Erkundungen: Zur Zeitgeschichte 9783205203377, 3205203372

Theoretisch-methodische Entwicklungen ebenso wie thematische Wandlungen in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung

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Erkundungen: Zur Zeitgeschichte
 9783205203377, 3205203372

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Helmut Konrad

ERKUNDUNGEN Zur Zeitgeschichte

Herausgegeben von Stefan Benedik, Margit Franz, Nicole-Melanie Goll, Georg Hoffmann, Gerald Lamprecht, Ursula K. Mindler-Steiner, Karin Maria Schmidlechner, Ute Sonnleitner, Eduard G. Staudinger, Monika Stromberger, Andrea Strutz, Werner Suppanz, Heidrun Zettelbauer

2016

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Publiziert mit der Unterstützung durch: Karl-Franzens-Universität Graz Land Steiermark, Wissenschaft und Forschung Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark Alfred-Schachner-Gedächtnisfonds

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung  : Blick in die Überschreibung der Fresken von Franz Köck im ehemaligen NS-›Studentenhaus‹ 1938 mit einem Text von Helmut Konrad, Richard Kriesche, Graz 1997. Foto von Stefan Benedik und Heidrun Zettelbauer, 2012 © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Margit Franz, Graz Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Generaldruckerei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20337-7

Inhalt

Karin Maria Schmidlechner · Eduard G. Staudinger Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 Monika Stromberger · Andrea Strutz

Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 Von Linz aus. Die Formierung der österreichischen Zeitgeschichte (2011) . . . .  27

ARBEITER- UND ARBEITERINNENBEWEGUNG

Deutsch-Österreich: Gebremste Klassenbildung und importierte Arbeiterbewegung im Vielvölkerstaat (1983). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 Arbeitergeschichte und Raum (1983). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 Österreichische Arbeiterbewegung und nationale Frage im 19. Jahrhundert (1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  95 Politische Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung 1889 (1991) . . . . 109 Sozialutopien und Gewerkschaften (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

DIE SOZIALDEMOKRATIE IM KONTEXT POLITISCHER KULTUR IN ÖSTERREICH

Between “Little International” and Great Power Politics  : Austro-Marxism and Stalinism on the National Question (1992). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Sozialdemokraten (1990).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

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Inhalt

Der Weg in den Abgrund. Die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen (2012).. 181 Die Kronen-Zeitung im österreichischen Wahlkampf von 1966 (1990). . . . . . 193

ZENTRALEUROPA UND DER NATIONALSOZIALISMUS

Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938 (1990).. . . . . 209 Der Einfluß des Hitler-Stalin-Paktes auf die Kommunistischen Parteien Europas (1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Linksgerichteter Widerstand und Mitteleuropa 1939–1945 (1995) . . . . . . . . 233 Karl R. Stadler (1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Zurück zum Rechtsstaat (Am Beispiel des Strafrechts) (1981) . . . . . . . . . . . 253

NATIONALE UND GLOBALE DIMENSIONEN POLITISCHER DYNAMIKEN

Drafting the Peace (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit (1977). . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Austria on the Path to Western Europe  : The Political Culture of the Second Republic (1995). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Politische Weichenstellungen in den sechziger Jahren. Zwischen Weltanschauung und Populismus (1992). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

KULTUR UND GESELLSCHAFT

Heimaten (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Arbeiterbewegung und bürgerliche Öffentlichkeit. Kultur und nationale Frage in der Habsburgermonarchie (1994). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

Inhalt

Alltagsobjekte und Krieg (2015).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Zur österreichischen Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit (1986) . . . . . . . . 409 Das Rote Wien. Ein Konzept für eine moderne Großstadt  ? (2008). . . . . . . . 425 State and University – The Austrian Example (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . 443

ZEITGESCHICHTSFORSCHUNG UND GESCHICHTSDEBATTEN IN ÖSTERREICH

Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung (1988). . . . . . . . . . . . . 451 Das »Gedächtnis« von Universitäten. Das Beispiel Graz (2006) . . . . . . . . . . 459 Zur Positionierung der Zeitgeschichte. Das Grazer Beispiel (1995). . . . . . . . 475 Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsbewußtsein (2008) . . . . . . . . . . . . 479

Schriftenverzeichnis Helmut Konrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

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Karin Maria Schmidlechner · Eduard G. Staudinger

Einleitung

Helmut Konrad hat in den Jahren seines wissenschaftlichen Wirkens seit den 1970er Jahren eine beeindruckende Zahl von Monographien veröffentlicht, als Herausgeber vieler Sammelwerke fungiert und eine nahezu unglaubliche Zahl unselbstständiger Publikationen verfasst. Für den hier vorliegenden Band wurden einige dieser Publikationen ausgewählt, und zwar solche, die dem Team der Herausgeberinnen und Herausgeber als besonders geeignet und richtungsweisend für die Charakterisierung der wissenschaftlichen Tätigkeit Helmut Konrads erschienen. Sei es, dass er sich in ihnen oft schon sehr früh mit neuen wissenschaftlichen Fragestellungen, Themen, Theorien und Methoden auseinandergesetzt hat und sie dadurch wegweisend für weitere Entwicklungen im Fach geworden sind. Oder sei es, dass diese Arbeiten durch ihre Forschungsresultate und Schlussfolgerungen eine besonders wichtige Rolle in diversen Debatten und Kontroversen der Disziplin Zeitgeschichte bzw. einzelner ihrer Themenbereiche gespielt haben und spielen. Die Gliederung und Reihenfolge der Texte orientieren sich an zentralen Forschungsschwerpunkten von Helmut Konrad und korrespondieren im Wesentlichen auch mit der Chronologie der Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Demgemäß wurden einige seiner Forschungsarbeiten zur Arbeiter- und Arbeiterinnengeschichte an den Anfang gestellt, handelt es sich dabei doch um jene Thematik, die einen zentralen und vielfach innovativen Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bildet und auf die er in weiterer Folge bis in die jüngste Zeit auch immer wieder einging. Sehr gut ist dieses Leitthema zu sehen an den Beiträgen Deutsch-Österreich. Gebremste Klassenbildung und importierte Arbeiterbewegung im Vielvölkerstaat (1983) und Sozialutopien und Gewerkschaften (2013). Im zweiten Teil finden sich Texte, die aus der wissenschaftlichen Beschäftigung Helmut Konrads mit der österreichischen Sozialdemokratie hervorgingen, wobei deren Verortungen in österreichischen, aber auch internationalen Kontexten analysiert und dargestellt werden. So setzt er sich z. B. in dem Beitrag Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Sozialdemokraten (1990) u.a. mit der »österreichischen Revolution« auseinander und beleuchtet Posi­ tionierungen der Sozialdemokratie hinsichtlich der Staatsform, der Verfassung und der »nationalen Frage« – letzteres ein Themenfeld, auf das Helmut Konrad leitmotiv­ artig auch in zahlreichen anderen Arbeiten immer wieder eingeht. Im Beitrag über

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Karin Maria Schmidlechner · Eduard G. Staudinger

Die Kronen-Zeitung im österreichischen Wahlkampf von 1966 wird eine Analyse der Berichterstattung eines ausgewählten Massenmediums und seiner Einflussnahme auf diesen Wahlkampf vorgenommen. In seiner Dissertation befasste sich Helmut Konrad mit dem Widerstand von KPÖ und KSČ während der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges. Die Thematik »Widerstand«, wie insbesondere auch jene der Auswirkungen repressiver diktatorischer Herrschaftssysteme und -praktiken auf Menschen, die sich ihnen aktiv entgegenstellten, griff er ausgehend von unterschiedlichen Fragestellungen auch danach wiederholt auf. Davon handeln beispielhaft die im dritten Kapitel zusammengefassten Aufsätze. Zeitgleich mit der intensiven Beschäftigung mit den bisher genannten Themen wandte sich Helmut Konrad schon ab dem Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere Fragestellungen zu, die sowohl im Kontext der österreichischen wie vor allem auch einer global ausgerichteten Zeitgeschichte darüber hinausgingen. So veröffentlichte er 1977 einen Beitrag, in dem wirtschaftliche Metropolen der Welt in der Zwischenkriegszeit vergleichend analysiert werden. Diesem Geschichtsverständnis entspricht schließlich die intensive Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg und seinen globalgeschichtlichen Dimensionen, vor allem auch in Hinblick auf die Folgewirkungen. Zwei der Beiträge im vierten Kapitel beziehen sich auf die genannte globalgeschichtliche Perspektive, zwei auf die Einordnung von Themen der österreichischen Zeitgeschichte in einen übernationalen Kontext. Die in den 1990er Jahren publizierten Aufsätze mit Titeln wie Austria on the Path to Western Europe oder Politische Weichenstellungen in den sechziger Jahren. Zwischen Weltanschauung und Populismus haben aus der Perspektive von 2016, auch wenn die konkreten Kontexte andere geworden sind, wenig an grundsätzlicher Relevanz und Aktualität verloren. Die im fünften Kapitel präsentierten Beiträge vermitteln einen Einblick in Helmut Konrads Interesse an kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Themen. Mit seinen prägnanten Überlegungen und Ausführungen trug er u.a. wesentlich dazu bei, dass sich die Beschäftigung mit »Arbeiterkultur(en)« in den 1980er Jahren auch international vergleichend wissenschaftlich etablierte und für etliche Jahre ein sehr intensiv bearbeitetes Forschungsfeld blieb. Hervorzuheben ist zudem, dass gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge mit einbezogen wurden. Beiträge, die Helmut Konrads Haltung in Kontroversen und Debatten zur Zeitgeschichte sowie sein stetiges Engagement in der Vermittlung von Geschichte verdeutlichen, bilden den Abschluss des Bandes. Im Text Zur Positionierung der Zeitgeschichte setzt er sich explizit mit dem von ihm geleiteten Fachbereich am Institut für Geschichte der KFU Graz auseinander, in jenem zu Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsbewusstsein wird u.a. dargelegt, inwieweit Forschungen zur und Vermittlung von Zeitgeschichte im Spannungsfeld von wissenschaftsimmanenter Dynamik und

Einleitung

einer von unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ansprüchen geprägten Öffentlichkeit stehen. Die hier publizierten Beiträge, die in einem Zeitraum von ca. 40 Jahren erschienen sind, wurden wortgetreu vom Original übernommen und repräsentieren deswegen auch unterschiedliche Rechtschreibreformen. Lediglich eventuelle Rechtschreib- und Satzzeichenfehler wurden korrigiert. Um einen einheitlichen Textkorpus im Buch zu generieren, wurden die Zitierweise und das Erscheinungsbild der einzelnen Aufsätze vereinheitlicht. Für diese Arbeit ist Margit Franz besonders zu danken. Für die Mitarbeit an der Vorbereitung der Arbeitsbiographie danken die Herausgeberinnen und Herausgeber besonderes Edith Wirthler, Alois Kernbauer und dem Team des Geisteswissenschaftlichen Dekanats der Universität Graz, bei der Korrektur der Texte war Anja Grabuschnig sehr hilfreich. Zu danken ist auch Karin Lackner von der Universitätsbibliothek Graz, die oft schwierige verlags- und urheberrechtliche Fragen klärte. Damit ist auch allen Verlagen zu danken, die ihr Einverständnis für den Nachdruck der hier veröffentlichten Beiträge gaben. Gedankt sei auch jenen Institutionen, die finanzielle Subventionen leisteten. Sie sind auf der Impressumsseite namentlich genannt. Ebenfalls besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang dem Böhlau-Verlag, der die Publikation in sein Verlagsprogramm aufnahm und zugleich den Herausgeberinnen und Herausgebern finanziell großzügig entgegenkam. Das Foto auf dem Cover wurde von Stefan Benedik und Heidrun Zettelbauer aufgenommen. Es zeigt eine Perspektive auf eine Installation von Richard Kriesche aus dem Jahr 1997, die Ergebnis eines Kunstprojekts war. Dieses Projekt wurde in der Zeit Helmut Konrads als Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz am Campus gestartet, nachdem bei Renovierungsarbeiten im Gebäude der Österreichischen Hochschüler_innenschaft (ÖH) Graz in der Schubertstraße Nr. 6 zufällig eine sowohl inhaltlich als auch bildsprachlich im Sinne des »Konzeptes der Volksgemeinschaft« der NS-Ideologie gestaltete Malerei von Franz Köck aus dem Jahr 1938 freigelegt worden war. Die Malerei wurde nicht neuerlich übermalt, sondern in der vorgefundenen Form belassen. Vor ihr wurde allerdings in der Installation von Richard Kriesche eine Glasplatte angebracht, auf der ein von Helmut Konrad verfasster und von ihm selbst mit der Hand geschriebener Text gelesen werden kann. Dieser Text befasst sich mit möglichen Ambivalenzen einer Universität als Ort bahnbrechender innovativer Forschungsleistung, die auch mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, dann aber auch als ein solcher der Kollaboration mit einem totalitären Regime, von dem Menschen aus politischen und »rassischen« Gründen vertrieben wurden. Das konkrete Beispiel ist die Universität Graz, in diesem Text genannt und näher beschrieben, im Foto sichtbar gemacht durch die Widerspiegelung eines Teils des Universitätscampus im Fenster zum Hof. Teile von Zeilen dieses Schriftstücks sind auf dem Foto ebenfalls

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sichtbar. Text und Glasplatte ermöglichen zwar den Blick auf die Malerei, blockieren und brechen ihn aber zugleich. Das Foto dieser Installation verweist auf Helmut Konrads Engagement als Wissenschaftler und als Rektor, der in beiden Funktionen unter Einbeziehung künstlerischer Möglichkeiten die Universität Graz auch als Gedächtnisort etablierte.

Monika Stromberger · Andrea Strutz

Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie

Diese kurze Biographie1 des Ordinarius für Zeitgeschichte an der Universität Graz, der im Jahr 2016 emeritiert, zu schreiben, lässt sich mit der Gestaltung des Österreichischen Zeitgeschichtetags2 vergleichen, in dessen Rahmen dieser Reader präsentiert wird  : Es gibt so viel Interessantes, aber nicht alles kann Platz finden  ; mancher Ansatz passt nicht in die vorgegebene Struktur, anderes muss gekürzt werden. Am Ende soll sich ein gutes Gesamtbild ergeben, aber man weiß  : Ein wenig unbefriedigt bleibt man trotzdem zurück. Helmut Konrads Forschungsbiographie spiegelt die Etablierung des Faches Zeitgeschichte in Österreich seit den 1970er Jahren und seine Transformationen wider  : von der Arbeitergeschichte über die Neue Sozialgeschichte zu neueren Ansätzen der Kulturgeschichte, von den Themenfeldern Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung und Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus (insbesondere in seiner Dissertation und Habilitation) hin zu Forschungsbereichen wie Moderne, Globalgeschichte oder der Geschichte des Ersten Weltkriegs unter neuen Perspektiven (insbesondere die Forschungsarbeiten in Graz). Als Lehrender und Mentor kann der 1980 habilitierte Wissenschaftler auf eine Vielzahl an Lehrveranstaltungen in Österreich, Italien, in den USA und in Kanada verweisen sowie auf eine umfangreiche Liste an Diplomarbeitsund Dissertationsbetreuungen. Die räumliche Dimension seiner wissenschaftlichen Tätigkeit umfasst ein Netzwerk an Wirkungsorten, dessen Gateways Linz und Graz darstellen und das sich von Österreich aus (Innsbruck, Wien, Klagenfurt etc.) über die ganze Welt verfolgen lässt (Universitäten und Forschungsinstitutionen zum ­Beispiel in Deutschland, Italien, Albanien, Kanada, den USA, Japan, Syrien). Die institu­tionelle Perspektive eröffnet ebenso ein weites Feld in der Forschungslandschaft  : ­Zahlreiche akademische (Leitungs-)Funktionen an den Universitäten Linz, Innsbruck und Graz, am Ludwig Boltzmann Institut für Gesellschafts- und Kulturgeschichte, am Interna­ 1

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Die verwendeten Zahlen und Daten basieren, sofern nicht explizit anders ausgewiesen, auf den von Helmut Konrad selbst für unterschiedliche Anlässe verfassten Curricula Vitae. Zudem bedanken sich die Autorinnen bei Heidemarie Uhl (Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) für die konstruktive Diskussion und einige wichtige Anmerkungen, die in den Text eingeflossen sind. konstruktive unruhe Österreichischer Zeitgeschichtetag 2016 | Graz, 9.–11.06.2016, http://zeit geschichtetag.uni-graz.at/ (22.02.2016).

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tionalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), für die Internationale Ta­gung der Historiker der Arbeiterbewegung (ITH),3 im österreichischen und im deutschen Akkreditierungsrat sowie in weiteren europäischen Einrichtungen der akademischen Qualitätssicherung – auch die Verbindung von Wissenschaft und Wissenschaftsmanagement kennzeichnet Helmut Konrads Arbeitsbiografie.

Werdegang und Milestones Geboren 1948 in Wolfsberg absolvierte Helmut Konrad seine Schulzeit in Kärnten, ehe er an der Universität Wien Geschichte und Germanistik studierte und am Institut für Osteuropäische Geschichte und Südostforschung (dem heutigen Institut für Osteuropäische Geschichte) 1973 sub auspiciis praesidentis promovierte. Der Beginn seiner Universitätskarriere ist mit 1972 datiert, als er eine Stelle am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Linz, geleitet von Karl R. Stadler, antrat. Dort habilitierte er sich im Jahr 1980 und wurde im selben Jahr außerordentlicher Professor. Nach einer Gastprofessur für Zeitgeschichte 1982/83 an der Universität Innsbruck wurde er 1984 als ordentlicher Professor für »Allgemeine Zeitgeschichte mit besonderer Berücksichtigung außereuropäischer Länder und Kulturen« nach Graz berufen. Bis zur Erlangung der Professur verlief Konrads akademische Karriere sehr geradlinig nach dem in dieser Phase üblichen Muster. Nun verließ er den konventionellen Weg, um sich neuen Herausforderungen zu stellen. Es folgten Gastprofessuren an der Cornell University, USA (1990/91), an der University of Waterloo, Kanada (2000/01), am European University Institute in Florenz (Visiting Fellow 2001) und an der Yale University, USA (2010, 2013 und 2014) sowie Gastvorlesungen an Universitäten und Forschungseinrichtungen in zahlreichen Staaten (u.a. Frankreich, England, Skandinavien, USA, Kanada, Japan, China). Die Anerkennung in der academic community manifestierte sich auch in Board Member Funktionen von Fachzeitschriften (z. B. in der Redaktion der Austriaca oder im Advisory Board des Austrian History Yearbook AHY) und in verschiedenen Jury-Mitgliedschaften (z. B. in der Jury für den Viktor-­ Adler-Staatspreis für Geschichte sozialer Bewegungen, für den R. John Rath Prize des AHY oder für den Wissenschaftspreis des Landes Niedersachsen). Kann man diese Aktivitäten, die Teilnahme an Berufungs- und Habilitationskommissionen oder die Übernahme von universitären Funktionen als Dekan der Geistes3

Heute  : International Conference of Labour and Social History (ITH), http://www.ith.or.at/konf/ 51_ueberblick.htm (22.02.2016).

Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie

wissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität (1987–1989, 1992–1993, 2002, 2010–2013) und als Leiter des Instituts für Geschichte (2004–2006) noch als Teil einer akademischen Normbiographie definieren, so reicht der Umfang der Tätigkeiten Konrads in Hinblick auf Universitäts- und Wissenschaftsmanagement weit darüber hinaus. 1993–1997 wurde er zweimal zum Rektor der Universität Graz gewählt (in dieser Phase übernahm er auch das Amt des Vizepräsidenten der Österreichischen Rektorenkonferenz). 1999–2006 war Konrad als einziges nicht-deutsches Mitglied im Akkreditierungsrat für Studiengänge in Deutschland tätig. 2000–2005 fungierte er als Präsident des Österreichischen Akkreditierungsrates für Privatuniversitäten. Danach wurde er immer wieder zu Qualitätssicherungsmaßnahmen an europäischen sowie einigen asiatischen Universitäten herangezogen. Abgesehen von der der Wissenschaft und Universität inhärenten Ausrichtung an internationalen und globalen Problematiken und dem Engagement Konrads auf dieser Ebene widmete er sich intensiv der nationalen, regionalen und lokalen wissenschaftlichen Infrastruktur. Mit seiner Berufung nach Graz übernahm er die Leitung des neu gegründeten Grazer Standorts des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, das im Jahr 1995 in Ludwig Boltzmann Institut für Gesellschaftsund Kulturgeschichte umbenannt wurde.4 Darüber hinaus war bzw. ist er u.a. Mitglied des Vorstands des IFK bzw. Vorstandsvorsitzender (2000–2007) und aktuell Mitglied des Executive Boards des IFK Kunstuniversität Linz, Leiter einer Sektion am Österreichischen Historikertag, Vorstandsmitglied der ITH (Präsident 1990–2000) bzw. Mitglied im internationalen wissenschaftlichen Beirat der ITH, Kuratoriumsmitglied des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), Vizepräsident des Vereins zur Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA), weiters Kuratoriumsmitglied des Universalmuseums Joanneum (Vorsitzender 2007–2012) und Mitglied des Präsidiums des »steirischen herbsts«, stellvertretender Vorsitzender des Club Alpbach Steiermark, Vorstandsmitglied der Steirischen Urania sowie Mitglied und Vorsitzender des Wissenschafts- und Forschungsrats des Landes Salzburg (2008–2011). 4

Das LBI für Geschichte der Arbeiterbewegung wurde 1968 von Karl R. Stadler in Linz gegründet, 1995 in LBI für Gesellschafts- und Kulturgeschichte unbenannt und ist aktuell das älteste nicht-naturwissenschaftliche Institut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft (LBG). In seiner langen Geschichte verteilte sich dieses LBI bis 2005 auf drei Standorte (Linz, Salzburg und Graz). Nach der großen Umstrukturierung der Ludwig Boltzmann Institute im Jahr 2004 verblieb schließlich der Standort Graz des LBI für Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Mit drei weiteren LBIs bildet es seither den Cluster Geschichte der LBG. Vgl. Helmut Konrad, Von Linz aus. Die Formierung der österreichischen Zeitgeschichte, in  : Heinrich Berger u.a. (Hg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien/ Köln/Weimar 2011, 50  ; Cluster Geschichte, http://clustergeschichte.lbg.ac.at/de (18.02.2016).

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Was hierin auch deutlich wird  : Science to public ist für den engagierten Wissenschaftler Konrad mehr als ein Schlagwort. Aus der Reihe seiner Beteiligungen an der Gestaltung wissenschaftlicher Ausstellungen seien hier nur zwei genannt  : die Landesausstellung zum Thema »Wissenschaft, Kunst und Kommunikation« in Graz im Jahr 2000 (comm.gr2000az) und die Ausstellung Die Steiermark und der Große Krieg, ebenfalls in Graz 2014. Involviert ist er seit einigen Jahren in die Debatten um die Konzeption eines »Hauses der Geschichte Österreichs« in Wien, seit 2015 als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats. Darüber hinaus arbeitete und arbeitet er mit österreichischen und internationalen Medien zusammen, etwa in Zusammenhang mit dem Gedenkjahr zum Ersten Weltkrieg 2014 (Artikel und Artikelserien in mehreren Zeitungen) oder zuletzt 2015 mit dem ORF-Landesstudio Steiermark zum Zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegszeit (Erzählt, was ihr erlebt habt5). Seit 2000 gestaltet er regelmäßig Sendungen in der Radio Steiermark-Programmleiste Gedanken zur Zeit.6 Aufgrund seiner vielfältigen Tätigkeiten und seines Engagements wurden Konrad zahlreiche Auszeichnungen zuteil. Im Folgenden eine Auswahl  : • • • • • • • • •

Theodor-Körner-Preis (1975) Viktor-Adler-Staatspreis (1980) Ehrenbürgerschaft der Universität Sarajevo (1995) Ehrendoktorat der Universität Shkodra/Albanien (1996) Ehrendiplom der Israelitischen Kultusgemeinde Graz (1998) Großes Goldenes Ehrenzeichen des Landes Steiermark (1997) Preis der Stadt Wien für Geistes- und Kulturwissenschaften (2002) Willy und Helga Verkauf-Verlon Preis für antifaschistische Literatur (2008) Goldenes Ehrenzeichen der Republik Österreich (2009)

Forscher und Mentor Der Forschungsbiographie Helmut Konrads liegt ein breites Verständnis des Fachs Zeitgeschichte zugrunde  : vielfältige Perspektiven auf die Geschichte des »langen« 20. Jahrhunderts. Wenigstens drei der in diesem Reader versammelten Themenfelder lassen sich durch das gesamte Forschungsspektrum Konrads verfolgen  : die Ausein5 6

Projektdarstellung von »Erzählt, was ihr erlebt habt«, http://www.blogmobil.at/erzahlt-was-ihr-­ erlebt-habt/ (17.01.2016). Vgl. Helmut Konrad, Meine Gedanken zur Zeit. Hg. von Elisabeth Fiorioli und Wolfgang Muchitsch, Graz 2008.

Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie

andersetzung mit der Geschichte und der Kultur der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung, mit Zentraleuropa und dem Nationalsozialismus und Theorie- und Methodenfragen in der Geschichtsschreibung und -vermittlung. In den ersten Jahren fokussieren sich die Beiträge auf die Phase bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und auf die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich. In den 1980er Jahren widmet sich Konrad verstärkt den Fragen zum »Februar 1934« (vor allem rund um das Gedenkjahr 1984) – ein Thema, das er 2004 wieder verstärkt aufgreift. Zudem tritt mit den Herausforderungen kulturgeschichtlicher Zugänge das Konzept der Politischen Kultur mit Blickpunkt auf die Zweite Republik stärker in den Fokus. In den 1990er Jahren erfolgt eine Erweiterung des Arbeitsfeldes auf kulturhistorische Ansätze in Form von Stadtgeschichte und der Erforschung politischer Milieus sowie auf Problematiken der akademischen Qualitätssicherung. Neu definiert werden zudem Fragen der zeitgeschichtlichen Forschung im Allgemeinen und der Geschichte des 20. Jahrhunderts – speziell unter der Perspektive der Global History – im Besonderen. Konrads jüngster Arbeitsschwerpunkt knüpft unter neuer kulturwissenschaftlicher Perspektive an frühere Studien an  : die Annäherungen an den Ersten Weltkrieg und seine Folgen. Seine Dissertation über den Widerstand der kommunistischen Parteien in der »Ostmark« und im »Protektorat Böhmen und Mähren« (KPÖ und KSČ zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes) schrieb Konrad im Fachbereich Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien bei Richard G. Plaschka. In Linz wandte er sich unter der Ägide von Karl R. Stadler, dessen Rolle als Wegbereiter der Zeitgeschichtsforschung in Öster­reich er betont,7 der Geschichte der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung zu, die er als »Motor« der Entwicklung des Fachs Zeitgeschichte8 bezeichnet. Einerseits war diese frühe Phase geprägt von dem besonderen »Milieu« der Universität Linz, von den Möglichkeiten der ITH, wissenschaftliche Vernetzung über den Eisernen Vorhang hinweg zu schaffen, vom Impetus des unter Stadler neugegründeten Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung (Linz 1968) sowie allgemein von der Förderung durch die Bildungs- und Wissenschaftspolitik in den 1970er Jahren.9 Andererseits griff das Konzept der Geschichte der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung die Ansätze der neuen Sozialgeschichtsforschung auf und etablierte innovative Methoden und Perspektiven  : »Methodisch ist die regionale Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiterbewegung […] in Österreich weitgehend Neuland.«10   7   8   9 10

Vgl. Konrad, Von Linz aus, 50–51. Ebda., 51–52. Vgl. ebda., 52. Helmut Konrad, Einleitung, in  : Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981, 15.

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Dieses Neuland betrat Konrad mit seiner 1981 publizierten Habilitationsschrift Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits seine dritte große Monographie zum Thema Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung (vgl. dazu das Schriftenverzeichnis). Neben diesen innovativen geschichtswissenschaftlichen Perspektiven ist die Frühphase des Fachs in Österreich gekennzeichnet durch eine neue Vorstellung über die gesellschaftspolitische Rolle von (Zeit-) Geschichte. So wurde beispielsweise die ab 1973 von Erika Weinzierl herausgegebene Zeitschrift zeitgeschichte mit der Intention gegründet, sich »an alle Lehrer und Studenten der Geschichte und darüber hinaus an alle jene, die an der Geschichte unserer Zeit interessiert sind«11, zu richten. Konrad publizierte bereits im ersten Jahrgang dieses für die Zeitgeschichtsforschung zentralen Publikationsorgans einen seiner frühen Aufsätze. Im programmatischen Titel der Publikation Geschichte als demokratischer Auftrag, ein Sammelband, den Helmut Konrad 1983 zum 70. Geburtstag seines Lehrers Karl R. Stadler herausgab, spiegelt sich dieses gesellschaftspolitische Konzept erneut explizit wider. Die Erweiterung von Konrads Forschungsperspektiven und Handlungsfeldern in den 1980er Jahren wurde durch drei Faktoren bedingt  : neue Perspektiven (auch) in den Geschichtswissenschaften (die »turns«), die Berufung auf den Lehrstuhl für Allgemeine Zeitgeschichte in Graz und die zunehmende Bedeutung der Drittmittelforschung. In den 1980er Jahren wurde die sozialgeschichtlich orientierte Zeitgeschichte durch neue kulturwissenschaftliche Tendenzen herausgefordert, was Konrad selbst zunächst als »Krise« des Fachs12 bezeichnete. Forschungsthematiken wie Politische Kultur, Moderne, Stadtgeschichte, Identität und Gedächtnis rückten in den Fokus des Historikers, wobei er seine Forschungen zur Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weiter verfolgte, nun aber auch vermehrt die Geschichte der Zweiten Republik ins Blickfeld nahm. Mit der Berufung auf den Lehrstuhl für Allgemeine Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz war für Konrad eine neue Verantwortung verbunden – nämlich jene der Förderung des Nachwuchses, der Rolle des Mentors und der Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiter-Führung. Mit der von ihm aufgebauten Abteilung Zeitgeschichte (heute  : Fachbereich) schuf er ein innovatives, an den internationalen Entwicklungen des Fachs orientiertes Forschungsklima. Die zentralen Forschungsschwerpunkte, die sich hier während seines mehr als dreißigjährigen Wirkens ent11 Erika Weinzierl, Zeitgeschichte – Programm einer Zeitschrift, in  : zeitgeschichte 1/1 (1973), 1  ; ANNO, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=ztg&datum=1973&page=23&size=45 (22.02.2016). 12 Konrad, Von Linz aus, 54–55.

Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie

wickelten, spiegeln auch die Heterogenität und Vielfalt der Zeitgeschichtsforschung in diesem Zeitraum wider  : Arbeiter- und Arbeiterinnengeschichte, Widerstand und Verfolgung, Geschlechtergeschichte, Regionalgeschichte, Außereuropa, Migrationsforschung, Kulturgeschichte, Gedächtnisgeschichte und Jewish Studies.13 In einigen dieser Felder war Konrad selbst forschend tätig, andere wurden von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragen, die er zur eigenständigen Forschung ermutigte. Mit dem Prinzip einer »flachen Hierarchie« wurde er in Linz vertraut, und er führte das von Stadler praktizierte Modell in Graz fort  : »Das Assistenten- bzw. Assistentinnenschicksal, […] das Zuarbeiten, das Tragen der Tasche, das Löschen der Tafel, all das gab es in Linz nicht.«14 Ein methodisch und theoretisch offenes Verständnis von Zeitgeschichte sollte den Fachbereich Zeitgeschichte in Graz mit seinem breiten Spektrum an Themenfeldern und Forschungsansätzen prägen.15 Ein weiterer Faktor, der die Forschungsbiographie Konrads maßgeblich beeinflusste, war die Nachwuchsförderung, die zunehmend außerhalb der universitären Strukturen erfolgen musste  : durch Projekte, kurzfristige Verträge, mehr oder weniger umfassende Werkverträge oder basale Anbindung an die Universität durch externe Lehraufträge. Die Beantragung und Abwicklung von Forschungsprojekten wurde zu einer zentralen Tätigkeit Helmut Konrads, der damit Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern jene Möglichkeit bot, die die Universitäten nur mehr stark begrenzt zur Verfügung stellen konnten  : die Integration in den Wissenschaftsbetrieb. Mit dem Projekt des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (ÖNB) Todeszeichen. Kriegerdenkmäler in der Steiermark und Graz förderte er neue Ansätze zur Gedächtnisforschung. Mit Reinhard Kannonier, Weggefährte aus Linz (heute Rektor der Kunst­ universität Linz), beantragte er das erste wichtige FWF-Projekt Urbane Leitkulturen. Linz – Ljubljana – Leipzig – Bologna (1992–1994), ein Gemeinschaftsprojekt zwischen den Universitäten Graz und Linz. 1994 gelang es, das erste geisteswissenschaftliche FWF-Großforschungsprojekt, den Spezialforschungsbereich (SFB) Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900 an die Universität Graz zu holen  ; über zehn Jahre lang sollte dieses Forschungsprogramm ein Schwerpunkt der Aktivitäten der Abteilung Zeitgeschichte sein (1994–2005). Helmut Konrad war Teil des interdisziplinär zusammengesetzten Leitungsteams (Germanistik, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, 13 Vgl. Helmut Konrad, Die »Grazer Zeitgeschichte«. Eine sehr persönliche Annäherung, in  : Helmut Konrad/Stefan Benedik (Hg.), Mapping Contemporary History II. Exemplarische Forschungsfelder aus 25 Jahren Zeitgeschichte an der Universität Graz, Wien/Köln/Weimar 2010, 13–14, 16. 14 Konrad, Von Linz aus, 50. 15 Der Sammelband zum 25-jährigen Bestand der Abteilung Zeitgeschichte (2009) versteht sich als eine Art Bilanz  ; siehe dazu Konrad/Benedik, Mapping Contemporary History II.

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Österreichische Geschichte, Philosophie, Soziologie, Zeitgeschichte  ; Sprecher  : Rudolf Haller bzw. Moritz Csáky). Zwei Teilprojekte waren der Zeitgeschichte im SFB zugeordnet  : Regionale Ausdifferenzierung der österreichischen Moderne mit dem Fokus auf Identitätskonflikten in zentraleuropäischen Städten um 1900 und Staat – Politische Milieus – Moderne mit dem Fokus auf Politischer Kultur am Ende der Habsburgermonarchie und am Beginn der Ersten Republik. Damit wurde neuen Ansätzen einer kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtsforschung Rechnung getragen. Zudem förderte Konrad weiterhin Forschungen im Bereich »Widerstand und Verfolgung« (in Kooperation mit dem DÖW). Abgesehen von zwei FWF-Projekten zum Antisemitismus in den 1990er Jahren leitete er auch mehrere größere Projekte beim Jubiläumsfonds der ÖNB, beim Zukunftsfonds der Republik und beim Land Steiermark. Zwischen 2003 und 2006 war Helmut Konrad mit einem Team am EU-Projekt A Framework for Socio-Economic Development in Europe  ? The Consensual Political Cultures of the Small West European States in Comparative and Historical Perspective (5. Rahmenprogramm der Europäischen Union) beteiligt, ein interdisziplinäres Projekt (Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie), das die sozialpartnerschaftlichen Strukturen in kleinen westeuropäischen Staaten analysierte.16 Zu seiner Drittelmittelbilanz zählen noch viele weitere von nationalen, regionalen und lokalen Förderinstitutionen genehmigte Projekte. Im Umfeld der Abteilung Zeitgeschichte wurde das Centrum für Jüdische Studien (CJS) an der Universität Graz im Jahr 2000 gegründet, von Helmut Konrad auf allen Ebenen unterstützt. Das Arbeitsfeld »Außereuropa« förderte er, indem er kontinuierlich externe Lehrende mit entsprechender Expertise nach Graz holte und Forschungen in diesem Bereich in Form von Projektanträgen und Dissertationen unterstützte. Weitere Synergieeffekte ergaben sich durch die enge Verknüpfung der Aktivitäten des Fachbereichs mit jenen des Ludwig Boltzmann Instituts für Gesellschafts- und Kulturgeschichte, das am Institut für Geschichte der Universität Graz angesiedelt ist und dem Konrad als Leiter von Beginn an vorstand. Gerade dieses LBI eröffnete die Möglichkeit, innovative Ansätze in der Zeitgeschichtsforschung in enger Kooperation mit dem Universitätsinstitut aufzugreifen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am LBI in die Forschung und Lehre der Universität einzubinden. So war das LBI beispielsweise in alle größeren Projektanträge (SFB, NFN) integriert. Im letzten Jahrzehnt bildeten Forschungen zur Nachkriegszeit und zur Migration einen neuen Schwerpunkt der Abteilung Zeitgeschichte. Im Zuge der Vorbereitungen 16 Die Projektgesamtkoordination für Smallcons (so der Kurztitel) lag bei der Universität Amsterdam (Uwe Becker)  ; weitere Projektpartner waren die Universitäten Kopenhagen, Göteborg, Helsinki und Lausanne.

Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie

des Gedenkjahrs 2014 wurden neue Forschungsansätze zum Ersten Weltkrieg entwickelt. Konrad knüpfte an sein früheres Forschungsfeld an und initiierte zunächst den FWF-SFB-Antrag Der Erste Weltkrieg. Erwartung – Erfahrung – Erinnerung, der 2007 in der zweiten Antragsrunde scheiterte. Auf dieser Basis wurde im Jahr darauf ein Nationales Forschungsnetzwerk (NFN) in Kooperation mit den Universitäten Wien und Innsbruck konzipiert, das allerdings nicht genehmigt wurde. Der Erste Weltkrieg sollte jedoch weiterhin einen Schwerpunkt in Konrads Forschungsinteresse darstellen  ; er zählt auch zu jenem »Kreis prominenter österreichischer Historiker und Historikerinnen«, die im Auftrag des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres (BM  : EIA) 2014 am Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren mitwirkten.17 In jüngster Zeit veröffentlichte Konrad mehrere Abhandlungen zu den Thematiken, die seine gesamte Forschungsbiographie definieren, wobei der Erste Weltkrieg weiterhin stark präsent blieb – neben Beiträgen zur Universitätsentwicklung. Unerwähnt bleiben müssen in diesem Rahmen die zahlreichen Vorträge, die Konrad im Zuge seiner Forschungstätigkeit im In- und Ausland hielt  ; ihre Aufzählung würde jeden Rahmen sprengen.

Hochschullehrer und Mentor Als charismatischer Hochschullehrer inspirierte Helmut Konrad mehrere Generatio­ nen von Studierenden. Seine Lehrtätigkeit im 1984 an der Universität Graz neu geschaffenen Fach Zeitgeschichte war und ist geprägt von einem globalen und umfassenden Blick auf historische Entwicklungen und von einer Offenheit gegenüber dem breiten Spektrum an politischen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen sowie einer großen Bereitschaft zu und Lust auf Interdisziplinarität. Von Beginn an war Konrads Lehre forschungsgeleitet und orientierte sich stets an den jeweils aktuellen theoretischen und methodischen Zugängen im internationalen Kanon der Disziplin. Die erste Vorlesung des neu berufenen Professors im Sommersemester 1984 behandelte Die Welt zwischen den Weltkriegen, bereits das erste Konversatorium war den Methodischen Problemen der Zeitgeschichte gewidmet. In seinen vielfältigen Grundlagenvorlesungen begnügte er sich nicht damit, die Grundzüge der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu dozieren, wie es der Lehrplan vorsah, 17 Gedenkjahr 1914–2014 – 100 Jahre Ausbruch Erster Weltkrieg, http://www.bmeia.gv.at/europa-­ aussenpolitik/auslandskultur/schwerpunktprogramme/gedenkjahr-1914-2014/ (22.02.2016).

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sondern brachte immer aktuelle Forschungsansätze ein. In zahlreichen Vorlesungen und Seminaren setzte er sich mit Nationalismus, Regionalismus und Identitätskonstruktionen, mit Faschismus, mit Widerstand gegen den Nationalsozialismus, mit Modernisierung und Moderne, mit sozialen Problemen und Bewegungen bzw. Revolutionen, mit Ideologien, mit Kriegen und europäischen Neuordnungen nach den Kriegen, mit Geschichte und Medien, mit Globalisierungsprozessen und ihren Folgen oder auch mit kulturhistorischen Themen auseinander. Legendär unter den Studierenden waren vor allem die im Sommersemester 1986 abgehaltene Vorlesung Faschismus, Nationalsozialismus und postfaschistischer Rechtsextremismus in Europa sowie die Wissenschaftstheorievorlesung Theorien und Methoden in der Neueren Geschichte und Zeitgeschichte (Wintersemester 1985/86 und 1987/88). Die Lehrveranstaltungen wurden von den Studierenden der Geschichte, aber auch anderer Studienrichtungen quasi »gestürmt«, da Konrad völlig neue, bislang in Graz kaum oder gar nicht vorgetragene Inhalte bzw. innovative methodische und theoretische Ansätze der Zeitgeschichtsforschung präsentierte.18 Konrad engagierte sich auch im Team-Teaching mit Kolleginnen und Kollegen von der eigenen Universität sowie anderen nationalen und internationalen Hochschulen – etwa, um historischen Längsschnittmaterien gerecht zu werden. Hier ist die Vorlesung Die Armut in der Geschichte, die er im Wintersemester 1987/88 gemeinsam mit Ingomar Weiler (Alte Geschichte) und Herwig Ebner (Mittelalter) durchführte, als Beispiel zu nennen. Dazu kommen über die Jahre zahlreiche Einladungen zu und Teilnahmen an Ringvorlesungen an unterschiedlichen Instituten und Fakultäten der Universität Graz bzw. in jüngerer Zeit die Übernahme der fakultätsweiten Vorlesung zu den Grundproblemen der Zeitgeschichte mit bis zu sechshundert Hörerinnen und Hörern. Darüber hinaus lehrte Konrad an Universitäten in Italien, Japan, Kanada und in den USA – zuletzt im Wintersemester 2014, wo er im Rahmen einer Gastprofessur am History Department der Yale University gemeinsam mit Jay Winter und David Blight ein Seminar zum Thema American Civil War and World War One abhielt. Als Leiter des Fachbereichs Zeitgeschichte ermutigte Konrad, dem die Freiheit der Lehre immer am Herzen lag, auch seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, selbst forschungsgeleitete Lehre abzuhalten. Zudem integrierte er, wie erwähnt, zahlreiche externe Lehrbeauftragte (besonders für den Bereich Außereuropa) in den Lehrbe18 Wollte man als Studierende in der Faschismus-Vorlesung einen Sitzplatz im alten Hörsaal »F« mit seinem knarrenden Holzgestühl bekommen, so musste man frühzeitig in den Hörsaal kommen, ansonsten blieb nur ein Stehplatz. Auch die Einheiten in der Wissenschaftstheorievorlesung, die ohnedies in einem sehr großen Hörsaal stattfanden, waren stets überfüllt.

Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie

trieb und unterstützte wiederholt Gastlehrende z. B. aus Japan oder den USA bzw. Kolleginnen und Kollegen von anderen österreichischen Universitäten. Weiters band er Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nach Möglichkeit nicht nur in den Forschungsbetrieb ein, sondern auch in die Lehre des Instituts, was zu einer großen thematischen Vielfalt und methodischen Buntheit des Lehrangebots führte. Doch nicht allein die akademische Lehre war und ist Helmut Konrad ein großes Anliegen, die Förderung von Studierenden lag und liegt ihm generell am Herzen. So verfasste er zahlreiche Gutachten und Empfehlungen im Rahmen von Anträgen für Stipendien und Preise, vermittelte Praktika an Studierende, bezog sie in die Organisation diverser Konferenzen mit ein oder ermutigte und motivierte die Begabtesten zu ersten Vorträgen und Publikationen. Aktuell hält er zudem Kurse in einem Weiterbildungsprogramm für Masterstudierende an der Universität Graz. Konrads vielfältige wissenschaftliche Interessen spiegeln sich auch in den von ihm seit 1984 betreuten Diplomarbeiten und Dissertationen wider, wobei er immer eine große Offenheit für Thematiken bewies, die an der Schnittstelle zu anderen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen angesiedelt sind. Im Laufe der vergangenen dreißig Jahre betreute Helmut Konrad an der Universität Graz eine enorme Zahl an Abschlussarbeiten  : 212 Diplomarbeiten sowie 134 Dissertationen, wobei er bei 85 Dissertationen als Erstbetreuer fungierte.19 Diese Tätigkeit wird ihn auch noch einige Zeit weiter begleiten, da einige Abschlussarbeiten in statu nascendi sind.

Universitätsmanagement und Qualitätssicherung Bereits als stellvertretender Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz war Konrad für die Qualitätssicherung an den Universitäten zuständig, dieser Bereich wurde zu seinem dritten großen »Berufslebensthema« neben Forschung und Lehre. Als Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz arbeitete er in den 1990er Jahren daran, deren Performance zu verbessern. Ab 2000 evaluierte er auf nationaler Ebene (Mitglied und Präsident des Österreichischen Akkreditierungsrates) mehrere Privat­ universitäten. In Deutschland war er viele Jahre Mitglied des Akkreditierungsrats für 19 Alois Kernbauer vom Grazer Universitätsarchiv sei herzlich für die Übermittlung der Liste der von Helmut Konrad betreuten Dissertationen (1984–2015) gedankt. Ebenso gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Geisteswissenschaftlichen Dekanat der KFU großer Dank für die Übermittlung der Liste der von Konrad betreuten Diplomarbeiten vor der elektronischen Aufzeichnung im UGO sowie Edith Wirthler im Sekretariat des Fachbereichs Zeitgeschichte, die die analoge Liste aus dem Dekanat mit den elektronisch erfassten Daten der bei Konrad abgeschlossenen Diplomarbeiten zusammenführte und ergänzte.

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Studiengänge sowie Mitglied der Evaluierungsgruppe der Exzellenzinitiative der FU Berlin. Weiters engagierte er sich für die universitäre Qualitätssicherung in Portugal, in den Niederlanden und Flandern, in der Schweiz, in Schweden, in Albanien und im Kosovo (Appeals Committee), in Ungarn (International Advisory Boards of the Hungarian Accreditation Committee), in Syrien und seit 2015 in Polen (Advisory Board of the Polish Accreditation Committee). Derzeit ist er zudem Mitglied des Präsidiums des European University Institute in Florenz. Als Mitglied im Board von ENQA (European Association for Quality Assurance in Higher Education) gestaltete er seit 2004 die »European Standards and Guidelines« mit, einige Zeit war er auch Vorsitzender des Appeals Consortium der Association. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse in diesem Bereich diskutierte er im Rahmen von zahlreichen internationalen Konferenzen und Workshops sowie in Form von Publikationen.

Fazit  : ein außergewöhnlicher Forscher, Lehrer, Mentor und Wissenschaftsmanager Drei Säulen definieren die überaus erfolgreiche wissenschaftliche Biographie Helmut Konrads  : die Forschung, die Lehre und die universitäre Qualitätssicherung. Eine kurze Darstellung kann, wie eingangs eingestanden, allen Aspekten dieser herausragenden Persönlichkeit kaum gerecht werden. Nüchtern bilanziert kann Konrad im Jahr 2016 auf 45 Jahre universitärer Karriere, auf 32 Jahre Leitungstätigkeit am LBI für Gesellschafts- und Kulturgeschichte, auf die Leitung und Durchführung von mehr als 15 großen Forschungsprojekten im nationalen und internationalen Kontext (Europäische Union/5. Rahmenprogramm, FWF, Jubiläumsfonds der ÖNB, Zukunftsfonds der Republik Österreich, Land Steiermark) und von vielen weiteren Projekten geringerer Dimension, auf über 50 Monographien und Herausgeberschaften, auf mehr als 260 unselbstständige Veröffentlichungen, auf ungezählte Rezensionen und Zeitungsartikel, auf einen Berg grauer Literatur (Anträge, Berichte etc.), auf unzählige Vorträge zwischen Tainach/Kärnten, Tokio/Japan und Waterloo/Kanada, auf hunderte Lehrveranstaltungen, auf 212 in Graz betreute Diplomarbeiten und 134 Dissertationen, auf eine Kohorte Mentees, auf unzählbare Sitzungsstunden in lokalen, nationalen und internationalen Gremien und Kommissionen und auf viele Evaluierungsentscheidungen verweisen. Diese Bilanz ist herausragend. Sie verweist darauf, dass Konrad als Forscher, Lehrender und Universitätsmanager alle Chancen, die die Veränderungen in der »Wissenschaftslandschaft« in den 1970er Jahren eröffnet haben, ergriffen und diese schließlich auch mitgeprägt hat. Als Zeithistoriker ordnet er diese Arbeitsbiographie

Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie

selbst als generationsspezifisch und von konkreten strukturellen Bedingungen charakterisiert ein  : »Allein meiner Generation sollte aber bei allen Unterschieden der individuellen Situation klar sein, dass unser berufliches Leben in einer historisch einzigartigen Situa­tion abgelaufen ist. […] Die Jungen bauen ihre Zukunft auf einem viel instabileren Grund, als dies unsere Generation tun konnte.«20 Eines kann die nüchterne Darstellung einer Arbeitsbiographie wie diese allerdings nicht leisten  : die Herzlichkeit, Offenheit und Bereitschaft zur Unterstützung, die seine Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Schülerinnen und Schüler und Studierende mit der Person Helmut Konrads verbinden, in gebührender Form zu beschreiben.

