen_schaut_man_weniger_allein/106530/index.html (1.8.2016).

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DDR wurde damit zu einem multimedialen Ereignis, das weit über den im Zentrum stehenden Spielfilm hinausging.97 Insofern müsste eher von einem Medienevent denn von einem TV-Event die Rede sein, wenngleich die Fernsehformate des Events eine Sonderstellung innerhalb des Ensembles einnehmen. Jenseits dieser produzenten- und medienorientierten Perspektive gilt es mit einem Blick auf die Rezipienten*innen zu fragen, inwieweit die multimedialen Angebote für die Rezeption des Spielfilms eine Rolle gespielt haben, konkret: inwieweit die verschiedenen Elemente des Medienevents individuell als Authentifizierungs-Ressourcen relevant werden. Dass die Dokumentation hierbei eine erhebliche Rolle zu spielen scheint, haben die empirischen Erkenntnisse bereits mehrfach angedeutet – zunächst soll sie daher im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. Im Anschluss werde ich die weiteren Elemente des Medienevents in den Blick nehmen, die als Authentifizierungs-Ressourcen von den Jugendlichen ins Feld geführt werden. Die Bedeutung der Dokumentation für die Authentifizierung der Spielfilm-Story Die bloße Tatsache, dass eine Fernsehdokumentation im engen Kontext mit einer Spielfilmerzählung ausgestrahlt wurde, ist für viele Jugendliche bereits von großer Bedeutung. Im Interview wurde die Zuschauerin Grit zum Spielfilm, dessen Romanvorlage und der Dokumentation sowie zu deren Verhältnis untereinander befragt. Für die Frage nach der Authentifizierung der Story liefert diese Sequenz wertvolle Einblicke: I: Mhm. du hast jetzt zu den dreien immer der Turm gesagt, wie würdest du die drei untereinander, GR: └die drei, ( ) I:

also Spielfilm, Dokumentation, Roman, nochmal untereinander ordnen.

oder in Beziehung setzen. GR:

└ähm┘ (1)

ich würde sagen, der Turm als Buch, ist denke=ich schon sehr

wichtig, wenn man das liest, weil das einen natürlich auch länger beschäftigt, als so ein Film, 97 Für die Annahme, der Spielfilm stehe im Zentrum des Events, sprechen mehrere Gründe: Zunächst ist die Reichweite des Spielfilms zu nennen, der mit seiner MillionenEinschaltquote weit über die anderen Elemente des Medienevents hinaus die größte Rezipienten*innengruppe erreichte. Zudem sind – abgesehen vom Roman – alle anderen medialen Teile des Events erkennbar auf den Spielfilm ausgerichtet. Der Roman bildet somit zwar gewissermaßen den Nukleus des späteren TV-Events, wird hier aber auch aus konzeptionellen Überlegungen – schließlich stehen historische Audiovisionen im Zentrum des Erkenntnisinteresses – als Teil eines Events betrachtet, dessen Kern mit Blick auf die Rezeption der Spielfilm bildet.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 255

der irgendwie zwei Tage anderthalb Stunden ist oder so. also das Buch ist dann natürlich noch sehr viel ähm genauer und zeigt die Menschen auch sehr viel näher, und mit ihren Gefühlen noch mehr, (und was man) dass man vielleicht dann im Turm auch gar nicht genau benennen kann, aber vielleicht so=ein bisschen fühlt. und man halt halt natürlich auch eine längere Zeitspanne, das ist ganz wichtig, weil man sich immer wieder ähm diese Gedanken wiederholt, die man dazu hat vielleicht auch, und ähm die Dokumentation habe=ich ja schon so=ein bisschen gesagt, dass ich die vielleicht nicht so ganz (.) gelungen fand, aber sie ist halt auch gut, um nochmal so=ein bisschen äh Zusatzinformationen zu geben und (.) zu zeigen, dass=es halt auch wirklich so gewesen:: sein hätte können, also dass es unbedingt nicht nur ein Roman ist oder eine Verfilmung ist, sondern auch ähm was mit unserem (.) mit unserer Geschichte und vielleicht auch mit heute noch zu tun hat. //mhm// und ja der Film halt für Menschen, die dann (.) weiter daran interessiert sind, aber (.) vielleicht nicht (.) sich die Mühe machen wollen, auch so ein dickes Buch zu lesen einfach.98

Zunächst wird hier deutlich, dass sich auch aus empirischer Sicht der Spielfilm als Zentrum des Medienevents darstellt. Grit liefert eine Erläuterung, in welcher Beziehung Spielfilm, Roman und Dokumentation für sie persönlich stehen. Sichtbar wird, dass sie implizit vom Spielfilm ausgeht, wenn sie vom „Turm“ spricht: Zwar leitet sie ihre Ausführungen mit einem Verweis auf den „Turm als Buch“ ein, doch gerade in dieser Formulierung, „als Buch“, zeigt sich, dass der Spielfilm und nicht die Dokumentation und der Roman im Zentrum des Events steht. Sie spricht in dieser Formulierung („als“) über eine von der ursprünglichen Form abweichende. Auch die Betonung legt dies nahe: „Buch“ muss hier von ihr betont ausgesprochen werden, um die Differenz zur zentralen, ursprünglichen Form des Spielfilms sprachlich zu verdeutlichen. Dass der Film für sie im Zentrum steht, wird auch in der zweiten Verwendung des Wortes „Turm“ in dieser Sequenz deutlich, denn sie vergleicht hier die Nachvollziehbarkeit von Gefühlen der Figuren im Roman mit dem Spielfilm: „also das Buch ist dann natürlich noch sehr viel ähm genauer und zeigt die Menschen auch sehr viel näher, und mit ihren Gefühlen noch mehr, (und was man) dass man vielleicht dann im Turm auch gar nicht genau benennen kann, aber vielleicht so=ein bisschen fühlt.“ Dass sie hier nicht vom „Turm als Film“, sondern über den Spielfilm lediglich als „Turm“ spricht, belegt die These, dass der Spielfilm für sie den Kern des historischen Medienevents bildet. Die Erzählung der Geschichte in Form eines Buches unterscheidet sich laut Grit ganz erheblich vom Medium Spielfilm, und vor allem betont sie hier unterschiedliche Rahmenbedingungen der Rezeption: Der Spielfilm werde deutlich kürzer gesehen, nämlich „irgendwie zwei Tage anderthalb Stunden […] oder so.“, wohingegen ein Buch seine Leser*innen „eine längere Zeitspanne“ beschäftige. Es wird noch genauer auf die Bedeutung des Romans einzugehen sein, hier ist jedoch zunächst 98 Transkript GR, MD, Z. 839-862.

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bemerkenswert, dass die Unterschiede zwischen Spielfilm und Roman für Grit vor allem auf Seiten der konkreten Nutzungssituation zu suchen sind. Für die Authentifizierung der Story scheint der Roman in dieser Sequenz keinerlei Bedeutung aufzuweisen. Umso bemerkenswerter ist dann, dass die Frage nach den Bedingungen der Rezeption für ihre Anmerkungen zur Dokumentation keine Rolle mehr spielt. Grit bricht diesen thematischen Rahmen ihrer Beschreibung ab und verhandelt die Dokumentation zunächst vor dem Hintergrund ihrer mangelnden Qualität. Es wird hier nicht deutlich, worin genau Grits Kritikpunkt liegt, aber ganz offensichtlich bezieht sie ihre kritische Haltung nicht auf den Aspekt der Authentizität, der gleich danach von ihr thematisiert wird: „aber sie ist halt auch gut, um nochmal so=ein bisschen äh Zusatzinformationen zu geben und (.) zu zeigen, dass=es halt auch wirklich so gewesen:: sein hätte können,“. Darin wird deutlich, dass unabhängig von der – woran auch immer gemessenen – Qualität der Dokumentation, allein durch die Existenz dieses Formats, ein völlig neuer Aspekt hinzukommt, um die Story um den „Turm“ erfassen zu können: Der dokumentarische 45-Minüter ist dazu imstande, die Frage nach der Authentizität der Story entscheidend zu beeinflussen. Damit steht er in einem Kontrast zum Roman als einem anderen Element des Events, der in dieser Hinsicht für die Jugendliche keinerlei Bedeutung aufweist. Für die Jugendliche könnte die Erzählung des Spielfilms auch unabhängig von der Dokumentation stehen. Letztere liefert ihr vielmehr „so=ein bisschen äh Zusatzinformationen“, besitzt also eine randständige Relevanz. Gleichwohl verdeutliche dieses Format, „dass=es halt auch wirklich so gewesen:: sein hätte können,“ und dieser Satz ist aus verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Es fällt auf, dass die Formulierung sprachlich ein wenig holpert, mindestens ist die Reihenfolge der Prädikatskonstruktion durcheinandergeraten. Eine mögliche Interpretation wäre, dass Grit im Aussprechen die Bedeutung ihrer Aussage geändert hat: von „dass=es halt auch wirklich so gewesen [ist]“ zu „[hätte] wirklich so gewesen sein […] können“. Auf diese Interpretation deutet die minimal gedehnte Aussprache hin, gleichsam ein kurzes Innehalten in der letzten Silbe des Wortes „gewesen::“. Damit wäre in einer entscheidenden Formulierung ein Wechsel ihrer Einschätzung vorgenommen: Von einer Erzählung, die historische Wirklichkeit wahrheitsgetreu abbilde, hätte die Zuschauerin im Aussprechen der Formulierung den Spielfilm zu einer Erzählung herabgestuft, die möglicherweise eine plausible Version der Geschichte anbiete, keineswegs aber zwingend wahr sei. Dass es sich hierbei nur noch um die Möglichkeit des authentischen Erzählens handelt, wird zudem in der Betonung des Wortes „können“ verdeutlicht. Insofern dokumentiert sich in diesem sprachlichen Bruch zumindest, dass die Dokumentation die Frage nach der Authentizität der Erzählung für Grit wesentlich beeinflusst, als dass sie für sie zunächst den Gedanken nahelegt, dass es sich nicht nur um mögliche, sondern tatsächliche Geschichte handle. Dies wird auch im Folgenden zum Ausdruck gebracht, wenn Grit darauf eingeht, „dass es unbedingt nicht

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nur ein Roman ist oder eine Verfilmung ist, sondern auch ähm was mit unserem (.) mit unserer Geschichte und vielleicht auch mit heute noch zu tun hat.“ Abermals verdeutlicht sie damit, dass der Status der Erzählung von der Dokumentation aufgewertet wird, dass die Fiktion – nicht ganz zufällig geht sie hier gleichermaßen auf Roman und Verfilmung ein, die für sie in dieser Frage denselben Status besitzen – über ihre eigene Welt hinaus auch auf die historische Realität verweisen könnte. Die Dokumentation macht aus der fiktionalen Erzählform Spielfilm, die für die Jugendliche zunächst nicht auf die Realität verweise, damit eine Fiktion, die „auch“ die Geschichte thematisiere und dadurch sogar eine Bedeutung in der Gegenwart erhalte. Ein ähnliches Muster der Aufwertung findet sich auch in den Äußerungen der jugendlichen Rezipientin Michaela: I: Ähm du hast jetzt gesagt, dass die Doku sich irgendwie des Films bedient so //mhm// äh um wie du sagtest um nochmal ein paar Bilder zu kriegen, ähm was nutzt denn die Doku dem Film? deiner Meinung nach? MI: °Die Doku?° I: └Oder nutzt┘ sie dem Film? Also (.) MI:

└Achso.

I:

Wenn die Doku dem Film sozusagen sich aus dem

Film was rauszieht, //mhm// Bilder °irgendwie°, in welcher in welcher Beziehung was bringt die Doku dem Film dann? MI: Na dass man den Film auch nochmal besser versteht. weil die Doku hat ja dann nochmal viele Zeitzeugen auch gebracht, //mhm// u:nd sogar halt einen Schauspieler,=Jan Josef Liefers war ja auch der Arzt in dem Film, u::nd ja dann (hat) man also (.) wenn äh wenn ich nur diesen Film gesehen hätte, hätte ich gedacht ja okay, ist ein Film, äh kann schon auf ähm ein paar Sachen basieren irgendwie auf wirklichen äh wahr- (.) wahrheitsgetreuen Sachen aber so wirklich (.) ja ist halt ein Film, //mhm// aber mit dieser Doku ähm hat man dann gesehen ja okay, das war wirklich echt, das (.) ist wirklich passiert, und (.) ähm diese Doku hat ja dann nochmal so gezeigt, was dann eigentlich auch wirklich so (.) wahr äh wahr war, //mhm// und hat ja sogar dann gezeigt ähm dass äh es diese ganzen Menschen da gab, also zum Beispiel ähm dieser Arzt, den gab es wirklich und das hätte ich zum Beispiel überhaupt nicht gedacht, dass es diesen Arzt da wirklich gab, //mhm// ich dachte das wäre so eine frei erfundene Geschichte u:nd (.) ähm bloß halt so mit ein paar Sachen, die (so) wirklich wahr sind, //mhm// aber da hat man dann halt gesehen, also durch die Doku hat man dann gesehen, okay diesen Menschen gab es wirklich, und den gab es auch, wo=man (.) das überhaupt nicht gedacht hätte. //mhm// °und deswegen haben die Fi-° der Film und die Doku sich beide gut ergänzt.99 99 Transkript MI, BS, Z. 392-421. Das „=“ in der Passage „Schauspieler,=Jan Josef Liefers“ soll verdeutlichen, dass beide Wörter in der Aussprache miteinander verbunden werden, der Anschluss also quasi ohne Pause gesprochen wird.

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Der Beginn der Sequenz erscheint überkompliziert, was unter anderem an der etwas verquer formulierten Frage des Interviewers liegt. Der Auszug greift insofern ein Wechselverhältnis der beiden Produktionen auf, das Michaela zuvor angedeutet hatte, als dass sich die Dokumentation zum „Turm“ einiger Ausschnitte aus dem Film bedient, also die fiktionalen Bilder ins dokumentarische Format Einzug halten. Umgekehrt jedoch scheint die Dokumentation auch eine Relevanz für den Spielfilm zu besitzen, wie in der Folge deutlich wird. Erneut ist hier erkennbar, was die zuvor zitierte Interviewpartnerin mit „Zusatzinformationen“ bezeichnet hatte. Auch Michaela wirft durch die Dokumentation einen anderen Blick auf die Erzählung des Spielfilms: Sie sorgt dafür, „Na dass man den Film auch nochmal besser versteht.“. Nun, da sie die Dokumentation miteinbezieht, modifiziert sie ihre Lesart des Films, als hätten ihr die 45 dokumentarischen Minuten die Augen dafür geöffnet, wie der Spielfilm korrekt einzuordnen sei. Sie geht in der Folge knapp auf einige für sie wesentliche Elemente der Doku ein, die dafür offenbar ursächlich sind, und ich werde später noch die Elemente des Dokumentarfilms beleuchten, die hier zum Vorschein kommen. Vor allem aber kommt sie im Anschluss noch einmal darauf zurück, wie sie nun den Spielfilm einschätze und wie sich der Status der Erzählung für sie verändert habe: „also (.) wenn äh wenn ich nur diesen Film gesehen hätte, hätte ich gedacht ja okay, ist ein Film, äh kann schon auf ähm ein paar Sachen basieren irgendwie auf wirklichen äh wahr(.) wahrheitsgetreuen Sachen aber so wirklich (.) ja ist halt ein Film, //mhm// aber mit dieser Doku ähm hat man dann gesehen ja okay, das war wirklich echt, das (.) ist wirklich passiert,“. Erneut taucht hier ein Muster auf, was schon in Grits Äußerungen sichtbar wurde, dass nämlich die Dokumentation die Einschätzung des Spielfilms hinsichtlich seiner Authentizität entscheidend verschiebt. Für Michaela erzählt der Film für sich genommen eine potentiell mögliche Geschichte, der historische Potentialis drückt sich auch hier erneut im Wort „kann“ aus. Als Grundlage für diese Einschätzung verweist die Zuschauerin auf die Gattung „Film“, die sie an dieser Stelle durchweg betont ausspricht und damit verdeutlicht, dass Spielfilme für sie per se im Bereich des Potenziellen erzählten. Dass zu diesem Spielfilm jedoch eine Dokumentation gezeigt wurde, die in einem engen Bezug zum Spielfilm steht, ändert die Einschätzung der Rezipientin grundlegend: „aber mit dieser Doku ähm hat man dann gesehen ja okay, das war wirklich echt, das (.) ist wirklich passiert,“. Im Gegensatz zur vorherigen Sequenz bleibt bei Michaela kein Zweifel über die Historizität des im Film Erzählten bestehen, der Spielfilm stellt für sie zweifellos historische Wirklichkeit dar. Dafür ist die Dokumentation ausschlaggebend, die das, was im Spielfilm im Modus des Potentialis erzählt wird, aus ihrer Perspektive validiert. In der besonderen Betonung der Schlüsselworte „echt“ und „wirklich“ kann man womöglich ein Quäntchen Überraschung ob dieser Erkenntnis feststellen, schließlich erzähle ein Spielfilm („halt ein Film“) laut Michaelas Argumentation normalerweise eben nicht das Wirkliche – an der festen Überzeugung, dass eben

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dies im Falle des „Turms“ nun doch geschehe, ändert diese Interpretation jedoch nichts. Für die Jugendliche ist die Existenz der Dokumentation zum Spielfilm eine derart starke Authentifizierungs-Ressource, dass ihr zuvor dokumentiertes, intuitives Wissen darum, es mit einer fiktionalen Gattung zu tun zu haben, die wenn überhaupt, dann nur bedingt einen Bezug zur Realität aufweise, der Überzeugung weicht, dass hier historische Wirklichkeit abgebildet werde. Dass die Existenz einer Dokumentation zum Spielfilm als AuthentifizierungsRessource in mehreren Interviews auftritt, basiert zunächst darauf, dass die Jugendlichen über ein spezifisches Gattungswissen verfügen und dieses offenbar bei der Einschätzung des Gesehenen heranziehen. Für den Spielfilm habe ich im vorhergehenden Kapitel bereits gezeigt, dass ein derartiges Wissen in der Frage nach der Authentizität des Films eine Unsicherheit über den Status des Erzählten bedingt. Für die Dokumentation gilt offenbar das Gegenteil, wie aus einer Sequenz im Interview mit Valentina hervorgeht: I: Mhm. Vertraust du dem Film mehr als Wikipedia? beziehungsweise (.) dem Spielfilm oder der Doku ((rückt die Gegenstände auf dem Tisch hin und her))100 mehr als Wikipedia? oder weniger? VA: Ja, weil man da im Geschehnis drin ist, also (.) ich finde (2) so (2)

Lesen ist

distanziert, von dem Ereignis, wenn man das aber liest, oder äh wenn

man es sieht, (.) o- die Doku oder halt auch der Spielfilm, dass das (.) vor allem na klar ist die Doku glaubhafter, @weil es halt ne Doku ist,@ und der Spielfilm trotzdem, weil man weiß, es gibt halt dazu die Dokumentation, und man weiß, dass es (.) ja in gewissem Maße auch wahr sein muss, //mhm// was da erzählt und man kann sich das halt alles vorstellen, man kriegt ein besseres Bild von dem allen und (.) […]101

Hier wird deutlich, dass es starke Überzeugungen der Jugendlichen zum Format der Dokumentation sind, die ihre Einschätzung der Authentizität maßgeblich bestimmen. Mit großer Vehemenz („na klar“; „halt“) drückt Valentina aus, dass es für sie ganz selbstverständlich Unterschiede zwischen Spielfilm und Dokumentation gibt. Die Dokumentation – eben weil es sich um ein der Wahrheit verpflichtetes TVFormat handelt – versetze den Spielfilm in eine Zwangslage, „dass es (.) ja in gewissem Maße auch wahr sein muss,“. Insofern kommen hier starke Vorstellungen zum non-fiktionalen Erzählen in der Gattung „Dokumentation“ zum Vorschein, die sich auf die Einschätzung des fiktionalen Spielfilms auswirken und somit als Ressourcen der Authentifizierung herangezogen werden.

100 Zur Veranschaulichung wurden im Interview DVD-Hüllen, ausgedruckte Screenshots von Online-Materialien und der Roman als Gegenstände auf dem Tisch ausgebreitet. 101 Transkript VA, MD, Z. 1487-1499.

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Damit ist die Dokumentation allein durch ihre bloße Existenz als wichtiger Teil des TV-Events und als Authentifizierungs-Ressource beschrieben. Für einige Jugendliche wird das im Spielfilm Erzählte schon dadurch authentisch, dass sie eine zugehörige Dokumentation gesehen haben. Eines möchte ich jedoch verdeutlichen: Wenn hier von der Dokumentation zum Spielfilm als einer enorm wichtigen Authentifizierungs-Ressource gesprochen wird, so darf freilich nicht ignoriert werden, dass dieser Beobachtung zunächst vor allem die Entscheidung zugrunde liegt, das Design dieser Studie so zu gestalten, die Dokumentation im Anschluss an den Spielfilm zu zeigen. Erst dieser methodische Entschluss macht es überhaupt möglich, dass die Dokumentation Teil der Rezeption und der Authentifizierung der Erzählung im Spielfilm geworden ist. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass andernfalls wohl keine besonders umfangreichen Gesprächssequenzen über diesen Teil des TV-Events stattgefunden hätten und folglich die Dokumentation nicht als Ressource aufgetaucht wäre. Dennoch halte ich es aus mehreren Gründen für eine richtige Entscheidung, den Jugendlichen die Dokumentation zu zeigen: Erstens war sie auch tatsächlich ein Teil des TV-Events, und viele ‚reale‘ Zuschauer*innen werden nach dem ersten Teil des Zweiteilers noch die Dokumentation angesehen haben.102 Darüber hinaus galt es in dieser Arbeit zweitens, im Sinne einer Exploration möglichst vielfältige Authentifizierungs-Ressourcen herauszuarbeiten. Die existierende und so eng an den Spielfilm angelehnte Dokumentation außen vorzulassen und nicht zu zeigen, erscheint mir widersinnig, da damit ein recht naheliegender Komplex an Ressourcen keine Beachtung und Aufklärung erfahren hätte. Drittens geben dem Vorgehen auch die empirischen Beobachtungen recht: Viele der Jugendlichen, die Teil dieses Projekts waren, sehen historische Spielfilme und Dokumentationen gleichermaßen häufig, und insofern wäre mir das Nichtzeigen der Doku zum Film als unangemessen erschienen. Dass die Dokumentation gezeigt wurde, hat also gute Gründe, die dennoch nichts an der Erschaffenheit der Rezeptionssituation zu ändern vermögen. Um die folgenden Erkenntnisse einordnen zu können, gilt es daher zu bedenken, dass selbstverständlich auch Rezeptionssituationen denkbar und naheliegend sind, in denen die Zuschauer*innen des Spielfilms eben nicht die Dokumentation gesehen haben – und diese als AuthentifizierungsRessource für sie eben keinerlei Rolle zu spielen vermag. Daraus könnte wiederum 102 Gegenüber 7,5 Millionen Zuschauern*innen, die die Erstausstrahlung des ersten Teils am 3. Oktober 2012 gesehen hatten, wies die Dokumentation im Anschluss noch einen Marktanteil von 14,4 Prozent auf, was beachtlichen 4,58 Millionen Zuschauern*innen entspricht. Die Daten erlauben leider keine Aufschlüsse darüber, ob die gleichen Zuschauer*innen beide Sendungen verfolgt haben, dies erscheint jedoch sehr plausibel. Vgl. Deutsche Presse-Agentur: „Der Turm“ knapp vor Borussia Dortmund. OnlineArtikel vom 4. Oktober 2012. Online unter http://www.stern.de/kultur/film/tv-quoten-der-turm--knapp-vor-borussia-dortmund-3764870.html (8.1.2017).

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folgen, dass diese Zuschauer*innen den Film anders rezipieren, als sie dies in Kombination mit dem 45-Minüter täten – hier jedoch beginnt der Bereich der Spekulation, und es bleibt festzuhalten, dass die Dokumentation für viele Zuschauer*innen eine wesentliche Rolle spielt – auch, weil sie diese Rolle in der methodischen Anlage der Arbeit spielen sollte. Diese Feststellung gilt jedoch nicht nur für das methodische Design der Arbeit, sondern auch für die Konzeption des TV-Events durch seine Produzenten. Anhand unterschiedlichster Aspekte lässt sich die enge Verflechtung beider Formate erkennen: die Verbindung in der Programmplanung, aber vor allem auch das formale und inhaltliche Aufgreifen des Spielfilms durch die Dokumentation sind hier zu nennen. Doch statt die Verbindung beider Formate filmanalytisch herauszuarbeiten, lässt sich anhand der mit den Jugendlichen geführten Gespräche nachzeichnen, wie die Verknüpfung von Spielfilm und Dokumentation wahrgenommen und damit als Authentifizierungs-Ressource relevant wurde. Im Gespräch mit Julius geht es zunächst nur um den Spielfilm, doch dann bezieht der Jugendliche die Dokumentation in seine Ausführungen mit ein: I: Was ist da rübergekommen zur Geschichte Dresdens bei dir. JU: Besonders die Rolle der (.) der Menschen halt in der Zeit. der des des Volkes, der Kirche teilweise auch der Liter- der der Autoren, wurde immer (.) wurde immer mal so angeschnitten, und (.) ja wir haben die Dokumentation dann noch gesehen. //mhm// und die die hat=es dann halt nochmal vertieft, aber es war im Prinzip (.) °so=ein° (.) @Warmkochen@ des Ganzen, was im Film auch schon mal vorkam ja, es wurden dann halt noch die (.) Daten hinterlegt und so. aber im Prinzip (.) wurde schon (1,5)

das Ganze so

beschrieben, also=es (.) wie gesagt, es ging v- in den 80er Jahren also von 82 bis 89, dieser Kom- dieser dieser Prozess, dass man (.) ganz klein angefangen hat, in kleinen Kreisen, dass es am Anfang wirklich bloß die ganz Gebildeten waren, und dass es dann immer weiter gegangen ist, dann ist es in die Kirche gegangen, dann ist es auf die Straße gegangen, dann gab es die großen Proteste ja, das (.) wurde exemplarisch an diesem einen Ort dargestellt, //mhm// das gab=es noch sicherlich in anderen Orten, (.) aber (.) vielleicht geht manchmal Dresden einfach unter, weil Leipzig bekannter ist. I: Mhm. du hast gerade gesagt, die Doku hat das nochmal warmgekocht, was der Film schon gemacht hat. JU: Mhm. I: was heißt das? JU: Sie hat die Daten gegeben. die Daten gegeben, vielleicht noch die Stimmen aus West und Ost, aus der aus der Regierung, also aus der aus der leitenden Position zu dieser Zeit, die kamen ja in dem Film weniger vor. also jedenfalls nicht direkt, wenn dann nur indirekt. (3) mhm. I: Was ist für dich das Hauptthema der Doku. wenn du es auf den Punkt bringen müsstest.

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JU: Ich glaube das kann man schon in den (.) einführenden Szenen von der Doku sehen, dass es um um Dresden geht, es geht um die Rolle Dresdens in der Wende, und um die Rolle der Dresdner Bürger in der Wende. dann werden ab und zu mal so=n paar (.) so=n paar Filmausschnitte so mit reingespielt, die dann ganz gut passten so in der Kirche, oder auf der Straße, //mhm// und (.) das schafft dann wieder die Verbindung zum Film, sodass man nicht gleich denkt, och jetzt so=ne langweilige Doku hier, //mhm// sondern (.) da ist dann ach der Film, der kam doch gerade, dann ist das gleich so=ne Verbindung. 103

Bereits am Beginn des Zitats macht der Gesprächspartner hier klar, dass die Dokumentation für ihn in einem komplementären Verhältnis zum Spielfilm steht. Inwieweit der Spielfilm Geschichte darstelle, thematisiert der Jugendliche an dieser Stelle, insofern sie lediglich „immer mal so angeschnitten“ würde. Hier zeigt sich erneut die periphere Bedeutung des Historischen in der Film-Story. Der Film verdeutliche vor allem menschliche und kulturelle Aspekte der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte. An diesem Punkt jedoch kommt Julius auf die Dokumentation zu sprechen, die den Film in dieser Hinsicht maßgeblich ergänze: „die hat=es dann halt nochmal vertieft,“. Etwas abschätzig geht er kurz darauf ein, dass die Dokumentation ein „@Warmkochen@ des Ganzen, was im Film auch schon mal vorkam“ gewesen sei. Der süffisante Unterton, der sich in der mit „aber“ eingeleiteten Passage zeigt und auch durch das Lachen unterstrichen wird, zeigt eine gewisse Überraschung darüber, dass die Doku wenig ganz Neues geliefert hätte, sondern sich stattdessen äußerst eng an den Film anlehnt. Wie sich diese Anlehnung beziehungsweise Ergänzung gestaltet, wird im Folgenden deutlich: Während der Film eben vor allem „Besonders die Rolle der (.) der Menschen halt in der Zeit“ dargestellt habe, liefert die Doku für den Rezipienten nun die historischen hard facts: Die Story werde mit „Daten hinterlegt“, die Vagheit des Spielfilms nun von Julius mit Jahreszahlen konkretisiert, und schließlich beschreibt er gar einen historischen „Prozess“, der die Widerstandsbewegung und ihre Entwicklung von kleineren Gruppen bis zur Massenbewegung verfolgt. Die Dokumentation ergänzt den Spielfilm damit maßgeblich um historische „Fakten“ und Ereignisse, die im Film nur angerissen würden, und macht die Story damit in den Augen des Jugendlichen zu einer stärker historisch fokussierten Erzählung. Auch im weiteren Verlauf der Sequenz lässt sich dies beobachten. Erneut spricht Julius nicht ohne Vehemenz an, dass die Dokumentation „die Daten gegeben. die Daten gegeben“ habe, und hinzu kommen hier die politikgeschichtlichen Hintergründe, die mit den „Stimmen aus West und Ost, aus der aus der Regierung“ ebenfalls ergänzt worden seien. Ebenfalls im letzten Teil der Sequenz wird dieser Befund noch einmal deutlich, sodass die Dokumentation insgesamt in der Betrachtung des Beispiels als eine Ergänzung der Film-Story um sehr greifbare, historisch fo103 Transkript JU, MD, Z. 392-433.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 263

kussierende Aspekte wie Daten, Jahreszahlen und politikgeschichtliche Hintergründe verstanden werden kann. Während der Spielfilm die historischen Aspekte zunächst nur anreiße, würde der Fokus durch die Dokumentation viel stärker darauf gelenkt, sodass hier die authentifizierende Funktion des Formats sichtbar wird. Sie beruht in diesem Beispiel darauf, dass die Dokumentation die Erzählung des Spielfilms maßgeblich um konkret benennbare, historische Informationen ergänzt, dass also die im Kern stehende Story im Film mit einem historischen Rahmen aus ereignis- und politikgeschichtlichen Informationen authentifiziert wird. Wie wird dieses komplementäre Verhältnis in der Wahrnehmung der Jugendlichen erzählerisch hergestellt? Welche Mittel des Erzählens finden in der Dokumentation Anwendung, die von den Jugendlichen als Authentifizierungs-Ressourcen angesehen werden? Die enge Verbindung zwischen Dokumentation und Spielfilm mit Blick darauf, was in beiden Formaten erzählt wird, das heißt auf die Narrative in beiden Formaten, spielt für viele Jugendliche eine besondere Rolle. Sie ist ein Spezifikum des Medienevents, das sich auch bei anderen TV-Produktionen zur Zeitgeschichte wiederfindet, und dieses Spezifikum wird von vielen Jugendlichen wahrgenommen. Dass die thematisch enge Verknüpfung eine authentifizierende Funktion aufweisen kann, zeigt sich in einer Sequenz des Gesprächs mit der Magdeburgerin Laura Pia sehr anschaulich: I: Mhm. (1,5)

glaubst du, dass man sich über (.) über das Bild, was von der DDR da

gezeichnet wird, streiten kann? LP: Ja. bestimmt. @also das denke ich schon, weil@ (.) ähm naja wie gesagt also für mich wirkt das halt so beengt und klein, und aber Leute die eben da gelebt haben, würden das denke ich noch ganz ganz anders sehen, weil (.) ja, also die würden denke ich schon, es gibt ein paar Leute, die würden sagen, nein nein nein, so war das alles nicht, und dann würde es Leute geben die sagen ja, könnte man so darstellen, aber (.) mhm, und tendenziell neigen ja auch die Leute immer dazu, das sozusagen zu verbessern, was dargestellt wird und (.) //mhm// ähm also die die da gelebt haben, weil sie wollen sich ja nicht so (.) ja °sozusagen abstempeln lassen° als wir haben da gelebt, wo es schlecht war. aber ja im Film wird das ja sozusagen so dargestellt, dass (.) ja es ist halt so für mi- für mich jedenfalls so=ne kleine Welt irgendwie so abgeriegelt nach außen, du kannst da und da hin reisen, wenn du möchtest, aber dahin nicht, und dahin auch nicht, was ja auch in der DD- ((dede-)) äh in der Dokumentation gut zu sehen war, ähm wo die da das Auto von: den Menschen umringt war, der da: in dem Hotel war, °aber ich weiß nicht mehr genau wer das war.° (.) und ähm da standen die da und da haben die auch so Interviews gegeben, //mhm// ähm (.) und da meinte=er auch so ja wir möchten frei reisen, wir möchten dahin reisen wo wir wollen, wir haben nur ein Leben, und das möchten wir gerne so gestalten, wie wir das möchten, (.) u:nd (.) ich denke mal im Film wird eben genau die Seite von der DDR dargestellt, wie sie eben auf der einen Seite war unfrei und (.) ja kontrolliert, und deswegen denke ich, dass man darüber auch streiten kann, weil (.) dass da eben auch wieder auf die meine so geliebte Perspektive ankommt. //mhm// wie man darauf

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guckt. und es gibt eben Leute, die haben sich dadurch nicht eingeengt gefühlt, die fanden das eben sowieso gut und deswegen brauchten sie sich da auch keine Gedanken machen, //mhm// dann gibt es eben die Leute, die das genauso sehen würden denk ich mal vielleicht wie ich oder wie es im Film auch dargestellt ist.104

Zunächst verhandelt die jugendliche Zuschauerin ausführlich darüber, ob es sich beim Gesehenen um eine strittige Darstellung der Verhältnisse in der DDR handle. Durchaus elaboriert legt sie dar, dass dies aus ihrer Sicht zweifellos und selbstverständlich der Fall sei, schließlich biete der Film nur eine Version an, und diese zeichne die DDR als „so beengt und klein“, naturgemäß seien aber auch andere Wahrnehmungen durch Zeitzeugen*innen möglich, die die DDR „ganz ganz anders sehen“ würden. Laura Pia fügt dann sogar noch einige Gedanken zur Quellenkritik des Zeitzeugenberichts an und betrachtet diesen als möglicherweise vom Interesse gefärbt, „sich ja nicht so (.) ja °sozusagen abstempeln lassen°“. Insofern dokumentiert sie hier die Überzeugung, dass jegliches historische Erzählen perspektivenabhängig und Multiperspektivität ein Charakteristikum auch der Darstellung von DDR-Geschichte sei. Sie beschließt die Ausführungen vorerst mit einer Art Zwischenfazit zum Spielfilm: „aber ja im Film wird das ja sozusagen so dargestellt,“. Anschließend äußert die Jugendliche ihre eigene Position („halt so für mi- für mich jedenfalls“) zu der Frage, inwieweit diese Darstellung angemessen sei. Sie betrachtet dazu die Thematik der Freiheit und Reisefreiheit und kommt zum Ergebnis, dass die DDR „so=ne kleine Welt irgendwie so abgeriegelt nach außen,“ gewesen sei. „du kannst da und da hin reisen, wenn du möchtest, aber dahin nicht, und dahin auch nicht,“. Als Argument für die Authentizität des Spielfilms führt sie sogleich die Dokumentation ins Feld, und hier wird sichtbar, wie genau diese als authentifizierende Ressource von ihr genutzt wird: Laura Pia verweist auf eine Szene in der Fernsehdokumentation: „was ja auch in der DD- ((dede-)) äh in der Dokumentation gut zu sehen war, ähm wo die da das Auto von: den Menschen umringt war, der da: in dem Hotel war, °aber ich weiß nicht mehr genau wer das war.° (.) und ähm da standen die da und da haben die auch so Interviews gegeben, //mhm// ähm (.) und da meinte=er auch so ja wir möchten frei reisen, wir möchten dahin reisen wo wir wollen, wir haben nur ein Leben, und das möchten wir gerne so gestalten, wie wir das möchten,“. Sprachlich führt sie in dieser Passage damit die Szene der Dokumentation als Argument für die Authentizität der Film-Story ein, es handelt sich insofern um eine Unterstützung des Eindrucks, den Laura Pia vom Spielfilm gewonnen hat und der im dokumentarischen Format eine Bestätigung erfährt. In der besagten Szene werden Archivaufnahmen gezeigt, in denen westdeutsche Fernsehreporter zahlreiche DDR-Bürger interviewen. Den abstrakt formulierten Eindruck der Beengtheit und der Beschränkung der Reisefreiheit sieht sie in diesen Szenen kon104 Transkript LP, MD, Z. 389-416.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 265

kretisiert, als dass ihr hier Menschen vorgeführt werden, die das im Film Gesehene, den Eindruck der Beengtheit und des Abgeriegeltseins, verkörpern. Ihre Lesart wird in der Doku somit personifiziert und konkretisiert. Die gezeigten Menschen, die Interviews geben und für ihr Recht auf eine selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebens protestieren, machen für die Jugendliche ganz konkret sichtbar, dass das Abstrakte im dokumentarischen Format eine konkrete, menschliche, personifizierte Entsprechung aufweist. Nachdem sie dieses Argument ausgeführt hat, nach einem Innehalten, spricht sie dann ein kleines Fazit, das aus ihrer Sicht letztlich für die Authentizität der Darstellung im Spielfilm spricht: „(.) u:nd (.) ich denke mal im Film wird eben genau die Seite von der DDR dargestellt, wie sie eben auf der einen Seite war unfrei und (.) ja kontrolliert,“. Das in der Dokumentation Gesehene wird nun als historische Folie für die Bewertung des Spielfilmnarrativs angewendet. Damit führt sie das Argument, das ihr die dokumentarischen Bilder bieten, zurück auf den Spielfilm: Der aus dem Film gewonnene Eindruck über spezifische Aspekte der DDR-Geschichte wird durch Szenen der Dokumentation bestätigt, die somit den Film authentifizieren. Hinzu kommt, dass es sich bei den gezeigten Bildern in der Szene der Doku, auf die sie hier verweist, noch dazu um Archivaufnahmen, mithin quellenauthentische Bilder handelt. Dies spricht die Jugendliche in der analysierten Sequenz nicht explizit an. Vielmehr ist es die inhaltliche Übereinstimmung anhand eines Narrativs, dass zwischen Spielfilm und Doku eine enge Verbindung herstellt und letztere damit zur Authentifizierungs-Ressource wird. Doch zweifellos wird die Tatsache, dass es sich um Archivaufnahmen handelt, eine nicht geringe Rolle spielen, wird doch hier zwischen offenbar authentischen Bildern, die die Journalisten aus der BRD in der DDR gedreht haben, und der Erzählung des Spielfilms ein inhaltlicher Konnex etabliert. Wenn die Rezipientin auch den Aspekt der Multiperspektivität danach erneut aufgreift, so besteht dennoch für sie kein Zweifel darüber, dass die im Film dargestellte Perspektive, die die fehlende (Reise-)Freiheit der Menschen ins Zentrum rückt, eine authentische Darstellung der Verhältnisse in der DDR ist. Die Szene der Dokumentation stellt für Laura Pia also eine AuthentifizierungsRessource dar. Ihre Lesart des Films, ihr Eindruck, den sie aus dem Spielfilm über die DDR gewonnen hat, findet in einer konkreten Darstellung der Dokumentation eine Entsprechung. Dass diese auf unterschiedlichen Ebenen beobachtet wird, hier abstrakt, dort konkret, ändert nichts daran, dass es sich letztlich um eine enge Verknüpfung der Narrative des Spielfilms und der Dokumentation handelt. Dass ein Narrativ aus der fiktionalen Erzählung in anderer Form im Dokumentarischen auftaucht, jedoch den gleichen Gegenstand thematisiert und inhaltlich anschlussfähig ist, führt zur Authentifizierung des Spielfilmnarrativs und kann so als Authentifizierungs-Ressource gelten.

266 | Wie Stories zu History werden

Auch bei weiteren Jugendlichen findet sich die thematische Ergänzung und Kompatibilität der Spielfilmnarrative mit den Darstellungen in der Dokumentation: I: […] Was sind denn diese geschichtlichen Ereignisse, die in der Doku nochmal ähm erzählt werden? MAG: └ähm┘ (.) das waren eben v- vor allem die Montagsdemo und die Durchfahrt des Zugs aus Prag (.) im Dresdner Bahnhof, vor allem das und zum Bei::spiel auch da::ss ähm (1) bei den Demos di- (.) was man nur in der Doku erfahren hat, dass die dann irgendwie (.) eingekesselt wurden, die Demonstranten, und dass (.) irgendwer erreicht werden sollte, °glaub Oberbürgermeister oder° jedenfalls ein (.) se:hr Hochgestellter, der aber dann in der Oper war zu der Zeit, //mhm// weil die (.) mit als Einziges nach=dem (.) Zweiten Weltkrieg neu aufgebaut wurde. //mhm// was so jetzt im Film (.) nicht zu sehen war.105

In dieser Sequenz wird präzise erkennbar, wie sich für die jugendliche Rezipientin das Verhältnis von Dokumentation und Spielfilm gestaltet. Die Nachfrage nach den „geschichtlichen Ereignisse[n], die in der Doku nochmal ähm erzählt werden?“ – wohlgemerkt führt Magdalena diesen Begriff zuvor selbst ein, er wird hier nur nochmals durch den Interviewer aufgegriffen – resultiert in einer Benennung eben dieser Ereignisse: „die Montagsdemo und die Durchfahrt des Zugs aus Prag (.) im Dresdner Bahnhof“ würden in der Doku ebenfalls thematisiert. Darin zeigt sich erneut, dass die Dokumentation Narrative des Spielfilms aufgreift und auf der Grundlage dieser Äquivalenz die Film-Story authentifiziert. Die enge inhaltliche Verknüpfung von Spielfilmszenen und Handlungssträngen mit ihrer Re-Thematisierung in der Doku verdeutlicht und bestätigt die „Geschichtlich- lichkeit de:r Ereignisse“ in den Augen der Zuschauerin und überzeugt sie, es mit einer authentischen Darstellung zu tun zu haben. Das Ende der Sequenz verdeutlicht den Mehrwert der Dokumentation in dieser Funktion, weil sie letztlich ergänze, „was so jetzt im Film (.) nicht zu sehen war“. In dieser Wendung veranschaulicht Magdalena zusätzlich einen Mehrwert der Dokumentation, der über das Aufgreifen der Spielfilmnarrative hinausgeht: Die Äußerung „was man nur in der Doku erfahren hat,“ illustriert, dass die Doku für die Zuschauerin eine Art Informationsvorsprung im Hinblick auf historische Themen besitzt, also über das bereits im Film Dargestellte hinausgeht und historische Hintergründe zur Filmstory liefert. Damit nimmt die 45-minütige Dokumentation eine audiovisuelle ‚Expertenrolle‘ für den Spielfilm ein, die den Rezipienten*innen nicht nur mit unmittelbar zum Filmgeschehen passenden Informationen versorgt, sondern einiges darüber hinaus an historischem Hintergrundwissen liefern kann. Die Dokumentation erhält durch diesen Status in den Augen der Jugendlichen zwangsläufig

105 Transkript MAG, MD, Z. 39-50.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 267

eine hohe Glaubwürdigkeit, und durch die enge Verbindung zum fiktionalen Format wirkt sie somit als verlässliche Authentifizierungs-Ressource. Anhand dieser Analysen wird deutlich, dass die direkte Bezugnahme der Dokumentation auf die Narrative des Spielfilms eine wichtige Ressource für die Authentifizierung der Spielfilm-Story darstellt. Die Besonderheit des TV-Events „Der Turm“, dass eine eigens produzierte und inhaltlich sehr enge Bezüge herstellende Dokumentation ausgestrahlt wurde, weist eine größere Bedeutung als Authentifizierungs-Ressource auf, als hätten die Programmplaner*innen nur eine vom Spielfilm unabhängige, eigenständige Dokumentation gezeigt. Sehr wohl nehmen die Jugendlichen wahr, dass die Ereignisse der Handlung im Spielfilm dokumentarisch direkt aufgegriffen werden. Diese Bezugnahme geht über eine allgemeine thematische Verbindung hinaus, indem konkrete Ereignisse der fiktional erzählten Handlung dokumentarisch unmittelbar aufgegriffen und von einer glaubhaften Dokumentation mit weiterführendem, historischen Hintergrundwissen versehen werden. Dieses enge Verhältnis der beiden Formate wird nicht nur dadurch hergestellt, dass die Dokumentation sich auf Narrative des Spielfilms bezieht. In der folgenden Sequenz aus dem Interview mit Michaela erfahren wir, nachdem zunächst die bisherigen Erkenntnisse bestätigt werden, von einem besonderen erzählerischen Mittel, das für die enge Verbindung von Spielfilm und Doku mitbestimmend ist: I: Mhm. ähm (.) Dresden ist ja auch irgendwie ähm in der Doku gefallen, //mhm// ähm worum ging es in der Doku? MI: In der Doku ging es ja eigentlich äh hauptsächlich um Dresden und Han:s Modrow ((mit kurzem erstem "o" gesprochen)), wobei ich den gar nicht so richtig kannte, und das wurde aber so vorausgesetzt, dass man den kannte, //mhm// und deswegen hätte ich (.) da das besser gefunden, dass man ihn nochmal ein bisschen vorstellt, (.) u::nd da ging es ja eigentlich so um die Montagsdemoati- Demonstrationen, u:nd äh das äh da wurden ja auch (.) äh Interviews gezeigt, äh wie die ähm (.) westdeutschen äh ähm Journalisten dann rüberkamen in den Osten und die äh Ostdeutschen da ähm gefilmt und interviewt haben, u:nd (4)

@oh Gott@

I: @(.)@ MI: ähm da ach ja da wurde dann auch erzählt, was ich sehr interessant fand, dass die westdeutschen Journalisten auch (.) gar nicht so (.) also zum Beispiel mit den Montagsdemo(nstra)tionen haben sie ja gar nicht ähm gefilmt oder so, einfach um die Ostdeutschen da zu äh schützen, damit da nix passiert und //mhm// dass sie auch nicht irgendwie in die Öffentlichkeit (.) i:n Ostdeutschland gelangt, weil sonst wären die ja wirklich geliefert gewesen, also wenn die (.) genau ähm eine Person da jetzt äh spezifisch gezeigt worden wäre. //mhm// das fand ich dann schon interessant so, weil das wusste ich zum Beispiel auch nicht, dass man das gar nicht so gefilmt hat, und dass die westdeutschen (ja auch) Journalisten da wirklich aufgepasst haben auf die Ostdeutschen, //mhm// ich dachte, da gibt es mehr (.) vielleicht so Hass oder ni- keinen Hass, sondern (.) dass die da gar nicht so drauf geachtet hätten, also (.) das wäre denen so egal gewesen, //mhm// dachte ich eher. aber

268 | Wie Stories zu History werden

dass die da wirklich so Respekt vor denen hatten u:nd da einfach auf die au- aufgepasst haben, das finde ich gut. //mhm// dass man das auch so sehen konnte, weil das auch mal so erwähnt wurde und (.) dann war ja au- waren ja auch so Filmausschnitte dabei, aus dem Film, und das fand ich dann auch wieder gut, weil (.) das hat die Dokumentation so ein bisschen ins Leben gebracht und (.) man hat es besser verstanden irgendwie, wenn man mehr Bilder sieht, also zum Beispiel einen Film, der auf äh geschichtlichem Wissen basiert, find ich schon immer sehr gut, wenn man da dann (.) die Geschichte einfach mehr kennenlernt, aber ne Dokumentation finde ich auch immer (.) nochmal interessanter, wenn sie mit Filmausschnitten oder anderen (.) Bildmaterial und Filmmaterial so darg- äh wiedergelegt wird.106

Zunächst schildert Michaela ausführlich eine Thematik, die die Dokumentation ausbreitet und die das im Spielfilm Dargestellte nicht direkt aufgreift, sondern ergänzt. Sie erfährt in der Sendung einiges über Dresden und den dort ansässigen Ersten Sekretär der Bezirksleitung der SED Hans Modrow, und nicht nur in der ungewöhnlichen Aussprache seines Namens zeigt sich, dass ihr vieles davon unbekannt ist und sie einiges Neues durch die Dokumentation hört. Sie geht unter anderem auf das in der Dokumentation dargestellte Verhalten einiger „West“-Journalisten ein, die sich um die Sicherheit der Bürger der DDR sorgten und sich in Michaelas Wahrnehmung überraschend respektvoll verhielten. In der ausführlichen Schilderung wird deutlich, dass die Jugendliche in der Dokumentation einen erheblichen Mehrwert sieht und hier ihre historische Neugier bedient wird. Neben diesem großen Plus der Doku erkennt sie darin einen weiteren Vorteil, der auf einem ganz besonderen erzählerischen Mittel beruht: „dann war ja au- waren ja auch so Filmausschnitte dabei, aus dem Film,“. Damit spricht sie an, dass die Dokumentation einige Szenen des Spielfilms aufnimmt und diesen somit audiovisuell zitiert. Beispielsweise wird das Weihnachtsessen der Familie Hoffmann, eine Szene, in der die gesamte Familie zusammenkommt und sich Witze über die sozialistische Mangelwirtschaft erzählt, auch in der Dokumentation eingespielt. Diese Filmzitate lobt Michaela ausdrücklich, weil es aus ihrer Sicht „die Dokumentation so ein bisschen ins Leben gebracht“ habe und „man“ „es besser verstanden“ habe. Interessant ist an dieser Stelle, dass die Zuschauerin hier zunächst ihre Gedanken auf die Dokumentation fokussiert, das heißt nicht fragt, welche Bedeutung sie für den Spielfilm, sondern umgekehrt welche Relevanz dieser für das dokumentarische Format besitzt. Die Thematik der Demonstrationen in Dresden im Zusammenhang mit Parteisekretär Hans Modrow, die die Dokumentation aufgreift, wird durch die verwendeten Ausschnitte aus dem Spielfilm für Larissa offenbar stärker veranschaulicht. Damit kann man von einem profitablen Verhältnis zwischen beiden Sendungen sprechen, die das TV-Event aus Produzentenperspektive als gelungen 106 Transkript MI, BS, Z. 314-349.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 269

erscheinen lassen: Während die Dokumentation, wie andere Passagen gezeigt haben, als authentifizierende Ressource positiven Einfluss auf die Spielfilmrezeption ausübt, profitiert die Dokumentation umgekehrt auch vom Spielfilm. Indem sie Szenen daraus zitiert und die historischen Informationen so veranschaulicht und personifiziert wird, erfährt das in der Dokumentation Erzählte für einige Zuschauer*innen eine größere Lebendigkeit und Verständlichkeit. Was genau „man“ durch die Anschaulichkeit der Spielfilmszenen in der Dokumentation besser verstanden habe („es“), bleibt zunächst unklar, sodass die Interviewpartnerin versucht, ihre Ausführungen detaillierter zu verdeutlichen. Spielfilme, die „auf äh geschichtlichem Wissen“ basierten, finde sie allein „schon immer sehr gut“, „aber ne Dokumentation finde ich auch immer (.) nochmal interessanter“, insbesondere, wenn diese die darin dargestellte Geschichte „mit Filmausschnitten oder anderen (.) Bildmaterial und Filmmaterial so darg- äh wiedergelegt wird“. In diesen Ausführungen wird nochmals deutlich sichtbar, dass der Spielfilm hier als „Bilderlieferant“ für die Dokumentation agiert und die Dokumentation für die Zuschauerin anschaulicher und verständlicher wird. Inwiefern weist dies eine authentifizierende Funktion auf? Zunächst wird durch das Zitat von Spielfilmausschnitten in der Dokumentation mit einem filmischen Mittel das sehr enge Verhältnis beider Formate weiter bestärkt. Der Bezug zwischen beiden wird dezidiert sichtund hörbar, sodass fiktionales und non-fiktionales Fernsehformat in der Rezeption des Medienevents zu einer stärkeren Einheit verschmelzen. Diese Verbindung muss letztlich für die Film-Story eine authentifizierende Funktion aufweisen, da die Glaubwürdigkeit des dokumentarischen Formats für die Jugendlichen außer Frage steht und somit die Zweifel über die Authentizität der fiktionalen Spielfilmerzählung beiseite wischen kann. Wenn die Zuschauer*innen in einem Format, das in ihrer Wahrnehmung einen dokumentarischen Anspruch vertritt und der historischen Wahrheit verpflichtet ist, Szenen des fiktionalen Spielfilms sehen, kann die fiktionale Erzählung der DDR-Geschichte im Spielfilm nur authentisch sein, andernfalls würde die Doku die Bilder kaum aufgreifen können. Damit wird das Zitat von Spielfilmszenen in der Dokumentation für einige Zuschauer*innen zu einer Ressource, die den Spielfilm authentifiziert. Darüber hinaus ließe sich aber auch vermuten, dass die zitierten Bilder nicht nur die Anschaulichkeit der Doku erhöhen und diese die Spielfilm-Story authentifiziert. Vielmehr könnten auch die genutzten Filmausschnitte selbst, also konkret jene Szenen, die in der Doku auftauchen, in den Augen der Jugendlichen eine andere Bewertung erfahren, schließlich finden sie sich in einer nicht-fiktionalen Erzählung wieder. Eine Sequenz aus dem Interview mit der Jugendlichen Larissa legt diese Vermutung nahe. Das Gespräch dreht sich unmittelbar vor dieser Stelle um den Vergleich zwischen fiktionalen und non-fiktionalen filmischen Erzählungen, und Larissa vergleicht hier etwa „Terra X“ mit dem „Turm“. Sie erörtert die Frage, wie

270 | Wie Stories zu History werden

denn der Spielfilm für sie einen stärker historischen Schwerpunkt hätte erhalten können: I: Aha, ähm (.) wie hätte man denn den Film (.) äh wie hätte man das noch stärker machen können im Turm? LA: Oh je. (3)

also wenn=es jetzt nicht so=ne

wirklicher Film (.) sein soll, so=n Spielfilm, dann würde ich vielleicht doch noch so (.) manchmal kommen ja so von Historiker- oder so so Kommentare dazu, //mhm// ähm sowas hätte ich dann vielleicht noch eher mit reingebracht, °damit=es mehr so den historischen Aspekt bekommt.° I: Ja. und hat die Doku dafür (.) also die Doku zum Turm jetzt, hat die diese historischen Aspekte stärker gemacht? LA:└Ja. auf jeden Fall. ┘ finde=ich schon. I:

Da-

LA: └Auch┘ wegen den Originalbildern, und allem. I: Was für Originalbilder meinst du? LA: Zum Beispiel die Demonstration mit diesen Kerzen? //mhm// die wurden zwar im Spielfi- Spielfilm übernommen, //mhm// aber es war (.) klar, dass es halt nachgespielt war, //mhm// und bei den Originalbildern hat man schon mehr so=ne (.) authentischen Blick darauf bekommen.107

Larissa denkt hier über Mittel der Gestaltung nach, die den Schwerpunkt des Films stärker auf historische Aspekte legen würden. Als Beispiel nutzt sie Interviewsequenzen mit Historikern*innen, die „mehr so den historischen Aspekt“ betonen könnten. Damit benennt sie ein häufig zu findendes Stilmittel dokumentarischen Erzählens, bei dem Experten*innen vor der Kamera Auskunft über die historische Thematik der Sendung geben. Dieser Vorschlag ist insofern bemerkenswert, als dass sie die Frage, die sich auf den Spielfilm bezieht, hier umgeht, und sie stattdessen über „nicht so=ne wirklicher Film (.) […] so=n Spielfilm,“ nachdenkt. Damit macht sie implizit deutlich, dass beim Spielfilmzweiteiler nur begrenzt die Darstellung von Geschichte im Zentrum stehen kann – und vielmehr ein anderes Format audiovisuellen Erzählens, „nicht so=ne wirklicher Film“, hinzukommen muss, um die historischen Aspekte stärker ins Zentrum zu rücken. Die Doku zum „Turm“ erfüllt zweifelsfrei diese Funktion, beim Blick auf den Spielfilm stärker dessen historische Aspekte in den Fokus zu rücken: „Ja. auf jeden Fall.“ spricht sie laut aus, noch während der Frage des Interviewers. Einen Grund für diese Einschätzung liefert sie mit „den Originalbildern“, die in der Doku zu sehen seien. Anfangs ist hier nicht klar, was sie mit dem Begriff meint, worauf sich das „Original“ eigentlich bezieht. Geht sie hier auf die Ausschnitte ein, die original aus 107 Transkript LA, MD, Z. 315-338.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 271

dem Spielfilm stammten, oder bezieht sie sich auf Archivaufnahmen, die in der Doku verwendet werden? Tatsächlich scheint das Verhältnis zwischen den Bildern in Spielfilm und Dokumentation wechselseitig gestaltet zu sein: Larissa spricht eine „Demonstration mit diesen Kerzen“ an, die in ihrer Wahrnehmung offenbar in beiden Sendungen bildlich dargestellt wurde. Einerseits benennt sie diese Szene als Darstellung im Spielfilm, doch es wird deutlich, dass deren Ursprung offenbar in „Originalbildern“ liegen müsse und im Film diese Bilder nur aufgegriffen wurden, also „dass es halt nachgespielt war“. Diese Beobachtung, über die sich die jugendliche Rezipientin sehr sicher zu sein scheint, ist insofern bemerkenswert, als dass sie hier nahelegt, dass der Spielfilm sich „Originalbilder“, die in der Doku auftauchen, direkt zum Vorbild genommen habe. Entsprechend hätten die Filmemacher unmittelbare Vorlagen für diese Szene des Spielfilms verwendet und „Originalbilder“ nachgestellt. In ihrem letzten Satz wird deutlich, dass „Originalbilder“ einen „authentischen Blick darauf“ ermöglichten, und es ist wohl plausibel, dass sie sich mit dem Begriff auf Archivbilder bezieht, die in der Dokumentation gezeigt werden. Das Verhältnis zwischen Archivbildern in der Dokumentation und den Spielfilmszenen gestaltet sich in ihren Ausführungen so, dass zwischen beiden ein mimetisches, ein nachahmendes Verhältnis besteht: Für die Zuschauerin Larissa liegen der Darstellung in dieser einen Szene des Spielfilms unmittelbar quellenauthentische Archivaufnahmen zugrunde, die im fiktionalen Format „halt nachgespielt“ werden. Die Doku authentifiziert damit aus ihrer Perspektive den Spielfilm, indem sie Archivaufnahmen zeigt, die visuell den Bildern des Films gleichen und den Eindruck erwecken, als würden authentische Originalaufnahmen, Filmquellen, im fiktionalen Zweiteiler nachgedreht. Dies führt die Zuschauerin zur Überzeugung, dass die Darstellung im Rahmen der fiktionalen Erzählung kaum frei ist, sondern dass sich die Bilder sehr stark an authentische Archivbilder anlehnen. Diese Annahme der Jugendlichen dokumentiert eine weitaus stärkere Überzeugung, glaubwürdig erzählte Geschichte im Spielfilm zu sehen, als das Erzählte lediglich als potentiell möglich oder historisch plausibel anzusehen – die Bilder des Spielfilms beruhen auf einer Übertragung der Authentizität filmischer Quellen in der Dokumentation auf die Bilder des Spielfilms, die so zu authentischen Darstellungen werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Zitat von Spielfilmszenen in der Dokumentation eine Authentifizierungs-Ressource für die jugendlichen Rezipienten*innen repräsentiert, die eine enge Verknüpfung zwischen Spielfilm und Dokumentation etabliert und somit aus beiden Sendungen ein sehr kohärentes TVEvent macht. Dass die Jugendlichen in der Dokumentation Szenen sehen, die sie bereits aus dem Spielfilm kannten, sorgt einerseits für eine Konkretion und Personifizierung des in der Doku Erzählten. Andererseits wird durch das Zitat der Bilder im non-fiktionalen Format eine Authentifizierung der Spielfilmszenen erreicht, die bisweilen bis hin zu der Überzeugung reicht, dass es sich dabei um nachgespielte Archivaufnahmen und folglich die Abbildung authentischer Filmquellen im Spiel-

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film handelt. Zweifelsohne wird durch diese Authentifizierungs-Ressource die Einschätzung, im Spielfilm eine authentische Story zu sehen, aus der Sicht einiger Zuschauer*innen enorm bestärkt. Bisher wurde in diesem Kapitel die enge Verknüpfung zwischen Dokumentation und Spielfilm-Zweiteiler als eine Besonderheit des TV- und Medienevents „Der Turm“ beschrieben. Dieses Spezifikum wird zusätzlich erreicht durch einen Komplex, der im Überblick über die geführten Gespräche die vielleicht größte Bedeutung unter den Elementen der Dokumentation aufweist: das Verhältnis, in dem die Figuren des Spielfilms zu ihren Darsteller*innen, die auch in der Dokumentation sprechen, und den ebenfalls in der Dokumentation auftretenden Zeitzeugen*innen zueinander stehen. Im Gespräch mit der Braunschweigerin Daniela geht sie auf die Dokumentation zum Spielfilm ein, und bereits am Beginn der Sequenz wird deutlich, dass die angesprochene Thematik für sie eine zentrale Rolle spielt: I: Ähm wir haben ja neben diesem historischen Drama wie du gesagt hast äh auch noch die Doku gesehen, DA: └Ja. I:

worum ging=es da, deiner Meinung nach?

DA: Ja da wurde (.) halt der Film nochmal reflektiert, ähm auch von den (.) Schauspielern zum einen, und auch aber von den eigentlichen Personen, um die=es die es da eigentlich ging, //mhm// also so die (.) die da nachgespielt wurden, so ungefähr, die haben ja aus: (1) deren ähm (1)

eben eigenen Erfahrungen dann halt auch (also) es waren auch so zum

Teil Zeitzeugenberichte, °aber auch dieser (.) Jan Josef: S- (.)° I: Liefers? DA: └Liefers,┘ genau, de:r war ja (halt) ist ja auch in der (.) DDR geboren, und der hat dann auch noch (.) von sich, äh von seiner (.) von seinem Leben, seiner Kindheit erzählt, (also) das Buch habe ich auch gelesen, seiner (.) I: Was für=ein Buch? DA: Ähm er hat ein Buch geschrieben, ich weiß nicht mehr, wie=es heißt, das=ist auch über seine Kindheit in der DDR, ich hatte in der 10. Klasse mal über Kindheit in der DDR mal ne mündliche Prüfung gemacht, und da: habe ich das Buch zu gelesen, war eigentlich ganz interessant. //mhm// (.) un:d ähm (.) ja, das ist (.) war halt einfach nur Reflexion, und (.) die haben dann aber auch nochmal klargestellt, dass die (.) mit dem Endergebnis der DDR so dann wirklich die (.) Wiedervereinigung dass die meisten einfach halt auch nicht zu- mit zufrieden waren, d- weil sie das ja nicht wollten, sie wollten ihren eigenen Staat, und (.) nicht (.) jetzt mit dem mit der BRD jetzt verbunden sein. sondern einfach nur dass sich was in dem Staat ändert. und das wollten haben die halt auch nochmal (.) gesagt. I: Mhm. du hast gerade gesagt dass ähm die Doku den Film nochmal reflektiert, und zwar mit den Schauspielern, aber auch mit den Figuren, DA: Ja? so hab ich das zumindest verstanden, also so-

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 273

I:

└Ähm (2)

was was f-┘ für Figuren sind das, kannst du die

vielleicht nochmal ein bisschen genauer beschreiben? DA: Ähm das waren (.) zum einen irgendwie der Bürgermeister aus Dresden glaube ich, einmal der Schauspieler glaube ich und der echte, //mhm// (.) sicher bin ich mir aber nicht mehr, ähm: (.) und (2)

noch so=ne alte Frau, ich weiß aber nicht mehr, nee

ich glaub die ist im Film gar nicht (.) richtig vorgekommen, oder? diese alte Frau? I: Wen meinst du? DA: Das war so=ne a- (.) ja ich weiß nicht mehr, wie sie heißt, das war ne alte (.) relativ alte Frau, schon auch weißgraues Haar, //mhm// (.) ich ich wu- konnte=die die konnte ich nicht zuordnen, irgendwie so richtig im Film, //mhm// (2) nochmal erzählt, wie=es damals war, und (.) ja.

ja und die haben auch

108

Zunächst bekundet Daniela eine ähnliche Einschätzung der Dokumentation, wie sie sich auch schon bei anderen Jugendlichen gezeigt hatte. Sie spricht den engen Bezug zum Spielfilm an, der durch das dokumentarische Fernsehformat hergestellt werde. Sie benennt dann zwei unterschiedliche Typen von Akteuren, die in der Dokumentation auftreten und von denen die von ihr angesprochene Reflexionsleistung gegenüber dem Spielfilm mit erbracht werde: „von den (.) Schauspielern zum einen, und auch aber von den eigentlichen Personen, um die=es die es da eigentlich ging,“. Damit geht sie darauf ein, dass einerseits die prominentesten Mitglieder des Filmensembles, Jan Josef Liefers und Claudia Michelsen, auch in der Dokumentation zum Film einen Auftritt haben, und andererseits zahlreiche, prominente und weniger prominente Zeitzeugen*innen ebenfalls zu Wort kommen. Im Sprechen über eben diese „Personen“ scheint bereits eine Besonderheit auf: Daniela signalisiert mit ihrer Wortwahl und Betonung („eigentlichen“), dass hinter den Figuren im Spielfilm etwas Ursprüngliches liege, auf dem die Darstellung beruhe. Darin zeigt sich die Annahme, dass die Figuren des Spielfilms eine historische Vorlage besäßen, dass also die fiktiven Figuren des Films auf der Grundlage von Personen, die in der Dokumentation aufgetreten seien, im Spielfilm „da nachgespielt wurden“. Sie charakterisiert das Verhältnis zwischen den Figuren des Spielfilms und den in der Dokumentation auftretenden Personen somit als ein Abbildverhältnis – die Filmfiguren beruhten in den Augen der Zuschauerin auf einer direkten historischen Vorlage, die in der Dokumentation zu Wort käme. Dass die Filmfiguren objektiv keineswegs die Erfahrungen und Berichte von Zeitzeugen*innen abbilden, die in der Dokumentation ihre Erlebnisse schildern, spielt für die Einschätzung der Jugendlichen freilich keine Rolle und soll hier auch nicht bewertet werden – interessanter erscheint die Einschränkung, die Daniela unmittelbar nach ihrer Aussage anfügt. Mit dem Ausspruch „so ungefähr,“ revidiert sie teilweise das von ihr behauptete Abbildverhältnis; sie scheint sich nicht ganz si108 Transkript DA, BS, Z. 11-62.