20 Helmut Konrad, »Meiner Generation sollte klar sein, dass unser berufliches Leben in einer historisch einzigartigen Situation abgelaufen ist.«, in  : Konrad, Meine Gedanken zur Zeit, 23.

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Von Linz aus Die Formierung der österreichischen Zeitgeschichte (2011)

Ein Festschriftbeitrag für Gerhard Botz kann nicht einfach eine kleine Pflichtübung sein. Zu sehr waren und sind sein und mein Lebens- und Berufsweg verschachtelt, zu oft haben wir uns herzhaft (und laut) gestritten und zu sehr sind wir von einem gemeinsamen Umfeld, gemeinsamen Ersatzeltern und gemeinsamen Verantwortungen geprägt. Wenn ich gefragt werde, was mich im akademischen Leben so gelassen macht, wieso man mich nie laut erlebt und wieso mir alle Probleme und Konflikte lösbar erscheinen, so antworte ich oft, dass fast ein Jahrzehnt in einem gemeinsamen Arbeitszimmer mit Gerhard Botz zur Entwicklung eines absolut kratzfesten Hitzeschildes führen muss. Ob dies umgekehrt auch bei ihm der Fall ist, mag er selbst beurteilen, aber die Diskussionen, die spielerischen bis ernsten Debatten, die ideologischen Streitgespräche, die wir praktisch täglich führten, waren eine harte, aber gute Schule wohl nicht nur für mich. Das kleine Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, mit dem in Perso­ nal­union verbundenen Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung an der Universität Linz, an dem Gerhard Botz als erster Assistent eine Zentralfigur war, erhält retrospektiv für die Entwicklung des Faches Zeitgeschichte in Österreich eine Bedeutung, die zeitnah nicht zu erkennen war. In eine Zeit der prinzipiellen Veränderungen des akademischen Lebens (und des gesamten Werte- und Normensystems der Gesellschaft) hineingestellt, haben sich dort gesellschaftliche Prozesse exemplarisch verdichtet und konnten von dort als Ferment in die österreichischen Universitäten zurückwirken.

Der Beginn Obwohl »Zeitgeschichte« in Österreich etwas älter ist als das Linzer Institut, kann man dieses der Gründergeneration zurechnen. Älter sind zwei zeitgeschichtliche außeruniversitäre Forschungsstätten, nämlich der Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (1959) und das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (1963). Das Salzburger Institut für kirchliche Zeitgeschichte am Internationalen Forschungszentrum Salzburg (1964) war zumindest an die Universität angebunden. Den

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Von Linz aus

ersten Lehrstuhl für Zeitgeschichte gab es schließlich 1966 an der Universität Wien. Aber schon 1968 folgte Linz. Die Generation der Gründer der österreichischen Zeitgeschichtsforschung hatte eine Zusammensetzung, aus der sich viel für die weitere Entwicklung ablesen lässt. Karl R. Stadler, Jahrgang 1913, ist davon der Älteste. 1938 als einer jener jungen Intellektuellen, die sich 1934, enttäuscht von der österreichischen Sozialdemokratie, nach links gewendet hatten, war er mit seiner Lebens- und Politikgefährtin, die zudem aus einer jüdischen Familie stammte, im letzten Augenblick den Nazis nach England entkommen. 1968 hatte er 30 Jahre im Exil verbracht. Als Historiker in Nottingham, der Labour Party verbunden, hatte er aber gute, ja enge Kontakte nach Österreich. Er unterrichtete an der Wiener Diplomatischen Akademie, und in seinem englischen Haus verkehrten viele prominente österreichische Sozialdemokraten, darunter Heinz Fischer. Die engsten Kontakte persönlicher Art verbanden ihn mit Christian Broda, was für die Zeitgeschichte noch wichtig werden sollte, Stadler übernahm 1968 die Zeitgeschichte-Professur in Linz. Ludwig Jedlicka stand von 1945 an auf der Gegenseite. 1916 geboren, war er bereits »Illegaler«, 1938 Mitglied der NSDAP und 1941 HJ-Stammführer. Nach 1945 war er allerdings einer der Gründer des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (das ganz den Allparteienanspruch erhob  : Herbert Steiner für die KPÖ, Paul Schärf für die SPÖ, August Maria Knoll für die ÖVP und Ludwig Jedlicka zumindest als Verbinder ins »Dritte Lager«), und 1966 wurde er der Vorstand des neuen Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Deutlich jünger war Erika Weinzierl. 1925 in Wien geboren, studierte sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit und war sodann als Archivarin tätig. Nach der Habilitation 1961 wurde sie Leiterin des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte (und blieb es bis 1992). 1967 wurde sie Professorin an der Universität Salzburg, um schließlich 1979 dem 1977 verstorbenen Ludwig Jedlicka am Lehrstuhl in Wien nachzufolgen. Sie war tief im katholischen Milieu verwurzelt, entwickelte sich aber, nicht zuletzt über ihre Forschungen, nach links. Jedlicka und Weinzierl waren Gegensätze, Stadler, der mit beiden konnte, das »Scharnier« dazwischen. Jedlicka prägte Gerhard Jagschitz, Karl Stuhlpfarrer, Anton Staudinger u.a., Stadler prägte Gerhard Botz, Helmut Konrad, Gabriella Hauch u.a., Weinzierl formte Ernst Hanisch und Rudolf Ardelt, der allerdings große Affinitäten zu Linz hatte und hat. Die erste Generation und ihre »Kinder«  : das schaut nach einem klaren Familien­ stammbaum aus. Das ist es aber keinesfalls, er ist kein harmonisches Familienbild, das man eingerahmt über dem Kamin aufstellt. Da gibt es Brüche, da gibt es Spannungen, da gibt es innere Gegensätze und auch von außen hineingetragene Widersprüche.

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Zeitgeschichte vollzieht sich, deutlicher als die meisten anderen geistes- bzw. kulturgeschichtlichen Disziplinen, in einem politisch verdichteten Umfeld. Stärker als andere Fächer wird sie instrumentalisiert, protegiert oder behindert, jedenfalls aber in die aktuellen politischen Diskussionen gezogen, zumindest als Steinbruch zum Gewinn der Pflastersteine für politische (Totschlag-)Argumente. Die österreichische Politik war in den späten 1960er-Jahren in einem großen Ausmaß »versäult«. Zwei Jahrzehnte große Koalition hatten zur Aufteilung von politischen Einflusssphären geführt, die jede, sogar jede private Aktivität politisch konnotierte. Man war dann eben Arbeiterfischer (was nicht bedeutet, dass man Arbeiter zu fischen hatte, wie ein Forellenfischer Forellen fängt), Naturfreund, Arbeiterradfahrer auf der Linken, und in spiegelgleichen Organisationen galt das für das christlich-konservative Lager. Wohnungen, Jobs, Studierendenheimplätze etc. wurden nach Parteibuch vergeben. Da kam es schon mal vor, dass eine politische Vorfeldorganisation (im mir bekannten Beispiel die sozialistischen Lehrer) regional mehr Mitglieder als Wähler hatte, weil die Anstellung in einer bestimmten Region und die Mitgliedschaft beim SLÖ, also den Sozialistischen Lehrern, direkt korrespondierten. Reste dieses Systems finden sich in Österreich bis heute, und sie reichen noch immer tief ins akademische Milieu. Bildungseinrichtungen der Parteien verfügen auch heute noch über nicht unbeträchtliche Mittel, und aus dem politischen Umfeld kommt großzügige Unterstützung von (durchwegs nicht evaluierter) Antrags- oder Auftragsforschung, die den akademischen Wettbewerb politisch verzerrt. Aber ohne Zweifel war das vor einem halben Jahrhundert deutlich ausgeprägter. Die Zeitgeschichte in Österreich war in ihren Anfängen vorerst vor allem österreichische Zeitgeschichte. Im überparteilich konstruierten, aber (durch die Zahl der Betroffenen) stark kommunistisch orientierten Dokumentationsarchiv des öster­ rei­­ chischen Widerstandes trafen in dieser Gründungsphase Widerstandskämpfer und -kämpferinnen, Überlebende aus den Konzentrationslagern bzw. Emigranten und Emigrantinnen mit jenen jungen Forscherinnen und Forschern zusammen, die einerseits auf der Suche nach einer alternativen Familiengeschichte waren oder die anderseits aus der kleinen Zahl der Kinder der Opfergeneration, also der Kinder aus jüdischen Familien oder aber aus dem Widerstandsmilieu, stammten. Mit hohem Engagement wurde dort an der Bewahrung der Erinnerung an ein »anderes« Österreich gearbeitet. Teile der damals jungen Forscherinnen und Forscher wurden hier geprägt, vor allem jene, denen die Suche nach dem »anderen« Österreich nicht nur wissenschaftliches, sondern auch emotional-persönliches Anliegen war. An der Universität hingegen war Zeitgeschichte vorerst stark auf die Konfliktlinien der Ersten Republik fixiert. Das galt zumindest für die »offiziellen«, also als Zeitgeschichte benannten Einrichtungen. Zeithistorische Fragen wurden allerdings

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auch an anderen historischen Instituten und Abteilungen, wie etwa jenen der Osteuropäischen Geschichte oder der Wirtschafts- und Sozialgeschichte betrieben. Das reichte dann natürlich über Österreich hinaus. (So entstand meine Dissertation, die den kommunistischen Widerstand in der »Ostmark« und im »Protektorat Böhmen und Mähren« verglich, an der Osteuropäischen Geschichte mit dem Nebenfach Wirtschaftsgeschichte und dem Prüfungsstoff »Industry and Empire« von Eric Hobsbawm, für jene Zeit ein außergewöhnliches Studienprogramm. Doch auch der Klagenfurter Zeithistoriker Willibald Ingo Holzer durchlief einen parallelen Bildungsweg.) Aber insgesamt dominierten innerhalb der »Zeitgeschichte« die Republikgeschichte (jene der Ersten, noch nicht die der Zweiten) und jene des Widerstands und des Exils. 1918 bis 1945, das waren die Eckpunkte, Österreich (oder Österreicher und Österreicherinnen) der Gegenstand der Forschung. Erstaunlich ist vor allem, wie sehr der Monolith Auschwitz für Jahrzehnte den Blick auf den Ersten Weltkrieg verstellte, ein Krieg, dessen Aufarbeitung vorerst vollständig der Militärgeschichte überlassen wurde. Und die späte Monarchie hatten andere wissenschaftliche Fachdisziplinen (Kunstgeschichte, Musikwissenschaft oder Germanistik) viel deutlicher im Fokus als die Zeithistoriker, die nur entlang der Ideen- und Organisationsgeschichte der politischen Lager die Spur zurück ins späte 19. Jahrhundert fanden. Der Zeitraum 1918 bis 1945 war (und ist) politisch von hoher Brisanz. Da gab es heiße Konflikte, die in der politischen Gegenwart noch immer zumindest für verbale Auseinandersetzungen sorgten. Der Juli 1927, der Februar 1934, der Juli 1934 und der März 1938 eröffneten Fragestellungen, die meist schon durch das erkenntnisleitende Interesse eine Antwortrichtung intendierten. Daher verwundert es auch nicht, dass Zeitgeschichte öffentlich als politiknahe wahrgenommen wurde. Und es ist auch nicht erstaunlich, dass sie, allein durch die angedeuteten Fragestellungen, als links galt, hatte die Linke doch bei den Konfliktfeldern vor 1938 jene Position, die nach 1945 deutlich leichter zu rechtfertigen war. Warum aber nahm gerade Linz im Fach Zeitgeschichte eine Sonderstellung ein  ? Vorerst  : Es gab wenig Konkurrenz. Graz und Innsbruck hatten noch keine entsprechenden Lehrkanzeln. Klagenfurt war als Universität erst in der Planungsphase, und Salzburgs kirchliche Zeitgeschichte hatte eine Sonderposition. Verglichen mit Wien hatte Linz aber ein paar leicht zu benennende Vorzüge  : • Das Institut in Linz wurde von Karl R. Stadler aufgebaut, der 1968 immerhin schon 55 Jahre alt war, der aber durch die »Ehrenjahre«, die der Opfergeneration des Nationalsozialismus zugestanden wurden und die an die Emeritierung anschlossen, gut anderthalb Jahrzehnte kontinuierlich und gezielt Aufbauarbeit leisten konnte.

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• Stadler brachte aus England das Prinzip der flachen Hierarchien mit. Das Assistentenbzw. Assistentinnenschicksal, das andere Universitäten kannten, das Zuarbeiten, das Tragen der Tasche, das Löschen der Tafel, all das gab es in Linz nicht. Jedes Mitglied des Instituts war vom ersten Tag an eigenverantwortlich für Forschung und Lehre. • Mit dem Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, das Karl R. Stadler in Personalunion leitete und dem alle übrigen Institutsmitglieder verbunden waren, gab es sehr gut etablierte Publikationsmöglichkeiten in drei Buchreihen und jährlichen Neuerscheinungen, die insgesamt über die Jahre die Zahl 100 überschritten. • Da Neuere und Zeitgeschichte »nur« ein Wahlfach an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät waren, war die Lehrbelastung gering. Es gab keine Historiker bzw. Historikerinnen auszubilden, sondern die Lehre konnte spannende Aspekte aufgreifen, ohne auf Erfordernisse eines Curriculums Rücksicht nehmen zu müssen. Dazu war die Institutsausstattung sehr gut (z. B. zwei Sekretariatsstellen) und durch das LBI waren etwa Anschaffungen leichter als bei anderen vergleichbaren Instituten. • Da Karl R. Stadler in der Sozialdemokratie eng vernetzt war, wurde ihm auch die Gründung und Leitung des Renner-Instituts übertragen, ebenso die Präsidentschaft im Verband der österreichischen Volkshochschulen. Damit gab es breite Vortragsmöglichkeiten und nationale und internationale Kontakte für alle Personen am Institut. • Geschichte der Arbeiterbewegung erfuhr in jenen Jahren eine ganz spezielle Förderung und in Linz auch eine institutionelle Verankerung. Dazu aber später noch ausführlicher. • Linz musste wenig auf akademische Tradition achten. Neben Stadler war auch Kurt W. Rothschild aus der Emigration nach drei Jahrzehnten zurückgekehrt. Er setzte als Rektor etwa das Talarverbot durch (das später in peinlicher Form überwunden wurde), reduzierte akademische Feiern und formte an seinem Institut für Volkswirtschaftslehre die intellektuellen Partner zur Zeitgeschichte, darunter Ewald Nowotny. • Die Campusuniversität Linz und die mit ihr verbundenen Wohnformen (praktisch alle wohnten im Umkreis von wenigen Gehminuten) verdichteten die Kommunikation, das damals in Linz weitgehend fehlende kulturelle Alternativangebot ließ der fachlichen Kommunikation ebenfalls einen hohen Stellenwert zukommen. All das hat sich natürlich längst verändert. Linz bot also die Vorzüge eines »Biotops«, in dem in den 1970er-Jahren manches schneller wachsen konnte als an der Massenuniversität der Hauptstadt. Aber vor

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a­ llem bot sich Linz für österreichische Zeitgeschichte geradezu an. Denn einerseits hatte es eine erkennbare und nicht geleugnete Prägung durch den Nationalsozialismus erfahren (unlängst im europäischen Kulturhauptstadtjahr durchaus kontroversiell aufgearbeitet in der Großausstellung »Kulturhauptstadt des Führers«). Anderseits hatte die Arbeiterbewegung hier zentrale Erinnerungsorte, vom »Linzer Programm« bis zum Hotel Schiff im Februar 1934. Und Linz war die wichtigste österreichische Industriestadt, geprägt vom Rauch der VOEST und vom Geruch der Chemie Linz. Hier wäre ein »österreichisches Ruhrgebiet« zu verorten gewesen.

Geschichte der Arbeiterbewegung als Motor Es waren die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre, in denen sich ganz spezielle Rahmenbedingungen für das Fachgebiet »Geschichte der Arbeiterbewegung« herausbildeten. Und Linz sollte dabei eine zentrale Rolle zufallen. Da sind vorerst die politischen Voraussetzungen zu nennen. Die SPÖ, von 1966 bis 1970 in Opposition, gab sich mit Bruno Kreisky einen Vorsitzenden, dem es einerseits gelang, große Teile der aufmüpfigen akademischen Jugend für sein Modernisierungsprogramm an die Sozialdemokratie zu binden, der anderseits aber lebensgeschichtlich durch den Februar 1934, den Ständestaat und den März 1938 geprägt war. Sein historisches Interesse, das er auch zum Abkanzeln unliebsamer Reporterfragen (»Lernen Sie Geschichte, junger Mann  !«) nutzte, führte zu einer Förderung des Fachs. Verstärkt wurde dies durch Hertha Firnberg, die 1970 das neu gegründete Wissenschaftsministerium übernahm und die selbst aus der Sozialgeschichtsforschung kam. Mit Christian Broda (Justiz und Zeitgeschichte) war ein weiterer Minister nachhaltiger Förderer des Fachs. Neben der parteipolitischen Landschaft ist der gesellschaftliche Umbruch jener Jahre zu nennen. Der weltweite studentische Protest und die Verschiebung der Werteund Normensysteme ließen eine jüngere Generation nicht nur die Fragen im Generationskonflikt stellen (Was hast du gemacht  ? Wo warst du  ? Warum hast du dich nicht gewehrt  ? etc.), sondern nach den anderen Biografien suchen, was zur Widerstandsforschung und damit, da der linksgerichtete Widerstand schon rein quantitativ dominant war, zur Geschichte der Arbeiterbewegung führte. Und Linz war in jenen Jahren entschlossen, ein sichtbarer Universitätsstandort mit mehreren Fakultäten zu werden. So war die Stadt ein großzügiger Förderer. Aufbauzulagen für die Gründergeneration, was später scharf kritisiert wurde, Häuser für die Gründungsprofessoren und -professorinnen, Hochschulfondswohnungen für jene, die damals als Assistentinnen, Assistenten oder in sonstiger Funktion nach Linz zo-

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gen. So wurde auch die ITH, damals »Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung« genannt, die 1964 gegründet worden war, wenige Jahre später nach Linz geholt, wo sie, gefördert durch die Stadt und durch die Arbeiterkammer, am Jägermayrhof bis heute ihre Heimstätte fand. Der Jägermayrhof war eine der Kampfschauplätze im Februar 1934, daher symbolisch hoch aufgeladen. Die ITH hatte weit über die Geschichtswissenschaft hinaus eine Sonderstellung in der europäischen Wissenschaftslandschaft, wobei ihre Bedeutung weniger in fachspezifischen Großtaten als vielmehr in der wissenschaftspolitischen Bedeutung gelegen ist. Das neutrale Österreich bot sich als Standort für Begegnungen zwischen West und Ost an, das Feld »Geschichte der Arbeiterbewegung« hatte im Osten die höchsten politischen Absegnungen, im Westen Spitzeninstitute (Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, Archiv für Sozialgeschichte, Amsterdam, Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Linz u.a.) und Spitzenforscher (Eric Hobsbawm, Felix Kreissler u.a.) aufzuweisen. So war ein Terrain definiert, auf dem Begegnungen stattfinden konnten, besonders zwischen der BRD und der DDR, aber durchaus auch zwischen Israelis und Arabern und ansatzweise auch zwischen Konfliktparteien im Fernen Osten. Linz bot ein window of opportunity, genau, wenn auch völlig naiv, staatspolizeilich überwacht (wie mein Staatspolizeiakt bis zur Lächerlichkeit bestätigt). Für das Institut an der Universität brachte die ITH entscheidende Netzwerke  : nach England, nach Frankreich, nach Japan, in die USA und natürlich in die Staaten Ost- und Südosteuropas. Und es brachte die Chance, noch viele Zeitzeugen und Zeitzeuginnen hautnah zu sehen und zu hören  : Da wurden die Konflikte innerhalb der Linken im Spanischen Bürgerkrieg nochmals emotional nachvollzogen, da traten Exilpositionen mit ihren Vertretern ans Pult und da ging es schon zwischen den unterschiedlichen Hütern von Reliquienschreinen des Marxismus ganz heftig zur Sache. Bernstein oder der Revisionismusdiskurs waren da nicht nur historische Untersuchungsgegenstände, sondern aktuelle Konfliktfelder. Dieses Milieu befruchtete das Linzer Hochschulinstitut, zumal hier die Protokolle der Konferenzen bearbeitet und für die Veröffentlichung vorbereitet wurden. Und in gewisser Weise setzten sich die Diskussionen auch innerhalb des Instituts fort, das ja in der Belegschaft auch die gesamte Bandbreite der österreichischen Linken spiegelte. Noch wichtiger für die entscheidende Rolle, die das Linzer Institut in der österreichischen Zeitgeschichtslandschaft spielte, war allerdings das Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, das Karl R. Stadler leitete und das allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bzw. natürlich vielen anderen praktisch uneingeschränkt Publikationsmöglichkeiten bot. Als Höhepunkt kann der 1978 erschienene und von Gerhard Botz, Hans Hautmann, Helmut Konrad und Josef Weidenholzer

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edierte Band »Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte« gelten. Auf über 800 Seiten vereinte der Band die meisten der damals handelnden Personen. Hertha Firnberg und Karl Stadler leiteten ein, und anschließend meldeten sich alle Generationen zu Wort  : aus der »Vätergeneration« etwa Herbert Steiner und Rudolf Neck, von den »Söhnen« und »Töchern« neben den Herausgebern Ernst Hanisch, Rudolf Ardelt, Willibald I. Holzer, Reinhard Kannonier, Helene Maimann, Edith Saurer, John Bunzl und viele andere. Das Institut hatte sich nach Salzburg ausgeweitet (wo später mit Ardelt und Ingrid Bauer eine Zweigstelle errichtet wurde) und hatte in Klagenfurt und in Wien die jüngere Generation angesprochen. Diese »Hoch- und Blütezeit« des Fachs wurde symbolisch zu Karl R. Stadlers 70. Geburtstag und der Festschrift »Geschichte als demokratischer Auftrag« abgeschlossen, in dem das genannte Team letztmals eine von allen getragene Publikation vorlegte und damit auch anderthalb Jahrzehnte Wissenschaftsgeschichte dokumentierte. Der Band (dem ein Jahrzehnt zuvor eine traditionelle Festschrift zu Karl R. Stadlers 60. Geburtstag kontrastierend gegenübersteht, die noch voll den »alten« Festschriften – bekannte Kolleginnen und Kollegen liefern Ladenhüter ab – entsprach) unternahm den Versuch, fachlich und wissenschaftspolitisch Wegmarken einzuschlagen, ein Fach in seiner Eigenständigkeit zu definieren, es gleichzeitig aber auch in den Geistes- und (vor allem) den Sozialwissenschaften zu verorten und die gesellschaftspolitischen Verpflichtungen und Begrenzungen zu definieren. Das kann wohl als Weichenstellung gelten, denn die notwendigen inhaltlichen und organisatorischen Änderungen zeichneten sich schon ganz deutlich ab. Gerhard Botz war 1983 schon drei Jahre Ordinarius an der Universität Salzburg. Ich selbst war seit drei Jahren habilitiert, hatte zwei Semester in Innsbruck einen Lehrstuhl vertreten und verhandelte meinen Ruf nach Graz. Und Karl Stadler stand, nach den Ehrenjahren, die ihm als Emigranten zustanden, vor der Emeritierung. Es war eine Situation des Umbruchs, von außen begleitet durch neue Fragestellungen im Fach, die vom Konstruktivismus ausgelöst worden waren und die die »großen Erzählungen«, denen die Stadler-Schule verpflichtet war, infrage zu stellen begannen, Jahre vor den sogenannten politischen »Wenden«.

Die Durchsetzung des Fachs und seine erste Krise Die institutionelle Etablierung in ihrer flächendeckenden Form erfuhr die Zeitgeschichte in Österreich praktisch zeitgleich mit ihrer ersten Identitätskrise. Um die Mitte der 1980er-Jahre waren alle Zeitgeschichte-Lehrstühle in Österreich besetzt  : Erika Weinzierl in Wien, Gerhard Botz in Salzburg, Rudolf Ardelt in Linz,

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Helmut Konrad in Graz, Rolf Steininger in Innsbruck und Norbert Schausberger in Klagenfurt. So politisch homogen sich das Bild auch darstellt, so war es dies weder administrativ noch inhaltlich. Wien hatte ein eigenständiges Institut und einen klar erkennbaren Schwerpunkt in der Geschichte des Nationalsozialismus. Eigenständige Institute gab es auch in Linz (zwangsläufig, da ein historisches Institut fehlte), in Innsbruck und in Klagenfurt. Linz war inhaltlich Vorläufer neuer Zugänge (Gender, Psychologie etc.), Klagenfurt hatte ein stark didaktisches Konzept und Innsbruck eine (west-)europäische Perspektive. In Salzburg war der Lehrstuhl in das Institut für Geschichte integriert, und Gerhard Botz gab ihm sein Profil mit den Themen Gewalt und Nationalsozialismusforschung, dazu war aber auch ganz stark die methodische Interessenlage (in den inzwischen legendären »Quant«- und »Qual«-Kursen) ausgeprägt. Graz war als Abteilung im Rahmen des Instituts für Geschichte organisiert und musste sich inhaltlich breit aufstellen. Erika Weinzierl war die integrative Figur, aber Gerhard Botz gab die Schlagzahl vor. Er machte das Fach zum Frontrunner im methodischen Bereich, und gleichzeitig band er die österreichische Nationalsozialismusforschung in den internationalen Diskurs ein. Und er setzte dies als Nachfolger von Erika Weinzierl am Wiener Lehrstuhl konsequent fort. Überall war die Zeitgeschichte personell gut ausgestattet. Gleichaltrige, die (zumindest vorläufig) bei der Lehrstuhlvergabe nicht zum Zug gekommen waren, aber auch die nächste Generation setzten bemerkenswerte fachliche Akzente. Hier wären gut zwei Dutzend Namen zu nennen, die von damals bis heute das Fach mitgestaltet und verändert haben. An der Position eines Fachs »Zeitgeschichte« gab es daher innerhalb der Universitäten nichts mehr zu rütteln. Zweifel an der Notwendigkeit waren ausgeräumt, und der massenhafte studentische Zulauf legitimierte das Wachstum des Faches, dessen Lehrkanzeln zur Hälfte von den sogenannten »Stadler-Boys« besetzt waren und dessen prägende Inhalte ebenfalls gutteils einen Linzer Ursprung hatten. Allerdings hatte die österreichische Zeitgeschichte ihre Fragestellungen und ihre Themenfelder bis in die Mitte der 1980er-Jahre praktisch vollständig in »große historische Erzählungen« eingebettet. Der Geschichte der Arbeiterbewegung war der teleologische Anspruch ohnehin immanent, aber auch die anderen Untersuchungsgegenstände waren sorgsam den Modernisierungstheorien verbunden und gesellschaftsgeschichtlich der letztendlichen Dominanz von ökonomisch-sozialen Rahmenbedingungen verpflichtet. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, wurde als gegeben vorausgesetzt. So trafen das Fach die sogenannten turns der Geistes- und Kulturwissenschaften heftig und erschütterten das inhaltliche Selbstverständnis schwer. Dazu kam die tiefe Identitätskrise des Fachs »Geschichte der Arbeiterbewegung« Ende der 1980er-Jahre, die durch die Implosion des Sowjetimperiums ausgelöst wurde. Damit war die Linzer

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Drehscheibenfunktion hinfällig, Geschichte der Arbeiterbewegung hatte aber darüber hinaus den Charme des nicht ganz angepassten jugendlichen Forschungsfeldes eingebüßt und sah ganz plötzlich alt und grau aus. Die »große Erzählung« schien nicht mehr zu funktionieren. Der cultural turn bot sich als Rettungsanker an. In der neuen Kulturgeschichte konnte Platz gefunden werden, der Anspruch der Fortschrittlichkeit konnte aufrecht­ erhalten werden. Und die alten Kleider streifte man ab. Aus dem Ludwig Boltzmann-­ Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung wurde ein Ludwig Boltzmann-­Institut für Gesellschafts- und Kulturgeschichte, wobei der neue Name immerhin noch einen klar erkennbaren gesellschafts(-politischen) Anspruch erhob, um nicht ganz im »Überbau« zu verschwinden. Gerhard Botz, der sich auch in Linz die größte Eigenständigkeit in seiner Themenwahl bewahrt hatte, konnte sich vom turn weitgehend fernhalten. Seine Themen, die methodische Schärfung des Fachs und die internationale Vernetzung der Nationalsozialismusforschung, konnten unbeirrt auf Kurs bleiben. Andere, darunter Reinhard Kannonier und ich selbst, bündelten ihre kulturbezogenen Interessen nunmehr in neuen Forschungsgegenständen, etwa in den Arbeiten zu »urbanen Leitkulturen«, die später in den Spezialforschungsbereich »Moderne« mündeten, der über ein Jahrzehnt lang die Geisteswissenschaften an der Universität Graz prägte. Trotz dieser inhaltlichen Bruchlinie hatte das Fach keine akademischen Legitimationsprobleme. Im Gegenteil, es wurde erneut Trendsetter in Fragen der Gender History und in jenen Bereichen, die in den neuen Kulturwissenschaften den ästhetischen Annäherungen jener Wissenschaftsbereiche, die der Kunst unmittelbar verpflichtet sind (Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Musikwissenschaften), einen sozialen und ökonomischen Bereich und eine gesellschaftliche Wirkungsgeschichte gegenüberstellten. Der cultural turn war also nicht nur eine Erschütterung des Fachs, sondern auch ein fruchtbarer Neustart. Dabei ist es bemerkenswert, dass der turn eigentlich kein Generationenkonflikt war und die Neuorientierung im Wesentlichen mit konstanten handelnden Personen erfolgen konnte. Die wirklich harte Kritik (vielleicht mit Ausnahme der zu harten Auseinandersetzung um das opus magnum von Ernst Hanisch), die in anderen Ländern den turn begleitete und zu wissenschaftlichen Verwerfungen führte, blieb in Österreich weitgehend aus.

Der Marsch durch die Institutionen Die starke Prägung durch Linz und durch Karl R. Stadler hatte aber auch noch einen anderen Effekt, der die Wissenschaftslandschaft nachhaltig mitformen sollte. Der an-

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gelsächsische Umgang mit Hierarchien hatte die Gesprächsbasis zu den unterschiedlichen Gruppen an den Universitäten (»Kurien« im klassischen Verständnis) um vieles leichter gemacht und das Standesbewusstsein reduziert. Gepaart mit dem wachen Interesse für gesellschaftliche Prozesse und mit dem Willen, Neues zu versuchen, war das kleine Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte eine Brutstätte für akademische und politische Gestalter. Die gute Hälfte des Linzer Stammpersonals mischte sich administrativ-gestaltend in den verschiedensten Institutionen ein. Reinhard Kannonier wurde Musikdirektor des Linzer Brucknerhauses und dann Langzeitrektor an der Kunstuniversität Linz, ich selbst Dekan und später Rektor an der Universität Graz, Rudolf Ardelt Rektor in Linz und Josef Weidenholzer Präsident der Volkshilfe und schließlich Europaabgeordneter. Rechnet man noch die Bedeutung dazu, die Gabriella Hauch in Fragen der Geschlechterforschung erlangte, oder die Medienpräsenz von Helene Maimann und Raimund Löw, so ergibt das eine Konzentration an Mitgestaltung und Meinungsbildung, die keinen Vergleich zu scheuen braucht, sondern unzweifelhaft ein Unikat im österreichischen Universitätsbetrieb darstellt. Die theoretische Rechtfertigung des »langen Marsches durch die Institutionen« ist da wohl nur augenzwinkernd anzuwenden, und es ist auch völlig klar, dass die Institutionen die jeweils betroffenen Akteure stärker verändert haben, als sie durch die Individuen letztlich weiterentwickelt oder geprägt wurden. Dennoch, ein gewisser Grad an Veränderung ist dadurch in der österreichischen akademischen Welt erreicht worden. Dieser Prozess ist auch der Zeit zuzurechnen, aber die handelnden Personen waren dafür ganz sicher nicht unwesentliche Fermente. Der akademisch-administrative Bereich forderte von den Beteiligten auch einen Preis. Es galt, temporär oder endgültig, von einer aktiven Mitwirkung im Fach Abschied zu nehmen und zu erkennen, dass wissenschaftliche Arbeit in einem dynamischen Fach mit hohem methodischem und theoretischem Anspruch keine Nebenbeschäftigung sein kann. Der Weg zurück von der Administration ins Fach, wie ich ihn nach einem guten Jahrzehnt zu gehen versuchte, ist ein harter. Gerhard Botz hatte diese Sorgen nicht. Ihm kam keine Verlockung durch gesamtuniversitäre Leitungspositionen in die Quere. Dazu war und ist sein Tempera­ ment auch wenig geeignet. Noch immer kann er aufbrausen, seinem Ärger Luft machen, und noch immer ist er kein Mann des Kompromisses. Er hält Kurs, charakterlich und fachlich. Die hohe Fokussierung in seinen Fragestellungen auf die genaue quantitative und qualitative Erfassung der Phänomene des Nationalsozialismus, sein Verständnis vom 20. Jahrhundert als einem Jahrhundert der Gewalt und sein demokratischer Anspruch, dass nur eine genaue Kenntnis der Mechanismen von Unmenschlichkeit eine Gesellschaft zumindest teilweise wachsam gegen neue Formen von Gewalt und Ausgrenzung immunisieren kann, hat bei ihm zu einem

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stringenten Forscherprofil geführt. Hierin unterscheidet er sich von den anderen handelnden Personen, deren Interessen und Forschungsfelder sehr viel breiter aufsetzen und die daher auch partiell das Fach verlassen konnten. Aber gerade diese Stringenz machte und macht Gerhard Botz zur herausragenden Figur in der österreichischen Zeitgeschichtelandschaft, durchaus auch als Reibebaum für die anderen. Und in konsequenter Fortführung seiner Ansätze wurde auch seine Nachfolge an der Universität Wien einschlägig ausgeschrieben und besetzt. Es ist ein historischer Zufall, dass am Ende der universitären Laufbahn Gerhard Botz erstmals den Versuch unternommen hat, ein Gemeinschaftsprojekt auf die Beine zu stellen, das in einem Forschungsverbund sein Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaften mit den drei anderen Boltzmann Instituten, die sich mit Zeitgeschichte beschäftigen (geleitet von Siegfried Mattl, Stefan Karner und Helmut Konrad), zusammenführen und weitere Partnerinstitutionen einbinden hätte sollen. Es war den »Räumen der Gewalt« gewidmet und sollte auf mehrere Jahre ein Netzwerk zu den zentralen Fragen unserer Geschichte im 20. Jahrhundert bündeln. In der Zwischenzeit ist das Projekt an den Hürden gescheitert, die vor den Geisteswissenschaften derzeit in der österreichischen Großprojektförderlandschaft errichtet werden. Aber die intensiven Diskussionen haben dennoch zweierlei gezeigt  : einerseits die zentrale Bedeutung der Forschungsfelder von Gerhard Botz und anderseits, was angesichts des bisher Ausgeführten doch eher verblüfft, seine Fähigkeit, größere Gruppen mit teils kontroversiellen Positionen zu leiten und auch anzuleiten. Umso stärker ist das Scheitern dieser Zusammenführung, welche auch ein Auffrischen alter Diskussionen und ein Anknüpfen an die 1970er-Jahre bedeutet hätte, zu bedauern. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Von Linz aus. Die Formierung der österreichischen Zeitgeschichte, in  : ­Heinrich Berger u.a. (Hg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien/Köln/Weimar 2011, 47–57 (Böhlau Verlag).

Deutsch-Österreich Gebremste Klassenbildung und importierte Arbeiterbewegung im Vielvölkerstaat (1983)

Die Monarchie der Habsburger blieb, selbst wenn man nur die spätere österreichische Reichshälfte betrachtet, im 19. Jahrhundert im Prozeß der Industrialisierung deutlich hinter Westeuropa zurück. Wenn auch das Bild der »Schnecke unter den Windhund­ nationen«1 nur sehr differenziert aufrechterhalten werden kann, lassen sich doch einige Fakten nennen, die das langsamere Tempo des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in Österreich zeigen. So waren noch 1910 53 % der Bewohner der österreichischen Reichshälfte in der Landwirtschaft tätig, im Deutschen Reich hingegen nur mehr 35 %.2 Das Wachstumstempo der Zahl der in der Industrie Beschäftigten war in Cisleithanien um mehr als ein Drittel langsamer als im Deutschen Reich. 1869 kamen in der österreichischen Reichshälfte auf einen Selbständigen in Industrie und Gewerbe nur 4,44 Arbeiter, im Handel betrug das Verhältnis sogar nur 1 zu 1,29.3 Der Kleinbetrieb war also eindeutig dominant. Auffallend sind in Cisleithanien vor allem die großen regionalen Unterschiede  : Böhmen, Mähren, Niederösterreich und Teile der Steiermark hielten das westeuropäische Industrialisierungstempo, Tirol, Salzburg, Kärnten, Krain, Galizien, die Bukowina und teilweise Oberösterreich blieben im wesentlichen bis zum Ersten Weltkrieg vorindustriell, mit nur punktuellen, isolierten Industrieenklaven. Obwohl der Industrialisierungsprozeß in Österreich in der 2. Jahrhunderthälfte nur von geringen Brüchen und Sprüngen gekennzeichnet ist, kam den Jahren von 1867 bis 1873, dem Höhepunkt der sogenannten »Gründerzeit« nach der politischen Machtübernahme des österreichischen Liberalismus, besondere Bedeutung zu, da in diesen Jahren eine raschere Entfaltung der Industrie auch von beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen begleitet war. 1

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Richard L. Rudolph, Quantitative Aspekte der Industrialisierung in Cisleithanien 1848–1914, in  : Alois Brusatti (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1  : Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, 233. Nachum Th. Gross, Die Stellung der Habsburgermonarchie in der Weltwirtschaft, in  : Alois Brusatti (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1  : Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, 10. Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Wirtschafts- und Sozialstatistik Österreich-Ungarns. 1  : Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750–1918 (= Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1), Wien 1978, Tabellen, 3.

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Der im Verhältnis zu Westeuropa späten Herausbildung einer Arbeiterklasse entsprach in Österreich eine eigenartige, widersprüchliche Entwicklung von politischen Organisationsformen und gewerkschaftlichem Bewußtsein. Es wird zu zeigen sein, daß manche dieser Besonderheiten aus der österreichischen Situation allein nicht erklärt werden können, sondern daß exogene Faktoren mitberücksichtigt werden müssen. Die österreichische Arbeiterklasse war im 19. Jahrhundert, der langsamen und nur punktuell vollzogenen Industrialisierung entsprechend, äußerst inhomogen und von Widersprüchen im sozialen und politischen Verhalten gekennzeichnet. Diese großen branchenspezifischen und regionalen Unterschiede sind ein deutliches Kennzeichen eines noch kaum entwickelten Kapitalismus für eine Phase, in der noch keine Vereinheitlichung der Märkte, darunter des Arbeitsmarktes, stattgefunden hat. Zudem bildeten sich die wichtigsten Industriebetriebe des 19. Jahrhunderts nicht im großstädtischen Bereich. So hatte es in Wien zwar an der Wende zum 19. Jahrhundert eine ausgedehnte Hausindustrie, vor allem in der Seidenverarbeitung, gegeben, an die aber keine Fabrikproduktion anschloß, »da mit zunehmender Mechanisierung die Seidenverarbeitung in die mährischen Billiglohngebiete abwanderte«.4 In Wien blieb das Kleingewerbe dominant, das »die sozialen Charakteristika des alten Handwerks, den Ledigenstand der Gesellen und das Wohnen beim Meister beibehielt. Dies wurde durch die besondere Rekrutierung der kleingewerblichen Arbeiter unterstützt, die meist als einzelne Jugendliche aus Böhmen und Mähren einwanderten […] Noch 1880 lebten von den unselbständig in Wien Beschäftigten nur 45 % in einem eigenen Haushalt, jedoch 25 % beim Arbeitgeber und 30 % als Untermieter oder Bettgeher«.5 Großbetriebe siedelten sich in Böhmen, hier vornehmlich in den Sudetengebieten, in Mähren, in der Wiener Neustädter Bucht und in der steirischen Mur-Mürz-Furche an. Praktisch alle anderen österreichischen Großfabriken blieben Industrieenklaven in einem überwiegend agrarischen Umfeld, die einen Teil ihrer Arbeiter aus eben diesem ländlichen Umfeld rekrutierten. Der großen sozialen Umwälzung in der Landbevölkerung, dem explosiven Anwachsen ländlicher Unterschichten, stand aber ein nur langsames Wachstum der Industrie gegenüber, was die soziale Frage in weiten Teilen Österreichs noch um 1880 als eine Frage der subproletarischen Schichten erscheinen ließ. 4

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Josef Ehmer, Vaterlandslose Gesellen und respektable Familienväter. Entwicklungsformen der Arbeiterfamilie im internationalen Vergleich, 1850–1930, in  : Helmut Konrad (Hg.), Die deutsche und die österreichische Arbeiterbewegung zur Zeit der Zweiten Internationale. Protokoll des bilateralen Symposiums DDR – Österreich vom 30.9.–3.10. 1981 in Linz (= Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung. Materialien zur Arbeiterbewegung 24), Wien 1982, 119. Ebd., 119 f.

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Die Armenhäuser platzten aus allen Nähten, ein Gründungsboom dieser »Fürsorgeeinrichtungen«, meist mit Spenden des Kaiserhauses, konnte das Problem nicht annähernd lösen. Betteln und Vagabondage waren die Folge, in den Landtagen, den Parlamenten der Kronländer, stand die Landstreicherei als eine »der empfindlichsten Landplagen«6 laufend auf den Tagesordnungen. Verordnungen und Gesetze zur Eindämmung wurden geschaffen. So waren die Arbeiter in diesen isolierten Industriegebieten entweder Arbeiter von auswärts, ledig und mit hoher Mobilität, oder aber Arbeiter aus dem ländlichen Umfeld, die einerseits den Gang in die Fabrik für temporär hielten und die anderseits dem ständigen Lohndruck der Masse der Arbeitslosen ausgesetzt waren. Einzig die Arbeiter in den genannten wenigen geschlossenen Industrieregionen befanden sich nach der Jahrhundertmitte auf dem Stand des Konstituierungsprozesses als Klasse, der der Entwicklung in Westeuropa entsprach.

Unterstützungskassen Die ältesten Formen von Arbeiterorganisationen sind wohl nicht nur in Österreich die Unterstützungskassen. Die üblicherweise aber angenommene Kontinuität dieser zweifellos solidaritätsstiftenden Einrichtungen zu späteren organisierten politischgewerkschaftlichen Artikulationsformen der Arbeiterklasse muß wohl zumindest angezweifelt werden. Nicht zufällig waren es in Österreich praktisch ausschließlich die Buchdrucker, die solche Kassen bildeten, die erste 1803 in Linz.7 Diese Unterstützungskassen waren aber gemeinsam mit den Meistern organisiert, zudem zumeist Zwangskassen, und sie waren damit eigentlich nur eine Art Zunftersatz für die zunftlose »freie Kunst« des Buchdrucks. Nach der Revolution von 1848 entstand zur Eindämmung der Sprengkraft der sozialen Frage eine ganze Reihe von Kassen der verschiedensten Formen unter katholischer Patronanz. Es gelang ihnen, die sich an alle »rechtschaffenden Katholiken aus dem Arbeiterstande« wandten, die »einen sittlichen Lebenswandel führen und 6

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Oberösterreichisches Landesarchiv, Berichte über die Verhandlungen des oberösterreichischen Landtages nach den stenographischen Aufzeichnungen. II. Landtags-Periode, Dritte Session vom 15. September bis 3. November 1869, 519 (Rede Dr. Schlager). Alle klassischen Werke zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung datieren die Gründung dieser ersten österreichischen Unterstützungskasse irrtümlich mit dem Jahr 1824. Vgl. Fritz Klenner, Die österreichischen Gewerkschaften. Vergangenheit und Gegenwartsprobleme, Bd. 1  : Von den Anfängen bis 1928, Wien 1951, 32.

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keine Leidenschaften haben«,7a innerhalb der zwei Jahrzehnte bis zum Vereinsgesetz etwa 1 % der Gesamtbevölkerung zu organisieren. Fritz Klenners Annahme, daß die 220.000 Arbeiter, die 1869 in solchen Kassen organisiert waren, 55 % der Industriearbeiter Österreichs bildeten,8 ist wohl nur auf eine Unkenntnis des Charakters dieser Vereine und der sozialen Zusammensetzung ihrer Mitglieder zurückzuführen. Über die Art der Vereine gibt eine Statistik der Staatspolizei aus dem Jahr 1855 Aufschluß. Die zum Beispiel in Oberösterreich gebildeten 79 Kassen und Vereine mit sozialem Anspruch gliederten sich in 15 religiöse, kulturelle oder gesellige Vereine, 30 Wohltätigkeits- und Humanitätsvereine, 19 Versorgungs- und Rentenanstalten, Pensionsinstitute oder wechselseitige Unterstützungsvereine sowie 15 Leichenvereine.9 Allerdings zählten zur erstgenannten Kategorie auch der Linzer Dombauverein, zur zweiten ein Verein gegen Tierquälerei, so daß sich echte Arbeitervereine und Kassen eher nur in der dritten und vierten Kategorie fanden. Während sich hier jedoch die Unterstützungskassen über das ganze Land verteilten, traten in den wenigen Indus­ triezentren massiert die Leichenvereine auf. Allein 11 der 15 Leichenvereine bestanden im Zentrum der Eisenverarbeitung, in Steyr. Wohl nur in Ausnahmefällen wird man daher annehmen können, daß diesen Kassen und Vereinen eine politische Funktion zukam, die über das Lernen solidarischer Verhaltensformen hinausging. In den eingezahlten Beiträgen etwa gar indirekt Streikfonds zu sehen, verzerrt sicher das Bild. Als 1869 der Versuch gemacht wurde, in Linz unter der Patronanz des Arbeiterbildungsvereins ein über einzelne Betriebe hinausgehendes System der sozialen Sicherung zu schaffen, in das die bestehenden Kassen eingebunden werden sollten, waren es gerade die politisch fortgeschrittensten Mitglieder des Arbeiterbildungsvereins, die sich dagegen sträubten, da sie in den Kassen Horte liberaler Selbsthilfetraditionen sahen und die politische Arbeit nicht durch diese »unpolitischen« Kassen behindert sehen wollten. Und als 1876 von den bestehenden Kassen selbst der Versuch unternommen wurde, einen »Allgemeinen Arbeiter-Invaliden- und Pensionsverein«10 ins Leben zu rufen, wurden zwar die Statuten genehmigt (die noch immer vorsahen, einen Teil der Mittel durch reiche Gönner aufzubringen), die Arbeiter selbst akzep  7a Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei-Präsidium, Vereinsakten, Fasc. 6 D 1, Karton 160, Statuten des katholischen Arbeiter-Hülfsvereines unter dem Schutze des hl. Josef.   8 Klenner, Gewerkschaften, 34.   9 Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei-Präsidium, Vereinsakten, Fasc. 6 D 1, Karton 158, staatspolizeiliche Notizen zu den im Erzherzogtum Österreich ob der Enns bestehenden Privatvereinen. 10 Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei-Präsidium, Vereinsakten, Fasc. 6 D, Karton 173, Statuten des Vereins, eingereicht am 12. Oktober 1876.

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tierten diese betriebsübergreifende Kasse jedoch nicht. Ein Jahr nach der Gründung zählte man erst 24 Mitglieder (bei etwa 80.000 Arbeitern in Oberösterreich). Da auch die lokalen Förderer ausblieben, wandte man sich an den Kaiser um eine finanzielle Zuwendung. Die Statthalterei befürwortete das Gesuch wärmstens, denn sie konnte dem Monarchen mit gutem Grund versichern, daß der Verein »sozialdemokratischen Tendenzen fern«11 stehe. Erst 1878 entstand ein gesamtösterreichischer Verband der Arbeiterkassen, allerdings ohne jeden Zusammenhang mit der um diese Zeit in argen Nöten steckenden sozialdemokratischen Organisation.

Streiks und Gewerkschaften Nur im Bergbau mit seiner weit zurückreichenden Geschichte gab es schon einige Jahrzehnte vor der Erkämpfung des Koalitionsrechtes im Jahr 1870 nennenswerte Streikbewegungen, allerdings ohne überregionale Zusammenhänge, obwohl gerade in den Bergbaugebieten mit geringer Tradition meist zugewanderte Arbeitskräfte ohne Familienbindung zu den Kristallisationspunkten von Protestbewegungen wurden. So ergab eine Analyse der Mannschaftsbücher im Kohlenrevier des Hausrucks in Oberösterreich,12 daß in den Jahren 1847 bis 1868 mehr als die Hälfte der Belegschaft aus Böhmen zugewandert war, von der wiederum etwa die Hälfte tschechischer Muttersprache gewesen sein dürfte, soweit von Herkunftsorten und Vornamen Rückschlüsse auf die nationale Zugehörigkeit gemacht werden können. In den Mannschaftsbüchern sind bei den etwa 600 Namen in der Rubrik »Anmerkungen«, die normalerweise Aussagen wie »träge«, »liederlich«, »flachbrüstig«, »brutal« etc. enthält, auch politische Hinweise vermerkt. Die deutlichste Bezeichnung, nämlich »Revoltant«, findet sich in 35 Fällen, und alle so bezeichneten Männer waren erst kurzfristig aus Böhmen zugezogen, wobei die tschechischsprachigen überwogen. Im großen Streik von 1852 dominierten aber die einheimischen Arbeiter.13 Die Gründung von Arbeitervereinen seit dem Vereinsgesetz vom Dezember 1867 ließ auch eine Streikbewegung, damals noch außerhalb des gesetzlichen Rahmens, anlaufen. Die erste große Massendemonstration der Arbeiter Wiens vom 13. Dezember 1869 erzwang schließlich die Verabschiedung des Koalitionsgesetzes, das 1870 11 Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei-Präsidium, Armenwesen, Unterstützungswesen, Fasc. 6 H, Karton 264, Ansuchen des Arbeiter-Invaliden- und Pensionsvereines Linz, 6. Dezember 1877. 12 Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981, 370 ff. 13 Ebd., 128 ff.