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cher in ihrer Einschätzung zu sein, dass die Figuren des Spielfilms eine unmittelbare historische Vorlage in Form eines*r Zeitzeugen*in in der Doku besitzen. Keineswegs aber nimmt sie ihre These ganz zurück, sondern bleibt bei der nun etwas vorsichtiger vorgetragenen Annahme. Um es nochmals pointiert zusammenzufassen: Die Jugendliche sieht einen fiktionalen Spielfilm, in dem über das letzte Jahrzehnt der DDR erzählt wird, und gelangt durch das Auftauchen von Zeitzeugen*innen in der zugehörigen Fernsehdokumentation zu der Überzeugung, dass die fiktiven Figuren des Spielfilms authentische Abbildungen der Erlebnisse von historisch realen Zeitzeugen*innen sind. Dass diese Einschätzung von ihr vorgenommen wird, macht die Zeitzeugen*innen in der Dokumentation zu einer mächtigen Ressource der Authentifizierung der Filmstory. Neben den hier anonym bleibenden Zeitzeugen*innen sticht in der Beschreibung von Daniela der Name des Schauspielers Jan Josef Liefers heraus: Sie stellt ihn den „Zeitzeugenberichte[n]“ in gewisser Weise gegenüber, sie benennt ihn zunächst (mit Unterstützung des Interviewers) als Schauspieler, der den Film „reflektiert“. Er taucht damit als ein Mitglied der Filmcrew auf, das aus einer professionellen Haltung heraus über die Erzählung spricht. Zugleich besitzt dieser Filmprofi jedoch ebenfalls die Eigenschaft, „auch in der (.) DDR geboren“ zu sein und „von seiner (.) von seinem Leben, seiner Kindheit“ erzählen zu können, und vereint somit gleich zwei Arten von Expertise in seiner Person. Er ist als professioneller Filmschaffender Experte für die Produktion des Spielfilms und zugleich in seiner Eigenschaft als Zeitzeuge für die dargestellte Zeit der DDR auskunftsfähig. Damit nimmt er eine Rolle ein, deren Status noch über jenen der anderen Zeitzeugen*innen hinausgeht. Zudem besitzt er in diesem Fall einen Sonderstatus für die Jugendliche, die sich im Kontext einer Prüfung in der Schule mit der Person intensiver auseinandergesetzt und seine Autobiographie gelesen habe. Insbesondere dieser zweifache Experte, der in der Dokumentation zu Wort kommt, liefert für Daniela also eine „Reflexion“ des Spielfilms. Dass die Aussagen aber auch über eine Reflexion hinausgehen, wird in dem laut von der Jugendlichen gesprochenen Satz deutlich, in dem sie betont, dass die Bevölkerungsmehrheit in der DDR „ihren eigenen Staat, und (.) nicht (.) jetzt mit dem mit der BRD jetzt verbunden sein“ wollte. Hier zeigt sich, dass die Zeitzeugen*innen, insbesondere der Schauspieler und Zeitzeuge Jan Josef Liefers, „nochmal klargestellt“ hätten, was bereits im Spielfilm angesprochen worden war. Wenn in dieser Wortwahl auch ein Widerspruch zwischen der Darstellung im Spielfilm und den Schilderungen der Zeitzeugen*innen durchschimmern könnte, so legt doch die mehrmalige Verwendung des Wortes „nochmal“ eher nahe, dass die Zeitzeugen*innen in der Doku den Zuschauer*innen historische Informationen lieferten, die die Darstellung im Spielfilm vielmehr ergänzen und darüber hinaus gehen, ihr jedoch nicht widersprechen. Durch diese Ergänzung stellen die Erzählungen des Zeitzeugen Jan Josef Liefers

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 275

hier eine Ressource dar, die die historische Darstellung im Zweiteiler authentifiziert. Angesprochen auf die unterschiedlichen Akteure in der Dokumentation, die auf den Spielfilm Bezug nähmen, versucht sich Daniela an einem Überblick: Sie ordnet dem „Bürgermeister aus Dresden“ zwei Akteure zu, die in der Dokumentation einen Auftritt hätten, „einmal der Schauspieler glaube ich und der echte,“. Damit stellt sie der fiktiven Figur im Spielfilm gleich zwei Akteure im non-fiktionalen Format gegenüber, die in gewisser Weise beide einen Expertenstatus für die Figur besitzen. Analog zur doppelten Expertise des Schauspielers/Zeitzeugen Liefers kann hier der Schauspieler potentiell die Reflexion der Filmfigur aus einer professionellen Perspektive unterstützen, während „der echte“ als Zeitzeuge potentiell die historische Darstellung vor der Folie seiner eigenen Erfahrungen zu bewerten imstande ist. Insofern handelt es sich geradezu um eine doppelte Authentifizierung: Für die historische Glaubwürdigkeit der Figur, aber auch für die Verlässlichkeit der ästhetischen Umsetzung stellt die Dokumentation Experten bereit. Eine doppelte personale Authentizität in Person des Schauspielers und des Zeitzeugen sorgt folglich dafür, die Authentizität des Fernsehzweiteilers als historische Darstellung zu untermauern. Am Ende der Sequenz spricht die jugendliche Rezipientin „noch so=ne alte Frau“ an, die auch Teil der Dokumentation gewesen sei. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich auch bei ihr um eine DDR-Zeitzeugin handelt, jedoch scheint sie aus ihrer Sicht keine Schauspielerin zu sein wie die anderen Akteure, die in dieser Sequenz thematisiert wurden. Bemerkenswert ist aber vor allem: Die Jugendliche stößt hier unmittelbar auf eine Ungewöhnlichkeit, die sie irritiert. „die ist im Film gar nicht (.) richtig vorgekommen, oder?“ Die Zeitzeugin, von der hier die Rede ist, versucht die Jugendliche angestrengt mit einer Figur des Films zu verknüpfen, doch sie scheitert letztlich daran: „ich ich wu- konnte=die die konnte ich nicht zuordnen, irgendwie so richtig im Film,“. Damit wird noch einmal eines überdeutlich: Bei der Jugendlichen hat sich die Erwartung festgesetzt, dass innerhalb des TV-Events zwischen dem fiktionalen und dem dokumentarischen Format im Hinblick auf die Figuren und Akteure ein Abbildverhältnis besteht, dass also die Figuren im Spielfilm eine historische Vorlage besitzen, die in der Dokumentation zu Wort kommt. Dass dieses Abbildverhältnis von der Zuschauerin im letzten Fall nicht erkannt werden kann, sorgt bei ihr für Irritation und Überraschung, bleibt aber die Ausnahme von der Regel. Das Auftauchen von Zeitzeugen*innen in der Dokumentation stellt damit eine Ressource dar, die für Daniela und andere Jugendliche aus den fiktiven Figuren im „Turm“ höchst authentische Abbilder historischer Personen macht. In dieser Sequenz sind mehrere Aspekte zur Sprache gekommen, die das Verhältnis betreffen, in dem die Figuren des Spielfilms, die Schauspieler*innen, die sie darstellen, und die in der Dokumentation auftretenden Zeitzeugen*innen zueinander stehen. Grundsätzlich scheint für einige Zuschauer*innen erstens der Auftritt von Zeitzeugen*innen in der Dokumentation die Story des Films zu authentifizieren,

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und zwar bisweilen in einem Maße, das von einem Abbildverhältnis zwischen Figuren und Zeitzeugen*innen ausgeht. Zweitens üben die Schauspieler*innen in ihrer doppelten Expertenrolle als Filmexperten*innen und Zeitzeugen*innen in der Dokumentation ebenfalls authentifizierende Funktionen aus. Drittens kommt auch in dieser Sequenz eine Autorität der TV-Stars zum Tragen, die hier am Beispiel Jan Josef Liefers sichtbar wurde. Auf alle drei Aspekte werde ich im Folgenden nochmals eingehen, um die Bedeutung der Personen in der Dokumentation als Authentifizierungs-Ressourcen zu schärfen. Die Annahme, dass es sich bei den Figuren im Zweiteiler um Abbilder historisch realer Personen handelt, wird keineswegs nur von der Jugendlichen Daniela geäußert. Auch Cem bringt diese Annahme mehrfach im Interview zum Ausdruck109, und die Dokumentation scheint hierbei die Schlüsselrolle zu spielen: CE: Also Fantasiefilme sind ja frei erfunden. @(.)@ I: Und warum ist der kein Fantasiefilm? CE: Ja weil (.) man den dann nicht so ernst nehmen könnte, also (2) ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, ich weiß ja selber auch nicht, I: Versuch es. CE: Ja weil der Turm (.) ist ja so, DDR-Zeit gab es ja wirklich und (.) man hat ja (.) man hat ja auch in der Doku dann gesehen, (.) dass: diese Menschen, die dann (.) deren Geschichte (die=dann) (.) dort verfilmt wurde, auch echt gab und die dann auch die eigenen (1) Fakten und so erzählt haben, danach in der Doku nach dem Film und (.) °ja dadurch kann man dann entnehmen, dass der Film dann echt war.° (.) °also dass diese (.) Story wirklich gab in der DDR und (.) der Turm auch.°110

Im zitierten Ausschnitt geht es um die Grenzziehung zwischen authentischen historischen Darstellungen in Spielfilmen und „Fantasiefilm[en]“, und Cem argumentiert hier, dass es sich beim „Turm“ nicht um einen solchen „Fantasiefilm“ handelt. Die Grundlagen für diese Einschätzung zu benennen, fällt ihm durchaus schwer, weil er es „ja selber auch nicht“ wisse, ob die erzählte Story authentisch sei. Die Stelle gibt Aufschluss darüber, dass es vor allem ein Mangel an unmittelbar eigenen Erfahrungen und eigenem Wissen ist, das er „selber“ besitze. Insofern rückt das im Folgenden von ihm zum Ausdruck Gebrachte in diese Leerstelle eigener Urteilskraft – und es ist bemerkenswert, dass vor allem die Dokumentation hier zuvorderst von ihm angeführt wird. In der Sequenz wird von Cem geradezu eine Mechanik der Authentifizierung beschrieben, die auf den Berichten von Zeitzeugen*innen in der Dokumentation als Authentifizierungs-Ressource beruht. Sprachlich gestaltet er die Pas109 Siehe dazu bereits die Analyse einer Sequenz aus dem Interview mit Cem im Kapitel 4.1.3. 110 Transkript CE, BS, Z. 779-793.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 277

sage tatsächlich in Form einer Beschreibung von Ursachen und Wirkung: Die Sichtbarkeit der „Menschen“ in der Dokumentation hätte gezeigt, dass „deren Geschichte (die=dann) (.) dort verfilmt wurde,“, dass es sie also nicht nur im Spielfilm, sondern „auch echt gab“. Hier zeigt sich das bereits als Muster identifizierte Abbildverhältnis zwischen den Figuren des Films und den historischen Personen, die in der Dokumentation auftauchen. Sie berichteten „dann auch die eigenen (1) Fakten“, legten also Zeugnis über ihre Erlebnisse ab, die bereits im Spielfilm sichtbar geworden seien. Dieses Zeugnis im Format der Dokumentation führt Cem dann letztlich zu einem unzweifelhaften Schluss: „°ja dadurch kann man dann entnehmen, dass der Film dann echt war.° (.) °also dass diese (.) Story wirklich gab in der DDR und (.) der Turm auch.°“ In diesem Schluss wird auch ersichtlich, dass die Zeitzeugen*innen in der Dokumentation keineswegs nur beglaubigen, dass ihre persönlichen Erlebnisse eins zu eins Einzug in den Spielfilm gefunden haben, sondern dass ihre Rolle als Authentifizierungs-Ressource noch darüber hinausgeht. Vielmehr führt die Überzeugung, dass die Figuren im Film authentische Abbilder historischer Personen sind, bei Cem zu der viel umfassenderen Einschätzung, dass der Film insgesamt eine authentische Erzählung über die DDR darstelle. Damit wird die zunächst den Figuren zugeschriebene Authentizität auf die gesamte historische Erzählung übertragen. Mit Blick auf die Authentifizierungs-Ressource der Zeitzeugen*innen in der Dokumentation lässt sich damit festhalten: Die Aussagen der Zeitzeugen*innen weisen für einige Jugendliche eine über die Figuren hinausgehende, authentifizierende Funktion auf, sodass die Bedeutung dieser Ressource als außerordentlich hoch einzuschätzen ist. Mit Blick auf weitere Jugendliche, bei denen sich ein ähnliches Muster zeigt, kristallisiert sich vor allem eine Figur-Zeitzeugen*innen-Relation als besonders relevant heraus. Sie taucht immer wieder in den Gesprächen auf und überstrahlt alle anderen im Hinblick auf den Prozess der Authentifizierung: gemeint ist die Hauptfigur des Arztes Richard Hoffmann beziehungsweise die in der Dokumentation mit ihr verknüpften Akteure. Sichtbar wird dies beispielsweise in der folgenden Sequenz: I: Ähm wo- wir haben ja die Doku dann auch geguckt, MAG:

└Ja.

I: ähm erzähl mir mal, worum es da ging. MAG: Ähm dort wurden auch eben die Geschichtlich- lichkeit de:r Ereignisse nochmal behandelt, und auch wie wie die Charaktere eben (.) darauf reagiert haben, (.) oder zum Beispiel dass es auch Vorlagen für die Charaktere äh auch in Wirklichkeit gab, zum (1) oder eben dann äquivalent in der Wirklichkeit, auch etwas dazu gesagt hat, zum Beispiel der Oberarzt des Krankenhauses in Dresden, (.) I: Der ist eine Vorlage?

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MAG: Ähm (2)

er ist (ähm) der war nicht die Vorlage des Charakters,

aber er hat eben auch nochmal aus der Position sozusagen des Charakters dann was zu den wirklichen geschichtlichen Ereignissen gesagt. I: Das verstehe ich noch nicht ganz. MAG: Ähm (.) also sozusagen der Herr Hoffmann der Arzt, er=hat (.) aus der Position des Oberarztes die geschichtlichen Ereignisse im Film gesehen, so wie sie im Film dargestellt wurden, (.) und so hat der wirkliche Oberarzt auch nochmal was über die geschichtlichen Ereignisse erzählt, die er erlebt hat, //mhm// die also wirklich passiert sind.111

Gleich zu Beginn wird deutlich, dass die Dokumentation für Magdalena keine geringe Relevanz besitzt – ihr bestätigendes „Ja.“ spricht sie noch während der Bitte des Interviewers aus. Der Bezug der dokumentarischen Fernsehsendung zum Spielfilm ist für sie eine wesentliche Ressource der Authentifizierung, denn statt zunächst erst einmal zu erzählen, „worum es da ging“ (also in der Dokumentation), bezieht sie diese sofort auf den Film. Ihr werde „die Geschichtlich- lichkeit de:r Ereignisse nochmal“ verdeutlicht, die im Spielfilm gezeigt werden. Offenbar wird erst vor dem Hintergrund der Doku für sie ganz klar, dass es sich im Rahmen der Filmstory um historische Ereignisse handle. Insbesondere macht sie diese Erkenntnis an den „Charaktere[n]“ fest, und hier gibt die Passage Auskunft über die in der Dokumentation auftretenden Zeitzeugen*innen und deren Rolle bei der Authentifizierung des Spielfilms: So werde ihr gezeigt, „dass es auch Vorlagen für die Charaktere äh auch in Wirklichkeit gab“, und damit wird ihr die Einsicht ermöglicht, dass die Figuren der Fiktion auf reale Figuren außerhalb der Erzählung, in der historischen „Wirklichkeit“ verwiesen. Insbesondere die Hauptfigur des „Oberarztes“, im ARD-Zweiteiler verkörpert durch Jan Josef Liefers, spielt hierfür die zentrale Rolle in Magdalenas Beschreibung. Wie genau sich das Verhältnis zwischen der Figur im Spielfilm und einer historischen Vorlage gestaltet, darüber ist sich die Jugendliche nicht zweifelsfrei im Klaren: Zunächst spricht sie von „Vorlagen für die Charaktere“ und deutet damit ein Abbildverhältnis an, das hier bereits mehrfach bei anderen Zuschauern*innen vorgeführt wurde. In einem gewissen Maße revidiert sie diese Einschätzung jedoch in der Folge, sie spricht davon, dass Figuren und historische Personen „äquivalent“ zueinander stünden. Weil in diesem Ausdruck nicht deutlich wird, worin aus Magdalenas Sicht der Unterschied zwischen „Vorlage“ und Äquivalenz besteht, ist sie in den folgenden Ausführungen um Aufklärung bemüht: Sie geht auf eine reale Person ein, die „in der Wirklichkeit“ der Dokumentation auftritt, „zum Beispiel der Oberarzt des Krankenhauses in Dresden,“ und die „etwas dazu gesagt hat“, das heißt Stellung nimmt zur Figur des Spielfilms. Insofern stellt sie hier die zwei un111 Transkript MAG, MD, Z. 12-37.

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terschiedlichen Sphären Dokumentation und Spielfilm nebeneinander und sieht zwischen beiden eine personelle Verbindung im Akteur des Arztes, die durch das Auftreten des Zeitzeugen in der Doku hergestellt wird. Auch am Ende der Sequenz hält sie diese Gegenüberstellung aufrecht, und es ist bemerkenswert, dass der Name Jan Josef Liefers hier nicht fällt – Magdalena beruft sich auf einen anderen, nicht prominenten Zeitzeugen, nämlich den „wirkliche[n] Oberarzt“. Er tritt in der Dokumentation auf schildert die Ereignisse im Nachgang der Räumung des Dresdner Hauptbahnhofes, bei der es Verletzte gegeben hatte, aus seiner Erinnerung heraus. Diese Schilderung bezieht sich direkt auf die Handlungen der Filmfigur, sodass durch den Bericht des Oberarzt-Zeitzeugen in der Dokumentation in der Rezeption eine Parallelität von fiktionaler und non-fiktionaler Erzählung etabliert wird. Dadurch werden die fiktiven Handlungen der Filmfigur und die realen Erlebnisse der historischen Person miteinander verknüpft. Der Bericht des Zeitzeugen ist insofern als ein Element der Dokumentation anzusehen, das als Authentifizierungs-Ressource unmittelbar die Handlungen eines Protagonisten des Spielfilms authentifiziert. Dass dieses Element der Dokumentation, insbesondere hinsichtlich der Figur des Oberarztes, so erfolgreich ist, mag einerseits damit zusammenhängen, dass sich die Dokumentation erzählerisch einiger Kniffe bedient, um dieses Verhältnis herzustellen. So nimmt der Zeitzeuge in der Dokumentation unmittelbar Bezug auf Ausschnitte des Spielfilms, die in der Dokumentation mit seinem Bericht zusammenmontiert werden. Empirisch thematisieren die Jugendlichen nicht dezidiert diese Montagetechnik. Dennoch scheint es teilweise erklären zu können, warum ausgerechnet die Figur des Arztes so häufig durch die Dokumentation authentifiziert wird. Eine weitere Erklärung liegt vor allem darin, dass zu diesem Verhältnis zwischen den Figuren des Spielfilms und den entsprechenden Zeitzeugen*innen in der Dokumentation ein weiterer Akteur hinzutritt: der Schauspieler Jan Josef Liefers, der die Figur im Film verkörpert, taucht auch in der Doku wieder auf. Seine eigenen Berichte als Zeitzeuge der DDR, die er in der Dokumentation vorträgt, verleihen der Filmfigur, die von ihm dargestellt wird, in den Augen vieler Jugendlicher zusätzliche Authentizität. Im Gespräch mit Grit kommt diese Thematik wie folgt zur Sprache: I: Mhm. in der Doku kommen ja auch die Schauspieler ganz prominent zu Wort eigentlich, also haben eine GR: I:

└Ja. eine relativ große Rolle, (2)

hat das für dich eine Bedeutung, dass

die Schauspieler des Spielfilms in der Dokumentation auftauchen? GR: Ähm hierbei fand=ich es sehr interessant, weil die meisten ja wirklich in Dresden gelebt haben zu der Zeit, also das (.) verleiht dem ja nochmal eine ganz andere (.) Dimension so=ein bisschen, //mhm// weil sie genau wissen, was sie eigentlich spielen, und ähm wie es sich also

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wie diese Stadt früher aussah, sie können sich vielleicht noch besser in die Lage hineinversetzen. //mhm// andererseits finde ich=es (.) dann halt auch manchmal schade, weil (.) also ich finde Jan Josef Liefers ist ein ganz sympathischer Mensch, so wie er in Interviews rüberkommt, aber (.) es ist dann manchmal auch ein bisschen inhaltslos, was er dann so von sich gibt, also er //mhm// gibt dann halt einen Kommentar ab, über die Wohnungen oder sowas, aber (.) das ist dann auch (.) ja, also etwas nichtssagend manchmal. ja (.) so=ein bisschen die beiden Seiten.112

Grit beantwortet die sehr allgemeine Frage nach der Bedeutung der Schauspieler*innen, die in der Dokumentation auftreten, mit einem mehr als deutlichen Fokus. Sie antwortet noch während der Frage und ist sprachlich kaum bemüht, die Frage aufzugreifen oder zunächst allgemein etwas zur Bedeutung der Schauspieler*innen zu äußern. Vielmehr legt sie sich unmittelbar auf den Aspekt fest, dass „die meisten ja wirklich in Dresden gelebt haben zu der Zeit,“ und fokussiert damit auf die Eigenschaft der Schauspieler*innen, zugleich Zeitzeugen*innen der im Spielfilm erzählten Zeit zu sein. In ihren Bemerkungen wird sehr deutlich, dass dies für sie von außerordentlicher Relevanz ist. Die Aussagen der SchauspielerZeitzeugen*innen lieferten „ja nochmal eine ganz andere (.) Dimension so=ein bisschen, //mhm// weil sie genau wissen, was sie eigentlich spielen, und ähm wie es sich also wie diese Stadt früher aussah, sie können sich vielleicht noch besser in die Lage hineinversetzen.“ Darin kommt die doppelte Expertenrolle der SchauspielerZeitzeugen*innen in der Dokumentation zum Ausdruck, die ihren Status in der Dokumentation ausmacht. Grit schätzt sie als außerordentlich wichtig ein, fast überschwänglich spricht sie von einer neuen „Dimension“ durch den Auftritt der Schauspieler*innen. Letztlich zeigt sich in der doppelten Expertenrolle auch eine doppelte authentifizierende Bedeutung: Einerseits sind die Schauspieler*innen auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen im historischen Dresden in der Lage, die historische Erzählung des Zweiteilers eigenständig zu bewerten. Sie bezeugen damit im wahrsten Sinne des Wortes die Darstellung und authentifizieren sie mit der besonderen Autorität, die ihnen als Zeitzeugen*innen eigen ist. Andererseits spielt hier jedoch auch eine personale Authentizität eine Rolle, die das Verhältnis zwischen den Schauspielern*innen und der von ihnen eingenommenen Rolle charakterisiert: Dass „sie genau wissen, was sie eigentlich spielen,“ macht aus ihnen Akteure, die eine unmittelbare, persönliche Verbindung zu ihrer Rolle herstellen können, und lässt ihre Figuren authentisch wirken, insofern eine persönliche Verbindung zwischen Darsteller*in und dargestellter Rolle entsteht. Diese doppelte Authentifizierung ist sicher der Hauptgrund dafür, dass die auftretenden SchauspielerZeitzeugen*innen zu den wichtigsten Elementen der Dokumentation für die Jugendlichen zur Authentifizierung des Zweiteilers gehören. 112 Transkript GR, MD, Z. 1006-1024.

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Darüber hinaus kommt am Ende der zitierten Sequenz aber auch zum Vorschein, dass die Schauspieler*innen in der Dokumentation aus der Sicht der Rezipienten*innen keineswegs nur die eigenen Erlebnisse in der DDR mit einbringen. Vielmehr wird erkennbar, dass ihre Prominenz bei den Zuschauer*innen Konnotationen aufruft, die sie mit den Schauspielern*innen verbinden. So nimmt Grit hier eine Bewertung des Stars Jan Josef Liefers und seiner Auftritte in Interviews vor: „andererseits finde ich=es (.) dann halt auch manchmal schade, weil (.) also ich finde Jan Josef Liefers ist ein ganz sympathischer Mensch, so wie er in Interviews rüberkommt, aber (.) es ist dann manchmal auch ein bisschen inhaltslos, was er dann so von sich gibt,“. Zunächst verdeutlicht sie damit, dass sie den Fernsehstar ganz offensichtlich kennt und auch im Medienevent „Der Turm“ wiedererkannt hat. Damit gehört sie übrigens zu jener Mehrheit der Jugendlichen, die vor allem auf Jan Josef Liefers als Star rekurrieren und ihn im Interview mit seinem Namen benennen konnten. Er sticht als populäres Gesicht der deutschen Fernsehlandschaft aus dem Ensemble heraus und ist insofern für viele Jugendlichen eine Medienfigur, mit der sie eine Vielzahl medialer Erfahrungen verbinden. Das Bild des Stars, über das Grit offensichtlich verfügt, speist sich neben Filmen laut eigener Aussage vor allem aus anderen Interviews. In einer zuvor zitierten Sequenz aus dem Gespräch mit der Jugendlichen Daniela war die Rede von einer Autobiographie des Stars, mit der sich die Jugendliche auseinandergesetzt hatte. Wenn auch neben diesen beiden Beispielen in vielen anderen Interviews nicht erkennbar wird, auf welcher Grundlage das Image des Stars Liefers beruht, so wird doch deutlich, dass die Jugendlichen durchaus in der Lage sind, ihn als Person jenseits seiner Rollen einzuschätzen. Grit spricht davon, dass er „ein ganz sympathischer Mensch“ sei. Was sie ihm vorzuwerfen habe sei allenfalls, dass dessen Mediensprache „manchmal auch ein bisschen inhaltslos“ sei. Mit einem Blick auf die Einschätzung seines Auftritts in der Dokumentation zum „Turm“ – die Rede war von einer neuen „Dimension“ – wiegt der Vorwurf offenbar nicht allzu schwer, zumal diese Kritik nicht die Glaubwürdigkeit des Stars berührt. Weder als Zeitzeuge noch als Schauspieler wird er dadurch diskreditiert. Der Star Jan Josef Liefers, der auch in der Vermarktung des Spielfilms als ein Zugpferd fungierte, ist hier und bei den allermeisten Jugendlichen sehr positiv besetzt. In Kombination mit der großen Bedeutung, die ihm die Rezipienten*innen für die Authentifizierung der Filmstory beimessen, erscheint es logisch, dass das positive Image des „Tatort“Forensikers, Musikers und Autors die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen nur unterstützt und damit für die Jugendlichen auch authentifizierend wirksam ist. Sein positives Image als Star verleiht ihm eine zusätzliche Autorität, die auf Grundlage seiner Doppelrolle als Schauspieler und Zeitzeuge seine Darstellung der Figur und die Filmstory authentifiziert. Wie weit diese Autorität geht, verdeutlichen Passagen sehr deutlich, in denen die Jugendlichen unmittelbar auf das von ihm in der Dokumentation Gesagte einge-

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hen. Im folgenden Zitat, das diesen Komplex von Authentifizierungs-Ressourcen abschließen soll, spielen viele der angesprochenen Aspekte eine Rolle, auch die besondere Autorität des Fernsehstars. Auf die Frage, welche Elemente der Dokumentation die Authentizität des Spielfilms stützen, antwortet der Magdeburger Tim: I: Was sind das konkret für unterstützende Dinge, die da wirken? TI: Ja ähm (.) diese Meinungen, von den Leuten, dass es wirklich so gewesen ist, auch von der Musiklehrerin war das glaube=ich, //mhm// die dann gesagt hatte, dass es auf einmal so ist, dass alle Menschen dabei sind und äh (.) dass man äh sich freut über die Freiheit, ähm (.) ja die- diese Meinungen machen das wirklich äh (.) zeigen immer noch, dass äh (.) naja dass der persönliche Eindruck von Menschen auch wirklich so war, und nicht nur, dass äh (.) Einzelne das jetzt so empfunden haben, (.) ähm (.) und ansonsten auch so die Situation damals, was so passiert ist, also (.) ähm wie wie die Stadt Dresden aussah, also wie gesagt im Film war sie relativ schön noch dargestellt, eigentlich hätte sie schon ein bisschen kaputter, zerstörter dargestellt werden müssen, aber okay, (.) ähm das deckt ja die Doku in dem Moment ein bisschen auf, das ist schon mal ganz gut eigentlich, (1)

ähm (.) ja

(.) was bekräftigt es noch; ähm (5) die Familienbeziehungen, würde ich auf alle Fälle auch sagen, dass so gezeigt wird, ähm, dass die Familien ja schon zusammengehalten hatten, //mhm// und (.) ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat, ich glaub einer hat gesagt, dass man Möglichkeiten hatte in der DDR, wahrscheinlich war es sogar Liefers, ähm (.) dass man die Möglichkeiten hatte, äh was (.) was zu werden und was zu erreichen, in der DDR, solange man sich mit dem Staat nicht irgendwie angelegt hatte, //mhm// sondern: solange man: (.) äh sich einverstanden gezeigt hat und eben das gemacht hatte, aber ähm (.) man musste immer gucken, dass man nicht einfach seine eigene Meinung komplett äh veröffentlicht, und äh so (.) sagt was man denkt, sondern einfach auch=n bisschen (.) immer mit im Hinterkopf haben muss ja, eigentlich und so, der Staat äh sagt mir ich kann nur das und das machen, ich muss äh in dem Punkt mich ein bisschen zurückschrauben und dafür so handeln, damit ich weiter aufsteigen kann, also (.) //mhm// genau, das ist halt auch nochmal wirklich ne realistische Meinung, die das so (.) darstellt im Film.113 113 Transkript TI, MD, Z. 254-280. In dieser Sequenz benennt Tim einen Widerspruch zwischen der Darstellung des Spielfilms und der Dokumentation, den er am unterschiedlichen Bild der Stadt Dresden in beiden TV-Formaten festmacht. Zweifelsfrei wäre dies eine höchst aufschlussreiche Stelle im Vergleich beider Sendungen und deren unterschiedlich wahrgenommener Authentizität, die einer eingehenden Analyse bedürfte – wenn dieser Widerspruch nicht auf einen Impuls des Interviewers zurückgehen würde. Kurz zuvor wurde vom Interviewer nahegelegt, dass die Darstellung der Stadt im Spielfilm möglicherweise falsch sei, schließlich zeige die Dokumentation ein anderes Bild. Mit dieser Provokation sollte methodisch eine Argumentation des Interviewpartners für oder gegen die Authentizität des Spielfilms angeregt werden. Insofern greift er hier den

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Hier tauchen noch einmal einige der herausgearbeiteten Elemente der Dokumentation als Authentifizierungs-Ressourcen auf: allein die bloße Existenz einer Dokumentation spielt auch für Tims Einschätzung der Authentizität eine Rolle, die sich schon in der Ausführlichkeit der Antwort auf die Frage zeigt. Hinzu kommen „diese Meinungen, von den Leuten“, die auf der Grundlage ihrer eigenen Erlebnisse als Zeitzeugen*innen die Narrative des Spielfilms bezeugen können. Neben den nicht prominenten Zeitzeugen*innen spricht Tim hier auch eine weitere ZeitzeugenAussage an, die er zunächst nicht zuordnen kann, dann aber doch vermutet: „wahrscheinlich war es sogar Liefers,“, der über die „Möglichkeiten“ und Grenzen des eigenen Handelns in der DDR im Rahmen der Dokumentation gesprochen hatte. In der Schilderung dieses Spannungsverhältnisses zwischen der Möglichkeit, „was zu werden und was zu erreichen, in der DDR“ und der eigenen, regimekritischen Haltung, lehnt er sich eng an die Aussagen des Darstellers in der Dokumentation an. Er rahmt seine Ausführungen, indem er sie dem Schauspieler „Liefers“ zuordnet, und übernimmt sie dann inhaltlich bis ins Detail. Die Erzählung des Schauspieler-Zeitzeugen über die Verhältnisse in der DDR, die der Jugendliche in der Dokumentation erfährt, dient ihm zur Bewertung des Spielfilms und dessen Authentizität, und darin wird deutlich, wie groß die Autorität ist, die er dem berühmten Darsteller und seinem Auftritt in der Dokumentation für die Authentifizierung des Gesehenen zuschreibt. Die in der Dokumentation auftretenden Stars, das zeigt sich nicht nur in diesem Beispiel, heben sich durch ihre Popularität von den unbekannten Zeitzeugen*innen ab, die ebenfalls mit ihren Berichten über die DDR, den Anfang vom Ende des Regimes und die Demonstrationen in Dresden die Erzählung des Spielfilms authentifizieren. Gleichwohl müssen beide, Prominente und unbekannte Zeitzeugen*innen, in ihrer Bedeutung als Ressourcen der Authentifizierung gemeinsam betrachtet werden. Die Dokumentation zum Spielfilm setzt verstärkt auf die Beglaubigung des Erzählten durch Aussagen der Zeitzeugen*innen, und angesichts der analysierten und vieler weiterer Interviewpassagen wird deutlich, dass dieses Mittel bei den jugendlichen Zuschauern*innen ankommt. Die Zeitzeugen*innen in der Dokumentation werden von ihnen als bevorzugte Ressource herangezogen, sowohl jene mit der Autorität von Fernsehstars und Schauspielprofis als auch jene, die ‚nur‘ ihre eigenen Erlebnisse berichten und die Darstellung des Spielfilms damit stützen können. Die Figur des*r Zeitzeugen*in – im Kontext des Events „Der Turm“ eine Medienfigur –

Impuls des Interviewers auf, statt selbst diese Beobachtung einzubringen – für die Frage nach den Authentifizierungs-Ressourcen muss diese Passage daher ausgeklammert werden. Dennoch zeigt sich auch hier, dass die Dokumentation gegenüber dem Spielfilm eine zweifellos überlegene Position einnimmt, was die Frage der Authentizität betrifft.

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ist von herausragender Bedeutung für die Rezeption und Authentifizierung des Spielfilms. Vor allem sie sorgen dafür, dass das TV-Event in seiner Verbindung von Spielfilm und Dokumentation zu einem äußerst erfolgreichen Medienensemble wird, dessen filmische Strategien im Hinblick auf die Authentifizierung der Story bei vielen Zuschauern*innen höchst erfolgreich sind. Diesen Effekt der selbstreferenziellen Authentifizierung des historischen TV-Events, bei dem die an der Produktion beteiligten Akteure für die historische Glaubwürdigkeit bürgen, haben die Historiker*innen Silke Satjukow und Rainer Gries mit dem Begriff der „Para-Historie“114 bereits theoretisch vorgedacht. Sie bringen damit die Befürchtung zum Ausdruck, dass sich der audiovisuelle zeitgeschichtliche Diskurs verselbständigen und von gesichertem historischen Wissensbeständen lossagen könnte, indem fiktionale Darstellungen zeitgeschichtlicher Ereignisse innerhalb des gleichen medialen „Systems“ validiert werden. Die hier angesprochenen Schauspieler*innen, die ihre eigene Darstellung als Experten*innen stützen, dienen als Beispiel dieser Hypothese. Angesichts der empirischen Befunde muss in diesem Fall konstatiert werden, dass der große Erfolg dieser Strategie die Vermutung bestätigt. Gleichwohl wird in den weiteren Ausführungen deutlich werden, dass eine Vielzahl weiterer Aspekte die Rezeption der historischen Darstellung mitbestimmen und somit auch diese Ressource der Authentifizierung nur in einem Ensemble anderer Ressourcen bedeutsam wird. Die Bedeutung der Romanvorlage für die Authentifizierung der Spielfilm-Story Die große Relevanz, die eine Dokumentation zum Spielfilm in den Augen der Zuschauer*innen einnehmen kann, ist hier sehr deutlich geworden. Beide TV-Formate wären jedoch nicht für die ARD produziert worden, hätte es nicht eine überaus erfolgreiche Vorlage für die audiovisuelle Verarbeitung des Stoffes gegeben: Der Roman des Schriftstellers Uwe Tellkamp, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, diente als unmittelbare Grundlage der Verfilmung. Damit wird die literarische Erzählung zu einem konstitutionellen Teil eines historischen Medienevents, weshalb sich die Frage danach stellt, inwiefern diese auch für die Authentifizierung der Filmstory eine Rolle gespielt hat. Alle Jugendlichen wurden im Interview auf die Existenz einer Romanvorlage angesprochen. Überwiegend kannten sie die mehrfach ausgezeichnete, literarische Erzählung und deren Autor Uwe Tellkamp nicht, sodass sie in ihrer Bewertung des Films zunächst keine Rolle spielte. Während viele Jugendliche also erst im Rahmen 114 Satjukow, Silke/Gries, Rainer: Hybride Geschichte und Para-Historie. Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016), H. 51. S. 12-18.

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des Interviews zum ersten Mal von deren Existenz erfuhren, weiß der Braunschweiger Jugendliche Moritz einiges über das Buch zu berichten: I: Ich weiß nicht, ob du=es weißt, aber der Turm basiert ja (.) also (.) ich hab hier nochmal (.) ((legt DVD-Hüllen und Buch auf den Tisch)) das ist der Spielfilm, das ist die Dokumentation, MO: Mhm. I: und das ist der Roman. der basiert auf einer Romanvorlage. ähm Uwe Tellkamp hat den ein paar Jahre davor geschrieben, MO: └(Ja.) (.)

(

)┘

I: auch sozusagen hoch dekoriert, den Deutschen Buchpreis für gewonnen und so weiter, MO: Mhm. I: Spielt das für dich ne Rolle, dass das ein (.) das der Film auf nem Roman basiert? MO: Ähm: ich wusste das auch schon vorher, weil meine Mutter hat den gelesen, //mhm// und (.) @(.)@ meine Tante, hat (.) de: äh hat das Buch meinem Großvater zum Geburtstag geschenkt, wo sich meine Mutter noch tierisch drüber aufgeregt hat, weil der das sowieso gar nicht braucht, und (.) irgendwie wahrscheinlich auch schon hat, und so (.) °komplett unnötig, //mhm// und so° (.) naja also (.) puh spielt das für mich ne Rolle, (.) eigentlich (.) naja, es hat damit vielleicht auch n bisschen mehr Tiefe so ne? als also viele äh::: Filme basieren ja auf nem Roman. //mhm// ähm und es ist vielleicht was anderes, wenn es nen Film gibt und dazu keinen Roman, so (.) würde ich sagen. //mhm// w- wei::l (.) es ja aus=m Buch entsprungen ist, gu::t es ist wahrscheinlich wie immer n bisschen anders, //mhm// ähm (.) aber so=n Roman (.) ist ja auch nochmal n ganz anderes Medium als n Film, und ähm (.) auch (.) schon auch n bisschen (.) ja extra so konstruiert, und so also (.) mmmh (.) würde sagen, spielt das für mich ne Rolle, naja (.) äh wenn ich den Film ganz normal angucke eher nicht, und wenn ich das weiß dann (.) vielleicht dass der Film ein bisschen (.) vielleicht n bisschen (.) mehr Substanz hat oder so? weil n Roman hat sich schon mal jemand richtig Gedanken gemacht so, //mhm// was nicht heißen soll w- w- wenn=es nur nen Film gibt, hat sich niemand Gedanken gemacht, @(.)@ I: @(.)@ MO: ähm (1,5)

ja ansonsten (.) also (.) puh ich würd sagen (.) vielleicht.

@(.)@115

Offensichtlich erfährt Moritz hier nicht zum ersten Mal von Tellkamps Bestseller. Simultan zur Frage ist es ihm bereits ein Anliegen, seine Kenntnis des Romans mitzuteilen. In seiner Familie ist dieser schon Thema gewesen, und nicht nur hat die Mutter des Jugendlichen den Roman gelesen und ihm davon erzählt, auch im weiteren Familienkreis war der Text bereits Gesprächsgegenstand. Darin zeigt sich zunächst, dass das Medienevent „Der Turm“ durchaus für einige Jugendliche als solches wahrgenommen wurde und in ihrer Alltagswelt eine reale Rolle gespielt hat. In 115 Transkript MO, BS, Z. 9-47.

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der Familie des Jugendlichen fanden weitere Kommunikationen statt, die zu einem Teil seiner Auseinandersetzung mit dem Spielfilm geworden sind – an späterer Stelle werde ich diesen Aspekt ausführlicher behandeln. Im Anschluss an diese Bemerkungen zur Kontroverse um den Roman in seiner Familie kommt Moritz auf die ursprüngliche Frage zurück und auf die Rolle, die der Roman für ihn spielt. Zu sagen, welche genau das sei, fällt ihm offensichtlich schwer, nach einer Denkpause äußert er die These: „naja, es hat damit vielleicht auch n bisschen mehr Tiefe so ne?“ Diese Tiefe leitet Moritz aus dem Verhältnis zwischen Spielfilm und literarischer Vorlage ab, und er thematisiert grundsätzliche Unterschiede beider Formen: „so=n Roman (.) ist ja auch nochmal n ganz anderes Medium als n Film“. Er unterstellt dem Text, dieser sei „ja extra so konstruiert“. Damit weist der Roman für ihn ein höheres Maß an Konstruiertheit auf, und dies scheint die Grundlage für das von Moritz angesprochene Mehr an „Substanz“ zu sein, „weil n Roman hat sich schon mal jemand richtig Gedanken gemacht so“. Letztlich bleibt die Rolle, die die Existenz eines Romans für ihn spielt, unentschieden, „vielleicht“ sei der Roman wichtig. Im Gespräch mit einer anderen Jugendlichen zeigen sich Parallelen zu der zitierten Sequenz. Auch die Magdeburgerin Grit wusste um die Romanvorlage des ARD-Zweiteilers und thematisiert nicht nur das Verhältnis von Spielfilm und Romanvorlage, sondern insbesondere auch die Arbeit, die ein Autor in sein Werk investiert: I: Du hast vorhin schon angesprochen, dass du historische Romane liest, GR: Ja. I: ((Interviewer legt das Buch auf den Tisch)) Der Turm basiert ja nun auch auf einem Roman, den du vielleicht auch schon mal gehört hast, GR: └Ja. (.) hab ich nicht gelesen. ja aber habe=ich gehört, ja.┘ I: Ähm (.) was bedeutet das für dich, dass der Film auf nem Roman basiert? GR: Ähm:: (.) meistens ist es so, dass dann der Film nicht so gut ist wie das Buch, //mhm// das ist erstmal vielleicht das (.) was ich jetzt natürlich nicht beurteilen kann, ich finde ähm den Film ziemlich gut, und man hat ja haben ja gehört so der Turm ja unverfilmbar, und viel zu viele Charaktere was weiß ich alles, aber (.) das fand=ich überhaupt nicht wichtig, weil das ging ja auch nicht darum, dass jetzt irgendwie:: eine Person so genau ist, sondern sie stand halt immer für irgendwie einen Lebensweg und eine Möglichkeit, so zu leben, und ähm (.) ich denke, wenn ein Film auf=einem Roma- historischen Roman basiert, dann ist jetzt schon mal ganz gut, weil es halt nicht nur so=ein flaches Drehbuch ist, sondern weil auch die Personen, die Charaktere ganz (.) differenziert vielleicht auch ausgeleuchtet werden, und der Autor macht sich ja schon sehr viele Gedanken, einfach auch darüber, wie er seine Charaktere darstellt, (.) also=es=ist (.) @hoffe ich gut recherchiert,@ //mhm// und ähm ja es ist noch so=ein bisschen (.) ein bisschen wissenschaftlicher vielleicht auch, wenn man einen guten historischen Roman liest. //mhm// ja.

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I: Was glaubst du, wie ist so=ein Buch wie kann so ein Buch gut recherchiert werden? GR: Ähm ja für diese Zeit ja eigentlich noch mit Zeitzeugen, also ich meine es gibt ja Menschen, die da gelebt haben, wo (.) die Familie gelebt hat, und ähm (.) indem man halt sich einen generellen Überblick verschafft, über das System der DDR, was alles so passiert ist, in der Zeit, einfach auch, ähm (.) dann natürlich in Dresden guckt, was war los, dann mit Zeitzeugen spricht, (.) ähm (.) ja offizielle Dokumente liest, Filme anguckt und so weiter, also es gibt ganz vielfältige Möglichkeiten, eigentlich auch das zu machen. (.) ähm aber ich denke halt für so=einen Film, der Menschen in ihrer persönlichen Lebenswelt zeigt, ist=es halt ganz wichtig, dass man halt mit Menschen noch spricht, und das (.) geht ja gottseidank auch noch, die in der Zeit gelebt haben finde=ich.116

Der Jugendlichen ist die Existenz der literarischen Vorlage bereits vor dem Interview bewusst. Allgemein besitzt sie Erfahrungen mit dem erzählenden Medium Roman, sodass sie in der zitierten Sequenz fundiert Stellung nehmen kann, ohne jedoch die Romanvorlage zum „Turm“ selbst gelesen zu haben. Ihre folgenden Äußerungen beziehen sich also allgemein auf die Frage, inwiefern das literarische Genre Roman für den Spielfilm eine Bedeutung aufweisen könnte. Zunächst bezieht sich die Einschätzung von Grit vor allem auf ästhetische Aspekte, wie sie zuvor auch bei Moritz angeklungen sind: Die Frage, inwiefern ein Buch verfilmbar sei, spielt wohl häufig in derartigen Buch-Film-Konstellationen eine Rolle. Letztlich verneint sie aber die Bedeutung dieses Aspekts und setzt einen anderen thematischen Schwerpunkt, „weil das ging ja auch nicht darum, dass jetzt irgendwie:: eine Person so genau ist“, wie die literarische Vorlage es vorgebe. Vielmehr führt sie hier als Argument ins Feld, dass die Charaktere des Films „halt immer für irgendwie einen Lebensweg und eine Möglichkeit, so zu leben“ gestanden hätten. Damit benennt sie die Figuren als historisch plausibel und fiktiv zugleich, deren Authentizität sie auf die Existenz einer Romanvorlage zurückführt, „weil es halt nicht nur so=ein flaches Drehbuch ist, sondern weil auch die Personen, die Charaktere ganz (.) differenziert vielleicht auch ausgeleuchtet werden,“. Für Grit ist damit nicht relevant, dass es sich auch beim Roman um eine Form fiktionalen Erzählens handelt, vielmehr belegt die Existenz einer literarischen Vorlage für sie, dass eine fundierte Auseinandersetzung des Autors damit stattgefunden habe, wie „er seine Charaktere darstellt,“. In dieser Vorarbeit, die sie dem Autor unterstellt, zeigt sich eine weitere Parallele zur vorherigen Sequenz. Sie äußert die Hoffnung, dass der Autor „gut recherchiert“ habe. Dass sie an dieser Stelle lacht, ist bemerkenswert, und es kann vermutet werden, dass sie damit den Widerspruch zwischen ihrem Wissen, dass fiktionale Erzählungen besondere Freiheiten im Erzählen aufweisen, und dem auch von ihr vertretenen Anspruch an die historische Genauigkeit der Erzählung überbrückt. Letztlich löst sie diesen durchaus überraschend auf, 116 Transkript GR, MD, Z. 680-717.

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indem sie ein Attribut zur Beschreibung des Romans einbringt, das nicht in diesen Kontext zu passen scheint: „und ähm ja es ist noch so=ein bisschen (.) ein bisschen wissenschaftlicher vielleicht auch, wenn man einen guten historischen Roman liest. //mhm// ja.“ Ausgerechnet ein Roman soll dazu beitragen können, eine historische Thematik aus einem stärker wissenschaftlichen Fokus betrachten zu können, als ein Spielfilm dazu in der Lage wäre? Auf Nachfrage des Interviewers führt sie aus, inwiefern denn eine literarische Erzählung wie der Roman, auf dem der Spielfilm basiert, seriös recherchiert sein könne. In der Tat beschreibt sie in der Folge Tätigkeiten, die zuallererst der wissenschaftlichen Sphäre zuzuordnen sind: Gespräche „mit Zeitzeugen“, die am realen Ort der Handlung gelebt haben, stellen für sie das erste Mittel der Wahl für eine fundierte Recherche für einen Roman dar. Weiterhin nennt Grit als Arbeitsschritte, „halt sich einen generellen Überblick“ zu verschaffen, den Ort der Handlung zu besichtigen und „offizielle Dokumente“ zu studieren. Nochmals benennt sie das Gespräch mit Zeitzeugen*innen als wichtigste Quelle und bezieht sich am Ende der Sequenz nicht mehr auf den Roman, sondern auf den Film – daraus wird deutlich, dass sich die Arbeitsweisen von Autoren*innen und Filmemachern*innen aus ihrer Sicht nicht grundlegend unterscheiden. In dieser Sequenz lässt sich erkennen, dass die Fiktionalität der RomanErzählung für die Jugendliche keineswegs gegen deren Rolle als Ressource der Authentifizierung spricht. Vielmehr attestiert sie den Urhebern*innen des Spielfilms und des Romans, dass sie sich mit einer wissenschaftlichen Herangehensweise ihrem Thema genähert hätten und somit auf einer soliden Grundlage historische Erzählungen abliefern, die historisch genau recherchiert seien. Dass es eine Romanvorlage zum Spielfilm gibt, stellt für Grit folglich eine weitere AuthentifizierungsRessource dar, als dass sich darin eine zweite Ebene der professionellen Auseinandersetzung mit der historischen Thematik zeigt, die die Expertise der Filmemacher*innen gewissermaßen verdoppelt, insofern sie bereits auf eine fundierte Vorarbeit des Romanautors zurückgreifen könnten. Diese Erkenntnis halte ich für einigermaßen überraschend: Ein fiktionales literarisches Genre authentifiziert einen fiktionalen Spielfilm, indem die jugendliche Zuschauerin beiden Erzählungen eine fundierte, quasi wissenschaftlich erarbeitete Grundlage attestiert. Für die Produzenten*innen derartiger historischer Audiovisionen scheint genau dies indes ausgeschlossen: In einem Gespräch mit einer bekannten Fernsehproduzentin, die sich in Deutschland einen Namen mit unterschiedlichsten Formaten des Geschichtsfernsehens gemacht hat, nannte sie den Roman als ein wesentliches Argument dafür, dass die Frage nach der Authentizität des Fernsehzweiteilers „Der Turm“ wenig angemessen sei – schließlich handle es sich um eine „doppelte Verfremdung“, dass aus einer fiktionalen, literarischen Erzählung ein ebenso fiktionaler Spielfilm entstan-

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den sei.117 Aus der Sicht von Medienschaffenden scheint also einigermaßen klar zu sein, dass ein Roman nicht als Authentifizierungs-Ressource taugen kann. Im Gespräch mit den Jugendlichen hingegen führen einige den Roman als Ressource an, die aus ihrer Sicht die Authentizität der Filmstory untermauert, ungeachtet der Fiktionalität dieser literarischen Vorlage. Freilich gibt es auch Jugendliche, für die die Existenz eines Romans nicht zur Authentifizierung der Spielfilmstory gedient hat. So spricht etwa die Magdeburgerin Valentina davon, dass ein Roman im Vergleich zum Spielfilm „Der Turm“ schließlich „so=n bisschen erzählerisch [sei], und (.) //mhm// bisschen es wirkt, als wäre die Geschichte (.) verf- nicht verfälscht, sondern (1) zu sehr aufge118 laden, mit anderen Sachen.“ Sichtbar wird in dieser Aussage, dass sie einer literarischen Erzählung deutlich größere Freiheiten einräumt, die beinahe soweit gingen, dass Geschichte „verfälscht“ werde. Zwar nimmt sie diesen Ausdruck sogleich zurück, hier zeigt sich aber, dass aus ihrer Sicht gegenüber einem Buch nicht die Erwartung angemessen wäre, das Erzählte auf seine historische Angemessenheit hin zu prüfen. Dementsprechend kommt Tellkamps Roman für sie auch nicht als Authentifizierungs-Ressource infrage. Der Autor rückt auch bei anderen Jugendlichen in den Fokus, so etwa bei der Braunschweigerin Anja, die sich zu dessen Hintergrund erkundigt: AN: […] hat der Mann das selber miterlebt, war der in der Zeit? hat er da gelebt? oder I: Äh also er ist Ostdeutscher, äh es ist wohl auch so halb autobiographisch irgendwie ja. […] I: Hat das für dich eine Bedeutung, dass da dass es eine literarische Vorlage gab? auch noch dass es ein Roman ist sozusagen? AN: Ja ich finde, so=n (.) so=n Buch hat immer so=ne Art p- persönliche Geschichte irgendwie. (1,5)

also es äh (.) du hast ja selber gesagt, dass er da da ja also da

auch gelebt hat, //mhm// und dass äh (.) dann kann ich mir vorstellen, dass er das quasi so nach seiner Lebensgeschichte irgendwie oder nach seiner Auffassung vielleicht äh (.) einfach geschrieben hat und (.) ähm (.) also ich für mich kam dieser Film auch einfach sehr rearealistisch rüber, //mhm// und (.) denk mal, er wurde auch sehr (.) realitätsnah gedreht und (2)119

Zunächst ist zu sagen, dass die Jugendliche weder Buch noch Autor vor dem Interview kannte. Insofern kann sie nur auf die Impulse des Interviewers reagieren, und 117 Paál, Gábor: Radio-Diskussionsrunde „Nach einer wahren Begebenheit – Wie Medien unser Geschichtsbild prägen“. In: SWR2 Forum. Diskussion mit Björn Bergold, Gerhard Paul und Beate Schlanstein. Radio-Mitschnitt 2014. Hier Minute 19:45. 118 Transkript VA, MD, Z. 1353-1355. 119 Transkript AN, BS, Z. 804-807 und 834-843.

290 | Wie Stories zu History werden

dennoch ist aufschlussreich, was sie bezüglich der Romanvorlage zu Protokoll gibt. Sie hatte, nachdem ihr das Buch vorgelegt worden war, selbst unmittelbar die Frage gestellt, ob es sich beim Autor um einen Zeitzeugen handle, der Zeit und Ort der Handlung selbst erlebt habe. Bereits darin drückt sich aus, dass für Anja der biographische Hintergrund des Romanautors die zentrale Rolle in der Bewertung des Romans und auch des Spielfilms aufweist. Daran bemisst sich aus ihrer Perspektive, ob der Autor ein authentisches Zeugnis ablegen könne. Der Interviewer reagiert auf die Frage möglichst unkonkret und offen und greift letztlich nur genau die beiden erfragten Aspekte auf: Er bestätigt, dass der Autor „Ostdeutscher“ sei und zum Teil eigene, autobiographische Erlebnisse im Buch verarbeite. Diese Informationen werden für die Jugendliche in der Folge wichtig. Nach der Bedeutung gefragt, die die Existenz einer Romanvorlage für sie aufweise, nutzt sie beide Aspekte als Argumente für die Einschätzung, dass der Spielfilm „sehr rea- realistisch rüber“ komme. Darin zeigt sich zweierlei, ungeachtet der durch das Interview konstruierten Situation: Erstens beleuchtet Anja die literarische Vorlage vorrangig aus der Perspektive, inwieweit diese als Argument für die Authentizität des Spielfilms sprechen könnte. Sie wird recht offen nach der Kenntnis um das Buch gefragt, fokussiert diese Frage aber sogleich allein auf die Bedeutung des Romans für ihre Einschätzung der Authentizität des Spielfilms. Zweitens wird klar, dass die Authentizität des Romans hier nicht, wie in der vorher zitierten Sequenz, von der professionellen Arbeit eines Autors, sondern von seinem biographischen Hintergrund abhängig ist. Aufgrund der Eigenschaft des Schriftstellers Tellkamp, auch Zeitzeuge für die DDR zu sein, erscheint der Jugendlichen der Roman authentisch, wodurch er auch als Authentifizierungs-Ressource für die Spielfilmerzählung herangezogen werden kann. Diese Beobachtung lässt sich auch in weiteren Interviews machen, in denen der Hintergrund des Romanautors für die Authentizität des Spielfilms relevant wird: So äußert etwa Julius, der das Buch selbst gelesen und sogar mit seinem Vater darüber gesprochen habe, dass der Spielfilm aus seiner Sicht auch durch die literarische Vorlage authentisch sei: „der hat ja seine Stichhaltigkeit. //mhm// und der Herr Tellkamp hat ja nicht umsonst seinen (.) Literaturpreis dafür gekriegt. ähm (.) das ist schon alles durchdacht.“120 Mit einem Blick auf die Romanvorlage und die hier analysierten Sequenzen lässt sich zusammenfassen, dass vor allem der Autor und dessen Tätigkeit im Zentrum der Überlegungen der Jugendlichen stehen. Außer einem Interviewpartner haben die Jugendlichen das Buch selbst nicht gelesen, wenngleich einige zumindest um dessen Existenz wussten. Aus diesem Grund scheint es nicht besonders überraschend, dass mangels Textkenntnis keine Überlegungen zum Inhalt des Buches angestellt werden können. Das Wissen um die Existenz einer Romanvorlage kann je120 Transkript JU, MD, Z. 928-930.

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doch als Authentifizierungs-Ressource identifiziert werden, die sich in den zitierten Passagen gezeigt hat. Mit diesen beiden Elementen des Medienevents „Der Turm“ – Dokumentation und Roman – konnten vielfältige Ressourcen beschrieben werden, die die Authentifizierung der Spielfilmstory durch die jugendlichen Rezipienten*innen mitbestimmten.121 In ihrer Bedeutung sind sie durchaus unterschiedlich einzuschätzen: Die Jugendlichen legten häufig einen routinierten Umgang mit dem Genre Fernsehdokumentation an den Tag, bei dem sie auf klare Überzeugungen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Formats zurückgreifen konnten. Die Fernsehdokumentation wies in den Augen einiger Zuschauer*innen eine enorme Autorität auf, die die Lesart des Spielfilms maßgeblich mitbestimmte und bisweilen sogar hauptverantwortlich für die je zugeschriebene Authentizität des Spielfilms war. Offenbar stellte die für das TV-Event „Der Turm“ spezifische Konstellation aus Spielfilmzweiteiler und eigens produzierter sowie inhaltlich und formal deutlich darauf abgestimmter Dokumentation eine Authentifizierungs-Ressource dar, die für viele Jugendliche außerordentlich erfolgreich war. Die Romanvorlage muss in ihrer Bedeutung hingegen deutlich geringer eingeschätzt werden, kann aber auch auf empirischer Grundlage als Teil des historischen Medienevents betrachtet werden. Allein die Existenz der literarischen Vorlage stellte für einige Jugendliche ein Argument für die Authentizität des ARD-Spielfilms dar, das jedoch – auch aufgrund seiner abweichenden medialen Form – eher als Ergänzung in den Prozess der Authentifizierung einbezogen wurde. Gegenüber der Dokumentation, die für einige Jugendliche ein Hauptargument ihrer Authentizitätszuschreibung darstellte, fällt die Relevanz des Romans in quantitativer und qualitativer Perspektive deutlich ab. Gerade im Fall der Fernsehdokumentation wurde sichtbar, wie bedeutsam zusätzlich rezipierte Medien für die Rezeption eines historischen Spielfilms sind. Somit liegt die Überlegung nahe, dass sich weitere mediale Elemente einer potentiellen „Rezeptionskaskade“122 finden lassen, die im Prozess der Authentifizierung zeitgeschichtlicher Audiovisionen eine Rolle spielen. Die Frage, die im folgenden Kapitel im Mittelpunkt stehen wird, lautet daher: Welche weiteren Medien, die die Jugendlichen in ihrem medialen Alltag nutzen, lassen sich empirisch als Ressourcen für die Authentifizierung des Spielfilms identifizieren?

121 Empirisch zeigten sich keine weiteren Medien, die in einem unmittelbaren Kontext zum Spielfilm standen. Die Website des Mitteldeutschen Rundfunks etwa war keinem*r der Jugendlichen bekannt und spielte somit auch keine Rolle für deren Rezeption. 122 Krotz 2001, S. 88.

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4.2.3 Weitere mediale Authentifizierungs-Ressourcen Historische Audiovisionen finden sich so zahlreich im Fernsehen, im Kino oder auf Online-Videoportalen, dass historisch interessierte Zuschauer*innen jederzeit die Geschichte aller historischen Epochen rezipieren können, so sie die vielfältigen audiovisuellen Medienofferten denn annehmen. Wer möchte, kann sich rund um die Uhr mit Geschichte in bewegten Bildern versorgen. Deren Allgegenwart sorgt dafür, dass historische Audiovisionen in einem Medienalltag aufgehen können, in dem auch die Nutzung anderer Medien für die Begegnung mit historischen Themen eine Rolle spielt. Aus der Sicht eines*r Mediennutzers*in lässt sich hier das kommunikationswissenschaftliche Konzept des Medienrepertoires auch auf spezifisch historische Themen und Medien übertragen: Ein historischer Spielfilm ist dementsprechend nur in einem Verbund mit anderen historischen Medien vorstellbar, der individuell von einem*r Mediennutzer*in konstruiert und konsumiert wird. Historische Audiovisionen bilden folglich einen Teil eines Medienrepertoires, zu dem gleichsam viele weitere Medien gehören können und im individuellen Umgang damit in eine mediennutzerspezifische Beziehung gesetzt werden. Doch gilt diese Annahme einer wechselseitigen Beziehung unterschiedlichster historischer Medien tatsächlich auch für Spielfilme, und lässt sich empirisch belegen, dass diese als Teil eines historischen Medienrepertoires von Jugendlichen in einem bestimmten Verhältnis zu anderen Medien stehen? Folgt daraus, dass die Rezeption eines historischen Spielfilms auch vom Umgang mit anderen rezipierten Medien mitbestimmt wird? Und besitzt diese Annahme eine Bedeutung für den Prozess der Authentifizierung, der hier von Interesse ist? Ich werde diesen Fragen im folgenden Kapitel nachgehen. In der Gesamtschau des empirischen Materials zeigen sich sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte zwischen historischem Spielfilm und weiteren Medien im Alltag der jugendlichen Zuschauer*innen, die für die Rezeption des „Turms“ eine Bedeutung besitzen und somit mutmaßlich auch für andere Beispiele fiktional und audiovisuell erzählter Geschichte eine generelle Relevanz nahelegen. Im Gespräch mit Daniela kommt eine solche Begegnung mit verschiedenen Medien im Verlauf der Spielfilmrezeption zur Sprache: I: Ähm hast du irgendwie (.) spontan Lust gehabt, dich zu dem Film zu informieren oder (.) keine

Ahnung

irgendwas

drüber

zu

lesen

oder

so

oder

°sagst

du

(.)

nö äh habe ich nicht gemacht oder° DA:

└Doch ich habe ähm (.)┘

ich hab gestern Abend habe ich nochmal ähm gegoogelt, worum=es in dem ersten Teil noch ging. I: └Aha.┘

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 293

DA: Also (.) also ich hab mir dann nicht viel durchgelesen, nur so=ne grobe Zusammenfassung, also (.) weil mir dann eben noch ein paar Sachen unschlüssig waren, //mhm// wie ähm (.) ( (2)

) ((hustet heftig)) ich glaube die ähm (.) ja doch das war das

ähm wieso der ähm (2)

also wie=es dazu kam, dass der

ähm (.) der dann ähm bei dem (.) als der Zug aus Prag kam, der dann da auch (.) obwohl er nur nach Berlin wollte, ähm niedergeschlagen wurde, //mhm// wie es dazu kam dass der was mit äh von der wollte, und (1,5)

also nur so=n paar N-Nebeninformationen.123

Daniela antwortet auf die Frage nach weiteren Mediennutzungen zum Zweck der Information. Sie habe, nachdem sie den zweiten Teil des Spielfilms gesehen habe, im Anschluss „gegoogelt“, um Informationen über den ersten Teil des Spielfilms zu erfahren.124 Zunächst einmal wird hier deutlich, dass es sich beim Googeln im Zusammenhang mit einem Spielfilm für die Jugendliche um einen alltäglichen Vorgang handelt. Sie antwortet noch während der Formulierung der Frage, muss aber keineswegs in irgendeiner Art und Weise rechtfertigen, warum sie dieses Medium zur weiteren Information bemüht hatte. Die Hintergründe eines Spielfilms per Google zu recherchieren, scheint für sie eine vollkommen selbstverständliche Handlung zu sein. Nicht unerheblich ist die Frage, welche Art Informationen Daniela sich über das Internet verschafft hat: Sie betont den geringen Umfang ihrer Recherche, bei der sie „nur so=ne grobe Zusammenfassung“ gelesen habe. Auf vertiefende Hintergründe oder weitere Informationen zum Gesehenen kam es ihr dabei scheinbar nicht an, vielmehr erhoffte sie sich Antworten auf einige klar umrissene Fragen, mit denen sie der Spielfilm zurückgelassen habe. Konkret gelingt es ihr nicht, den Akteur im Film, „der dann da auch (.) obwohl er nur nach Berlin wollte, ähm niedergeschlagen wurde“, mit einem Namen zu benennen, und ihr Satz geht einige Umwege, bis sie beschrieben hat, was diese Filmfigur auszeichnet. Ihre Frage, die sie mithilfe der Suchmaschine beantworten wollte, bezog sich darauf, „wie es dazu kam dass der was mit äh von der wollte“, und damit spricht sie die im Spielfilm nur vage angedeutete Liebesbeziehung zweier Figuren an. Mit ihrem Namen benennen kann sie die Figuren auch zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht, sodass sie sich offenbar im Hinblick auf einige Details der fiktiven Handlung Antworten aus einer OnlineRecherche erhofft hatte. Interessant ist, dass sie diesen Aspekt, der sie offenbar so stark interessiert hatte, dass sie sich im Anschluss an den Spielfilm online auf die Suche nach Informationen begibt, schließlich als „also nur so=n paar N- Nebeninformationen.“ bezeichnet. Für ihre Informationssuche war dieser Aspekt keineswegs so nebensächlich, wie sie hier ausdrückt, schließlich war der Drang nach Aufklärung groß genug, um 123 Transkript DA, BS, Z. 67-83. 124 Siehe dazu die methodischen Ausführungen in Kapitel 3.1.2.

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sich einem weiteren Medium zuzuwenden und so den Spielfilm besser zu erfassen. Ihre Einschätzung, dass es sich um Nebensächlichkeiten gehandelt habe, muss sich also auf einen anderen Bewertungsrahmen beziehen, in dem diese Details zu den fiktiven Figuren weniger wichtig erscheinen: Mit einem Blick auf die Frage nach der Darstellung der DDR-Geschichte und der Authentizität des Spielfilms, die in allen Interviews eine wichtige Rolle spielt, weist ihre Google-Recherche in der Tat nur geringe Relevanz auf. Danielas Interesse nach einem Mehr an Information bezieht sich in der hier vorgestellten Sequenz eben nicht auf historische Themen. Vielmehr wird der einzige hier thematisierte historische Sachverhalt, die aus Prag kommenden und durch den Dresdner Hauptbahnhof fahrenden Züge, geradezu nebenbei angesprochen und steht nicht im Zentrum der Ausführungen der Interviewpartnerin. Hier zeigt sich, dass die im Film dargestellte History von Daniela offenbar aufgenommen wurde, ohne weitere Medien hinzuzuziehen, und so liegt die Annahme nahe, dass die Online-Recherche durchaus für die Aneignung des Films für sie bedeutsam ist, für die Authentifizierung des Gesehenen aber keine Rolle spielt. Dass demgegenüber das Internet als ein Pool von Informationen tatsächlich auch für die Rezeption der im Spielfilm dargestellten Historie bedeutsam sein kann, zeigt sich in einer Sequenz des Gesprächs mit der Braunschweigerin Michaela. Bereits zuvor im Interview hatte sie angedeutet, sich nach dem Ansehen des Spielfilms weitergehend informiert zu haben, und auf Nachfrage führt sie aus, worüber: I: Mhm. ähm du hast jetzt gesagt, keiner würde sich dann wirklich was was durchlesen, und vorhin hast du aber gesagt, dass du dich schon noch irgendwie informiert hast oder? MI: Ja okay, das stimmt. I: Was hast du gemacht? MI: Ich habe mir bei Wikipedia ein bisschen über äh die Volksarmee so (.) äh angeeignet also (.) paar Sachen durchgelesen, //mhm// zum Beispiel habe ich dann auch gesehen, dass man wirklich nicht (.) ähm rausdurfte aus=der aus der Volksma- Volksarmee, wenn man in der Grundausbildung äh war, und dass es halt keine Zivil:dienst:leistende s- also keinen Zivildienst gab, wie es hier in Deutsch- oder in der Bundesrepublik Deutschland gab, u:nd das wusst- äh durch die Doku wusste ich das noch nicht, oder nee durch den Film wusste ich das noch nicht, u:nd deswegen habe ich mir das durchgelesen, aber das habe ich mir halt durchgelesen, weil mich das interessiert, über die Volksarmee, und da musste ich mir durchlesen, ob ob das wirklich so stimmt auch, und da habe ich ja auch gelesen, dass es halt auch wirklich sehr hart äh war und dann habe ich auch gesehen, dass es darüber sehr viele Bücher gibt, so wie (.) das eine Buch hieß glaube ich ich wurde gequält oder so (.) die Volksoder mein größter äh meine größte Hölle war die Volksarmee //mhm// oder irgendwie sowas. u:nd aber ich wusste trotzdem nicht ich habe ja mir nix über diesen Film durchgelesen, ob der jetzt wahr ist oder so, deswegen ich habe mir nur das durchgelesen, ob das mit der Volksarmee wirklich wahr war und (.) hab mir dann eher nochmal Sachen durchgelesen, was

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ich zur Volksarmee wo- wissen wollte. //mhm// also zum Beispiel hätte ich dann hätte ich mir nur den Film angeguckt und das über die Volksarmee durchgelesen, hätte ich nicht gewusst, dass es diesen äh diesen Arzt zum Beispiel gab und //mhm// also (.) ja. I: Und zu welchem Ergebnis kommst du, wenn du jetzt sagst irgendwie ich wollte gucken, ob der Film wahr ist, und du hast ja jetzt geguckt. MI: Ja also (.) ähm da denke ich schon, dass es mit der Volksarmee sehr ähm wahrheitsgemäß so dargestellt wird, weil (.) (au-) halt auch viele Zeitzeugen (.) was ich da jetzt gelesen habe, äh da berichtet haben dass es halt wirklich sehr schlimm wahr, und dass da jeder halt hin=musste, und das konnte ich mir zum Beispiel auch nicht vorstellen, dass da auch so dicke Menschen was bringt einem äh dicke Menschen irgendwie so in der Volksarmee, wenn die das gar nicht so gesundheitlich schaffen, (.) u:nd das hätte ich zum Beispiel nicht gedacht, dass es äh das wirklich gab, dass da alle °Menschen hin mussten°. 125

Michaela spricht hier ausdrücklich ein Medium an, das mittlerweile zur wichtigsten Enzyklopädie überhaupt avanciert ist: Nachdem sie den Film gesehen hatte, informierte sie sich ausführlich auf der Plattform Wikipedia zu Themen der DDRGeschichte, die im Film dargestellt werden. Schon zu Beginn ihrer Ausführungen lässt sich erkennen, dass die vom Spielfilm ausgehende Online-Recherche deutlich umfassender angelegt ist, als noch im Beispiel zuvor. Michaela setzt sich mit einer großen Thematik wie der „Volksarmee“ auch online auseinander, die sie ganz persönlich enorm beschäftigt, wie sich bereits gezeigt hatte. Die Stoßrichtung dieser Auseinandersetzung ist bereits von Beginn an ganz genau festgelegt: „zum Beispiel habe ich dann auch gesehen, dass man wirklich nicht (.) ähm rausdurfte aus=der aus der Volksma- Volksarmee, wenn man in der Grundausbildung äh war,“. In ihrer ersten Schilderung davon, was sie in der Wikipedia erfahren habe, berichtet sie über einen wichtigen Aspekt aus dem Alltagsleben der Wehrpflichtigen in der „Volksarmee“, dass sie nämlich restriktive Ausgangsregeln zu erdulden gehabt hätten. Sie äußert diese Information jedoch in einer ganz bestimmten Funktion: Es geht Michaela um einen Abgleich dessen, was sie in der Wikipedia an historischem Wissen126 zur Wehrpflicht in der DDR erlan125 Transkript MI, BS, Z. 453-492. 126 Der Begriff des historischen Wissens taucht hier zum wiederholten Male auf. Erstmals habe ich ihn bei der Definition des Begriffs Geschichtsbild im Kapitel 4.2.1 verwendet. Dort hatte ich argumentiert, dass eine Übereinstimmung zwischen dem Geschichtsbild, das die Jugendlichen über die DDR besitzen, und den Narrativen des Spielfilms authentifizierend wirksam wird. Spätestens hier, wo ich von historischem Wissen spreche, das Michaela auf der Online-Plattform Wikipedia erlangt hat, stellt sich die Frage, ob nicht alles, was die Jugendlichen in den Interviews vortragen, eine Art von Wissen ist. Letztlich hat jenes historische Wissen, das ich zuvor der Authentifizierungs-Ressource der Übereinstimmungen der filmischen Narrative mit dem individuellen Geschichtsbild zu-

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gen konnte, mit dem Bild der Armee, das der Spielfilm zeichnet. Im Adverb „wirklich“ zeigt sich das Ergebnis dieses Vergleichs von Filmbild und dem Ergebnis der Online-Recherche: Michaela attestiert der historischen Darstellung der Verhältnisse bei der NVA im fiktionalen Zweiteiler auf der Basis einer weiteren Mediennutzung ein großes Maß an Authentizität. Der spezifische Aspekt des beschränkten Ausgangs für junge Rekruten bei der NVA wird im Zweiteiler zwar nicht ins Zentrum der Handlung gestellt, spielt aber für die Hauptfigur im Film durchaus eine Rolle, die nur zu Weihnachten und anlässlich einer Hochzeit nach Hause zur Familie gelassen wird. Für die Jugendliche Michaela gewinnt dieser Aspekt der Filmstory und DDR-Geschichte vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Alltagswelt besondere Bedeutung, da ihr Freund zum Zeitpunkt des Gespräches freiwillig Wehrdienst bei der Bundeswehr ableistet. Dass sie ihre Rezeption des Spielfilms vor allem darauf fokussiert, erscheint nachvollziehbar, und konkret zeigt sich in der zitierten Sequenz, dass die Zuschauerin bestrebt ist, die Darstellung einer für sie hochrelevanten Thematik im Spielfilm zu authentifizieren. Dazu bedient sie sich der wichtigsten Online-Enzyklopädie und sieht das restriktive Bild bestätigt, das der Spielfilm von der NVA zeichnet. Ihre mediale Auseinandersetzung mit der im Spielfilm dargestellten Thematik geht über die Authentifizierung des Gesehenen jedoch insofern noch hinaus, als dass die Wikipedia der Jugendlichen weiterführende Informationen zur Wehrpflicht in der DDR vermittelt. Neu ist für sie, dass es „keinen Zivildienst“ gegeben habe (von den sogenannten Bausoldaten spricht sie allerdings nicht). Das in der Wikipedia Gelesene ist damit nicht nur eine Authentifizierungs-Ressource für den Spielfilm, sondern eine Quelle weitergehender Auseinandersetzung mit der dort dargestellten, historischen Thematik. Bemerkenswert ist, in welche Beziehung sie diese neuen Informationen zu den Teilen des historischen TV-Events setzt: „u:nd das wusst- äh durch die Doku wusste ich das noch nicht, oder nee durch den Film wusste ich das noch nicht,“. Wikipedia bietet ihr einen Mehrwert, was Informationen über die Geschichte der NVA betrifft, der über die audiovisuellen Formate hinausgeht. Darin kommt zum Ausdruck, dass sie beide im Hinblick auf die Möglichkeit, etwas Neues zur DDR-Geschichte zu erfahren, letztlich auf die gleiche Stufe stellt, geordnet habe, freilich immer auch einen Ursprung, und es scheint plausibel, dass es sich dabei oft um andere historische Medien handelt. Wenn ich historisches Wissen hier unter dem Rubrum weiterer medialer Ressourcen der Authentifizierung verhandle, dann unterscheidet es sich in diesem Fall vom zuvor thematisierten Geschichtsbild vor allem durch einen Aspekt: Es lässt sich dank der Aussagen der Jugendlichen einem Medium zuordnen, wie in diesem Fall der Wikipedia. Wenngleich es sich also um das gleiche Phänomen handelt, dann liefern die hier und im Folgenden angesprochenen Ressourcen freilich auch Wissensbestände, sind aber – im Unterschied zum zuvor verhandelten Geschichtsbild – in den Interviewsequenzen explizit mit einem Medium verknüpft.

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ihr also gleichermaßen durch Spielfilm und Dokumentation grundsätzlich die Möglichkeit gegeben werde, Neues zu lernen. In dieser Funktion jedoch sind die Onlinerecherche und das Lesen von Wikipedia-Artikeln für sie offenbar unübertroffen und mehr als nur eine Ergänzung der Rezeption des TV-Events. Vielmehr räumt Wikipedia ihre Fragen und Zweifel aus und besitzt für die Jugendliche ein Maß an Verlässlichkeit, das den Audiovisionen überlegen ist. Dass für Michaela geradezu ein Imperativ der Authentifizierung des Spielfilms besteht, macht sie sehr deutlich: „und da musste ich mir durchlesen, ob ob das wirklich so stimmt auch,“. In dieser Funktion nimmt sie nicht nur allgemein auf die Darstellung der Nationalen Volksarmee in der Wikipedia Bezug, sondern geht detailliert darauf ein, welche Bestandteile des Online-Lexikoneintrags sie als Authentifizierungs-Ressourcen heranzieht. Die Tatsache, dass sie bei Wikipedia erfährt, „dass es darüber sehr viele Bücher gibt“, scheint in dieser Funktion für sie wichtig zu sein. Der bloße Verweis auf Literatur zur Thematik, der in der Regel zu jedem Wikipedia-Eintrag gehört, untersetzt den Artikel mit einer zusätzlichen Glaubwürdigkeit. Dezidiert nimmt sie auf „das eine Buch“ Bezug, dessen Titel sie zwar nicht genau benennen kann, das sie aber offensichtlich nachhaltig beeindruckt hat. Es scheint sich um einen Zeitzeugenbericht eines ehemaligen Wehrdienstleistenden zu handeln, und erneut zeigt sich hier die herausgehobene Bedeutung, die solche Berichte für die Jugendlichen bei der Authentifizierung des Spielfilms besitzen. Daraufhin macht Michaela noch eine Bemerkung, die Aufschluss über die Authentifizierungs-Ressource am Beispiel Wikipedia gibt: „u:nd aber ich wusste trotzdem nicht ich habe ja mir nix über diesen Film durchgelesen, ob der jetzt wahr ist oder so, deswegen ich habe mir nur das durchgelesen, ob das mit der Volksarmee wirklich wahr war und (.) hab mir dann eher nochmal Sachen durchgelesen, was ich zur Volksarmee wo- wissen wollte.“ Sie erhält auf der Onlineplattform keine Informationen, die sich direkt auf den Fernsehzweiteiler beziehen, sondern die ihr vielmehr Informationen zu dort verhandelten Themen liefert. Denkbar wäre gewesen, dass sie etwa den Eintrag zum „Turm“ selbst liest und dort direkt etwas zur Authentizität erfährt, die die Online-Community dem Fernsehfilm zuschreibt. Dies ist jedoch nicht der Fall, vielmehr erhält sie dort historische Informationen, die eine eigenständige Bewertung der historischen Darstellung ermöglichen. Ihre Wikipedia-Lektüre stellt eine Folie dar, vor der sie das Gesehene selbst bewerten kann, statt sich auf das Urteil Dritter zu beziehen, die den Film direkt als authentisch bezeichnen. Folglich handelt es sich in diesem Fall der Recherche auf der Plattform Wikipedia um eine Authentifizierungs-Ressource, die von der Jugendlichen herangezogen wird und eine medial gestützte Authentifizierung des Spielfilms ermöglicht. Im letzten Abschnitt der Sequenz wird noch einmal deutlich, wie wichtig die beschriebene Ressource für Michaela ist, und welche Elemente entscheidenden Anteil an der Authentifizierung der fiktionalen Erzählung besitzen: Sie spricht die

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Zeitzeugen*innenberichte an und greift erneut die Information auf, die sie aus der Wikipedia erfahren hat, dass es nämlich aus ihrer Sicht keine Alternative zum Wehrdienst gegeben habe. Vor diesem Hintergrund wird für sie ein Narrativ des Spielfilms verständlich, das sie bereits in ihrer Eingangserzählung thematisiert und das sich um „einen dickeren Freund“127 gedreht hatte. Mithilfe des WikipediaArtikels und den dort gelesenen, historischen Informationen zum Wehrdienst in der DDR wird für sie nun nachvollziehbar, dass im Film auch ein Rekrut auftaucht, den sie körperlich aufgrund seiner Leibesfülle eigentlich für untauglich hält. Damit erscheint ihr das Narrativ des Films mit den historischen, online verfügbaren Informationen vereinbar, wodurch aus ihrer Sicht letztlich die historische Erzählung des Spielfilms authentifiziert wird. Das Internet und insbesondere die bekannte Online-Enzyklopädie spielt auch für weitere Jugendliche eine zentrale Rolle in ihrem medialen Alltag, wenn es um die Begegnung mit historischen Themen geht. So im Fall der Jugendlichen Tanya, die gefragt wird, ob sie über den Spielfilm und die Dokumentation hinaus weitere Medien genutzt habe: I: Mhm. ähm was sind (.) gibt=es noch andere Medien, wo dir Geschichte begegnet, in deinem Alltag, also wo du dich mit Geschichte auseinandersetzt tatsächlich? TA: Ähm über=das Internet zum Beispiel, I: Ja? TA: ähm (.) man wird ja eigentlich die ganze Zeit (.) von diesem von dieser (.) vom Internet bombardiert, mit allem Möglichen, und ähm Geschichte ist ja auch ganz oft mit drin, sonst wären wir ja gar nicht jetzt hier, //mhm// ähm zum Beispiel (.) der Zweite Weltkrieg begegnet einem ganz oft irgendwie, irgendwie im Facebook oder so, //mhm// da wird wird man ja immer dafür verantwortlich gemacht als Deutscher °keine Ahnung warum das so ist°, wir haben ja im Prinzip also unsere Generation hat da eigentlich gar nichts mehr mit zu tun, aber wir werden trotzdem immer noch für (.) verantwortlich gemacht, //mhm// ähm ja. ich schreibe auch viel, ähm da muss man auch recherchieren, ich finde (.) ähm (.) ja (.) man liest dann auch darüber nach, was man (2,5)

ähm

(.)

wissen

möchte, also zum Beispiel interessiert mich jetzt ein Thema, okay, ich bin irgendwie drauf gekommen, weiß ich nicht, und dann gucke ich so okay was war da zu der Zeit, und (.) gucke ich bei Wikipedia oder so, les mir das durch und finde=ich das auch interessant, und dann (1)

habe ich damit eigentlich auch schon abgeschlossen.128

Zunächst ist hier klar erkennbar, dass sich Tanya im Vergleich zur vorherigen Sequenz nicht direkt auf den Spielfilm bezieht, sondern hier allgemein über ihre Erfahrungen mit anderen Medien Auskunft gibt, in denen sie mit Geschichte konfron127 Transkript MI, BS, Z. 78. 128 Transkript TA, BS, Z. 183-203.

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tiert wird. Dieser Teil des Interviews erlaubt folglich keine expliziten Einblicke in die Authentifizierung des ARD-Zweiteilers, sondern ermöglicht es im Anschluss an die bereits analysierten Sequenzen, das Internet und insbesondere die Plattform Wikipedia in ihrer Stellung im Medienalltag der Jugendlichen besser einschätzen zu können. Dass deren Bedeutung für Tanya groß ist, dokumentiert sie schon allein dadurch, dass sie auf die Frage nach Medien über die historischen Audiovisionen hinaus unmittelbar das World Wide Web anführt. Für sie scheint es sich dabei um den ersten Anlaufpunkt zu handeln, um sich medial mit historischen Themen auseinanderzusetzen. Dabei wird klar, dass diese Auseinandersetzung nicht selten unter negativen Vorzeichen stattfindet – Tanya fühlt sich geradezu „bombardiert“ vom Internet und mit Geschichte im Netz, insbesondere mit der Thematik des Zweiten Weltkriegs, die sie noch dazu oft in einer Rolle der Angeklagten wahrnimmt. Sie weist eine Verantwortung ihrer Generation für die Geschehnisse zurück. Darüber hinaus macht sie sehr deutlich, dass das Internet, insbesondere aber die Wikipedia eine zentrale Ressource der historischen Information für sie darstellt. Für ihr Hobby, das Schreiben, nutzt sie die Recherchemöglichkeiten online. Unabhängig vom Thema, das sie interessiert, scheint Wikipedia ihre erste Anlaufstelle zu sein, um historische Informationen zu erhalten. In der thematischen Beliebigkeit drückt sich die umfassende Bedeutung der Online-Enzyklopädie aus, die buchstäblich für alle Themen von ihr genutzt wird, um der Frage nachzugehen: „was war da zu der Zeit“? Zuletzt wird erkennbar, dass die Nutzung von Wikipedia zwar für sie vollkommen unabhängig von der historischen Thematik erfolgt, es sich aber um eine gewissermaßen fragmentarische, isolierte Mediennutzung handelt: „[Ich] les mir das durch und finde=ich das auch interessant, und dann (1) habe ich damit eigentlich auch schon abgeschlossen.“ Es geht ihr hier nicht um eine gründliche Recherche, von der ausgehend die Jugendliche bestimmte Aspekte vertiefen kann oder von Wikipedia-Artikeln etwa auf weiterführende Informationen verlinkt wird – die Onlineplattform ist vielmehr Anfangs- und Endpunkt der historischen Informationssuche. Auch wenn in dieser Sequenz keine Bedeutung der Ressource Wikipedia explizit für die Authentifizierung des Spielfilms ausgedrückt wird, macht sie dennoch deutlich, dass die Plattform in dem Fall, dass sich jugendliche Zuschauer*innen der Authentizität eines Spielfilms vergewissern möchten, durchaus eine wichtige mediale Anlaufstelle sein kann. Sie bildet auch für Tanya, wie für die zuvor zitierten Jugendlichen, eine zentrale Möglichkeit, sich medial mit Geschichte auseinanderzusetzen. Die Wikipedia verfügt dabei über ein hohes Ansehen in den Augen fast aller Jugendlichen, die ihr eine große Verlässlichkeit für historische Informationen attestieren. So bezeichnet Ludwig-Theodor sie als „sachlich neutral“ und „objektiv“129. 129 Beide Zitate Transkript LT, MD, Z. 1220f.

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Wie sich im Gespräch mit Tanya gezeigt hat, bietet dieses Medium einen schnellen und hinreichend umfangreichen Zugang zu beliebigen historischen Themen, und damit eignet er sich sehr für die Authentifizierung von historischen Darstellung im Spielfilm: Um bestimmte Aspekte einer Spielfilmstory zu authentifizieren, können Jugendliche mithilfe der Online-Enzyklopädie ein Medium nutzen, das ihnen Antworten auf Fragen der Authentifizierung liefert – etwa, ob sich die in einem Spielfilm erzählte Ausgangsregelung bei der NVA tatsächlich so restriktiv gestaltete, wie audiovisuell dargestellt. Wenn sich auch das Internet, insbesondere die Plattform Wikipedia, in den zugrundeliegenden Daten nur selten explizit als Authentifizierungs-Ressource gezeigt hat, würde ich dieses Medium dennoch als relevant für Prozesse der Authentifizierung einschätzen. Dafür sprechen nicht nur die Stellen, in denen die Wikipedia explizit als Ressource in den Interviews auftaucht, sondern auch die medialen Gewohnheiten vieler Jugendlicher, die das Internet als oft wichtigste Anlaufstelle begreifen, um historische Informationen zu erhalten. Dieser Eindruck ergibt sich aus einem Blick auf das Sample dieser Arbeit, aber auch aus anderen empirischen Untersuchungen.130 Für die Bedeutung dieser Ressource spricht zudem die große Verlässlichkeit, die sie der Plattform in historischen Fragen attestieren. Hinzu kommt, dass dort buchstäblich zu allen historischen Themen Informationen konzentriert angeboten werden und dieser Vorzug von den Jugendlichen auch so beschrieben wird – was die Wikipedia als eine wichtige Ressource der Authentifizierung erscheinen lässt. Weitere Online-Medien tauchen in den geführten Interviews nicht auf. Durchaus finden jedoch weitere Ressourcen Erwähnung, die ebenfalls Texte beinhalten. In der folgenden Sequenz, die dem Gespräch mit der Magdeburgerin Magdalena entnommen ist, wird die jugendliche Zuschauerin gefragt, ob sie sich zum Spielfilm informiert habe: I:

Mhm. hast du ähm (.) dich irgendwie informiert drüber oder das Bedürfnis gehabt,

nochmal n paar Infos dazu zu kriegen,

130 Siehe allgemein zur Bedeutung des Internets etwa Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015. Für die Bedeutung des Internets in spezifisch historischen Kontexten siehe Demantowsky, Marko/Pallaske, Christoph (Hg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Berlin, München, Boston 2015. Darin ist für einen empirischen Überblick insbesondere der Beitrag von Bettina Alavi von Interesse: Alavi, Bettina: Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders? In: Demantowsky, Marko/Pallaske, Christoph (Hg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Berlin, München, Boston 2015. S. 3-16.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 301

MAG:

└Ähm:┘ (.) nein denn zum Beispiel (.) ähm (1)

(bekommen)

wir

von der Schule aus die FAZ und da war mal ein Artikel über (.) d- das in der Prager Botschaft drin, °den habe=ich mir durchgelesen. //mhm// das war eigentlich ganz interessant auch.° I: Ähm:: (.) was stand da drin? und und ähm (.) was bringt dir das für den Turm auch? MAG: Ähm für den Turm bringt=es mir eben (.) die Situation in Prag besser zu verstehen, //mhm// was eben im Film nicht erklärt wurde, //mhm// und es ging (.) war aus der Sicht von ein::em Mann, beschrieben, der dorthingekommen ist, als es noch sehr wenige waren, der hat (.) hat- da es aber immer mehr wurden, mussten sich die Flüchtlinge dort auch in der Botschaft organisieren und er hat dann mi- das organ- die Organisation übernommen, damit die auch alle registriert wurden, damit die alles Nötige bekommen, und das wurden (.) eben immer mehr, dass die Botschaft eigentlich schon aus allen Nähten geplatzt ist, und überall auf den Treppen (.) und in allen Sälen geschlafen haben, (.) un::d auch die eine Szene, wo dann eben:: (.) ihre Ausreise bewilligt wurde, un::d wo nur das Wort Ausreise erwähnt werden musste, damit alle in Jubel ausbrechen. 131

Magdalena bringt hier mit der „FAZ“ eine Zeitung zur Sprache, die sie nicht erst nach dem Filmschauen gezielt gelesen hat, sondern unabhängig davon. Sie scheint nach dem Ansehen des Films keine Medien ausgewählt und konsumiert zu haben, die ihr weitere Informationen zum Film hätten liefern können. Vielmehr kommt sie auf eine vorherige Mediennutzung zu sprechen. Sie geht auf einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein und liefert damit ein Beispiel für ein historisches Printmedium, das ihre Beurteilung des Spielfilms mit beeinflusst. Der Artikel, den sie vor der Teilnahme an dieser Studie gelesen hatte, schildert eine berühmte Episode der Geschichte vom Ende der deutschen Teilung. Sie berichtet, wie der Artikel die Ereignisse in der Prager Botschaft im Jahr 1989 rekapituliert und aus der Perspektive eines „Republikflüchtlings“ die Tage bis zur berühmten Ansprache Hans-Dietrich Genschers auf dem Balkon der Botschaft nachgezeichnet hatte. Die Verbindung dieses Beispiels eines historischen Printmediums zur Rezeption des „Turms“ stellt die Jugendliche indes nicht direkt her. Zwar berichtet sie vom Artikel als Reaktion auf die Frage des Interviewers und setzt den Film und den Zeitungsartikel damit in eine gewisse Relation. In der Darstellung des Artikels jedoch bezieht sie ihre Schilderung nicht explizit auf den „Turm“, sondern gibt ihn unabhängig davon wieder. In dieser Beobachtung zeigt sich die nur indirekte Bedeutung dieser Authentifizierungs-Ressource: Der Zeitungsartikel spricht nicht direkt für die Authentizität des Spielfilms, sondern kann Argumente dafür liefern. Ohne den Schluss jedoch, dass das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Gelesene auch ein Argument für die Authentizität der ARD-Produktion darstellen kann, wird der Zeitungsartikel für die Rezipientin vorerst nicht zu einer Authentifizierungs-Ressource. Diese Funktion wird dem Artikel erst zugeschrieben, als der Interviewer erneut 131 Transkript MAG, MD, Z. 92-111.

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nach der Verbindung beider Medien fragt. Nun bezieht Magdalena die historische Schilderung im Printmedium auf die Erzählung des Spielfilms. Hier zeigt sich ein ergänzendes Verhältnis zwischen dem gesehenen Spielfilm und dem gelesenen Artikel: Der Artikel liefert der Jugendlichen Informationen dazu, „was eben im Film nicht erklärt wurde“. Insofern vertieft er den historischen Hintergrund der Spielfilmerzählung. Dass diese sich mit dem Gelesenen verbinden lässt, spricht schließlich für die Authentizität des Fernsehfilms, wenn auch dieser Schluss hier nicht expliziert wird. Erkennbar ist die authentifizierende Funktion der Ressource dennoch, schließlich wird hier die Spielfilmhandlung eindeutig mit den historischen Ereignissen der „Situation in Prag“ verknüpft, deren Darstellung im Film ausbleibt. Aufgrund des Zeitungsartikels sei die Filmstory „besser zu verstehen,“, weil sie den historischen Hintergrund des im Film Erzählten vertiefe. Die im Film erzählte Story wird insofern mithilfe eines historischen Printmediums, auf das Magdalena zurückgreifen kann, klarer historisch verortet, was letztlich mit der Zuschreibung von Authentizität einhergeht. Auf weitere historische Printmedien, etwa solche wie das bekannte Magazin „GEO Epoche“132 oder andere Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel, gehen die Jugendlichen im gesamten Datenmaterial nicht ein. Demgegenüber erscheint im Hinblick auf Ressourcen in anderer medialer Form insbesondere eine als herausragend wichtig: Gemeint sind weitere historische Audiovisionen zur DDR, mithin berühmte historische Spielfilme ebenso wie historische Dokumentationen, die für die Authentifizierung des „Turms“ von vielen Jugendlichen als Ressource herangezogen werden. Dieses Medium spielt in so vielen Interviews für die Bewertung des Spielfilmzweiteilers eine große Rolle, dass dessen Bedeutung als AuthentifizierungsRessource als mindestens so groß wie die oben verhandelte Dokumentation zum Spielfilm eingeschätzt muss. Weil diese Ressource einen so erheblichen Einfluss auf die Rezeption und Authentifizierung historischer Spielfilme ausübt, werde ich sie im Folgenden ausführlich thematisieren. Ein erstes Beispiel dafür liefert das Gespräch mit Stacy, die sich etwas enttäuscht über den „Turm“ zeigt. Auf die Frage, ob sie mit anderen über den Zweiteiler gesprochen habe, entgegnet sie, dass es stattdessen andere Filme gegeben habe, die zum Austausch anregten. Daraufhin entspinnt sich folgende Gesprächssequenz: I: Was wäre das für ein Film, worüber du gerne geredet also worüber du dann geredet hättest? ST: Ähm (.) kennen Sie das Leben der Anderen? I: Ja. ST: Ja, den habe ich auch (.) vor zwei Jahren oder so glaube ich mal in der Schule geguckt, ähm (.) da fand ich irgendwie die ganze Geschichte also da ist das noch so (.) krasser mit der DDR rübergekommen fand ich. so mit den (2)

naja es waren ja auch zwei

132 Siehe http://www.geo.de/magazine/geo-epoche (3.11.2016).

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verschiedene Themen aber also der Film, der hat mich irgendwie mehr angesprochen, also ich finde man wurde da mehr so eingebunden in den Film oder konnte sich das alles viel besser vorstellen; //mhm// ähm (1)

ja.

I: Warum würdest du sagen, also du hast gesagt ähm dass ist irgendwie krasser mit der DDR rübergekommen und man könnte sich das besser vorstellen. ähm warum ist das in dem Film, also im Turm, nicht v- nicht deiner Meinung nach passiert? ST: Ähm (13) ähm kann ich nicht genau sagen also (.) ich fand dieser rote Faden hat so ein bisschen gefehlt //mhm// und auch so die gewisse Spannung. also irgendwie (.) warum (.) warum hat mir das gefehlt? I: (3)

Also was was ist am äh Leben der

Anderen hattest du genannt //mhm// was ist am Leben der Anderen krasser von DDR rübergekommen als im Turm? ST: Das mit den Spitzeln zum Beispiel //mhm// oder ja das ist ja am Ende irgendwie ist das ja beim Turm ja irgendwie auch nochmal mit der Tochter oder irgendwie sowas kam kam glaube ich nochmal einer, der da seine Tochter und die Frau beobachtet und dann kam glaub ich auch nochmal einer zu ihm oder irgendwie meinte sowas (.) hast ja ne hübsche Tochter oder irgendwie sowas, glaube ich, //mhm// aber ähm das ist beim Leben der Anderen da ist das so naja weil die ja auch die ganze Zeit ähm ausgehorcht worden und man ha- man hat das halt die ganze Zeit von beiden Seiten sozusagen mitbekommen, also einmal von der (.) ähm ja Seite der DDR und einmal von den Menschen, die in der DDR gelebt haben und ähm (2) die Verbindung fand ich irgendwie besser, das hat einen so mehr gepackt.133

Mit dem Film „Das Leben der Anderen“ spricht Stacy einen der weltweit erfolgreichsten Spielfilme über die DDR an, der nicht zuletzt durch den Gewinn des Oscars eine große Popularität besitzt. Auch bei den anderen befragten Jugendlichen tauchte der Film in den Gesprächen häufig auf. Stacy vergleicht ihn mit dem „Turm“, und im Ergebnis dieses Vergleichs bemerkt sie über „Das Leben der Anderen“: „also da ist das noch so (.) krasser mit der DDR rübergekommen fand ich.“ In diesem Ausspruch spielt die Betonung eine entscheidende Rolle: Beide Spielfilme werden nicht darin verglichen, inwieweit sie sich überhaupt auf die Darstellung der DDR konzentrieren, sondern darin, wie „[krass]“ das Bild von der DDR jeweils ausfalle. In diesem Punkt behält der Oscargewinner aus der Perspektive der Rezipientin klar die Oberhand, das dort gezeigte Bild sei eindeutig „krasser“ als im Fernsehfilm „Der Turm“. Wohlgemerkt wird dieses Attribut positiv bewertet, schließlich beginnt die Sequenz mit einem nur durchschnittlichen Urteil über die ARD-Produktion und einem positiven für die Story um den Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler. Ein Bild von der DDR im Spielfilm, das „krasser“ als in jener Produktion ist, sei also eindeutig vorzuziehen. Darin drückt sich vor allem eines aus: Stacy be133 Transkript ST, BS, Z.

304 | Wie Stories zu History werden

sitzt eine klare Vorstellung, welches Bild der DDR sie in audiovisuellen Darstellungen erwartet. Diese speist sich offenbar auch aus einem anderen Spielfilm. Sie wird von beiden Filmen unterschiedlich gut erfüllt, und es ist unstrittig, wie die Jugendliche das Nichterfüllen ihrer Ansprüche bewertet, die sie an ein mediales DDRBild stellt. Stacy erkennt, dass ihre Einschätzung auch auf unterschiedliche Themensetzungen beider Spielfilme zurückgeht. Bevor sie jedoch diesen Aspekt weiter ausführt, schildert sie, dass ihr „Das Leben der Anderen“ – auf der Grundlage eines „krasser[en]“ DDR-Bilds – ein Einfühlen in die Darstellung deutlich leichter ermöglicht habe. Sie fühlte sich davon „mehr angesprochen“ und habe sich alles „viel besser vorstellen“ können – dass der Film ihre Erwartungen an das gezeigte DDR-Bild erfüllt, führt also zu einem deutlich angenehmeren Seherlebnis für die Zuschauerin. Wie wenig sie gegenüber dem „Leben der Anderen“ offenbar den Zweiteiler genossen hat, macht sie im Folgenden deutlich. „ich fand dieser rote Faden hat so ein bisschen gefehlt //mhm// und auch so die gewisse Spannung“. Darin deutet sich an, dass das Erfüllen der Erwartungshaltung an die historische Darstellung notwendig für eine „reibungslose“ Rezeption ist – bricht die Fiktion mit der Erwartungshaltung, führt dies zu einer Irritation der Rezipientin. Auf Nachfrage des Interviewers geht Stacy zuletzt darauf ein, inwiefern genau sich die DDR-Bilder der Spielfilme unterscheiden. Damit greift sie die unterschiedliche Themensetzung beider Filme wieder auf, die sie bereits angesprochen hatte. Sie leitet ein mit einem Verweis auf „Das mit den Spitzeln zum Beispiel“; angesichts der Story beider Filme ist klar, dass sie hier wohlmeinend die Darstellung des Oscarpreisträgers als Ideal ansieht, wie die DDR im Film darzustellen sei. Sie erkennt Ansätze davon auch im „Turm“, insofern auch dort „nochmal einer [kam], der da seine Tochter und die Frau beobachtet“ habe, bleibt in ihren Ausführungen darüber jedoch ausgesprochen vage und ungenau. Erneut zieht sie anschließend den Vergleich, wobei ihr die Zuspitzung auf die Thematik der Bespitzelung in der DDR letztlich als bestes Argument gegen den „Turm“ und für „Das Leben der Anderen“ dient, „weil die ja auch die ganze Zeit ähm ausgehorcht worden und man ha- man hat das halt die ganze Zeit von beiden Seiten sozusagen mitbekommen“. Ihr positives Urteil über den Film fußt also darauf, dass die Allgegenwart der Spitzelei und die Folgen für die Ausgehorchten in der DDR deutlicher („krasser“) sichtbar werden und insofern die Erwartungshaltung der Rezipientin erfüllen. Diese Sequenz zeigt zunächst sehr eindringlich, wie stark die Bewertung eines Spielfilms von anderen Filmen abhängig sein kann, die die Rezipienten*innen bereits gesehen haben und vergleichend in die Rezeption mit einbringen. In diesem Fall dient einer der erfolgreichsten Spielfilme, die eine Geschichte in der DDR erzählen, als Grundlage zur Bewertung des Fernsehzweiteilers „Der Turm“. Er bildet die Basis für eine Erwartungshaltung der Zuschauerin, die sich auf ein spezifisches Bild der DDR bezieht. Dass dieses Bild, das sie aus „Das Leben der Anderen“

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kennt134 und das von Repression und Spitzeltum geprägt ist, im „Turm“ nicht erwartungsgemäß repräsentiert ist, lässt die Bewertung des ARD-Spielfilms eher negativ ausfallen. Unabhängig jedoch von diesem Urteil ist erkennbar, dass ein prominentes Beispiel für eine historische Audiovision zur DDR-Geschichte hier eine Bewertungsgrundlage bildet, um die im „Turm“ erzählte Geschichte einzuschätzen und zu authentifizieren. Damit spielt „Das Leben der Anderen“ als Beispiel für eine historische Audiovision hier als Authentifizierungs-Ressource eine Rolle. In der vorgestellten Sequenz hat sich gezeigt, dass andere historische Spielfilme ein Bild der DDR etablieren können, das für ihre Zuschauer*innen die Folie für die Rezeption anderer DDR-Darstellungen darstellt. In der folgenden Sequenz des Interviews mit der Magdeburgerin Laura Pia wird noch deutlicher erkennbar, wie dieses audiovisuell etablierte DDR-Bild gestaltet sein kann: I: So. was ist das für eine Welt, die da dargestellt wird, im Film für dich? LP: Ja also es ist so (.) naja also es ist=ne Welt, also für mich persönlich kommt das eben so rüber also ich höre ja auch Leute oft erzählen, von damals, von der DDR, also für mich kommt das immer so rüber wenn ich das sehe, und jetzt auch vor allen Dingen in dem Film ist=es keine norm- also nicht so normale Welt war, wie man (.) das (.) wie man das=so (.) heute erlebt; also für mich ist einfach der Gedanke, von von ich darf meine Meinung nicht frei äußern oder so das (.) ist für mich ganz abstrakt, das kann ich mir nicht vorstellen, und deswegen kommt mir die Welt kleiner vor also viel kleiner, als: das was so //mhm// heute ist irgendwie, also mir kommt einfach alles enger und bedrängter vor und vor allen Dingen auch wegen der Gefühle, die die Menschen zeigen, also (.) weil die Menschen nicht frei also die Schil- also so in ihren Bewegungen und dem was sie sagen und so ist einfach so dass sie für mich keine Freiheit symbolisieren, sondern so (.) ein bisschen eingeengt. ich meine klar das liegt bestimmt auch daran, weil die Filme auch das zeigen sollen //mhm// wie es: so war, aber das ging mir bis jetzt bei ziemlich allen Filmen so, die ich über die DDR gesehen habe, und ähm (.) ja also es ist schon so, es kommt mir kleiner vor, (.) grauer also das klingt zwar jetzt vielleicht banal, //mhm// aber das also es kommt mir so vor, als wäre alles nicht so farb:lich wie jetzt und: es sieht nicht fröhlich aus, es hat immer so einen negativen Beigeschmack für mich. //mhm// ich weiß nicht warum, aber das ist so also wenn ich so (.) keine Ahnung, ich meine klar kann man das nicht pauschalisieren, man kann nicht sagen °das war alles so schrecklich und schlecht° und den allen Menschen ging=s schlecht, aber (.) also für mich ist das so, wenn ich das sehe kommt mir das alles klein und (.) eingeengt vor. und das ist ähm (.) ja naja es ist eben also (.) so wie man es da auch gesehen hat, es=ist auch so=n sehr (.) °ja 134 Fraglos lässt sich anhand der analysierten Sequenz nicht absolut sicher beantworten, inwiefern das von Stacy erwartete DDR-Bild tatsächlich aus dem Spielfilm „Das Leben der Anderen“ stammt oder nicht aus anderer Herkunft ist. Letztlich wird dieses Bild jedoch anhand des genannten Spielfilms angesprochen, sodass dieser hier als entscheidende mediale Ressource verstanden wird.

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privates (.) also privates Leben. //mhm// es ist so ganz: familiär alles, also° (.) die Leute waren (.) wenn man wie sie da gesehen hat, dann waren sie meistens entweder nur bei der Arbeit oder ma- halt in der Familie, das war (.) fast nie bis auf diese Hochzeit ein gesellschaftliches Event oder so //mhm// und wenn eine Feier stattfand war das auch bei jemandem zuhause, die waren nicht essen oder sowas, das war alles so (.) klein und jeder für sich und ähm //mhm// ja vorsichtig, ne vorsichtige Welt. I: Was sind das für andere Filme, die dann so=n ähnliches graues Bild zeichnen? LP:

└Zum Beispiel ähm das┘ Leben der

Anderen, //mhm// also den habe ich glaube ich dreimal oder viermal gesehen, I: @(.)@ LP: Und ja wir haben den auch zuhause auf DVD, und das ist so ähm (.) ja ich weiß nicht also (.) der Film vor allen Dingen ist für mich ich auch sehr (.) also das ist (.) für mich auf der einen Seite so=n Film der genau zeigt, wie perfide das alles eigentlich war, also wie genau die Menschen abgehört haben, was sie (.) alles erfunden haben, nur um rauszufinden, was Leute denken was sie sagen und so, aber auf der anderen Seite zeigt das für mich und deswegen finde ich den Film auch (.) sehr sehr gut, dass es auch Menschlichkeit gab, weil es ja am Ende so ist, dass er sozusagen die Familie nicht verrät, und //mhm// ähm (.) dass alles für sich behält, was da besprochen wurde, oder zum Beispiel haben wir auch ne naja ne Dokumentation zuhause über die Mauer, und dann auch d- im Zuge darüber über die DDR, und ähm auch halt die Bundesrepublik, aber äh ja das sind so Sachen, wo man dann so sieht, ja (.) °da wird die Mauer gebaut,° @(.)@ der letzte Soldat springt noch über den Stacheldrahtzaun, //mhm// also (.) dass das so von Anfang an sozusagen so (.) in den Köpfen der Menschen ist, wir kommen hier nicht mehr raus. so also //mhm// dass es eben so dieses ähm Ungewollte ist, das ist das und das ist in fast allen Filmen, //mhm// und selbst in den Dokumentationen ist das so, wenn die Menschen da teilweise erzählen, oder selbst wenn Historiker darüber sprechen, (.) das ist alles so also es kommt eben nicht (.) nett rüber //mhm// sondern immer so ein bisschen (.) (ich weiß nicht)

135

Bemerkenswert erscheint zunächst der frühe Zeitpunkt dieser Sequenz im Interview: Kurz nach dessen Beginn soll Laura Pia sich hier über die im „Turm“ dargestellte DDR äußern und kommt dabei von selbst auf andere Filme zu sprechen, die sich der DDR widmen. Allein dies verdeutlicht, wie wichtig weitere historische Audiovisionen für die Rezeption eines historischen Spielfilms sind. Aus der Sicht der Jugendlichen ergibt sich ein enormer Kontrast zwischen der historischen Welt im Spielfilm und der Gegenwart: Dass die DDR im „Turm“ und anderen Spielfilmen „nicht so normale Welt war, wie man (.) das (.) wie man das=so (.) heute erlebt“, ist für die Zuschauerin die zentrale Erkenntnis im Nachdenken über das im Film dargestellte Bild der DDR. Laura Pia schildert hier, dass sich die enormen Unterschiede zwischen dargestellter Geschichte und Gegenwart 135 Transkript LP, MD, Z. 137-195.

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vor allem im Hinblick auf die Thematik der „Freiheit“ zeigten. Für sie „ist einfach der Gedanke, von von ich darf meine Meinung nicht frei äußern oder so das (.) ist für mich ganz abstrakt“. Wie an zahlreichen anderen Stellen zuvor zeigt sich auch bei ihr ein Geschichtsbild von der DDR, das vorrangig negativ gefärbt ist und durch den zentralen Topos der Unfreiheit maßgeblich charakterisiert wird. Die Jugendliche reiht sich damit ein in die große Gruppe derer, die mit der DDR vorrangig negative Eigenschaften verbinden und insbesondere die fehlende individuelle Freiheit auf der einen beziehungsweise den Repressionsapparat auf der anderen Seite damit verknüpfen. Im Anschluss an die Schilderung dieser Unfreiheit verdeutlicht die Jugendliche, woher dieses Bild stammt: „weil die Filme auch das zeigen sollen //mhm// wie es: so war, aber das ging mir bis jetzt bei ziemlich allen Filmen so, die ich über die DDR gesehen habe“. Diese Stelle ist insofern außerordentlich aufschlussreich, als dass die Jugendliche hier ihren Fokus leicht verschiebt: Eingeleitet hatte sie die Sequenz mit einem Sprechen über den „Turm“, und nach einer Schilderung über das darin repräsentierte DDR-Bild überträgt sie ihre Gedanken nunmehr auf eine Mehrzahl an „Filmen“. Letztlich sieht sie sogar „bei ziemlich allen Filmen“ das beschriebene DDR-Bild bestätigt. Deutlich wird darin, dass historische Spielfilme keineswegs als isolierte historische Medien zu fassen, sondern dass sie in einem unmittelbaren Kontext thematisch ähnlicher Filme angesiedelt sind, die die Rezeption der dargestellten Geschichte maßgeblich mitbestimmen. Auch das im Rahmen dieses Projekts gezeigte Filmbeispiel reiht sich damit ein in ein individuelles, audiovisuell-historisches Medienrepertoire, das aus der Zuschauer*innen-Perspektive ein spezifisches Bild der DDR etabliert. Das von diesem Repertoire maßgeblich konstituierte Bild der DDR scheint inhaltlich nicht besonders vielfältig gestaltet, sondern zeichnet sich insbesondere durch den dominanten Topos der individuellen Unfreiheit und staatlichen Repression in der DDR aus. Laura Pia führt dieses Bild im Anschluss noch weiter aus und ergänzt es etwa um eine grundsätzlich düstere Atmosphäre sowie den Rückzug ins Private, die das Bild der DDR in Spielfilmen charakterisierten. Als wichtigsten Vertreter dieser Filme benennt sie „Das Leben der Anderen“, der sich bereits in zuvor analysierten Sequenzen als unter Jugendlichen verbreitete Darstellung der DDR herauskristallisiert hatte. Sie habe das Werk des Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck mehrfach gesehen, und zudem gebe es „zuhause“ den Film auf DVD. Warum ausgerechnet „der Film vor allen Dingen“ eine so große Bedeutung für einige Jugendliche aufweist, wird ansatzweise im letzten Drittel des zitierten Ausschnitts sichtbar: Es handle sich um „so=n Film der genau zeigt, wie perfide das alles eigentlich war, also wie genau die Menschen abgehört haben, was sie (.) alles erfunden haben, nur um rauszufinden, was Leute denken was sie sagen und so, aber auf der anderen Seite zeigt das für mich und deswegen finde ich den Film auch (.) sehr sehr gut, dass es auch Menschlichkeit gab“. Damit repräsentiert „Das Leben

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der Anderen“ eben diese beiden Aspekte, die schon als wichtigster Topos des DDRBilds erkennbar wurden: staatliche Repression auf der einen Seite und die davon betroffenen Menschen auf der anderen Seite. Zu vermuten wäre, dass „Das Leben der Anderen“ gewissermaßen Teil eines sich selbst bestätigenden Zirkels medial vermittelter Darstellungen der DDR ist – die Jugendlichen erwarten ein Bild der DDR, das vor allem von Repression und Unfreiheit charakterisiert ist, und sehen diese Erwartung hier bestätigt. Gleichzeitig aber basieren ihre Erwartungen auch auf diesem Spielfilm, trägt er doch maßgeblich zu dem Bild bei, das sie von der DDR besitzen. Ein Teil des Erfolges des Films wäre insofern damit zu erklären, dass „Das Leben der Anderen“ die Erwartungen seines Publikums an die Darstellung der DDR perfekt erfüllt, und damit als ein aus seiner Sicht besonders authentischer Vertreter des Genres gelten kann. Zum Abschluss der Sequenz macht die Rezipientin noch deutlich, dass es keineswegs nur Spielfilme sind, die das audiovisuelle Medienrepertoire bilden, auf das Jugendliche im Hinblick auf die Geschichte der DDR Bezug nehmen. Laura Pia geht auf eine Dokumentation ein, die laut ihrem Schluss das beschriebene Bild mitkonstituiert und bestätigt. Ich werde später noch auf dokumentarische Formate als Authentifizierungs-Ressourcen zu sprechen kommen, aber überdeutlich wird in dieser Passage, dass Genregrenzen für die medial geschaffenen Erwartungen an die Darstellung der DDR keine größere Relevanz aufweisen. Auch für den Braunschweiger Cem bietet sich ein Vergleich der ARDProduktion mit audiovisuellen historischen Erzählungen an. Er stellt ihm den etwas älteren Spielfilm „Der Tunnel“136 gegenüber, mithin eines der ersten TV-Events, das ebenfalls aus der Histotainment-Schmiede des Produzenten Nico Hofmann stammte: I: Gibt es einen Film, den du irgendwie der dir wenn du jetzt den Turm gesehen hast, der dir einfällt, den du damit irgendwie vergleichen würdest? CE: (4)

Ja der Tunnel. (.)

aber dazu weiß ich nicht mehr soviel. I: Versuch=s mal. CE: Na so ein DDR-Film, auch so auch so ähnlich aufgebaut wie der Turm, wo auch (.) ich glaub sogar zum Abspann zum Schluss wurden sogar diese Menschen dargestellt, die wirklich den Tunnel gebaut haben, die haben auch was erzählt //mhm// kurz so zwei Minuten jeder, und (.) ja der war auch so aufgebaut, dass zuerst (.) das Leben der Menschen dort gezeigt wurde, so als Einleitung, und danach die Konflikte, (.) und zum Schluss dass sich die Menschen da zusammengetan haben, als eine Gesellschaft Gemeinschaft, die dann gegen die DDR versucht haben anzukommen, dann zum Schluss auch in dem Fall waren das glaube ich

136 „Der Tunnel“. Spielfilm, Regie: Roland Suso Richter. Deutschland 2001.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 309

so zehn zwanzig Leute, (.) die da den Tunnel gebaut haben, alles heimlich und dann das geschafft haben, (1) ja. I: Würdest du sagen, dass diese beiden Filme irgendwie (.) dieselbe DDR erzählen? CE: Ja. I: Was ist das für=ne DDR? CE:

└Ja die der Tunnel glaube ich erzählt von Berlin, //mhm// und jetzt Leipzig jetzt

ja aber ich glau:be: (.) der Tunnel ist auch viel früher, also (.) DDR wurde wann- ich glaub neunzehnhundert: wann wurde die gebaut, die Mauer? °weiß ich gar nicht @(.)@° (will ja nicht die) falsche Zahl sagen. I: Naja, wenn sie falsch ist ist es auch nicht schlimm. CE:

└sechsundsechzig oder so vierundsiebzi- so in dem Dreh

glaub ich, //mhm// ja und die der Tunnel glaub ich

handelt so (.) von

neunzehnhundertfünfundsiebzig so, //mhm// das wird auch gezeigt wie Menschen (einfach) an der Grenze einfach erschossen werden wenn sie rüber wollen, (.) u:nd das ist halt so die (.) Geburtszeit der DDR, und der Turm ist ja jetzt schon so zum eher zum Schluss, (.) kann man schon vergleichen aber auch nicht so dolle find=ich weil (.) ist verschiedene Zeit:fenster so und (.) °passt irgendwie nicht dann.° //mhm// naja obwohl bei der Turm wurden jetzt auch nicht unbedingt Menschen (im Gegensatz so) gezeigt, die an der Grenze erschossen wurden. I: Mhm. ähm (.) CE: └Ich glaub das war da auch eher selten, glaube ich dann in der Zeit, weil (.) die Menschen dann gerafft haben, (.) ja (.) man wird erschossen und (.) wir sind jetzt hier in der DDR und es gibt kein Entkommen oder wir müssen das Beste draus machen, damals zugleich zur Anfangszeit denkt ja ein Mensch dann eher anders so wie komme ich jetzt hier raus und (.) ja (1,5)

°ja.°137

Am Beginn der Sequenz fällt es Cem schwer, einen passenden Vergleich zu ziehen. Dies spricht meines Erachtens dafür, dass ein audiovisuelles historisches Medienrepertoire, insbesondere wenn es auch Medien beinhaltet, die vor längerer Zeit konsumiert wurden, nicht immer bewusst während der Rezeption eines Spielfilms eine Rolle spielt. Vielmehr kann hier davon ausgegangen werden, dass Elemente dieses Repertoires, etwa der hier angesprochene Spielfilm „Der Tunnel“, gewissermaßen diffus bei ihren Zuschauern*innen ein Bild von der DDR etablieren. Das heißt, dass die Darstellung der DDR in einem Spielfilm sich zunächst mit anderen Darstellungen zu einem Geschichtsbild amalgamiert, sodass das einzelne historische Medium keine allzu große Relevanz besitzt und folgerichtig das Sprechen darüber nicht ohne Weiteres möglich ist. Gleichwohl wird gerade am Beginn dieser Sequenz auch deutlich, dass Zuschauer*innen durchaus dazu in der Lage sind, sich nach einigem Nachdenken doch auch an einzelne Filme zu erinnern und so auf die Quellen ihres medial geprägten Geschichtsbildes zu sprechen zu kommen. 137 Transkript CE, BS, Z. 466-512.

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Die Erzählung über den „Tunnel“ beginnt bei Cem unmittelbar im Hinblick auf dessen Authentizität. Für ihn ist wesentlich, dass dort authentisch Geschichte erzählt wird, insofern „diese Menschen dargestellt [wurden], die wirklich den Tunnel gebaut haben,“. Er vergleicht unter dem Rubrum „wirklich“ somit eine für ihn authentische fiktionale Erzählung mit dem hier gezeigten Fernsehzweiteiler, sodass die Kategorie der Authentizität den Rahmen des weiteren Nachdenkens über beide Spielfilme bildet. Cem geht dabei auf Parallelen ein, die für ihn auffällig scheinen: Ausgehend vom älteren Genrevertreter sei die hier gesehene Romanverfilmung „auch so aufgebaut, dass zuerst (.) das Leben der Menschen dort gezeigt wurde, so als Einleitung, und danach die Konflikte,“. Damit geht nimmt er auf einen Topos Bezug, der sich bereits bei anderen Jugendlichen gezeigt hatte, nämlich die Gegenüberstellung von einfachen „Menschen“ und einem repressiven System. Keineswegs meint „Konflikte“ hier alltägliche, zwischenmenschliche Probleme – es geht ihm hier um die Konflikte der Bürger mit einem System, das diese letztlich dazu bringt, „als eine Gesellschaft Gemeinschaft, […] dann gegen die DDR“ zu opponieren. Der Jugendliche erkennt denn auch in beiden Filmen, dass eine ähnlich gestaltete, historische Welt vorgeführt wird. Angesichts des Einstiegs in die Sequenz wird deutlich, inwiefern dies eine Relevanz als authentifizierende Ressource erhält: Cem markiert eine weitere audiovisuelle Darstellung der DDR als aus seiner Sicht authentisch, und wenn es sich beim Dargestellten um die gleiche, erzählte Welt handelt wie im „Turm“, bildet hier folglich die Authentizität des einen die Grundlage für die Bewertung der Authentizität des anderen Spielfilms über die DDR. Cem ist durchaus in der Lage, die dargestellten Zeiträume der DDR-Geschichte in beiden Filmen voneinander zu unterscheiden. Wenngleich sein Wissen äußerst schwach ausgeprägt ist und somit auch die historische Einordnung beider Stories ungenau und bisweilen falsch ausfällt, bemerkt er dennoch, dass es sich um verschiedene Zeiträume der DDR-Geschichte handeln muss. Sie unterscheiden sich in der Ausprägung der staatlichen Repression, wie er an der Thematik der Mauertoten veranschaulicht. Doch trotz dieser Unterschiede in der dargestellten historischen Thematik – hier werden zwei verschiedene Zeiträume vorgeführt, zuvor handelte es sich in der Gesprächssequenz mit Stacy um unterschiedliche Themensetzungen der Filme – gehören beide Filme für ihn zum gleichen Repertoire audiovisueller Darstellungen der DDR. Obwohl jener Film in einem früheren Jahrzehnt der DDR spielt als „Der Turm“, zieht Cem ihn dennoch während der Rezeption heran. Für die Authentifizierung spielt er ungeachtet der zeitlichen Differenz eine Rolle, insofern in beiden Erzählungen die DDR für den Jugendlichen identifizierbar ist und zueinander ähnlich erscheint, unabhängig von den angesprochenen Unterschieden. Die Unterschiede widersprechen sich eben nicht und stellen so die Authentizität zumindest einer der Darstellungen auch nicht infrage – was etwa der Fall wäre, wenn beide Handlungen in derselben Zeit spielten, aber ein stark unterschiedliches

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Bild des ‚Arbeiter- und Bauernstaates‘ zeichneten. Da beide Filme jedoch verschiedene Zeiträume präsentieren, ergibt sich für den Rezipienten hier eher eine Ergänzung beider historischer Darstellungen. In den bisher zitierten Sequenzen hat sich gezeigt, dass viele Jugendliche auf ein Repertoire verschiedener audiovisueller Darstellungen zurückgreifen, wenn sie einen Spielfilm sehen, dessen Story in der DDR angesiedelt ist. Ein weiteres Beispiel dafür ist etwa die Komödie „Sonnenallee“, die einige Jugendliche ansprechen.138 Dabei scheinen diese Filme einen spezifischen Erwartungshorizont an das erzählte DDR-Bild zu generieren, an dem weitere Filme gemessen werden. Weil „Der Turm“ in der Mehrzahl der Vergleiche dem Bild entspricht, das andere Spielfilme von der DDR zeichnen, können diese wiederum als Ressourcen der Authentifizierung beschrieben werden. Dass das Erfüllen dieser Erwartungen bei der Authentifizierung einer historischen Erzählung bedeutsam werden kann, insofern individuell die historische Darstellung mit anderen historischen Audiovisionen verglichen wird, gilt für viele jugendliche Zuschauer*innen. Das audiovisuell gelieferte Bild der DDR kann jedoch auch eine negative Bewertung erfahren. Dies zeigt sich ganz am Ende des Interviews mit Julius: JU: Soll ich so=ne Art Fazit ziehen? I: Wenn du magst? JU: Also zu solchen Filmen generell würde=ich sagen, dass es schon gut ist, das zu machen. man sollte aber aufpassen, dass:: (.) man nicht (.) das was passiert ist, verklärt. und beschönigt darstellt, oder grenzenlos tief darstellt. also ich kenne viele viele Filme, (.) die sich mit der DDR beschäftigen. und davon (.) ist vielleicht ein Bruchteil (.) der Teil, (2) der sich mal nicht mit Bespitzelung durch die Stasi beschäftigt. //mhm// ja? also es ist (.) in ihren Themen (.) doch schon immer sehr fokussiert auf (.) die Brennpunkte, (.) aber auch das erfahre ich von meinen Eltern, die DDR war nicht nur schlecht. //mhm// ja, sie hatten alle was zu essen, sie hatten Arbeit, sie haben gelebt, ähm und wurden eben nicht alle von der Stasi bespitzelt, //mhm// oder haben alle da gearbeitet. u:nd (.) da sollte man vielleicht auch, wenn man auf das Gesamtwerk der Filme guckt, drauf achten, dass man da so=ne (1,5)

Ar-

so=n Gle- gewisses Gleichgewicht findet. nicht alles so (.) einseitig darstellt, //mhm// sodass dann Leute, (.) die sich später (.) gar nicht mehr damit identifizieren können, die sich die das nicht wissen, (.) ähm sagen, oh ja, in der DDR (.) wurden alle bespitzelt. //mhm// und (.) in der DDR gab es nie Orangen. ja? natürlich @es gab Orangen selten, aber es gab sie ab und zu.@ //mhm// I: Was sind das für Filme, diese vielen Filme, von denen du sprichst. welche Filme sind das? JU: Ähm. (4) Film-° na auch Spielfilme. 138 Vgl. Transkript MI, BS, Z. 226-232; Aufnahme SV, BS, Min. 27:00.

°na

auch

312 | Wie Stories zu History werden

I:

└fällt dir konkr-┘ fällt dir konkret ein Beispiel ein?

JU: Ah ich vergesse die Titel immer. es gibt ziemlich viele. also diese (.) diese Enddramen also zum Beispiel keine Ahnung (.) °vor zwei Jahren oder so° (.) in der ARD so=ne Vorabennaja es war schon so=ne Abendserie, äh Weißensee oder so hieß die. //mhm// und da (.) ja das war so die typische Konstellation, wieder. er arbeitet bei der Stasi, und sie ist Rebellin, und sie verlieben sich ineinander, und dann äh (.) dann entscheidet er sich aber doch für den Beruf und gegen sie und sie wird dann abgeschoben und (.) das sind dann teilweise auch schon Geschichten, die ich einfach kenne. und (.) @(.)@ so ein bisschen langweilig werden. //mhm//

139

Erneut wird hier deutlich, dass den Zuschauern*innen oftmals „viele viele Filme“ über die DDR bekannt sind und diese somit ein vielgestaltiges, mediales Repertoire für die Epoche darstellen. Julius spricht hier durchweg im Plural über andere Filme, sodass einzelne Produktionen in einem Ensemble von DDR-Spielfilmen aufzugehen scheinen. Dieses kritisiert er verhältnismäßig scharf aufgrund seiner einheitlichen inhaltlichen Ausrichtung: „davon (.) ist vielleicht ein Bruchteil (.) der Teil, (2) der sich mal nicht mit Bespitzelung durch die Stasi beschäftigt.“. Die Mehrheit der Produktionen sei auf derartige thematische „Brennpunkte“ eingeengt. Auch, wenn dies als Kritik formuliert ist, wird damit zunächst das bisher Gesagte bestätigt – die Spielfilme etablieren gemeinschaftlich ein spezifisches Bild von der DDR, das vorrangig vom Topos der Repression geprägt ist. Die Begegnung mit solchen Filmen ist für Julius also auch eine Konfrontation mit den immer gleichen, medial vermittelten Stereotypen über die DDR. Aus anderen Quellen – von seinen Eltern – erfahre er durchaus auch ein anderes Bild des sozialistischen deutschen Staates, das mit dem Bild der Spielfilme wenig Ähnlichkeit besitze. Dem „einseitig[en]“ DDR-Bild der Spielfilme stellt er einige Behauptungen gegenüber, die gewissermaßen die filmisch erzeugten Mythen dekonstruieren. Er geht dabei ein auf allgemeine, positive Merkmale des Lebens in der DDR – „sie hatten alle was zu essen, sie hatten Arbeit, sie haben gelebt,“ –, widerspricht aber auch dem stereotypen Bild der Filme in wesentlichen Punkten, bis hin zu den berühmten Südfrüchten, die hin und wieder eben doch zu haben gewesen seien. Diese Widersprüche, die Julius zwischen dem Bild erkennt, das Spielfilme über die DDR zeichnen, und seinen darüber hinausgehenden Kenntnissen, besitzen zumindest theoretisch das Potential, gegen die Authentizität dieser Filme und damit auch des „Turms“ zu sprechen. Diesen Schluss zieht der Jugendliche hier freilich nicht. Das mag vor allem darin begründet sein, dass er die Multiperspektivität historischer Darstellungen anerkennt. Er spricht hier von einem „Gleichgewicht“, das idealerweise herzustellen sei, und betrachtet die Filme damit nicht als falsch oder unglaubwürdig, sondern stellt sie anderen Darstellungen der DDR gegenüber, hier 139 Transkript JU, MD, Z. 860-896.

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den Erzählungen der Eltern. Die Filme mit ihrer stereotypen Wiederholung bestimmter Topoi – der Repression, aber auch des allgegenwärtigen Mangels – kritisiert er zwar für ihre Einseitigkeit, spricht ihrer Darstellung jedoch nicht die grundsätzliche Legitimität, sondern nur die Ausgewogenheit ab. Auf Nachfrage geht er zuletzt auf ein weiteres Beispiel ein, das sich in die Riege jener filmischen Erzählungen einreihe, die durch die monierte Einseitigkeit geprägt seien. Die Serie „Weißensee“ – prominent besetzt und im deutschen Fernsehen erfolgreich – erzählt ebenfalls eine Familiengeschichte in der DDR und zeichnet sich zudem durch die kritisierten, immer gleichen Bilder der DDR aus. Die Parallelen zu anderen audiovisuellen Erzählungen, nicht zuletzt zum „Turm“, spricht Julius offen an: „ja das war so die typische Konstellation, wieder. er arbeitet bei der Stasi, und sie ist Rebellin“ – „das sind dann teilweise auch schon Geschichten, die ich einfach kenne. und (.) @(.)@ so ein bisschen langweilig werden.“ Der Jugendliche macht hier sehr deutlich, dass nicht nur die immer wiederkehrenden Topoi über das Leben in der DDR, sondern auch die gleichförmigen Erzählformen bei ihm für Langeweile sorgen. Doch letztlich mag dies zwar ein Hindernis für einen gelungenen Fernsehabend sein, es widerspricht aber nicht der Authentizität des Gesehenen. Die stereotype Darstellung der DDR stellt für ihn ein Ärgernis, nicht aber ein Argument gegen die Authentizität der Erzählung dar. Das mediale Repertoire an audiovisuell erzählter DDR-Geschichte, auf das einige Jugendliche zurückgreifen können, zeichnet sich also durch eine relative Homogenität im Hinblick auf das von der DDR gezeichnete Bild aus. Diese Homogenität etabliert auf der einen Seite zwar ein mediales DDR-Bild, dessen Wiedererkennen in Spielfilmen eine Authentifizierungs-Ressource darstellen kann, insofern die Authentizität anderer historischer Audiovisionen als Grundlage für die Authentizität des aktuell Gesehenen dient. Andererseits kann diese Homogenität durchaus auch negativ bewertet werden, wenngleich sich Auswirkungen auf die Authentifizierung des Gesehenen aufgrund dieser Bewertung nicht belegen lassen. Mit den hier zitierten Sequenzen wurde bisher die Relevanz historischer Audiovisionen vor allem hinsichtlich anderer fiktionaler audiovisueller Erzählungen herausgearbeitet, insbesondere der Gattung Spielfilm. Vor allem im Fernsehen spielen darüber hinaus jedoch maßgeblich Dokumentationen eine wichtige Rolle. Insofern stellt sich die Frage, wie diese Form nicht-fiktionalen Erzählens auch als Authentifizierungs-Ressource für die Zuschauer*innen bedeutsam ist. Im Gespräch mit der Abiturientin Julia kommt diese auf ein Doku-Format zu sprechen, das sie regelmäßig anschaut: „Die große Samstags-Dokumentation“, die der Privatsender VOX allwöchentlich mit einer Länge von über vier Stunden zur besten Sendezeit ausstrahlt.140 Darin werden nicht ausschließlich, aber oft histori140 Siehe Vox-Programminformation. Online unter http://www.vox.de/cms/sendungen/ samstags-doku.html (23.10. 2016). Bei der besprochenen Sendung am 8. November

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sche Themen in einem Doku-Marathon verhandelt, wofür nicht selten Jahrestage einen Anlass bieten. Der 25. Jahrestag des Mauerfalls ist zum Zeitpunkt des Interviews gerade vier Wochen vergangen, und tatsächlich hat die Jugendliche zu diesem Thema eingeschaltet: I: Wurdest du jetzt am neunten November irgendwie (1)

kannst du dich an was

JL:

└Ja.┘

I: konkret erinnern, was du geguckt oder gelesen oder gesehen hast? JL: Also ich habe @auf VOX so=ein bisschen geguckt,@ ähm (.) und ähm ja da waren halt eben (.) vor allem diese Sicht ähm also von verschiedenen Familien gezeigt worden, //mhm// von heute und früher und wie sie versucht haben, (.) zu fliehen, (.) aber habe ich auch glaube=ich irgendwas gesehen, wo=es halt diese Unterschiede von Ost und West verglichen worden sind, //mhm// auch irgendwie von heute noch, das zum Beispiel mit den Ampeln, dass es die in den ostdeutschen oder auch in Berlin ja immer noch diese alten Ampeln noch gibt oder (.) oder beim @Essen oder so@ gibt es halt immer noch so (.) Teile. I: Das waren jetzt aber Dokus, die du geguckt hast? JL: Joa::. I: Ja? ähm (.) und du hast gesagt es gibt da- also du da ging=es in dieser Doku auch um ne ( ) um ne Familie? JL: Ja also es ging (.) ich hab es nicht bis um zwölf geguckt, aber es ging halt ähm um mehrere F- also auf eine- auf jeden Fall eine Familie, die ähm halt in drei Generationen gelebt hat, //mhm// und ähm (.) die sind dann halt geflohen, und ähm dann haben sie halt eben erzählt was sie eben durchlebt haben, und ähm (.) und dann hat man eben noch die junge Tochter noch gesehen, die halt einfach gar nicht alles richtig begreifen konnte, //mhm// die halt (.) sich das gar nicht vorstellen konnte, dass die Mutter oder die Oma halt geflohen sind, I:

└Ja.┘

JL: und dass sie halt so Schweres halt durchleben mussten, und was sie halt generell (.) //mhm// hat man ja auch gemerkt dass halt die Leute ja sich richtig so Pläne gemacht haben, wie sie am besten das durchlebt haben, und (.) glaube ich hab auch irgendwann mal was gelesen, dass so=ne Familie sogar auch mal nen Heißluftballon gebaut hatte, //mhm// und (.) es gerade knapp noch irgendwie ähm über die Grenze geschafft hat, //mhm// und dass sie halt eben so viele (.) so Angst hatten eben dabei irgendwie entdeckt zu werden, //mhm// weil (.) oder ich glaube auch einmal, dass sie ganz nah an der Grenze irgendwie waren, und äh bei der Mauer, und dann hat auch jemand glaube=ich sogar einen Tunnel irgendwie gegraben, //mhm// oder so und (.) dass sie auch gar nicht wussten, wohin mit der ganzen Erde, //mhm// und (.) ist schon krass, dass man eigentlich (.) so lange ist das noch nicht her, und (.) //mhm// man stellt sich das in Deutschland so gar nicht vor, (.) 2014 handelt es sich um die dctp-Produktion „Wie wir wurden, was wir sind! – 25 Jahre Mauerfall“. Siehe dazu die Beschreibung der Produktionsfirma, online unter http://ww w.dctp.de/grosse-samstagsdoku1.html (23.10.2016).