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in Kraft trat.14 Sofort mit diesem Gesetz begann für 3 Jahre eine Welle von Streiks, die auch Gewerbebetriebe erfaßte und deutlich gegen die kleinen Meister gerichtet war. In der von Gewerbebetrieben geprägten Stadt Linz streikten 1870 und 1871 die Schneider, Schuhmacher, Tischler, Zimmerer und Metallarbeiter um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten.15 Wie sehr die kleinen Meister dabei unter Druck gerieten, zeigt der Leserbrief eines Schneidermeisters in der Tages-Post, der liberalen Tageszeitung von Linz vom 3. April 1870  : »Zum Schneiderstreik […] Doch nur zu. Die Arbeiter sollen nur bei ihren ganz sinnlosen Forderungen bleiben, sie werden sich den Dank der Kleiderfabrikanten in Proßnitz, Wien, Preßburg und Stockerau erwerben, diese werden es ihnen Dank wissen, daß die Arbeitseinstellungen ihnen stets neue Kunden zu- und den Meistern abbringen […].«16

Die Streikwelle von 1870 bis 1873 wurde in Wien und den anderen industriellen Zentren zwar schon überwiegend von den Arbeiterorganisationen initiiert, in den kleineren Städten bildeten sich aber meist erst aus diesen Streikerfahrungen die ersten Organisationen, die vor allem bei geringem Erfolg rasch wieder zerfielen. Die Streikwelle von 1870 und den Folgejahren verlief auffallend zeit- und ortsgleich mit dem österreichischen Höhepunkt von elementaren, klassenunspezifischen Protestbewegungen. Die häufigste Form, die diese Protestbewegung annahm, waren Bierkrawalle, wobei Klassentrennlinien dabei nach beiden Richtungen überschritten wurden. Bedingt durch die große Zahl der Arbeitslosen (in Oberösterreich lag damals die Zahl des arbeitslosen Lumpenproletariats um 100 % über der Gesamtzahl der industriellen Arbeitsplätze),17 stellten diese Armen große Gruppen. Die kleinen Meister, anfänglich oft dabei, wandten sich spätestens zu Beginn der größeren Auseinandersetzungen ab, wenn sie ihre Vorstellung von der Achtung des Privateigentums nicht mehr gewahrt sahen, etwa bei Plünderungen. Auffallend sind aber die fließenden Übergänge zu ersten Klassensolidaritätsaktionen. So mischte sich etwa in Steyr im August 1874 ein Bierkrawall mit einer Aktion gegen die Delogierung einer Arbeiter14 Vgl. Herbert Steiner, Die Arbeiterbewegung Österreichs. 1867–1889. Beiträge zu ihrer Geschichte von der Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereines bis zum Einigungsparteitag in Hainfeld (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 2), Wien 1964, 20–24. 15 Konrad, Entstehen, 286–293. 16 Linzer Tages-Post, 3. April 1870. 17 Konrad, Entstehen, 32 f.

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familie. Die aufgebrachte Menge stürmte das Haus, warf die Möbel des Hauseigentümers auf die Straße und trug das Mobiliar des Arbeiters behutsam in die gute Stube.18 Erst Militäreinsatz beendete die Unruhe. 1874 brach die erste kurze Streikwelle plötzlich ab, und für mehr als ein Jahrzehnt sind aus Österreich keine Arbeitskämpfe mehr zu vermelden. Die Ursache lag in der Wirtschaftskrise, aber auch in der politischen Verunsicherung. Nicht zufällig suchte man daher neue Kampfformen, deren Ausdruck die Schusterkrawalle vom Beginn der achtziger Jahre waren. Streiks von einiger Bedeutung gab es erst wieder ab 1888, allerdings ab diesem Zeitpunkt meist eingebunden in Formen von überregionaler Solidarität. Dies ist umso bemerkenswerter, als in Österreich die zentrale Gewerkschaftskommission erst 1893 geschaffen wurde. Überregionale Aktionen liefen bis zu diesem Zeitpunkt über die Zentralverbände der einzelnen Fachgewerkschaften. Sie waren daher wohl überregional, aber in der Regel nicht branchenübergreifend.

Erste politische Artikulation Während die Herausbildung der Arbeiterklasse in Österreich wesentlich später erfolgte als in Deutschland, verlief die Entwicklung der politischen Organisationen, allerdings nur auf der obersten Ebene, nahezu zeitgleich. Die Gründung der ersten politischen Organisationen lag deutlich vor der Herausbildung von Fachvereinen, also vor der Verankerung eines gewerkschaftlichen Bewußtseins zumindest in einem Teil der Arbeiterklasse. Bereits wenige Monate nach dem Inkrafttreten des Vereinsgesetzes liefen in den österreichischen Arbeiterbildungsvereinen, vor allem in Wien und Böhmen, die Diskussionen, die für die deutschen Arbeiterbewegungen dieser Jahre prägend waren. Mit ganz wenigen Ausnahmen bestand die komplette erste Führungsgarnitur der österreichischen Arbeiterbewegung aus Männern, die aus Deutschland zugewandert waren, und eine starke Orientierung an der deutschen Entwicklung stand schon durch diese personelle Verflechtung außer Frage. Nur war es keine Teilnahme an einem Diskussionsprozeß, was sich in Österreich, besonders in Wien, vollzog, sondern die kritiklose Übernahme des jeweils dominanten Standpunktes, ohne dessen Verwendbarkeit unter den Bedingungen der Habsburgermonarchie zu überlegen. So wurde 1868 der kleinbürgerliche Liberalismus von den Positionen Lassalles verdrängt (trotz dessen preußischen Zentralismus’),19 und 1869 schlossen sich die Österreicher ohne 18 Linzer Tages-Post, 5. September 1874. 19 Siehe etwa  : Ferdinand Lassalle, Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens, in  : Eduard Bern-

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größere Diskussion der Gruppe um Bebel und Liebknecht an. »Der Besuch Liebknechts in Wien und sein Auftreten in der großen Volksversammlung vom 25. Juli 1869 galten der Vorbereitung des Eisenacher Kongresses«.20 In Eisenach »wurde die österreichische Arbeiterbewegung Bestandteil der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Noch hielt man die Trennung Österreichs vom deutschen Bund für eine vorübergehende Erscheinung«.21 Wien wurde sogar zum Sitz der Kontrollkommission der Eisenacher Partei bestimmt, und in den Statuten dieser Partei wurde die Höhe des Mitgliedsbeitrages auch in österreichischen Kronen angegeben.22 Königgrätz war drei Jahre vorbei, und nicht zufällig wurden im großen Hochverratsprozeß von 1870 »gerade die Verbindungen zur deutschen Organisation […] den Angeklagten zum Vorwurf gemacht«.23 Die österreichische Arbeiterbewegung ist in diesen Jahren ein gutes Beispiel für eine Organisation ohne Basis, die nur auf der obersten Ebene funktionierte. Durch die Zuwanderung der Führungsgarnitur entsprach deren Verständnis von P ­ olitik nicht dem tatsächlichen Entwicklungsstand der österreichischen Arbeiterklasse. Diese Ungleichzeitigkeit verstärkte sich im innerösterreichischen Gefälle zwischen Metropole und Provinz noch zusätzlich und war Anlaß dafür, daß in der Arbeiterbewegung der Länder die Theoriediskussion nicht einmal nachvollzogen wurde, was alle jene Aspekte, in denen gesellschafts-transformatorische Elemente enthalten sind, so schwer Fuß fassen ließ und die lange Dominanz ausschließlich sozialer Motivation in der Organisationsbildung der Länder erklärt.

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stein (Hg.), Ferdinand Lassalles Reden und Schriften. Neue Gesamt-Ausgabe, Bd. 1, Berlin 1897. Dort heißt es  : »Österreich muß zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt – wir sprechen hier natürlich immer nur von dem Staatsbegriffe Österreich – seine Asche muß in alle vier Winde gestreut werden […] Mit der Zerstückelung von Österreich fällt das besondere Preußen von selbst, wie der Satz mit dem Gegensatz verschwindet. Österreich vernichtet – und Preußen und Deutschland decken sich  !« (325). Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Bd. 1  : Das Ringen um die supranationale Integration der zisleithanischen Arbeiterbewegung. (1867–1907) (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 1), Wien 1963, 47. Helmut Konrad, Nationalismus und Internationalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 4), Wien 1976, 25. Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie (= Internationale Bibliothek 68), Berlin 1973, 167. Walter Pollak, Sozialismus in Österreich. Von der Donaumonarchie bis zur Ära Kreisky, Wien u.a. 1979, 46. Zum Prozeß selbst siehe  : Heinrich Scheu (Hg.), Der Wiener Hochverratsprozeß. Bericht über die Schwurgerichtsverhandlung gegen Andreas Scheu, Heinrich Oberwinder, Johann Most und Genossen, [oO.] [oJ.] [Wien 1911]. Es ist kein Zufall, daß dieser Aspekt des Prozesses in der Parteigeschichtsschreibung stets unterbelichtet wurde.

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Obwohl etwa außerhalb Wiens die Zahl und die soziale Problematik der abhängig arbeitenden Landbevölkerung wesentlich größer war als die der Industriearbeiter, blieb in allen politischen Überlegungen bis zur Jahrhundertwende die Frage des Landproletariats ausgeklammert. Noch am Hainfelder Parteitag 1888/89 führte Anton Weiguny, der »Bebel von Linz«, zu dieser Frage aus  : »Wenn wir zu den Bauernknechten kommen mit dem Achtstundentag, so würden sie uns auslachen. Wir müssen diese Frage noch genau studieren. Daß Not und Elend unter der Landbevölkerung ist, das wissen wir alle, und niemand bestreitet es, aber heute in die Resolution das, was verlangt wird, aufzunehmen, können wir nicht, weil die Frage für uns noch nicht spruchreif ist«.24 Zur Entwicklung eigenständiger politischer Positionen, die dem Entwicklungsstand der jeweiligen Region entsprechen konnten, war man, nicht zuletzt durch das vollständige Fehlen von Intellektuellen in der Arbeiterbewegung der Provinz, außerstande. Theorie wurde in Deutschland entwickelt, in Wien rezipiert und entsprach daher überhaupt nicht den Problemen der peripheren Arbeiterbewegung. Diese bekam von den Theoretikern nur Antworten auf Fragen, die sich außerhalb der Metropolen nicht stellten. Und wenn aus den Zentralen publizistische Versuche kamen, über die Industriearbeiterschaft hinauszukommen, wie am Anfang der Achtzigerjahre mit der Schrift »Der Onkel aus Amerika«, die aus Zürich eingeschleust wurde, oder der Schrift »Wie der Peter Zapfelhuber von Penzing die Sozialdemokraten aufsucht«, die in Wien gedruckt wurde,25 so war man durch die Organisationsstrukturen nur in der Lage, diese Schriften in den lokalen Industriestädten zu verteilen.26 Kein Landarbeiter wurde damit erreicht. Es kann daher nicht erstaunen, daß diese »von oben« entstandene Arbeiterpartei die staatlichen Sanktionen, die sich in den Hochverratsprozessen von 1870 und 1874 ausdrückten, sowie den ökonomischen Einbruch mit der Großen Depression nicht überstehen konnte. Daß es im Frühjahr 1874 noch zu dem bemerkenswerten Versuch einer Parteigründung auf marxistischer Grundlage am Neudörfler Parteitag kam, ist nur als letztes Aufflackern jener Energien zu sehen, die in dieser ersten Welle von Organisationsversuchen steckte. Konsequenzen hatte dieser Gründungsparteitag nicht mehr, und erst gegen Ende der Achtzigerjahre konnte eine Arbeiterpartei als Massenbewegung entstehen. 24 J. Popp/G. Häfner (Hg.), Verhandlungen des Parteitages der österreichischen Sozialdemokratie in Hainfeld. Nach den stenographischen Protokollen, Wien 1889, 68. 25 Oberösterreichisches Landesarchiv, Skizzierte Darstellung der sozialdemokratischen Bewegung in Österreich-Ungarn (Polizeibericht, September 1880 bis Oktober 1882), 3. 26 Konrad, Entstehen, 404.

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Die Trennung vom Liberalismus Die Loslösung der österreichischen Arbeiterbewegung vom linken Liberalismus, die in der Theorie in den frühen Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts vollzogen wurde, verlief in der konkreten Politik in den einzelnen Regionen zu unterschiedlichen Zeiten und unter durchaus verschiedenen Voraussetzungen. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Revolutionsjahr von 1848. Je stärker es bereits in diesem Jahr gelang, eine Trennlinie zum Liberalismus zu ziehen und politisch-soziale Forderungen zu stellen, die über den bürgerlichen Charakter der Revolution in der Habsburgermonarchie hinauswiesen, desto leichter fand man zwei Jahrzehnte später zum Lassalleanismus als der ersten eigenständigen politischen Position der deutschsprachigen Arbeiterklasse. In Wien beteiligte sich die Arbeiterklasse vom Beginn an an der Revolution. Es waren die brennenden Fabriken der Vorstädte, die die raschen Anfangserfolge gegen den absolutistischen Polizeistaat ermöglichten. Diese spontanen Krawalle einer durch den Hungerwinter 1847/48 verzweifelten Masse von Unterprivilegierten brachten für einige Monate jene politische Bewegungsfreiheit, die es ermöglichte, daß sich im Juni 1848 der Erste Wiener Allgemeine Arbeiterverein konstituieren konnte. »Die schweren Augustunruhen, als bei einer Arbeiterdemonstration gegen eine Lohnkürzung die Nationalgarde in die Menge schoß und dabei 22 Arbeiter tötete und über 300 verwundete, brachten den endgültigen Bruch zwischen Bürgertum und Proletariat«.27 Trotz der Zerschlagung der ersten Ansätze einer Wiener Arbeiterbewegung durch das kurz zuvor noch revolutionäre Bürgertum war diese Erfahrung des Revolutionsjahres prägend für die Arbeiter der Hauptstadt. In der beschleunigten historischen Entwicklung dieses Jahres vollzog das Wiener Proletariat einen Lernprozeß, an dem es 1867, nach dem Vereinsgesetz, anknüpfen konnte. Die Arbeiterbildungsvereine in Wien waren daher von Anfang an ohne direkte Einflußnahme des liberalen Bürgertums, wenn auch kleinbürgerliche Ideologien nicht vollständig verschwunden waren. Ganz anders verlief die Entwicklung abseits der Metropole. Hier war die Revolution von 1848 ausschließlich vom Bürgertum getragen worden. Wohl gab es etwa auch in Linz 1848 eine Massenbewegung, als die Verzehrsteuer an den Linien der Stadt erhöht wurde und daher die Lebensmittelpreise stiegen. Weitere Krawalle richteten sich einmal gegen die Bäcker, einmal gegen die Fleischer, sie wurden aber nur ein einziges Mal blutig, und zwar am 1. August, als ein Zuckerbäcker das Zerbrechen einer Glasvitrine durch einen bettelnden Knaben mit Ohrfeigen quittierte, worauf 27 Hans Hautmann/Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945. Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik (= Schriftenreihe des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 4), Wien 1974, 34

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spontan »Arbeiter, Gesellen und Arbeitslose«28 zu Steinen und Knütteln griffen und erst von der Nationalgarde niedergerungen werden konnten. Dieser spontane Akt blieb aber ohne organisatorische Auswirkungen, und das Linzer Proletariat nahm auch Versuche, größere Revolten zu initiieren, überhaupt nicht zur Kenntnis. Als »dreißig Verschworene« in einer Flugschrift die »Armen von Linz« aufforderten, die führenden Politiker zu erschlagen, die Fabriken niederzubrennen und sich Brot zu holen, »wenn die Losung auf den Dächern leuchtet«,29 so setzte diese Flugschrift zwar die Behörden in Panik, die Arbeiter und das Lumpenproletariat blieben davon unberührt. So war 1848 außerhalb Wiens im deutschsprachigen Österreich eine, von wenigen Krawallen begleitete, bürgerliche Revolution mit nationalem30 und antiklerikalem, besser antikatholischem31 Charakter. In den zwei Jahrzehnten, die auf die Revolution folgten und in denen der Versuch der Errichtung einer neoabsolutistischen Ordnung unternommen wurde, konnten sich die Liberalen, unter ihnen in erster Linie die Intellektuellen, als Verlierer der politischen Auseinandersetzung betrachten. Während die Industrialisierung voranschritt, was einem Teil des Bürgertums immerhin zu ökonomischer Macht verhalf, verharrten die überwiegend jungen, 1848 im studentischen Milieu verwurzelten intellektuellen Revolutionäre in zumindest innerer Emigration, ohne allerdings auf individuelle Karrieren zu verzichten. Man wurde Lehrer, Verwaltungsbeamter, Journalist oder Arzt mit innerer Distanz zum herrschenden System und einer ausgesprochenen Sympathie für die Arbeiterklasse, die ja die Kämpfe des Revolutionsjahres mitgetragen hatte. Mit Sorge beobachtete man das Werben der Kirche um die Arbeiter und versuchte, soweit es möglich war, Gegenpositionen aufzubauen. Da dies über politische Vereine nicht möglich war, versuchte man es zumeist über die Genossenschaften. Schon im Jahr 1856, also mehr als ein Jahrzehnt vor dem Vereinsgesetz, wurde im kleinen Ort Teesdorf bei Leobersdorf in Niederösterreich, mitten im Industriegebiet südlich von Wien, der erste Konsumverein für Arbeiter geschaffen, der zum Ziel hatte, »die Beischaffung der für die Mitglieder erforderlichen Nahrungsmittel im großen zur

28 Karl von Görner, Das Jahr 1848 in Linz und Oberösterreich. Nach zeitgenössischen Quellen bearbeitet, Linz [oJ.] [1898], 67. 29 Ebd., 9. 30 Dies kommt besonders in der Symbolik der Revolution zum Ausdruck, die sich in der Provinz auf Fahnen in den deutschen Farben konzentrierte. Vgl. auch  : Das Jahr 1848 in Oberösterreich und Hans Kudlich. Katalog zur Sonderausstellung 1978 in Linz, Linz 1978. 31 Gerade in den evangelischen Gebieten der Monarchie bildeten sich daher kleine Zentren der Revolution, wie etwa im Salzkammergut um den Bauernphilosophen Konrad Deubler, der später auch an der Wiege der lokalen Arbeiterbewegung stand. Vgl. Konrad, Entstehen, 127.

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Erzielung möglichst billiger Anschaffungspreise«32 zu bewerkstelligen. Weitere Gründungen an anderen Orten folgten rasch. Obwohl an die Arbeiter gerichtet, wurden die Genossenschaften vom Bürgertum dominiert. Das dokumentiert die Zusammensetzung des Verwaltungsrates des Linzer Konsumvereins aus dem Jahr 1865  : »Vorstand war Franz Nentwich, k. k. Tabak-Fabriks-Verwalter, sein Stellvertreter Friedrich Bleyer, k. k. Statthalterei-Sekretär, Sekretär des Vereines war Johann Danner, k. k. Staatsbuch­ haltungsoffizial, Buchführer Eduard Kozlik, k. k. Tabak-Fabriks-Ökonom, Kassier Anton Stranik, k. k. Ober-Realschul-Professor.«33

Wenn man auch für Wien große Einschränkungen machen muß, so kann man doch die Jahre von 1867 bis 1870 als die Zeit der engsten Kontakte zwischen Arbeiterbewegung und Liberalismus bezeichnen. In diesen Jahren präsentierte sich die österreichische Arbeiterbewegung teilweise als linker Flügel der liberalen Strömung, und fortschriftliche Bürger halfen beim Aufbau der ersten Arbeiterorganisationen. Die beiden Organisationstypen der Arbeiterklasse, bei denen liberales Engagement am stärksten bemerkbar war, waren die Arbeiterbildungsvereine und die Genossenschaften. Hier trafen sich die Interessen, während die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter (mit Ausnahme des Versicherungswesens) beim liberalen Bürgertum auf Skepsis und Mißtrauen stießen.34 Das Jahr 1867 hatte im Gefolge der Niederlage von Königgrätz und der Bildung eines dualistischen Staates eine teilweise Demokratisierung und damit verbunden auch den Durchbruch des politischen Liberalismus in Österreich gebracht. Gemeinsam mit den Arbeitern, die den Druck der Massen in diese Verbindung einbringen sollten, zwang man den katholischen Konservatismus in die politische Defensive. Um die Arbeiter massenhaft nicht nur genossenschaftlich, sondern auch politisch zu organisieren, standen prominente Liberale zumindest außerhalb Wiens meist an der Spitze der neuen Arbeiterbildungsvereine, die damit neben den Genossenschaften zum Hauptbetätigungsfeld von Bürgern in den Organisationen der Arbeiterbewegung wurden. In Steyr, der Eisenstadt, stand Josef Werndl, einer der größten österreichischen Unternehmer des 19. Jahrhunderts, an der Wiege des Arbeiterbildungsvereins. In Linz, einer Stadt mit sehr heterogener Arbeiterklasse (große Textilindustrie und sehr viele Gewerbebetriebe), war es Dr. Josef Netwald, der 1848 Offizier der Wiener National32 Franz Seibert, Die Konsumgenossenschaften in Österreich. Geschichte und Funktion (= Materialien zur Arbeiterbewegung 11), Wien 1978, 19. 33 Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei-Präsidium, Vereinsakten, Fasc. 6 D 1, Karton 160, Brief des Verwaltungsrathes des Consum-Vereines an das Statthalterei-Präsidium vom 25. April 1865. 34 Vgl. Konrad, Entstehen, 408.

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garde und Redakteur ihrer Zeitung gewesen war und der die Folgejahre als Lehrer für Chemie und Italienisch, als Direktor der Badeanstalt Bad Hall und schließlich als Herausgeber, Verleger und Alleinredakteur der liberalen Linzer Tages-Post verbrachte. Besonders augenfällig war die Situation in Wels, einer Stadt ohne Großbetriebe, wo im ersten Vorstand des Arbeiterbildungsvereins kein einziger Arbeiter saß und wo der Obmann August Göllerich hieß. Göllerich, der 1848 Leutnant der Wiener Nationalgarde und Mitglied des Sicherheitsausschusses im Bezirk Landstraße gewesen war, war 1868 nicht nur Obmann des Arbeiterbildungsvereins, sondern auch Stadtgemeindesekretär in Wels und »Obmann der Feuerwehr, Turnrat im Turnverein, Vorstandsmitglied der Sparkasse, Mitglied des Bezirksschulrates, Leiter des Männergesangsvereines, Vorstand der Liedertafel, Vorstand des Oberösterreichisch-Salzburgischen Sängerbundes«,35 politischer Redakteur des Welser Anzeigers und Landtagsabgeordneter des Bezirkes Grein. Er hatte also eine typische lokale Spitzenkarriere hinter sich, als er sich dem Arbeiterbildungsverein zuwandte. Diese Beispiele ließen sich beliebig ergänzen. Nur in Ausnahmefällen, und zwar neben Wien nur in den Traditionsgebieten des Bergbaus, waren die ersten Bildungsvereine bereits frei vom liberalen Einfluß. In diesen Gebieten war es 1867/68 auch bereits gelungen, die Liberalen aus den Konsumgenossenschaften zu verdrängen, während im übrigen Österreich das Genossenschaftswesen noch lang eine Domäne der liberalen Selbsthilfeideen blieb. Die politische Struktur einer Genossenschaft läßt sich übrigens nicht nur aus der personellen Zusammensetzung der Leitungsgremien, sondern auch aus dem jeweiligen Warenangebot erschließen. Das wichtigste Indiz hierbei ist der Alkoholumsatz. Dominieren schon die Arbeiter, wird kein Alkohol verkauft, während schrankenloser Wein- und Schnapsverkauf liberale Dominanz signalisiert.36 Zweifellos war aber die Bildung von Fachvereinen, die nach der Erkämpfung des Koalitionsgesetzes ab 1870 möglich war, ein wichtiger Markstein auf dem Weg zur endgültigen Trennung von Liberalismus und Arbeiterbewegung. Gewerkschaftliche Forderungen waren nur gegen die Unternehmer durchzusetzen, und in der bereits erwähnten ersten Streikwelle kam es zur Präzisierung der politischen Positionen. Dennoch blieben liberale Genossenschaften und liberale Mitarbeit in den Bildungsvereinen in eingeschränktem Ausmaß weiter bestehen. 35 Gerhart Baron, Der Beginn. Die Anfänge der Arbeiterbildungsvereine in Oberösterreich, Linz 1971, 205. 36 So waren im Bergbaugebiet des Salzkammerguts die Konsumläden alkoholfrei, während in Linz 1866 71 Maß Branntwein (eine Verfünffachung des Umsatzes in einem Jahr  !), 97 Maß Sliwowitz, 57 Maß Rum und 95 Eimer Wein (ebenfalls eine Verfünffachung des Umsatzes) verkauft wurden und der billige Alkohol damit der gefragteste Artikel des Ladens war. Vgl. Konrad, Entstehen, 322.