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I: Ja. JL: dass es (.) so schlimm sein kann.141

An dieser Interviewsequenz wird eines offenbar, insbesondere im Vergleich zur Gattung Spielfilm: die einzelne Dokumentation im Fernsehen besitzt tendenziell einen anderen Status als die Spielfilme, auf die die Jugendlichen zu sprechen kommen. Dies lässt sich bereits beim Titel der Sendung beobachten: Nur die allerwenigsten Interviewpartner*innen konnten in den geführten Gesprächen die Dokumentationen mit ihrem Titel benennen. Während die allermeisten Spielfilme spätestens nach einigem Nachdenken mit ihrem Filmtitel bezeichnet wurden, werden die Dokumentationen vor allem im Hinblick auf die darin dargestellte Thematik beschrieben, aber in der Regel nicht benannt. So auch in dieser Sequenz: Julia gibt den Sender an, der die Dokumentation ausgestrahlt hatte, geht hernach aber vor allem auf deren Inhalt ein. Sie berichtet „von verschiedenen Familien“, die zu Wort gekommen seien, „was sie eben durchlebt haben“, und auch eine Fluchtgeschichte scheint Teil der Dokumentation gewesen zu sein. Etwas abstrakter nimmt Julia auch auf die dargestellten „Unterschiede von Ost und West“ Bezug, die sie am Beispiel der „Ampeln“ ausführt. Es handelt sich hier um einzelne Versatzstücke, eher unzusammenhängende historische Informationen und Narrative, über die die Jugendliche berichtet. Diese Beobachtung mag nicht weiter überraschen, denn wenngleich auch Dokumentationen einen dramaturgischen Aufbau aufweisen, so lässt sich wohl festhalten, dass die Erzählung einer Story, die sich vom Beginn an entspinnt und am Ende einen Schluss findet, dem die Zuschauer*innen entgegenfiebern, eher ein Charakteristikum des Spielfilms als der Dokumentation ist. In Julias Beschreibung wird deutlich, dass sie keinen Spannungsbogen und Handlungsverlauf des Dokumentarfilms nacherzählt, sondern von einzelnen, fragmentierten Narrativen berichtet, die sie für bedeutsam hält. In Anlehnung an das berühmte Zitat von Walter Benjamin – „Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.“142 – ließe sich festhalten: Im Gegensatz zu Spielfilmen zerfallen historische Dokumentationen in den Augen ihrer Zuschauer*innen in einzelne, fragmentierte Narrative, was wohl eine Ursache in der spezifischen Art historischen Erzählens in diesem Genre hat.143 Diese These leitet sich aus 141 Transkript JL, BS. Z. 13-62. 142 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Bd. V, 1 (=SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, Bd. 935). Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1983. S. 596. 143 Ich bin mir bewusst, dass diese Feststellung der Vielfalt dokumentarischen Fernsehens nur unzureichend gerecht wird. Auch Dokumentarfilme unterscheiden sich natürlich in dem Grad, wie ein übergreifender Spannungsbogen und ein Narrativ über die gesamte Länge eines Films etabliert werden. Dennoch lässt sich meines Erachtens für das in

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der Analyse dieser und weiterer Sequenzen des Datenmaterials ab, müsste aber freilich an anderer Stelle weiter vertieft werden. Eines dieser Fragmente, das die Jugendliche anspricht, ist das Narrativ um „eine Familie“, das sie auf Nachfrage ausführlicher erzählt. Die Zuschauerin berichtet davon, dass die Mitglieder der Familie „dann halt geflohen“ seien aus der DDR. Insbesondere die unterschiedliche Erfahrung dieser Flucht durch die verschiedenen Generationen innerhalb der Familie beschäftigt Julia offenbar. Von diesem Narrativ ausgehend legt sie dar, „dass halt die Leute ja sich richtig so Pläne gemacht haben, wie sie am besten das durchlebt haben,“ sich also in einer Art Lebensstrategie mit der DDR und den Einschränkungen des Lebens durch das System arrangiert hätten. Zuletzt gibt die Jugendliche noch weitere Narrative der Flucht aus der DDR wieder, so mithilfe eines Heißluftballons sowie eines Tunnels, der in Grenznähe gegraben worden sei. Bei all diesen Versatzstücken, die in keiner direkten Verbindung zueinander zu stehen scheinen, fällt vor allem die Emotionalität auf, mit der die Geschichten vorgetragen werden: Dass die junge Tochter „gar nicht alles richtig begreifen konnte“ betont Julia ebenso wie die „Angst“ der Flüchtenden, „dabei irgendwie entdeckt zu werden“, und letztlich kommt sie am Ende der Sequenz zu einer Bewertung dieser Narrative, die ihre persönliche emotionale Bewegtheit zum Ausdruck bringt. Vor allem im zweiten Teil des Ausschnitts lässt sich erkennen, dass die Grenzen zwischen den Medien verschwimmen, aus denen die Narrative stammen und auf die die Jugendliche hier Bezug nimmt: Das beginnt mit dem zögerlich ausgesprochenen „Joa::.“ auf die Frage, ob die dargestellten Narrative denn den Dokumentationen entnommen seien, setzt sich fort in einer vagen Vermutung über die Herkunft der Heißluftballon-Geschichte („glaube ich hab auch irgendwann mal was gelesen“) und endet letztlich im Bericht über den Bau eines Tunnels in Grenznähe, bei dem die Rezipientin nicht einmal mehr den Versuch unternimmt, die Herkunft dieses Narrativs zu benennen. Die Parallelen gerade dieser letzten Geschichte zum Film „Der Tunnel“, über den schon Cem berichtet hatte, sind offensichtlich, auch wenn sich kaum klären lässt, ob die Jugendliche die angesprochene Fluchtgeschichte tatsächlich aus dem Event-Movie entnimmt. Bei all den Narrativen, die die Jugendliche hier ausgehend vom Sprechen über eine Fernsehdokumentation erzählt, ist einigermaßen unklar, woher diese Geschichten-Fragmente denn eigentlich stammen. Die Narrative, so ließe sich festhalten, werden aus ihrem Erzählkontext enthoben und emanzipieren sich gewissermaßen von dem Medium, in dem sie erzählt werden – hier in erster Linie von der beschriebenen Dokumentation. Deutschland verbreitete, dokumentarische Geschichtsfernsehen aktuell sagen, dass ein übergreifendes Narrativ im Vergleich zu Spielfilmen eine geringere Rolle spielt. Meines Erachtens wird durchaus erkennbar, dass hier von unterschiedlichen Erzählmustern gesprochen werden kann.

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Erneut ließe sich hier der Begriff der „Quellen-Amnesie“144 als Deutungsansatz für diese Beobachtung vorbringen, doch erscheint mir diese Erklärung gerade im Vergleich zu den zuvor besprochenen Spielfilmen als nicht hinreichend: In zahlreichen Fällen waren die Jugendlichen in der Lage, sich daran zu erinnern, welcher Spielfilm ihnen ein spezifisches Narrativ über die DDR geliefert hat. Hier nun tauchen Narrative auf, deren Herkunft unklar bleibt, und es erscheint zumindest plausibel, dass es sich im Falle des „Tunnels“ auch um Spielfilme handeln könnte. Gleichwohl scheint dieses Phänomen jedoch eher für Dokumentationen und in der hier zitierten Sequenz offenbar auch für einen unbekannten Text zu gelten, während viele Spielfilme und die darin gefundenen Narrative explizit erinnert werden können. Dass zumindest tendenziell die Zuordnung eines Narrativs zu dessen Herkunft deutlich schwieriger scheint, wenn es einer historischen Dokumentation entstammt, deutet an, dass offenbar Unterschiede in der Rezeption dieser verschiedenen audiovisuellen Medien existieren. Diese Interpretation gibt wiederum Aufschluss über die Funktionsweise von Dokumentarfilmen als Authentifizierungs-Ressourcen: Während erkennbar wurde, dass Spielfilme oftmals explizit mit dem gesehenen „Turm“ verglichen werden und eine Grundlage zur Bewertung seiner Authentizität bilden, ziehen die Rezipienten*innen Dokumentationen nicht zu einem expliziten Vergleich heran. Vielmehr lässt sich aus der analysierten Sequenz ablesen, dass Dokumentationen einzelne Narrative liefern können, die eine Bedeutung für den Prozess der Authentifizierung aufweisen. Diese Bedeutung ist auch im hier zitierten Beispiel erkennbar. Die Parallelen zwischen den Narrativen, die die Jugendliche vorträgt, und der Geschichte im „Turm“ sind offensichtlich: Hier wie dort steht eine Familie im Zentrum der Erzählung, die gezwungen ist, strategisch ihren Weg zwischen Anpassen und Widerstehen im gesellschaftlichen System der DDR zu gehen; auch die sich zwischen den Generationen unterscheidenden Wahrnehmungsweisen und Strategien mit den nicht-alltäglichen Herausforderungen stellen eine Gemeinsamkeit dar, und nicht zuletzt finden sich Narrative der Flucht aus der DDR in der angesprochenen Dokumentation ebenso wie im Spielfilm „Der Turm“. Freilich sind diese Parallelen nicht so stark ausgeprägt, als dass etwa in einer Dokumentation ein im Spielfilm erzählter Handlungsstrang direkt bestätigt wird, wie dies innerhalb des TV-Events der Fall war (siehe Kapitel 4.2.2). Vielmehr kann man festhalten: Die weiteren Dokumentationen zur DDR-Geschichte, die die Jugendlichen ansprechen, liefern fragmentierte historische Informationen und Narrative, die grundsätzlich mit der Erzählung im Spielfilm kompatibel sind, sich also zu einem passenden audiovisuellen Bild von der DDR zusammenfügen. Die Vereinbarkeit der Narrative kann als Authentifizierungs-Ressource beschrieben werden, indem die Dokumentationen über die DDR,

144 Welzer 2008, S. 18.

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die die Jugendlichen gesehen haben, das im Film gelieferte Bild stützen und insofern für dessen Authentizität sprechen. Dies wird auch dadurch gestützt, dass es sich bei den Gesprächspartnern*innen teilweise um sehr erfahrene Doku-Zuschauer*innen handelt. Als ein Beispiel kann die Abiturientin Michaela angeführt werden, die geradezu ein Fan dieses Genres audiovisuellen historischen Erzählens zu sein scheint. Sie liefert in der folgenden Sequenz Einblicke in ihre Sehgewohnheiten, vor allem aber betrachtet sie einzelne erzählerische Mittel von historischen Dokumentationen: MI: Aber doch ich äh gucke mir schon relativ viele Dokumentationen an, und (.) wenn dann zum Beispiel aber diese langen Dokumentationen, es kommt immer Freitagabend (.) auf Vox oder so, so eine Spiegeldokumentation, die vier Stunden geht, sowas gucke ich mir nicht an. I: @(.)@ MI: Es sei denn, es ist über den elften September. Das finde ich total interessant, I: Aha. MI: Aber sonst gucke ich mir eigentlich solche langen Dokumentationen nicht an, also eine Dokumentation, die eine Stunde geht, die mit Zeitzeugen ist, und (.) gerade die auch über Hitler geht weil (.) das finde ich irgendwie total spannend das Thema, oder halt auch über die DDR, ähm das gucke ich mir an, aber (.) wenn dann zum Beispiel die ganze Zeit nur geredet wird, und (.) was ich auch sehr schlimm finde, was es ja gerade bei Hitler auch so ist, also bei diesen Dokumentationen, dass viele Wissenschaftler einfach schon darüber reden, und darüber spekulieren, °ja es° es war ja so und so, //mhm// die haben gar keine Ahnung davon, denke ich mir, die haben sich zwar das Wissen irgendwie angeeignet, aus Büchern, aber wirklich Ahnung haben die davon nicht, deswegen können die mir auch nix davon sagen, und können mir auch das Wissen eigentlich (.) finde ich nicht rüberbringen. wenn ich dann aber zum Beispiel einen Film von ihm sehe, wie er zum Beispiel gerade (.) eine Rede hält, und (.) dann höre ich ja erstens seine Rede und wenn dann die ana- analysiert wird, das finde ich dann wieder in Ordnung. //mhm// weil dann habe ich diese Rede gesehen, kann mir ein eigenes Bild machen, und dann können dir mir n- gerne nochmal was sagen, darüber wie sie das finden und dann kann ich mir (.) immer noch mehr Meinung //mhm// äh dazu aneignen. ja.145

In einer langen, beschreibenden Passage gibt Michaela Einblicke, welche Besonderheiten sie in dokumentarischen Formaten sieht. Dabei treten bisweilen skurrile Überzeugungen zutage, die jedoch einiges darüber verraten, welche Elemente von Dokumentationen Authentizität stiften können. Harsch abgelehnt werden von ihr die Experten*innen aus den Reihen der Geschichtswissenschaft, die häufig um eine professionelle Einschätzung des Erzählten gebeten werden: „was ich auch sehr schlimm finde, was es ja gerade bei Hitler auch so ist, also bei diesen Dokumentati145 Transkript MI, BS, Z. 654-681.

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onen, dass viele Wissenschaftler einfach schon darüber reden, und darüber spekulieren, °ja es° es war ja so und so, //mhm// die haben gar keine Ahnung davon“. Für die junge Zuschauerin sind es gerade nicht die Stimmen der Experten*innen, die über eine besondere Urteilsfähigkeit verfügen, und insofern sind diese auch kaum dazu in der Lage, die historische Erzählung eines Spielfilms in ihren Augen zu authentifizieren. Entscheidend für ein fundiertes Urteil, das in ihrer Logik gegen die Überzeugungsfähigkeit der „Wissenschaftler“ spricht, ist das Kriterium der Unmittelbarkeit der Erfahrung. Historiker*innen hätten sich ihr „Wissen irgendwie angeeignet, aus Büchern, aber wirklich Ahnung haben die davon nicht“, und so lasse sich Michaela von ihnen „auch nix davon sagen“. Unmittelbar sei demgegenüber, „wenn ich dann aber zum Beispiel einen Film von ihm sehe, wie er zum Beispiel gerade (.) eine Rede hält“ – es geht bei „ihm“ um Hitler – was die Zuschauerin in die Lage versetze, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Sie weist damit die Expertenrolle des*r Historikers*in zurück, und es ist kaum überraschend, dass sie wenig später die Figur des*r Zeitzeugen*in ins Spiel bringt, der eben über unmittelbare Erfahrungen verfüge. Zweifellos wird auch in dieser Sequenz die Relevanz sehr deutlich, die dokumentarische Formate historischer Audiovision grundsätzlich besitzen. Die Beobachtungen zur Jugendlichen Michaela lassen sich auf einen Großteil der Gruppe übertragen – für viele Jugendliche stellen historische Dokumentationen ein regelmäßig genutztes Medium dar, das sie mit zeitgeschichtlichen Stoffen in Kontakt bringt. Dass die Verbindung zu historischen Spielfilmen keineswegs immer so eng ist, wie sich dies für die Dokumentation zum Spielfilm „Der Turm“ gezeigt hat, kann eher als die Regel beschrieben werden. Dennoch sorgen die zahlreichen Dokumentationen, die die Jugendlichen konsumieren, für einen bisweilen umfangreichen Fundus an historischen Informationen und Narrativen, der den Jugendlichen als Grundlage für die Authentifizierung der Spielfilmstory dienen kann. Darüber hinaus gilt es festzuhalten, dass die Jugendlichen, die im Rahmen dieser Studie zu Wort gekommen sind, im Überblick eine Vielzahl von historischen Audiovisionen erwähnen, die auch andere historische Zeiträume und Orte als die DDR thematisieren. Vereinzelt sind diese bereits hier angesprochen worden, zuallererst Steven Spielbergs Holocaust-Drama „Schindlers Liste“. Wenn man eine Produktion aus der Unmenge an Spielfilmen und Dokumentationen herausheben müsste, die für Jugendliche am bedeutsamsten erscheint, dann ist es ganz sicher diese: Beinahe alle Jugendlichen haben den Film gesehen, oft sogar mehr als einmal, und viele von ihnen kommen früher oder später eigenständig zu sprechen auf die Geschichte um den Industriellen Oskar Schindler und seinen Versuch, hunderte Juden und Jüdinnen aus dem Krakauer Ghetto und dem Lager Płaszów zu retten. Die Art, wie sie darüber erzählen, legt zudem nahe, dass viele von ihnen tief berührt wurden von der Emotionalität und Dramatik, die diese Geschichte des Holocaust entfaltet. Anhand des Eindrucks, der sich mit Blick auf das hier vorliegende Sample

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ergibt, kann man ohne Weiteres aus Rezipienten*innenperspektive von einem Fixstern audiovisuellen historischen Erzählens sprechen, wenngleich diese These einer zusätzlichen, quantitativen Validierung bedürfte. Darüber hinaus wird in den Gesprächen eine Vielzahl bekannter, aber auch weniger prominenter Produktionen angesprochen, sowohl Fernseh- als auch Kinofilme. Große Produktionen wie „Inglourious Basterds“146 oder „Der Untergang“147 finden sich ebenso wie weniger populäre Kinofilme wie „Friendship“148, Fernsehspiele wie „Das Zeugenhaus“149 oder Mini-Serien wie „Band of Brothers“150. In dieser Vielfalt zeigt sich auch, inwiefern historische Audiovisionen, die sich mit anderen Themen als der DDR-Geschichte auseinandersetzen, eine Funktion als Ressourcen der Authentifizierung ausüben: Sie etablieren für zahlreiche Jugendliche, die auf andere Produktionen zu sprechen kommen, ein Grundvertrauen in die Authentizität historischer Audiovisionen. Über alle Epochen, Themen und audiovisuelle Erzählformen hinweg blicken viele Jugendliche auf eine vielfältige und breite Landschaft historischer Audiovisionen, die das Medium zu einer legitimen und vertrauenswürdigen Art der historischen Darstellung machen. Von diesem Grundvertrauen profitiert letztlich auch eine Produktion wie „Der Turm“. Indem die Jugendlichen überwiegend sehr routiniert sind im Umgang mit unterschiedlichsten historischen Audiovisionen, und ihnen unabhängig von Format, Epoche oder Thematik mit einer grundsätzlichen Vertrauenshaltung begegnen, rezipieren sie auch Filme, die für sie neu sind, mit dieser grundsätzlichen Haltung. Folglich etabliert die mediale Landschaft historischer Audiovisionen, von „Schindlers Liste“ über „Troja“ bis hin zu zahl- und namenlosen Dokumentationen eine Rezeptionshaltung, die von der Authentizität historischer Audiovisionen ausgeht. Dass sich bei manchen Produktionen im Einzelfall durchaus die Frage stellt, inwiefern es sich denn überhaupt um die Darstellung von Geschichte handelt, stellt dieses Grundvertrauen in historische Audiovisionen nicht ernsthaft infrage. Gerade das Beispiel „Inglourious Basterds“ steht für das Spiel mit dem Ahistorischen, doch da der Film seine Kontrafaktizität mit zahllosen grotesken Elementen deutlich markiert, kann er im Sinne der hier vertretenen These als die Ausnahme bezeichnet werden, die die Regel der grundsätzlich angenommenen Authentizität historischer Audiovisionen aus Sicht der Rezipienten*innen letztlich bestätigt.151 146 Vgl. z. B. Transkript CE, BS, Z. 847-893. 147 Vgl. Transkript JU, MD, Z. 596-653. 148 Vgl. Transkript TH, BS, Z. 845-853. 149 Vgl. Aufnahme MO, BS, Min. 20:00. 150 Vgl. Aufnahme SV, BS, Min. 15:15. 151 „Inglourious Basterds“ findet in einigen Interviews Erwähnung und wird von den Jugendlichen in seiner ambivalenten Stellung zur Geschichte des Nationalsozialismus durchaus angemessen reflektiert. Ich verzichte hier auf die Analyse diesbezüglicher Se-

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Mit den umfangreichen Ausführungen in diesem Kapitel und den zuvor formulierten Ergebnissen zu den Elementen des Spielfilms selbst sowie der Relevanz der Dokumentation konnte herausgearbeitet werden, welche Bedeutung historische Audiovisionen für die Authentifizierung eines historischen Spielfilms wie „Der Turm“ haben. Auch auf empirischer Grundlage kann zusammenfassend von einem Supermedium historischer Audiovision gesprochen werden. Es hat sich an zahlreichen Beispielen gezeigt, dass für die Rezeption eines historischen Spielfilms im Allgemeinen und für den Prozess der Authentifizierung im Besonderen andere audiovisuelle historische Darstellungen in sehr vielen Fällen von den Zuschauern*innen herangezogen werden. Weiterhin wurde deutlich, dass deren qualitative Bedeutung als äußerst hoch einzuschätzen ist, insofern die Rezeption und Authentifizierung eines fiktionalen historischen Spielfilms maßgeblich von intertextuellen Bezugnahmen auf andere historische Audiovisionen mitbestimmt werden. Hier lässt sich von einem komplexen audiovisuellen Repertoire sprechen, auf das die Jugendlichen im Verlauf der Rezeption zurückgreifen können und das ihnen für die Frage nach der Authentizität eines historischen Spielfilms wesentliche Anhaltspunkte liefert. Sichtbar geworden sind dabei grosso modo vor allem zwei verschiedene Formen, in denen andere audiovisuelle Darstellungen in authentifizierender Funktion auftauchen: Insbesondere die eigens produzierte Dokumentation zum Spielfilm „Der Turm“ authentifizierte oftmals direkt die fiktionale Erzählung, als dass sie in den Augen der Zuschauer*innen die Narrative des Spielfilms mit unterschiedlichen Mitteln unmittelbar beglaubigte. Die im TV-Event konzeptionell angelegte Bezugnahme der Dokumentation auf den Fernsehzweiteiler wurde von den Jugendlichen als Ressource herangezogen, die geradewegs ein Argument für die Authentizität des Spielfilms lieferte. Direkt ist diese Authentifizierungs-Ressource insofern, als dass beispielsweise die Zitation von Filmausschnitten in der Dokumentation unmittelbar als Argument für die Authentizität des Spielfilms herangezogen werden kann. Tauchen die Szenen in einem Fernsehformat auf, das als Genre in den Augen der Zuschauer*innen der historischen ‚Wahrheit‘ ultimativ verpflichtet scheint, spricht dieses Auftauchen folglich direkt für die Authentizität des Spielfilms. Vor allem diejenigen Audiovisionen, die kein Teil des TV-Events waren, fungierten eher indirekt als Ressourcen der Authentifizierung: Ob weitere historische Spielfilme oder andere Dokumentationen, in der Regel lieferten sie ein Bild der DDR, das mit der Darstellung im „Turm“ vereinbar war. Die Jugendlichen konnten für dessen Rezeption auf einen weiten Fundus an historischen Narrativen zurückgreifen, der aus den unterschiedlichsten historischen Audiovisionen stammte und sich kompatibel zur Erzählung um das Schicksal der Familie Hoffmann im ARDZweiteiler zeigte. Diese crossmediale Authentifizierung lässt sich als indirekt bequenzen, da dessen Bedeutung als Authentifizierungs-Ressource im bisher Gesagten bereits beschrieben ist.

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zeichnen, insofern sie tatsächlich nicht direkt Bezug nimmt auf die Authentizität der Spielfilmerzählung. Vielmehr vollziehen die Rezipienten*innen hier einen Schluss, der jedoch ebenfalls die Zuschreibung von Authentizität zum Ergebnis hat. Am Beispiel des Films „Der Tunnel“, der mehrfach von den Jugendlichen angesprochen wurde, lässt sich dies nochmals verdeutlichen: Die Produktion liefert eine Erzählung der Flucht, der Repression, des Ausgeliefertseins des Einzelnen gegenüber dem staatlichen System der DDR. Ebenfalls finden sich derartige Narrative in der ARD-Produktion „Der Turm“. Diese Ähnlichkeit und Vereinbarkeit der Narrative ermöglicht den Jugendlichen den Schluss, dass es sich beim „Turm“ – vorausgesetzt, sie halten die je andere historische Erzählung ebenfalls für authentisch – gleichsam um eine authentische Darstellung der DDR handelt. In der Gesamtschau der medialen Authentifizierungs-Ressourcen zeigt sich zweierlei: Gerade im Vergleich zu audiovisuellen historischen Medien wird erstens mehr als deutlich, dass der mediale Kontakt mit historischen Themen für die Jugendlichen, die im Rahmen dieser Studie befragt wurden, eher nicht über analog oder digital vorliegende Texte verläuft. Dass die Online-Plattform Wikipedia und Printmedien eine Rolle spielen, habe ich eingangs des Kapitels gezeigt. Texte sind also für die Rezeption eines historischen Spielfilms nicht vollkommen unwichtig. Durch den Vergleich zwischen den unterschiedlichen, hier zur Sprache gekommenen Medien muss jedoch zweitens die Bedeutung, die vor allem audiovisuelle Formate besitzen, als enorm hoch eingeschätzt werden. Die qualitativen und quantitativen Unterschiede, die die hier erörterten Medien in ihrer Funktion als Authentifizierungs-Ressourcen untereinander aufweisen, könnten kaum größer sein. Das heißt, dass gegenüber den historischen Audiovisionen alle weiteren medialen Ressourcen von erheblich geringerer Relevanz sind. Angesichts der herausgehobenen Stellung, die die unterschiedlichsten historischen Audiovisionen – ganz gleich ob Dokumentationen oder Spielfilme, ob zum TV-Event dazugehörige oder unabhängige Produktionen – scheint es, dass die Authentifizierung im Hinblick auf mediale Ressourcen vor allem von einem audiovisuellen Kosmos historischer Erzählungen bestimmt wird. Aus der Reihe möglicher Medien, die die Rezipienten*innen heranziehen, werden zuallererst andere historische Audiovisionen ausgewählt und auf den gesehenen Spielfilm bezogen. Nichtsdestotrotz zeigen sich in diesem Befund aber auch die Grenzen der gewählten Methoden des Samplings und der Datenerhebung. Dass hier qualitative, offene Leitfadeninterviews zum Einsatz gekommen sind, hat letztlich auch einen Effekt auf die eher geringe Vielfalt, mit der nicht-audiovisuelle Medien in den Interviews zur Sprache gekommen sind. Die Jugendlichen sprechen mit Blick auf mediale Ressourcen vor allem über historische Audiovisionen, während viele andere Medien, die in ihrem Alltag potentiell bedeutsam sind, nur selten oder gar nicht zur Sprache kommen. Sie denken nicht darüber nach, inwiefern Inhalte in den Sozialen Medien, auf Youtube oder spezifisch historische Online-Angebote wie „LeMO“

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vom Deutschen Historischen Museum als Authentifizierungs-Ressourcen infrage kommen könnten. Das bedeutet vor allem eines: Dass diese und viele weitere Medienangebote im hier vorliegenden Setting für die Jugendlichen keine Relevanz besessen haben. Freilich hätte in den Interviews auch ein zuvor definierter Medienkatalog erfragt werden können. Dies hätte jedoch den Schwerpunkt der Relevanzsetzungen in den Gesprächen stärker weg von den Rezipienten*innen, hin zu einem hypothesengeleiteten Vorgehen verschoben, wogegen ich bereits an früherer Stelle argumentiert habe. Insofern ist der beschriebene Befund nicht so zu interpretieren, dass weitere als die hier herausgearbeiteten Medien per se nicht als Authentifizierungs-Ressourcen infrage kämen – vielmehr lässt sich hier ‚nur‘ festhalten, dass im spezifischen Rahmen der vorliegenden Arbeit diejenigen Medien zur Sprache gekommen sind, die für die Jugendlichen offenbar die größte individuelle Bedeutung aufgewiesen haben. Über diese Rezeptionsprozesse hinaus, die von der Inbeziehungsetzung unterschiedlicher historischer Medien durch die Rezipienten*innen geprägt sind, spielen auch non-mediale Erfahrungen und Kommunikationen eine herausgehobene Rolle. Im abschließenden Kapitel zu den Authentifizierungs-Ressourcen werde ich mich daher solchen zuwenden, die nicht auf der Auseinandersetzung mit Medien beruhen. Vielmehr sind sie in der individuellen Alltagswelt der Jugendlichen verortet. 152 4.2.4 Lebensweltliche Authentifizierungs-Ressourcen Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, welche Bedeutung nichtmediale Ressourcen der alltäglichen Lebenswelt für die Rezeption eines historischen Spielfilms erlangen können, genügt ein Blick auf einen Gesprächsausschnitt mit dem Braunschweiger Jugendlichen Cem. Unmittelbar folgend auf seine Nacherzählung der Spielfilmhandlung, also noch am Anfang unseres Gespräches, gibt er ausführlich Einblick darin, vor welchem Hintergrund er sich das Gesehene aneignet: I: Ähm was ist so das Hauptthema für dich von dem Film gewesen, wenn du sagen würdest, ja das Thema ist. CE: Das Thema ist (.) das Leben in der DDR. also Leben in Leipzig in dem Fall. I: Okay,

152 Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Alltagswelt nicht auch medial mitgeprägt wäre oder dass einzelne Ressourcen nicht auch mediale Aspekte aufwiesen. Es wird sich jedoch zeigen, dass Medien nicht den Kern der Ressourcen bilden. Jedoch handelt es sich auch hierbei um eine analytische Trennung, die sich empirisch weniger klar darstellt, wie ich an mehreren Stellen bereits betont habe.

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CE: Das Leben der Menschen in Leipzig, naja man hat auch gesehen die ganzen (.) äh:: (.) die ganzen (.) Bedingungen (.) Situationen, die die Menschen ausgeliefert waren, die waren nicht so gut, man hat auch die Gebäude gesehen und alles (.) und (.) ja auch nach dem eigenen Wissen weiß ich auch, dass man dort halt (.) als Bewohner der DDR so abgeschottet war von der Außenwelt und (.) ja. (1)

das war ja auch wegen der Sowjetunion alles so

geregelt, weil die ja Besatzungsmitglied waren dort und (.) I: Was ist dieses eigene Wissen, was du gerade genannt hast? CE: Ja von der Schule, alles (.) und (.) DDR (.) ja ich war persönlich mal gibt=s ja noch Helmstedt, da war ja auch die Grenze, //mhm// da war ja so ein Museum na weiß ich nicht mehr da war ich glaub ich klein da war ich zwölf oder so elf (.) einmal besucht und da war auch so=ne Grenzanlage, die man besichtigen konnte und (.) so paar Stories so paar äh Plakate aber auch Ausstellung von (.) Bewohnern und (.) von meiner Mutter die Freundin, die in Berlin jetzt wohnt, die hat auch DDR gewohnt, auch paar Sachen erzählt so dass das Leben da nicht so einfach war, auch als Ausländer nicht so einfach, und man halt zum Beispiel gab=s dort keine Bananen oder so, //mhm// man also die Bananen kommen ja aus (.) in West(.) äh Deutschland gab es ja die Bananen waren ja aus Südaf- Amerika oder Afrika (.) und in: (.) äh in der DDR gab=s ja eben keine Bananen und das hat (.) hauptsächlich Obst und Gemüse war nicht so frisch wie in=er (.) ja und (.) man hat ja auch im Film gesehen, dass zum Beispiel diese eine Frau wollte in den Westen, weil=es dort halt die Mode schon (.) //mhm// viel weiter hinaus ist als in (.) im Osten, und °in der DDR in dem Fall und (.) ja.° also war halt DDR war halt zurückgeblieben so=n bisschen.153

Wir finden hier zunächst einiges wieder, das bereits angesprochen wurde. Dass Cem fälschlich über die Spielfilmhandlung in „Leipzig“ berichtet, ist keine Neuigkeit mehr, und auch sein Verweis auf den zentralen Topos der Repression hat bereits an früherer Stelle Erwähnung gefunden. Bemerkenswert scheint jedoch, dass Cem hier einige Aspekte ins Sprechen über den Spielfilm einbezieht, die vor allem die Bedeutung einer bestimmten Sphäre für seine Aneignung des Gesehenen verdeutlichen: seiner individuellen Lebenswelt. Wie wichtig diese für ihn ist, lässt sich schon daran erkennen, dass er die Story des Spielfilms so früh im Gespräch mit Begegnungen, Erfahrungen und Erlebnissen aus seiner ganz persönlichen Lebenswelt verbindet. Er spricht zunächst die Schule an, geht aber sofort über zu einem Erlebnis an einem historischen Ort, an dem er die deutsche Teilung erfahren konnte, und gibt zuletzt auch die Berichte einer Bekannten wieder, die ihm von ihren eigenen Erlebnissen in der DDR erzählt hat. So unterschiedlich die angesprochenen Aspekte auch sind, deutlich wird doch vor allem eines: Es ist die alltägliche Lebenswelt, die für Cem den natürlichen und primären Bezugsrahmen darstellt, vor dessen Hintergrund er sich die fiktionale Darstellung aneignet.

153 Transkript CE, BS, Z. 186-216.

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Über die im vorherigen Kapitel beschriebenen, medialen AuthentifizierungsRessourcen hinaus beziehen sich die jugendlichen Zuschauer*innen ganz so wie Cem in der Auseinandersetzung mit dem „Turm“ immer wieder auf Aspekte, die ebenso wie Medien ihren Alltag prägen und die für die Rezeption der DDR im Spielfilm bedeutsam werden. Dabei handelt es sich um sehr unterschiedliche Elemente, die unter dem Begriff der „alltäglichen Lebenswelt“154 zusammengefasst werden können. Es sind dies Erfahrungen mit der „Sozial- und Kulturwelt“155, die die Jugendlichen umgibt und in der sie handeln. Damit geraten jene Begegnungen und Gespräche mit anderen Menschen, aber auch Orte und Institutionen in den Fokus, die den Rezipienten*innen Anhaltspunkte für die Frage nach der Authentizität des Films liefern. Ich werde im folgenden Kapitel diese Aspekte detailliert aus den Interviews herausarbeiten, nicht nur, um einen ganz wesentlichen Bereich von Authentifizierungs-Ressourcen zu beleuchten, der für sehr viele Jugendliche von höchster Wichtigkeit scheint. Zudem wird der Blick auf die Alltagswelt auch die Analyse abschließen, die sich diesen Grundlagen des Authentifizierungsprozesses zugewandt hatte. Die alltagsweltlichen, nichtmedialen Authentifizierungs-Ressourcen komplettieren damit das Panorama, das – ausgehend von den Elementen des Spielfilms selbst, die authentifizierend wahrgenommen werden, über die Elemente des TVund Medien-Events, bis hin zu anderen medialen Ressourcen – umfassend jene Argumente auffächert, die aus der Sicht der Rezipienten*innen aus einem fiktionalen historischen Spielfilm eine authentische historische Erzählung machen können. Meine Behandlung der lebensweltlichen Authentifizierungs-Ressourcen wird sich zunächst auf institutionelle Umgebungen fokussieren, die in den Gesprächen zur Sprache gekommen und in der alltäglichen Lebenswelt der jugendlichen Zuschauer*innen anzusiedeln sind. Darunter bilden die Schule und der Geschichtsunterricht sicher jenen institutionellen Kontext, der erwartungsgemäß als erster in den Blick gerät, wenn es um die Auseinandersetzung junger Menschen mit historischen Themen geht. In der Analyse ausgewählter Sequenzen wird sich zeigen, dass insbesondere der in der Schule stattfindende Geschichtsunterricht auch als Authentifizierungs-Ressource für historische Spielfilme von Relevanz ist, seine Rolle aber durchaus als ambivalent zu beschreiben ist. In der Auseinandersetzung mit den nichtinstitutionellen Aspekten, die für die Jugendlichen bedeutsam sind, rücken vor allem interpersonale Kommunikationen in den Blick. Hier tritt erneut eine Figur in Erscheinung, die bereits große Aufmerksamkeit erhalten hat: die des*r Zeitzeugen*in. Auch die Zeitzeugen*innen in der nicht medial geprägten Alltagswelt der jugendlichen Zuschauer*innen weisen für die Rezeption des fiktionalen Fernsehzweiteilers eine erhebliche Bedeutung auf. 154 Schütz/Luckmann 1979, S. 25. 155 Ebd., S. 27.

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Die Analyse wird in dieser Hinsicht den Eindruck verdichten, dass die Figur des*r Zeitzeugen*in – ob medial oder nicht-medial – zu den massiv authentifizierenden Ressourcen zählt und sich geradezu von einem Primat des*r Zeitzeugen*in sprechen lässt, das für die Authentizität einer fiktionalen Erzählung eine entscheidende Rolle spielt.156 Institutionelle Ressourcen der Lebenswelt Cem spricht in der oben zitierten Sequenz nur sehr kurz vom „Hauptthema“ des Spielfilms, zu dem er gefragt wurde, und geht stattdessen sogleich dazu über, das Gesehene mit „dem eigenen Wissen“ zur DDR zu verknüpfen: I: Was ist dieses eigene Wissen, was du gerade genannt hast? CE: Ja von der Schule, alles (.) und (.) DDR (.) ja ich war persönlich mal gibt=s ja noch Helmstedt, da war ja auch die Grenze, //mhm// da war ja so ein Museum […]

Dieser Beginn seiner Antwort bietet erste Anhaltspunkte hinsichtlich der Frage, welche Rolle die Schule und der Geschichtsunterricht157 als Ressourcen der Authentifizierung des Spielfilms spielen. Cem führt zuvor den Begriff des „Wissen[s]“ selbst ein, und er bezeichnet damit vor allem die Tatsache, „dass man dort halt (.) als Bewohner der DDR so abgeschottet war von der Außenwelt und (.) ja.“ Ohne Zögern verweist der Jugendliche auf die Schule als den Ort, woher dieses Wissen 156 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist gerade dieser Aspekt von ganz besonderem Interesse. Der*die Zeitzeuge*in ist per se eine historische Figur, aber auch ein genuin geschichtswissenschaftliches Konzept. Auch aufgrund der enormen Bedeutung, die die Jugendlichen der Figur des*r Zeitzeugen*in in medialer und nichtmedialer Gestalt beimessen, wäre ein eigenes Kapitel zu dieser Ressource gerechtfertigt. Letztlich hätte dies jedoch mit der Strukturierung gebrochen, die das gesamte Kapitel durchzieht: Zeitzeugen, die persönlich mit den jugendlichen Zuschauern*innen gesprochen haben und so für diese bei der Rezeption historischer Spielfilme wichtig werden, sind eben auch Teil ihrer alltäglichen Lebenswelt. Sie begegnen ihnen als Bekannte, insbesondere aber als Eltern und Großeltern, und sind als Teil der Alltagswelt aufzufassen. Aus diesem Grund finden sie in diesem Kapitel Erwähnung, und ich werde ihrer großen Bedeutung mit einer eingehenden Beschäftigung Rechnung tragen. 157 Wenngleich in diesem Zitat nicht explizit das Unterrichtsfach Geschichte angesprochen wird, liegt die Vermutung doch nahe, dass es sich um den Geschichtsunterricht handelt, den Cem hier thematisiert. Auch in weiteren Passagen ist diese Unschärfe zwischen allen anderen Unterrichtsfächern und dem Geschichtsunterricht auf der Grundlage der Daten bisweilen nicht aufzulösen. Ich werde die Schule und den Geschichtsunterricht aus diesem Grund gemeinsam verhandeln und im Einzelfall differenzieren, wenn die Gesprächsausschnitte dies erlauben.

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stamme. Für ihn ist diese Institution folglich auf geradezu selbstverständliche Weise mit dem Begriff des Wissens verbunden. Dieses mutmaßlich in der Schule erworbene Wissen zum Leben in der DDR bezieht er auf das im Film Erzählte. Doch gerade die enorme Kürze, mit der hier auf die Schule verwiesen wird, erscheint vielsagend. Cem führt in keiner Weise konkret und detailliert aus, inwiefern sein Wissen über das im Film Gesehene aus der Schule stammt. Kein Verweis findet hier auf ein Schulbuch, eine im Unterricht bearbeitete Quelle, eine Unterrichtseinheit oder eine anders geartete, konkret benennbare Beschäftigung mit dem Thema in der Schule statt. Es bleibt stattdessen bei der bloßen Nennung der Institution, ohne dass diese konkretisiert würde. Der Ausdruck „alles (.) und (.) DDR (.)“ bleibt ebenso inhaltsleer wie unkonkret, sodass das Ende des ersten Abschnitts seiner Antwort, der von Pausen unterbrochen ist, im Wesentlichen eine plakative Worthülse ist. Vielmehr benennt er mit dem Ausspruch „alles (.) und (.) DDR (.)“ ein allumfassendes Schlagwort, was seinen Verweis auf die Schule als Ursprung des Wissens, das er für die Rezeption des Films heranzieht, umso deutlicher als wenig gehaltvoll erscheinen lässt. Noch deutlicher drängt sich dieser Eindruck auf, zieht man die folgenden Ausführungen zu seinem Besuch in Helmstedt und zu dem Gespräch mit einer Bekannten – ich werde an späterer Stelle auf beide eingehen – zu einem Vergleich heran. Während das Sprechen über jene Aspekte lebhaft, ausführlich und detailreich wirkt, gehen diese Eigenschaften dem Sprechen über die Schule vollkommen ab. Es entsteht der Eindruck, es handle sich um einen pflichtbewussten Hinweis auf diese Institution, ohne dass sie eigentlich bedeutsam wäre für den Umgang des Jugendlichen mit den Themen der DDR-Geschichte, die er im Film erkennt. Dieser erste Eindruck, dass die Schule in der Rezeption des Films für Cem keine große Rolle spielt, kann mit Blick auf weitere Abschnitte des Interviews noch differenziert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt geht es dabei um die Frage, mit wem Cem über die DDR-Geschichte in seinem Alltag spricht: I: Mhm. sprichst du irgendwie mit irgendwem anders über DDR-Geschichte mal CE: I:

└nee (.) oder spielt

das für dich überhaupt keine Rolle? CE: Irgendwie überhaupt keine Rolle. I: Also nur in der Schule. CE: Ja. I: Aha. und wie steht diese DDR, die du in der Schule über die du in der Schule sprichst, zu der DDR im Turm? CE: (.) Die Verbindung jetzt? I: Ja also in welchem Verhältnis stehen die beiden?

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CE: Naja in der Schule haben wir ja auch darüber geredet über diese Frühlingsrevolution in der DDR und (.) kam mir auch bekannt vor im Film, (.) und: (.) ja das Leben dort Stasi haben wir auch besprochen aber nicht so groß (.) ja das war=s eigentlich. I: Hat der Film (.) irgendwas weniger oder irgendwas mehr (.) als (.) CE:

└naja der hat me:hr┘ das Leben der Menschen.

als das in den Schulbüchern steht. ( ) I: Was heißt das, das Leben der Menschen? CE:

└Dass (.)

┘in dem Film wird auch (.) das war halt stark

dargestellt, wie M- die Menschen dort leben, in der DDR, (.) und wie man dann als Junge in der Stasi (.) auskommen muss, wie man dort (.) geschult wird, trainiert wird, das wird halt nicht in den Schulbüchern gezeigt, in der Schule in der Schul- wir hatten nur grob so gesagt so (.) ja die großen Ereignisse Frühlingsrevolution zum Beispiel oder Konrad Adenauer dann Vereinigung, sowas halt. I: Mhm. CE: Wird nicht so intensiv auf das Leben auf diese Menschen eingegangen also (.) speziell in dem Film war ja speziell jetzt eine Familie, (1)

ja.158

Am Beginn der Sequenz verweigert sich Cem geradezu einem Gespräch darüber, in welchen alltagsweltlichen Kontexten er über Themen der DDR-Geschichte kommuniziert. Die Schule wird daraufhin wohlgemerkt erst vom Interviewer ins Gespräch eingeführt, und auch hier findet sich die zurückhaltende Haltung des Jugendlichen. Zwar wird von Cem mit einem „Ja.“ bestätigt, dass dort die DDR thematisiert werde, jedoch findet auch hier keinerlei Detaillierung dieser Antwort statt. Anstelle dessen zeigt sich erneut in ihrer Kürze, dass der Jugendliche nur widerwillig die Schule in eine Beziehung zum Spielfilm setzt. Nicht zuletzt in seinen Nachfragen bezüglich der Bitte, das Verhältnis von Schule und Film zu beschreiben, wird dies nochmals deutlich. Ein historischer Spielfilm, das Sprechen über historische Themen in seinem Alltag und die Schule – diese Dinge lassen sich für Cem nur mühsam zusammendenken. Dies stützt die These, die sich aus der Analyse der ersten Passage ergeben hat, in der Cem nur sehr vage und plakativ, geradezu pflichtbewusst, auf die Schule und ihre Bedeutung bei der Rezeption des Spielfilms verwiesen hatte. Im zweiten Teil der Sequenz jedoch wird erkennbar, dass die Schule und das im Geschichtsunterricht Behandelte nicht ganz unbedeutend zu sein scheinen. Cem stellt eine Verbindung zum Spielfilm her, schließlich hätten sie in der Schule „auch darüber geredet über diese Frühlingsrevolution in der DDR und (.) kam mir auch bekannt vor im Film,“. Woher der Begriff der „Frühlingsrevolution“ stammt, bleibt an dieser Stelle unklar – möglicherweise überträgt Cem hier den Begriff vom „Arabischen Frühling“, der in den Jahren vor dem Interview eine gewisse Verbreitung 158 Transkript CE, BS, Z. 592-633.

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gefunden hatte, auf die sogenannte Friedliche Revolution in der DDR. Zweifellos jedoch werden damit die Ereignisse bezeichnet, die das Ende der deutschen Teilung eingeleitet haben, und Cem merkt hier an, dass sie auch Thema in der Schule gewesen seien. Aussagekräftig ist nun, wie sich das Verhältnis von der Thematisierung der DDR-Geschichte in der Schule und dem im Film Gesehenen aus seiner Sicht gestaltet. Der Jugendliche spricht an, dass in der Schule „ja auch darüber geredet“ worden sei „über diese Frühlingsrevolution in der DDR“. Dieses Sprechen in der Schule über die historischen Ereignisse erkennt er im Film wieder: „kam mir auch bekannt vor im Film,“. Hier zeigt sich, dass das im Unterricht Gesagte offenbar für den Rezipienten eine Vergleichsgrundlage bietet, die er mit der Darstellung des Films in eine Beziehung setzen und vergleichen kann. Das Wiedererkennen bestimmter historischer Ereignisse im Film, die aus der Schule bekannt sind, stellt das Ergebnis dieses Vergleichs dar. Darin liegt ein authentifizierendes Moment: Wenn der Rezipient Elemente des Spielfilms mit eigenen, historischen Wissensbeständen, die er mutmaßlich aus der Schule kennt, in ein Verhältnis der Ähnlichkeit setzen kann, dann geht damit einher, dass er das im Film Dargestellte als historisch identifiziert. Der Darstellung dieser wiedererkannten Aspekte im Film schreibt er dementsprechend Authentizität zu. Cem bleibt sehr vage, welche historischen Ereignisse und Begebenheiten, die in der Schule thematisiert wurden, im Film aus seiner Sicht wieder auftauchen. Er nennt die bereits angesprochene „Frühlingsrevolution“ und „das Leben dort Stasi“. Offenbar sind es die großen, ereignis- und strukturgeschichtlichen Themen der DDR-Geschichte, die er auf der Grundlage des Unterrichts im Film als solche identifizieren kann. Gerade der zweite Ausdruck („das Leben dort Stasi“) irritiert jedoch einerseits aufgrund seiner merkwürdigen sprachlichen Konstruktion, andererseits auch aufgrund seines Gehalts. Die zwei inhaltlichen Bestandteile, „das Leben dort“ in der DDR und die Thematik der „Stasi“, passen kaum zueinander, schon gar nicht in dieser engen sprachlichen Verbindung ohne Konjunktion. Erneut scheint sich hier zu zeigen, dass inhaltlich eher gehaltlose, große Themen anreißende Schlagworte aneinander gereiht werden, ohne dass sich in der sprachlichen Ausgestaltung der Aspekte zeigen würde, dass der Jugendliche für ihn relevante Themen benennt. Letztlich schlägt sich in der Nennung solcher Schlagworte die Unfähigkeit nieder, die Schule und das dort Gelernte konkret auf den Film zu beziehen und diese Beziehung mit Inhalt zu füllen. Über einen allgemeinen Verweis auf so große historische Thematiken wie die „Friedliche Revolution“ oder die „Vereinigung“ hinaus kann von Cem nicht beschrieben werden, welche Unterrichtsinhalte er in Narrativen des Spielfilms wiedererkennt. Stellt man dies bisherigen Beobachtungen gegenüber, etwa das bestimmte Narrative aus anderen historischen Audiovisionen im ARDZweiteiler wiedererkannt werden, wird deutlich erkennbar, wie stark sich die Schule und der Geschichtsunterricht davon unterscheiden.

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Im letzten Teil der Sequenz wird noch klarer erkennbar, in welcher Beziehung ein Spielfilm wie „Der Turm“ zum Unterricht in der Schule für diesen Rezipienten steht. Cem ordnet beiden unterschiedliche historische Domänen zu, die sie jeweils präsentieren. Während der Spielfilm für ihn „me:hr┘ das Leben der Menschen“ ins Zentrum stelle, thematisiere der Schulunterricht hingegen „die großen Ereignisse“ wie etwa die „Frühlingsrevolution zum Beispiel oder Konrad Adenauer dann Vereinigung“. Von der Schule ausgehend betrachtet – und so wird die entsprechende Frage in der Sequenz auch gestellt – präsentiert der Jugendliche den Unterricht als Grundlage seiner Kenntnisse der DDR-Ereignisgeschichte. Darüber hinaus stellt er die Schule jedoch auf gewisse Weise als defizitär dar, insofern das, was „in den Schulbüchern steht“, ihm keinen Eindruck vom alltäglichen Leben der Menschen in der DDR vermitteln könne. Damit lassen sich drei vorläufige Erkenntnisse aus dieser ersten Analyse ziehen: Erstens wird der Geschichtsunterricht eher nicht selbstverständlich, sondern erst nach Aufforderung in Bezug zum im Spielfilm Gesehenen gesetzt. Zu dieser Erkenntnis gehört auch, dass zwischen der geringen Bedeutung, die der Jugendliche hier ausdrücklich der Schule beimisst, und ihrer offensichtlich doch gegebenen Relevanz, die sich im Gesagten zeigt, eine Differenz besteht. Zweitens werden die inhaltlichen Parallelen zwischen beiden nur sehr vage expliziert, wenngleich zweifellos einige Inhalte des Schulunterrichts auch für die Filmrezeption eine Rolle spielen. Insbesondere die herausragenden politikgeschichtlichen Ereignisse scheinen dabei eine wesentliche Rolle zu spielen. Im Wiedererkennen von Unterrichtsinhalten liegt mithin das Potential, das den Unterricht zu einer AuthentifizierungsRessource werden lässt. Drittens wird deutlich, dass der Schulunterricht im Vergleich mit dem historischen Spielfilm in ein Narrativ des Defizits eingebettet wird, das dem Spielfilm für die Erzählung alltagsgeschichtlicher Aspekte einen Vorteil einräumt. Diese drei genannten Aspekte ergeben ein recht ambivalentes Bild von der Rolle, die Geschichtsunterricht und Schule für die Rezeption und Authentifizierung des Films spielen. Anhand weiterer Gesprächssequenzen werde ich im Folgenden versuchen, dieses Bild weiterzuentwickeln und damit die Rolle der Schule und des Geschichtsunterrichts als Authentifizierungs-Ressourcen klarer herauszuarbeiten. Die geäußerte Beobachtung, dass die jugendlichen Rezipienten*innen kaum eigenständig auf den Geschichtsunterricht hinweisen, um Argumente zu finden, die die Frage nach der Authentizität der filmischen Darstellung beantworten, mag überraschen. Der Geschichtsunterricht in der Schule darf wohl als ein zentraler, wenn nicht der wichtigste Ort der Begegnung mit historischen Themen im Leben Jugendlicher gelten. Dementsprechend läge die Annahme nahe, dass dieser institutionelle Kontext historischen Lernens auch für den Umgang mit Geschichte in Form eines Spielfilms bedeutsam ist. Diese Hypothese wird auch dadurch nahegelegt, dass die Schule mehr als einen wichtigen Ort historischen Lernens für Jugendliche darstellt.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 331

Auch als Ort, an dem historische Spielfilme angeschaut werden, besitzt sie einen gewissen Stellenwert: Manche Jugendliche berichten, dass sie fiktionale historische Audiovisionen im Geschichtsunterricht gesehen haben. Als prominentes Beispiel kann erneut „Das Leben der Anderen“ gelten, das im Unterricht gezeigt wurde. 159 Filme spielen im Unterricht grundsätzlich eine Rolle, sodass umgekehrt eine Bezugnahme auf den Unterricht auch für die Rezeption des Zweiteilers „Der Turm“ nahe läge. Im hier erhobenen Sample taucht der Aspekt des Filmeinsatzes im Unterricht selten auf. Die Braunschweigerin Larissa schildert in einem der wenigen Beispiele ihren Blick auf historische Spielfilme im Geschichtsunterricht, und diese Perspektive kann auch für die hier verfolgten Fragestellungen erhellend sein. Sie wird nach Medien befragt, in denen sie mit Geschichte konfrontiert wird, und erwähnt am Ende ihrer Antwort auch den Geschichtsunterricht als Ort historischen Medienkonsums: LA: [...] oder im Geschichtsunterricht halt. I: Ja? LA: @(.)@ das ist jetzt das ähm Bekannteste, wo=es mir begegnet im Alltag. I: ähm (.) guckt ihr da solche Filme? LA: Ja. Äh was ich (.) ganz: extrem finde auch gerade so zum Ende hin des Schuljahres, und so auch in den unteren Klassen, gucken wir ganz viele (.) ich sag jetzt mal Filme zur Nazizeit, //mhm// und ich fand=es auch teilweise (.) echt übertrieben, weil jedes Jahr mindestens vier fünf Filme dazu geguckt wurden, //mhm// und irgendwann hat man es ja nun mal verstanden, dass es da schlecht war, //mhm// un:d (.) °ja° (.) so:: welche Filme guckt man eigentlich meistens, was so mehr (.) ich sag jetzt aktuell ist, ich meine Pharao::-Sachen guckt man glaube=ich eher weniger.160

In dieser Passage zeigt sich, wie Filme im Geschichtsunterricht aus Larissas Sicht eingesetzt werden: „zum Ende hin des Schuljahres“, zahlreich, thematisch einseitig auf die „Nazizeit“ fokussiert und in der Wahrnehmung der Schülerin vor allem mit einem klaren Lernziel, nämlich zu verstehen, „dass es da schlecht war“. Dass Larissa diesen Einsatz von Filmen im Unterricht „teilweise (.) echt übertrieben“ findet, kann folglich nicht überraschen. Von einer kritischen Auseinandersetzung, ganz im Sinne eines medienkompetenten Umgangs mit diesem so wichtigen Teil der Geschichtskultur, fehlt in ihrer Schilderung jede Spur. Statt Spielfilme als geschichtskulturelle Konstrukte zu be159 Vgl. Transkript ST, BS, Z. 294-303; GR, MD, Z. 312f. Wie am Beginn der Ausführungen dargestellt, ist diese Relevanz auch systematisch empirisch belegt worden. Vgl. Wehen 2012. 160 Transkript LA, BS, Z. 295-310.

332 | Wie Stories zu History werden

greifen, deren historische Darstellung selbst zum Gegenstand des Nachdenkens im Geschichtsunterricht gemacht werden kann (und entsprechend der kompetenzorientierten Curricula auch soll), wird das Medium offenbar illustrativ eingesetzt, um Geschichte zu zeigen. Hinzu kommt ein von Larissa deutlich formulierter moralischer Impetus, der keine offene Auseinandersetzung mit historischen Themen ermöglicht, sondern stattdessen die Bewertung des Gesehenen vorwegnimmt. Hier wird sehr deutlich, wie stark die Jugendliche diesen Zugang ablehnt. Diese Ablehnung überträgt sich letztlich insgesamt auf die Verbindung von Schule, Unterricht und historischen Audiovisionen, sodass hierin ein möglicher Grund gesehen werden kann, warum einige Jugendliche auf die Institution Schule im Zuge der Spielfilmrezeption nur marginal Bezug nehmen. Im Überblick über das gesamte Interviewmaterial fällt durchaus auf, dass andere Ressourcen bei Weitem häufiger genannt werden als die Schule und der Geschichtsunterricht. Ohne diesen Befund quantifizieren zu wollen, lässt sich festhalten, dass die Schlagworte Schule und Geschichtsunterricht nur verhältnismäßig selten überhaupt in den Transkripten zu finden sind. Ein qualitativer Blick auf diese wenigen Stellen verrät zudem, dass die Schule im Zusammenhang mit dem rezipierten TV-Event in ihrer Relevanz individuell eher als wenig wichtig bewertet wird. In der Regel wird sie so ins Gespräch eingeführt, wie dies die Analyse der Passagen aus dem Gespräch mit Cem gezeigt hat: eher nicht von den Jugendlichen selbst, sondern vom Interviewer; eher nach einer Reihe anderer AuthentifizierungsRessourcen, die für die Jugendlichen offenbar eine größere Relevanz aufzuweisen scheinen. Für die Frage nach der Authentizität des Spielfilms werden der Schule und dem Geschichtsunterricht von den Zuschauern*innen eine geringere Relevanz beigemessen, als dies angesichts ihres institutionellen Stellenwertes naheläge. Doch welche Gründe lassen sich dafür über das bereits Gesagte hinaus herausstellen? Warum wird die für fast alle Jugendlichen drängende Frage, ob es sich beim Gesehenen um eine authentische Darstellung von Geschichte handelt, so selten mit dem Verweis auf das im Geschichtsunterricht Gelernte beantwortet? Einiges spricht dafür, dass ein „Defizit“ des Geschichtsunterrichts, das die Jugendlichen gegenüber dem Spielfilm beschreiben, eine Antwort auf diese Fragen ermöglicht. Tatsächlich lässt sich hier von einem Muster sprechen, das sich bei vielen Jugendlichen zeigt, sofern sie die Schule überhaupt ansprechen. So auch bei Magdalena, die das im Film Erzählte in zwei Bereiche aufteilt: I: Wenn dich eine Freundin fragen würde, also sagen wir mal die sieht irgendwo ein Plakat, oder liest irgendwie sieht irgendwie die DVD oder so, aber hat den Film noch nicht gesehen, und weiß aber, dass du den gesehen hätte- äh hast. MAG: Mhm. I: und die fragt dich, Mensch Magdalena, äh ich hab vom Turm ich hab gehört der Turm, was ist denn das für ein Film; was würdest du sagen?

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 333

MAG: Ähm (2)

das stellt eben ähm den Alltag auch der Leute zu

dieser Zeit dar, ja, (.) und eben auch im Zusammenhang mit den geschichtlichen Ereignissen. die passiert sind. I: Mhm. (2)

Was ist das für eine Zeit, die da erzählt wird?

MAG: Ähm das ist in der DDR, kurz vor der Wiedervereinigung. also (.) wobei (er) umfasst ja mehrere Jahre, also so die Jahre bis zur Wiedervereinigung, //mhm// dann (.) die Zugdurchfahrt in Prag war ja wie Auslöser, auch der Wiedervereinigung. I:

Mhm. du hast jetzt gerade den ähm (.) in Verbindung mit den geschichtlichen

Ereignissen gesagt, MAG: └Mhm. I: was meint das dieses Verbindung. in welcher Verbindung MAG:

└Mhm.

I:

steht das?

MAG: Na einmal wird eben auch ganz (.) der Alltag der Menschen beleuchtet, auch wie die gelebt haben, wie die Wohnungen eingerichtet waren, //mhm// wie es damals in Dresden aussah, aber (.) was °also was man jetzt im Geschichtsunterricht zum Beispiel nicht so erfährt,° aber eben auch die geschichtlichen Ereignisse, von denen man schon mal gehört hat.161

Für Magdalena spielt die Thematik des Films für dessen Beschreibung die wichtigste Rolle. Sehr deutlich unterscheidet sie hier zwischen dem „Alltag auch der Leute zu dieser Zeit“ und „den geschichtlichen Ereignissen. die passiert sind.“. Beides werde durch den Film in einen „Zusammenhang“ gebracht. Jenem erstgenannten Bereich ordnet sie alltagsgeschichtliche Aspekte wie Wohnungseinrichtungen und Dresdner Stadtbild zu, unbelebte historische Bedingungen, die im Wortsinne für die dargestellten Menschen alltäglichen Charakter besaßen. Dem stellt sie historische Ereignisse gegenüber, das heißt dezidiert Nichtalltägliches. Beide Bereiche schlügen sich in der historischen Darstellung des Spielfilms nieder. Besonders aufschlussreich scheint, in welches Verhältnis sie den Geschichtsunterricht zu diesen im Film dargestellten, historischen Domänen setzt: Die Alltagsgeschichte, das heißt das Nicht-Ereignishafte, gehöre zu dem, „°also was man jetzt im Geschichtsunterricht zum Beispiel nicht so erfährt,°“. Stattdessen fokussiert sich ihre sehr knappe Aussage über den Geschichtsunterricht darauf, dass es vor allem die Ereignisgeschichte sei, die in der Schule im Zentrum der Aufmerksamkeit stünde. Diese Feststellung unterstreicht sie sprachlich: Dass der Geschichtsunterricht sich einer wichtigen Domäne des Films, der Alltagsgeschichte, gar nicht widme, räumt sie geradezu kleinlaut ein, indem sie hier deutlich die Lautstärke ihrer Stimme senkt. Und selbst im Sprechen über die Ereignisgeschichte formuliert Magdalena lediglich, dass „man“ von den im Film dargestellten Ereignissen „schon mal ge161 Transkript MAG, MD, Z. 54-88.

334 | Wie Stories zu History werden

hört“ habe. Sie spricht nicht davon, dass sie im Unterricht etwas über die im Film dargestellten Ereignisse erfahren habe, sondern formuliert hier unpersönlich über eine Konstruktion mit „man“, und unspezifisch, indem sie den Geschichtsunterricht in diesem Gliedsatz eben nicht benennt. Es bleibt weiterhin festzuhalten: Spielfilm und Geschichtsunterricht gehen in der Rezeption der jugendlichen Zuschauer*innen keine enge Verbindung ein, und das scheint maßgeblich in der beschriebenen Leerstelle begründet zu sein, dass im Unterricht jene alltagsgeschichtlichen Aspekte, die den Jugendlichen im Film so wichtig scheinen, dort keine oder eine zu geringe Rolle spielen. Zugespitzt formuliert: Der Film konzentriert sich im Erzählen auf die „falschen“ Themen der DDRGeschichte, als dass der Geschichtsunterricht für dessen Rezeption eine große Bedeutung erlangen könnte. Würde sich „Der Turm“ stärker ereignis- und politikgeschichtlichen Geschichten zuwenden, so läge die Vermutung nahe, dass der Unterricht für die Jugendlichen bei der Filmrezeption auch bedeutsamer sein könnte. Gleichwohl deutet sich auch in dieser Sequenz an, dass zumindest die Ereignisgeschichte, die im Unterricht einiger Jugendlicher im Zentrum steht, durchaus in eine Beziehung zum historischen Spielfilm gesetzt wird. Beispielsweise kennt Magdalena die von ihr angesprochene „Zugdurchfahrt in Prag“, die „ja wie Auslöser, auch der Wiedervereinigung“ gewesen sei, anscheinend aus dem Unterricht, und erkennt sie im Spielfilm wieder. Dieses Wiedererkennen von Ereignissen im Spielfilm versichert die Jugendlichen in der Annahme, es mit einer Erzählung über die der DDR-Geschichte zu tun zu haben, und macht die Schule und den Unterricht zu einer Authentifizierungs-Ressource. Wenn sich aus der Sicht der Jugendlichen Inhalte des Geschichtsunterrichts im Film wiederfinden, sorgt dies für die Authentifizierung der Darstellung dieser historischen Ereignisse im TV-Event. In der These, dass Spielfilm und Unterricht thematisch zu unterschiedlich gestaltet sind, um aufeinander bezogen zu werden, liegt letztlich auch erklärendes Potential für andere Authentifizierungs-Ressourcen, die ich weiter oben herausgearbeitet habe: Wenn der Geschichtsunterricht nur wenig Anhaltspunkte für die Bewertung der alltagsgeschichtlichen Handlung im Spielfilm liefert, dann übernehmen andere Ressourcen diese Funktion. Gerade hinsichtlich der alltagsgeschichtlichen Darstellung – „wie die gelebt haben“, um es in Magdalenas Worten auszudrücken – gewinnt beispielsweise eine nicht spezifisch historische Ressource an Bedeutung: die allgemeine Plausibilität menschlichen Handelns. In Bezug auf den Alltag der Menschen in der DDR liefert der Geschichtsunterricht vielen der jungen Zuschauer*innen nur wenige Anhaltspunkte für die Frage, inwiefern es sich um eine authentische Darstellung handle. Dieses Defizit füllen einige Jugendliche folglich mit ihren Vorstellungen darüber, wie Menschen im Allgemeinen, unabhängig von den historischen Umständen, in ihrem Alltag handeln. Letztlich scheint aber nicht nur die unterschiedliche thematische Schwerpunktsetzung zwischen Film und Geschichtsunterricht zu erklären, warum dieser eine

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Ressource von verhältnismäßig geringer Relevanz ist. Im folgenden Ausschnitt berichtet Thorsten von einem Gespräch über den „Turm“, das er mit anderen Teilnehmern*innen der Studie geführt hat: I: Mhm. ähm du hast gerade du hast gerade schon gesagt irgendwie dass du dir vorher ein paar Gedanken gemacht hast, ähm mich würde interessieren, hast du hast du vorher irgendwie (.) in irgendeiner Art und Weise (.) dich informiert oder so? oder vo- aber vor allem hast du danach irgendwie dich informiert. Also hast du hast du zum Beispiel mit jemandem drüber gesprochen? TH: Ähm also vorher äh ich ha- ich hab mich nicht direkt informiert ich äh wollte äh unvoreingenommen in den in diesen Film reingehen ich wollte nicht irgendwie dass ich jetzt irgendwelche Fakten vorher aufdecke und dann in dem Film auf einmal merke oh das ist ja ein bisschen anders dargestellt; ich wollte mir halt einfach äh so angucken wie ich ihn sehe, und äh (.) ja ich hab mit (.) also jetzt mit Leu- also ich hab mit ja Leuten in der Schule ein bisschen drüber geredet, nicht viel, ich meine es war ja auch erst gestern @(.)@ und ähm also ich hatte schon vor, mich drüber zu informieren hatte jetzt bis jetzt noch nicht die Zeit so dazu, aber ich hab schon so ein bisschen jetzt mi- auch mit den Leuten die gestern den Film äh vorgestern den Film geguckt haben habe ich so kurz ein bisschen drüber geredet, und haben auch so für uns erkannt, dass das alles doch (.) schon; (.) so ein bisschen anders ist als das, was uns so im Unterricht so erzählt wird. I: Inwiefern? TH: Naja im Unterricht wird einem nur (.) da wird das so verallgemeinert so äh da sagt man dann so ja in der DDR da hat die Stasi Sachen vertuscht und äh (.) da wurden Leute ausspioniert aber wenn man dann in dem Film sieht, ähm wie krass diese Sachen dann auf einmal auf einen zukommen man sitzt irgendwo in einem (.) Verhör und denkt so (.) also sagen wir es mal so, heutzutage sitzt man jetzt wenn man bei der Polizei vorgeladen ist was weiß ich man hat einen Diebstahl gesehen oder so, dann geht man da rein (.) und denkt sich so ja man t- man kommt da jetzt man setzt sich da hin, die Leute wiss- also die Polizei die die will jetzt erstmal die Sachen wissen (die) überhaupt passiert sind und damals war es so, man hat sich da hingesetzt und die wussten sowieso schon was los war I:

└@(.)@

TH: Weil äh sowieso genug äh Spionage betrieben wurde, äh da wurden überall Karteien angelegt, wo alles über einen gesammelt wurde also die hätten ein ganzes Buch über einen schreiben können; dass man da war das wurde einfach nur nochmal (.) ich sage mal das war wie eine wie eine Machtpräsentation einfach; man die man setzt sich da hin, und die äh wenn wenn denen irgendetwas nicht passt, dann sagen sie einem erstmal so jo, wir wissen das und das und das und wenn du uns jetzt nicht das sagst, was wir hören wollen, (.) dann äh (.) wird das sanktioniert ne? I: @(.)@ TH: Oder gegebenenfalls wenn irgendetwas Schlimmes dabei ist sogar was weiß ich an die Öffentlichkeit weitergegeben, sodass man in der Nachbarschaft dann auf einmal verhasst ist

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oder sowas ne? Und im Unterr- im Unterricht heißt es dann einfach nur ja, da wurde (.) ja ein bisschen was vertuscht da wurde ein bisschen spioniert also (.) ich finde, im Unterricht hatkam das nicht so klar zur Geltung. Also da konnte man sich einfach selber kein Bild davon machen so weil in der heutigen Zeit ist das ja nicht mehr so und w- äh da kann man sich es ja nicht so vorstellen so ja ((flüsternd)) wo sollte mich jetzt heute schon einer ausspionieren ne? und ähm wenn man das in dem Film sieht, dann weiß man einfach, dass es damals einfach ganz anders war, dass die Problematik wirklich da war und äh nicht einfach nur so eine Illusion war wie heute.162

Am Beginn seiner Antwort auf die Frage, ob er sich vor oder nach dem Ansehen des Films zusätzliche Informationen gesucht habe, dokumentiert Thorsten deutlich, dass die Authentizität des Gesehenen für ihn die zentrale Rolle spielt: Er stellt die Informationen, die er hätte recherchieren können, dem Spielfilm implizit gegenüber. Der für ihn relevante Blickwinkel auf diese Relation von „Fakten“ und Spielfilm besteht in der Frage nach der Authentizität des Spielfilms beziehungsweise der Befürchtung, „dass ich jetzt irgendwelche Fakten vorher aufdecke und dann in dem Film auf einmal merke oh das ist ja ein bisschen anders dargestellt“. Der Film ist somit für ihn zunächst ein Medium, das unabhängig von externen Informationen angesehen werden könne, im Nachgang aber daraufhin zu befragen ist, inwiefern das Dargestellte mit den „Fakten“ übereinstimme. Darin dokumentiert sich, dass dieses Medium für ihn letztlich eines Abgleichs bedürfe, inwiefern das Dargestellte mit der historischen Realität vereinbar sei – an diesem Punkt spricht Thorsten die Schule an. Zunächst thematisiert er sie jedoch nicht als Ort des historischen Lernens, sondern als einen sozialen Raum, in dem Gespräche über einen historischen Spielfilm stattfinden. Mit seinen Mitschülern*innen, vor allem jenen, die ebenfalls im Rahmen der Studie den Film gesehen haben, scheint es ein Gespräch über den „Turm“ gegeben zu haben, dessen Verlauf von ihm nur angedeutet wird. Überraschend kommt Thorsten dann aber zu einer gemeinsam gemachten Erkenntnis: „[Wir] haben auch so für uns erkannt, dass das alles doch (.) schon; (.) so ein bisschen anders ist als das, was uns so im Unterricht so erzählt wird“. Diese Behauptung birgt eine gewisse Brisanz in sich: Ein historischer Spielfilm widerspricht in den Augen eines Zuschauers dem Geschichtsunterricht? Und dieser Widerspruch wird aufgelöst, indem er der audiovisuellen Erzählung größere Verlässlichkeit unterstellt? Damit wäre der Spielfilm für den Abiturienten definitiv eine authentische historische Erzählung, deren Darstellung letztlich sogar das im Unterricht Gesagte in Zweifel zöge. Doch nicht nur darin liegt eine Besonderheit dieser Passage. Zudem wird hier angedeutet, dass die Authentifizierung der Filmstory auch im sozialen Raum Schule ihren Platz hat. Thorsten spricht mit seinen Mitschülern*innen über den Film, und 162 Transkript TH, BS, Z. 462-518.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 337

wenngleich sich in diesem Gespräch offenbar Zweifel an der Authentizität des Gesehenen ergeben, so dreht sich doch die Diskussion offenbar um eben diesen Punkt. Somit handelt es sich hier um ein Beispiel nichtmedialer Kommunikation zwischen Zuschauern*innen zum Zweck der Authentifizierung, die in der Schule angesiedelt ist. Thorsten breitet die These, dass sich zwischen Spielfilm und Unterricht Differenzen ergeben haben, in der Folge sehr ausführlich aus: „Naja im Unterricht wird einem nur (.) da wird das so verallgemeinert so äh da sagt man dann so ja in der DDR da hat die Stasi Sachen vertuscht und äh (.) da wurden Leute ausspioniert aber wenn man dann in dem Film sieht, ähm wie krass diese Sachen dann auf einmal auf einen zukommen“. Der Gegensatz scheint jedoch nicht darin zu liegen, dass die Darstellung des Spielfilms den Inhalten des Unterrichts direkt widerspricht, sondern ergibt sich anscheinend daraus, dass beide auf unterschiedlichen Ebenen die Geschichte verhandeln. Im Unterricht werde vor allem „so verallgemeinert“ über die „Stasi“ gesprochen, während der Film besonders „krass“ veranschauliche, welche Bedeutung diese historischen Umstände für „einen“ hätten. Dem Film läge mehr daran, die Auswirkungen auf den Einzelnen darzustellen, und anhand von Thorstens Schilderung wird sehr deutlich, dass er diese als besonders eindringlich wahrnimmt. Er führt im Anschluss äußerst ausführlich aus, wie sich die Existenz des Repressionsapparates in der DDR auf das Leben Einzelner ganz konkret ausgewirkt habe. Dazu erzählt er sogar Anekdoten, liefert also eigene Erzählfragmente, die ganz im Gegensatz zum Unterricht sehr konkret und greifbar veranschaulichen, was ebenso der Film ermöglicht: nachzuvollziehen, welche Bedeutung Themen, die im Unterricht abstrakt thematisiert werden, konkret für den Einzelnen erlangen können. Der Unterricht hingegen wird abschließend erneut im bekannten Rahmen des Defizits geschildert: „Und im Unterr- im Unterricht heißt es dann einfach nur ja, da wurde (.) ja ein bisschen was vertuscht da wurde ein bisschen spioniert also (.) ich finde, im Unterricht hat- kam das nicht so klar zur Geltung. Also da konnte man sich einfach selber kein Bild davon machen“. Zu den thematischen Unterschieden zwischen Spielfilm und Unterricht, die in den Sequenzen zuvor eine Rolle gespielt haben, kommt somit eine weitere Differenz hinzu. Hier geht es um die unterschiedlichen Niveaus von Abstraktion und Konkretion, auf denen sich die beiden bewegen. Der Unterricht verhandle vor allem abstrakt und allgemein die Geschichte der DDR, etwa das Agieren des Ministeriums für Staatssicherheit. Der Film hingegen veranschauliche auf einer sehr konkreten und subjektbezogenen Ebene, zu welchen Konsequenzen das Handeln der „Stasi“ im Einzelfall geführt habe. Aus diesem Grund schildert Thorsten hier eine starke Differenz zwischen beiden Zugängen zur DDR-Geschichte. Diese Differenz, die zwischen der Schule und dem Geschichtsunterricht auf der einen und dem historischen Spielfilm auf der anderen Seite zu bestehen scheint, und die sich nicht auf In-

338 | Wie Stories zu History werden

halte, sondern auf die Form und das Niveau der Begegnung mit Geschichte bezieht, wird von der Braunschweigerin Anja ebenfalls angesprochen: I: Mhm. (.) ähm (.) diese Informationen bekommen, ähm hast du irgendwie auch woanders Informationen danach geguckt oder (.) AN: In der @Schule, Unterricht.@ I:

└Ja?┘ Und äh das ist (.) ähm was wo ist da der Unterschied

sozusagen irgendwie? AN:

└Naja in┘der Schule ist es ja (.) bekommt man das erstens von einem Lehrer

beigebracht, ähm I: @(.)@ AN: @dann ist das Unterricht und Schule@ (.) und äh es ist (.) weiß=nicht es ist mit ähm Texte lesen verbunden äh, sich selber irgendwie Informationen aneignen, und durch so einen Film da (.) werden ja auch Emotionen irgendwie rübergebracht //mhm// und da bekommt man ja nochmal so einen persönlichen Schwung irgendwie mit, dass (.) dass man da so einen Einblick bekommt, weil (.) ich sag mal wenn (.) mir irgendein Politiker erzählt oder (.) schriftlich erzählt quasi, was damals passiert ist, dann habe ich da ein ganz anderes Gefühl für, als wenn mir eine Frau auf der Leinwand quasi gegenübersteht, //mhm// weint und sagt äh (.) was das mit ihr gemacht hat so. //mhm// das ist ja ein sehr großer Unterschied. I: Was sind das für Emotionen und Gefühle, die der Film (.) die der Film dir gebracht hat? AN: Also meistens habe ich Trauer empfunden irgendwie, Trauer oder Wut ähm (.) naja auch (.) das hat jetzt vielleicht nicht unbedingt was mit dem System ge- zu tun gehabt, aber zum Beispiel als dieser Mann oder äh als die Frau rausgefunden hat auf dieser Hochzeit, dass der Mann quasi eine andere Tochter hat, und (.) @äh ja@ es ist ja logisch, wenn man sowas erfährt, dass das dann nicht gerade positiv ist, //mhm// ähm (1,5)

ja ansonsten (.) ähm

auch so Aggressionen, als dieses ähm als die Szene gespielt hat am Bahnhof, von Dresden, und die Mutter quasi da geknebelt wurde //mhm// von den (.) ähm Polizisten (.) ja und Verzweiflung irgendwie auch, äh bei der Szene wo ähm (.) ich weiß nicht ob man Kadetten ka- kann man Kadette sagen? irgendwie so I:

└Klar.┘

AN: Ja als dieser äh Kadette da irgendwie in die Kloschüssel getunkt wurde und äh (.) ja. °also fand ich schon ziemlich (.) heftig.°163

Zunächst wird auch durch den Einstieg in diese Sequenz die ambivalente Rolle der Schule weiter unterstrichen. Auf die Frage nach einer Quelle filmexterner Informationen, die sie kurz zuvor selbst angesprochen hatte, nennt Anja hier als allererstes die Schule und den Unterricht. Mit der betonten und lachenden Aussprache unterstreicht Anja zudem, dass sie dies für naheliegend und selbstverständlich erachtet. Damit sind Schule und Unterricht aus ihrer Sicht von außerordentlicher Bedeutung, 163 Transkript AN, BS, Z. 476-516.

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was den sachlichen, auf „Informationen“ konzentrierten Zugang zur Filmstory betrifft. Zugegebenermaßen wird die Dichotomie zwischen der Schule und dem Spielfilm vom Interviewer eingeführt, um der Frage nachzugehen, welche Defizite diese aus der Sicht der Rezipienten*innen gegenüber historischen Audiovisionen aufweisen. Doch Anja greift die Dichotomie bereitwillig auf und macht an mehreren Stellen deutlich, dass sie diesen betont sachlichen Zugang des Unterrichts gegenüber der fiktionalen, audiovisuellen Erzählung eher ablehnt. Dass „man das erstens von einem Lehrer beigebracht“ bekomme, markiert sie ebenso negativ, wie grundsätzlich die Institution: Die Aussage „@dann ist das Unterricht und Schule@“ verdeutlicht – aus der Sicht einer Filmzuschauerin – eine ablehnende Haltung und eine grundsätzliche Differenz. Die ambivalente Rolle, die Schule und Geschichtsunterricht spielen, setzt sich somit auch in dieser Sequenz fort. Zwar stellen sie für Anja den primären Zugang zu Wissensbeständen dar, die den Spielfilm und das dort Dargestellte ergänzen. Diese Informationen, die hier nicht weiter spezifiziert werden, haben freilich das Potential, den historischen Kontext der Story aufzuklären und damit die Erzählung zu authentifizieren. Gleichwohl ist ein Unwillen erkennbar, diese Informationen aus dem Unterricht mit dem Film in Verbindung zu bringen und die Institution Schule damit als Authentifizierungs-Ressource heranzuziehen. Diesen Unwillen begründet Anja implizit mit der speziellen Perspektive des Spielfilms. Sie führt aus, dass „ein sehr großer Unterschied“ zur Schule in der Emotionalität und der Subjekt-Orientierung des Fernsehzweiteilers liege. Dafür stellt sie beispielhaft dar, wie unterschiedlich Geschichte hinsichtlich dieser Aspekte thematisiert werden könnte: Dass ihr „irgendein Politiker erzählt oder (.) schriftlich erzählt quasi, was damals passiert ist“, stellt sie dem filmischen Zugang gegenüber, „wenn mir eine Frau auf der Leinwand quasi gegenübersteht, //mhm// weint und sagt äh (.) was das mit ihr gemacht hat so.“ Unschwer zu erkennen ist, dass sie den schriftlichen Bericht eines Politikers dem Geschichtsunterricht zuordnet – er ist für Anja unnahbar und emotional irrelevant, entspricht stattdessen genau dem auf „Informationen“ fokussierten Zugang, den sie bereits am Beginn der Sequenz negativ markiert hatte. Ganz anders der Film: Dort bekommt sie eine weibliche Perspektive geboten, die sehr viel stärker auf die subjektive Bedeutung historischer Gegebenheiten eingeht. Zudem vermittelt sie der Jugendlichen Anja einen emotionalen und persönlichen Eindruck der Geschehnisse, indem sie ihr „sagt äh (.) was das mit ihr gemacht hat so“. In den folgenden Ausführungen wird deutlich, dass es nicht nur historische Geschehnisse sind, zu denen die Zuschauerin einen sehr persönlichen Zugang erhält. Sie schildert ein fiktives Ereignis der Filmstory, „als dieser Mann oder äh als die Frau rausgefunden hat auf dieser Hochzeit, dass der Mann quasi eine andere Tochter hat“, und spricht auch die Szene bei der Räumung des Dresdner Hauptbahnhofs an, wobei sie die persönliche Perspektive der Figuren stark betont. Zuletzt kommt

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ein Ereignis der Handlung zur Sprache, das sich auf die Zeit des Protagonisten in der NVA bezieht, „als dieser äh Kadette da irgendwie in die Kloschüssel getunkt wurde“. Sie verbindet in ihrer Schilderung damit Ereignisse, die sie als historisch identifiziert („die Szene gespielt hat am Bahnhof, von Dresden“), mit nicht spezifisch historischen Teilen der Spielfilmhandlung. All diese Ereignisse der Handlung macht sie an Figuren fest, und gerade dieser subjektbezogene Zugang führt aus ihrer Sicht zu einer stärker emotionalen Begegnung mit der Geschichte. Der Kontrast zum Geschichtsunterricht, der ihr diesen Zugang nicht ermöglicht, wird darin sehr deutlich. Damit zeichnet sich der Geschichtsunterricht aus der Perspektive jener Jugendlichen, die hier bisher Erwähnung gefunden haben, durch eine doppelte Differenz gegenüber dem Spielfilm aus: Einerseits handelt es sich um thematisch unterschiedliche Zugänge zur Geschichte – hier vor allem die Alltagsgeschichte, dort ein insbesondere politik- und ereignisgeschichtlicher Schwerpunkt. Zudem lassen sich die Zugänge jedoch auch ihrem Wesen nach verschieden charakterisieren: der Fernsehzweiteiler stellt eher einen subjektbezogenen, konkreten, das heißt wenig abstrakten und auch emotionalen Zugang zur Geschichte dar, während sich der Unterricht für einige Jugendliche deutlich abstrakter und distanzierter der DDRGeschichte zuwendet. Bevor ich versuchen werde, zusammenfassend Schule und Geschichtsunterricht in ihrer Bedeutung als Authentifizierungs-Ressourcen zu bewerten, soll eine Passage aus dem Interview mit dem Magdeburger Tim zeigen, dass sich deren Verhältnis zum Film keineswegs zwangsläufig als Gegensatz darstellen muss. In mancher Hinsicht steht die folgende Sequenz im Kontrast zum bisher Herausgestellten und bildet einen positiven Gegensatz zum Defizit- und Differenzdiskurs über den Geschichtsunterricht und die Schule. Tim äußert das Folgende im Rahmen einer Sequenz, in der es dezidiert um die Authentizität des Spielfilms geht. Seine These lautet, es handle sich um einen Film, der von „sehr viel realistischen Ereignissen spielt, und jetzt nicht ähm (.) also was wirklich glaubwürdig ist.“164 Diese Zuschreibung von Authentizität unterstreicht Tim im Folgenden mit einer Argumentation, die den Geschichtsunterricht als Ressource für diese Zuschreibung benennt: „ja, man hört eben diese vielen Dinge im @Geschichtsunterricht immer@,“165. Daraufhin wird er um eine Präzisierung gebeten: I: Mhm. (.) und was sind diese Dinge im Geschichtsunterricht, die du ansprichst? man hört so vieles im Geschichtsunterricht hast du gesagt

164 Transkript TI, MD, Z. 15f. 165 Transkript TI, MD, Z. 38-39.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 341

TI:

└Naja @(.)@ (1)



ähm (.) naja (.) also (.) wir hatten das Thema

DDR (.) °ach jetzt muss ich lügen,° in irgend=einer Klasse, @ich weiß jetzt nicht mehr@ @(.)@, I: └@(.)@┘ TI: ähm (.) und es wird dann z- äh vor allen Dingen erstmal gefragt ja was hattet ihr so für Erfahrungen, ähm was was haben euch eure Eltern schon erzählt, also bei (.) gerade hier jetzt kommen viele Eltern auch aus=dem Osten, ähm wo die dann vielleicht schon was äh ihren Kindern erzählt haben, genau. und dann wird versucht, über die ganzen Bestandteile, die man so ähm (.) fängt, vielleicht auch (.) die Geschichte ein bisschen zu bauen, und zu gucken was davon äh stimmt, was davon ist so=ein bisschen Legende, oder wie auch immer, genau, und dann kommt man halt dazu, dass ähm diese ganzen Fakten erklärt werden, die die ganzen Geschichtsereignisse quasi kommen, und man kann das dann alles also ich find das kann man in Geschichte noch sehr gut verknüpfen auf alle Fälle, weil:: (.) ähm die Zeit jetzt noch nicht so lange her ist, man kann sich das alles noch ziemlich gut vorstellen, auch wenn man nicht dabei war, ähm (.) genau. und äh das wird halt so im Geschichtsunterricht vermittelt, dass das eigentlich (.) auch sozusagen (.) wie so=ne Art Wunder war, //mhm// was sich immer mehr äh angebahnt hat, und dadurch zustande gekommen ist, dass viele Menschen eben für die eigene Sache so (.) standen.166

Tim schildert in dieser Passage einen Geschichtsunterricht, der sich mit der Thematik der DDR-Geschichte anders auseinandersetzt, als dies in den vorherigen Sequenzen der Fall zu sein schien. Die Begegnung mit der DDR charakterisiert er in diesem Fall als enorm auf die individuellen Erfahrungen der Jugendlichen mit der Thematik ausgerichtet. Den unterrichtlichen Zugang könnte man als „bottom-up“ bezeichnen: Ausgehend vom individuellen Vorwissen der Jugendlichen und der Relevanz der DDR in ihren Familien, die Gespräche mit ihren Eltern in der Rolle von Zeitzeugen*innen aufgreifend, orientiert sich der Geschichtsunterricht hier an den Jugendlichen und ihren Erfahrungen. Dezidiert ist dieser erste Zugang nicht auf „Fakten“ oder historisch korrekte Informationen ausgerichtet. Stattdessen findet eine induktive Erarbeitung der DDR-Geschichte statt, die sogar das Risiko eingeht, einerseits fragmentiert zu bleiben, andererseits aber auch möglicherweise historisch ungenau oder sogar falsch zu sein: Offenbar erst nach der Begegnung mit den individuellen Erfahrungen wurde „versucht, über die ganzen Bestandteile, die man so ähm (.) fängt, vielleicht auch (.) die Geschichte ein bisschen zu bauen, und zu gucken was davon äh stimmt, was davon ist so=ein bisschen Legende,“. Hier schildert der Jugendliche einen induktiven, konstruktivistisch ausgerichteten Zugang zur Geschichte, der sich an den Erfahrungen der Jugendlichen orientiert. Es ist klar erkennbar, wie positiv Tim diesen Zugang bewertet.

166 Transkript TI, MD, Z. 75-99.

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Erst im Anschluss an die Verhandlung der individuellen „Erfahrungen“ und das, was die Jugendlichen von ihren Eltern in der Rolle von Zeitzeugen*innen erfahren haben mögen, werden stärker „diese ganzen Fakten erklärt […], die die ganzen Geschichtsereignisse quasi kommen,“. Als Ergebnis hält der Jugendliche fest, dass es ihm dadurch ermöglicht werde, der Geschichte zu begegnen, die für ihn auch persönlich bedeutsam und anschlussfähig ist: „man kann sich das alles noch ziemlich gut vorstellen, auch wenn man nicht dabei war“. Zum Abschluss der Passage betont Tim die Subjektbezogenheit dieses Zugangs, die nicht nur ihm, sondern auch den „Menschen“ der verhandelten Zeit eine große Bedeutung beimisst. Dieser subjektbezogene Zugang, der konkret die Erfahrungen der Jugendlichen, aber auch die Erlebnisse der Zeitzeugen*innen berücksichtigt, und damit persönlich die DDR-Geschichte erfahrbar macht, macht den Geschichtsunterricht für Tim zu einer wichtigen Authentifizierungs-Ressource. Im Gegensatz zu den Jugendlichen, die nur widerwillig den Unterricht und die Story des Films miteinander verknüpft haben, wird dieser hier nicht in einem Deutungsrahmen des Defizits verhandelt. Darin ist mutmaßlich der Grund zu suchen, warum der Unterricht als Ressource hier deutlich stärker in Erscheinung tritt: Es scheint für Tim keine wesentlichen Differenzen zwischen Film und Geschichtsunterricht in deren Perspektive auf die DDRGeschichte zu geben, sodass der Unterricht produktiv für die Rezeption der historischen Audiovision herangezogen werden kann. Anstelle einer Barriere in der Thematik oder im Abstraktionsgrad sind für den Rezipienten beide problemlos in Bezug zu setzen, und dies ermöglicht ihm, die Unterrichtsinhalte in authentifizierender Funktion zur Rezeption des Films heranzuziehen. Möglicherweise ist ein weiterer Grund für dieses In-Beziehung-Setzen auch in der Wesensgleichheit des beschriebenen Unterrichts und des Films verborgen: Beide zeigen sich im Bericht des Jugendlichen als ähnlich hinsichtlich der Frage, inwiefern ihre Darstellung der Ereignisse historisch korrekt ist. Sowohl die Erfahrungen und die Berichte der Zeitzeugen*innen, die die Jugendlichen im Unterricht ansprechen konnten, als auch die fiktionale Erzählung des Spielfilms werden hier nicht per se als unverrückbare historische Wahrheiten definiert. Vielmehr sind Filmstory und Unterrichtsinhalte gleichermaßen offen danach zu befragen, inwiefern sie historische Realität darstellen. Statt einer unerschütterlichen historischen Meistererzählung, die zeigt, „wie es eigentlich gewesen“167, stellen beide einen konstruktivistischen Weg dar, Geschichte zu begegnen. Diese Wesensgleichheit – die These lässt sich aus der Sequenz ableiten – könnte ursächlich dafür sein, dass der Unterricht für die Rezeption und die Authentifizierung des Films bei Tim eine verhältnismäßig wichtige Rolle spielen kann. Zweifellos verdeutlicht dieses letzte Beispiel eindrucksvoll, dass die Schule und der Geschichtsunterricht als Ressourcen der Authentifizierung eines historischen 167 Ranke 1824. S. V-VI.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 343

Spielfilms bedeutsam sein können. Wie ist nun insgesamt die Frage zu beantworten, was aus den hier vorgeführten Analysen für die Rolle des Unterrichts als Authentifizierungs-Ressource abzuleiten ist? Festzuhalten ist zunächst, dass die Schule und der Geschichtsunterricht überhaupt für die Authentifizierung der Story eine Rolle spielen. Es sind vor allem die politikgeschichtlichen Ereignisse, die die Jugendlichen aus dem Unterricht kennen und im Spielfilm wiedererkennen, die für sie die filmische Darstellung authentifizieren. Das ereignisgeschichtliche Wissen liefert ihnen eine historische Orientierung, mit der sie die Story in ihren historischen Kontext einordnen und sie als eine historische Erzählung über das letzte Jahrzehnt der DDR identifizieren können. Insbesondere die großen Topoi der DDR-Geschichte, die Ereignisse der „Friedlichen Revolution“ und die vermeintliche Allgegenwart der Staatssicherheit, die im Unterricht ausführlich thematisiert wurden, dienen den Jugendlichen als Fundamente zur Einordnung und Authentifizierung der Story. Gleichwohl hat sich jedoch gezeigt, dass über diese zentralen Aspekte der DDR-Geschichte hinaus nur bedingt eine Bezugnahme von Unterrichtsinhalten auf den Spielfilm stattfindet. Vielmehr werden auch die politikgeschichtlichen Ereignisse nur vage auf den „Turm“ bezogen, sodass in der Regel keine enge Verbindung zwischen dem Spielfilm und der Schule im Prozess der Rezeption etabliert wird. Über eine allgemeine historische Verortung der Spielfilmhandlung hinaus stößt der Unterricht an dieser Stelle an seine Grenzen. Diese Grenzen scheinen sich aus einem doppelten Defizit der Institution Schule und des Unterrichts gegenüber dem historischen Spielfilm zu ergeben. Erstens sind sie nur bedingt miteinander zu verknüpfen, weil der Film mit seinem Fokus, „das Leben der Menschen“168 zu zeigen, andere Schwerpunkte setzt als der von vielen erfahrene Unterricht, der sich eher „den geschichtlichen Ereignissen“169 widme. Insofern der Spielfilm für die Rezipienten*innen die Alltagsgeschichte der DDR ins Zentrum stellt, ist er thematisch nur bedingt mit dem ereignisgeschichtlichen Fokus des Geschichtsunterrichts zu vergleichen. Entsprechend können die ereignisgeschichtlichen Unterrichtsinhalte auch nur eine grobe historische Orientierung zur Einordnung des Filmgeschehens bieten. Darin liegt jedoch durchaus ein authentifizierendes Moment: Die Story des Zweiteilers zeigt sich im Vergleich mit dem ereignisgeschichtlichen Wissen der Jugendlichen, das mutmaßlich aus dem Unterricht stammt, als kompatibel, insofern sich Ereignisgeschichte hier und Alltagsgeschichte dort ergänzen. Wenn auch die Darstellung des Alltags der Protagonisten*innen nicht durch den Unterricht authentifiziert wird, so werden die Rezipienten*innen durch das Wiedererkennen bestimmter Ereignisse der DDR-Geschichte versichert, dass es sich bei der Story um eine historisch glaubwürdige Erzählung handelt. Zweitens benennen einige Interviewpartner*innen die Differenz, dass Schule und Unterricht auf einer weitaus abs168 Transkript CE, BS, Z. 618f. 169 Transkript MAG, MD, Z. 64.

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trakteren Ebene die Geschichte der DDR verhandeln, als dies im Spielfilm geschieht. Der Anschaulichkeit und Subjektbezogenheit der Fiktion geben sie in dieser Hinsicht klar den Vorzug. Dieses beschriebene Defizit lässt sich in zwei Richtungen deuten: Einerseits erklärt es, warum Schule und Unterricht nur eine verhältnismäßig unbedeutende Rolle für die Rezeption eines historischen Spielfilms spielen – beide bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen, auf denen sie Geschichte verhandeln, und diese Ebenen sind von den Jugendlichen nur schwerlich miteinander zu verbinden. Die beiden Formen der Begegnung mit DDR-Geschichte – Schule und Unterricht auf der einen, Spielfilme auf der anderen Seite – stellen für sie eher voneinander unabhängige Systeme historischer Auseinandersetzung dar. Dass diese nur bedingt aufeinander bezogen werden, liegt unter anderem in den verschiedenen Graden von Abstraktion und Subjektbezogenheit begründet. Zugleich liegt zumindest ein gewisses Potential darin, dass die abstrakt, allgemein und unpersönlich anmutenden Unterrichtsinhalte auch authentifizierend wirksam werden können. Das Konkrete und betont Subjektive des Films könnte sich durchaus mit dem Abstrakten und Allgemeinen des Unterrichts miteinander in Einklang bringen lassen, insofern sich beide ergänzen könnten. Wenngleich beide auf sehr unterschiedlichen Ebenen die Geschichte der DDR darstellen, so wäre doch die Erzählung im bewegten Bild mit dem in der Schule Erlernten kompatibel. Letzteres könnte damit – ungeachtet des gegensätzlichen Zugangs – auch eine mögliche Ressource sein, um die historische Audiovision zu authentifizieren. Im Film werden jene Aspekte der DDR-Geschichte sehr konkret und subjektbezogen sichtbar, die im Geschichtsunterricht unpersönlich und abstrakt angesprochen worden sind – darin zeigt sich ein Potential der Authentifizierungs-Ressource, das mithin so nicht von den Interviewpartnern*innen benannt wird. Ob dieses Potential zur Authentifizierung wirksam wird, lässt sich mit Blick auf die Daten nur vermuten: Der im Vergleich zum Film größere Grad der Abstraktheit, den die Jugendlichen kritisieren, führt in jedem Fall zu einer distanzierten Haltung gegenüber dem Geschichtsunterricht. Darin mag ein Grund liegen, das sehr konkrete, subjektbezogene und persönliche Geschichten erzählende Medium Spielfilm in den Interviews nicht mit den Inhalten des Unterrichts zu verknüpfen. Zugleich bilden diese Inhalte dennoch eine Wissensgrundlage, die bei der Rezeption der Story nicht ausgeblendet werden kann. Insofern möchte ich festhalten, dass die Rolle von Schule und Geschichtsunterricht als Authentifizierungs-Ressource durchaus größer sein könnte, als dies von den Jugendlichen in den Interviews dokumentiert wird. Gleichwohl relativiert diese Vermutung keinesfalls die bis hier herausgearbeitete These, dass Schule und Geschichtsunterricht im Vergleich mit anderen Ressourcen von deutlich geringerer Bedeutung sind und dies gerade im Hinblick auf ihre Präsenz im Alltag der Jugendlichen durchaus überrascht.

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Die Ambivalenz, die sich in der Analyse der Authentifizierungs-Ressource Schule und Geschichtsunterricht sehr deutlich herauskristallisiert hat, betont abschließend die Interviewpartnerin Grit: GR: […] äh wi- ich wir wissen alle, wie die DDR aufgebaut war, das lernt man in der Schule in Geschichte, //mhm// und so weiter ähm (.) es ist auch alles ganz interessant, aber es ist halt nicht wirklich was, was wir dann mit unserem Leben auch verbinden können, ganz real. //mhm// und ähm deswegen gucke ich halt auch gerne solche Filme, weil man da nochmal ne ganz andere Idee bekommt, wie sich das angefühlt hat, so das Leben in der DDR. 170

Darin bringt sie auf der einen Seite die Relevanz zum Ausdruck, die die Schule auch für die Rezeption und Authentifizierung eines historischen Spielfilms aufweist. Zugleich benennt Grit aber überdeutlich die Grenzen dieser Institution, wenn sie ihr die Möglichkeit abspricht, persönlich und in der alltäglichen Lebenswelt der Jugendlichen bedeutsam zu werden. Nicht nur wird damit ein weiteres Mal die ambivalente Rolle von Schule und Unterricht verdeutlicht – zugleich lenkt Grit auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf weitere Ressourcen der Alltagswelt, die für die Rezeption und Authentifizierung der fiktionalen Erzählung herangezogen werden. Beim Blick auf diese wird sich zeigen, dass die fehlende Relevanz der Schule von anderen alltagsweltlichen Ressourcen kompensiert werden kann. Dass auch weitere Institutionen für die Authentifizierung der Story eines historischen Spielfilms infrage kommen, die sich der Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Themen verschrieben haben, hatte sich bereits zum Anfang des Kapitels angedeutet. Der Jugendliche Cem hatte eine Kategorie von Orten der Geschichtsvermittlung und -aneignung angesprochen, die in der gegenwärtigen Geschichts- und Erinnerungskultur in Deutschland einen wichtigen Platz einnehmen – historische Museen und Gedenkstätten: I: Was ist dieses eigene Wissen, was du gerade genannt hast? CE: Ja von der Schule, alles (.) und (.) DDR (.) ja ich war persönlich mal gibt=s ja noch Helmstedt, da war ja auch die Grenze, //mhm// da war ja so ein Museum na weiß ich nicht mehr da war ich glaub ich klein da war ich zwölf oder so elf (.) einmal besucht und da war auch so=ne Grenzanlage, die man besichtigen konnte und (.) so paar Stories so paar äh Plakate aber auch Ausstellung von (.) Bewohnern und (.) von meiner Mutter die Freundin, die in Berlin jetzt wohnt, die hat auch DDR gewohnt, auch paar Sachen erzählt so dass das Leben da nicht so einfach war, auch als Ausländer nicht so einfach, und man halt zum Beispiel gab=s dort keine Bananen oder so, //mhm// man also die Bananen kommen ja aus (.) in West(.) äh Deutschland gab es ja die Bananen waren ja aus Südaf- Amerika oder Afrika (.) und in: (.) äh in der DDR gab=s ja eben keine Bananen und das hat (.) hauptsächlich Obst und 170 Transkript GR, MD, Z. 496-501.

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Gemüse war nicht so frisch wie in=er (.) ja und (.) man hat ja auch im Film gesehen, dass zum Beispiel diese eine Frau wollte in den Westen, weil=es dort halt die Mode schon (.) //mhm// viel weiter hinaus ist als in (.) im Osten, und °in der DDR in dem Fall und (.) ja.° also war halt DDR war halt zurückgeblieben so=n bisschen. I: Mhm. was ist das für ein Leben, was da so erzählt wird? was führen die für ein Leben? CE: Wie so ein einseitiges Leben so (.) ja so (.) ja nicht so=ne Diktatur auch nicht, aber das war ja so=ne SED-Herrschaft, also ne (.) halt die mussten was vorgeschrieben ist machen, also die hatten so keine einzelnen Freiheiten und (.) wurden beo- die ganze Zeit beobachtet von der Stasi und (.) ja. (.) waren so abgeschottet. I: Mhm. ähm du hast gerade gesagt, du warst irgendwie mal in der Gegend und hast dir was angeguckt, CE:

└Ja. In Helmstedt

I:

└was war das genau?

CE: Das war so=n Grenzmuseum, //mhm// auch diese an den Grenzanlagen waren ja immer so diese Türme, I: Ja? CE: Und die waren konnte man auch dort besichtigen, und dann noch irgendwie paar Geschichten anhören von den (.) da war so=ne Ausstellung auch, auch so ein großes Museum und paar (.) Grenzanlagen, paar Fahrzeuge, paar Klamotten waren auch da glaub ich, ich weiß nicht mehr ganz genau. sowas in der Art °naja.° I: Wenn du das mit dem Film in Beziehung bringst, was CE:

└Ja.

I: Äh was äh in welchem Verhältnis stehen diese beiden Sachen? CE: Die haben beides mit DDR zu tun, (.) also mit dem Film hat das glaub ich jetzt nicht so viel zu tun, weil (im) Film wurden auch nicht die Grenzanlagen so gezeigt und //mhm// nur die äh nur Leipzig von innen und so, aber ich dachte halt wo ich zuerst gehört habe DDR, der Turm, vielleicht irgendwas mit nem (.) ja so ein Wachturm, an der Grenze oder so hat das zu tun, wie so=ne Geschichte, (.) °aber die gab=s nicht.° ich weiß ich weiß jetzt auch nicht, warum der weil der ach im Film habe ich mich auch selber gefragt, warum das überhaupt Turm heißt, und dann zum Schlus- in der Reportage in der Dokumentation später habe ich dann erst (.) ach so, deshalb weil erfahren, dass der Turm ist weil (.) irgendwie die: in Leipzig so ein Gebiet Turm heißt, und dort (jedenfalls) irgendwelche Gebäude standen, wo das sich hauptsächlich abspielte, //mhm// aber die Klinik war nicht auf dem Turm oder? 171

Zunächst zeigt sich in dieser Sequenz, dass für Cem viele unterschiedliche Aspekte eine Rolle bei der Authentifizierung des Gesehenen spielen. Neben der Schule, deren Bedeutung hier ausführlich diskutiert wurde, spricht er die Berichte einer befreundeten Zeitzeugin an, die ihm bei der Einschätzung des Fernsehzweiteilers als Grundlage dienen. Bevor ich Zeitzeugen*innen in der alltäglichen Lebenswelt der 171 Transkript CE, BS, Z. 200-258.

Darstellung der empirischen Ergebnisse | 347

Jugendlichen jedoch in den Fokus der Analyse rücken werde, gilt es danach zu fragen, inwiefern Museen und Gedenkstätten zur Authentifizierung der historischen Erzählung im Spielfilm beitragen. Cem bezieht sich hier auf einen Ort, der sich insbesondere der Geschichte der deutschen Teilung verschrieben hat. Sein Bericht handelt augenscheinlich von einem Besuch im „Zonengrenz-Museum Helmstedt“ in Niedersachsen, nicht weit entfernt vom Heimatort des Braunschweigers. 172 Das Museum scheint er bereits einige Jahre zuvor besichtigt zu haben, und trotz der recht großen zeitlichen Distanz benennt er den Besuch als Antwort auf die Frage, woher sein Wissen zur historischen Einordnung der Spielfilmhandlung stamme. Dieser Ort der institutionalisierten Geschichts- und Erinnerungskultur habe ihm einen Eindruck der innerdeutschen Grenze vermitteln können und „so paar Stories so paar äh Plakate aber auch Ausstellung von (.) Bewohnern“ präsentiert. Sein Bericht über „Helmstedt“ ist von einer Schilderung einer Zeitzeuginnenerzählung unterbrochen, doch in der zweiten Hälfte der Sequenz gibt er auf Nachfrage nochmals seine Erinnerungen an den Ort wieder. Auffällig ist dabei, dass er sich insbesondere auf historische Objekte bezieht und vor allem „paar (.) Grenzanlagen, paar Fahrzeuge, paar Klamotten“ hervorhebt. Sein Interesse an diesem Ort beruht vor allem auf der Möglichkeit, authentische Objekte wie diese sehen und auf diesem Wege die deutsche Zeitgeschichte erfahren zu können. Cem schildert detailreich seinen Besuch eines Museums und wohl auch einer historischen Gedenkstätte, jedenfalls seine Eindrücke von historischen Orten, die ihm die Geschichte der deutschen Teilung vermittelt haben. Es scheint so, als könnte er sich nach wie vor die besuchten Orte lebhaft vergegenwärtigen. Er hat ungeachtet der großen zeitlichen Distanz zum Besuch Erinnerungen an die an diesen Or172 Es ist an dieser Stelle nicht eindeutig zu bestimmen, ob er nur von diesem Museum erzählt, oder ob er nicht auch über die „Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn“ berichtet. Beide Institutionen bilden gemeinsam mit noch existierenden DDRGrenzanlagen, die in Hötensleben an der ehemaligen innerdeutschen Grenze im heutigen Sachsen-Anhalt zu besichtigen sind, ein Ensemble historischer Orte, das auch als solches beworben wird. Im Rahmen der „Rundfahrt ‚Grenzenlos‘“ können Besucher*innen die ehemaligen Anlagen an der innerdeutschen Grenze besichtigen und so „Grenzgeschichte hautnah“ erleben. Siehe den Internetauftritt des Vereins „Grenzenlos – Wege zum Nachbarn e. V.“ unter http://www.zeitorte.de/die-zeitorte/gegenwartzukunft/grenzenlos-wege-zum-nachbarn-e-v.html (25.11.2016). Da in Helmstedt selbst keine Grenzanlagen zu besichtigen sind, das Museum mithin nur ein Modell dieser Anlagen ausstellt, und Cem aber lebhaft die Eindrücke davon schildert, könnte er auch über die „Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn“ oder die Anlagen in Hötensleben sprechen. Für die Relevanz dieser Orte im Zuge der Spielfilmrezeption ist diese Frage jedoch nicht entscheidend.

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ten ausgestellten Objekte, die ihm im Interview ins Gedächtnis kommen. Der Besuch des historischen Museums war für den Jugendlichen nachhaltig persönlich prägend, es handelt sich für ihn regelrecht um ein Erlebnis, bei dem er lebhafte Eindrücke zur deutschen Zeitgeschichte gewinnen konnte. Der augenfällige Unterschied dieses Erlebnisses im Vergleich zur Schule, die am Beginn der Sequenz erwähnt wird, vermittelt einen Eindruck, auf welche Weise Museen und Gedenkstätten Bedeutung für die Rezeption eines historischen Spielfilms erlangen können. Seine Erinnerungen sind sehr konkret – der Kontrast zur Schule, die von vielen Jugendlichen als ein zu abstrakter Zugang zur DDR-Geschichte beschrieben wurde, ist klar ersichtlich. Nicht umsonst grenzt er die Schule deutlich gegenüber dem Besuch eines historischen Ortes ab, der ihm „persönlich“ etwas bedeutet habe: Hier zeigt sich, dass dieser für ihn eine ganz andere Qualität aufweist, indem sein Erlebnis entgegen den Inhalten des Unterrichts eine individuelle, persönliche Relevanz für den Jugendlichen besitzt. Das am historischen Ort gemachte, persönlich bedeutsame Erlebnis spielt auch für die Filmrezeption eine Rolle. Es sind vor allem die im Museum und der Gedenkstätte gesehenen, authentischen Objekte, die für Cem den Anknüpfungspunkt zur Filmstory darstellen. Zwar bezweifelt er explizit einen direkten Bezug zwischen Museum und Spielfilm, „weil (im) Film wurden auch nicht die Grenzanlagen so gezeigt“, doch bezieht er letztlich das am historischen Ort Erlebte auf den „Turm“: Zunächst sorgt allein die gleiche Thematik der DDR, die er in Museum und Film gleichermaßen erkennt, für eine Verbindung („wo ich zuerst gehört habe DDR“). Diese erscheint jedoch nur sehr allgemein. Insbesondere die Wachtürme, die ein Teil der Sicherungsmaßnahmen an der innerdeutschen Grenze waren, setzt er in eine deutlich spezifischere Relation zum Fernsehzweiteiler, die sich auf dessen Titel bezieht. Cem habe sich „im Film […] auch selber gefragt, warum das überhaupt Turm heißt“, und seine erste Assoziation stellen in dieser Sequenz die Wachtürme der Grenzanlagen dar, die er in Helmstedt (und mutmaßlich Marienborn) besichtigt hatte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass diese nicht mit dem Titel des Films in Verbindung stünden, was mithilfe der zugehörigen Fernsehdokumentation aufgeklärt wurde. Dennoch deutet sich hier die Möglichkeit an, ein Erlebnis an historischen Orten der Lebenswelt mit dem Spielfilm unmittelbar zu verbinden, wenngleich es sich dabei letztlich um einen Trugschluss handelt, den der Jugendliche selbst erkennt. Wenn sich auch in dieser Sequenz zeigt, dass die inhaltlichen Bezüge zwischen dem Spielfilm und dem besuchten Museum zur Geschichte der deutschen Teilung nur sehr allgemein ausgeprägt sind, so wird doch die Bedeutung von Erlebnissen an Orten der Geschichts- und Erinnerungskultur für die Rezeption historischer Spielfilme grundsätzlich deutlich. Der Jugendliche schöpft sein Wissen zur Einordnung der Story nach eigener Aussage aus einem solchen Erlebnis, auch wenn sich dieses Erlebnis gar nicht unmittelbar in ein Verhältnis zur Filmstory setzen lässt. Vielmehr konnte er am historischen Ort eine Facette der DDR-Geschichte erfahren, die sich

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in das Bild des repressiven Systems eingefügt hat, das auch der Spielfilm vom ostdeutschen Staat zeichnet. Somit erkennt Cem, dass sein Erlebnis an einem historischen Ort und das im Film Erzählte kompatibel sind, und kann so die Authentizität des audiovisuell Dargestellten vermuten. Eine direkte Authentifizierung der Story ergibt sich daraus freilich nicht, doch der Eindruck aus Museum und Gedenkstätte zeigt sich anschlussfähig an die Filmstory und kann dadurch zumindest allgemein deren subjektiv wahrgenommene Authentizität stützen. Auch darüber hinaus werden Museen und Gedenkstätten in ihrer Funktion als Ressourcen der Authentifizierung in Gesprächen mit anderen jugendlichen Zuschauern*innen erkennbar. Beispielsweise verweist der Magdeburger Tim auf einen Besuch der „Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn“. Dieser Besuch fand mit einer US-amerikanischen Austauschklasse statt. Die US-amerikanischen Jugendlichen seien dabei besonders beeindruckt davon gewesen, zu sehen, dass die Geschichte „wirklich“ so passiert sei.173 Auch das von Tim geschilderte Erlebnis wird jedoch nicht direkt zur Authentifizierung der Story herangezogen, da das Erlebte nicht unmittelbar in der Filmhandlung repräsentiert ist. Gedenkstätte und Film teilen sich vielmehr dasselbe historische Thema, die DDR, und stehen aus diesem Grund für den Jugendlichen ganz selbstverständlich in einer Beziehung zueinander. Doch wenn der Besuch der Gedenkstätte auch nicht als Argument für die Authentizität des Spielfilms dient, so scheint doch die Sichtbarmachung historischer Ereignisse und Gegebenheiten sowie die Vergewisserung über deren Tatsächlichkeit an historischen Orten wie der Gedenkstätte für Jugendliche allgemein einen ganz besonderen Stellenwert zu besitzen. Ein besonders deutliches Beispiel dafür, wie die lokale und regionale Geschichts- und Erinnerungskultur in authentifizierender Funktion betrachtet werden kann, liefert die Braunschweigerin Tanya. Bemerkenswert an diesem Ausschnitt ist schon allein die Tatsache, dass sie noch im Rahmen der Filmnacherzählung, also ganz am Beginn des Interviews, auf eine Gedenkstätte zu sprechen kommt: TA: […] ja (.) und als er dann seine Mutter gesehen hat und die dann halt so auseinandergerissen wurden, und ähm auch diese (.) Polizei da mit ihren Schilden ankam, da kriegt man glaube auch Angst. also (.) //mhm// ich war auch in (1,5)

ich war

auch in Magdeburg, in:: (.) in diesem Stasiknast, da hat man richtig diese Rüstung gese- °äh diese Rüstung sage=ich schon ähm° (.) na gut, es sieht ja eigentlich auch aus wie so eine Rüstung, //mhm// weil die haben sich ja wirklich komplett schützen können dann hatten sie diese Schlagstöcke, und ähm (.) ja. (.) n- jetzt steht man davor un- unbewaffnet, ohne alles, und ähm auf einmal kommt dann jemand auf einen zu und bedroht einen dann so; das muss schon ziemlich krass sein, weil ähm keiner: von diesen Leuten, die sich dagegen gewehrt haben also die so protestiert haben, haben eigentlich (.) vorgehabt, irgendwen zu 173 Vgl. Aufnahme TI, MD, Min. 37:45.

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verletzen damit, was sie tun. sie wollten einfach nur frei sein und ähm hatten einfach nur noch die Nase voll von diesem (.) von diesem Eingesperrtsein […] 174

Tanya erzählt in dieser Passage von der Demonstration am Dresdner Hauptbahnhof, bei der im Spielfilm „Der Turm“ die zwei Protagonisten*innen, Mutter und Sohn, in verschiedenen Rollen aufeinandertreffen. Während der Wehrpflichtige zur gewaltsamen Räumung des Bahnhofs eingesetzt wird, sieht sich seine Mutter als Demonstrantin einer bewaffneten Staatsmacht gegenüber, die mit Schilden und Knüppeln gegen die protestierenden Bürger*innen vorgeht. Tanya bezieht sich mit dem Begriff „Stasiknast“ in Magdeburg sehr wahrscheinlich auf die „Gedenkstätte Moritzplatz“. Dabei handelt es sich um eine ehemalige Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Gedenkstätte will die „Erinnerung an die Opfer dieser Diktatur“ am historischen Ort wach halten und kann von Besuchern*innen seit 1990 besichtigt werden.175 Diesen für die lokale und regionale Geschichts- und Erinnerungskultur bedeutsamen Ort hat Tanya eine unbestimmte Zeit vor dem Sehen des Films besucht. Die ausgesprochene Besonderheit dieser Sequenz besteht in der äußerst engen Verbindung zwischen dem Erzählen der Filmstory und einer Ressource der Lebenswelt, die Tanya hier sprachlich etabliert. In ihre Erzählung des Filmgeschehens integriert sie eine Erfahrung, die sie in der Gedenkstätte gemacht hatte. Es sind die Kampfwerkzeuge der Polizisten im Spielfilm, die Tanya mit ihrem Besuch „in diesem Stasiknast“ in Magdeburg in Verbindung bringt. Sie erzählt zunächst von der Filmszene, als „diese (.) Polizei da mit ihren Schilden ankam“, und zeichnet ein äußerst lebhaftes Bild von den Geschehnissen im Spielfilm. Dabei versucht sie auch, die Gefühle der Protagonistin, die sich der bewaffneten Staatsmacht gegenübersieht, nachzuvollziehen. In diesem Ansinnen fällt auf: Tanya versucht nicht nur, die Perspektive der Filmfigur zu verstehen, sondern betrachtet die Ereignisse auch aus ihrer eigenen Sicht: „da kriegt man glaube auch Angst.“ Im Ausdruck „man“ dokumentiert sie die Anschlussfähigkeit der Filmstory an ihre eigene Lebenswelt. Diese Perspektivübernahme, das heißt die Übertragung der Filmhandlung auf die eigene Person, und der Versuch, das Gesehene persönlich nachzuvollziehen, beruhen in dieser Sequenz auf dem Erlebnis in der Gedenkstätte. Dort hat Tanya „richtig diese Rüstung gese-[hen]“, die sie auch im Film wiedererkennt. Die eindringliche Empfindung von der Ohnmacht der Bürger*innen gegenüber den bewaffneten, geradezu durch eine „Rüstung“ geschützten Vertretern des DDRRegimes, die sie in der Gedenkstätte gewonnen hat, kann sie direkt in eine Verbin174 Transkript TA, BS, Z. 24-36. 175 Siehe Internetauftritt der „Gedenkstätte Moritzplatz“ in Magdeburg, online unter http: //www.magdeburg.de/index.php?object=tx%7C37.6876.1%7C&ModID=9&FID=37.48 3.1&NavID=37.367 (28.11.16).

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dung zum Film setzen. Dass sie diese Verbindung von filmexterner Erfahrung und Story noch während der Nacherzählung herstellt, verdeutlicht, dass das Erlebnis am historischen Ort für sie offenbar so bedeutsam war, dass sie es eigenständig und ohne einen äußeren Impuls auf die Filmhandlung bezieht. Gerade im Vergleich zu den beiden vorherigen Beispielen zeigt sich an dieser Sequenz zweierlei: Erstens stellt die Jugendliche hier einen ganz unmittelbaren Bezug zwischen ihrem Erlebnis in der Gedenkstätte und der Filmstory her. Dieser Bezug erscheint keineswegs nur allgemein und vage, als dass hier wie dort DDRGeschichte thematisiert wird. Vielmehr kann Tanya ein Narrativ des Films unmittelbar auf die Eindrücke beziehen, die sie in der Gedenkstätte selbst gewonnen hat. Darin liegt natürlich ein erhebliches Potential zur Authentifizierung des Filmhandlung: Wenn die Zuschauerin das, was sie in einer Gedenkstätte sieht, direkt im Film wiedererkennen kann, dann dient ihr der Besuch eines historischen Ortes zur Authentifizierung des Films. Gedenkstätten sind Orte der Geschichts- und Erinnerungskultur, die über die Authentizität des Ereignisortes, in diesem Fall einer Untersuchungshaftanstalt des MfS, aber auch über die Inszenierung dieses Ortes als Gedenkstätte einen hohen Status historischer Authentizität besitzen. Wenn Tanya das dort Gesehene in einer fiktionalen Erzählung wie dem „Turm“ wiedererkennt, dann versichert sie dieses Wiedererkennen der Authentizität der Audiovision. Somit zieht sie die Erlebnisse in der Gedenkstätte als Authentifizierungs-Ressource heran, und anhand der sprachlichen Ausgestaltung ist erkennbar geworden, wie individuell bedeutsam und lebensweltlich verankert diese Ressource tatsächlich ist. Zweitens zeigt sich, dass es vor allem die historischen Objekte in der Gedenkstätte sind, die im Zuge der Filmrezeption relevant werden.176 In diesem Beispiel sind es die Schlagstöcke, Schilde und Rüstungen der Polizei, die die Jugendliche als authentische Quellen der DDR-Geschichte in der „Gedenkstätte Moritzplatz“ gesehen hatte. Diese Objekte erkennt Tanya in der Erzählung des Spielfilms wieder. Im Wiedererkennen der Objekte liegt in diesem Fall das Potential, das diese für die Authentifizierung der historischen Erzählung des Spielfilms besitzen. Dass dies als ein Charakteristikum der Authentifizierungs-Ressource gelten kann, macht der Vergleich der Sequenzen sichtbar: Bereits bei Cem waren es die authentischen Objekte des historischen Ortes, die für ihn von größter Relevanz waren, und die er auf den Spielfilm bezogen hatte. Für ihn stellten die „paar (.) Grenzanlagen, paar Fahrzeuge, paar Klamotten“ die wesentlichen Exponate des Museums und der Gedenkstätte dar. Damit deutet sich als Muster an, dass die Authentifizierungs-Ressource der historischen Museen und Gedenkstätten wohl vor allem durch die Authentizität der zu erlebenden Objekte eine Funktion bei der Authentifizierung des historischen Spielfilms einnimmt. Dass diese Objekte und Örtlichkeiten in Mu176 Die Bedeutung der in der Gedenkstätte gesehen Objekte geht auch aus einer weiteren Sequenz des Interviews hervor: vgl. Transkript TA, BS, Z. 210-236.

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seen und Gedenkstätten körperlich und visuell unmittelbar erfahrbar sind, steigert den Erlebnischarakter des Besuchs dieser historischen Orte und trägt auch zu deren Bedeutung als Authentifizierungs-Ressource erheblich bei, wie sich an der Lebhaftigkeit der Schilderungen sehr deutlich ablesen lässt. Um es mit den theoretischen Werkzeugen dieser Arbeit zu fassen: Dass gerade die historischen Objekte von besonderer Bedeutung scheinen, mag kein Zufall sein. Vielmehr scheint vor allem die eigene Authentizität dieser Objekte in der Präsentation der Gedenkstätten und Museen dafür mitverantwortlich zu sein. Sie sind im Sinne der vorgeschlagenen Terminologie als quellenauthentisch zu bezeichnen, stellen sie doch augenscheinlich original überlieferte Zeugnisse der am historischen Ort zu besichtigenden Zeit dar. Diese Quellenauthentizität der ausgestellten Objekte – darauf deuten die analysierten Passagen hin – scheint sich auf den Spielfilm zu übertragen, der auf der Grundlage des Wiedererkennens solcher Objekte aus der Perspektive der Jugendlichen zu einer authentischen Darstellung wird. An der Authentifizierungs-Ressource der historischen Museen und Gedenkstätten wird sichtbar, wie die lokale und regionale Geschichts- und Erinnerungskultur auch für die Rezeption von Fernsehproduktionen wie den „Turm“ Bedeutung erlangen können. Die Lebenswelt, die die Jugendlichen umgibt, wird dabei für die Authentifizierung des im Spielfilm Gesehenen herangezogen. Darin drückt sich erneut aus, dass im Speziellen die Rezeption historischer Erzählungen einen Prozess der Aneignung darstellt, bei dem Phänomene der Lebenswelt in eine Beziehung zum historischen Medium gesetzt werden und diese in eine Interaktion treten. Abschließend ist zur Einordnung dieser Authentifizierungs-Ressource der historischen Museen und Gedenkstätten zu sagen, dass deren Relevanz im Hinblick auf das gesamte Sample der Studie durchaus begrenzt ist. Nur wenige Jugendliche erwähnen derartige Erfahrungen und beziehen sie auf den Film. In qualitativer Hinsicht hat sich jedoch gezeigt, dass in den analysierten Fällen die Erlebnisse an historischen Orten durchaus eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Jugendlichen besitzen. Die Ressource ist zwar deutlich seltener in den Daten zu finden als beispielsweise die Verweise auf die Schule und den Unterricht, kann aber aufgrund des besonderen Charakters der gemachten Erfahrungen individuell durchaus von größerer Bedeutung sein. Lebensweltliche Kommunikationen als Authentifizierungs-Ressourcen Den wichtigsten Teil der Lebenswelt der Jugendlichen stellen jedoch nicht die Institutionen der Geschichts- und Erinnerungskultur dar; auch sind es nicht die verschiedenen Medien, die deren Zentrum bilden. Den bedeutsamsten Teil der Lebenswelt formiert die Sozialwelt, von der die Jugendlichen umgeben sind. Damit rücken zuletzt all jene Authentifizierungs-Ressourcen in den Blick, die sie aus kommunikativen Interaktionen mit den Menschen ihrer sozialen Umwelt ziehen.

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Ich werde zum Abschluss der Betrachtung aller Ressourcen zwei Formen der interpersonalen Kommunikation verhandeln, die sich in einem spezifisch historiographischen Kriterium voneinander abheben: es sind dies einerseits Gespräche mit Zeitzeugen*innen, die die Geschichte der DDR und der deutschen Teilung selbst erlebt haben, und die den jugendlichen Rezipienten*innen von ihren Erfahrungen berichten. Diese Zeitzeugen*innen verfügen über Erfahrungen, die sie in der Zeit der deutschen Teilung gemacht haben. Einige der Zeitzeugen*innen haben in der Bundesrepublik, andere in der DDR gelebt, und verfügen somit über sehr unterschiedliche Erfahrungen und Erlebnisse. In großer Fülle zeigt sich, dass die jugendlichen Zuschauer*innen wiederum über einen enormen Fundus an Zeitzeugen*innenBerichten verfügen und auf diesen zugreifen, um das Gesehene zu rezipieren. Dies dient ihnen zur Einschätzung des im Film Gesehenen und macht die Zeitzeugen*innen in der individuellen Lebenswelt der jugendlichen Rezipienten*innen zu einer enorm wichtigen Ressource der Authentifizierung. Andererseits sind es Gespräche mit Gleichaltrigen, die die Jugendlichen führen und die sich auf den Spielfilm und das Medien-Event „Der Turm“ beziehen. In diesen Gesprächen blicken die Teilnehmer*innen der Studie und ihre Freunde, Bekannten und Partner*innen aus derselben Perspektive auf den Film, in dem eine für sie ferne Vergangenheit dargestellt wird. Fern ist die erzählte Zeit des Films für sie aus einem Mangel der eigenen Erfahrung heraus, schließlich sind die Jugendlichen und ihre gleichaltrigen Gesprächspartner*innen allesamt nach dem Ende der DDR geboren worden. Sie verfügen über keine eigenen historischen Erfahrungen, sodass die im Spielfilm erzählte Geschichte für sie nicht unmittelbar mit der eigenen Erfahrung vergleichbar wäre. Ein Beispiel dafür bietet sich im Interview mit Tim, der über einen Akt der „mediatisierten interpersonalen Kommunikation“177 mit seiner Freundin nach dem Ansehen des „Turms“ berichtet: I: Ähm hast du (.) nach dem Film mit irgendjemandem drüber gesprochen? TI: Ähm ja, ich hab °geschrieben mit jemandem,° //mhm// ähm (.) genau und sie meinte also ich hab halt ein bisschen beschrieben worum=es geht, was für=ein Thema I:

└Mit wem?

TI:

└ist. äh:::┘ meiner

Freundin. @(.)@ I:

└@(.)@

TI: Ja; ähm (.) und sie meinte oh, das ist interessant, müssen wir unbedingt mal gucken, ja? und ähm:: (.) ja das es wirklich ähm:: interessant ist, und sie meinte auch °dass äh so realistische Sachen jetzt interessanter für sie sind,° //mhm// (.) genau. ähm °ich glaub ihre

177 Siehe dazu Krotz, Friedrich: Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation (=Medien – Kultur – Kommunikation). Wiesbaden 2007. S. 177-212.

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Eltern kommen auch aus=dem Osten, wenn ich das:° (.) ja (.) irgendwie (.) ich will jetzt nichts Falsches sagen, @(.)@ @ich weiß es nicht genau.@ I:

└@(.)@┘

TI: ähm (.) ja aber ähm (.) diese Thematik, gerade weil sie jetzt auch hier ähm lebt, dass das einfach (.) wenn man sich vorstellt, dass das heute auch noch so sein könnte, wenn es diese Wende jetzt nicht gegeben hätte, //mhm// ähm dass das immer noch irgendwie (.) dass dieser dieser Zug zur Allgemeinheit, dass man zusammen was schaffen kann, dass das immer wieder interessant ist. das fängt ja dabei an was weiß ich, wenn die Klasse mit=dem Lehrer nicht einverstanden ist, dass man dann äh als Allgemeinheit was=weiß=ich zehn Leute da hingehen und sagen hier funktioniert irgendwas nicht, //mhm// weil wenn einer hingeht dann heißt es immer, ach (.) guck mal bei den anderen passt es doch auch. //mhm// //mhm// so ungefähr. (.) genau das also fand sie auch sehr interessant. I: Sprecht ihr über solche Themen miteinander? TI: Ja also vom vom Film her sie hatte dann auch gleich einen Film geschrieben, °nun weiß ich den Titel jetzt aber nicht mehr° @(.)@ I: @(.)@ TI: Ähm der so mit so ähnlichen Thematiken ähm handelt oder oder das I:

└Worum ging=es?

TI: Ähm (.) ich glaube das hatte was (.) also das war jetzt äh nicht direkt mit der Wende, es war glaube=ich mit dem Zweiten Weltkrieg, ähm:::: (.) °es ging glaube=ich um fünf Personen, glaub zwei Juden, eine Künstlerin, eine Intelligente oder so,° ich weiß nicht mehr genau, //mhm// also fünf Personen auf alle Fälle, die diese Zeit unterschiedlich erleben, //mhm// und das ist halt (.) ähm da drauf so gefilmt wird, äh wie die das erlebt haben, wie die das auch überlebt haben, //mhm// (.) genau. Also sI: TI:

└Was hat sie┘ dazu gesagt? Also sie hat gesagt dass es ein absolut sehenswerter Film ist, @dass ich den mir

angucken soll.@ (.) genau, ja. also auch deutliche Empfehlung für sowas. I: Guckt ihr sowas auch zusammen? TI: Haben wir bisher noch nicht gemacht, aber äh (.) ich hab gesagt wenn da was kommt, @dann sollten wir=es vielleicht zusammen gucken.@ I: @(.)@ TI: Genau.178

In dieser Passage sind bereits wesentliche Aspekte enthalten, die die Rolle von gleichaltrigen Freunden*innen, Bekannten und Partnern*innen für die Rezeption des Spielfilms charakterisieren. Tim erzählt, dass er sich mit seiner Freundin über den „Turm“ ausgetauscht habe. Diese Form interpersonaler Kommunikation scheint über ein Medium stattgefunden zu haben und wird daher von Kommunikationswis-

178 Transkript TI, MD, Z. 106-167.

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senschaftlern*innen als „mediatisiert“ bezeichnet.179 Dass hierbei „geschrieben“ wurde, legt die Vermutung nahe, dass er sich mit seiner Freundin über einen Kurznachrichtendienst wie „Whatsapp“ zum Film ausgetauscht hat. Den Einstieg ins Gespräch über den ARD-Zweiteiler schien die Thematik geboten zu haben, die Tims Freundin „interessant“ genug fand, um sich ausführlich darüber auszutauschen und auch zu äußern, dass sie zusammen den Film „unbedingt mal gucken“ müssten. Darin zeigt sich zunächst ganz grundsätzlich, dass Filme wie der „Turm“ bei Jugendlichen durchaus auf Interesse stoßen und dass das Medium der historischen Audiovision nicht nur individuell, sondern auch gemeinschaftlich in der Gruppe Gleichaltriger kein ganz ungewöhnliches Gesprächsthema ist. Dass sie sich angeregt über einen historischen Spielfilm unterhalten können, macht deutlich, dass diese Art, Geschichte darzustellen, in der Altersgruppe erfolgreich sein kann. Ein wesentlicher Grund für dieses Interesse am Film, das die beiden dokumentieren, scheint der Bezug zur Geschichte zu sein, den die Filmstory aufweist. Einerseits begründet Tim, „°dass äh so realistische Sachen jetzt interessanter für sie sind,°“. Der Realismus fiktionaler historischer Erzählungen stellt für seine Partnerin einen Grund dar, sich Filmen wie dem „Turm“ zuzuwenden, gerade in Abgrenzung zu phantastischen Erzählungen wie etwa Science-Fiction-Filmen. Andererseits setzt der Jugendliche den Realismus in Spielfilmen zusätzlich in eine Beziehung zu den Eltern seiner Freundin, die mutmaßlich „auch aus=dem Osten“ kämen. Zwar ist er sich dieses Faktums keineswegs sicher, aber als weiterer Grund für das Interesse am Film wird damit dessen Anschlussfähigkeit an die eigene Familiengeschichte deutlich. Dass sie sich also für Filme interessieren, die „realistische Sachen“ erzählen und zugleich an die Vergangenheit ihrer Familienmitglieder anschließen, begründet das Interesse am historischen Spielfilm, verdeutlicht darüber hinaus aber auch: Wenn Realismus und historische Thematik für sie die wesentlichen Qualitäten des Spielfilms bilden, dann stellt die Authentizität des Gesehenen einen zentralen Aspekt für die beiden Jugendlichen dar. In der Folge wird jedoch deutlich, dass es Tim im Gespräch mit seiner Freundin zwar durchaus um die Authentizität, aber nicht um die Begründung für die Authentifizierung des Gesehenen geht. Tim spricht über die Thematik des Films unter dem Rubrum der „realistische[n] Sachen“, er legt damit den Status des Erzählten als authentisch fest. Es findet sich allerdings keine Passage der Argumentation für diese Zuschreibung, die die Filmstory als historisch glaubwürdig charakterisiert und dafür Argumente liefert. Vielmehr scheint es so, als sei die Authentizität des Gesehenen eine unausgesprochene Vorannahme im Gespräch der beiden. Sie fragen sich nicht, ob das Gesehene eine authentische Darstellung der DDR sei, sie gehen stattdessen gemeinsam davon aus, dass es sich um eine solche handelt. Insofern ist das Gespräch mit seiner Partnerin für Tim ein Gespräch über einen authentischen Spiel179 Siehe u.a. Krotz 2007.

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film, der die Geschichte der DDR darstellt, die zudem an die Familiengeschichte anschlussfähig ist. Es handelt sich für ihn jedoch nicht um eine Ressource, die zur Authentifizierung der filmischen Erzählung herangezogen wird. Anstelle eines Nachdenkens oder Argumentierens für die Authentizität des Gesehenen tritt die Übertragung der historischen Story auf alltagsweltlich relevante Begebenheiten in der Gegenwart der Jugendlichen: Tim projiziert die Ereignisse der „Wende“ im Film, bei denen die „Allgemeinheit“ mit der Stärke der Gemeinschaft ein unterdrückerisches System überwinden konnte, auf eine Situation in seinem eigenen Leben: „wenn die Klasse mit=dem Lehrer nicht einverstanden ist, dass man dann äh als Allgemeinheit was=weiß=ich zehn Leute da hingehen und sagen hier funktioniert irgendwas nicht,“. Damit wird ein Handlungsmuster, das der jugendliche Zuschauer in der filmischen Darstellung der „Friedlichen Revolution“ erkennt, auf eine für ihn alltagsweltliche Situation übertragen. Hier handelt es sich also um einen dezidierten Akt der Spielfilmaneignung, bei dem alltägliche Lebenswelt und filmische Erzählung vom Rezipienten in eine unmittelbare Beziehung zueinander gesetzt werden. Nicht die Authentifizierung, sondern das In-Beziehung-Setzen der dargestellten Handlung mit der eigenen Lebenswelt stellt für den Jugendlichen somit den Kern seines Rezeptionshandelns in diesem Kontext dar. Auch das Sprechen über einen weiteren historischen Spielfilm, für das der „Turm“ einen Impuls für die beiden Jugendlichen bildete, ist letztlich auf deren gegenwärtiges Handeln gerichtet. Tims Freundin habe ihm von einem Film erzählt, an dessen Titel er sich jedoch nicht mehr erinnere. Dieser Film erzähle die Geschichte von „also fünf Personen auf alle Fälle“ zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, „wie die das erlebt haben, wie die das auch überlebt haben,“. Unschwer ist zu erkennen, dass es sich um den ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ handeln muss, ebenfalls ein fiktionales TV-Event in öffentlich-rechtlicher Verantwortung. Wenn sich „Der Turm“ und jene Produktion auch in der erzählten historischen Thematik unterscheiden, so zeigt sich doch auch dem Weltkriegs-Dreiteiler gegenüber ein Rezeptionshandeln, das die Authentizität der Erzählung implizit annimmt, statt sie explizit argumentativ zu begründen. Auch bezüglich des Spielfilms „Unsere Mütter, unsere Väter“ verhandeln die Jugendlichen nicht über die Authentizität des Gesehenen, sodass sich zumindest für dieses Beispiel zeigt, dass der Austausch zwischen den beiden nicht als Ressource der Authentifizierung gelten kann. Vielmehr besitzt auch das Sprechen über diesen Film eine alltagsweltliche Relevanz, insofern sie sich darüber verständigen, den Film gemeinsam zu sehen. Diese Verabredung weist eine weitaus größere Bedeutung für das Verhältnis der Jugendlichen zueinander, die zukünftige Qualität ihrer Beziehung und ihren gemeinsamen Alltag auf, als für die Frage nach der Authentizität der beiden Spielfilme. Im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Passage spricht Tim noch über weitere Gesprächspartner zum „Turm“:

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I: Okay, äh sprichst du noch mit jemand anderem drüber, also beispielsweise ist das im Freundeskreis ein Thema? TI: Ja; mit wem hatte ich denn darüber gesprochen? ähm::: mit meinem Bruder hatte ich auf alle Fälle schon mal drüber gesprochen, //mhm// ich glaub der hatte den Turm damals mit geguckt, //mhm// (.) °das weiß ich nicht mehr genau, aber° (.) könnte gut sein auf alle Fälle, das Leben der Anderen hat er auf alle Fälle mit geguckt, (.) //mhm// genau und er fand er fand=es auch gut. also ähm (.) I: Der ist ein jüngerer Bruder hattest du gesagt? TI: Ja der ist vierzehn jetzt, //mhm// genau. ja ähm der hat auch gesagt, dass es wirklich sehenswert ist, und dass man äh diese Dinge so (.) ja ähm sonst nicht begreifen könnte quasi, //mhm// dass es schon wichtig ist, dass das auch in den Medien so dargestellt wird, //mhm// ähm (.) heute noch. also (.) es kann ja sein, dass man das zehn Jahre danach //mhm// und dann verschwindet das langsam von der Bildfläche, aber (.) der Turm ist ja relativ neu, also (.) 2012 oder sowas irgendwie, //mhm// ja glaube=ich stand irgendwie da, genau ähm (.) also dass das nicht wirklich jetzt ein Film ist, von ein paar Jahren danach, //mhm// sondern dass immer wieder sowas noch gedreht wird, ich denke auf keinen Fall, dass das jetzt der letzte Film war, der darüber gemacht wurde, //mhm// wird immer wieder Filme geben, und dass es auch wichtig ist, dass das ähm den Generationen so (.) gezeigt wird.180

Auch mit seinem jüngeren Bruder hatte sich Tim also über den „Turm“ ausgetauscht. Ebenfalls wird hier sichtbar: Zur Frage nach der Authentizität des Gesehenen liefert ihm dieses Gespräch keine Anhaltspunkte. Stattdessen verhandelten die beiden Brüder über die grundsätzliche Qualität des Films und waren sich einig darüber, dass der ARD-Zweiteiler „sehenswert“ sei. Diese mehrfach geäußerte Position („er fand=es auch gut“) zeigt, welchen Mehrwert Tim aus dem Gespräch mit seinem jüngeren Bruder zu erwarten hat. Zur Authentifizierung der Erzählung kann ihm sein jüngerer Bruder keine Anhaltspunkte liefern. Die positive Haltung gegenüber dem historischen Spielfilm speist sich keineswegs aus einer Auseinandersetzung mit dessen filmischen Qualitäten oder der Frage, wie authentisch die Story erzählt sei, sondern aus einem gegenwärtigen Bedürfnis nach historischer Aufklärung. Weil „man äh diese Dinge so (.) ja ähm sonst nicht begreifen könnte quasi“, sei es „schon wichtig […], dass das auch in den Medien so dargestellt wird, //mhm// ähm (.) heute noch.“. Hierin gleichen sich die Brüder ungeachtet des Altersunterschiedes – beiden ist nicht daran gelegen, über die Authentizität des Films zu verhandeln, vielmehr begeben sie sich in eine passive Haltung, in der sie vom Film über die Geschichte aufgeklärt werden, die ihre Eltern selbst erlebt haben. Auch dieses Gespräch mit einem Nicht-Zeitzeugen über den Film liefert dem jungen Zuschauer also keine Argumente für die Authentifizierung des Spielfilms. 180 Transkript TI, MD, Z. 169-190.