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Ein weiterer Schritt zur Trennung vollzog sich mit dem Einbruch der Großen Depression, die die industrielle Ausweitungsphase der Gründerzeit vorerst beendete und in ihrem ersten Abschnitt die sozialen Konflikte verschärfte. Als schließlich 1878, mit dem Sozialistengesetz in Deutschland, die österreichische Sozialdemokratie orientierungslos wurde und in eine Phase der Radikalisierung eintrat, zogen sich die letzten liberalen Intellektuellen aus der Arbeiterbewegung zurück. Die Trennung war, bis auf einige Ausnahmen, nun endgültig vollzogen, und die Arbeiterbewegung blieb für ein Jahrzehnt in einem weder früher noch je später gekanntem Ausmaß eine reine Klassenbewegung, ideologisch orientierungslos, da beide Stützen, die deutsche Bruderpartei und die einheimischen Intellektuellen, ausfielen. Von den politischen Konsequenzen dieser Entwicklung wird noch zu sprechen sein. Es gab aber noch immer Bereiche, die von dieser Entwicklung verschont geblieben waren. Je größer die Entfernung zu Wien und je kleingewerblicher die Struktur des betreffenden Ortes war, desto länger konnte die Zusammenarbeit von Liberalismus und Arbeiterbewegung funktionieren. In einigen Gegenden Österreichs ist dies bis ins 20. Jahrhundert nachzuweisen. Besonders deutlich wird es etwa bei den Arbeitergesangsvereinen, die auch weiterhin meist unter der Leitung von Lehrern standen, die als einzige eine musikalische Ausbildung erfahren hatten. Ähnliches gilt für Lesezirkel und andere kulturelle Bereiche im weitesten Sinn, wie etwa Sport- und Turnvereine. Diese Organisationen, von kleinbürgerlichen Intellektuellen wie den Lehrern dominiert, kultivierten neben ihrem sozialen Anspruch vor allem auch die (deutsch-) nationale und antiklerikale Tradition. Diese Mischung (sozial, national, antiklerikal) sollte im 20. Jahrhundert die Übergänge zum Faschismus (und zurück) nicht in dem Ausmaß als Brüche erscheinen lassen, wie dies in den industriellen Zentren Österreichs in der Arbeiterklasse der Fall sein mußte.

Arbeiterbewegung und Kirche Bei aller Bedeutung der jungen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts steht es aber außer Frage, daß die entscheidende politische Front vor der Herausbildung der Massenparteien in Österreich zwischen Liberalismus und Katholizismus verlief. Die Arbeiterbewegung spielte aber in dieser Auseinandersetzung eine nicht unwesentliche Rolle, bemühten sich doch beide Konfliktparteien, die soziale Frage zu einem zentralen Punkt der Auseinandersetzung zu machen. Mit ihrem zumindest bis 1891 ausschließlich rückwärtsgewandten Gesellschaftsbild, von dem aus sich zwar eine harte Kritik am Frühkapitalismus ergab, mit dem aber nur defensive und karitative Maßnahmen, etwa zum Schutz der sozial vom Ab-

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stieg bedrohten Gesellen in den Kolpingvereinen, möglich waren, blieb die katholische Kirche vor allem für Arbeiter in Großbetrieben unattraktiv. Hilfe bei der Lösung der sozialen Frage erhofften sich von ihr eigentlich nur Arbeiter der ersten Generation, die noch teilweise, zumindest geistig, im ländlichen Lebensraum verwurzelt waren. Die Arbeiter waren nicht bereit, die Kirche als Vermittler kritischen Gedankenguts zu akzeptieren, den meisten Menschen stachen vor allem der Reichtum und die Pracht­ entfaltung der Geistlichkeit ins Auge.37 Das Angebot der katholischen Hilfsvereine wurde zwar von einer Zahl von Arbeitern genützt, die etwa der der Mitglieder der frühen Konsumgenossenschaften entsprach, doch dieser quantitativen Position in der Arbeiterklasse entsprach keine inhaltliche Verankerung. Im Gegenteil  : Je länger man Arbeiter war und je höher der Wunsch nach politischer Artikulation wurde, desto stärker ging der Einfluß der Kirche zurück. Der Liberalismus brachte in den Kampf um die Arbeiterklasse und deren erste Organisationen immerhin, im Gegensatz zum Katholizismus, die Oppositionsrolle zur bis 1867 bestehenden Ordnung und die demokratische Tradition von 1848 ein. Der Kampf gegen die Herrschaft des Neoabsolutismus, der in der Vorstellung von Arbeitern und Bürgern auch ein Kampf gegen den Einfluß der katholischen Kirche war, wurde gemeinsam geführt und brachte gerade die politisch bewußtesten Arbeiter in die Nähe des Liberalismus, vor allem dort, wo 1848 die bürgerliche Revolution die Klassenschranken noch nicht deutlich gemacht hatte. Das zeigte sich etwa in der Auseinandersetzung mit dem Linzer Bischof Rudigier, dem vehementesten Verfechter der Aufrechterhaltung des Konkordats, das nach der liberalen Machtübernahme durchlöchert wurde. Rudigier, der treueste Vasall des Papstes in Österreich, wollte 1868 gegen die neuen Gesetze, die die Religion betrafen »ein Signal setzen, wodurch die Katholiken noch einmal aufgerüttelt werden sollten«,38 was ihm 1869 eine vierzehntägige Gefängnisstrafe eintrug, sehr zur Freude der österreichischen Liberalen. Und die organisierten Arbeiter stiegen in diese Auseinandersetzung voll ein, sie gaben dem liberalen Kulturkampf die Unterstützung der Massen. 4.000 Arbeiter (die größte Massenveranstaltung dieser Jahre außerhalb Wiens) forderten von Linz aus die Regierung auf, »die reaktionären Umtriebe der klerikalen Partei mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen«.39 Nicht die soziale Frage, sondern der Antikle37 Vgl. Helmut Konrad, Religiöser und sozialer Protest. Die frühe österreichische Arbeiterbewegung und die Religionsgemeinschaften, in  : Isabella Ackerl/Waltraud Hummelberger/Hans Mommsen (Hg.), Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag, Bd. 1, Wien 1981, 197. 38 Vgl. Gottfried Mayer, Josef Fessler und sein Kreis. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Ultramontanismus in Österreich bis zum Protestantenpatent 1861, phil. Diss., Universität Wien 1980, 10. 39 Baron, Beginn, 148.

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rikalismus war somit die Triebfeder für die ersten großen Arbeiteraktionen in der Provinz, und die organisierten Arbeiter nahmen in Leserbriefen sogar ihre liberalen Unternehmer gegen Vorwürfe von klerikaler Seite bezüglich Arbeitszeit, Sonntagsruhe etc. in Schutz.40 Der Ablösungsprozeß vom Katholizismus verlief aber in den unterschiedlichen Regionen Österreichs ganz unterschiedlich. Teilweise konnte man, etwa im Bergbaugebiet des Salzkammerguts, an die alte Tradition des Kampfes gegen die Gegenreformation anknüpfen,41 manchmal fielen, vor allem in Kleinstädten im katholischen Umfeld ohne Großbetriebe, für einige Jahre Arbeiterbewegung, Liberalismus und Altkatholizismus zusammen,42 von besonderer Bedeutung wurde aber in den Jahren bis 1876 der Prozeß, der über Sekten bzw. Gründung von Vernunftreligionen lief. Die Arbeiterbewegung knüpfte aber keinesfalls an die lange Tradition religiöser Sektierer und Schwärmer im bäuerlichen Milieu43 an, sondern entwickelte eigene Formen. Die bedeutendste darunter war die von Dr. Hippolyt Tauschinsky, der bis zum Grazer Hochverratsprozeß eine der leitenden Persönlichkeiten der jungen Arbeiterbewegung war und nach dem Neudörfler Parteitag sogar an deren Spitze stand. Er gründete die »Gemeinden der Botschaft«44 und versuchte seine Vernunftreligion gemeinsam mit der Partei auszubreiten, ein Vorhaben, dem sich manch anderer Parteiführer, u.a. Hermann Wanke und Emil Kaller-Reinthal,45 anschloß, das der Sozialdemokratie aber nicht zum Vorteil gereichte. Nach einer Verurteilung »wegen Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche«46 schied Tauschinsky unter nie ganz geklärten Begleit­umständen aus der Arbeiterbewegung aus. All diese Formen des Lösungsprozesses vom Katholizismus zeigen aber auch, wie schmerzlich dieser Prozeß verlief. Selbst dort, wo Arbeiter zu antiklerikalen Aktio­ nen fanden, wie sie sich vor allem ab der Mitte der Achtzigerjahre häuften, war dies meist nur als Nachwirkung der Ablösung von der Kirche zu verstehen. Daher 40 Beilage zur Linzer Tages-Post (Nr. 15), 19. Jänner 1868. 41 Siehe Anmerkung 31. 42 Das beste Beispiel hierfür ist der Arbeiterbildungsverein in Ried, der in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre nur Altkatholiken als Mitglieder hatte. Vgl. Konrad, Entstehen, 392 f. 43 So machte noch in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts der Aufwiegler Kalchgruber von sich reden, bei dem sich religiöses Sektierertum und Kampf gegen die Obrigkeit vermengten. Siehe Eduard Wisshaupt, Die wirtschaftliche und soziale Lage in Österreich von 1830 bis 1839 (nach amtlichen Berichten), phil. Diss., Universität Wien 1952, 172. 44 Hippolyt Tauschinsky, Die Botschaft der Wahrheit, der Freiheit und der Liebe, Wien 1868. Ausführlich dazu  : Konrad, Religiöser und sozialer Protest. 45 Steiner, Arbeiterbewegung, 90. 46 Prozeß gegen Dr. Hippolyt Tauschinsky und 31 Genossen wegen Religionsstörung und geheimen sozialdemokratischen Verbindungen. Nach stenographischen Aufzeichnungen, Graz 1874, 178.

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überwog in den Aktionen nicht der aufklärerische Charakter, sondern die gegen die Geistlichkeit gerichteten Maßnahmen. Der 1885 in Budapest hergestellte »Anarchisten-Katechismus« wurde nicht nur an Arbeiter verteilt, sondern auch an Geistliche verschickt.47 Ein aus dem kleinen Dorf St. Stefan bei Afiesl im Mühlviertel nach Chicago ausgewanderter Arbeiter stillte seine Wut auf den Dorfpfarrer dadurch, daß er diesem regelmäßig das Anarchistenblatt Vorbote 48 schickte. Als der Pfarrer voller Empörung daraus in einer Pastoral-Konferenz zitierte, brachte ihm das eine Anzeige des liberalen Bezirkshauptmanns von Rohrbach ein, da er »diese verbotene Zeitschrift weiterverbreitet«49 hatte. Das Zusammenspiel von Arbeiterbewegung und Liberalismus im Kulturkampf funktionierte auch noch, als beide Gruppen sonst längst die Gesprächsbasis verloren hatten.

Die nationale Frage Für die österreichische Arbeiterbewegung, aber auch für das Verhältnis von Liberalismus und Arbeiterklasse, spielte die nationale Frage eine Rolle, die gar nicht überschätzt werden kann. Der Vielvölkerstaat widersprach bereits durch seine Existenz dem Glauben an die Notwendigkeit der Bildung von Nationalstaaten als unabdingbarer Voraussetzung für die Entfaltung des Kapitalismus. Die Hoffnung auf einen Zerfall des Gebildes, die 1848 von vielen Revolutionären, darunter von Friedrich Engels (»Die buntscheckige, zusammengeerbte und zusammengestohlene österreichische Monarchie, dieser organisierte Wirrwarr von zehn Sprachen und Nationen, dieses planlose Kompositum der widersprechendsten Sitten und Gesetze, fängt endlich an, auseinanderzufallen«50), gehegt worden war, erfüllte sich vorläufig nicht. Der regional so unterschiedlich verlaufende Industrialisierungsprozeß der Folgejahrzehnte und die damit verbundenen Wanderungsprozesse verschärften aber die Situation. Praktisch nur in den von deutschsprachigen Österreichern, von Tschechen und von Italienern bewohnten Gebieten (und mit Abstand im polnischen und südslawischen Sprachraum) siedelte sich Industrie an. Da den Italienern zahlenmäßig keine überra47 Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei-Präsidium, Arbeiterbewegung, Karton 105, Akten zum »Anarchisten-Katechismus«, Februar 1885. 48 Vorbote. Unabhängiges Organ für die wahren Interessen des Proletariats. (Der Pfarrer erhielt etwa die Nr. 22 des 15. Jg., Chicago, 13. Juni 1888). 49 Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei-Präsidium, Arbeiterbewegung, Karton 106, Schreiben des Bezirkshauptmannes von Rohrbach an das Präsidium der Statthalterei in Linz vom 5. November 1888. 50 Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1977, 479.

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gende Bedeutung zukam und da sie zudem nur in bestimmten Berufen, den jeweils untersten in der Hierarchie (Eisenbahn- und Straßenbau, Ziegelfabriken) verwendet wurden, die keinen festen Wohnsitz und daher keine stabilen sozialen Beziehungen erlaubten, lief die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Österreich praktisch an ihnen vorbei. Die soziale Problematik dieser »Fremdarbeiter« wurde ebensowenig zur Kenntnis genommen wie etwa die der slowakischen Landarbeiter, die zum Ernteeinsatz durch die Monarchie zogen. Nationale Trennlinien und soziale Abstufungen innerhalb der Arbeiterklasse fielen meist zusammen, nur Tschechen und Deutsche bildeten Ausnahmen, und das Verhältnis der deutschsprachigen und der tschechischen Arbeiter zueinander mußte daher zum Maßstab der nationalen Toleranz und Verständigungsbereitschaft werden. Tatsächlich schien die nationale Frage anfänglich kein Problem zu sein, es gab im unmittelbaren täglichen beruflichen und politischen Kontakt kaum Schwierigkeiten, man hielt sich an einen »naiven Kosmopolitismus«51 und vertrat die Ansicht, daß nationale Gegensätze »nur auf der Tagesordnung der Reaktionäre«52 stünden. Dieser Grundhaltung standen jedoch in den Jahren 1867 bis 1874 zwei andere Traditionslinien entgegen. Einerseits war der Liberalismus der Habsburgermonarchie in diesem Zeitraum beinahe ausschließlich ein deutscher Liberalismus mit stark natio­ naler Komponente, anderseits begriff sich, wie bereits ausgeführt wurde, die junge Arbeiterbewegung Österreichs kritiklos als Teil der deutschen Sozialdemokratie, ohne die Konsequenzen für die nicht deutschsprachigen Arbeiter der Monarchie zu überdenken. Als in den Siebzigerjahren der liberale Einfluß auf die Arbeiterbewegung zurückging und besonders, als 1878 die Orientierung an der Arbeiterbewegung Deutschlands aufhören mußte, gingen die beiden Einflüsse, die einem konsequenten Internationalismus im Weg standen, für einige Jahre zurück. Die bis 1886 eindeutige Dominanz von Vorstellungen der raschen und übergangslosen Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung ließ die nationalen Gegensätze als zweitrangig erscheinen. Es waren gerade die sprachlichen Minoritäten in Österreichs Industrieorten, die zu Trägern radikalen und anarchistischen Gedankenguts wurden. In den revolutionären Zirkeln übersetzte man sich die Flugblätter und sah keine Veranlassung, die Sprachbarrieren zum Diskussionsgegenstand zu machen. Ganz im Gegensatz zu den wenigen »gemäßigten« Gruppierungen, die an den Vorstellungen der frühen Siebzigerjahre festhielten und daher mit längeren Übergangsphasen bis zur sozialistischen Gesellschaft 51 Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, 304. 52 Manifest an das arbeitende Volk in Österreich, 1868, in  : Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1967, 110.

Deutsch-Österreich

rechneten, boten somit die »Radikalen« ein Bild der nationalen Verständigung und Harmonie. Aber in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre griff der Nationalismus mit voller Wucht auf die Arbeiterbewegung über und sollte in den Folgejahren nicht nur zum Kernproblem des Staates, sondern auch von Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung werden. Das hatte mehrere Gründe  : Vorerst hatte der Nationalismus auch in Österreich seinen Charakter grundlegend geändert. War er in seiner Verbindung mit dem Liberalismus »bis in die frühen 1870er Jahre hinein ein Vehikel der gesell­ schaftlichen Modernisierung«,53 so zeigte er nun seine Ambivalenz. Er war nicht mehr nur »als emanzipatorische Bewegung zu begreifen«,54 sondern wurde zunehmend als Rechtfertigungsgrundlage für rassistische und kolonialistische Ideologien im Weltmaßstab und für den internen Kolonialismus in der Habsburgermonarchie mißbraucht. Obwohl das vornehmlich eine Ideologie war, die auf den Mittelstand zielte, war seine Wirkung auch auf die Arbeiterklasse, ganz besonders in einem multinationalen Staat, groß.55 In der Praxis hatte »ab diesem Zeitpunkt der Nationalismus aufgehört, eine bürgerliche Ideologie zu sein«,56 ohne daß die Theoretiker der Arbeiterbewegung dies zur Kenntnis nahmen.57 Zudem kamen ab der Mitte der Achtzigerjahre wieder, wie noch zu zeigen sein wird, Intellektuelle zur Arbeiterbewegung und brachten ihren sprachlich-kulturellen Begriff der Nation mit, der lange Zeit eine wirkungsvolle theoretische Durchdringung der nationalen Frage verhinderte. In der Arbeiterbewegung selbst hatte man die Hoffnungen auf einen »Hier-und-Jetzt«-Sozialismus abzubauen begonnen, und die Arbeiterklasse begann, sich immer mehr beruflich zu differenzieren, wobei dies im Vielvölkerstaat das (zumindest subjektiv richtige) Gefühl des Zusammenfalls von nationalen und sozialen Trennlinien verstärkte. Für manche nicht deutschsprachigen Arbeiter waren daher die politischen Zielsetzungen ihrer eigenen nationalen Bourgeoisie oft anziehender als das Bestreben der Sozialdemokratie, unter deutschspra53 Heinrich August Winkler, Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 38), Göttingen 1979, 36. 54 Hans Mommsen/Albrecht Martiny, Nationalismus, Nationalitätenfrage, in  : Claus D. Kernig (Hg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Bd. 4, Freiburg/ Basel/Wien 1971, 630. 55 Dazu ausführlich  : Helmut Konrad, Der Nationalismus. Eine »bürgerliche« Ideologie  ?, in  : Anton Pelinka (Hg.), Ideologien im Bezugsfeld von Geschichte und Gesellschaft (= Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 2), Innsbruck 1981, 217–232. 56 Ebd., 224. 57 Sie nahmen es praktisch erst ab 1907 zur Kenntnis. Damit wird allgemein der Beginn des Austromarxismus identifiziert.

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chiger Dominanz Internationalismus zu predigen. Das Experiment einer »kleinen Internationale« innerhalb der Habsburgermonarchie war gescheitert, ehe es wirklich in Angriff genommen wurde. Die einheitliche Arbeiterpartei hielt nicht einmal ein Jahrzehnt. 1888/89 wurde sie gründet, und 1897 mußte man am Parteitag feststellen, daß »keine gemeinsame österreichische sozialdemokratische Partei mehr, sondern eine geeinigte Partei der österreichischen Sozialdemokratie, welche aus den verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt ist«,58 existierte. Kurze Zeit später war auch die Gewerkschaftsbewegung in nationale Gruppen aufgespalten, was sich bei den multinationalen Belegschaften in den wichtigsten Industrieorten verhängnisvoll auf die Schlagkraft der Bewegung auswirkte. Der Internationalismus blieb deklamatorisch auf Maiaufmärschen und Sonntagsreden beschränkt, während sich nationale Vorurteile beinahe ungehemmt breitmachen konnten. Die Rechnung für die Nichtbewältigung dieses Problems in Theorie und Praxis wurde 1914 präsentiert. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Deutsch-Österreich  : Gebremste Klassenbildung und importierte Arbeiterbewegung im Vielvölkerstaat, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Deutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1983, 106–128 (Vandenhoek & Ruprecht).

58 Verhandlungen des sechsten österreichischen Sozialdemokratischen Parteitages. Abgehalten zu Wien vom 6. bis einschließlich 12. Juni 1897 im Saale des Hotel Wimberger. Nach dem stenographischen Protokolle, Wien 1897, 125.

Arbeitergeschichte und Raum (1983)

1. Zeitgeschichte – Sozialgeschichte – Arbeitergeschichte Wie jedes wissenschaftliche Fachgebiet ist auch die Historiographie durch Trends und Moden gekennzeichnet, die sich einerseits aus der eigenen Fachtradition und dem innerfachlichen Diskussionsprozeß ergeben, die anderseits aber deutlich auch Reaktionen auf die jeweiligen politischen und sozialen Rahmenbedingungen und die entsprechenden Bedürfnisse der Öffentlichkeit sind. Die österreichische Geschichtswissenschaft war in ihrer Entwicklung lange Zeit, zumindest in ihren deutschsprachigen Ausformungen, dem Vorbild der deutschen Historiographie und damit einem »weitgehenden Verzicht auf die Analyse anonymer Kräfte und Kollektive bei Festhalten an einem idealistischen und zunehmend ideologischen Freiheits-, Handlungs- und Persönlichkeitsbegriff«1 gefolgt. Nur in der Frage der in Deutschland daraus resultierenden zentralen Bedeutung des Staates für den Ablauf der Geschichte geriet man in Österreich in Schwierigkeiten, und erst nach 1945 übernahmen die Historiker die Aufgabe der wissenschaftlichen Legitimierung der wiedererrichteten Republik. Dies führte in der Zweiten Republik zu einer neuerlichen Hochblüte des Historismus, und das zu einer Zeit, als sich die westdeutsche Geschichtswissenschaft schon lange den Herausforderungen der Sozialwissenschaften stellte und in eine Periode der Methoden- und Theoriediskussion eingetreten war. Selbst in dem erst sehr spät im Wissenschaftsbetrieb verankerten Fach »Zeit­ geschichte«2 blieb in Österreich vorerst die Theoriediskussion aus. Unmittelbaren pädagogischen Anforderungen mußte vordringlich entsprochen werden. Es ging daher vor allem um eine historische Aufarbeitung des Widerstandes gegen den Natio­ nalsozialismus, um damit die Tradition des »anderen Österreich« nachzuweisen, dem seit der Moskauer Deklaration zentrale Bedeutung zukam. Diese Widerstandsforschung entsprach auch dem »Geist der Lagerstraße«, dem Zusammenrücken der einst unversöhnlichen politischen Kräfte in unserem Land und der Großen Koalition als Aufbruch in eine neue Qualität der Politik. Erst die Hinwendung zu anderen zeithistorischen Themen, vor allem zu Analysen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, machte die Zeitgeschichte in ihren Produkten kontroversieller, umstrittener 1 2

Jürgen Kocka, Sozialgeschichte – Strukturgeschichte – Gesellschaftsgeschichte, in  : Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), 8. Akademisch wurde dieses Fach in Österreich erst in den sechziger Jahren eingerichtet.