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Als Authentifizierungs-Ressource sind beide Beispiele für Gespräche mit Gleichaltrigen, sowohl der Austausch mit seiner Freundin als auch mit dem jüngeren Bruder, für Tim nicht einzuschätzen. Vielmehr kann festgehalten werden: Gleichaltrige oder jüngere Gesprächspartner stellen für Tim durchaus eine sozialweltliche Umgebung dar, die für die Rezeption eines historischen Spielfilms Relevanz besitzt – allein für die Authentifizierung werden diese Kommunikationen nicht herangezogen. Anders formuliert: Der Rezeptionsprozess ist für Tim auch durch Gespräche mit Gleichaltrigen geprägt, die insbesondere die Bedeutung des Gesehenen für die gegenwärtige Lebenswelt herausstreichen. Zur Einschätzung der Authentizität des Gesehenen dienen ihm die Gespräche jedoch nicht. Im Datenmaterial zeigen sich weitere Stellen, die die Bedeutung von Kommunikationen mit Gleichaltrigen, meist Schulfreunden*innen der Interviewpartner*innen, untermauern. Darunter finden sich ganz ähnliche Sequenzen wie die analysierte, in denen die Jugendlichen berichten, dass sie mit Freunden*innen über den „Turm“ gesprochen haben, daraus jedoch keine Argumente für dessen Authentizität ableiten konnten. In einer kurzen Passage aus dem Interview mit der Magdeburgerin Larissa, die sogar mit dem zuvor zitierten Tim gesprochen hatte, deutet sich an, worin der Grund dafür liegen könnte: I: Ähm (.) hast du nachdem wir den Film geschaut haben mit irgendjemandem darüber gesprochen? LA: °ähm (.) (nur) mit ein paar Leuten,° also wenig. //mhm// ja? I: Aha. Mit wem und was habt ih- worüber hast du gesprochen? LA: Mit Tim181 zum Beispiel, wie er den Film fand; //mhm// (.) und (.) ja auch nicht viel nur (.) manche haben mich halt gefragt wie der Film war, (dann) hab ich halt kurz erzählt, worum=es ging, //mhm// @wie ich (es) vorhin schon gemacht habe@, ähm aber ja sonst nicht viel mehr. weil ich kannte ja eigentlich schon (.) so (.) viel was passiert ist in der DDR, so das ganze System, war mir ja schon bewusst, und ich denke auch vielen anderen Menschen in meiner Schule ist es bewusst oder meinen Freunden was da eben (.) halt vorgefallen ist, deswegen wollte ich=es jetzt nicht so ausführlich (.) @nochmal beschreiben,@ (war=es) jetzt für mich nichts Neues (wo=ich) gesagt habe (.) ha, das muss ich jetzt unbedingt ererzählen.182

Zunächst zeigt sich, dass die Teilnehmer*innen dieser Studie sich einerseits untereinander ausgetauscht haben, und dass andererseits auch weitere Gesprächspartner*innen auftreten. Sowohl mit Tim als auch mit „manche[n]“ anderen habe 181 An dieser Stelle wurde zum Zweck der Maskierung eine Veränderung im Transkript vorgenommen, um die Anonymität des Studienteilnehmers zu wahren, über den Larissa spricht. 182 Transkript LA, MD, Z. 155-170.

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sich Larissa darüber unterhalten, „wie der Film war“. Einen Unterschied zwischen Teilnehmern*innen und Externen weisen diese Gespräche jedoch augenscheinlich nicht auf. Als Begründung für die Kürze dieser Gespräche gibt Larissa an: „weil ich kannte ja eigentlich schon (.) so (.) viel was passiert ist in der DDR, so das ganze System,“. „[W]as da eben (.) halt vorgefallen ist,“, darüber wüssten sie und ihre Schulfreunde*innen gleichermaßen Bescheid, und insofern sieht sie keinen Anlass für ausführliche Gespräche über das im Zweiteiler Dargestellte. Darin kommt vor allem die Annahme einer Gleichheit des Wissens zum Ausdruck: Die Magdeburgerin erwartet nicht, dass sich aus Gesprächen mit ihren gleichaltrigen Mitschülern*innen wesentliche, neue Informationen für sie hätten ergeben können, die zum Verständnis des Gesehenen einen Beitrag hätten leisten können. Sie und ihre gleichaltrigen Gesprächspartner*innen befinden sich – so Larissas Annahme – hinsichtlich ihres Wissens auf der gleichen Stufe. Darin drückt sich ein fehlendes Potential für die Authentifizierung aus: Wenn ihre Freunde*innen und Bekannten über den gleichen Wissensstand zur Film-History verfügen, ergibt sich aus der Sicht der jugendlichen Zuschauerin aus Gesprächen mit ihnen kein Mehrwert, der die Frage nach der Authentizität beantworten helfen könnte. Dies kann erklären, warum für viele Jugendliche Gespräche mit anderen Jugendlichen keine Rolle als AuthentifizierungsRessourcen spielen. Dieser Befund mag auf den ersten Blick wenig überraschen. Welches zusätzliche Wissen sollen die anderen Jugendlichen auch einbringen können, das den Teilnehmern*innen eine Grundlage für die Authentifizierung bietet? Ebenfalls in den zuvor analysierten Sequenzen hatte sich ergeben, dass die Jugendlichen auf dem als gleich angenommenen Niveau des Wissens über den Film gesprochen haben. Vor diesem Hintergrund erkennen die Teilnehmer*innen der Studie kein Potential für die Authentifizierung der Filmstory, das sich aus Kommunikationen mit Gleichaltrigen ergeben könnte. Es finden sich weitere Stellen in den Interviews, wo Gespräche entweder aus Desinteresse am Thema zurückgewiesen werden183 oder zwar über den Film gesprochen wird, sich aber keine authentifizierende Funktion der Kommunikationen für die Rezipienten*innen ergibt184. Im Überblick bestätigt sich die aufgestellte These, dass die Jugendlichen in Kommunikationen nach dem Anschauen des Spielfilms durchaus gemeinschaftlich das Gesehene verhandeln und insofern die soziale Umgebung der Rezipienten*innen für die Rezeption eine wichtige Rolle spielt. Für die Authentifizierung jedoch leisten die Kommunikationen mit Gleichaltrigen eher keinen Beitrag und sind insofern überwiegend nicht als AuthentifizierungsRessource anzusehen. 183 Vgl. Aufnahme MO, BS, Min. 41:15 bis 42:05. 184 Vgl. Aufnahme DA, BS, Min. 16:10 bis 17:22.

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Doch ganz so eindeutig erscheint der Befund nicht, dass Kommunikationen mit Gleichaltrigen für die Authentifizierung des Films keine Relevanz besitzen. Eine Ausnahme stellt wieder einmal die Braunschweigerin Michaela dar, die über das Gesehene mit ihrem Freund gesprochen hatte. Dass dieser zur Zeit des Interviews einen freiwilligen Wehrdienst bei der Bundeswehr leistet, ist bereits in einem früheren Kapitel zur Sprache gekommen. In der folgenden Sequenz zeigt sich, dass ein Gespräch mit ihm als Authentifizierungs-Ressource zu bewerten ist: I: […] Warum hast du gerade mit der Bundeswehr zu tun? MI: Mein Freund ist jetzt bei der Bundeswehr seit (.) zweiten Januar, I: Achso okay. das war das mit Trennung (.) @(.)@ @okay@. MI:

└Und (.) ja genau.┘u:nd naja dadurch interessiert

mich das schon //mhm//, was er da so macht und (.) ja wie das auch früher so war, u:nd (.) na jetzt ist ja wirklich auf freiwilliger Basis und (.) naja der erzählt zum Beispiel, dass er irgendwie durch Pfützen da rennen muss, und also (.) krabbeln muss, und das kann ich mir nicht vorstellen, dass das jemand noch freiwillig macht, also ich würde niemals freiwillig sagen ja ich gehe zur Bundeswehr, mir macht das Spaß @durch so eine Pfütze zu gehen@ I: @(.)@ MI: Naja er hat dann aber wieder gesagt, naja, ich finde das schön, früher durfte ich das als Kind nicht, durch Pfützen laufen, jetzt darf ich das. mhm, schön. I: @(.)@ MI: Naja und dadurch fand ich das mit dem Film auch sehr interessant, weil (.) darüber habe ich noch nie so einen Film gesehen, so über die Volksarmee also (.) klar so Sonnenallee zum Beispiel zeigt ja sehr viel über die Jugendlichen und was die so für Musik gehört haben und wie sie mit den ganzen CDs oder Schallplatten aus äh aus dem Westen gedealt haben, und (.) das ist natürlich auch sehr spannend, aber ich fand das mit der Volksarmee auch sehr spannend, //mhm// deswegen hat mir der Film auch sehr gut gefallen. I: Was hast du was hast du mit deinem Freund darüber gesprochen? du hattest vorhin erwähnt, dass ihr euch unterhalten habt MI:

└Dass die da┘ so fertiggema:cht wu:rden. also der dickere Junge da

so fertiggemacht wurde, und dass die da auch generell äh sehr viel (.) härter drangenommen wurden also so angeschrien wurden die ganze Zei:t //mhm// u::nd (.) ja über die Betten habe ich auch noch gesprochen, die Betten sind ja solche Metallbetten gewesen, u:nd (.) das ist ja heute (auc-) also heute schon ein bisschen besser, also (.) er meinte, es ist immer noch äh relativ unbequem, aber es ist besser geworden, da habe ich gesagt nee also (.) in solchen Metallbetten das ist ja wirklich schon menschenunwürdig und ich kann mir wirklich sehr gut vorstellen, dass das wirklich so war, wenn nicht sogar schlimmer und (.) °darüber habe ich eigentlich mit ihm geredet,° //mhm// dass halt generell die Volksarmee wird da sehr

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menschenunwürdig vorgestellt, //mhm// und (.) das glaube ich aber auch, dass das wirklich so war früher.185

So wenig komplex die Schilderung des Gespräches auch erscheint, so sehr weist diese Sequenz doch ein enorm vielschichtiges Geflecht und Zusammenspiel mehrerer Authentifizierungs-Ressourcen auf, aus denen Michaelas Gespräch mit dem Partner heraussticht. Zunächst macht die Braunschweigerin deutlich, dass ihr Interesse für den Spielfilm „Der Turm“ maßgeblich darauf beruht, dass ihr Partner sich zurzeit in einer ähnlichen Situation befindet wie die jugendliche Hauptfigur – er leistet Wehrdienst. Zwar erkennt Michaela die unterschiedlichen Qualitäten dieses Dienstes an, wundert sich etwa lebhaft, „dass das jemand noch freiwillig macht“ wie ihr Freund, der im Gegensatz zur Hauptfigur des Films keiner Wehrpflicht unterliegt. Dennoch sind die ähnlichen Verhältnisse der beiden, der fiktiven Figur im Film und ihrem Freund in ihrer Lebenswelt, Ausgangspunkt für das große Interesse am TV-Event. Zugleich stellt die Rezipientin darüber ein Verhältnis zwischen der erzählten, historischen Zeit, und ihrer erlebten, gegenwärtigen Alltagswelt her. „[W]as er da so macht und (.) ja wie das auch früher so war“ – Filmstory und Lebenswelt stehen für sie in einer engen Beziehung zueinander. Dass „Der Turm“ für Michaela ein ganz besonderer Film unter den historischen Spielfilmen zur DDR ist, zeigt sie im Vergleich zu Leander Haußmanns „Sonnenallee“, den sie ebenfalls gesehen hat. Obwohl dieser Film sogar aus der Perspektive von „Jugendlichen“ in der DDR erzählt, für die Zuschauerin also durchaus anschlussfähig sein könnte und Identifikationspotential bietet, unterscheidet sich doch ihre persönliche Involviertheit im Vergleich zum ARD-Zweiteiler. Durch die ganz aktuellen Erfahrungen ihres Partners beim Militär ist ihr die Filmstory um den jungen Rekruten Christian Hoffmann so nahe, dass sie diesen Teil der Story in großer Detailliertheit schildert. Das Gespräch mit ihrem Freund über den Film scheint sich auf mehrere Aspekte des Lebens beim Militär bezogen zu haben. Michaela hebt den Drill in der Armee hervor („└Dass die da┘ so fertiggema:cht wu:rden“), geht auf die karge Ausstattung in der Kaserne ein („Metallbetten“) und spricht letztlich über die moralischen Implikationen des Umgangs mit den Rekruten*innen, den sie für „menschenunwürdig“ hält. In diesen Punkten setzt sie auf der Basis des Gespräches mit ihrem Freund die Handlung des Spielfilms direkt in ein Verhältnis zu den von ihm berichteten Erfahrungen. Es ist der Vergleich auf dieser Grundlage, der ihr zuletzt ein abschließendes Urteil darüber erlaubt, inwiefern die Darstellung der Verhältnisse bei der „Volksarmee“ authentisch ist. Ihre Zuschreibung fällt zum Abschluss der Sequenz indes eindeutig aus: „und (.) das glaube ich aber auch, dass das wirklich so war früher.“ 185 Transkript MI, BS, Z. 204-247.

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Hier kommen mehrere Authentifizierungs-Ressourcen zum Tragen, die bereits Erwähnung gefunden hatten. Unschwer zu erkennen ist der Bezug auf andere historische Audiovisionen, in denen ebenfalls ein Bild der DDR gezeichnet wird, das wie der Spielfilm „Sonnenallee“ in diesem Beispiel mit dem Bild im „Turm“ vereinbar ist. Darüber hinaus handelt es sich aber um ein komplexes Zusammenspiel: Einerseits scheinen die Ähnlichkeiten zwischen den Berichten ihres Freundes zu den Geschehnissen bei der NVA im Film für Michaela authentifizierend zu wirken, insofern sie auf dieser Grundlage die Story um Christian Hoffmanns Erlebnisse bei der NVA für glaubwürdig hält. Vor allem die kärgliche Ausstattung, die sie anhand der „Metallbetten“ verdeutlicht, sieht Michaela auch bei der Bundeswehr als gegeben an, sodass sie die Verhältnisse bei der dargestellten NVA für authentisch dargestellt hält. Andererseits unterscheiden sich die historische Armee und jene der Gegenwart jedoch in Michaelas Beschreibung insbesondere im Umgang mit den Rekruten*innen und der Frage, inwieweit dies als „menschenunwürdig“ zu bezeichnen sei. In diesen beiden Punkten ist es paradoxerweise gerade die Wahrnehmung einer Differenz zur Gegenwart, die gleichsam als Authentifizierungs-Ressource sichtbar wird. Nicht obwohl, sondern weil die Abiturientin diese Darstellung als deutlichen Kontrast zu den Erzählungen ihres Freundes bei der Bundeswehr wahrnimmt, hält sie die Darstellung der NVA im Film für authentisch. In dieser letzten Sequenz wird klar erkennbar, dass Michaela das Gespräch mit ihrem Partner als eine Ressource zur Authentifizierung des Spielfilms dient. Die Frage, die sich folglich stellt, lautet: Wie unterscheidet sich dieses Gespräch von all den zuvor behandelten Kommunikationen mit Gleichaltrigen in der alltäglichen Lebenswelt der Jugendlichen? Aus welchem Grund handelt es sich hier um eine Authentifizierungs-Ressource, während die anderen Gespräche zwar für die Rezeption des Films durch die Jugendlichen durchaus Relevanz aufwiesen, aber eben nicht zur Authentifizierung der Story herangezogen wurden? Die Erklärung für die unterschiedliche Rolle, die hier der Partner der Rezipientin, dort die anderen Gespräche mit Freunden*innen, Mitschülern*innen, Bekannten und jüngeren Familienmitgliedern gespielt haben, liegt meines Erachtens zunächst in der Exklusivität des Wissens der jeweiligen Gesprächspartner*innen begründet. Zuvor hatte sich gezeigt, dass die Jugendlichen sich auf dem gleichen Wissensstand wie ihre Mitschüler*innen wähnen oder sich tatsächlich kein „Mehr-Wissen“ ihrer Gesprächspartner*innen gezeigt hat. In der zuletzt analysierten Sequenz jedoch kann Michaelas Partner mit einem hochexklusiven Spezialwissen über seinen militärischen Dienst aufwarten, das die Rezipientin selbst nicht besitzt. Aufgrund seiner Erfahrungen bei der Bundeswehr liefert der freiwillig Wehrdienstleistende exklusive Einblicke in das Leben beim Militär, die die meisten Jugendlichen nicht aufweisen und wohl auch nie in ihrem Leben erwerben werden. Zwar handelt es sich dabei nicht um historisch spezifisches Wissen zur Nationalen Volksarmee, aber die Ex-

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klusivität der Erfahrungen bei der Bundeswehr scheint zu genügen, um für Michaela für die Authentizität der historischen Darstellung zu sprechen. Sie befindet sich im Hinblick auf die im Film dargestellte Handlung in einem Verhältnis des Wissensdefizits gegenüber ihrem Gesprächspartner. Umgekehrt stellt dies einen exklusiven Wissensvorsprung ihres Gesprächspartners dar. Dieser verleiht ihm eine Autorität, die letztlich dazu führt, dass er ihr als eine Ressource zu Authentifizierung dienen kann. Diese Exklusivität des Wissens, so zeigt sich mit Blick auf die geführten Gespräche mit Gleichaltrigen, scheint bei den anderen Gesprächspartnern*innen der Jugendlichen nicht gegeben. In einigen Fällen nehmen sie vielleicht auch nur an, dass ihnen Gleichaltrige kein exklusives Wissen bieten können. Diese bloße Annahme führt letztlich ebenso dazu, dass die jugendlichen Zuschauer*innen die Gespräche nicht in authentifizierender Funktion in ihren Umgang mit dem Spielfilm einbeziehen. Wenn die Erklärung dafür tatsächlich in der fehlenden Exklusivität des Wissens liegt, die sich in Gesprächen über den Film niederschlägt, dann erscheint nachvollziehbar, warum Jugendliche, die die im Film dargestellte Zeit nicht miterlebt haben, als nur wenig vielversprechend für die Authentizität der fiktionalen Erzählung erscheinen. Wie sollten andere Jugendliche, die ebenso wenige Erinnerungen an die DDR besitzen wie die Rezipienten*innen selbst, ihnen als Authentifizierungs-Ressourcen dienen? Sehr wohl wäre denkbar, dass manche Jugendliche eine Rolle als Experten*innen zur DDR-Geschichte bekleiden, ohne über eigene Erfahrungen der Zeit zu verfügen. Etwa wäre es möglich, dass sie als besonders gute Schüler*innen oder stark am Thema Interessierte über ein vertieftes Wissen zur DDR verfügen. Die Zuschauer*innen des „Turms“ könnten ohne weiteres den*die Klassenbeste*n zur Geschichte der DDR befragen, um die Authentizität des Spielfilms zu klären. Auf solche gleichaltrigen Experten*innen greifen die Interviewpartner*innen in Gesprächen jedoch nicht zurück, jedenfalls nicht in den vorliegenden Interviewdaten. Dass dies nicht geschieht, zeigt, dass es sich um eine ganz bestimmte Art exklusiven Wissens handeln könnte, die die Rezipienten*innen erwarten und von der sie sich eine Aufklärung in Fragen der Authentizität der audiovisuellen Erzählung versprechen. Welcher Art mag dieses exklusive Wissen sein, damit es für die Rezipienten*innen zur Authentifizierung eine Rolle spielt? Aus der Sequenz, in der Michaela über ein Gespräch mit ihrem Freund bei der Bundeswehr spricht, lässt sich eine Hypothese ableiten. Das Charakteristikum, das ihren Freund von anderen gleichaltrigen Gesprächspartnern*innen der Jugendlichen unterscheidet, ist einerseits sein Wissen über eine verhältnismäßig spezielle Sphäre, die den meisten Jugendlichen fremd ist. Zweitens wird dieses Wissen aber durch eine Eigenschaft charakterisiert, die sich darauf bezieht, wie der Gesprächspartner zu seinem Wissen gelangt ist. Entgegen etwa den von Larissa geschmähten Mitschüler*innen, die der Jugendlichen folgend ebenfalls aus dem Unterricht ihr Wissen über die DDR erworben hät-

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ten, handelt es sich bei Michaelas Freund um Erfahrungswissen. Er hört oder liest nicht über das Leben bei der Bundeswehr, er erlebt es buchstäblich am eigenen Leib. Dies scheint seine Autorität zu steigern, stellt es doch ein weiteres Spezifikum dar, das ihn aus der Gruppe der Gleichaltrigen heraushebt. Sein Wissen ist nicht nur exklusiv, es speist sich aus einer für ihn unmittelbaren Erfahrung. Inwiefern diese Hypothese Erklärungskraft besitzt, wird sich in den weiteren Ausführungen noch erweisen. Zusammenfassend hat sich gezeigt, dass Gleichaltrige für die Rezeption des historischen Spielfilms durchaus bedeutsam sind. Jedoch deuten die vorgeführten Beispiele darauf hin, dass es sich in Kommunikationen zwischen den Filmzuschauern*innen und anderen Jugendlichen eher um Prozesse der alltagsweltlichen Aneignung handelt, denn um die Authentifizierung des Gesehenen. Die gemeinsame Gegenwart, die miteinander geteilte Alltagswelt, ist in der Regel der Fluchtpunkt ihrer kommunikativen Auseinandersetzung mit dem Spielfilm – nicht die Authentifizierung der Story. Die eine Ausnahme unter den gleichaltrigen Gesprächspartnern*innen legt die Annahme nahe, dass die meisten Gleichaltrigen weder über exklusives, noch über selbst erfahrenes Wissen verfügen, das für die Authentifizierung des Spielfilms für jugendliche Rezipienten*innen von Interesse wäre. Wenn diese Hypothese als ein produktiver Ansatz gelten soll, dann müsste folglich ein enormes Potential bei denjenigen liegen, die über solch exklusives Wissen verfügen, das auf eigenen Erlebnissen beruht und zudem für die Thematik des Spielfilms einschlägig ist. Damit rücken jene Menschen in der sozialen Umwelt der Jugendlichen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die über eigene Erinnerungen an Erlebnisse während der deutschen Teilung verfügen: die Zeitzeugen*innen, die im Leben der Jugendlichen als Familienmitglieder, Bekannte, Freunde*innen eine alltägliche Rolle spielen. Ihnen wohnte der Hypothese entsprechend ein enormes Potential als Authentifizierungs-Ressource inne. Ohne der Analyse allzu weit vorzugreifen: Eben dieses Potential, das sich hypothetisch aus dem bisher Gesagten ergibt, zeigt sich allemal mit Blick auf die Gespräche mit Zeitzeugen*innen. Zeitzeugen*innen werden von der Geschichtswissenschaft als „Wanderer zwischen zwei Welten“186 verstanden, wie es Martin Sabrow ausdrückt: Die einst gemachten Erfahrungen transportieren sie als Erinnerungen in die Gegenwart und liefern über das Medium des mündlichen oder schriftlichen Berichts „eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit von innen als Träger von Erfahrung und nicht von außen als wahrnehmender Beobachter“187. Abzugrenzen sind sie von Augenzeugen*innen, insofern sie nicht über die Details bestimmter historischer Ereignisse 186 Sabrow, Martin: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten. In: Ders./Frei, Norbert (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945 (=Geschichte der Gegenwart, Bd. 4). Göttingen 2012. S. 13-32. 187 Sabrow 2012, S. 14.

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berichten, sondern im subjektiven Bericht über die von ihnen erlebte Zeit „eine eigene Geschehenswelt“ konstituieren.188 Ihrer Gegenwart, in der sie Zeugnis ablegen, ermöglichen sie eine „unmittelbar[e] Begegnung mit der Vergangenheit“ 189 – die auch für den individuellen Umgang mit historischen Spielfilmen relevant werden kann. So begegnen Zeitzeugen*innen den jugendlichen Filmzuschauern*innen, die den Fernsehzweiteiler „Der Turm“ gesehen haben, in ihrer alltäglichen Lebenswelt vor allem in ihren Familien. Es sind die „Tante zum Beispiel“, „die Mutter von meinem Freund“ oder dessen „Bruder, der auch in der DDR aufgewachsen ist,“ ebenso wie die eigene „Mutter“ und der „Vater“,190 die ihnen über die eigenen Erlebnisse berichten können. All diese genannten Personen werden bereits von einer einzigen Rezipientin als Zeitzeugen*innen benannt, die für die Rezeption des historischen Spielfilms bedeutsam sind. Das allein verdeutlicht, wie zahlreich und vielfältig Zeitzeugen*innen aus dem Kreis der Familie im Alltag der Jugendlichen auftreten. Aus der Sicht der meisten Jugendlichen sind ihre Eltern, Großeltern und jene Bekannte, die älter sind als sie selbst, zumeist auskunftsfähig über die im Film erzählte Zeit. Dafür ist von ihrem Standpunkt aus zunächst nicht ausschlaggebend, auf welcher Seite des „Eisernen Vorhangs“ diese Zeitzeugen*innen gelebt haben. Ein Teil der Familien weist eine rein west- oder ostdeutsche Geschichte auf. Dass diejenigen Eltern und Großeltern, die einst selbst Bürger*innen der Deutschen Demokratischen Republik gewesen waren, für die Jugendlichen als Zeitzeugen*innen für die im „Turm“ dargestellte DDR gelten, liegt auf der Hand. Doch auch eine genuin westdeutsche Biographie disqualifiziert die Familienmitglieder nicht, als Zeitzeugen*innen aufzutreten – sie können allemal als Zeitzeugen*innen der deutschen Teilung auch über das im Film Erzählte berichten, wenngleich ihre Perspektive auf den sozialistischen deutschen Staat eine andere ist. Darüber hinaus finden sich Jugendliche, die insofern über einen Migrationshintergrund verfügen, als dass ihre Familien noch zur Zeit der deutschen Teilung ausgereist, nach der Wiedervereinigung aus dem Gebiet der ehemaligen DDR in die sogenannten alten Bundesländer gezogen sind oder aber als ehemals Westdeutsche ihr Glück im heutigen SachsenAnhalt gesucht haben. Diese Momente der deutsch-deutschen Migrationsgeschichte sorgen für ein Verwischen der Grenzen innerhalb der Gruppe der Interviewpartner*innen, die sich aus Braunschweiger und Magdeburger Jugendlichen zusammensetzt. Auch unter Braunschweiger Jugendlichen finden sich ostdeutsche Familienbiographien, so wie auch Magdeburger ‚Wessis‘ in den Gesprächen auftauchen, die für die Jugendlichen zu Zeitzeugen*innen werden. 188 Ebd., S. 14. 189 Ebd., S. 26. 190 Transkript MI, BS, Z. 826-951.

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Zuletzt finden sich darüber hinaus Passagen, in denen individuelle Begegnungen und Momente des Transfers sichtbar werden – in denen etwa die ehemals westdeutschen Eltern über Besuche in der DDR berichten, über touristische Begegnungen mit dem sozialistischen System. Ganz zu Beginn der Auseinandersetzung mit Zeitzeugen*innen in der Lebenswelt der Jugendlichen möchte ich damit verdeutlichen: In den Familien der jugendlichen Rezipienten*innen sind Zeitzeugen*innen zur Geschichte der DDR und der deutschen Teilung nicht nur äußerst zahlreich vertreten, unabhängig davon, ob es sich um Braunschweiger oder Magdeburger Jugendliche handelt. Sie werden von ihnen zudem als wertvoller Fundus begriffen, weitestgehend unabhängig davon, ob es sich um ehemalige Bürger*innen der DDR oder der alten Bundesrepublik handelt. Sie spielen im Verlauf der Filmrezeption für den Prozess der Authentifizierung höchst unterschiedliche, aber im Überblick über die Interviews enorm wichtige Rollen. Ich möchte die Authentifizierungs-Ressource der Gespräche mit Zeitzeugen*innen, die ich aufgrund ihrer großen Bedeutung hier zum Abschluss betrachten werde, in drei Gruppen gliedern. Sie unterscheiden sich nicht nach ihrer Herkunft – ich habe angedeutet, dass dieses Kriterium innerhalb des Samples keineswegs so trennscharfe Kategorien bildet, wie dies vielleicht zu erwarten wäre. Vielmehr unterscheiden sich die Zeitzeugen*innen jeweils in der Funktion, die sie bei der Authentifizierung des im Spielfilm Gesehenen für die Jugendlichen einnehmen. Damit soll ein differenzierter Blick auf diese so wichtige Figur ermöglicht werden, der der Vielfalt ihres Auftretens gerecht wird. Erstens werde ich jene Zeitzeugen*innen in den Blick nehmen, die kommunikativ den Jugendlichen einen Fundus an historischen Narrativen und Erfahrungen offerieren. Eine Vielzahl der Schilderungen, in denen meine Interviewpartner*innen über Zeitzeugen*innenberichte sprechen, weist keinen direkten Bezug zur Filmstory auf, scheint für sie aber dennoch eine Rolle bei der Rezeption des „Turms“ zu spielen, schließlich kommen sie nicht ohne Grund auf sie zu sprechen. Zweitens rücken jene Erzählungen von Zeitzeugen*innen in den Blick, die einen ganz unmittelbaren Bezug zum Spielfilm aufweisen. Darunter fallen all jene Berichte, die sich als Narrative in ähnlicher Form in der Filmstory wiederfinden. Wie diese Berichte die audiovisuelle Erzählung authentifizieren, und wie sie sich von den Berichten der ersten Kategorie unterscheiden, bedarf ebenfalls einer Analyse. Drittens werde ich zum Abschluss Kommunikationen mit Zeitzeugen*innen in den Fokus rücken, die nicht durch die von ihnen berichteten Narrative der Authentifizierung der Story dienen. Vielmehr nehmen sie in Gesprächen mit den Jugendlichen unmittelbar Bezug auf den Spielfilm, das heißt es handelt sich hierbei um Anschlusskommunikationen, die zu einem Zeitpunkt nach dem Ansehen des Films geführt wurden und sich auf den Film selbst beziehen. Auch darin treten Zeitzeugen*innen in der Lebenswelt der Jugendlichen auf und stellen eine Grundlage zur Beantwortung der Frage dar, wie authentisch das Gesehene denn sei.

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Einen ersten Einblick in die Bedeutung, die Zeitzeugen*innen des familiären Umfeldes für die Jugendlichen besitzen, liefert die Braunschweigerin Michaela. Die oben genannte Aufzählung der unterschiedlichen Personen, die ihr als Zeitzeugen*innen im familiären Umfeld begegnen, stammte aus dieser Sequenz: I: Mhm. ähm (.) dieses Thema DDR, was ja im Turm nun wirklich (.) also das ist ja irgendwie hast du ja auch gesagt es geht um die Volksarmee und so, was spielt das Thema f- äh DDR für dich persönlich eine Rolle? MI: Ähm ich finde es sehr interessant, weil es halt wirklich nicht lange her ist, also es hätte wirklich mich noch treffen können irgendwie //mhm// und (.) ich kann mir das immer so gar nicht vorstellen, dass Deutschland wirklich geteilt war und meine Mu- selbst meine Mutter, die wirklich noch relativ jung ist, hat das sogar noch mitbekommen, und war sogar dabei, mit meinem Vater äh (.) wo die Mauer gefallen ist und die sind da sofort hingefahren, //mhm// und haben sich da den Mauerfall sozusagen angeguckt, also haben sich auch auf die Mauer gestellt und so und (.) das finde ich so beeindruckend dass (.) also die haben nun wirklich Geschichte geschrieben und (.) ich? ich bin in so einem langweiligen Jahrgang irgendwie und schreibe @gar keine Geschichte.@ I: @(.)@ MI: und das finde ich irgendwie so beeindruckend, dass das wirklich (.) das habe ich ganz knapp nur verpasst, (.) und (.) oder zum Beispiel von meinem Freund die Schwester, die hat das wirklich sogar noch miterlebt, die war in der Schule im Osten und dann ist die Gr- sind die Grenzen aufgegangen und dann sind die auch in den Westen sofort gezogen (.) und dann hat äh war die in der Schule und hat dann gesagt oh Gott Mama, der Sportunterricht das ist hier gar nix, da (.) die machen hier gar nix, das ist total langweilig. I: @(.)@ MI: Also im Osten war der Sportunterricht viel viel härter, und hier im Westen war das wohl irgendwie so pillepalle, und das fand sie total schrecklich, und das konnte sie mir erzählen also ich kenne ganz viele Zeitzeugen, oder meine Tante zum Beispiel, oder Großtante, ähm die ist auch in der DDR geboren und die ist mit ihrer Familie geflüchtet und hat auch ein Buch geschrieben, //mhm// und naja (.) die ist geflüchtet und das ist meine Großtante irgendwie das finde ich schon irgendwie beeindruckend, weil mit der kann ich jeden Tag irgendwie reden, und die kann mir das genaustens erzählen und das finde ich halt bei der DDR sehr interessant und beim Zweiten Weltkrieg gibt es das halt auch noch, dass ich mit meiner Oma darüber reden kann, //mhm// weil sie das halt auch noch miterlebt hat, und (.) das finde ich eigentlich so gut wobei ich das immer sehr beeind- äh nicht beeindruckend aber (.) die Mutter äh zum Beispiel von meinem Freund, die hat ja wirklich komplett die DDR miterlebt, die ist da aufgewachsen und hat ihre Kinder da auch großgezogen, (.) und die erzählt mir aber nie so über das Politische (.) etwas irgendwie weil das hat äh habe- hat die da gar nicht so richtig mitbekommen, und (.) weiß ich nicht, (.) das ha- da erzählt mir irgendwie gar keiner was von äh von der Politik irgendwie und da habe ich immer das Gefühl als ob (.) die Politik da irgendwie so (.) ja hat sie ja auch wirklich ihr eigenes Ding eigentlich gemacht

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und da=hat es sowieso nichts gebracht, da musstest du äh die SED wählen, und gut war. //mhm// und (.) ja ähm aber dass man halt trotzdem so zu jemandem hingehen kann und so ja okay, wie war es denn in der DDR, dass man das jetzt noch machen kann, finde ich ja beeindr- beeindruckend zum Beispiel kann man ja jetzt nicht zu irgendjemandem gehen und sagen ja wie war es denn bei den Kämpen Kämpfen von Cäsar oder so I: @(.)@ MI: @Das geht ja nicht@ und deswegen finde ich das schon interessant irgendwie das Thema und (.) naja dadurch dass es in Deutschland war ist es ja sowieso interessant. °ja.° I: Mhm. also du scheinst offenbar nur Zeitzeugen in deiner Familie zu haben, MI: Ja @(.)@ I: ähm und unterhälst dich auch ähm offenbar auch ganz viel mit denen, ähm beeinflusst dich das irgendwie, wenn du so einen Film wie den Turm guckst? MI: (.) Nö. da finde ich das immer interessant, (.) und lerne halt neue Dinge, //mhm// wie zum Beispiel jetzt das mit der Volksarmee, weil (.) stimmt, das ist mir erst gerade jetzt aufgefallen, mein Freund hat auch noch einen Bruder, der auch in der DDR aufgewachsen ist, //mhm// ich weiß gar nicht, ob der (.) das weiß ich zum Beispiel nicht, ob man in der Volksarmee mit wieviel Jahren äh man da hingekommen ist, weil der müsste ja eigentlich auch bei der Volksarmee gewesen sein, (.) obwohl, der ist dreißig; vierunddreißig ist der jetzt. nee, da war er vierzehn oder so //mhm//. geht nicht, okay. (.) nee und ähm (.) aber ich könnte zum Beispiel meine Großtante fragen, die hat ja auch Kinder, äh die müssten eigentlich da gewesen sein. °sind ja meine Großcousins dann.° I: @(.)@ MI: Ja. (.) aber da- darüber habe ich zum Beispiel noch nie so drüber nachgedacht, aber (.) ich kann halt wirklich äh jetzt zu denen hingehen und fragen okay, warst du jetzt eigentlich in der Volksarmee oder warst du nicht und wie war=es=denn, das finde ich einfach so interessant, dass man einen Film sieht, u:nd äh sieht wie das so war in der DDR, und dann kann ich aber nochmal zum Zeitzeugen wirklich hingehen, den ich kenne, oder auch (.) ich könnte ja auch irgendwo anders hingehen oder im Internet jemanden fragen, weil es wirklich noch Leute gibt, die in der DDR gelebt haben. und die die DDR auch kennen oder (.) selbst meine Mutter ist ja auch mal in die DDR gefahren, oder ich habe jetzt den Personalausweis von meinem als- nee den Reisepass von meinem Vater gesehen, wo da über die DDR ähm so ein Stempel drin ist, was ich dann so total komisch finde, weil der war ganz oft da in der DDR und (.) da konnte man ja auch einfach hinfahren, das finde ich dann auch irgendwie so banal, dass äh Westdeutsche da einfach hinreisen durften und auch einreisen durften, (.) aber die Ostdeutschen da nicht raus durften. //mhm// u:nd (.) ja doch (.) das finde ich dann immer schö- schön, dass man halt diese Zeitzeugen hat. […]191

Es handelt sich hierbei um ein äußerst langes Zitat. Bereits am Beginn der empirischen Analysen ist Michaelas Hang zu ausschweifenden Antworten sichtbar ge191 Transkript MI, BS, Z. 810-899.

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worden. Genau genommen ist diese Sequenz hier noch nicht einmal beendet, vielmehr ist sie noch länger als dieser Ausschnitt. Ich räume diesem Zitat so viel Platz ein, weil ich dessen Länge für nicht unerheblich halte zum Verständnis der Rolle, die Zeitzeugen*innen für die Jugendliche im Prozess der Filmrezeption spielen. Die Stelle liefert die Antwort auf die gestellte Frage nach der Bedeutung der DDR als Thema in Michaelas Leben. Am Beginn der Sequenz wird der Jugendlichen die Frage nach der Relevanz gestellt, die das Thema DDR in ihrem Leben besitzt. In der Fragestellung ist durchaus ein Verweis auf den „Turm“ enthalten, der aber von der Interviewpartnerin nicht weiter verfolgt wird. Stattdessen widmet sie sich in ihrer Antwort unabhängig vom Spielfilm der allgemeinen Bedeutung der Thematik DDR in ihrem Leben. Sehr schnell wird dabei deutlich, dass Zeitzeugen*innen einen höchst gewichtigen Zugang zu diesem historischen Gegenstand für sie darstellen. Michaela leitet dies ein, indem sie ihrerseits ein Defizit beschreibt: Sie selbst könne sich „das immer so gar nicht vorstellen, dass Deutschland wirklich geteilt war“. Diese Schwierigkeiten, die Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte nachzuvollziehen, resultieren offenbar aus einem Mangel an eigener Erfahrung. Ihr Defizit führt wiederum zum Interesse an den Berichten von Zeitzeugen*innen, die sie in der Folge so detailliert beschreibt. Sie benennt ihre Mutter, kurz darauf auch ihren Vater als diejenigen, die „sogar dabei“ gewesen seien und etwa den Mauerfall unmittelbar „mitbekommen“ hätten. Die Eltern scheinen ihrer Tochter erzählt zu haben, wie sie den Prozess der deutschen Wiedervereinigung selbst erlebt haben. Diesen Schilderungen begegnet die Jugendliche geradezu aus einer neidischen Haltung heraus: „also die haben nun wirklich Geschichte geschrieben und (.) ich? ich bin in so einem langweiligen Jahrgang irgendwie und schreibe @gar keine Geschichte.@“ Michaela zieht damit eine ganz klare Grenze zwischen sich selbst und ihren Eltern, zwischen der Erlebnisgeneration und den Nachgeborenen, die „nur“ die Berichte von Zeitzeugen*innen hören könnten. Diese besitzen eine ausgesprochene Sonderstellung in den Augen der Rezipientin, insofern sie selbst ein Teil der Geschichte seien, statt bloß von außen auf historische Ereignisse blicken zu können. Damit untermauert Michaela, dass Zeitzeugen*innen für sie einen exklusiven Zugang zur Geschichte besäßen – nicht nur, dass sie über exklusives Wissen verfügen, unterscheidet sie von der Gruppe der Jugendlichen, sondern eben auch, dass sie eine eigene Rolle in der Geschichte gespielt hätten. Diese Besonderheit hebt die Zeitzeugen*innen, die hier der Familie der Jugendlichen beziehungsweise ihres Partners entstammen, geradezu auf ein Podest. Zeitzeugenschaft stellt für Michaela eine exklusive Kategorie dar, die einerseits eine eigene Gemeinschaft konstituiert, andererseits aber auch eine Gruppe der kategorisch Ausgeschlossenen schafft – zu der sie zu ihrem Bedauern unverkennbar selbst gehört. Diese Differenz mündet bei ihr in eine Hierarchie, die die Zeitzeugen*innen deutlich erkennbar über all jene ohne eigene Erlebnisse stellt. Die Ereignisse um

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den Mauerfall und die Wiedervereinigung nicht miterlebt zu haben, wirkt in der Beschreibung der Braunschweigerin geradezu wie eine verpasste Chance, die ihrer Altersgruppe – mangels der vergleichsweise „langweiligen“ Zeit, die sie selbst erlebt hat – nicht gegeben sei. Nachdem diese Dichotomie von Michaela verdeutlicht wurde, führt sie zahlreiche Zeitzeugen*innen ein, um die Frage nach der Bedeutung der Thematik DDR für sie persönlich zu beantworten. Sie alle besitzen implizit die überhöhte Stellung, die die Abiturientin ihnen aufgrund ihrer Zeitzeugenschaft zuschreibt. Ohne hier ins Detail zu gehen, wird doch sehr deutlich, wie wichtig für sie die Erlebnisse ihrer Familienmitglieder und ihrer Bekannten sind. Zu all den angesprochenen Personen liefert sie verhältnismäßig detaillierte Anekdoten und Erzählfragmente – über die frappierenden Unterschiede im Sportunterricht in Ost und West, von der Tante, die „mit ihrer Familie geflüchtet“ sei, von der Mutter des Partners, die „nie so über das Politische“ in der DDR spreche. Überdeutlich wird: Die Jugendliche kennt zahlreiche Zeitzeugen*innen der DDR, interessiert sich sehr für deren Berichte und sieht darin ihren primären Zugang zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte, die für sie und ihre Familie eine große Rolle zu spielen scheint. Darüber hinaus wird aber mit Blick auf die audiovisuelle Erzählung „Der Turm“ auch deutlich: In eine Beziehung setzt die Zuschauerin all diese Zeitzeugen*innen und die mit ihnen verknüpften Geschichten sprachlich nicht. Es ist für die Jugendliche „interessant“, deren Berichte zu hören, sie zeigt sich geradezu begeistert, „zum Zeitzeugen wirklich hingehen“ zu können und schließt ihre Antwort mit der Feststellung, es sei „schön, dass man halt diese Zeitzeugen hat.“ Doch welche Bedeutung haben diese Zeitzeugen*innen für die Rezeption und die Authentifizierung des Spielfilms „Der Turm“? Die Möglichkeit, die benannten Zeitzeugen*innen und ihre Berichte mit dem Spielfilm „Der Turm“ zu verknüpfen, wurde Michaela bereits am Beginn der Sequenz mit der einleitenden Frage offeriert. In ihren Ausführungen geht sie jedoch nur auf die Zeitzeugen*innen, nicht auf den Film ein. Und selbst, als der Interviewer in einer Nachfrage die Verbindung der Berichte zum Film noch einmal thematisiert („ähm beeinflusst dich das irgendwie, wenn du so einen Film wie den Turm guckst?“), geht sie nicht weiter darauf ein. Sie weist dieses Inbeziehung-Setzen von Filmstory und Zeitzeugen*innenberichten vielmehr zurück: „(.) Nö.“. An dieser Stelle spielt auch die Länge der zitierten Passage für deren Interpretation eine Rolle: Obwohl Michaela sich viel Zeit nimmt, um die Bedeutung der Thematik DDR in ihrer Lebenswelt darzulegen, stellt sie trotz allem keinerlei Verbindung dieser lebensweltlichen Sphäre mit dem Spielfilm und dessen Darstellung der DDR her. Sie konzentriert sich stattdessen vollständig auf die Bedeutung des Themas in der Familie. Weder die Vielzahl der Zeitzeugen*innenberichte, noch die Tatsache, dass es sich um nahe Verwandte handelt und das Thema eine große persönliche Relevanz besitzt, und auch nicht die thematische Nähe zwischen den Berichten und der Spielfilmhandlung führen eine Verbindung zwischen beiden herbei.

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Ein möglicher Grund dafür, dass Michaela die Berichte ihrer Familienmitglieder und Bekannten nicht in eine Beziehung zum im Film Gesehenen setzt, könnte darin liegen, dass die Erzählungen thematisch zu weit von den Narrativen des Spielfilms entfernt sind. Wie wir gesehen haben, ist die Jugendliche durchaus willens, die Story mit ihrer Lebenswelt in Verbindung zu bringen. Das zeigte sich sehr deutlich hinsichtlich der Nationalen Volksarmee, deren Darstellung sie mit den Erlebnissen ihres Freundes beim Wehrdienst verknüpfen konnte. Bei den hier von ihr vorgetragenen Erzählungen scheint sich für sie jedoch keine Verbindung zur Filmstory zu ergeben. Liegt dies möglicherweise darin begründet, dass die Geschichten vom Mauerfall, der Republikflucht, dem harten Sportunterricht et cetera nicht deutlich genug für sie auch im Film repräsentiert sind? Die Erklärung, dass Berichte und Story zu weit auseinanderliegen, scheint nicht wirklich zufriedenstellend, schließlich ließen sich durchaus auch Anknüpfungspunkte zwischen den hier angesprochenen Zeitzeugen*innenberichten und den Narrativen des Films finden. Warum dies jedoch bei Michaela nicht festzustellen ist – wie sich gezeigt hat, war für sie stattdessen die Dokumentation zum Film die mit Abstand wichtigste Authentifizierungs-Ressource – muss auf der Grundlage der analysierten Sequenz zunächst unbeantwortet bleiben. Festzuhalten ist, dass die Erzählungen der Zeitzeugen*innen aus dem Familien- und Bekanntenkreis von Michaela in keine unmittelbare Verbindung zum Film gestellt und damit im Hinblick auf die Authentifizierung des Gesehenen sprachlich nicht als relevant markiert werden. So sind die Zeitzeugen*innen zwar enorm bedeutsam für ihr individuelles Geschichtsbewusstsein. Sie sorgen dafür, dass die Jugendliche tatsächlich einen Zugang zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte erhält, der für sie ganz persönlich Relevanz besitzt. Für die Rezeption des Films jedoch und die Authentifizierung des Gesehenen nehmen die Berichte von Familienmitgliedern und Bekannten scheinbar keine besondere Stellung ein. Im Sample dieser Untersuchung finden sich zahlreiche weitere Jugendliche, die mit ihren Eltern und Großeltern, Tanten und Onkeln oder Bekannten über deren Erlebnisse vor der Wiedervereinigung gesprochen haben. Einige dieser Gespräche scheinen eine ähnliche Charakteristik aufzuweisen wie das eben verhandelte Beispiel: Zwar wird deutlich, dass die Jugendlichen in ihnen einen wertvollen Zugang zur deutschen Zeitgeschichte sehen, sie werden jedoch nicht als Argumente für die Authentizität der Filmstory herangezogen. Lässt sich daraus ableiten, dass die offenbar so wichtigen Eindrücke, die die Jugendlichen von ihren Bekannten und Familienmitgliedern erhalten, für die Frage nach der Authentizität des Gesehenen unbedeutend sind, wenn sie diese nicht explizit auf den Fernsehzweiteiler beziehen? Stützen die Berichte von Zeitzeugen*innen in der Lebenswelt der Jugendlichen deren Einschätzung der Authentizität des Films nur, wenn sie die Geschichten direkt miteinander in Verbindung setzen?

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Ein Blick auf eine zweite Sequenz kann helfen, diese Frage etwas besser zu beantworten. Ein weiteres Beispiel für Zeitzeugen*innen im Kreis der Familie und Bekannten findet sich im Interview mit der Magdeburgerin Laura Pia. Ihre Eltern haben bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung beide in der Bundesrepublik gelebt und gearbeitet und bieten damit eine Außenperspektive auf die DDR. Die Jugendliche wird an dieser Stelle gefragt, ob sie mit ihnen über den Spielfilm gesprochen habe: I: Wenn du dich mit deinen Eltern drüber unterhalten würdest, oder vielleicht hast du dich ja auch mit deinen Eltern drüber unterhalten, worum würde es da (.) wie würde dieses Gespräch ablaufen? LP: Mhm, naja, also da meine Eltern ja beide aus=m Westen kommen, //mhm// ist es so dass also ich denke mal, (.) na mein Vater, @(.)@ mein Vater hätte darauf ein sehr weit distanzierteren Blick als meine Mutter, //mhm// und ähm dadurch dass er auch gre- in relativer Grenznähe gelebt hat, war er auch oft da, und ähm (.) hat sich das auch sehr oft angeguckt und ist damit eben auch schon als Kind äh sozusagen in Berührung gekommen, und deswegen denke ich mal würde er meine Sicht durchaus unterstützen, aber er würde denke ich auch ähnlich wie ehemalige DDR-Bewohner (.) auf (.) ja auf also sozusagen in Anführungszeichen gute Seiten zu sprechen kommen, //mhm// also (.) eher als meine Mutter. meine Mutter würde das eher so wie ja typisch Leute, die sozusagen im Westen aufgewachsen sind, als die armen Leute darstellen, obwohl sie auch mal da war, im Zuge ähm ja sie ist in Bonn aufgewachsen, und (.) da war eben auch ihr Bundestag und alles war ja in Bonn damals, //mhm// und dann ist sie mit äh Herrn Gentscher gereist nach Ostberlin, und hat das da auch also erlebt und äh meine beiden Eltern waren in der DDR sozusagen und haben das besucht und geguckt, mein Vater hatte da wohl so ein ganz einschneidendes Erlebnis, dass er da so in ein Cafe ging, und da ähm (.) Kuchen essen wollten, und alle Leute standen an, in der berühmten DDR-Schlange, und sie als Westbesuch wurden dann direkt vorgelassen, und er meinte, es wäre ihm total unangenehm gewesen. //mhm// und deswegen denke ich mal, dass meine beiden Eltern darauf so ganz ganz verschiedene Sichten hätten, also mein Vater so sehr distanziert, auch eher so wissenschaftlich, und ähm ja faktisch sozusagen belegt und meine Mutter eben eher emotional und (.) ja äh etwas bemitleidend denke ich. I: Mhm. Ist ja interessant, dann hast du sozusagen die Perspektiven, die du schon angesprochen hast, auch in der Familie irgendwie abgebildet, LP: @Ja, das stimmt.@ I: Ähm was glaubst du, warum haben die so ganz gegensätzliche Perspektiven? LP: Naja ich weiß nicht, mit ihrem Beruf kann es nicht zusammenhängen, sie haben beide den gleichen, //mhm// aber ähm I: Was machen sie?

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LP: Sind XXXXXX192. //mhm// und ähm ja sind dann übrigens auch direkt nach der Wende nach Magdeburg gekommen, haben auch erlebt, wie Magdeburg aufgebaut wurde wieder sozusagen, also aufgebaut, im Sinne von Plattenbauten abreißen, was Neues hinstellen, //mhm// und ähm (.) ja also ich weiß nicht, warum also doch (.) eigentlich schon da mein Vater eben dadurch, dass er also zum Beispiel s- der mein Opa väterlicherseits war auch Nationalsozialist, und der (1) ja und deswegen hat mein Vater denke ich auch noch ne ganz andere Sicht auf das System. weil er von seinem Vater eben (.) damals oft gehört hat über ähm ja sozusagen das entgegengesetzte System, //mhm// und er meinte auch deswegen fand=er das am Anfang auch als er das so beg- anfang- angefangen hat zu begreifen, ich meine meine Eltern wurde beide da reingeboren in den getrennten deutschen Staat, und als er angefangen hat sozusagen zu begreifen was da so ist und das System zu begreifen, fand er das auch erstmal gut, °soweit ich das mitbekommen (habe,)° weil er eben von zuhause genau diese entgegengesetzte Meinung hatte sozusagen. //mhm// und ähm (.) ja deswegen ist es so dass (.) ja dass er wahrscheinlich da auch noch eher (.) ja wissenschaftlicher drauf gucken kann als meine Mutter, weil meine Mutter halt einfach nur (.) ja kommt aus nem kleineren Dorf und hat einfach nur sozusagen das mitbekommen, was man im Westfernsehen @Westfernsehen@ @(.)@ darüber so sozusagen vermittelt bekommen hat über die DDR (.) und das war ja meistens schon relativ gefärbt. //mhm// also anti DDR mäßig. (.) und ja das (.) ist auch interessant zu beobachten zum Beispiel, dass ähm mein Vater also ähm mit seinen Freunden ähm sind eben auch fast alle aus der D- ehemaligen DDR, und auch ein Freund und ähm der war auch so ja so ein bisschen anti System, hat es aber irgendwie doch geschafft, dass er Medizin studieren durfte, //mhm// und ähm mit dem find=ich es auch total interessant mich zu unterhalten, weil ähm der auch so sehr interessant erzählen kann davon einfach so, dass er (.) auf der einen Seite zuhause auch immer so getan hat als würd=er das alles nicht so (.) so weil er auch seiner Mutter und so wollte er halt keine Schwierigkeiten machen, //mhm// und dann haben sie sich aber sonst irgendwo eingeschlossen, haben ähm Westfernsehen geguckt und ähm andere Musik gehört, sich Klamotten schicken lassen, und so und ähm (.) sind dann am Ende auch mit auf die Straße gegangen, haben demonstriert und (.) er hätte auch fast seinen Studienplatz verloren deswegen und deswegen //mhm// ist es auch so, ja mein Vater beschäftigt sich denk=ich auch viel mehr mit solchen Leuten, und meine Mama ist also hat ihre beste Freundin hat auch bei den Montagsdemos immer mitgemacht, (.) und so und hat aber auf der anderen Seite eben auch Freundinnen die das ähm (.) ja die das auch so alles so ertragen haben, //mhm// aber es gab halt niemanden, der das wirklich gut fand oder so, und deswegen hat sie denke ich eher so diese abwehrende Haltung demgegenüber, und ähm mein Vater eben auch durch von zuhause den Einfluss ähm (.) denk=ich mal eher so (.)

192 Um die Anonymität der Interviewpartnerin zu schützen, habe ich an dieser Stelle die Berufsbezeichnung der Eltern getilgt. Meines Erachtens ist sie zur Interpretation der Passage irrelevant, könnte aber zur Identifizierung der Jugendlichen führen.

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ja (1,5) Mutter.

historisch-wissenschaftlich ja dem eher noch zugeneigt als meine 193

Deutlich wird auch in dieser Sequenz, wie vielfältig und lebhaft die Geschichten sind, die die Jugendlichen von ihren Familienmitgliedern kennen. Für Laura Pia sind es an dieser Stelle die Geschichten der Eltern, die als Bürger*innen der Bonner Bundesrepublik für sie spannende Berichte über die Zeit der deutschen Teilung liefern können. Unbeschadet der Tatsache, dass sie eine Perspektive von außen auf die „Friedliche Revolution“ in der DDR einnehmen, sind sie dennoch ein wichtiger Zugang zu diesem Teil der deutschen Zeitgeschichte, der auch im „Turm“ erzählt wird. So habe beispielsweise die Mutter der Jugendlichen im Umfeld Hans-Dietrich Genschers gearbeitet, wie Laura Pia hier berichtet. Allein daraus resultiert eine erkennbare Nähe zwischen den Erlebnissen der Eltern und den Ereignissen der Wiedervereinigung, die auch im Fernsehzweiteiler thematisiert werden. Doch die Eindrücke, die sie über ihre ehemals westdeutschen Eltern über die DDR erhält, erschöpfen sich darin keineswegs. Der Vater schildert etwa eine Episode eines Besuches in Ostberlin, die die Jugendliche als „einschneidendes Erlebnis“ bezeichnet. Er sei als Bundesbürger an solch einer „berühmten DDR-Schlange“ vorbeigeschleust worden, was „ihm total unangenehm gewesen“ sei. Die Episode ist vielsagend und liefert Laura Pia sehr weitreichende Einblicke in die Planwirtschaft und das Verhältnis der beiden deutschen Gesellschaften zueinander. Der markanteste Verweis auf einen Zeitzeugenbericht in dieser Sequenz wird von der Jugendlichen allerdings im letzten Drittel vorgebracht. Zuvor hatte sie über den Großvater gesprochen, der „auch Nationalsozialist“ gewesen sei, doch thematisch einschlägiger im Hinblick auf die DDR-Geschichte ist der Schluss: Hier erzählt Laura Pia von einem Freund des Vaters, der als Bürger der DDR „ja so ein bisschen anti System“ gewesen sei. Dennoch habe er „es aber irgendwie doch geschafft, dass er Medizin studieren durfte,“. Er sei hin- und hergerissen gewesen zwischen Anpassung und Widerstehen – zwischen gleichzeitig „seiner Mutter [..] keine Schwierigkeiten machen“ zu wollen und doch „Westfernsehen“ zu schauen und sich wenig opportunistisch zu verhalten. Er sei „dann am Ende auch mit auf die Straße gegangen“ und hätte sogar „auch fast seinen Studienplatz verloren deswegen“. Diese Geschichte, die ihr der Vater erzählt hat, scheint für Laura Pia besonders eindringlich, so detailliert und lebhaft, wie sie sie am Ende der Sequenz schildert. Zu guter Letzt erzählt sie sogar noch von den Freundinnen der Mutter, die damals ebenfalls „auch bei den Montagsdemos immer mitgemacht“ hätten. Beim Anblick der Erzählungen jener Zeitzeugen*innen, die Laura Pia hier wiedergibt, fällt eine geradezu frappierende Ähnlichkeit zur Story des Zweiteilers „Der Turm“ auf. Die Nähe zum TV-Event ist schon dadurch gegeben, dass etwa die Per193 Transkript LP, MD, Z. 418-497.

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son Hans-Dietrich Genschers, aber auch die vermeintlich allgegenwärtigen Schlangen wartender Kunden*innen in der Dokumentation zum Film direkt thematisiert werden. Doch darüber hinaus zeigen sich auch in der Story des Spielfilms erstaunliche Parallelen: ein junger Mensch, der mit dem repressiven System der DDR im Konflikt steht; der zwar einen Studienplatz erhält, aber dennoch Schwierigkeiten hat, seinen Weg zwischen Anpassen und Widerstehen zu finden; eine ihm nahe stehende Mutter, der er keine Probleme bereiten will, und dennoch auf der Straße am Protest teilnimmt; der gerade noch abgewendete Verlust des Studienplatzes; zuletzt die Entscheidung der Mutter, selbst am Protest der „Montagsdemos“ teilzunehmen. Dies ist nicht nur eine knappe Zusammenfassung der Berichte, über die Laura Pia hier im Interview berichtet. Es ist darüber hinaus eine erstaunlich präzise Beschreibung des Protagonisten im „Turm“ und seiner Erlebnisse vor der „Wende“, der seinerseits all die angesprochenen Erfahrungen machen muss. Angesichts dieser frappierenden Parallelen muss die Frage zumindest gestellt werden, wie sehr die hier vorgetragene, doppelte Erinnerung – die Jugendliche erinnert sich an einen Zeitzeugenbericht, der wiederum auf einer Erinnerung beruht und damit doppelt gewissen Unsicherheiten des menschlichen Gedächtnisses unterliegt – möglicherweise von der Filmstory geprägt ist. Dass Filme für die Erinnerungen an selbst erlebte Geschehnisse im eigenen Leben eine Vorlage bieten können, das heißt dass filmische Narrative mit den eigenen Erfahrungen bisweilen untrennbar miteinander verschmelzen können, haben bereits Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall festgestellt.194 Auch anhand des hier analysierten Materials stellt sich die Frage, inwiefern Filmstory und erinnerter Zeitzeugenbericht interferieren. Ob es sich auch in diesem Fall um die Verschmelzung von Filmstory und Zeitzeugenbericht handelt, oder ob es tatsächlich nur erstaunliche Parallelen sind, kann nicht abschließend geklärt werden. Für die Frage nach der Authentifizierung der Story durch die Jugendliche ist sie letztlich auch nicht zentral. Vielmehr muss erneut die Frage aufgegriffen werden, wie die Bedeutung dieser Zeitzeugen*innenberichte einzuschätzen ist, obwohl sie von den Jugendlichen, wie zuvor von Michaela, nicht als Argument für die Authentizität des Fernsehzweiteilers verwendet werden. Handelt es sich dennoch um eine Authentifizierungs-Ressource? Angesichts der großen Bedeutung, die die Berichte für die beiden Jugendlichen, aber auch in anderen Interviews für weitere Gesprächspartner*innen spielen, würde ich die Berichte in jedem Fall auch als Authentifizierungs-Ressourcen bezeichnen. Wenn sie auch nicht argumentativ für die Authentizität der Story in den Interviews genutzt werden, lässt sich konstatieren, dass dieser teils so wichtige Zugang zur Geschichte der deutschen Teilung offenbar keine Argumente gegen die Authentizität der audiovisuellen historischen Erzählung liefert. Vielmehr bestehen die Berichte und die Filmstory problemlos in den Interviews nebeneinander und scheinen in kein 194 Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall 2008, v.a. S. 110-128.

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Konkurrenzverhältnis zu treten. Sie sind in ihrer Darstellung der DDR miteinander vereinbar und kompatibel, und stützen damit meines Erachtens indirekt auch die Authentizität der Story des „Turms“. Wenn etwa Magdalenas Vater ihr lebhaft von seiner Zeit bei der NVA erzählt195, sie diese Erzählungen aber nicht explizit auf den Spielfilm und dessen Nebenhandlung über die Zeit des Wehrdienstes bezieht, so handelt es sich nicht um ein Argument für die Authentizität der Darstellung. Gleichwohl aber scheinen Zeitzeugenbericht und Spielfilmhandlung sich nicht zu widersprechen, sondern miteinander vereinbar zu sein. Es handelt sich folglich um zwei gleichermaßen authentische Darstellungen der DDR. Insofern wäre das Gespräch, in dem Magdalena von ihrem Vater Eindrücke vom Wehrdienst bei der NVA erhält, authentifizierend wirksam, auch wenn es nicht explizit als Argument für die Authentizität des Gesehenen spricht. Kann ein Zeitzeugen*innenbericht wirklich authentifizieren, indem er der Authentizität der filmischen Darstellung nicht widerspricht? Darin zeigt sich letztlich eine Problematik, die nicht nur empirische, sondern auch theoretische Implikationen aufweist. Ich möchte die Überlegungen diesbezüglich zunächst zurückstellen, erst im letzten Kapitel weiter vorantreiben und das Nachdenken hinsichtlich einer Authentifizierung ex negativo aus diesem Grund hier nicht weiterverfolgen. Stattdessen werde ich mich stärker jenen Zeitzeugen*innen zuwenden, die für die Jugendlichen ausdrücklich Argumente liefern, die den ARD-Zweiteiler aus ihrer Sicht zu einer authentischen historischen Erzählung machen. Ein erstes Beispiel dafür liefert die Braunschweigerin Tanya. Das folgende Zitat setzt unmittelbar dort an, wo sie weiter oben über ihren Besuch der „Gedenkstätte Moritzplatz“ in Magdeburg gesprochen hatte. Tanya hatte ihre dort gemachten Eindrücke geschildert, etwa die ausgestellten Polizeiuniformen, Schilde und Schlagstöcke, die sie im Spielfilm wiedererkannt hatte. Direkt im Anschluss daran, also noch während ihrer Filmnacherzählung, geht sie auf Zeitzeugen*innen in ihrer Familie und deren Berichte ein: TA: […] weil die haben sich ja wirklich komplett schützen können dann hatten sie diese Schlagstöcke, und ähm (.) ja. (.) n- jetzt steht man davor un- unbewaffnet, ohne alles, und ähm auf einmal kommt dann jemand auf einen zu und bedroht einen dann so; das muss schon ziemlich krass sein, weil ähm keiner: von diesen Leuten, die sich dagegen gewehrt haben also die so protestiert haben, haben eigentlich (.) vorgehabt, irgendwen zu verletzen damit, was sie tun. sie wollten einfach nur frei sein und ähm hatten einfach nur noch die Nase voll von diesem (.) von diesem Eingesperrtsein, meine Oma hat mir das auch erzählt, ähm dass dass sie auch auf die Montagsdemo immer gegangen ist in der Kirche, in Magdeburg, ähm dann (.) ähm dass sie halt immer frei sein wollten, haben dort Gespräche geführt, das haben die da ja auch gemacht, und ähm (.) ja und sie hat auch erzählt, dass das alles friedlich abgelaufen ist, 195 Vgl. Aufnahme MAG, MD, Min. 16:15.

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ohne Krawall, ohne alles //mhm// und ähm dass: auch die (.) Regierung an sich Angst mehr vor den Leuten hatte, dass dass die irgendwas machen, deswegen haben die ja auch diese (.) Polizisten aufgestellt, weil sie einfach Angst hatten.196

In diesem Ausschnitt nimmt sie Bezug auf die Erzählungen ihrer Großmutter. Hier lohnt sich ein genauer Blick darauf, wie Tanya sprachlich die Verbindung zwischen der Story des Films und dem Bericht der Zeitzeugin etabliert: Zunächst schildert sie das Filmgeschehen, sie beschreibt die Räumung des Dresdner Hauptbahnhofes und die Situation, der sich die friedlichen Demonstranten*innen gegenübersehen. Während diese „unbewaffnet, ohne alles“ gewesen seien, „kommt dann jemand auf einen zu und bedroht einen dann so“. Die Jugendliche versucht sich in dieser Schilderung an einer Perspektivübernahme und versetzt sich in die Situation der Demonstranten*innen, was sie über die Indefinitpronomen „jemand“ und „man“ sprachlich umsetzt. Im Ergebnis dieser Perspektivenübernahme steht eine Feststellung: „das muss schon ziemlich krass sein“. Ihre These begründet sie im Folgenden und liefert Argumente, indem sie die Motive der Demonstranten*innen detailliert schildert – wohlgemerkt ist dies noch immer in die Nacherzählung der Filmstory eingebettet. Keine*r der Demonstranten*innen habe „eigentlich (.) vorgehabt, irgendwen zu verletzen damit, was sie tun. sie wollten einfach nur frei sein“. Dies unterstreicht Tanyas Einschätzung, dass es umso erschreckender für die Unbewaffneten gewesen sein müsse, sich der Gewalt der bewaffneten Staatsmacht gegenüber zu sehen. Anstelle der Konfrontation seien die Motive der Demonstranten*innen ganz andere gewesen: „sie wollten einfach nur frei sein und ähm hatten einfach nur noch die Nase voll von diesem (.) von diesem Eingesperrtsein,“. Die Gefühlslage der Demonstranten*innen in dieser Szene ist auf der Basis der filmischen Darstellung nur bedingt für die Zuschauer*innen ersichtlich. Mit der Formulierung „das muss schon ziemlich krass sein“ bringt Tanya vielmehr zum Ausdruck, dass es sich hierbei um Mutmaßungen der Rezipientin handelt, wie die Figuren im Film die Eskalation der Gewalt wahrgenommen hätten. Indes scheinen diese Mutmaßungen auf einer filmexternen Grundlage zu beruhen. Denn genau hier stellt sie eine Verbindung zwischen der Filmstory und einer Zeitzeugin innerhalb der Familie her: „meine Oma hat mir das auch erzählt,“. Das Hineinversetzen in die Figuren des Spielfilms, das Tanya hier dokumentiert, scheint auf den Berichten der Großmutter der Jugendlichen zu fußen, die ihr als Zeitzeugin die eigenen Erlebnisse während der „Friedlichen Revolution“ geschildert hatte. So berichtet Tanya von den Erzählungen der Großmutter, die „auch auf die Montagsdemo immer gegangen ist in der Kirche, in Magdeburg“. Diese Erfahrung kann ihre Enkelin unmittelbar mit der Demonstrationsszene im zweiten Teil des „Turms“ in Verbindung setzen. Hier findet sich dann auch das Motiv wieder, das Tanya zuvor den Filmfiguren zuge196 Transkript TA, BS, Z. 29-47.