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und brachte sie daher auch im Hinblick auf ihre methodisch-theoretischen Ansätze unter Legitimationszwang. Die sich daraus ergebende fruchtbare Diskussion läuft seit einigen Jahren. Die Zeitgeschichte geriet bei dieser Diskussion in starke Nähe zum Fach Sozialgeschichte, von dem nicht nur in Österreich seit Jahren die stärksten Impulse ausgehen. Obwohl Sozialgeschichte als Fach nur schwer einzugrenzen ist und, breit verstanden, sogar Universalgeschichte sein könnte, haben sich in Österreich mit der Familiengeschichte3 und der Erforschung der Geschichte der Unterschichten4 deutliche Schwerpunkte herausgebildet, die in der letzten Zeit durch Arbeiten der Volkskundler5 wertvolle Ergänzungen erfahren haben. In den Forschungsschwerpunkten der Sozialgeschichte wurde das Augenmerk vor allem auf eine Geschichte des Alltags gelenkt. Nun ist es zweifellos richtig, daß die Erforschung des Alltags zu einer regionalgeschichtlichen Vorgangsweise zwingt. »Alltagsgeschichte verlangt notwendigerweise die Darstellung der Subjektivität der Lebenserfahrungen, die räumliche Einengung des Untersuchungsgegenstandes ist unvermeidlich«6, will man nicht in der Unüberschaubarkeit und Vielfalt des Materials ersticken. Der Sozialgeschichte folgten aber in den letzten Jahren zunehmend auch andere historische Teildisziplinen auf das Feld der Regionalgeschichte, darunter durchaus auch jene Zeitgeschichte, die bislang eher der nationalen oder sogar einer universellen Geschichtsschreibung verbunden war, und schließlich, wenn auch nur zögernd, die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung. Im Rahmen der Geschichtswissenschaft, die sich mit den beiden letzten Jahrhunderten beschäftigt, kommt der Geschichte der Arbeiterbewegung aus mehreren Gründen eine Sonderstellung zu. Ursprünglich wurde Geschichte der Arbeiterbewegung beinahe ausschließlich von Mitgliedern der Bewegung selbst geschrieben. Diese meist sehr engagierten und umfangreichen Werke, die zum Teil heute als Klassiker gelten können,7 hatten vor allem die Aufgabe, politische Gegenpositionen zur dominant 3

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Es sind hier vor allem die Forschungen aus dem großen Projekt zur Familiengeschichte um Michael Mitterauer und Reinhard Sieder zu nennen. Siehe besonders  : Michael Mitterauer/Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, München 1977. Josef Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 13), Wien 1980. Helmut Fielhauer/Olaf Bockhorn (Hg.), Die andere Kultur. Volkskunde, Sozialwissenschaften und Arbeiterkultur. Ein Tagungsbericht, Wien u.a. 1982. Helmut Konrad, Zur Regionalgeschichtsschreibung der Arbeiterbewegung in Österreich, ungedruck­ tes Tagungspapier, vorgelegt auf der 17. Linzer Konferenz der ITH, September 1981, 3. Siehe besonders  : Ludwig Brügel, Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, 5 Bde., Wien 1922–1925. Dazu auch  : Julius Deutsch, Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung,

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bürgerlichen politischen Geschichte zu beziehen. Sie waren daher stark politik- und organisationsgeschichtlich orientiert und hatten von der Arbeiterbewegung selbst die Fortschrittsgläubigkeit, den Zentralismus und den (meist deklamatorischen) Internationalismus übernommen. So sehr es in diesen Werken um eine Art Gegenöffentlichkeit, um alternative Tradition ging, so waren sie doch von ihrem Verständnis her der Geschichtsschreibung aus der Schule des Historismus verbunden und wichen nur in jenem Punkt davon ab, wo sie in der Geschichte der Arbeiterbewegung einen notwendigen historischen Ablauf sahen, der, trotz mancher gegenläufiger Tendenzen, mit Konsequenz zur nächsten welthistorischen Epoche der Aufhebung der Klassengegensätze führen müsse. In der Art der Benützung und Auswahl der Quellen, der Personenzentriertheit der Darstellung und in den im Kern manchmal idealistischen Grundpositionen (trotz des Glaubens an die Notwendigkeit des Sieges der Arbeiterklasse) blieb der Unterschied zur bürgerlichen Geschichtsschreibung tatsächlich gering. Dazu kam, daß in Österreich die Geschichte der Arbeiterbewegung »bis in die jüngste Vergangenheit mit wenigen Ausnahmen als Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien geschrieben wurde. Dort fielen die wichtigsten Entscheidungen, dort funk­tio­ nierte proletarische Gegenkultur, dort saßen die Theoretiker des Austromarxismus«8, dort wurde die innerparteiliche Struktur bestimmt, das Zentralorgan gedruckt, dort wurden die Programme verfaßt. Regionale Sonderentwicklungen fanden kaum Beachtung. Geschichte der Arbeiterbewegung war also in Österreich von einem merkwürdigen Gegensatz zwischen dem Anspruch, fortschrittliche Inhalte zu vermitteln, und den konservativen Methoden, mit denen diese Inhalte erarbeitet wurden, gekennzeichnet. Mit der Etablierung als akademisches Fach durch die Errichtung eines Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung an der Universität Linz vor nunmehr 15 Jahren lief ein Prozeß an, in dem die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung auch in Österreich zu einer Standortbestimmung kommen mußte. Die in­ sti­tutionelle Verbindung mit einem Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte ließ vorerst die Geschichte der Arbeiterbewegung als Teildisziplin der Zeitgeschichte erscheinen. Wie bei dieser standen Fragen der Widerstandsforschung, des Verhältnisses zur österreichischen Nation unter anderem auf der einen, die Aufarbeitung der Konflikte der Zwischenkriegszeit auf der anderen Seite vorerst im Mittelpunkt. Das methodische Unbehagen mit den in den ersten Jahren nach der Gründung des Instituts entstandenen Arbeiten brachte vorerst eine Annäherung an die Sozialge-

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2 Bde., Wien 1929/1932. Ferner  : Charles A. Gulick, Österreich von Habsburg zu Hitler, 5 Bde., Wien 1948. Konrad, Regionalgeschichtsschreibung, 1.

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schichte, was durch den Standort des Instituts an einer Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät erleichtert wurde. Die Hinwendung zu den systematischen Sozialwissenschaften9, die die Geschichte der Arbeiterbewegung zur Arbeitergeschichte10 machte und dem Alltag der arbeitenden Menschen zentrales Augenmerk schenkte11, brachte zwar von den Methoden her kräftige Impulse, geriet jedoch zunehmend in Konflikt mit dem selbst erworbenen politisch-pädagogischen Anspruch, wie eine erste Warnung von Helga Grebing deutlich machte12. Die neue »Arbeitergeschichte« neigt nämlich dazu, speziell das Elend der Arbeiterklasse in den ersten Jahrzehnten nach Beginn der Industrialisierung mit moralischem Anspruch, aber im wesentlichen statisch abzubilden und den wichtigen Faktor der Organisation, die diesen Zustand entscheidend verändert hat, gering zu schätzen. Die Vernachlässigung des politischen Teils der Geschichte, die oft auch in dem zu geringen Nahverhältnis einer neuen Forschergeneration zu den Organisationen der Arbeiterklasse ihre Wurzel hatte, schüttete in der berechtigten Kritik an den bisherigen Arbeiten oft das Kind mit dem Bade aus und führte zu neuen Einseitigkeiten. Arbeitergeschichte kann aber nicht nur Teilgebiet einer Sozialgeschichte sein, die wiederum eine Untergliederung des Gesamtfaches Geschichte darstellt. Sie hat vielmehr ihren Platz dort, wo in einer Verbindung aus sozialgeschichtlichen und politikgeschichtlichen Elementen für einen wesentlichen Teil der Gesamtgesellschaft eine umfassende Kultur- oder Gesellschaftsgeschichte entsteht. Arbeitergeschichte muß sich in besonderem Ausmaß um einen strukturgeschichtlichen Ansatz bemühen. Das liegt von der Sache her nahe, wird doch überwiegend die Geschichte einer Klasse, also eines strukturellen Elements, behandelt, muß aber dennoch genauer begründet werden. Im Unterschied zu den Sozialwissenschaften, aber auch zu manchen sozialhistorischen Arbeiten, in denen der Begriff »Struktur« in Gegensatz zum Begriff »Prozeß« gestellt wird, Struktur also eine Konstante ausdrückt, gilt für die Geschichte, daß Strukturen »in der Regel keineswegs außerzeitliche Größen oder absolute Konstanten sind, sondern sich, wenn auch relativ langsam,   9 Gerhard Botz, Zeitgeschichte zwischen Quantifizierung und »Oral History«. In  : Karl R. Stadler (Hg.), Rückblick und Ausschau. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung (= Materialen zur Arbeiterbewegung 12), Wien 1978. 10 Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich 1978. 11 Helene Maimann, Bemerkungen zu einer Geschichte des Arbeiteralltags, in  : Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich 1978. 12 Helga Grebing, Geschichte der Arbeiterbewegung – eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin  ? Vortrag, gehalten auf der Festveranstaltung zum zehnjährigen Bestehen des Ludwig Boltzmann In­ stituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, Linz 1978.

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verändern und insoferne prozessualen Charakter haben«13. Strukturgeschichte ist also kein unbedingter Gegensatz zu einer Ereignisgeschichte, und selbst die handelnden Personen finden ihren Platz in dieser Art der Darstellung. Diese Personen und die Ereignisse werden nur jeweils auf ihre strukturelle Bedingtheit hin untersucht, ohne zu leugnen, daß sie umgekehrt in der Lage sind, Strukturen zu verändern. Arbeitergeschichte hat es mit einem besonderen historischen Strukturbegriff zu tun. »Definiert man Struktur (Organisation) des sich als Klasse konstituierenden Proletariats als eine seiner jeweiligen Entwicklungsstufe entsprechende Menge (Gesamtheit) von ökonomischen, sozialen, politischen, ideologischen und anderen Relationen«14, so ist deutlich, daß dieser Strukturbegriff einerseits nur dynamisch verstanden werden kann, daß er anderseits aber auch das abdeckt, was manchmal als umfassender Kulturbegriff bezeichnet wird. Unter Struktur der Arbeiterklasse ist also nicht nur die Vielschichtigkeit und interne Differenzierung des Klassenbegriffs gemeint, sondern durchaus auch das Verhältnis zu anderen Klassen und Schichten in der Gesellschaft. Dieser Ansatz weist über eine rein ökonomische oder sozialgeschichtliche Darstellung hinaus, indem auch Organisationsgeschichte und Ideengeschichte in einer strukturgeschichtlichen Sichtweise mit eingebunden werden. Arbeitergeschichte soll also mit Kocka heißen, neben Sozialgeschichte vor allem »Politikgeschichte unter Betonung struktureller Momente, mit analytischen Kategorien und unter Verwendung von Theorien, Begriffen und Methoden aus Politikwissenschaft und politischer Soziologie zu betreiben«15. Wenn Kocka fordert, daß Strukturgeschichte allein nicht genügt, da sie noch keine Theorie sei und zu einer Gesamtbetrachtung auch ein theoretischer Bezugsrahmen gehören muß, um nicht nur in Addition von einzelnen Informationen die Gesamtschau zu sehen, ist dies für die Arbeitergeschichte kein Problem. Ihr theoretischer Bezugsrahmen muß, um dem Gegenstand angemessen zu sein und zu Ergebnissen zu kommen, die umfassendere Aussagekraft haben, aus dem theoretischen Fundus der Bewegung selbst kommen. Jene Konzeption der Gesellschaftsgeschichte, wie sie heute in Diskussion steht, wurde schon 1846 präzise umrissen  : »Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln, 13 Kocka, Sozialgeschichte, 22, Anm. 72. 14 Hartmut Zwahr, Die Struktur des sich als Klasse konstituierenden deutschen Proletariats als Gegenstand der historischen Forschung, in  : ders. (Hg.), Die Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse von den dreißiger bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts (= Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft 1), Berlin 1981. 15 Kocka, Sozialgeschichte, 26.

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und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende Verkehrsform, als die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc. aus ihr zu erklären und ihren Entstehungsprozeß aus ihr zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkungen dieser verschiedenen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann«16,

hatten Marx und Engels in der Deutschen Ideologie geschrieben und damit die Grundlagen für einen flexiblen historischen Materialismus gelegt, der, trotz mancher Dogmatisierungen und Verkürzungen von Gralshütern dieser Lehre, immer noch jenes theoretische Gerüst darstellt, von dem aus Arbeitergeschichte (und nicht nur sie) mit dem größten Erklärungswert geschrieben werden kann. Neben dem historischen Materialismus ist es allerdings offensichtlich auch gelungen, mit gewissen modernisierungstheoretischen Ansätzen17 zu Aussagen von beachtlichem Erklärungswert zu gelangen und damit einen zweiten Zugang zur Arbeitergeschichte zu ermöglichen, der allerdings in Österreich bisher nur sehr geringes Echo gefunden hat. Der Anspruch auf Totalität im Rahmen eines gesellschaftlichen Ansatzes ist aber in einer umfassenden nationalen oder gar internationalen Geschichte nicht zu erfüllen. Um in der Fülle des Materials und in der Größe des Anspruchs nicht zu ersticken, muß entweder arbeitsteilig verfahren werden, oder, wenn die immer stärkere Auf­ splitterung und Spezialisierung der einzelnen Teilbereiche der Geschichte als störend empfunden wird, der Ausweg in einer räumlichen Einengung des Forschungsgegenstandes gesucht werden. So findet auch die Geschichte der Arbeiterbewegung letztendlich zur Regionalgeschichte.

2. Regionalgeschichte als Modeerscheinung Am Beispiel des neuen Modezweigs »Regionalgeschichte« kann deutlich gezeigt werden, wie nur ein Bündel von fachinternen und äußeren Interessen auch in der Geschichte trendauslösend wirken kann. 16 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in  : Marx-Engels-Werke, Bd. 3., Berlin 1956, 37 f. 17 Siehe besonders  : Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. In Österreich hat vor allem Ernst Hanisch versucht, die modernisierungstheoretischen Ansätze für eine Regionalgeschichte fruchtbar zu machen. Siehe  : Ernst Hanisch, Regionale Zeitgeschichte. Einige theoretische und methodologische Überlegungen, in  : zeitgeschichte 7/2 (1979), 49 f.

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Regionalgeschichte bietet vorerst eine Reihe unmittelbarer praktischer und materieller Vorteile für den Historiker. Er kann etwa den Nachteil eines Standortes außerhalb der Metropolen und damit fern von den wichtigsten zentralen Quellensammlungen überwinden,18 spart sich kostspielige und zeitaufwendige Reisen, kann vom Erlernen oder vom Gebrauch einer fremden Sprache absehen und erschließt relativ sicher Neuland, ein Umstand, dem bei den vielfach durchackerten zentralen Archiven besondere Bedeutung zukommt. Aber hätten diese Motive ausgereicht, das Interesse an regionalen und lokalen historischen Fragen entscheidend zu wecken, hätte auch die herkömmliche Landesgeschichte davon profitiert und nicht ihr (trotz mancher beachtlicher Leistungen, sogar zur Geschichte des 20. Jahrhunderts19) Mauerblümchendasein führen müssen. Es bedurfte des Anstoßes von außen, einer Änderung der gesamten Rahmenbedingungen, um die Regionalgeschichte zum gefragten Experimentierfeld vor allem einer jüngeren Historikergeneration werden zu lassen. Haftet der alten Landesgeschichte oft »der biedere Stallgeruch einer dilettierenden Heimatkunde, vermischt mit überschäumendem Lokalpatriotismus«20 an, galt sie als engstirnig, innovationsfeindlich, romantisierend und konservativ, so steht die neue Regionalgeschichte heute als das genaue Gegenteil da. Regionalgeschichte gilt als modern, da die Hinwendung zu Fragen von kleineren regionalen Einheiten im letzten Jahrzehnt nicht mehr zwangsläufig mit einer konservativen Antwort auf die Herausforderungen des Industriezeitalters gleichzusehen ist. Zweifellos hatte die Entfaltung kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen die ökonomische und politische Zusammenfassung immer größerer Gebiete im Interesse weiterer Entwicklungsmöglichkeiten notwendig gemacht. Mobilität der Menschen wurde zu einer wichtigen Grundvoraussetzung, Liberalismus und Arbeiterbewegung entwickelten ihren Internationalismus im Geist des weltweiten Freihandels, und der Na18 Martin Broszat, Geleitwort, in  : Gert Zang (Hg.), Provinzialisierung einer Region. Regionale Unterentwicklung und liberale Politik in der Stadt und im Kreis Konstanz im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Provinz, Frankfurt am Main 1978, 10. Siehe auch  : Ernst Engelberg, Quellen und Methoden zur Erforschung der Herausbildung und Strukturwandlung des deutschen Industrieproletariats im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in  : Hartmut Zwahr (Hg.), Die Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse von den dreißiger bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts (= Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft 1), Berlin 1981, 85, 87. 19 Siehe dazu etwa die Bücher von Harry Slapnicka zur Zeitgeschichte in Oberösterreich. 20 Ernst Hanisch, Die sozialdemokratische Fraktion im Salzburger Landtag 1918–1934, in  : Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich 1978, 247.

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tionalismus zog in der Schaffung von größeren Strukturen vorerst zumindest soweit mit, als die Konstituierung von Nationalstaaten noch nicht vollendet war, und später bildete er die ideologische Rechtfertigung eines weltumspannenden Wirtschaftssystems, dessen Hauptmerkmale ungleiche Entwicklungen, Abhängigkeiten und Unterdrückung waren. Alle dynamischen Bewegungen der letzten 150 Jahre setzten sich somit über kleinräumige Identitäten hinweg, und die Beschäftigung mit dem kleinen Raum, mit »Heimat«, wurde ab dem 19. Jahrhundert zum Synonym für konservatives Denken. Der Bruch mit der umfassenden Wachstums- und Fortschrittsgläubigkeit, 1968 im intellektuellen Milieu erstmals angedeutet, ist um die Mitte der siebziger Jahre vor allem in den weltweit aufflammenden Antikernkraft-Bewegungen vollzogen worden. Für viele junge Menschen liegen im Wachstum, in der Gigantomanie und Uniformierung nicht mehr die alles überwindenden Konfliktlösungsmodelle, man versucht vielmehr, »dem Alptraum einer falschen Globalität à la 1984 Alternativen entgegenzusetzen, in denen die Fremd- und Selbstbestimmungen ersetzt werden können«21. In der Betonung der regionalen Besonderheit, in der Kultivierung von regionalen Traditionen, in der Pflege beinahe verschütteter Sprachen, in Stadtteilinitiativen, in Umweltschutzkampagnen etc. entstanden neue Kleingruppenidentitäten oder lebten alte, vergessene wieder auf. Selbstverständlich hat diese Entwicklung durchaus auch ihre konservativen Elemente. Aber selbst Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Überschaubarkeit und nach einem Zugehörigkeitsgefühl in einem bestimmten Lebensraum stellt sich in der nachfaschistischen Zeit anders dar als im 19. Jahrhundert oder zwischen den beiden Weltkriegen. Die Einordnung in die klassischen politischen Kategorien des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist bei den neuen Bewegungen nicht gerade einfach, und in der aktuellen Politik läuft dazu ja derzeit eine heftige Diskussion. Die Geschichte, besonders die Arbeitergeschichte, kommt bei der Darstellung kleiner Räume in die Schwierigkeit, nicht einfach Aussteigergeschichte aus der modernen Industriegesellschaft schreiben zu können, sondern aus dem Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Totalität jene Geschichte gestalten zu müssen, die einerseits die berechtigten Elemente dieser Bedürfnisse aufgreift, die anderseits aber in der Kleinräumigkeit keinesfalls die Konfliktfreiheit sieht. Geschichte der Arbeiterklasse ist notwendigerweise Geschichte der Industriegesellschaft, und diese Industriegesellschaft ist eben durch ein gerade (und nur) diese Gesellschaft kennzeichnendes Ver21 Georg Schmid, Die Teile und das Ganze. Über das Verhältnis von Regionalgeschichte(n) zur Universalgeschichte, in  : historicum, Salzburg, Winter 82/83, 22.

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hältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat charakterisiert. Beschränkt man sich bei der Arbeitergeschichte auf die (relativ) harmonischen klasseninternen Beziehungen, akzeptiert man die Möglichkeit einer Trennung von Bourgeoisie und Proletariat als »Bestandteile einer hierarchisch geschichteten Industriegesellschaft«22 und löst den sozialen Zusammenhang auf. Will also regionale Arbeitergeschichte strukturgeschichtlich und mit einem theoretischen Vorverständnis geschrieben werden, so erlaubt gerade die Kleinräumigkeit die Darstellung auch der komplexen Beziehungen zwischen den Klassen. Es scheint zudem wichtig zu sein, daß sich aus dieser Gesamtschau die Möglichkeit ergibt, nicht nur das Leben der Arbeiterklasse in der Geschichte mit dem sozialen Status von Arbeitern der Gegenwart zu vergleichen (und damit relativ unkritisch »Fortschritt« zu konstatieren), sondern das Arbeiterleben jeder Epoche mit dem damals gleichzeitigen Leben des Bürgertums zu konfrontieren. So erlebten schließlich die Arbeiter den Klassenwiderspruch ihrer konkreten Epoche, und dieser Widerspruch war die Triebfeder für politisches Handeln. Ein gutes Beispiel dafür bietet etwa der wichtige Bereich des Wohnens, das Arbeiterwohnen im 19. Jahrhundert. Gerade hier ist die Versuchung groß, etwa über die Schlüsselzahl von Quadratmetern Wohnfläche pro Person die Entwicklung im letzten Jahrhundert zu konstatieren. Dies ist wertvoll, die stärkeren Erkenntnisse sind allerdings zu gewinnen, wenn man klassen- und schichtspezifisches Wohnen einer Epoche dokumentiert, was in einer kleinen Region nicht nur mit Dokumenten, sondern im »fieldwork«-Verfahren23 leicht bewerkstelligt werden kann. Gerade der Wohnbereich bietet am leichtesten und anschaulichsten die Totalität eines Zeitabschnitts, besonders wenn man sich bemüht, »no opposition between fieldwork and documents«24 aufkommen zu lassen und die visuelle Komponente, die konkrete Anschauung, in die historische Arbeit voll integriert.

3. Die Größe der Region Regionalgeschichte bedeutet, soviel ist selbstverständlich, daß der Historiker ein im Verhältnis zur Universalgeschichte, aber auch zur Nationalgeschichte räumlich eingeengtes Betrachtungsfeld untersucht. Aber schon in der Abgrenzung zur Landesgeschichte gerät man in Probleme. Zwar kann man als Unterscheidungsmerkmal anfüh22 Zwahr, Struktur, 139. 23 William G. Hoskins, Fieldwork in Local History, 2. ed., London 1982. 24 Ebd., 183.

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ren, »daß die Landesgeschichte manchmal als ›kleine Nationalgeschichte‹ verstanden wurde  : mit all ihren Rechtfertigungszwängen«25, aber das ist eher ein Hinweis auf die Unterschiedlichkeit des methodischen Zugangs als eine klare Trennung in der Frage der Größe des Forschungsgegenstandes. Gerade die Geschichte der Arbeiterbewegung hat hier besondere Schwierigkeiten. Soweit sie klassische Organisationsgeschichte ist, die sich an traditionellen Methoden und Quellen orientiert, wird sie sich bei ihren regionalgeschichtlichen Ansätzen an Verwaltungsgebiete halten müssen. Gerade in der Frühzeit der Bewegung, wo ein Großteil der heute vorhandenen Quellen von den Behörden stammt, läßt das vorgegebene Material ein Abweichen der Darstellung von Verwaltungseinheiten kaum zu. So werden in jenen Ländern, in denen Geschichte der Arbeiterbewegung im wesentlichen Parteigeschichte (und damit oft Nationalgeschichte) ist, die Untersuchungen »zumeist im Rahmen der historisch gewachsenen territorialen Organisationsstruktur der Arbeiterbewegung vorgenommen«26. Kleinste Region ist somit der Ort oder die Stadt, bestimmt durch die Quellen aber meist der Bezirk27. In den meisten Fällen bedeutet dies, daß die zu untersuchende Arbeiterklasse heterogen ist, sich durch unterschiedliche Branchen, Betriebsgrößen, Beschäftigungsstruktur, Traditionen, Konfliktstrategien etc. in bunter Vielfalt mit verschiedensten Interessenlagen und mit wenig verbindendem Klassenbewußtsein präsentiert. Dieser Schwierigkeit wird meist mit schwer vertretbaren »Avantgarde«-Theorien begegnet, indem die jeweils prägnanteste politische Ausformung der Region die zentrale Beachtung findet. Versteht sich Arbeitergeschichte aber vornehmlich als Sozialgeschichte, als Geschichte des Alltags einer Klasse, und stützt sie sich daher auch auf andere Typen von Quellen (Massenquellen, mündliche Geschichte etc.), ist das Festhalten an der Verwaltungseinheit als »Region« wenig sinnvoll. Das Herausbilden einer Arbeiterklasse ist ursächlich mit dem Prozeß der Industrialisierung verbunden, und es ist unzweifelhaft, »daß Industrialisierung ein regionales Phänomen gewesen ist, dessen Ausbreitung einerseits nicht selten über nationale Barrieren hinausgreift, anderseits aber innerhalb der nationalen Grenzen räumlich ungleichmäßig vor sich geht – wobei große, nichtindustrialisierte Flächen unberührt beiseite gelassen oder sogar erst 25 Herwig Wolfram/Karl Brunner/Georg Pammer, Regionalgeschichte, in  : historicum, Salzburg, Winter 82/83, 11. 26 Antonin Faltys/Hans-Joachim Krusch, Regionale und lokale Arbeiterbewegung als Forschungsgegenstand (vorwiegend bis zum Zweiten Weltkrieg) in der ČSSR und DDR, ungedrucktes Tagungspapier, vorgelegt auf der 17. Linzer Konferenz der ITH, September 1981, 14. 27 Dies gilt vor allem für jenes Material, das besonders aus der Frühgeschichte der Arbeiterbewegung, von den Behörden in Beobachtung der Bewegung angelegt wurde.