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schrieben hatte, die „einfach nur frei sein“ wollten. Auch ihre Großmutter habe berichtet, „dass sie halt immer frei sein wollten“. Doch nicht nur die Motive, sondern auch die Handlungen der Akteure der fiktionalen Erzählung decken sich mit dem Zeitzeuginnenbericht und der historischen Realität: So schildert die Großmutter, dass vonseiten der Demonstranten*innen „das alles friedlich abgelaufen ist, ohne Krawall“. Weiterhin hätten die unzufriedenen Bürger*innen der DDR laut dem Bericht der Großmutter nicht nur gemeinsam demonstriert, sondern „haben dort Gespräche geführt“. Dass in den Motiven und den Handlungen der historischen Akteure, die durch Tanyas Großmutter eine Stimme erhalten, und den Filmfiguren eine enorme Kongruenz sichtbar wird, erkennt die Rezipientin selbst: „das haben die da ja auch gemacht“. Mit „die da“ bezieht sie sich wohlgemerkt auf die Figuren in der ARD-Produktion, die genauso gehandelt hätten, wie es die Großmutter der Rezipientin selbst erlebt hatte. Das Adverb „auch“ findet sich im hier zitierten Ausschnitt zahlreich, und so markiert es letztlich die Denkfigur, die der Passage zugrunde liegt: Die jugendliche Zuschauerin stellt die Filmstory, die sie nacherzählt, der historischen Welt gegenüber, in die sie über den Zeitzeuginnenbericht der Großmutter Einblick erhält. Beide Sphären, fiktionale Erzählwelt und historische Zeitzeuginnen-Welt, stehen in einer enorm engen sprachlichen Verbindung und sind inhaltlich annähernd deckungsgleich. Die Narrative, die Tanya im Film sieht, kann sie auf der Basis der Berichte, die ihr die Großmutter geliefert hat, direkt mit einer realweltlichen Referenz versehen. Der Unterschied zu den zuvor analysierten Sequenzen, in denen die Berichte der Zeitzeugen*innen aus dem Familien- und Bekanntenkreis nicht auf den Spielfilm bezogen wurden, wird hier deutlich: Tanya etabliert sehr klar eine Verbindung zwischen beiden, sie bezieht die Erzählungen auf die audiovisuelle Darstellung. Zwar zeigt sie nicht explizit, dass es sich um ein Argument handelt – sie erzählt in der Passage die Filmhandlung nach, statt sich argumentativ mit der Frage nach der Authentizität auseinanderzusetzen. Doch viel klarer als zuvor wird erkennbar, dass sie einen Vergleich des Films mit dem vornimmt, was sie von den Zeitzeugen*innen in ihrer Familie weiß, und dieser Vergleich letztlich in die Bestätigung der fiktionalen Filmerzählung mündet. Darin zeigt sich ein enorm großes Authentifizierungspotential. Tanya nimmt Narrative der fiktionalen Erzählung wahr, die sie beinahe identisch in den Erzählungen eines Familienmitglieds wiederfindet. Damit wird für sie die Frage, inwiefern das im Film dargestellte Handeln der Figuren eine authentische Darstellung vom Ende der DDR sei, mithilfe einer alltagsweltlichen Kommunikation mit der Großmutter sehr eindeutig beantwortet. Wenn sich die Erzählungen ihrer Großmutter, einer Zeitzeugin der „Friedlichen Revolution“, an denen zu zweifeln ihre Enkelin keinen Grund hat, fast identisch in der fiktionalen Erzählung wiederfinden, dann besitzt die historische Darstellung zweifellos ein hohes Maß an Authentizität. Um-

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gekehrt stellt somit der Bericht der Zeitzeugin eine Ressource zur Authentifizierung dar, die durch die enge persönliche Verbindung – der Bericht der nahen Verwandten weist für Tanya eine maximale Glaubwürdigkeit auf – eine große Bedeutung für die Einschätzung des Gesehenen besitzt. Ähnlich zeigt sich dies weiterhin in einer bereits zitierten Sequenz aus dem Interview mit Cem, in der es um Museen und Gedenkstätten ging. 197 Doch auch für die Beschreibung der Rolle von Zeitzeugen*innen in der Lebenswelt der Jugendlichen hält die Passage einiges Potential bereit. Cem wird gefragt, woher das eigene Wissen stamme, das er auf den „Turm“ bezogen hat: I: Was ist dieses eigene Wissen, was du gerade genannt hast? CE: Ja von der Schule, alles (.) und (.) DDR (.) ja ich war persönlich mal gibt=s ja noch Helmstedt, da war ja auch die Grenze, //mhm// da war ja so ein Museum na weiß ich nicht mehr da war ich glaub ich klein da war ich zwölf oder so elf (.) einmal besucht und da war auch so=ne Grenzanlage, die man besichtigen konnte und (.) so paar Stories so paar äh Plakate aber auch Ausstellung von (.) Bewohnern und (.) von meiner Mutter die Freundin, die in Berlin jetzt wohnt, die hat auch DDR gewohnt, auch paar Sachen erzählt so dass das Leben da nicht so einfach war, auch als Ausländer nicht so einfach, und man halt zum Beispiel gab=s dort keine Bananen oder so, //mhm// man also die Bananen kommen ja aus (.) in West(.) äh Deutschland gab es ja die Bananen waren ja aus Südaf- Amerika oder Afrika (.) und in: (.) äh in der DDR gab=s ja eben keine Bananen und das hat (.) hauptsächlich Obst und Gemüse war nicht so frisch wie in=er (.) ja und (.) man hat ja auch im Film gesehen, dass zum Beispiel diese eine Frau wollte in den Westen, weil=es dort halt die Mode schon (.) //mhm// viel weiter hinaus ist als in (.) im Osten, und °in der DDR in dem Fall und (.) ja.° also war halt DDR war halt zurückgeblieben so=n bisschen.198

Cem spricht hier nicht nur über die bereits herausgearbeiteten, institutionellen Ressourcen der alltäglichen Lebenswelt, sondern auch über eine Bekannte, „von meiner Mutter die Freundin“. Details zu ihrer Person nennt er nur wenige, aber offenbar hat sie in der DDR gelebt. Daher habe sie ihm „auch paar Sachen erzählt so“ über das Leben in der DDR. In der Schilderung dieses Zeitzeuginnenberichts wird ein grundsätzlich negatives Bild der DDR erkennbar, das die Bekannte dem Jugendlichen aus Braunschweig präsentiert. Zunächst zeigt sich dies in der allgemeinen Bemerkung, „dass 197 Siehe auch Bergold, Björn: Wie Stories zu History werden. Die Rolle von Zeitzeugen bei der Authentifizierung von Zeitgeschichte im Spielfilm durch jugendliche Zuschauer. In: Waldis, Monika/Ziegler, Béatrice (Hg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 15. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 15“ (=Geschichtsdidaktik heute, Bd. 8). Bern 2017. S. 60-71. 198 Transkript CE, BS, Z. 200-216.

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das Leben da nicht so einfach war, auch als Ausländer nicht so einfach“. Damit benennt Cem nicht nur eine gravierend schlechte Situation der Bekannten in der DDR, sondern stellt zudem eine Verbindung zu sich selbst als Sohn eines türkischen Vaters mit italienischer Staatsbürgerschaft her. Wie dies weiter ausgeführt wird, steht in der Folge in einem gewissen Widerspruch zur Feststellung, als Ausländerin in der DDR mit erheblichen Problemen konfrontiert gewesen zu sein. Die Feststellung besitzt für die Betroffene selbst, aber auch für die Charakterisierung der ostdeutschen Gesellschaft eine erhebliche Tragweite. Demgegenüber erfolgt die Ausgestaltung dieser These vergleichsweise anhand einer Lappalie: Cem führt aus, dass es „halt zum Beispiel gab=s dort keine Bananen oder so“. Die Behauptung, dass das Leben seiner Bekannten in der DDR von Ausländerfeindlichkeit mitbestimmt gewesen sei, unterstreicht der Jugendliche also mit dem Verweis auf nur selten zu erwerbende Südfrüchte in der DDR. Damit greift er auf eines der zentralen Symbole für die sozialistische Planwirtschaft und die Mangelgesellschaft zurück,199 mithin aber auch auf eine klischeehafte Verbildlichung der systemischen Unterlegenheit der DDR im Ost-West-Konflikt.200 Insofern steht dieses Symbol der Mangelgesellschaft, ein Kristallisationspunkt der kollektiven Erinnerung an die DDR, in einem Missverhältnis zum Bericht der Zeitzeugin über ihre Probleme als „Ausländerin“, die Cem dadurch sprachlich veranschaulichen wollte. Aus diesem Grund erscheint es zumindest fraglich, dass der Verweis auf den materiellen Mangel am Beispiel der fehlenden Bananen tatsächlich aus dem Mund der Zeitzeugin stammt. Ich ziehe hier nicht die grundlegende Aussage in Zweifel, dass sie als Nichtdeutsche mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert gewesen war. Stattdessen lässt sich vermuten, dass Cems Verweis auf eine Ikone der kollektiven Erinnerung an die DDR, die er hier vorträgt, sich möglicherweise nicht aus den Erzählungen der Zeitzeugin speist, sondern von ihm selbst hinzugefügt worden sein könnte. Dies würde die fehlende inhaltliche Kohärenz der Passage erklären. Ungeachtet des inhaltlichen Bruchs steht aber fest: Aus der Perspektive des Braunschweigers liefert der Bericht einer Zeitzeugin, die aus seinem Bekanntenkreis stammt, das Narrativ des materiellen Mangels in der DDR. Damit wird dieser Topos mit der Autorität einer Zeitzeugin versehen, die dem Jugendlichen auf der Grundlage eigener Erfahrungen Einblicke in die Gesellschaft der DDR liefert. Diese ist ihm durchaus fremd, wie seine bisweilen historisch ungenauen Bemerkungen dokumentieren. Insofern eröffnet die Bekannte ihm Einblicke in eine fremde Welt, die für seine Aneignung des Spielfilms bedeutsam werden.

199 Siehe dazu Kaminsky, Anna: Einkaufsbeutel und Bückware. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR (=Schriftenreihe der bpb, Bd. 1116). Bonn 2010, S. 195-205. 200 Vgl. Bergold 2017, S. 67.

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Der materielle Mangel beschäftigt ihn im Folgenden, er versucht sich an Erklärungen für die fehlenden Südfrüchte an den Marktständen zwischen Rostock und Dresden. Nicht nur sprachlich wird darin eine große Unsicherheit deutlich, die Ausführungen erscheinen konfus und wenig fundiert. Doch nicht das fehlende Wissen des Zuschauers zum Wirtschaftssystem des „Ostblocks“ ist hier von Interesse – vielmehr ist die Verbindung des Zeitzeuginnenberichts zum Fernsehzweiteiler relevant, die Cem herstellt: Den beschriebenen Mangel, den er aus dem Bericht einer Bekannten erfahren hatte, habe man „ja auch im Film gesehen,“. Damit zeigt sich auch in dieser Sequenz eine Verknüpfung, die der Rezipient aufbaut zwischen Erfahrungen, die ihm eine Zeitzeugin geschildert habe, und der Story des Spielfilms. Diese führt er weiter aus, wenn er den materiellen Mangel aus der Sicht der Zeitzeugin im Film in einem ähnlichen Narrativ wiederfindet: „zum Beispiel diese eine Frau wollte in den Westen, weil=es dort halt die Mode schon (.) //mhm// viel weiter hinaus ist als in (.) im Osten“. Eine Figur des „Turms“, die Cousine des jungen Protagonisten, nennt eben die Rückständigkeit der Mode als einen Grund, nach Berlin zu ziehen. Zwar verkennt Cem, dass sie damit keine Ausreise oder gar Flucht nach Westberlin, sondern schlicht einen Umzug in die Hauptstadt der DDR meint und so in der vermeintlich bevorzugten Metropole die Waren und Modeartikel finden will, die sie in Dresden nicht erhalte. Doch auch diese Ungenauigkeit spielt letztlich eine untergeordnete Rolle, denn aus der subjektiven Perspektive des Rezipienten findet sich hier ein realweltlicher Bericht exakt in einem Narrativ des Spielfilms wieder. Wie stark der Bericht der Zeitzeugin damit die Funktion einer AuthentifizierungsRessource übernimmt, wird im Abschlusssatz der Sequenz erkennbar. Hier spricht Cem eine Art Fazit zu seinen Ausführungen. Er hält fest: „und °in der DDR in dem Fall und (.) ja.° also war halt DDR war halt zurückgeblieben so=n bisschen.“ Dass dies den zusammenfassenden Schlusssatz darstellt, bringt zum Ausdruck, dass die Erlebnisse der Zeitzeugin und die audiovisuelle Darstellung sich gleichen, indem sie beide die Zurückgebliebenheit der sozialistischen Gesellschaft darstellen und gleichermaßen belegen. Dies wiederum stellt den Film hinsichtlich seiner Authentizität auf die gleiche Stufe wie die Erinnerungen der Bekannten, beide deuten gleichberechtigt auf das ‚Fazit‘ hin, das Cem äußert. Dies verdeutlicht zum einen, dass es sich für ihn um eine authentische Erzählung handelt, mindestens im Hinblick auf die Wirtschafts- und Konsumgeschichte der DDR. Zum anderen sind die Erfahrungen der Zeitzeugin dafür die argumentative Basis und können insofern eindeutig als gewichtige Authentifizierungs-Ressource identifiziert werden. Damit ist an verschiedenen Sequenzen aus den Gesprächen mit den jugendlichen Rezipienten*innen sehr deutlich geworden, dass die Zeitzeugen*innen, von denen die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt umgeben sind, von enorm großer Bedeutung für die Authentifizierung der Filmstory sind. Zwar hat sich gezeigt, dass ihre Berichte in unterschiedlichem Maße in eine direkte Beziehung zum Spielfilm gesetzt werden, doch die inhaltliche Vielfalt und die Lebendigkeit der Passagen, in

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denen die Jugendlichen von den Erfahrungen ihrer Familienmitglieder und Bekannten berichten, zeigt die hohe Wertigkeit, die sie ihnen beimessen. Für viele Jugendliche stellen Zeitzeugen*innen aus ihrer Lebenswelt einen enorm wichtigen, bisweilen alles andere überragenden Zugang zur DDR-Geschichte dar, und spielen daher auch als Authentifizierungs-Ressourcen eine ähnliche Rolle. Eine naheliegende Begründung für diesen Befund liefert die Tatsache, dass die Zeitzeugen*innen den Jugendlichen persönlich nahestehen und nicht nur sehr präsent in ihrem Leben sind, sondern auch eine familiäre oder freundschaftliche Verbindung zu ihnen besteht. Sie sorgt für ein selbstverständliches Interesse an den Berichten über eine Zeit, die die Jugendlichen selbst nicht erlebt haben. Durch die enge persönliche Bindung erhalten die Zeitzeugen*innen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit von den Jugendlichen und zeigen sich interessiert und offen für die Geschichten, die sie erzählen. Außerdem offenbart sich aber auch, dass die Zeitzeugen*innen für die Jugendlichen einen besonderen Status besitzen. Sie weisen eine maximale Autorität auf, die ihre Berichte zu Erzählungen über die Geschichte machen, die nicht in Zweifel zu ziehen sind. Obwohl die Jugendlichen in der Lage sind, andere Ressourcen, etwa die Aussagen von Zeitzeugen*innen im Internet, durchaus quellenkritisch zu betrachten, gilt dies nicht für die Berichte ihrer Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel oder ihnen nahestehenden Bekannten. Zeitzeugen*innenberichte, die ihrer unmittelbaren Alltagswelt entstammen, werden an keiner Stelle innerhalb der Interviewdaten infrage gestellt. Ihre Autorität ist unisono sehr groß, und dies stellt einen prinzipiellen Unterschied zu allen anderen hier herausgearbeiteten Authentifizierungs-Ressourcen dar. Als Quellen weisen die Berichte der Zeitzeugen*innen eine so große Authentizität auf, dass sie für viele Jugendliche den ultimativen Prüfstand historischer ‚Wahrheit‘ repräsentieren. Diese Autorität stellt auch die Grundlage für ein Auftreten von Zeitzeugen*innen der Lebenswelt im Prozess der Authentifizierung dar, das nicht in erster Linie auf die von ihnen berichteten Geschichten zurückgeht. Vielmehr zeigt sich eine weitere Facette dieser Ressource, die auf ihrer diskursiven Stellung beruht. Dies wird beispielsweise in einer Passage aus dem Interview mit Julius erkennbar. Unmittelbar vor Beginn des Zitats wurde er gefragt, mit wem er über den „Turm“ gesprochen habe, und es wurde bereits an anderer Stelle thematisiert, dass sein Freundeskreis eher nicht als Gesprächspartner infrage kommt: JU: […] (.) aber jetzt der Film (.) war=es direkt nicht bei meinen Freunden, aber in meiner Familie schon. und mit denen habe ich mich natürlich auch drüber unterhalten, //mhm// ja (.) weil das da ziemlich viele gesehen haben, und die (2)

naja dann kamen

halt diese ganzen (.) Gespräche auf, ja so war das und (.) ja:: (.) so so war das, ja super, genau so, richtig schön dargestellt und (1)

ähm (.) ja, das waren eigentlich durchweg

positive Meinungen. I: Warum warum positive Meinungen und woher kommt dieses (.) dieses Urteil so war das?

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JU: °Positive Meinungen° @na weil der Film das sicherlich@ (.) so recht realistisch abgebildet hat. ja (.) klar es gibt diese kleinen Ecken, über die wir hier schon gesprochen haben, aber (.) das große Ganze (.) Bild von dem (.) von der Zeit, die da vermittelt wird, (2) das ist schon (.) °umfassend.° ich kann das jetzt selber nicht beurteilen, //mhm// aber sie denken schon so.201

Gegenüber der geringen Bedeutung des Freundeskreises scheint ein Gespräch im Familienkreis für Julius durchaus wichtig zur Einschätzung der Authentizität des Spielfilms. Mit seinen Freunden habe er nicht über den „Turm“ gesprochen, „aber in meiner Familie schon.“ In diesem Auftreten von Zeitzeugen*innen liegt ein kategorialer Unterschied zu deren zuvor verhandelter Rolle. Während dort die berichteten Erlebnisse und Erfahrungen für die Jugendlichen eine Grundlage zur Einschätzung der Authentizität der Filmstory bildeten, handelt es sich hier um ein Gespräch mit Zeitzeugen*innen über den Film selbst. Nicht deren Erzählungen bilden eine Grundlage für ein Urteil zum Fernsehzweiteiler, sondern deren Aussagen, die sie über den Film machen. Dass diese Kommunikationen mit seinen Verwandten für Julius einen regelmäßigen Charakter besitzen und es sich keineswegs um eine Ausnahme handelt, macht er schnell deutlich: „mit denen habe ich mich natürlich auch drüber unterhalten“. Er zeigt hier, dass es sich für ihn geradezu um eine Selbstverständlichkeit handelt, mit seinen Familienangehörigen über einen historischen Spielfilm wie den „Turm“ zu sprechen. Er gibt zu Protokoll, dass gerade diese Produktion „ziemlich viele gesehen haben“, und damit wird deutlich, dass es sich um eine familiäre Zuschauer*innengemeinschaft handelt, die ähnliche fiktionale historische Erzählungen regelmäßig ansähen und dass anschließende Gespräche in der Familie regelmäßig stattfänden. Auch die Partikel „halt“ im folgenden Satz unterstreicht diesen Eindruck. Schnell wird klar, welche Ausrichtung die Gespräche über den Spielfilm besitzen. Sie scheinen darauf orientiert, festzustellen: „ja so war das“. Darin dokumentiert sich ein weiteres Mal, dass die Frage nach der Authentizität des Gesehenen für die Jugendlichen, aber anscheinend auch für weitere Rezipienten*innen keineswegs eine Nebensächlichkeit im Prozess der historischen Spielfilmrezeption repräsentiert, sondern mithin in dessen Zentrum steht. Der primäre Blickwinkel auf einen Spielfilm wie den „Turm“ besteht auch für die Familienmitglieder von Julius darin, zu prüfen, wie authentisch die erzählte Geschichte sei. Die fiktionale Erzählung wird dafür in ein Verhältnis zu einer angenommenen historischen Realität gesetzt, und im Ergebnis liefert dieser Abgleich zwischen historischer Darstellung im Film und der vermeintlichen historischen Realität die Erkenntnis, dass beide übereinstimmen.

201 Transkript JU, MD, Z. 478-492.

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Die Form, in der dieser Vergleich von Julius in der Passage sprachlich realisiert wird, erscheint bemerkenswert. Er wiederholt mehrfach die Feststellung, dass es „so war“, sich also um eine authentische Erzählung handelt, und spricht dabei laut und sehr dynamisch. Zudem erscheinen Attribute wie „super“ und „richtig schön“ in diesem Kontext eher ungewöhnlich. Die laute Aussprache und die spezielle Wortwahl wecken daher eher Assoziationen an ganz andere Kontexte: etwa an eine im Fernsehen ausgestrahlte Sportveranstaltung. Aus seiner Schilderung entsteht das Bild einer vor dem Fernseher versammelten Familie, die den Ereignissen auf dem Bildschirm gebannt folgt. Sie fiebert regelrecht mit, und die aufgebaute Spannung bricht sich letztlich in einem kollektiven Jubelschrei Bahn, der den Akteuren auf dem Bildschirm ein „genau so“ zuruft. Es handelt sich bei dieser Szene jedoch nicht um eine Sportübertragung, sondern um die Aneignung eines historischen Spielfilms, und dennoch scheint die kollektive Authentifizierung der darin erzählten Story für die Familie einen Event-Charakter zu besitzen. Die positive Einschätzung des Spielfilms, so zeigt sich im Anschluss, hängt unbedingt von diesem Akt der kollektiven Authentifizierung ab. Erst nach der gemeinsamen Prüfung, ob es sich bei der Erzählung der Story um eine authentische Darstellung von Geschichte handelt, fällt die Familie ein positives Urteil, „@na weil der Film das sicherlich@ (.) so recht realistisch abgebildet hat.“ Im Wort „sicherlich“ drückt sich aus, dass der junge Zuschauer dieses Urteil weitestgehend teilt, aber sich persönlich ein Stück weit davon distanziert. Er verweist indes auf „diese kleinen Ecken“, in denen ihm das Gesagte wenig glaubwürdig erschienen sei. Dies wurde bereits an früherer Stelle thematisiert, es ging um die Plausibilität des menschlichen Handelns, die der Jugendliche in einer Figur des Films angezweifelt hatte. „[D]as große Ganze (.) Bild von dem (.) von der Zeit, die da vermittelt wird“ werde jedoch „recht realistisch abgebildet“. In dieser Beurteilung des Films verbirgt sich Erkenntnispotential hinsichtlich der Frage, in welchem Verhältnis die eigene Einschätzung des Jugendlichen zum Urteil seiner Familienmitglieder steht. Am Ende der Sequenz sind zwei Positionen vertreten, einerseits die geradezu frenetisch attestierte Authentizität des Spielfilms durch die Familie, andererseits der durch ihn geäußerte, vorsichtige Zweifel am Handeln einer einzigen Filmfigur. Um diese beiden Standpunkte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Das Urteil seiner Familienmitglieder fußt auf deren eigenen Erfahrungen und ihrer Eigenschaft als Zeitzeugen*innen, ist also insofern ein spezifisch historisches Argument für die Authentizität der historischen Darstellung. Demgegenüber steht Julius’ Vermutung, dass das Handeln einer einzigen Figur menschlich schwer nachvollziehbar sei, weil diese sich zu stark und zu schnell in ihren politischen Ansichten geändert habe. Dieses Argument ist kein spezifisch historisches, sondern speist sich aus einem allgemeinen Weltwissen und den eigenen, nicht-historischen Erfahrungen, über die der Jugendliche selbst verfügt. Wie er diese beiden Ressourcen letztlich gewichtet, wird im Abschlusssatz der zitierten Pas-

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sage erkennbar: „ich kann das jetzt selber nicht beurteilen, //mhm// aber sie denken schon so“. Damit setzt er sich selbst in eine Position, in der er aufgrund eines Defizits schwerlich ein eigenes Urteil zu fällen imstande sei. Seiner eigenen Meinung, die auf einer historisch nicht spezifischen Argumentation beruht, misst er damit weniger Überzeugungskraft bei als jenen, die qua ihrer Eigenschaft als Zeitzeugen*innen über die Authentizität des Films befinden können. Folglich zeigt sich für Julius die Facette der unmittelbaren, kommunikativen Authentifizierung des historischen Spielfilms durch Zeitzeugen*innen der Lebenswelt als eine enorm wichtige Ressource. Dass seine Familie, deren Mitglieder als Zeitzeugen*innen die DDR selbst erlebt haben, die Darstellung im „Turm“ für authentisch hält und dies direkt äußert, ist für Julius ein derart gewichtiges Argument, dass es letztlich die eigene, vorsichtig zweifelnde Einschätzung beiseite wischt. Zeitzeuge*in zu sein ist für ihn jene Eigenschaft, die letztlich die ultimative Grundlage zur Authentifizierung der Filmstory liefert. Weil er selbst über diese Eigenschaft nicht verfügt, vertraut er entsprechend der Bewertung der Story als authentische Geschichte, die seine Familienmitglieder für ihn vornehmen. Das Defizit, das sich Julius hier selbst gegenüber seinen Familienmitgliedern attestiert, hatte sich bereits bei anderen Jugendlichen gezeigt. Es kann als ein Muster beschrieben werden, das fallübergreifend der Überzeugung einiger Jugendlicher entspricht, die die Erlebnisse und Erfahrungen von Zeitzeugen*innen als enorm bedeutsam einschätzen, weil sie selbst eben über keine eigenen Erfahrungen zur im Film dargestellten Zeit verfügen. Diese Jugendlichen nehmen gegenüber Zeitzeugen*innen eine inferiore Selbstpositionierung vor, die im Hinblick auf die Rezeption eines historischen Spielfilms zwei Resultate zeitigt: Einerseits schätzen die Jugendlichen aus der Haltung des Defizits die Berichte, die ihnen Zeitzeugen*innen in ihrer alltäglichen Lebenswelt liefern, als enorm wichtigen Zugang zur deutschen Zeitgeschichte ein. Für die Authentifizierung, so hatte sich gezeigt, spielen die Erzählungen von Bekannten und Familienmitgliedern eine sehr große, in einigen Fällen gar dominante Rolle aus der Sicht der jugendlichen Rezipienten*innen. Andererseits führt die Einschätzung, Zeitzeugen*innen im Hinblick auf zeitgeschichtliche Themen gewissermaßen unterlegen zu sein, dazu, dass deren Urteil über eine fiktionale historische Erzählung wie den „Turm“ letztlich ein größeres Gewicht zukommt als der eigenen Einschätzung der Story. Wenn Zeitzeugen*innen in der Lebenswelt der Jugendlichen wie im Fall von Julius eine positive Einschätzung hinsichtlich der Authentizität des Gesehenen abgeben, so erhält diese den Vorzug gegenüber eigenen Argumenten, die dieses Urteil möglicherweise differenzieren könnten.

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Damit drückt sich bei ihm ein ‚Vetorecht der Zeitzeugen*innen‘202 aus, die letztlich die historische Deutungshoheit zugeschrieben bekommen. Keineswegs drängt sich dieser Eindruck nur bei Julius auf, auch bei weiteren Jugendlichen zeigt sich, dass bei der Beurteilung der Authentizität des Spielfilms Zeitzeugen*innen das letzte Wort hätten. Der Braunschweiger Cem etwa knüpft an deren Urteil beispielsweise seine eigene Einschätzung des Zweiteilers. Ganz am Ende des Interviews, nachdem er bereits ausführlich seine Position dargelegt und begründet hatte, nimmt er Stellung zu einem kritischen Standpunkt eines vermeintlichen DDRZeitzeugen, der in einem Online-Forum an der Darstellung der DDR im „Turm“ gezweifelt hatte: „[…] wenn die dann selbst auch sagen, so wie der hier, dass das nicht so war, dann (.) würde=ich auch selber so nachdenken okay, (.) vielleicht war der Film doch ein bisschen (.) nicht realitätstreu, […]“203. Er zieht damit kurzerhand seinen eigenen Standpunkt in Zweifel auf der Basis eines ihm persönlich Unbekannten, zu dem er nur vage Informationen besitzt. Die Glaubwürdigkeit qua Zeitzeugenschaft, die von dem Kommentator ausgeht, ist jedoch groß genug, um der eigenen Position des Interviewten mit einem Veto zu begegnen. Eine zusammenfassende Einschätzung der Gespräche mit Zeitzeugen*innen in der Lebenswelt der Jugendlichen als Authentifizierungs-Ressource kann deren Bedeutung nur als enorm groß beschreiben. Wie sich gezeigt hat, verweisen die Teilnehmer*innen der Studie in einer Vielzahl auf Zeitzeugen*innenberichte, die sie nicht aus den unterschiedlichsten Medien, sondern aus Gesprächen in ihrer Lebenswelt kennen. Viele Jugendliche können lebhaft, detailliert und ausführlich die Geschichten wiedergeben, die ihnen Eltern, Großeltern, weitere Familienmitglieder oder Menschen in ihrem Bekanntenkreis erzählt haben. Deren eigene Erlebnisse der Zeit, die im Fernsehzweiteiler dargestellt wird, stellen für sie eine enorm wichtige Ressource dar, mit dem Gesehenen umzugehen. Die Ressource der Gespräche mit Zeitzeugen*innen habe ich in dreierlei Gestalt herausgearbeitet. Erstens steht den Jugendlichen ein Fundus an Erzählungen zur Verfügung, der ihnen vielfältige Einblicke in das Leben in der DDR aus der Perspektive von Zeitzeugen*innen liefert. Zwar sind diese Berichte inhaltlich relativ unspezifisch, insofern sie sich nicht direkt als Narrative im Film wiederfinden. Entsprechend tauchen sie sprachlich in den Interviews auch nicht als Argumente auf, sondern stehen in gewisser Weise parallel neben der audiovisuellen Erzählung des „Turms“. Jedoch bilden sie eine wesentliche Grundlage auch zur Bewertung der Authentizität des Zweiteilers, indem die Berichte der Zeitzeugen*innen und die Filmstory vom letzten Jahrzehnt der DDR weitestgehend problemlos miteinander 202 Siehe zur Denkfigur des „Vetorechts der Quellen“ Jordan, Stefan: Vetorecht der Quellen, Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte 2010. Online unter https://docupedia .de/zg/Vetorecht_der_Quellen (16.1.2016). 203 Transkript CE, BS, Z. 1208-1211.

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vereinbar sind. Somit bestätigen die Erzählungen von Familienmitgliedern und Bekannten, die in Ost und West die deutsch-deutsche Geschichte erlebt haben, mindestens indirekt die historische Darstellung des TV-Events. Zweitens finden sich darüber hinaus Erzählungen von Zeitzeugen*innen, die in den Augen der Rezipienten*innen fast identisch als Narrative Einzug in den Spielfilm gehalten haben. Damit sind die Berichte nicht nur miteinander vereinbar, sondern deckungsgleich – was die Jugendlichen aus Gesprächen mit Zeitzeugen*innen der DDR und der Bonner Republik erfahren haben, erkennen sie so auch in der Filmstory wieder. Dies stellt vergleichsweise die stärkere Authentifizierungs-Ressource dar, insofern die ohnehin höchst glaubwürdigen Berichte für die jugendlichen Rezipienten*innen einen unmittelbaren Bezug zur Filmstory aufweisen. Auch verfügen eben jene Gesprächspartner*innen aus der Perspektive der Jugendlichen über ein großes Maß an Autorität, die sich auch aus der Exklusivität ihres Wissens speist, das sie über die deutsche Zeitgeschichte besitzen und das auf selbst gemachten Erfahrungen beruht. Diese Autorität führt drittens dazu, dass Zeitzeugen*innen als kommunikative Authentifizierer des Spielfilms auftreten. Hier stellen sie nicht die Berichte bereit, die den Jugendlichen zur eigenen Urteilsbildung über die fiktionale Erzählung im Film dienen können. Vielmehr liefern sie zum historischen Spielfilm, den sie selbst gesehen haben, eine eigene Einschätzung hinsichtlich seiner Authentizität, die die Jugendlichen annehmen können. Aus den Interviewdaten ist anhand zahlreicher Beispiele deutlich geworden, wie wichtig die Ressource der Gespräche mit Zeitzeugen*innen den Jugendlichen für die Rezeption und Authentifizierung des Gesehenen ist. Die Zeitzeugen*innen in ihrer Lebenswelt, Familienmitglieder und Bekannte, nehmen schon unter den lebensweltlichen Ressourcen eine herausgehobene Stellung ein. Zudem lässt sich auch im Überblick über alle hier verhandelten Authentifizierungs-Ressourcen feststellen, dass Zeitzeugen*innen, mit denen die Jugendlichen selbst gesprochen haben, in ihrer Bedeutung über die der meisten anderen Ressourcen hinausgehen. Angesichts der Tatsache, dass Zeitzeugen*innen in der Analyse schon als Medienfiguren eine besondere Rolle gespielt haben, möchte ich abschließend einige übergreifende Gedanken dazu festhalten. Als ein Teil des TV-Events „Der Turm“ traten sie als Akteure in der Dokumentation zum Spielfilm auf, was die übergreifende Frage aufwirft: Welche Bedeutung liegt in der Figur des*r Zeitzeugen*in, sei es als mediale*r Zeitzeuge*in in historischen Audiovisionen, sei es als Person in der alltäglichen Lebenswelt der Jugendlichen, für die Authentifizierung der fiktionalen audiovisuellen Erzählung? Bereits in der Analyse des TV-Events „Der Turm“ hat sich gezeigt, dass vor allem die in der Fernsehdokumentation auftretenden Zeitzeugen*innen für viele der jugendlichen Zuschauer*innen eine hervorgehobene Stellung einnehmen. Die Dokumentation spielte als Medium für die Authentifizierung des Spielfilms aus mehreren Gründen eine besondere Rolle, aber vor allem die zwei unterschiedlichen Typen von Zeitzeugen*innen, die darin ihre Sicht auf die

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Ereignisse schildern konnten, stachen deutlich hervor. Sowohl die unbekannten Zeitzeugen*innen in der Dokumentation als auch die Fernsehstars, die in der doppelten Rolle der Schauspieler*innen und DDR-Zeitzeugen*innen auftraten, wurden von den Jugendlichen als höchst vertrauenswürdige Elemente wahrgenommen, die die Authentizität der filmischen Erzählung maßgeblich stützten. Die gleiche Vertrauenswürdigkeit dokumentierte sich in der Rolle, die die Jugendlichen den Zeitzeugen*innen in ihrer Lebenswelt attestierten. All die Berichte, die sie von ihnen erfahren hatten, stellen im Überblick den bedeutsamsten Zugang zur deutschen Zeitgeschichte dar. Die jungen Rezipienten*innen zeigen, dass aus ihrer Sicht kein Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Berichte bestehe, und messen die Authentizität des Spielfilms maßgeblich an dieser Ressource, die sie aus ihrer alltäglichen Lebenswelt ziehen. Die ungeheure Autorität, die sie ihnen und ihren Berichten zuschreiben, wurde umso stärker verdeutlicht von jener Facette dieser Figur, die über die direkte Bezugnahme auf den Spielfilm und dessen kommunikative Authentifizierung den Jugendlichen ein unumstößliches Urteil über die Authentizität der historischen Darstellung lieferte. Darin traten die Zeitzeugen*innen der Lebenswelt als Experten*innen auf, die aufgrund der eigenen Erfahrungen ein letztgültiges Urteil zu sprechen imstande waren. Geradezu anekdotischen Charakter hat in diesem Zusammenhang die Charakterisierung von Akteuren der Geschichts- und Erinnerungskultur, die Michaela liefert: MI: […] also bei diesen Dokumentationen, dass viele Wissenschaftler einfach schon darüber reden, und darüber spekulieren, °ja es° es war ja so und so, //mhm// die haben gar keine Ahnung davon, denke ich mir, die haben sich zwar das Wissen irgendwie angeeignet, aus Büchern, aber wirklich Ahnung haben die davon nicht, deswegen können die mir auch nix davon sagen, und können mir auch das Wissen eigentlich (.) finde ich nicht rüberbringen. […]204

Die vermeintlichen Hüter historischer Erkenntnis, die Historiker*innen, die methodisch kontrolliert als Experten*innen historisches Wissen hervorbringen, schneiden in Michaelas Einschätzung denkbar schlecht ab. Sie „haben gar keine Ahnung davon“, sondern übten sich vielmehr in Spekulationen auf der Grundlage von lediglich „irgendwie“ angeeignetem Wissen. Ihre vermeintliche Deutungshoheit und hervorgehobene Stellung im historischen Diskurs wird hier ins Gegenteil verkehrt, und die Jugendliche macht einige Zeilen später deutlich, wem sie eine derartige Rolle eher beimisst:

204 Transkript MI, BS, Z. 670-675.

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I: Warum haben die keine Ahnung? und wer hat Ahnung? MI: Zeitzeugen haben Ahnung, (.) u:nd (.) die die keine Zeitz- also die das einfach nicht miterlebt haben, haben für mich keine Ahnung, weil sie das wieder nur analysieren, und das ist dann wieder so wie in der Schule, (.) so wie zum Beispiel (.) mein Lehrer erzählt die ganze Zeit irgendwas von Politi- also in Politik, erzählt er immer (.) ja und die äh Leute verdienen ja gar nicht soviel Geld, und da denke ich mir so natürlich verdienen die Leute Geld und wir sind doch eigentlich ein reiches Land, //mhm// hier in Deutschland, und er macht das aber irgendwie so nieder und (.) das finde ich zum Beispiel total schlecht. (.) und (2)

weiß

ich nicht (.) der hat dann zum Beispiel auch kei- also=der lebt sogar hier in der Zeit und hat auch keine Ahnung, //mhm// und dann können Leute, die nicht in der Zeit gelebt haben (.) und darüber nur spekulieren, noch weniger Ahnung haben.205

„Zeitzeugen haben Ahnung,“ und nach Ansicht ihrer folgenden Ausführungen möchte man anfügen, dass sie für die Jugendliche als einzige eine Legitimation besitzen, über die historischen Ereignisse zu berichten, die sie selbst erlebt haben. Es handelt sich letztlich um die totale Verneinung jeglicher Expertise, die Michaela hier ausführt, und an die Stelle von fachlicher Ausbildung, einem umfangreichen Wissensfundus und den Kompetenzen, Werkzeugen und Methoden, über die Experten*innen verfügen, tritt ein einziges, ultimatives Kriterium: die unmittelbare Erfahrung der Zeit. Diese Abwertung von Historikern*innen und Aufwertung von Zeitzeugen*innen hat das Potential zum Treppenwitz: Der*die Zeitzeuge*in als vielbesungener, ‚natürlicher Feind des Historikers‘ obsiegt in den Augen dieser Zuschauerin, für wirklich korrekte Eindrücke über vergangene Zeiten greift sie auf die Berichte von denen zurück, die eigene Erfahrungen und Erlebnisse einbringen können. Das entscheidende Pfund, das sie in den historischen Diskurs einbringen können, liegt in der Unmittelbarkeit der Erfahrung von Geschehnissen einerseits, aber auch der Unmittelbarkeit ihres Berichts andererseits. Zeitzeugen*innen als „Wanderer zwischen zwei Welten“ könnten – der Überzeugung der Jugendlichen entsprechend – über einen direkten Zugang zu vergangenen Geschehnissen gleichsam unmittelbar berichten, was umso mehr gilt, als dass sie Teil der Lebenswelt der Jugendlichen sind. Diese doppelte Unmittelbarkeit hebt sie aus dem Ensemble der historischen Quellen, aber zugleich auch aus dem weiten Rund der Teilnehmer*innen am gegenwärtigen historischen Diskurs heraus und fundiert so ihre Einzigartigkeit. Freilich mag es sich um einen Extremfall handeln, der hier vorgestellt wird. Im Überblick über das Sample findet sich keine derart radikale Aussage wie jene von Michaela, doch lässt sich die Bedeutung der doppelten Unmittelbarkeit, die die Figur des*r Zeitzeugen*in in der sozialen Umgebung der Jugendlichen mitbringt, tendenziell auch bei weiteren Jugendlichen erkennen. Angesichts der Geschichte, die die Figur des*r Zeitzeugen*in selbst aufweist, kann dieser Befund nicht überra205 Transkript MI, BS, Z. 683-695.

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schen. Der*die Zeitzeuge*in als Figur der Öffentlichkeit, in erster Linie als Medienfigur, hat in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive eine enorme Aufwertung erfahren,206 wenngleich die vielzitierte Zäsur vom Ende der Zeitzeugenschaft – viele der so wichtigen Zeitzeugen*innen des „Dritten Reiches“ sind nicht mehr auskunftsfähig – neue Fragen aufwirft.207 Es lässt sich wohl feststellen, dass Zeitzeugen*innen als Akteure des Fernsehens geradezu als Hüter*innen historischer Wahrheit aufgebaut und etabliert worden sind, die zudem über den Faktor Emotionalität einen besonderen Zugang offerieren.208 Hinzu kommt, dass auch jenseits des Geschichtsfernsehens dem*r Zeitzeugen*in eine enorm dominante Stellung im historischen Diskurs zukommt. Keine Gedenkveranstaltung, die die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus vergegenwärtigte, war bis zuletzt ohne das Beisein von Zeitzeugen*innen oder gar Augenzeugen*innen vorstellbar. Keine zeitgeschichtliche Gedenkstätte kann ohne die Kooperation mit Zeitzeugen*innen, zumeist Opfer des jeweiligen historischen Ortes, ihre Aufgaben erfüllen. Und letztlich kommt kein deutscher Lehrplan des Faches Geschichte ohne den Verweis auf den Einsatz von Zeitzeugen*innen im Unterricht aus. Tatsächlich können viele Schüler*innen darüber berichten, wie sie im Unterricht unmittelbar die Schilderungen von Menschen erfahren haben, die selbst Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte erlebt haben. Die Legitimität dieser Rolle, die dem*r Zeitzeugen*in in Medien und Öffentlichkeit zukommt, ist indes unbestritten. Vielmehr ist die gewachsene Bedeutung der Figur eine Entwicklung, die auch als Reaktion „gegen das kommunikative Beschweigen der Vergangenheit“209, das heißt der NS-Geschichte vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, zu deuten ist. Nur vor diesem historischen Hintergrund der einstigen Nichtbeachtung der Zeugen*innen des Holocaust ist deren heutige Bedeutung zu verstehen. Die Entwicklung mündete indes darin, dass Zeitzeugen*innen mittlerweile zum „master narrative unserer Zeit geworden“ seien und zu einem eklatanten „Bedeutungsverlust der Fachhistorie“210 geführt hätten. Diese fast hegemoniale Stellung, die Zeitzeugen*innen im öffentlichen Diskurs über zeitgeschichtliche Themen zukommt, spiegelt sich auch in den Gesprächen mit den Jugendlichen wider. Auch sie sind Ausdruck davon, dass Zeitzeugen*innen in 206 Vgl. u.a. Keilbach 2003; Fischer, Thomas: Ereignis und Erlebnis: Entstehung und Merkmale des zeitgenössischen dokumentarischen Geschichtsfernsehens. In: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures, Bd. 1). Bielefeld 2009. S. 191-202. 207 Vgl. Gries 2012, S. 50. 208 Siehe dazu auch Keilbach 2008. 209 Sabrow 2012, S. 14. 210 Beide Zitate Sabrow 2012, S. 19 bzw. S. 22.

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der Geschichts- und Erinnerungskultur eine herausragende Stellung angetragen wird. Diese setzt sich fast folgerichtig auch im Prozess der Rezeption audiovisueller historischer Erzählungen fort, sodass darin ein Grund zu sehen ist, dass auch die Interviewdaten für einen Primat der*s Zeitzeugen*in als AuthentifizierungsRessource sprechen. Insofern lässt sich pointiert festhalten, dass die Jugendlichen den Vorrang der Zeitzeugenschaft im Rahmen der Geschichts- und Erinnerungskultur erfolgreich erlernt haben. Gleichwohl geht damit bisweilen die Beobachtung einher, dass ein kritischer Umgang mit dieser Quelle, der deren Bedeutung zwar anerkennt, aber den Berichten nicht blindlings vertraut, sondern sie ebenso wie andere Quellen entsprechend quellenkritisch betrachtet, leider die vernachlässigte Kehrseite der Medaille darstellt. Manchen Jugendlichen, für die die Berichte mit Zeitzeugen*innen die ultimative Ressource zur Einschätzung der Filmstory darstellen, ließe sich dementsprechend eine nur unzureichende Klarheit über die Grenzen der Berichte ihrer Familienmitglieder und Bekannten attestieren. Das Bewusstsein darüber, dass Zeitzeugen*innen ebenfalls einer quellenkritischen Betrachtung bedürfen und sie auch für die Authentifizierung einer Spielfilmstory keine sakrosankte Ressource darstellen können, fehlt indes mit Blick auf das gesamte Sample oder zeigt sich allerhöchstens in Ansätzen. Ohne dass dies einen Schwerpunkt des Samplings dargestellt hätte, drängt sich zumindest der Eindruck auf, dass dieser Befund von den Leistungsniveaus der Schüler*innen unabhängig zu beobachten ist, wenngleich dieser Aspekt einer weiteren Erforschung bedürfte. Die Schwierigkeit, zu den Berichten von Zeitzeugen*innen ein sachlich distanziertes Verhältnis einzunehmen, wird durch zwei Faktoren zusätzlich erschwert. Einerseits wurde das Defizit an eigener, unmittelbarer Zeiterfahrung hier bereits benannt, das sich einige Jugendliche selbst zuschreiben. Entsprechend fällt es den Jugendlichen schwer, ohne eigene Erfahrungen und Erlebnisse, die den Zeitzeugen*innenberichten eine Alternative entgegenstellen könnten, deren Geschichten infrage zu stellen. Ihr historisches Wissen, etwa aus dem Geschichtsunterricht, reicht dazu offenbar nicht aus, sodass Zeitzeugen*innen für sie fast zwangsläufig als Lieferanten exklusiver historischer Einblicke gelten müssen, über die sie selbst nicht verfügen. Hinzu kommt, dass gerade jene Zeitzeugen*innen, die der alltäglichen Lebenswelt der Jugendlichen entstammen, in einer enormen persönlichen Nähe zu ihnen stehen. Es sind die Eltern und Großeltern, Tanten, Onkel und oft nahestehende Bekannte, die ihnen persönliche Einblicke in eine Zeit gewähren, die sie selbst nicht miterlebt haben. Die oft enge persönliche Verbindung macht es plausibel, dass die Jugendlichen den Berichten Glauben schenken. Wer würde die Erzählungen von Familienmitgliedern, die nicht selten auch mit schmerzhaften oder zumindest problematischen Erinnerungen verbunden sind, schon infrage stellen? Dazu gehörte nicht nur eine fachspezifische Kompetenz, quellenkritisch der Figur des*r Zeitzeu-

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gen*in zu begegnen, sondern auch der Willen, zu den Menschen, die den Jugendlichen oft am nächsten stehen, auf ein gewisses Maß an Distanz zu gehen. Nicht nur für Jugendliche scheint dies wohl ein allzu hehrer Anspruch zu sein. Dies scheinen mir die Gründe dafür, unter allen Authentifizierungs-Ressourcen, die sich im Datenmaterial gezeigt haben, von einem Primat der Figur des*r Zeitzeugen*in zu sprechen. Sie vereint nicht nur aus spezifisch historischer Perspektive einige Vorzüge in sich, etwa die Unmittelbarkeit der Erfahrung und die Tatsache, dass eine menschliche Perspektive auf Geschichte ermöglicht wird. Zudem besitzt sie den Vorteil, dass sie in der alltäglichen Lebenswelt der jungen Rezipienten*innen zahlreich, vielfältig und leicht zugänglich vertreten ist, gepaart mit einer oft engen persönlichen Verbindung zwischen den Zuschauern*innen historischer Audiovisionen und jenen, die das im Film Erzählte selbst erlebt haben. In diesen Überlegungen zeigt sich, dass ein weiteres Nachdenken fruchtbar erscheint, das den Prozess der Authentifizierung auf einem höheren, abstrahierenden Niveau zusammenzufassen trachtet. Ich möchte daher den Blick auf die einzelnen Ressourcen der Authentifizierung an dieser Stelle abschließen. Im Folgenden werde ich versuchen, aus den bisherigen Ergebnissen der empirischen Analyse – aus der Frage, wie authentisch der Spielfilm für seine Zuschauer*innen ist, und aus der Frage, auf welcher Grundlage sie zu dieser Zuschreibung gelangen – eine Synthese zu erarbeiten, die die Authentifizierung von fiktionalen, historischen Spielfilmen als Prozess der historischen Medienaneignung allgemeiner fasst und charakterisiert.

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4.3 MERKMALE DES AUTHENTIFIZIERUNGS-PROZESSES Die beiden bisherigen Kapitel zu den empirischen Ergebnissen sind im Wesentlichen zwei Fragestellungen nachgegangen: Zunächst wurde dargestellt, welche Typen der Rezeption und der Authentifizierung eines historischen Spielfilms sich unter den Jugendlichen innerhalb dieser Studie herauskristallisiert haben. Dabei ist deutlich geworden, wie verschieden und vielfältig Zuschauer*innen einen historischen Spielfilm ansehen können. Darüber hinaus wurden ausführlich die Grundlagen für diese Zuschreibung von Authentizität analysiert und nach den Ressourcen gefragt, die die Jugendlichen für eine Antwort auf die Frage heranziehen, wie authentisch das Gesehene für sie gewesen sei. Dabei hat sich eine enorme Fülle an Ressourcen ergeben. Mit dem bisherigen Vorgehen sind damit – aus einer abstrakteren Blickrichtung – zwei Dinge geleistet: Einerseits konnte im ersten empirischen Kapitel das Resultat in den Blick genommen werden, das am Ende der Rezeptionsprozesse der Jugendlichen steht. Andererseits konnte mit den Ressourcen die individuelle Basis dieses Prozesses empirisch analysiert werden. Dementsprechend scheint es angezeigt, im Anschluss an die Grundlagen und das Ergebnis des Authentifizierungsprozesses ein abschließendes Kapitel der Frage zu widmen, wie dieser Prozess denn als solcher zu charakterisieren ist. Es geht dabei um ein abstrakteres Verständnis davon, wie aus Spielfilmen in der Rezeption jugendlicher Zuschauer*innen authentische Darstellungen historischer Gegenstände werden. Durch welche Wesensmerkmale zeichnet sich die Authentifizierung als ein Teil der Spielfilmrezeption aus? Welche Charakteristika lassen sich aus dem bisher Erarbeiteten destillieren? Die folgenden Ausführungen befinden sich daher mit Blick auf die Konzeption dieser Arbeit in einem Zwischenraum zwischen dem analytischen Hauptteil der Arbeit und ihrem Fazit: Einerseits sollen sie mit Blick auf die bisherigen Ergebnisse das Gesagte auf ein höheres Niveau der Abstraktion heben. Es gilt insofern, das bisher eng am empirischen Material Erarbeitete in Richtung einer Theorie der Authentifizierung historischer Spielfilme weiterzuentwickeln. Andererseits sollen die Ausführungen auch auf die Beobachtungen und Analysen zurückblicken, synthetisieren und abschließen, was mit den empirischen Kapiteln begonnen wurde. Ich werde dieses Synthesekapitel daher entlang von fünf thesenhaften Schlaglichtern gliedern, die meines Erachtens die Authentifizierung als Rezeptionsprozess in ihrem Wesen beschreiben können.

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1. Die Antwort auf die Frage nach der Authentizität fiktionaler historischer Erzählungen im Spielfilm ist aus der Sicht der Rezipienten*innen grundsätzlich offen. Gleichwohl stellt die Authentifizierung des Gesehenen für die Mehrheit der Zuschauer*innen einen Prozess dar, der als ein Imperativ der Rezeption fiktionaler historischer Audiovisionen angesehen werden kann. Eines der zentralen und meines Erachtens wichtigsten Ergebnisse der empirischen Analysen stellt die Erkenntnis dar, dass fiktionale historische Spielfilme keineswegs nur auf eine Art und Weise angesehen werden können. Vielmehr hat sich sehr deutlich gezeigt, dass die jugendlichen Zuschauer*innen verschiedene Lesarten des gleichen Films entwickeln können. Derselbe filmische Input führt zu individuell unterschiedlichsten Aneignungsweisen und Rezeptionstypen, und auch die Frage nach der Authentizität des Gesehenen beantworten die Zuschauer*innen durchaus verschieden. In der Analyse hatten sich drei verschiedene Typen herauskristallisiert: Einige Jugendliche hielten das Gesehene für eine authentische Fiktion über die DDRGeschichte, in der fiktive Figuren individuell fiktiv handeln, ihnen jedoch eine abstrakte historische Wahrheit innewohnt. Sie zeigen sich aus der Sicht der Zuschauer*innen als historisch plausible Figuren, die typische Lebenswege darstellen und in einer authentischen Filmwelt agieren, bei der es sich zweifellos um die DDR in ihrer letzten Dekade handelte. Diese Form der Rezeption fand somit in einem Modus des historischen Potentialis statt. Andere Rezipienten*innen gingen über diese Einschätzung hinaus, indem sie die fiktionale historische Erzählung vor allem hinsichtlich ihrer Figuren anders bewerteten. Sie schätzten die Protagonisten*innen als filmische Abbilder realer, historischer Personen ein, und gingen damit über die Authentizitätszuschreibung der anderen Jugendlichen hinaus. Sie maßen den Handlungen und Ereignissen der Filmstory eine ganz konkrete und insofern maximale Glaubwürdigkeit zu und sahen im Spielfilm die Darstellung historischer Orte, Ereignisse, Personen und Handlungen, ungeachtet der objektiven Fiktivität der Charaktere. Damit sahen sie den fiktionalen Fernsehzweiteiler in einem Rezeptionsmodus, der eher in der Nähe der Rezeption non-fiktionaler Formate anzusiedeln ist. Nicht zufällig stützten sie ihre Zuschreibung vor allem auf die zum Film produzierte TV-Doku, die maßgeblich für die maximale Authentifizierung bei diesem Rezeptionstypus verantwortlich zeichnete. Drittens zeigte sich ein Typus der Rezeption, für den die Authentizität der Filmstory zunächst keine Relevanz aufwies. Jene Jugendlichen rezipierten den Spielfilm wie eine audiovisuelle Erzählung, für die der historische Rahmen des Erzählten keine Bedeutung trägt. Im Rahmen ihrer ahistorischen Lesart suspendierten sie die Frage nach der Authentizität des Gesehenen, insofern sie die Story nicht auf ihre außerfilmischen Referenzen hin prüften. Stattdessen verblieben sie mit ihrer Lesart entsprechend fiktionaler Fernsehformate wie etwa TV-Soap-Operas ausschließlich

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innerhalb der fiktiven Filmwelt. Gleichwohl zeigten sich diese Jugendlichen später in der Lage, im weiteren Verlauf der Interviews auch eine historische Verortung der Filmstory vorzunehmen. Doch welche Schlüsse lassen sich aus den Erkenntnissen zu den drei Typen der Rezeption und Authentifizierung ziehen? Zunächst halte ich die beschriebene Ergebnisoffenheit, die den Prozess der Rezeption historischer Spielfilme offenbar prägt, für eine bemerkenswerte Erkenntnis. Dass ein Spielfilm wie „Der Turm“, der für Historiker*innen aus einer professionellen Perspektive zuallererst eine historische Erzählung darstellt, auch ahistorisch, also als nicht-historische Erzählung gesehen werden kann, war keineswegs zu erwarten. Dennoch scheinen für manche Zuschauer*innen die rein fiktiven Handlungen im Spielfilm von solcher Dominanz zu sein, dass der historische Kontext der Erzählung und damit auch die Frage nach deren Authentizität verloren gehen. Doch auch der gegenüberliegende Typus, der eine maximale Authentifizierung der Story dokumentiert, muss überraschen. Wenn aus einer professionellen Perspektive die Fiktionalität der Erzählung und damit auch der fiktive Status der Protagonisten*innen als selbstverständlich erscheinen mögen, so zeigt die empirische Analyse, dass die Rezeption audiovisueller, fiktionaler historischer Erzählungen weniger vorhersehbar verläuft. Gerade diese beiden Typen der Rezeption und Authentifizierung erscheinen überraschend und verdeutlichen, wie wenig von einer audiovisuellen historischen Erzählung auf deren Zuschauer*innen und ihre Art des Umgangs damit geschlossen werden kann. Die Rezeption historischer Spielfilme verläuft augenscheinlich weitaus ergebnisoffener, als dies zu erwarten war, und dies gilt auch für die Authentifizierung des Gesehenen. Eine Auseinandersetzung mit solchen Filmstories, bei der zielsicher historische Fakten und Fiktives voneinander unterschieden werden und von den Rezipienten*innen korrekt eingeschätzt wird, inwieweit in den fiktiven Bestandteilen der Handlung historische Plausibilität steckt, scheint keineswegs das selbstverständliche Ergebnis jedes Rezeptionsprozesses zu sein. Damit bestätigen die empirischen Ergebnisse im Speziellen einen der allgemeinen theoretischen Grundsätze, die den Ausgangspunkt der Rezeptionsforschung insbesondere der Cultural Studies bilden.211 Filmzuschauer*innen eignen sich höchst individuell das Gesehene an, und dieses Postulat gilt auch für den Umgang mit historischen Erzählungen in audiovisueller Form. Aus geschichtswissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive birgt diese Erkenntnis eine gewisse Sprengkraft in sich: Wenn Zuschauer*innen einerseits fiktive Figuren eines Spielfilms fälschlich als historische Personen identifizieren und sie gar als Abbilder von Zeitzeugen*innen betrachten, und andererseits das offenbar Historische nicht als solches

211 Vgl. Hall 1993, S. 93.

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wahrgenommen wird, dann geht damit auch eine Beliebigkeit einher, die die Grenzen zwischen historischer Realität und Phantasie grundsätzlich verwischen. Anhand der Beschreibung der unterschiedlichen Typen lässt sich zudem konstatieren, dass die Authentifizierung als ein Teilprozess zu beschreiben ist, der zur Rezeption historischer Spielfilme gehören kann. Alle Jugendlichen im Sample haben einen solchen Spielfilm rezipiert – authentifiziert hingegen haben das Gesehene nicht alle Rezipienten*innen. Indem einige Jugendliche die historischen Kontexte der Erzählung zumindest zeitweilig hintangestellt haben, spielte auch die Authentifizierung des Gesehenen als ein Teil ihres Rezeptionsprozesses keine Rolle. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Authentifizierung des Gesehenen eine conditio sine qua non darstellt, wenn Rezipienten*innen eine fiktionale Erzählung betrachten, die aus ihrer Sicht historische Ereignisse darstellt. Sobald sie das Gesehene für eine Story halten, die einen historischen Kontext aufweist, rückt für sie die Frage nach der Authentizität dieser Darstellung in den Fokus. Dabei handelte es sich zunächst um eine theoretische Schlussfolgerung, die am Beginn dieser Arbeit stand: Nimmt man konsequent eine rezeptionsorientierte Perspektive auf historische Erzählungen im Spielfilm ein, dann kann es sich für deren Zuschauer*innen erst um die Darstellung von Geschichte handeln, wenn sie die Darstellung auch für zumindest teilweise authentisch halten. Doch auch aus einer empirischen Sicht lässt sich von einem Imperativ der Authentifizierung sprechen: Bei vielen Interviewpartnern*innen wurde im Verlauf der Interviews das Bedürfnis sichtbar, das Gesehene auf dessen Authentizität hin zu befragen und Argumente für die eigene Zuschreibung der Authentizität anzuführen. Beispielhaft sei hier auf Michaelas Wikipedia-Recherche verwiesen, die ihr die selbstgestellte Frage beantworten sollte, „ob das wirklich so stimmt auch,“212. Auch Julius’ Gespräch im Familienkreis, das zielstrebig zu der Antwort kam, dass „der Film das sicherlich@ (.) so recht realistisch abgebildet hat“213, dokumentierte deutlich, dass nicht nur für den Jugendlichen, sondern auch für Zeitzeugen*innen die Authentifizierung der zentrale Fluchtpunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem fiktionalen Fernsehzweiteiler darstellte. Insofern kann festgehalten werden, dass viele Rezipienten*innen im Umgang mit fiktionalen historischen Darstellungen im Spielfilm einen Imperativ der Authentifizierung dokumentieren. Die Auseinandersetzung mit derartigen historischen Darstellungen wird aus der Sicht der Zuschauer*innen maßgeblich von der Frage nach der Authentizität des Gesehenen geprägt, sodass der Prozess der Authentifizierung als zentral für die Rezeption historischer Erzählungen im Spielfilm angesehen werden kann. Authentizität als Kategorie ist insofern nicht nur ein besonderes Steckenpferd der Produzenten*innen solcher TV-Events, die ihre Medienprodukte unter diesem Rubrum vermarkten, sie steht auch aus der Perspektive der 212 Transkript MI, BS, Z. 459f. 213 Transkript JU, MD, Z. 488f.

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Zuschauer*innen ganz selbstverständlich im Zentrum ihrer Auseinandersetzung damit. Diese empirische Erkenntnis stellt eine wesentliche Bedingung für ein weiteres Wesensmerkmal dar, das den Prozess der Authentifizierung beschreibt: 2. Der Imperativ der Authentifizierung zeigt sich in einer toleranten Haltung gegenüber der historischen Darstellung, die Zweifel an der Authentizität des Gesehenen tendenziell verdrängt und bisweilen in einer Authentifizierung ex negativo gipfelt. Innerhalb der Interviewdaten haben sich nur wenige Stellen gezeigt, an denen die Jugendlichen eigenständig Skepsis gegenüber der Authentizität des Gesehenen zum Ausdruck brachten. Bisweilen wurden jedoch in den Interviews gezielt Zweifel an der Authentizität der Erzählung provoziert. Weil diese Stellen höchst aufschlussreich sind, sei hier noch einmal auf eine solche Sequenz verwiesen. Im folgenden Beispiel spricht der Magdeburger Tim über einen ihm vorgelegten Artikel des Internet-Nachrichtenportals „bild.de“: I: Ähm (.) ich hab was mitgebracht, und zwar ähm (.) n Screenshot von bild.de, TI: Mhm. I: Qualitätsmedium, TI: @(.)@ I: ähm (.) und die Schlagzeile lautet zeigt der Turm die wahre DDR? TI: Mhm. I: Ist das ne Frage, die für dich ähm (.) Bedeutung hat? TI: Ähm, ja. also (.) ich würde=es jetzt nicht schön finden, wenn man nen Film produzieren würde, der sagen würde ja gut, ich beschreibe die DDR, ich beschreibe die Wende, und zeigt dann irgendwas was:: jetzt keinen Sinn macht, weil dadurch wird man natürlich (.) total beeinflusst, in seinem Denken, (.) ähm (.) also ich (.) stell mir die DDR schon so=n bisschen so vor, wie das auch im Film ähm gezeigt wird auf alle Fälle, //mhm// und wenn jetzt aber jemand nen Film (.) drehen würde, wo was weiß ich (.) was jetzt in California oder so spielt, keine Ahnung was überhaupt keinen Sinn machen würde, ähm (.) dann würde=ich mir auch überlegen, häh ist das so passiert? oder so? (.) und so kriegt man halt wirklich mehr ein Bild davon, also (.) wenn die das jetzt äh wenn die jetzt Quatsch erzählen würden, (im) Turm, hätte ich wahrscheinlich auf alle Fälle ne falsche Meinung. //mhm// also man kann damit schon (.) äh stark die Leute beeinflussen, //mhm// die das Film die den Film sehen dann. 214

Sequenzen wie diese erlauben Einblicke in den grundsätzlichen, ‚theoretischen‘ Umgang der Zuschauer*innen mit der Frage nach der Authentizität eines historischen Spielfilms. Tim gibt hier anhand eines journalistischen Artikels Auskunft 214 Transkript TI, MD, Z. 223-248.

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über seine eigenen Überzeugungen, die diese Frage betreffen. Bemerkenswert erscheint bereits der Einstieg in seine Antwort: Auf die Frage, ob es für ihn von Bedeutung sei, dass der Spielfilm eine wahre Darstellung der DDR liefere, antwortet Tim, indem er einen negativen Horizont zeichnet. Er antwortet nicht mit einem „Ja, weil…“, sondern betont stattdessen, warum das Gegenteil einer authentischen Darstellung für ihn inakzeptabel sei. Die Authentizität sei für ihn grundsätzlich von Bedeutung, und diese Aussage führt er aus, indem er einen Spielfilm schildert, der seinen Anforderungen nicht entspreche. Wohlgemerkt misst er Spielfilme in dieser Frage grundsätzlich an ihrer Selbstpositionierung, ihrem eigenen Anspruch: Ein Film, dessen Produzenten*innen sich zum Ziel setzten: „ich beschreibe die DDR, ich beschreibe die Wende“, müsse dieses Ziel auch einlösen. Darin zeigt sich letztlich eine der grundlegenden Maximen der Erzähltheorie: eine fiktionale Erzählsituation konstituiert sich unter anderem an der Erzählhaltung und dem Anspruch der Erzählinstanz, inwieweit das Erzählte eine Entsprechung außerhalb der Erzählung aufzuweisen trachte. Erst wenn die Produzenten*innen eines Spielfilms auch diesen Anspruch verfolgten, von einer historischen Epoche wie der DDR und der „Wende“ zu erzählen, seien sie verpflichtet, dieser Zielsetzung nachzugehen. Gegenüber diesem Ausgangspunkt beschreibt Tim einen negativen Horizont. Wenn eine audiovisuelle Erzählung Geschichte darstellen wolle, „und zeigt dann irgendwas was:: jetzt keinen Sinn macht“, dann werde dies von ihm abgelehnt, schließlich breche die Erzählung mit ihrer eigenen Zielstellung beziehungsweise Erzählhaltung. Aufschlussreich erscheint auch, in welcher Weise er diesen hypothetischen Widerspruch zwischen Anspruch und erzählerischer Wirklichkeit ausgestaltet. Dieser sei dann gegeben, wenn das Erzählte explizit keinen „Sinn“ mache. Was er mit dem fehlenden „Sinn“ meint, verdeutlicht Tim an einem Beispiel: Er schildert einen Film, der über die DDR erzählen wolle, dessen Handlung dann aber „in California oder so spielt“. Damit führt er sein Argument anhand eines dezidiert widersinnigen, ja logisch fehlerhaften Beispiels aus – ein Film, der die DDR darstelle, kann nicht einen anderen Ort der Handlung ins Zentrum rücken und dennoch behaupten, es handle sich dabei um die DDR. Daraus lässt sich schließen: Für nicht authentisch würde Tim einen Spielfilm halten, der explizit mit den Regeln der Rationalität und der Logik bricht und tatsächlich absurd und grotesk erzählt. Was bedeutet dies für die Frage, wie Authentifizierung als Prozess zu beschreiben ist? Erstens fällt auf, dass Tim beispielhaft das Nicht-Authentische schildert, indem er eine Erzählung beschreibt, die die Grenzen des realistischen und rationalen Erzählens weit überschreitet. Seine Überlegungen über eine nicht-authentische historische Darstellung legt er nicht etwa anhand von historischen Details dar, die in einer historischen Audiovision falsch dargestellt werden und diese damit zu einer nicht-authentischen historischen Erzählung machen – wenn etwa die Requisiten in einem historischen Spielfilm nicht historisch korrekt wären. Es sind für ihn keine

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kleineren oder größeren Abweichungen von einer angenommen historischen Wirklichkeit, die dafür hinreichend wären. Vielmehr ist es der maximale, offensichtliche Bruch mit dem realistischen Erzählen, der dafür sorgen könnte, eine historische Erzählung für nicht authentisch zu halten. Nicht das historische Detail, sondern der maximale Bruch mit der angenommenen historischen Wirklichkeit würden aus einem Spielfilm eine nicht-authentische Erzählung machen. Darin kommt im Umkehrschluss eine ungeheure Toleranz gegenüber fiktionalen historischen Erzählungen zum Vorschein. Wenn nicht-authentisches historisches Erzählen sich erst durch erhebliche Brüche mit der Rationalität als solches konstituiere, dann zeigt sich darin, dass sich der Zuschauer gegenüber kleineren Abweichungen tolerant verhält. Anders gewendet: Er könnte, selbst wenn er Widersprüche zwischen der Erzählung und der angenommenen historischen Wirklichkeit wahrnähme, das Gesehene dennoch für authentisch halten, und zwar bis zu einem erheblichen Grad des Widerspruchs. Diese Toleranz gegenüber der Erzählung zeigt sich auch in den Gesprächen mit anderen Jugendlichen. Beispielhaft sei hier etwa auf Laura Pia verwiesen, die Zweifel an der Authentizität des Films, die ein Zeitzeuge geäußert hatte, mit dem Verweis auf die Multiperspektivität historischer Erfahrung und Darstellung verteidigte.215 Zwar führte sie damit einen Punkt an, der ein elaboriertes geschichtstheoretisches Verständnis dokumentierte – zugleich zeigte sich darin aber auch der grundsätzliche Wille, die angenommene Authentizität des Spielfilms zu verteidigen. Dieses Beispiel steht stellvertretend für zahlreiche Sequenzen, in denen die Jugendlichen die filmische Erzählung vom Vorwurf der Nicht-Authentizität freizusprechen suchten. Diese Stellen legen die Vermutung nahe, dass die jugendlichen Zuschauer*innen historischen Spielfilmen grundsätzlich mit einer toleranten Haltung begegnen, die eher von der Authentizität des Gesehenen ausgeht, statt diese infrage zu stellen. Zweitens verbirgt sich in der vorgestellten Sequenz auch eine Authentifizierungs-Ressource, die bisher noch nicht verhandelt wurde: die Tatsache, dass hier eine Authentifizierung ex negativo maßgeblich zu der Einschätzung beiträgt, dass es sich beim Gesehenen um eine authentische historische Darstellung handelt. Anhand der Gestalt, die Tims Ausführungen in der zitierten Sequenz aufweisen – er argumentiert durchgehend vor einem negativen Horizont, vor dem er die Authentizität des „Turms“ positiv abgrenzt – lässt sich vermuten, dass der historische Spielfilm für ihn auch deshalb authentisch ist, weil er keinerlei Aspekte offenbart, die eklatant gegen seine Authentizität sprechen. Insofern sind nicht allein die vielfältigen Ressourcen, die als Argumente für die Authentizität der Filmstory herausgearbeitet wurden, ausschlaggebend für die Zuschreibung von Authentizität. Hinzu kommt, dass gerade keine Argumente gegen die Authentizität des Gesehenen spre215 Vgl. Transkript LP, MD, Z. 876-892.

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chen, und diese Erkenntnis scheint eine weitere Grundlage für die Einschätzung des Jugendlichen darzustellen. Dieser Verdacht bestätigt sich in einigen anderen Gesprächen, so etwa im Interview mit der Magdeburgerin Grit. Nachdem sie zahlreiche Ressourcen erwähnt hatte, die für die Authentizität des Fernsehzweiteilers sprechen, authentifiziert sie das Gesehene zudem auch ex negativo: GR: […] ähm ja also es gab immer wieder es also eigentlich (.) hatte ich jetzt keine Szene, wo ich gedacht habe, das ist aber jetzt echt überhaupt nicht möglich oder so, //mhm// sondern (.) eigentlich so der ganze Film (.) war halt in seiner Gesamtheit für mich sehr überzeugend.216

In diesem knappen Zitat zeigt sich noch deutlicher, dass bei der Authentifizierung der Erzählung nicht nur Argumente eine Rolle spielen, die für die Authentizität sprechen. Ebenso relevant scheint die Erkenntnis zu sein, dass keine gravierenden Aspekte der Authentizität des Gesehenen widersprechen, also nichts im Film erzählt werde, was „echt überhaupt nicht möglich“ sei. Weil gegen die Authentizität der historischen Darstellung nicht explizit Argumente herangeführt werden können, die dieser Zuschreibung widersprechen würden, schließt die Jugendliche, dass es sich um eine authentische Erzählung handeln muss. Authentifiziert wird hier nicht auf der Grundlage von Argumenten, sondern gerade aus einem Mangel an Gegenargumenten gegen die Authentizität der Darstellung – eine Authentifizierung ex negativo. In diesen beiden Punkten, der großen Toleranz gegenüber möglicherweise problematischen Aspekten des Films, die Zweifel an dessen Authentizität säen könnten, und der Authentifizierung ex negativo, lässt sich Weiteres über den Prozess erfahren, wie Filmstories in den Augen ihrer Zuschauer*innen authentisch werden. Es scheint nicht, als sei dies ein Prozess, der von einem Nullpunkt aus beginne und einen offenen Ausgang hat. Vielmehr deutet sich an, dass die Zuschreibung von Authentizität eher das tendenziell erwünschte Resultat der Auseinandersetzung mit einem historischen Spielfilm darstellt – dass die Jugendlichen also eher bestrebt sind, das Gesehene auch tatsächlich zu authentifizieren, statt Zweifeln an der Authentizität der Erzählung nachzugehen. Die Auseinandersetzung mit fiktionalen historischen Erzählungen findet damit tendenziell in einem affirmativen Modus statt, der die Authentizität zu bestätigen trachtet, statt diese ergebnisoffen zu problematisieren. Vielmehr scheint es, dass die Jugendlichen eher mit der These einem solchen Film begegnen, dass es sich um eine authentische Darstellung handle, und diese Annahme zu verifizieren trachten, statt sie als Hypothese offen zu prüfen. Dies widerspricht nur scheinbar der zuvor geäußerten These, dass es sich bei der Rezeption historischer Spielfilme um einen ergebnisoffenen Prozess handelt, an 216 Transkript GR, MD, Z. 979-982.

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dessen Ende auch eine ahistorische Lesart als Ergebnis stehen kann. Vielmehr gilt es festzuhalten, dass jener Rezeptionstypus der ahistorischen Lesart sich mit der Authentizität des Gesehenen gar nicht erst auseinandersetzt, sondern Fragen nach der realweltlichen Referenz des Erzählten zu suspendieren vermag. Insofern handelt es sich in den Augen jener Jugendlicher auch per se nicht um eine historische Erzählung – und der Prozess der Authentifizierung entfällt oder wird ausgeblendet. Bei jenen Jugendlichen, die den Spielfilm hingegen grundsätzlich als eine historische Erzählung begreifen – um zur zweiten These zurückzukommen, die also für die beiden anderen Rezeptionstypen gälte – erscheint der Prozess der Authentifizierung hingegen nicht vollkommen ergebnisoffen. Stattdessen tendieren sie zu einer toleranten Beantwortung der Frage nach der Authentizität der Darstellung. Wenn Zuschauer*innen das Gesehene grundsätzlich für eine historische Erzählung halten, dann tendieren sie dazu, dem auch Authentizität zuzuschreiben und diese Annahme auch trotz mancher geäußerter Zweifel aufrechtzuerhalten. Es scheint insofern, dass der historische Spielfilm auch für eine authentische Erzählung gehalten wird, weil die Zuschauer*innen ihn tendenziell dafür halten wollen. Dieser Schluss lässt sich aus der dokumentierten Toleranz gegenüber dem Gesehenen und der Authentifizierung ex negativo ableiten. Ein Extrembeispiel, das diese These zusätzlich zu stützen vermag, liefert der Braunschweiger Cem im Gespräch über einen Spielfilm, der kaum überhaupt als eine historische Erzählung bezeichnet werden kann. Er spricht über „Inglourious Basterds“ und thematisiert die Frage, inwiefern es sich dabei nicht auch um eine authentische Erzählung handeln könnte: CE: ich glaube das ist auch leicht erfunden (1)

oder ich weiß nicht ob das jetzt auch ne

wahre Geschichte war, ob das wirklich so=ne Gruppe gab, kann ich mir vorstellen, dass=es so=ne Gruppe gab, aber ich glaub das ist schon so ein bisschen erfunden.217

Er nimmt am Beginn des Zitats eine sehr skeptische Position ein, die grundsätzlich infrage stellt, ob es eine Gruppe amerikanisch-jüdischer GIs gegeben habe, die buchstäblich auf der Jagd nach „Nazi-Skalps“218 gewesen seien. Wenngleich seine Ausführungen eher große Zweifel an der Existenz dieser Gruppe ausdrücken, scheint er sich nicht vollkommen sicher zu sein, dass die Story tatsächlich frei erfunden sei. Allein die Tatsache, dass Cem nicht eindeutig ausschließt, dass es sich bei der erzählten Story, die sich selbst im Vorspann als ein Märchen „in Nazioccupied France“ beschreibt, um eine wahre Begebenheit handeln könnte, unterstreicht meines Erachtens die aufgestellte These. Der Rezipient erkennt bei diesem Film, dass es minimale Berührungspunkte zwischen dem filmischen Märchen und 217 Transkript CE, BS, Z. 862-865. 218 Der Begriff stammt aus dem Film selbst.

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der europäischen Zeitgeschichte gibt – es tauchen reale und pseudo-reale Personen, Objekte und Ereignisse darin auf –, und zieht daraus für die Frage nach der Authentizität seine Schlüsse. Aufgrund der marginalen Beziehung des Erzählten zur historischen Wirklichkeit tendiert er dazu, das Gesehene nicht für absolut nichtauthentisch zu halten – obwohl den allermeisten Zuschauern*innen klar sein dürfte, dass die Erzählung der Phantasie von Quentin Tarantino entstammt, dem an einer Darstellung der NS-Geschichte nicht gelegen war. Dass also auch für ein Extrembeispiel wie „Inglourious Basterds“, bei dem die Grenzen historischen Erzählens eindeutig und durchgängig überschritten werden, für einen Rezipienten ein letzter Zweifel bleibt, ob es sich nicht möglicherweise doch um eine teils authentische Erzählung handeln könnte, unterstreicht die beobachtete Tendenz. Sobald die Erzählung in den Augen der Rezipienten*innen auch nur minimal den Anschein aufweist, eine historische Erzählung zu sein, tendieren sie dazu, ihr Authentizität zuzuschreiben. Diese Annahme lässt sich auch mit einem Blick auf die zahlreichen Stellen im Datenmaterial stützen, die bisweilen historisch falsche Einschätzungen oder auch Wahrnehmungen des Films dokumentierten, die objektiv als nicht richtig einzuschätzen sind. Daran knüpft die dritte These an: 3. Angesichts von objektiv ‚falschen‘ Wahrnehmungen des Gesehenen sowie der dargestellten Beispiele für Akte der Projektion zeigt sich der theoretische Mehrwert des Konzepts der Authentizität, wenn Prozesse historischer Medienaneignungen empirisch und rezipientenorientiert untersucht werden sollen. Im Verlauf der Analyse wurden einige Stellen aus den Interviewdaten präsentiert, bei denen die Jugendlichen – aus einer historiographischen Perspektive betrachtet – scheinbar ‚falsch‘ das Gesehene aufgenommen haben. Dies begann bereits bei der Verwendung zeitgenössischer Begriffe, die im Sprechen über die DDR in den Achtzigerjahren im „Turm“ von den Rezipienten*innen verwendet wurden, und ging bis hin zu eklatanten historischen Missverständnissen: Da war ebenso von der „Bundeswehr“219 die Rede wie von der „Wehrmacht“220, wenn doch die Nationale Volksarmee gemeint war; an anderer Stelle wurde die Armee gar mit „Stasi“ benannt221; der sächsische Dialekt wurde als „ostdeutsch“222 bezeichnet; da wurden 219 Allein Valentina spricht ein Dutzend Mal von der „Bundeswehr“ und meint die NVA: Z. B. Transkript VA, MD, Z. 189; auch sechs weitere Jugendliche verwenden durchgehend diesen Begriff zur Beschreibung der NVA im Spielfilm. 220 Pia benutzt den Begriff sogar zweimal, einmal am Beginn und einmal am Ende des Interviews: Transkript PI, BS, Z. 75 und Z. 905. 221 Transkript CE, BS, Z. 120. 222 Transkript MI, BS, u.a. Z. 275.

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Nationalsozialismus und die Geschichte der DDR in einem Atemzug genannt, ja als eine zusammenhängende Epoche der deutschen Geschichte verhandelt. 223 Schließlich wurde die im Spielfilm erzählte Geschichte gar an einen anderen historischen Ort versetzt, wie es sich bei Cem gezeigt hatte, der die Handlung in „Leipzig“224 verortet. Daneben hatten sich Akte der Projektion gezeigt: So wurde ausführlicher die explizite Selbstbeglaubigung verhandelt, die einige Jugendliche dem Spielfilm unterstellt hatten. Sie hatten darüber gesprochen, dass im Film am Beginn eine Einblendung darüber aufkläre, dass es sich um eine wahre Geschichte handle. Diese Einblendung jedoch hatten sie auf den Film projiziert, das heißt die Existenz dieses erzählerischen Mittels angenommen, obwohl es objektiv keinen Bestandteil des Fernsehzweiteilers darstellt. Ebenso wenig griff der Film jene Ikone der „Wende“ auf, als friedlich Demonstrierende einer gerüsteten Staatsmacht „Wir sind das Volk!“ entgegenriefen.225 Auch dabei handelte es sich um eine Form der Projektion, die ein Rezipient vorgenommen hatte, und ich habe bereits argumentiert, dass dem der Wille zugrunde gelegen haben mag, eine bekannte historische Gegebenheit in der Romanverfilmung wiederzufinden. Diese beiden Aspekte könnten nun abgetan werden als Geringfügigkeiten, die die banale Einsicht unterstreichen, dass freilich auch die Wahrnehmung von Spielfilmen ‚fehlerhaft‘ verlaufen könnte. Andererseits wäre gerade aus historiographischer Perspektive denkbar, darin Missstände des historischen Wissens und fehlende Kompetenzen bei Jugendlichen im Umgang mit historischen Medien zu erkennen. Ich möchte hingegen für eine andere Position eintreten. Vielmehr unterstreichen nämlich die Fehlwahrnehmungen, Projektionen und scheinbaren Ungenauigkeiten im Umgang mit den historischen Elementen der Spielfilmhandlung den großen Mehrwert, der im Konzept der Authentizität für die Erforschung der Rezeption fiktionaler historischer Erzählungen steckt. Sehr deutlich hat sich gezeigt, dass der Umgang mit einem historischen Spielfilm wie dem „Turm“ ein Prozess von enormer Subjektivität ist. Die Jugendlichen unterschieden sich nicht nur in ihrer Zuschreibung von Authentizität individuell voneinander, sie entwickeln höchst individuelle Lesarten, die maßgeblich von ihrer alltäglichen Lebenswelt und vor allem von ihrer sozialen Umwelt bestimmt sind. Zudem führen sie individuell sehr verschiedene Ressourcen an, die aus ihrer Sicht das Gesehene authentifizieren können. Ausgehend von dieser enormen Subjektivität, die Prozesse der Medienrezeption charakterisieren, erweist sich das theoretische Konzept der Authentizität als äußerst dienlich. Erst dadurch wird eine konsequente Orientierung auf den*die Rezipienten*in ermöglicht, die Prozesse historischer Medienaneignung adäquat zu erfassen 223 Vgl. Transkript ST, BS, Z. 713-763. 224 Transkript CE, BS, u.a. Z. 113. 225 Transkript TO, BS, Z. 233.

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vermag. So lässt sich freilich aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive darüber streiten, wie authentisch diese oder jene historische Audiovision denn sei. Derartige Debatten wurden und werden wiederkehrend geführt, und ich halte sie auch für legitim. Mit einer solchen, fachwissenschaftlich fundierten, ‚objektiven‘ Einschätzung eines Spielfilms ist jedoch keine Erkenntnis gewonnen über die zahlreichen Zuschauer*innen historischer Audiovisionen und ihre individuellen Umgangsweisen mit den Audiovisionen. Das bedeutet, dass für die individuelle Einschätzung der Frage nach der Authentizität des Gesehenen durch Jugendliche der ‚objektive‘ Status des Erzählten nur von geringer Bedeutung erscheint. Ganz im Gegenteil können historische Spielfilme aus der Perspektive ihrer Rezipienten*innen authentisch sein, selbst wenn diese Zuschreibung aus einer ‚objektiven‘ Perspektive falsch erscheint. Für Cem beispielsweise handelt es sich um eine authentische Story, unbeschadet der Tatsache, dass er die Handlung fälschlich in Leipzig verortet. Für Pia besitzt das Gesehene Authentizität, obwohl es sich objektiv nicht um eine Erzählung über die „Wehrmacht“ handelt. Für Stacy ist die Erzählung ebenfalls authentisch, insofern sich das Gesehene mit dem Bild vereinbaren lässt, dass sie von der deutschen Zeitgeschichte besitzt – ob sie die beiden deutschen Diktaturen nun voneinander abzugrenzen weiß oder nicht. Und für Anja handelt es sich um die Erzählung einer wahren Geschichte – ungeachtet der Frage, ob der Film dies nun per Einblendung behauptet oder sie dieses erzählerische Mittel in den Film projiziert. Das ‚objektiv‘ Falsche kann individuell durchaus authentisch sein – bisweilen führen erst die Abweichungen von einem wissenschaftlich etablierten, historischen Wissen zur Zuschreibung von Authentizität durch die Rezipienten*innen. Das Konzept der Authentizität erlaubt somit, der Subjektivität gerecht zu werden, die den Prozess der Aneignung fiktionaler historischer Spielfilme auszeichnet. Indem nämlich die Authentizität fiktionaler historischer Erzählungen konsequent als ein Ergebnis eines Rezeptionsprozesses verstanden wird, bei der es sich um keine essentielle, sondern um eine performative Kategorie handelt, wird verständlich, wie Rezipienten*innen mit historischen Audiovisionen umgehen. Den exemplarisch genannten Jugendlichen nachzuweisen, dass ihre Wahrnehmung der Filmstory Fehler aufweist, mag aus einer normativen Perspektive sinnvoll sein, etwa in didaktischen Kontexten. Um die höchst subjektiven Prozesse der Aneignung historischer Audiovisionen zu verstehen, führt dieser Nachweis der fehlerhaften Rezeption aber letztlich in eine Sackgasse. Die Faszination, die von historischen Erzählungen im Medium Spielfilm ausgeht, und auch der individuelle Umgang damit können so nicht verstanden werden. Ähnliches gilt für die Besucher*innen der bereits angesprochenen Mittelaltermärkte, die einem verzerrten Mittelalterbild aufsitzen und sich dennoch in eine historische Epoche zurückversetzt wähnen. Dass der*die Besucher*in dieser Spektakel ebenso wie manche*r Filmzuschauer*in das ‚objektiv‘ Falsche für Geschichte hält

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und ein historisches Erlebnis erfährt, vermag das Konzept der Authentizität mit seiner performativen Dimension zu erfassen. Geschichte im Spielfilm ist für viele Jugendliche authentisch – unbeschadet der Frage, ob die Darstellungen tatsächlich aus historiographischer Perspektive korrekte Bilder liefern. Aus diesem Grund zeigt sich das Konzept der Authentizität als außerordentlich nützlich zur Beschreibung individueller Aneignungsprozesse von geschichtskulturellen Phänomenen. Allgemein ist Geschichte aus der Sicht von Filmzuschauern*innen, aber auch Computerspielern*innen, Besuchern*innen von Living-History-Events und anderen Rezipienten*innen historischer Medienofferten eben erst dann tatsächlich Geschichte, wenn sie die Darstellungen subjektiv auch als History wahrnehmen. Ob die Filme, PC-Spiele oder Reenactments tatsächlich auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive halten, was sie einzulösen versprechen, davon sind die individuellen Aneignungsprozesse weitgehend unberührt. Mit den bis hierhin aufgestellten Thesen ist einiges über den Akt der Zuschreibung von Authentizität gesagt. Im Folgenden möchte ich versuchen, auch über die Ressourcen, die dem zugrunde liegen, weiterführende Erkenntnisse abzuleiten. 4. Ein historischer Spielfilm wird von seinen Zuschauern*innen individuell auf Grundlage einer Vielzahl von Ressourcen authentisch ‚gemacht‘. Aus diesem Ensemble stechen vor allem jene hervor, die subjektiv von großer lebensweltlicher Relevanz sind. Mit einem Blick darauf, auf welche Ressourcen die einzelnen Rezipienten*innen zur Authentifizierung des Fernsehzweiteilers zurückgreifen, fällt eines überdeutlich auf: Die Authentifizierung einer fiktionalen historischen Erzählung wie „Der Turm“ basiert ausnahmslos auf einer Mehrzahl an Authentifizierungs-Ressourcen. Keine*r der jugendlichen Rezipienten*innen dokumentierte in den geführten Interviews, dass er*sie ausschließlich auf der Basis einer einzigen AuthentifizierungsRessource das Gesehene für eine authentische historische Erzählung halte. Vielmehr kam bei allen Interviewpartnern*innen zum Ausdruck, dass sie auf ein ganzes Ensemble an Ressourcen zurückgreifen. Zweifellos zeigt sich dieses Ensemble individuell einzigartig, doch alle Jugendlichen werden von der Erkenntnis geeint, dass sie auf mehrere Ressourcen zurückgreifen. Dies wurde bereits anhand mehrerer Sequenzen sichtbar, die im Verlauf der Arbeit Erwähnung fanden: Beispielhaft sei hier etwa ein Auszug aus dem Gespräch mit der Magdeburgerin Grit genannt, die über die „Stasi“ und die Repression in der DDR berichtet hatte. Bei der Analyse der Sequenz ging es vorrangig um die Ressource der Übereinstimmungen der filmischen Narrative mit ihrem individuellen Geschichtsbild, es hatten sich aber auch die Plausibilität des menschlichen Handelns der Figuren und nicht zuletzt eine Authentifizierung ex negativo in authentifi-

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zierender Funktion gezeigt.226 Ebenfalls wurde ein solches Ensemble sichtbar in jener Sequenz, in der Cem über die Berichte einer befreundeten Zeitzeugin berichtet hatte, die als „Ausländer“ in der DDR gelebt habe.227 Dort zeigte sich neben dem Zeitzeuginnenbericht mit der Anekdote der fortwährend fehlenden Bananen ein Verweis auf eine Ikone der kollektiven Erinnerung an die DDR, aber auch ein Verweis auf ein historisches Museum, das der Jugendliche besucht hatte. Bereits innerhalb einzelner Sequenzen – die Reihe der Beispiele endet hier keineswegs – finden sich also bei vielen Jugendlichen mehrere Ressourcen, die aus ihrer Sicht zur Zuschreibung von Authentizität herangezogen werden können. Noch klarer wird die dargelegte Erkenntnis, dass immer mehrere Ressourcen zur Authentifizierung herangezogen werden, mit einem Blick auf die einzelnen Interviews in ihrem gesamten Umfang. In den jeweils etwa fünfundvierzig bis neunzig Minuten, in denen die Jugendlichen zu unterschiedlichen Themen Auskunft gaben, zeigte sich eine Vielzahl von Aspekten und Argumenten, die von den Jugendlichen in authentifizierender Funktion angeführt wurden.228 Aus einer entgegengesetzten Perspektive steckt in der Einsicht, dass es sich immer um ein ganzes Ensemble an Ressourcen handelt, die herangezogen werden, auch ein Erkenntnispotential, das zu einem besseren Verständnis der einzelnen Ressourcen nützlich ist: So führt im Umkehrschluss keine der AuthentifizierungsRessourcen hinreichend dazu, dass die Rezipienten*innen das Gesehene für authentisch halten. In keinem Fall zeigte sich, dass eine einzige Ressource – sei es der Bericht eines*r Zeitzeugen*in in der Familie oder die zum Spielfilm ausgestrahlte Dokumentation – letztlich ein ausreichendes Argument darstellte, das ohne weitere Ressourcen die Authentizität der Erzählung bestätigen würde. Natürlich zeigten sich erhebliche Unterschiede in der Bedeutung der einzelnen Authentifizierungs-Ressourcen, sowohl individuell als auch das gesamte Sample betreffend. Ich hatte versucht, die Wichtigkeit der jeweiligen Ressource herauszustellen – dass etwa die Berichte von Zeitzeugen*innen in der Lebenswelt allgemein eine größere Relevanz aufweisen als etwa die Institution Schule, ist deutlich geworden. Doch so wichtig manche Ressource auch im Vergleich erschien – keine zeigte

226 Vgl. Transkript GR, MD, Z. 962-982. 227 Vgl. Transkript CE, BS, Z. 186-216. 228 Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle erneut betonen, dass die Ressourcen, die ich vorgeführt habe, vor allem aus analytischen Gesichtspunkten separat Beachtung gefunden haben. Es handelt sich dabei um eine analytische Trennung, die die Klarheit des Überblicks über die unterschiedlichen Ressourcen erhöhen sollte, sich aber empirisch nicht in dieser Form zeigt. Vor allem angesichts der Beispiele, bei denen schon innerhalb einzelner Interviewsequenzen mehrere Ressourcen zum Vorschein gekommen sind, wird dies augenfällig.

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sich suffizient, um allein die Authentizität der historischen Erzählung zu untermauern. Vielmehr ergeben die Ressourcen im Verbund je ein individuelles Gefüge, in dem mehrere Ressourcen der Zuschreibung von Authentizität zugrunde liegen. Der Prozess der Authentifizierung basiert somit individuell immer auf einer Vielfalt an Authentifizierungs-Ressourcen, die gemeinsam bedeutsam werden.229 Alle Rezipienten*innen greifen während des Prozesses auf Ressourcen verschiedenster Art zurück, die im Resultat ein Ensemble ergeben, das gesamtheitlich die Authentizität des Spielfilms unterstreicht. Lassen sich darüber hinaus Vermutungen äußern, die verstehen helfen, welche Ressourcen von besonderer Bedeutung für die Jugendlichen sind? Lässt sich möglicherweise erkennen, warum diese Ressource für die*den eine*n Rezipienten*in von herausgehobener Bedeutung ist, während jene gar keine oder nur eine marginale Rolle spielt? Anhand von zahlreichen Beispielen hat sich gezeigt, dass für viele Jugendliche jeweils eine Person ihres sozialen Umfelds aus der Gesamtheit der von ihnen dokumentierten Ressourcen heraussticht. Dies mag ein Partner sein, der aufgrund exklusiver Erfahrungen zu einer besonderen Einschätzung des Gesehenen imstande ist. Vor allem zeigten sich aber Zeitzeugen*innen im Kreis der Familie und Bekannten dazu in der Lage. Für einige waren es die Erlebnisse eines Elternteils, für andere die Berichte der Großmutter oder der Tante. Daraus leitet sich der Eindruck ab, dass für zahlreiche Jugendliche eine Person des sozialen Umfelds oftmals einen zentralen Zugang zur Geschichte bietet, die auch für die Frage nach der Authentizität der Story maßgeblich herangezogen wird. Wenngleich alle Jugendlichen auf eine Vielzahl an Ressourcen rekurrieren, so zeigt sich doch häufig eine Art ‚Leuchtturm‘-Ressource in Form einer Person in der alltäglichen Lebenswelt der 229 Versuche, die Bedeutung einzelner Ressourcen experimentell zu erforschen, stellen sich auf der Grundlage der hier erhobenen Daten insofern als von vornherein problematisch dar. Siehe dazu eine kommunikationswissenschaftliche Studie, die sich mit der Rezeption von Scripted-Reality-Formaten im Fernsehen befasst und die Wirkung erforschen will, die die Information über den „Inszenierungscharakter“ der Sendungen im Abspann auf die Zuschauer*innen hat: Schenk, Michael/Gölz, Hanna/Niemann, Julia (Hg.): Faszination Scripted Reality. Realitätsinszenierung und deren Rezeption durch Heranwachsende (=LfM-Dokumentation, Bd. 52). Düsseldorf 2015, insbesondere S. 168-213. Ein Teil der experimentellen Studie basierte auf der Modifikation des gesehenen Materials: Für einige Teilnehmer*innen wurde mit einer Einblendung am Schluss der gezeigten Sendungen die Inszeniertheit benannt, bei anderen fehlte der Hinweis. Nicht zufällig zeigt sich in der Auswertung des Versuches, dass der isolierte Effekt dieser Einblendung nicht belegt werden kann – dieses Ergebnis belegt letztlich die hier geäußerte These, dass keine Authentifizierungs-Ressource allein hinreichend authentifizierend wirksam sein könne.

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Rezipienten*innen, die aus dem Ensemble heraussticht und auf die sie maßgeblich zur Einschätzung der historischen Erzählung zurückgreifen. Auch dies bestätigt den Anschein, dass gerade jene Ressourcen von besonderer Bedeutung für die Authentifizierung der Story sind, die für die Rezipienten*innen von hoher lebensweltlicher Relevanz sind. Dies validiert die Erkenntnisse von Matthias Martens, der ebenfalls die Bedeutung der individuellen Lebenswelt und insbesondere des familiärem Kontextes für die Rezeption historischer Darstellungen hervorgehoben hat.230 Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass insbesondere solche Aspekte für die Authentifizierung von zentraler Bedeutung scheinen, die eine tatsächliche Aneignung des Gesehenen zulassen. Vor allem jene Ressourcen, die den jugendlichen Rezipienten*innen einen Brückenschlag zwischen der audiovisuellen historischen Darstellung und der eigenen Lebenswelt ermöglichen, die das Gesehene also in ein Passungsverhältnis zur eigenen Lebenswelt setzen und es damit auch persönlich bedeutsam machen, stechen aus der Vielzahl an individuell relevanten Authentifizierungs-Ressourcen hervor. In diese These fügt sich freilich die große Bedeutung der Zeitzeugen*innen aus dem Umfeld der Jugendlichen, die hier an zahllosen Beispielen sichtbar geworden ist und die ich ausführlich diskutiert hatte. Ich habe in diesem Sinne von einem Primat des*r Zeitzeugen*in gesprochen. Daran setzt die letzte, hier aufzustellende These an, die maßgeblich auch mit der historischen Thematik einhergeht, die ein historischer Spielfilm wie „Der Turm“ erzählt: 5. In der Rezeption von TV-Events wie dem „Turm“ zeigt sich eine besondere Spezifik der Zeitgeschichte, die diese Darstellungen hinsichtlich der Frage nach ihrer Authentizität deutlich von der audiovisuellen Erzählung anderer historischer Epochen unterscheidet. Nach der umfassenden Behandlung verschiedenster Aspekte, die die Rezeption eines fiktionalen historischen Spielfilms mitbestimmen, stellt sich abschließend die Frage, inwieweit eine Spezifik darin zu sehen ist, dass der als Beispiel für historische TV-Events angeführte Zweiteiler die deutsche Zeitgeschichte verhandelt. Hebt sich Geschichte im Fernsehen aus der Perspektive der Rezipienten*innen dadurch von anderen historischen Audiovisionen ab, dass es sich um erzählte Zeitgeschichte handelt, und nicht etwa die griechische Antike oder das Mittelalter dargestellt werden? In drei wesentlichen Punkten deutet sich – wohlgemerkt mit einem Blick auf die Rezipienten*innen, nicht die Spielfilme – eine Spezifik der Zeitgeschichte in der Rezeption solcher historischer Audiovisionen an: Erstens sind zeithistorische Themen in Kino und TV überproportional häufig repräsentiert, was sich in den indivi230 Martens 2010, S. 311.

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duellen Medienrepertoires der Jugendlichen niederschlägt. Dies hat Einfluss auf die Frage, für wie authentisch sie eine zeitgeschichtliche Story halten. Zweitens bildet die (Medien-)Figur der*s Zeitzeugen*in ein Spezifikum, das zeitgeschichtlichen Erzählungen aus Rezipienten*innenperspektive einen Sonderstatus verschafft. Und drittens sorgen geschichts- und erinnerungskulturelle Diskurse um die zeitgeschichtlichen Erzählungen in bewegten Bildern dafür, dass die Repräsentationen der „Epoche der Mitlebenden“231 von den Jugendlichen auf besondere Weise rezipiert und authentifiziert werden. Mit einem Blick auf das Fernsehprogramm und die Kinofilme der letzten Jahre wird schnell deutlich, dass vor allem die Zeitgeschichte, insbesondere die beiden deutschen Diktaturen, Zeiträume sind, die die audiovisuelle Geschichtslandschaft dominieren.232 Unzählige Beispiele, sowohl Kinofilme als auch Spielfilme im Fernsehen sowie dokumentarische Formate ließen sich dafür anführen. Die Topographie historischer Audiovisionen ist eindeutig zeitgeschichtlich dominiert. Dies schlägt sich auch in der Rezeption fiktionaler zeitgeschichtlicher Erzählungen im Fernsehen nieder. Die Jugendlichen verfügen über eine Vielzahl an Filmen und Dokumentationen zur Zeitgeschichte, die Teil ihres individuellen Medienrepertoires sind und somit ein dichtes Netz zeithistorischer Narrative ergeben, das ihnen bei der Rezeption einer audiovisuellen historischen Erzählung wie dem „Turm“ zur Verfügung steht. So hatten sich zahlreiche Verweise auf andere historische Fiktionen in den Gesprächen mit den Rezipienten*innen gezeigt. Im Hinblick auf die Geschichte der DDR verwiesen sie allen voran auf „Das Leben der Anderen“, aber auch andere Spielfilme zum sozialistischen deutschen Staat waren ihnen durchaus präsent. Ebenso konnten sie auf verschiedene Narrationen Bezug nehmen, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust auseinandersetzten. Vor allem spielte der mittlerweile fast ein Vierteljahrhundert alte Spielberg-Film „Schindlers Liste“ eine hervorgehobene Rolle. Durchaus aber zeigten sich darüber hinaus weitere Beispiele für fiktionale Spielfilme zu dieser zeitgeschichtlichen Epoche. Sehr deutlich hebt sich so die Zeitgeschichte aus der Sicht der Rezipienten*innen ab von früheren historischen Epochen, die in Spielfilmen oder anderen Formaten thematisiert werden. Die Jugendlichen nehmen bei Weitem nicht so stark Bezug auf andere, nicht zeithistorische Erzählungen. Vielmehr sind es Ausnahmen, die überhaupt zur Sprache kommen. Das Beispiel „Troja“ wurde an anderer Stelle bereits verhandelt, steht aber einer thematischen Vorherrschaft der Zeitgeschichte gegenüber. Diese Dominanz zeitgeschichtlicher Erzählungen lässt sich wohlgemerkt in der Erforschung der Rezipienten*innen historischer Audiovisionen empi231 Rothfels 1953, S. 2. 232 Zum Fernsehen existieren dazu systematische Auswertungen, die leider nicht mehr ganz aktuell sind. Eine signifikante Änderung des Befundes innerhalb der letzten, nicht untersuchten Jahre vermute ich allerdings nicht. Vgl. Lersch/Viehoff 2007, S. 113-115.

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risch konstatieren. Nicht nur ein Blick auf die geschichtskulturelle Fernseh- und Kinolandschaft, auch auf deren Zuschauer*innen stützt die These. Was bedeutet dies aber für die Frage nach der Authentizität einzelner zeithistorischer Erzählungen? Offensichtlich scheint, dass allein die schiere Menge an filmischen Erzählungen, die die jugendlichen Zuschauer*innen kennen und auf die sie im Zuge der Rezeption eines TV-Events wie „Der Turm“ zurückgreifen können, Einfluss auf die Authentifizierung besitzt. Indem die Jugendlichen derart viele zeitgeschichtliche Filme kennen, verfügen sie über ein breites Spektrum an Narrativen und somit über ein auch audiovisuell konstituiertes Bild insbesondere der deutschen Zeitgeschichte. Gegenüber früheren Epochen, die lediglich sporadisch in den filmischen Repertoires der Jugendlichen auftauchen, markiert dies einen erheblichen Unterschied. Die Rezipienten*innen können im Zuge der Rezeption Bezüge zu einer Vielzahl thematisch ähnlicher Darstellungen herstellen. Wenn sich das Gesehene aus ihrer Sicht in das Bild fügt, das sie aus anderen historischen Spielfilmen kennen, dann stellt dies eine zeitgeschichtliche Spezifik auch hinsichtlich der Authentifizierung dar. Am Beispiel der Rezeption des „Turms“ wird etwa deutlich, dass die Jugendlichen über ein Bild der DDR verfügen, dass sich auch aus Filmen wie „Das Leben der Anderen“ speist, die insbesondere die Topoi der Repression und Unfreiheit etabliert haben. Diese Filme beeinflussen folglich maßgeblich die Rezeption der Romanverfilmung in der ARD: Sie wird in den Augen ihrer Zuschauer*innen dadurch authentisch, dass das audiovisuell etablierte Bild der deutschen Zeitgeschichte auch im „Turm“ wiederzufinden ist. Darin lässt sich freilich auch eine Tendenz zu einer Verselbständigung audiovisuell vermittelter Geschichtsbilder vermuten. Das mediale System historischer Audiovisionen, das seitens seiner Produktionskontexte bestimmten Strukturen, Marktmechanismen und Konjunkturen unterworfen ist, etabliert in den Augen der Rezipienten*innen ein eigenes Universum zeitgeschichtlicher Erzählungen. Wenn Jugendliche auf eine Vielzahl von Bildern und Narrativen zurückgreifen, die ein und demselben medialen System entspringen, dann besteht zumindest das Potential, dass sich die darin repräsentierten Narrative in einem partiell autarken Kosmos gegenseitig selbst bestätigen. Dadurch würde aus der Perspektive der Rezipienten*innen authentisch, was im Supermedium historischer Audiovisionen eben als authentisch etabliert worden ist. Vor allem der in Spielfilmen überproportional repräsentierte Bereich der Zeitgeschichte weist insofern eine Unabhängigkeit gegenüber anderen Bereichen der Begegnung mit der Geschichte auf. Die Frage nach der Authentizität eines zeithistorischen Spielfilms bezieht sich somit zu einem guten Stück vor allem auf die Frage, inwiefern dieser Film die audiovisuell etablierten Narrative und Topoi trifft, über die die Zuschauer*innen bereits verfügen. Damit soll keine grundlegende Kulturkritik geübt, sondern die gegenwärtige Dominanz zeitgeschichtlicher Audiovisionen auch hinsichtlich der Rezeption wei-

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tergedacht werden. Allemal stehen die Audiovisionen, wie sich deutlich gezeigt hat, nicht unabhängig, sondern sind in ein Geflecht weiterer Ressourcen eingebunden. Ebenfalls hochrelevante Ressourcen wie etwa die Zeitzeugen*innen im sozialen Umfeld, mit denen sich die Jugendlichen über das Gesehene austauschen, könnten die in audiovisuellen Formen erzählten Narrative gewissermaßen kontrollieren und gegebenenfalls modifizieren. Demzufolge wäre die Wirkungsmacht begrenzt, die von einem sich gegenseitig in seinen Bildern und Narrativen bestätigenden Kosmos ausgeht, als den man die Gesamtheit der zeitgeschichtlichen Audiovisionen begreifen kann. Doch sind Zeitzeugen*innen nicht auch Rezipienten*innen zeitgeschichtlicher Audiovisionen? Sind ihre Erinnerungen nicht auch mitbestimmt von den zahllosen TV-Events und historischen Blockbustern, die neben die eigenen Erlebnisse audiovisuelle Stories stellen? Mit Blick auf die Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses, der sich etwa die Disziplin der Oral History bewusst ist,233 muss dies zumindest vermutet werden. Auch sollte angesichts der Erkenntnisse darüber, wie stark sich die tradierten Erinnerungen innerhalb von Familien entwickeln, verändern und verfälschen können – sie stehen mutmaßlich unter einem ganz erheblichen Einfluss von historischen Spielfilmen234 – hinterfragt werden, inwiefern die Dominanz der audiovisuellen historischen Erzählung nicht auch Zeitzeugen*innen erheblich beeinflusst. Damit herrscht vor allem im Bereich der Zeitgeschichte eine Hegemonie des Audiovisuellen, die sich auch in der Rezeption und Authentifizierung historischer Spielfilme niederschlägt. Zweifellos stellt die Figur der*s Zeitzeugen*in ein weiteres Spezifikum für die Begegnung der jugendlichen Zuschauer*innen mit der Zeitgeschichte dar. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, inwiefern der*die Zeitzeuge*in ein exklusives Spezifikum der Zeitgeschichte ist, jedoch muss gefragt werden, inwieweit diese Figur die Rezeption und Authentifizierung audiovisueller historischer Erzählungen beeinflusst. Dass Zeitzeugen*innen als eine Ressource für die Authentifizierung eine ganz besondere Rolle spielen, dass sich möglicherweise sogar von einem Primat der Zeitzeugenschaft sprechen lässt, habe ich bereits ausgeführt. Die Bedeutung von Menschen im sozialen Umfeld der Jugendlichen, die anhand eigener Erlebnisse eine Grundlage für die Authentifizierung darstellen, aber auch die große Relevanz der medialen Zeitzeugen*innen, insbesondere als ein Teil von Fernsehdokumentationen, sind hier mehrfach deutlich geworden. Ob Zeitzeugen*innen nun medial auftauchen oder aber in der Lebenswelt der Zuschauer*innen zu verorten sind, sie stellen für viele Rezipienten*innen die wichtigste Grundlage dar, um zu beurteilen, ob ein fiktionaler Spielfilm wie „Der Turm“ authentisch Geschichte erzählt. 233 Siehe z.B. Welzer 2008. 234 Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall 2008.

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Eine mögliche Erklärung dafür, neben den bereits an anderer Stelle diskutierten, stellt die Tatsache dar, dass sich in der Figur des*r Zeitzeugen*in Geschichte personalisiert: Es handelt sich bei den Akteuren*innen in der Dokumentation, den Schauspiel-Stars, die in ihrer Doppelrolle als Dresdner Zeitzeugen*innen und Filmprofis auftraten, aber auch den „normalen“ Zeitzeugen*innen, die dort über ihre eigenen Erlebnisse berichten, um Menschen. Ebenso wie die Zeitzeugen*innen in der alltäglichen Lebenswelt der Jugendlichen ermöglichen sie den Zuschauern*innen einen personalisierten Zugang zur Zeitgeschichte, der besonders eingängig für jugendliche Rezipienten*innen erscheint. Dieser personalisierte Zugang weist aus der Perspektive einiger Jugendlicher einige Vorteile auf, die ihn auch für die Authentifizierung des Gesehenen besonders machen: So bieten Zeitzeugen*innen, ob medial oder lebensweltlich, zunächst einen sehr konkreten, greifbaren Zugang zur Zeitgeschichte. Gerade in Abgrenzung zu Ressourcen, die einige Jugendliche als besonders abstrakt wahrgenommen haben, zeigt sich dies: etwa mit Blick auf die Institution Schule als eine Authentifizierungs-Ressource, die viele als zu abstrakt empfinden, um zur Rezeption einer Story wie im „Turm“ herangezogen zu werden. Auch dank dieser Konkretheit und dem personalisierten Zugang zur Geschichte stellen Zeitzeugen*innen höchst glaubwürdige Instanzen der Geschichts- und Erinnerungskultur dar. Im empirischen Material zeigte sich, dass ihre Aussagen bisweilen einen sakrosankten Status besitzen und von quellenkritischen Betrachtungen weitgehend ausgeschlossen werden. Dies zeitigt Folgen auch für den Umgang mit zeitgeschichtlichen Erzählungen im Spielfilm: Wenn Zeitzeugen*innen das Gesehene auf die eine oder andere Art beglaubigen, wenn sie direkt oder indirekt bezeugen, dass es sich bei den historischen Audiovisionen um authentische Darstellungen handelt, dann liegt darin ein Spezifikum, das ausschließlich für die filmische Verhandlung der Zeitgeschichte gilt. Die Tatsache, dass Zeitzeugen*innen in der Gesellschaft zugegen sind, ob als Medienfiguren oder reale Personen in der Lebenswelt der Rezipienten*innen, liefert ein starkes Argument für die grundsätzliche Authentizität der Stories. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Allein dadurch, dass Spielfilme wie „Der Turm“ zeitgeschichtliche Ereignisse erzählen, zu denen Zeitzeugen*innen auskunftsfähig sind, besteht ein größeres Potential, dass deren Zuschauer*innen das Gesehene auch für authentisch halten. Die Produzenten*innen solcher TV-Events nutzen dieses zeitgeschichtliche Spezifikum in der Vermarktung ihrer Filme ausgiebig, und auch der hier im Zentrum stehende Zweiteiler bildet dabei keine Ausnahme. Für die Zuschauer*innen stellt dies ein wirksames Signal für die Authentizität der Erzählung dar, sodass Zeitgeschichte in Spielfilmen aufgrund dieses Spezifikums als grundsätzlich eher authentisch gelten kann. Dies steht in engem Zusammenhang mit einem dritten Aspekt, der die Zeitgeschichte als Thema audiovisueller Erzählungen von ferneren historischen Epochen

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meines Erachtens abhebt: die Tatsache, dass um die gegenwärtigen TV-Events lebhafte gesellschaftliche Diskurse geführt werden. Sie werden von den jugendlichen Rezipienten*innen durchaus wahrgenommen. Sie spielen für die Einschätzung, ob es sich beim Gesehenen um authentisch erzählte Geschichte hält, bisweilen eine wichtige Rolle. So antwortet Cem auf die Frage, ob er Teile der Filmstory nicht für „leicht erfunden“235 halte, mit einem klaren Widerspruch – es handle sich zweifellos um „eine wahre Geschichte“236. Bemerkenswert ist seine anschließende Begründung für diese These: CE: Ja dass wenn ma- wenn jemand also es gucken ja nicht irgendwelche Leute so=nen Film an, sondern auch schon die ein bisschen Ahnung von DDR-Zeit haben, und wenn auf einmal sowas da vorkommt, was überhaupt nicht zu DDR-Zeit passt, dann (.) bringt das auch das Wissen des des Zuschauers irgendwie durcheinander und (.) //mhm// °ja passt halt nicht.°237

Cem führt hier aus, was als eine weitere Ressource für die Authentifizierung einer historischen Spielfilmstory gelten kann, die ich jedoch in erster Linie zeitgeschichtlichen filmischen Erzählungen zuordnen würde: der geschichts- und erinnerungskulturelle Diskurs als Kontrollinstanz historischer Audiovisionen. Der junge Braunschweiger spricht in dem kurzen Abschnitt über eine unbestimmte Gruppe von Menschen, bei denen es sich keineswegs schlicht um „irgendwelche Leute“ handle, sondern um solche, „die ein bisschen Ahnung von DDR-Zeit haben“. Die Existenz dieser Gruppe und die Tatsache, dass auch sie Spielfilme wie den „Turm“ ansehen, führt er als ein Argument für die Authentizität der Darstellung an. Deutlich wird, dass die nur sehr vage beschriebenen Menschen („jemand“) eine Art Wächterfunktion einnehmen. „[W]enn auf einmal sowas da vorkommt, was überhaupt nicht zu DDR-Zeit passt“, würden die Angesprochenen auf den Plan treten und anhand ihres „Wissen[s]“ die mangelnde Authentizität bemerken. Mit einem Blick darauf, wie der Jugendliche dieses Argument sprachlich umsetzt, fällt auf, dass es ausgesprochen vage und diffus ausgeführt wird. Weder wird deutlich, um wen es sich bei den Angesprochenen denn eigentlich handle, noch wird klar, wie diese Gruppe konkret in Aktion trete. Zudem wird erkennbar, dass Cem sich nicht als Teil dieser fremden Gruppe versteht, „die ein bisschen Ahnung von DDRZeit haben“. Derlei Experten*innen für die „DDR-Zeit“ besäßen der Argumentation entsprechend auch für deren Darstellung eine Urteilskompetenz und könnten folglich Anhaltspunkte für die Einschätzung der Authentizität liefern. Wen diese „Ahnung“ auszeichne, lässt sich nur vermuten. Dabei könnte es sich um Histori-

235 Diese Wortgruppe führt er selbst ins Interview ein: Transkript CE, BS, Z. 862. 236 Transkript CE, BS, Z. 909. 237 Transkript CE, BS, Z. 916-920.

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ker*innen handeln, aber gleichsam kämen auch Zeitzeugen*innen in Betracht, historische Spielfilme fundiert zu bewerten. Gerade die Tatsache, dass Cem hier derart diffus von dieser Wächterinstanz historischer Audiovisionen spricht, legt die Interpretation nahe, dass er die vage und abstrakte Vorstellung eines geschichts- und erinnerungskulturellen Diskurses als Prüfinstanz solcher Erzählungen besitzt. Die Teilnehmer*innen dieses Diskurses sind durchaus vielfältig und potentiell zahlreich, und ihre Expertise („Ahnung“) speist sich aus unterschiedlichen Quellen. In der gesellschaftlichen Verhandlung historischer Themen, zu der TV-Events wie „Der Turm“ immer wieder Anlass geben, kommen Diskursteilnehmer*innen zur Sprache und konkurrieren um die historische Deutungshoheit, die ihre Möglichkeit zur Teilnahme aus verschiedenen Legitimationen beziehen: Die DDR-Geschichte und ihre öffentliche Verhandlung wird von der großen und diversen Gruppe der Zeitzeugen*innen ebenso verhandelt wie von Historikern*innen, Medienschaffenden, Politikern*innen und institutionellen Akteuren der Geschichts- und Erinnerungskultur, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie alle fallen bei Cem in die Kategorie jener anonymen Akteure, die dafür bürgen, dass historische Spielfilme authentisch erzählen. Wenn man so will, wird aus seinen Ausführungen deutlich, dass ihm die Teilnehmer dieses Diskurses ein Stück seiner Verantwortung als Zuschauer abnehmen: Er dokumentiert hier, dass er sich darauf verlässt, es mit einer authentischen historischen Erzählung zu tun zu haben, weil andere dafür bürgen, die zu einem fundierten Urteil in der Lage seien. Keineswegs handelt es sich dabei um einen naiven, blinden Glauben in die Authentizität historischer Spielfilme. Je nach verhandelter Thematik und Epoche sind auch Historiker*innen bei der Beurteilung historischer Spielfilme auf das Urteil von Fachkollegen*innen und anderen angewiesen. Dass der jugendliche Rezipient sich hier auf die Expertise anderer verlässt, ist Ausdruck eines grundsätzlichen Vertrauens in kulturelle Kontrollmechanismen, die unter anderem sicherstellen, dass die Verhandlung von Geschichte im Film sich innerhalb von ausgehandelten Grenzen bewegt. Die zeitgeschichtliche Spezifik des Arguments erwächst wiederum aus zwei Aspekten, die hier schon angesprochen wurden: Erstens nehmen auch Zeitzeugen*innen an diesen Diskursen um historische Spielfilme teil. Dies ist bei früheren Epochen zweifellos nicht der Fall. Angesichts der enormen Glaubwürdigkeit, die viele Jugendliche ihnen zuschreiben, erscheint auch plausibel, dass sie den Debatten um diesen oder jenen historischen Spielfilm eher vertrauen und somit auch auf deren Wächterfunktion bauen, wenn Zeitzeugen*innen darin involviert sind. Hier sei nur kurz an die Sequenz aus dem Gespräch mit Michaela erinnert, die die Expertise von Historikern*innen gegenüber Menschen mit eigenen Erlebnissen geradezu negiert hatte. Zeitzeugen*innen als Teilnehmer*innen geschichts- und erinnerungskultureller Diskurse verstärken das Argument, dass sich die Zuschauer*innen auf eine abstrakte Instanz verlassen können, die die Authentizität des Gesehenen sicherstellt.

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Zweitens macht die Debatten um zeitgeschichtliche Stoffe in Spielfilmen besonders, dass sie deutlich intensiver geführt werden, als dies für frühere Epochen gelten könnte. Kaum ein TV-Event zum Zweiten Weltkrieg kommt an einer ausführlichen diskursiven Verhandlung vorbei – erinnert sei etwa an die Diskussionen um den „Untergang“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“; letzterer hatte sogar diplomatische Verwicklungen mit dem polnischen Nachbarland provoziert. 238 Dies mag im Einzelfall auch für Spielfilme gelten, die andere historische Zeiträume darstellen, doch können die zeitgeschichtlich orientierten Diskurse um historische Audiovisionen zweifellos als intensiver geführt gelten. Aus dieser zeitgeschichtlichen Spezifik der geschichts- und erinnerungskulturellen Diskurse speist sich nicht nur für Cem ein grundsätzliches Vertrauen, dass es sich beim Gesehenen um authentisch erzählte Geschichte handelt. „Es wird schon stimmen, schließlich würde ein Film, der historisch Falsches erzählt, nicht produziert und gezeigt werden“ – dies ist die Argumentation, die hinter diesem Vertrauen steht. Auch die Braunschweigerin Anja nimmt sich dieser Argumentation an, doch sie erweitert sie noch um eine Dimension. Die Jugendliche thematisiert gewissermaßen die Kehrseite der gesellschaftlichen Debatten: „[…] äh so ein Film ist ja auch immer darauf aufgebaut, dass er möglichst viele äh (1) ja Abnehmer kommen, möglichst viele CDs verkauft […]“239. Auch darin liegt die bereits bei Cem sichtbare Kontrollfunktion der geschichtsund erinnerungskulturellen Diskurse. Doch die Jugendliche beleuchtet hier zudem, dass solche Filme nicht nur vor einer öffentlichen Debatte bestehen müssen, sondern dass sie zudem auch gezwungen seien, sich an den Erwartungen ihres Publikums zu orientieren. Dies schließt den Bogen zu dem, was ich eingangs zur Spezifik der Zeitgeschichte angemerkt hatte. Nicht nur könnte das Supermedium historischer Audiovisionen dazu tendieren, sich beständig in seinen Narrativen und Topoi selbst zu bestätigen. Zudem wacht zwar ein öffentlicher Diskurs darüber, dass Geschichte im Spielfilm „korrekt“ erzählt wird, jedoch sorgen unter anderem die kommerziellen Mechanismen der Filmindustrie dafür, dass der Maßstab dafür im Zweifel von den zahlenden Zuschauern*innen bestimmt wird. Authentisch ist dann, was die Kinobesucher*innen, die Käufer*innen von DVDs und die Gebührenzahler*innen dafür halten. Die behandelten Aspekte führen meines Erachtens dazu, dass Spielfilme wie „Der Turm“ eine Spezifik der Zeitgeschichte aufweisen, die sich auch in der Rezeption ihrer Zuschauer*innen niederschlägt. Der Eindruck entsteht, dass solche Filme in den Augen ihrer Rezipienten*innen ein Stück weit allein dadurch authentisch 238 Siehe zum „Untergang“ u.a. Wildt 2008; zu „Unsere Mütter, unsere Väter“ u.a. Classen 2014. 239 Transkript AN, BS, Z. 1239-1241.

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werden, dass sie Zeitgeschichte darstellen. Zeitgeschichtliche Erzählungen im Spielfilm besäßen insofern eine Art Vertrauensvorschuss ihrer Zuschauer*innen, die sie von der Darstellung früherer Epochen unterscheidet. Mit dieser thesenartigen Charakterisierung des Authentifizierungsprozesses habe ich versucht, abschließend die in der Arbeit aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Nach den Kapiteln zum Wie? und Warum? der Authentizität historischer Erzählungen konnten Wesensmerkmale herausgearbeitet werden, die genauer darlegen, wodurch die Zuschreibung von Authentizität durch die Zuschauer*innen fiktionaler historischer Audiovisionen charakterisiert werden kann. Dass dieser Prozess für die Aneignung fiktionaler, audiovisueller historischer Erzählungen von so großer Bedeutung ist, ließ ihn beinahe zwangsläufig in den Fokus rücken,240 um den Umgang jugendlicher Mediennutzer*innen mit audiovisuellen Offerten der gegenwärtigen Geschichtskultur verstehen zu können.

240 So argumentiert auch Königer 2015.

5

Fazit

Die vorliegende Arbeit hat sich der Herausforderung gestellt, empirisch die Zuschauer*innen historischer Spielfilme zu erforschen, und sich dabei auf ein bisher nur in allerersten Ansätzen bearbeitetes Forschungsfeld begeben. Im Mittelpunkt stand dabei die Problematik, die sich aus der Sicht der Rezipienten*innen für alle fiktionalen Formen historischen Erzählens, ganz besonders aber für das allgegenwärtige Medium der historischen Audiovision ergibt: die Frage nach ihrer Authentizität. So nahm die Arbeit eben diesen Aspekt aus der Rezipienten*innenperspektive in den Blick und fragte: Wie und warum werden historische Spielfilme für ihre Zuschauer*innen zu authentischen historischen Erzählungen? Diese Kardinalfrage der Rezeption fiktional erzählter Historie wurde im Verlauf der Auswertung in drei Teilfragen unterteilt: Zunächst ging es darum, die jeweiligen Zuschreibungen von Authentizität durch die Zuschauer*innen fundiert herauszuarbeiten. Festzuhalten bleibt, dass Jugendliche die Frage, wie authentisch eine fiktionale historische Erzählung im Film für sie sei, auf äußerst unterschiedliche Weise beantworten können. Das Spektrum reichte in dieser Hinsicht von einer maximalen Authentifizierung, die selbst die fiktiven Figuren eines Spielfilms als reale, historische Personen identifizierte, bis hin zu einer Suspendierung der Frage, ob das Erzählte denn überhaupt einen realweltlichen, historischen Bezug aufweise. Insofern handelt es sich bei der Authentifizierung um einen ergebnisoffenen Prozess. Gleichwohl wurde sichtbar, dass jene Zuschauer*innen, die das Gesehene in einer historischen Welt verortet und nach der Entsprechung des Erzählten in der Realität gefragt haben, durchaus einen Imperativ der Authentifizierung dokumentieren. Sie tendierten dazu, die Erzählung als authentisch wahrzunehmen, zeigten sich im Zweifel tolerant gegenüber Widersprüchen und suchten eher nach Argumenten für die Authentizität der Story. Dieser Wille zur Authentifizierung gipfelte bisweilen in einer Authentifizierung ex negativo, die das Fehlen von Argumenten, die die Authentizität infrage stellen könnten, bereits als ein Argument für ebenjene Authentizität heranzog.

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Ein zweiter empirischer Blick fiel in Anknüpfung daran auf die Ressourcen, die jugendlichen Zuschauern*innen für die Antwort auf die Frage dienen, ob sie einen authentischen historischen Spielfilm sehen. Dabei offenbarte sich eine erhebliche Vielfalt, die von einzelnen Elementen des historischen Spielfilms, über authentifizierende Elemente des TV-Events wie etwa die historische Fernsehdokumentation, bis hin zu weiteren medialen Authentifizierungs-Ressourcen reichte. Zuletzt zeigten sich Elemente der alltäglichen Lebenswelt der jugendlichen Zuschauer*innen als wesentlich für den Prozess der Authentifizierung. Individuell konnten sehr unterschiedliche Präferenzen beobachtet werden, doch unisono wurde erkennbar, dass es sich in jedem Fall um ein ganzes Ensemble von Ressourcen handelte, die für die Authentizität des Gesehenen sprachen. Aus diesem Ensemble stachen tendenziell jene Authentifizierungs-Ressourcen hervor, die von hoher lebensweltlicher Relevanz für die jugendlichen Zuschauer*innen waren. So zeigten sich etwa Zeitzeugen*innen im sozialen Umfeld der Jugendlichen als eine wichtige Grundlage der Authentifizierung. Drittens wurde nach den Merkmalen gefragt, die den Prozess der Authentifizierung – als einen wichtigen Aspekt jeder Aneignung fiktionaler historischer Medien – charakterisieren können. Dabei wurde erkennbar, dass der individuelle Umgang mit historischen Erzählungen im Medium Spielfilm sich durchaus ergebnisoffen gestaltet, gleichwohl aber ein Wille zur Authentifizierung des Gesehenen erkennbar ist. Was historisch scheint, soll aus Sicht der Rezipienten*innen auch authentisch sein. Insbesondere zeitgeschichtliche Stoffe in Spielfilmen weisen hierbei eine Spezifik auf, die sie von der Darstellung anderer Epochen unterscheidet und sie auch dadurch authentisch werden lässt, dass es sich um die Erzählung jüngster historischer Ereignisse handelt. Überdies hat sich das Konzept der Authentizität als gewinnbringend für die empirische Erforschung von Aneignungsprozessen fiktionaler historischer Erzählungen gezeigt. Erst dadurch wurde eine Orientierung an den Rezipienten*innen ermöglicht, die die Subjektivität derartiger Aneignungsprozesse betont und ihr zugleich gerecht wird. Zu fragen, ob ein Spielfilm ‚objektiv‘ korrekt Geschichte darstelle, besitzt im Zweifel keine Bedeutung für den*die einzelne*n Rezipienten*in. Hier erlaubte es der Begriff der Authentizität – verstanden als performatives Konzept – den Umgang mit historischen Darstellungen besser zu verstehen, nämlich als einen Prozess, der allein vor dem Horizont und der alltäglichen Lebenswelt der Zuschauer*innen aus einer Filmstory eine authentische Erzählung von Geschichte macht. Nolens volens gerät die Aneignung historischer Spielfilme, die oftmals außerhalb institutioneller Kontexte wie der Schule stattfindet, somit zu einem Prozess, dessen Ausgang ungewiss, vor allem aber lebensweltlich verankert und damit einem normativen Zugriff zu weiten Teilen verschlossen ist. Mit diesen Ergebnissen soll ein Beitrag geliefert werden, um zu verstehen, wie die Zuschauer*innen historischer Spielfilme, die ein so dominantes Medium der

Fazit | 419

gegenwärtigen Geschichtskultur repräsentieren, mit diesen medialen historischen Offerten umgehen. Insbesondere die umfassende Betrachtung des rezipierenden Individuums, verankert in einer hochgradig mediatisierten und zugleich komplexen sozialen Welt, erlaubt dabei Einblicke in die Vielschichtigkeit historischer Aneignungsprozesse. Diese gilt es weiter empirisch zu erforschen, um die Bedeutung der Geschichte und ihrer populären Erzählung in der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts ermessen zu können.

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Literaturverzeichnis

6.1 INTERVIEWS (VOLLTRANSKRIPTE) Braunschweig: Anja (AN, BS), Dauer der Aufnahme 1 Std. 9 Min. 29 Sek., 14. Februar 2013. Cem (CE, BS), Dauer der Aufnahme 1 Std. 3 Min. 39 Sek., 14. Februar 2013. Michaela (MI, BS), Dauer der Aufnahme 1 Std. 23 Min. 22 Sek., 14. Februar 2013. Stacy (ST, BS), Dauer der Aufnahme 1 Std. 23 Min. 27 Sek., 13. Februar 2013. Thorsten (TH, BS), Dauer der Aufnahme 1 Std. 33 Min. 46 Sek., 13. Februar 2013. Magdeburg: Julius (JU, MD), Dauer der Aufnahme 1 Std. 0 Min. 0 Sek., 28. Februar 2013. Ludwig-Theodor (LT, MD), Dauer der Aufnahme 1 Std. 22 Min. 41 Sek., 27. Februar 2013. Laura Pia (LP, MD), Dauer der Aufnahme 1 Std. 6 Min. 35 Sek., 28. Februar 2013. Grit (GR, MD), Dauer der Aufnahme 1 Std. 6 Min. 26 Sek., 1. März 2013. Valentina (VA, MD), Dauer der Aufnahme 1 Std. 31 Min. 30 Sek., 27. Februar 2013.

6.2 INTERVIEWS (TEILTRANSKRIPTE) Braunschweig: Daniela (DA, BS), Dauer der Aufnahme 1 Std. 0 Min. 20 Sek., 2. Dezember 2014. Julia (JL, BS), Dauer der Aufnahme 45 Min. 39 Sek., 4. Dezember 2014. Moritz (MO, BS), Dauer der Aufnahme 1 Std. 9 Min. 14 Sek., 4. Dezember 2014. Sven (SV, BS), Dauer der Aufnahme 1 Std. 2 Min. 27 Sek., 2. Dezember 2014. Tanya (TA, BS), Dauer der Aufnahme 46 Min. 35 Sek., 4. Dezember 2014. Magdeburg: Larissa (LA, MD), Dauer der Aufnahme 48 Min. 28 Sek., 9. Dezember 2014.

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Magdalena (MAG, MD), Dauer der Aufnahme 45 Min. 11 Sek., 10. Dezember 2014. Tim (TI, MD), Dauer der Aufnahme 1 Std. 1 Min. 30 Sek., 9. Dezember 2014.

6.3 MATERIALIEN „Band of Brothers – Wir waren wie Brüder“. Zehnteilige Miniserie, Regie: Tom Hanks u.a. USA 2001. „Das Zeugenhaus“. Spielfilm, Regie: Matti Geschonneck. Deutschland 2014. „Das Leben der Anderen“. Spielfilm, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck. Deutschland 2006. „Der Tunnel“. Spielfilm, Regie: Roland Suso Richter. Deutschland 2001. „Der Turm“. Spielfilm-Zweiteiler, Regie: Christian Schwochow. Deutschland 2012. Vorliegend als digitaler Fernsehmitschnitt in zwei Teilen. „Der Turm – Die Dokumentation“. Dokumentarfilm, Regie: Jan Lorenzen. Deutschland 2012. Vorliegend als digitaler Fernsehmitschnitt. „Der Untergang“. Spielfilm, Regie: Oliver Hirschbiegel. Deutschland 2004. „Die verlogene Wehrmachtssausstellung Reemtsma und Heer“, hochgeladen vom User „TheSARGON87“. Online unter https://www.youtube.com/watch?v=xgF BC9M9980 (5.8.2016). „Friendship“. Spielfilm, Regie: Markus Goller. Deutschland 2010. „Game of Thrones“. Serie. Produktion: David Benioff, D.B. Weiss. USA 20112019. „Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss“. Spielfilm, Regie: Marvin J. Chomsky. USA 1978. „Inglourious Basterds“. Spielfilm, Regie: Quentin Tarantino. USA, Deutschland 2009. „Schindlers Liste“. Spielfilm, Regie: Steven Spielberg. USA 1993. „Sonnenallee“. Spielfilm, Regie: Leander Haußmann. Deutschland 1999. „Triumph des Willens“. Dokumentarfilm, Regie: Leni Riefenstahl. Deutschland 1935. „Troja“. Spielfilm, Regie: Wolfgang Petersen. USA, Großbritannien 2004. „Unsere Mütter, unsere Väter“. Spielfilm-Dreiteiler, Regie: Philipp Kadelbach. Deutschland 2013. „Web-Doku“ des MDR zum Spielfilm „Der Turm“, online unter http://www. mdr.de/static/turm/ (23.7.2015). „Weltenbrand“. Achtteilige Dokumentation zum Ersten Weltkrieg. Regie: Guido Knopp, ZDF. Deutschland 2012.

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Anhang: Transkriptionsregeln

Die Transkription der Interviewdaten folgt dem System Talk in Qualitative Social Research (TiQ) nach Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 4., erw. Aufl. München 2014. S. 166f. Dessen Regeln werden hier bis auf minimale Anpassungen wörtlich wiedergegeben. Zeichenerläuterung Das „Häkchen“ markiert den Beginn einer Überlappung bzw. den direkten Anschluss beim Sprecherwechsel. (.) Kurzes Absetzen, Zeiteinheiten bis knapp unter einer Sekunde (3) Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert. Ab 4 Sekunden Pause erfolgt die Notation in einer Extrazeile. Auf diese Weise wird beim Lesen des Transkripts das Schweigen allen an der Interaktion Beteiligten zugeordnet (dem Interviewer und den Interviewten gleichermaßen oder etwa der ganzen Gesprächsgruppe), was bei längeren Pausen meist dem Eindruck des Gehörten entspricht. Ein technischer Vorteil liegt darin, dass Verschiebungen durch Korrekturen nur bis zu diesen Pausen Veränderungen bei den Häkchen nach sich ziehen. nein Betonung Nein Laut in Relation zur üblichen Lautstärke der Sprecherin/des Sprechers °nee° Sehr leise in Relation zur üblichen Lautstärke der Sprecherin/des Sprechers . Stark sinkende Intonation ; Schwach sinkende Intonation ? Deutliche Frageintonation , Schwach steigende Intonation Brau- Abbruch eines Wortes. So wird deutlich, dass man hier nicht einfach etwas vergessen hat. oh=nee Zwei oder mehr Worte, die wie eines gesprochen werden (Wortverschleifung) ∟

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ja∷∷

Dehnung von Lauten. Die Häufigkeit der Doppelpunkte entspricht der Länge der Dehnung. (doch) Unsicherheit bei der Transkription und schwer verständliche Äußerungen () Unverständliche Äußerungen. Die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerungen. ((hustet))Kommentar bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nichtverbalen oder gesprächsexternen Ereignissen. Soweit das möglich ist, entspricht die Länge der Klammer etwa der Dauer des lautlichen Phänomens. @nein@ Lachend gesprochene Äußerungen @(.)@ Kurzes Auflachen @(3)@ Längeres Lachen mit Anzahl der Sekunden in Klammem //mhm// Hörer*innensignale. „mhm“ des Interviewers werden ohne Häkchen im Text des*r Interviewten notiert, vor allem, wenn sie in einer minimalen Pause, die ein derartiges Hörer*innensignal geradezu erfordert, erfolgen. Groß- und Kleinschreibung Nach Satzzeichen wird klein weitergeschrieben, um deutlich zu machen, dass Satzzeichen die Intonation anzeigen und nicht grammatikalisch gesetzt werden. Hauptwörter werden großgeschrieben. Beim Neuansetzen eines Sprechers oder einer Sprecherin, d.h. unmittelbar nach dem „Häkchen", wird das erste Wort mit Großbuchstaben begonnen. Zeilennummerierung Zum Auffinden und Zitieren von Transkriptstellen müssen durchlaufende Zeilennummerierungen verwendet werden. Bei Zitaten aus einer Passage geben die Zeilennummern Aufschluss darüber, wo das Zitat in den Verlauf der Passage einzuordnen ist.

Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck

Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8

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Nele Maya Fahnenbruck, Johanna Meyer-Lenz (Hg.)

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