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geschaffen werden«28. Je stärker sich das Forschungsinteresse von Fragen des ökonomischen Wachstums und der sozialen Konstituierung der Arbeiterklasse leiten läßt, desto sinnvoller erscheint die Untersuchung möglichst kleiner Regionen mit möglichst großer Homogenität. Region ist somit ein durchaus wandelbarer Begriff, und jeder Historiker, der über Regionalgeschichte nicht nur theoretisch reflektieren möchte, sondern den Weg zur unmittelbaren Arbeit am Material sucht, muß daher vorerst für sich Klarheit über die eigenen Forschungsziele besitzen. Dies bedeutet nicht unbedingt, daß die gesamte theoretische Arbeit der empirischen Tätigkeit vorauszugehen hat, aber nur so sind der Forschungsgegenstand und das Material überhaupt sinnvoll einzugrenzen. Geht es etwa mehr um die innere Differenzierung der Arbeiterklasse und um die Schwierigkeiten der Vermittlung politischer Ansichten bei unterschiedlichen Rahmenbedingungen, muß die Region größer gewählt werden als beim Versuch, eine bestimmte Berufsgruppe, etwa die Metallarbeiter, in ihrem sozialen und politischen Konstituierungsprozeß darzustellen. Die Entscheidung für die Abgrenzung der Region ist nicht immer leicht, oft widersprechen die geplanten inhaltlichen Ziele einer historischen Arbeit den praktischen Möglichkeiten. Dennoch ist davor zu warnen, einfach die Abgrenzung einer Region von der vorhandenen Strukturierung des Quellenmaterials abhängig zu machen. Viele Fragestellungen sind dann erschwert, und die Arbeiten erhalten nur zu leicht den Charakter von traditionellen Organisationsgeschichten. Es ist unzweifelhaft, daß in den letzten Jahren die interessantesten und vor allem methodisch bemerkenswertesten Arbeiten von jenen Historikern kommen, die ihren Begriff der Region über die Fragestellung und nicht über die Quellenbasis finden.29 Sie sind gezwungen, sich den Problemen der Beschaffung beziehungsweise Auswertung von nicht in traditioneller Weise gesammelten und aufbereiteten Quellen zu stellen und wirken daher meist zwangsläufig innovativ, indem auf Methoden zurückgegriffen werden muß, die in der Geschichtsschreibung keine Tradition haben. Allerdings soll hier kein konstruierter Widerspruch aufgebaut werden. Es ist durchaus denkbar, auch nach genauen theoretischen Vorüberlegungen zu einem Regionsbegriff zu kommen, der sich mit einer Verwaltungsregion deckt. Dies gilt umso 28 Rainer Fremdling/Toni Pierenkemper/Richard H. Tilly, Regionale Differenzierung in Deutschland als Schwerpunkt wirtschaftlicher Forschung, in  : Rainer Fremdling/Richard H. Tilly (Hg.), Indus­ tria­lisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts (= Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen 7), Stuttgart 1979, 9. 29 Siehe etwa die zitierten Arbeiten von Josef Ehmer, Hartmut Zwahr und besonders  : Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, 2. Auflage, Bonn 1981.

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stärker, wenn der Historiker durch seine persönliche Einbindung in Organisationen der Arbeiterklasse mit seiner Arbeit auch das legitime Bedürfnis nach Aufarbeitung der Geschichte bestehender organisatorischer Einheiten mitberücksichtigt. Und die Frage, wem die Arbeit nützen soll, ist wesentlicher Bestandteil eben jener theoretischen Vorarbeit, die es zu leisten gilt. Der Versuch der Harmonisierung des eigenen Wunsches nach wissenschaftlicher Innovation und des Bedürfnisses der Organisation, in der historischen Arbeit das kollektive Gedächtnis der Arbeiterbewegung zu sehen, sollte gerade für die Arbeitergeschichte stets am Beginn der Überlegungen stehen. Aber nicht nur die Frage der Größe einer Region, sondern wohl auch der zeitliche Umfang des Untersuchungsgegenstandes wirft Probleme auf. Politische Einschnitte müssen ökonomischen Umbrüchen nicht entsprechen, organisationsgeschichtliche Wendepunkte und soziale Qualitätssprünge müssen nicht zusammenfallen und sind zudem zwischen einzelnen Regionen oder sogar innerhalb der ausgewählten (größeren) Region nicht einheitlich zu bestimmen. Wiederum kann gelten, daß es vor allem politische Einschnitte sind, die den Charakter der Quellen ändern (zum Beispiel Demokratisierung des Staates  ; oder, in Österreich besonders augenscheinlich, die gewaltigen Änderungen mit dem Zusammenbruch des großen Habsburgerreiches). Dennoch wird man manchmal zu Periodisierungen kommen müssen, die von diesen markanten Wendepunkten abweichen, denn oft sind politische Einschnitte Folgen früher angelaufener sozialer und/oder ökonomischer Veränderungen  ; prozessuale Entwicklungen sind selten an konkreten Daten festzumachen. Allgemein kann wohl gesagt werden, daß größere Zeiträume selbstverständlich besser historische Dynamik verdeutlichen können, Zeitreihenanalysen gewinnen etwa an Aussagekraft. Kürzere Zeitabschnitte erlauben hingegen die minutiöse Durcharbeitung von Umbruchsituationen und sind meist geeigneter, innere Widersprüchlichkeiten einer Entwicklung zu verdeutlichen. Aus rein pragmatischen Gründen wird wohl meist gelten, daß in regionalgeschichtlichen Arbeiten zwischen der Größe der Region und des Umfangs des Zeitraums eine negative Korrelation besteht, wobei der Trend deutlich zu den kleinstmöglichen Regionen und zu den großen Zeiträumen geht.

4. Provinz – Metropole – internationale Entwicklung Jede Regionalgeschichte, die nicht klassische Heimatkunde sein will, braucht eine Einbettung in größere Entwicklungszusammenhänge und den Vergleich als Arbeitsmethode. Nicht nur in der Frage der Methoden bedarf es der wachen Verfolgung der internationalen Entwicklung, sondern auch in inhaltlichen Belangen muß der

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Blick über die Grenzen der Region hinausgehen. Dabei wäre es aber verfehlt, in der Geschichte der Region nicht mehr als ein illustratives Beispiel für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu erblicken. Die These ist nur bedingt richtig, daß regional nur »nachvollzogen wird, was anderwärts in der politischen Zentrale entschieden wird oder in den ökonomischen Zentren sich abspielt und daß demzufolge nur die dortigen Auseinandersetzungen von alles entscheidender Wichtigkeit wären«30. Die Frage des Verhältnisses von Region und zentraler Entwicklung ist wohl die entscheidendste Frage für eine Regionalgeschichte der Arbeiterbewegung. Gerade die internationale Diskussion macht dabei die Schwierigkeiten deutlich. So betonten Faltys und Krusch auf der 17. Linzer Konferenz, die unter anderem der Fragen der Regionalgeschichte gewidmet war  : »Die Historiker in der ČSSR und DDR lassen sich davon leiten, daß jegliche Separierung der regionalen und lokalen Arbeiterbewegung vom internationalen Charakter der Arbeiterklasse und der durch sie hervorgebrachten Gesamtbewegung, von deren historischen Wurzeln, objektiven Triebkräften, Aufgaben und Zielen, von den Problemen, Fortschritten und Errungenschaften des Kampfes der internationalen Arbeiterklasse einem tiefen Eindringen in den Forschungsgegenstand und einem wissenschaftlichen Geschichtsbild entgegenstehen. Dieses Vorgehen stellt eines der grundlegenden methodologischen Prinzipien dar, die den Forschungen in unseren beiden Ländern zugrunde liegen. Regionale und lokale Arbeiterbewegung als Forschungsgegenstand werden also in der ČSSR und DDR nicht losgelöst von der Geschichte der internationalen und nationalen Arbeiterbewegung, sondern als deren untrennbarer Bestandteil untersucht. Eben deshalb finden bei der Erforschung der Arbeiterbewegung im regionalen und lokalen Bereich auch solche entscheidenden Ereignisse in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung wie die erste proletarische Revolution der Weltgeschichte, die Pariser Kommune von 1871 und ihre Fernwirkungen bis hinein in die regionalen und lokalen Arbeiterorganisationen das gebührende Augenmerk.«31

Selbstverständlich gehen auch die sowjetischen Historiker davon aus, »daß die Arbeiterklasse ihrem Wesen nach eine internationale Klasse ist und auch ihr Kampf dem

30 Gert Zang, Subjektive Reflexionen über ein Projekt und seine organisatorische, methodische und inhaltliche Entwicklung. Überlegungen zu einer kritischen Regionalgeschichtsschreibung für das 19. und 20. Jahrhundert, in  : ders. (Hg.), Provinzialisierung einer Region. Regionale Unterentwicklung und liberale Politik in der Stadt und im Kreis Konstanz im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Provinz, Frankfurt am Main 1978, 497. 31 Faltys/Krusch, Arbeiterbewegung, 8.

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Inhalt nach ein internationaler ist«32, man anerkennt aber, daß dies keineswegs zu besagen hat, »daß die arithmetische Summe der regionalen und lokalen Bewegungen die Geschichte der Arbeiterbewegung eines Landes oder gar die Weltgeschichte bilden könnte. Dies wäre ein mechanisches Herangehen an die Sache, es geht aber um ein dialektisches Herangehen, um eine dialektische Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen, des Internationalen und des Nationalen«33. Mit dem Betonen der Dialektik allein ist es aber nicht getan. In der Forschungspraxis wird doch meist der Versuch gemacht, eine Theorie oder eine allgemeine Entwicklungslinie am regionalen Beispiel zu verifizieren, die Regionalgeschichte wird »zum empirischen Steinbruch, aus dem man sich relativ beliebige Belege für seine allgemeinen Aussagen herausbricht und zusammensucht. Der theoretische und praktische Wert dieser Arbeit reduziert sich dann allzu leicht und ausschließlich auf das Illustrative, Anschaulich-Plastische und Exemplarische […]. Das Detail wird bei einem solchen Verständnis zum beliebig austauschbaren, isolierten und atomistischen Partikel und verliert damit den Charakter, notwendiger Bestandteil einer konkreten gesellschaftlichen und historischen Totalität zu sein«34. In dieser Kritik soll es aber keinesfalls um eine Geringschätzung der Illustrationsfunktion gehen, die vor allem für eine gute didaktische Aufbereitung von Geschichte beziehungsweise Arbeitergeschichte ihre zentrale Bedeutung hat. Es geht vielmehr darum, die Frage zu stellen, ob die »lokale Entwicklung mehr als letzte Ausformung der allgemeinen zu begreifen«35 ist, ob also ein hierarchisches Verhältnis von allgemeiner zu lokaler oder regionaler Geschichte besteht, oder ob der Anspruch des dialektischen Herangehens an die Geschichte eine »Gleichwertigkeit« von lokaler und zentraler Entwicklung voraussetzt. Zweifellos hat die Region ein spezifisches politisches Potential, nicht jede ihrer Entwicklungen ist rein als Nachvollziehung in einem konsequenten »Modernisierungsprozeß« zu sehen. Selbst regionale Industrialisierung oder das Zurückbleiben gewisser Regionen ist nicht ausreichend mit Theorien zu fassen, die heute etwa zur Erklärung von Unterentwicklung herangezogen werden. Unterentwicklungstheorien sehen meist »die Abhängigkeit peripherer Regionen von den Metropolen darin begründet, daß die Entwicklungsdynamik der Peripherien von außen induziert wird, die Entscheidungen also von und im Interesse der Metropolen gefällt werden«36. Demge32 L. M. Spirin, Theoretisch-methodologische und historiographische Probleme beim Studium der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung in der UdSSR, ungedrucktes Tagungspapier, vorgelegt auf der 17. Linzer Konferenz der ITH, September 1981, 2. 33 Ebd., 3. 34 Zang, Reflexionen, 508. 35 Ebd., 484. 36 Klaus Megerle, Regionale Differenzierung des Industrialisierungsprozesses. Überlegungen am Bei-

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genüber werden in europäischen Regionen wohl meist die wichtigsten Entscheidungen, die Disposition »über die Produktion, über den Einsatz der Produktionsfaktoren und über strukturelle und institutionelle Maßnahmen in der jeweils abhängigen Region von und im Interesse der dortigen Entscheidungsträger getroffen«37. Das bedeutet, daß eine entscheidende historische Wende wie etwa die der Durchsetzung des Kapitalismus nur möglich wird, der Region nicht nur untergeordnetes Nachziehen zukommt, sondern daß die Veränderungsprozesse in den Kleinräumen konstitutive Bestandteile der Gesamtänderung sind. »Das Ganze kann nicht ohne die einzelnen Teile, ja Teilchen umgewälzt werden«38, wobei die Teilchen die Richtung mitbestimmen. Die Region ist also nicht nur kleinräumige Widerspiegelung der großen Politik, sondern sie formt diese Politik wesentlich mit. Für eine Arbeitergeschichte ist dies besonders beachtenswert, denn die Arbeiterbewegung selbst hat sich in ihrer Geschichte stets als zentralistische und internationale Organisation verstanden, die in der jeweils am stärksten industrialisierten (oder am besten politisch organisierten) Region immer das Vorbild sah, dem die anderen Regionen, freiwillig oder nicht, nachzueifern hatten. Trotz des Anspruches, dialektisch vorzugehen, sah man im Verhältnis von industrieller Metropole und »Provinz« nicht mehr als eine historische Zeitverschiebung, und die gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse in der Region hatten keinen eigenständigen Charakter. »Die lokale Geschichte der Arbeiterbewegung will und soll anders als die ›Mikrogeschichte‹ sein  ; sie trachtet danach, zu einer gesamten Geschichte zu führen, die zwar von besonderen und bisweilen auch miniaturisierten Situationen ausgeht, aber immer allgemeine Seiten aufweist, gerade weil sie Geschichte der Klasse und der Klassenorganisationen ist. Wenn man nicht in die Sichtweise eines positivistischen Soziologismus oder in die der reinen philologischen Gelehrsamkeit – sei es auch, daß beide durch die Anwendung von ›modernen‹ und verfeinerten Techniken veredelt sind – verfallen will, wenn man nach der profunden Erforschung der Geschichte der Arbeiterklasse in all ihren Aspekten strebt, wird es grundlegend sein, sich von der lokalen und provinziellen Ebene zu erheben und die lokalen, sektorialen, besonderen Ereignisse und Diskussionen in die allgemeinere Dimension der nationalen und internationalen Arbeiterbewegung und der entsprechenden Geschichtsschreibung einzubeziehen«39, spiel Württembergs, in  : Rainer Fremdling/Richard H. Tilly (Hg.), Industrialisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts (= Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen 7), Stuttgart 1979, 126. 37 Ebd. 38 Zang, Reflexionen, 497. 39 Aldo Agostini/Gian Mario Bravo, Marxistische Geschichtsschreibung und Geschichtsschreibung der

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schreiben italienische Arbeiterhistoriker und erkennen damit auch nur zum Teil an, daß die allgemeinere Dimension von der Region ebenso (wenn selbstverständlich auch nicht in gleichem Ausmaß) mitgeprägt ist wie umgekehrt. Regionale Arbeitergeschichte kann aber nicht nur unter dem Aspekt der Illustration der Gesamtentwicklung der Arbeiterklasse geschrieben werden, auch nicht nur unter Beachtung »regionaler Besonderheiten«, das heißt Abweichungen vom Tempo oder von der Richtung der Gesamtgeschichte. Gesamtgeschichte ist auch nicht die Summe aller denkbaren Regionalgeschichten. Regionalgeschichte bedarf in ihrer Darstellung der ständigen Mitberücksichtigung der Gesamtentwicklung und des schwierigen Versuchs, auf allen Ebenen die wechselseitigen Beeinflussungen deutlich zu machen. Vergleiche sind aber nicht nur auf der Ebene regionale Entwicklung – Gesamtentwicklung sinnvoll. Auch der Vergleich zweier Regionen, etwa mit gleichen Rahmenbedingungen, aber mit unterschiedlichen internen Voraussetzungen, kann von großem Erklärungswert sein. Gerade auf diesem Gebiet liegen interessante Arbeiten vor40, die vor allem zeigen können, welch entscheidende Bedeutung den internen Bedingungen einer Region bei der Herausbildung von kulturellen und politischen Verhaltensformen der Arbeiterklasse zukommt.

5. Wissenschaftlicher und didaktischer Anspruch Manche Autoren versuchen, Regionalgeschichte nicht nur unter einem wissenschafts­ innovatorischen Aspekt zu schreiben, sondern den kleinräumigen Ansatz auch (oder besonders) unter einem didaktischen Anspruch zu sehen. Es ist klar, daß »die L ­ okalund Regionalgeschichte einen besonders günstigen Ansatzpunkt [bietet], um eine nicht-partialisierte, -facettierte und -isolierte Erkenntnis der Wirklichkeit zu realisieren. Eine Erkenntnis, die immer konkret und damit für jedermann zugänglich und selbst fortentwickelbar bleibt und somit eine subjektive Eigenständigkeit stimuliert. Womit auch eine Alternative zum heutigen Wissenschaftsbetrieb angedeutet ist, der durch die Übermacht abstrakter Begrifflichkeit auf den Leser entmutigend und niederdrückend wirkt und ihn zum staunenden oder verwirrten Objekt der wissenArbeiterbewegung. Betrachtungen über nationale und regionale Geschichte in Italien, am Beispiel Piemont, ungedrucktes Tagungspapier, vorgelegt auf der 17. Linzer Konferenz der ITH, September 1981, 11. 40 Erhard Lucas, Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1976.

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schaftlichen Produktion werden läßt«41. So scheint die Regionalgeschichte ein Ausgangspunkt zu werden, »die Kluft zwischen der Wissenschaft und den ›Objekten‹ der Forschung, in diesem Fall den Bewohnern einer Region, zu verringern, Identifikationsprozesse zu fördern und Berührungsängste abzubauen. Auf diese Weise könnte aus der Geschichte der Arbeiterbewegung tatsächlich eine Geschichte der arbeitenden Menschen werden, mit der sich die Betroffenen auch als Individuen, nicht nur als Angehörige einer ›Bewegung‹ identifizieren können und die somit auch einen Beitrag zum Selbstverständnis dieser Menschen leisten würde«42. Aber decken sich denn im Fall der Regionalgeschichte die Interessen des Forschers und die Bedürfnisse der »Objekte« tatsächlich so einfach  ? Sogar Gert Zang resümiert  : »Wo wird das Buch denn gelesen  ? Wahrgenommen und geschätzt wird es weitab von der Region, sogar jenseits der Grenzen. Das ist die zweite Merkwürdigkeit  : da lesen sich Leute, die zu der dargestellten Region so gut wie keinen Bezug haben, in Details ihrer Geschichte ein, während sich die, die zur abgebildeten Region einen unmittelbaren Lebensbezug haben, verweigern«43. Auch bei meinem eigenen Oberösterreichprojekt war die Erfahrung ähnlich  : Zwar gab es guten Absatz in der Region, aber die Rückmeldungen blieben fast völlig aus, und der erhoffte Prozeß, zur Eigentätigkeit in der Erforschung der Geschichte zu stimulieren, entfiel praktisch. Das dürfte mehrere Gründe haben  : Zum einen sind alle Arbeiten, die von der Fachwissenschaft kommen, noch zu abstrakt. Sie benützen Massenquellen, enthalten Statistiken und unterliegen in ihrer Sprache zumindest begrenzt den Zwängen des Wissenschaftsbetriebes. Zudem setzen sie meist auch dort ein Interesse voraus, wo sich dieses noch gar nicht manifestiert hat. Man schreibt schließlich nicht »grüne Auftragsgeschichte«, für die der Boden durch konkrete politische Aktionen aufbereitet ist, sondern das erkenntnisleitende Interesse ist ein primär wissenschaftliches. Wo dieser Widerspruch einigermaßen aufgehoben wurde, wie etwa in der schwedischen »dig where you stand«-Bewegung44, trafen der ganz konkrete, literarische Zugang über die Betriebsgeschichte mit einem manifesten Interesse durch die Gefährdung von Arbeitsplätzen in diesen Betrieben zusammen. Aber nicht zufällig vollzog und vollzieht sich dies höchstens im Randbereich der Fachwissenschaft. Es kann sich nur dort vollziehen, will die Historiographie nicht leichtfertig den schmalen Weg zwi41 Zang, Reflexionen, 502. 42 Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981, 13. 43 Gert Zang, Regionalgeschichte  : Detailgeschichte oder Geschichte im Detail, in  : historicum, Salzburg, Winter 82/83, 7. 44 Sven Lindquist, Grabe-wo-du-stehst, ungedrucktes Tagungspapier, vorgelegt auf der 17. Linzer Konferenz der ITH, September 1981.

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schen dem hohen wissenschaftlichen Anspruch und der gesellschaftspolitischen Legitimationsfunktion des Faches zugunsten des letzteren verlassen. Die wissenschaftliche Regionalgeschichtsschreibung hat aber die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß, ausgehend von den gewonnenen Erkenntnissen, politische Organisationen oder Institutionen der Erwachsenenbildung jene Prozesse einleiten können, mit denen es möglich ist, den Bewohnern einer Region ihre Geschichte in der Form eines gesellschaftswissenschaftlichen Ansatzes nahezubringen und diese Menschen gleichzeitig zu aktiven Bemühungen in der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte zu veranlassen. Beim Abfassen eines wissenschaftlichen Textes zur Regionalgeschichte muß diese Verwertbarkeit außerhalb des Wissenschaftsbetriebes unbedingt mitberücksichtigt werden, ohne daß der Text voll in diesem Aspekt aufzugehen hat. Es gilt, die bestmöglichen Voraussetzungen für eine wirklich demokratische Geschichte »von unten«45 zu schaffen, ohne daß der Regionalhistoriker den Anspruch erheben soll, diese Geschichte »von unten« bereits selbst zu schreiben. Je näher die Beziehungen des Forschers zu den »Objekten« der Forschung im außerwissenschaftlichen, persönlich-politischen Verkehr ist, je stärker also etwa der Arbeiterhistoriker in die Organisationen der Arbeiterbewegung eingebunden ist, desto leichter wird ihm die Betrachtung dieser außerwissenschaftlichen Bedürfnisse fallen. Er kann, ohne Verletzung der Ansprüche von Wissenschaftlichkeit, hier tatsächlich einen wertvollen Beitrag zur politischen Bildung leisten.

6. Der Schwerpunkt 19. Jahrhundert Unter den Arbeiten zur regionalen Arbeitergeschichte dominieren bis heute eindeutig jene, die im 19. Jahrhundert angesiedelt sind. Selbst bei jenen Forschern, deren Schwerpunkt ansonsten eher das 20. Jahrhundert ist46 oder die sogar ihre regionalgeschichtlichen Großprojekte mit Fragestellungen des 20. Jahrhunderts begonnen haben47, ist die Verlagerung auf die Phase der Industrialisierung und des Konstituierungsprozesses der Arbeiterklasse offensichtlich. Dies hat mehrere Gründe. Für jene, die nicht von einem primär heimatkundlichen Interesse zur Regionalgeschichte gefunden haben, war es meist die Beschäftigung mit dem Faschismus und 45 »Riefer Manifest« für einen demokratischen Umgang mit Geschichte, in  : Kulturjahrbuch. Wiener Beiträge zu Kulturwissenschaft und Kulturpolitik 1 (1982), 335. 46 Dies gilt durchaus auch für den Verfasser dieser Arbeit. 47 Besonders auffällig ist dies im Projekt von Konstanz zu beobachten  : Zang, Provinzialisierung.

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das Erkennen der in dieser Thematik so eindeutig sichtbaren »Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem«48, die zur Triebfeder wurde. Aber die Gründe für das differenzierte Entwicklungstempo des Kapitalismus lassen sich nicht im 20. Jahrhundert auffinden, und so ging das Forschungsinteresse von Fragestellungen des Faschismus zu den Entstehungsbedingungen der Industriegesellschaft zurück. Dazu kommt, daß gerade der Konstituierungsprozeß der Arbeiterklasse ein besonders reizvolles Forschungsthema an der Nahtstelle von Sozial- und Politikgeschichte ist. Es handelt sich wohl um die entscheidendste Umbruchsituation der letzten Jahrhunderte, um den Wechsel von Qualitäten mit einer Vielfalt von Auswirkungen auf allen Ebenen. Dies ermöglicht, wie noch an anderer Stelle gezeigt werden wird, eine fast unbegrenzte Menge an Fragestellungen mit unterschiedlichsten Zugangsmöglichkeiten aus den verschiedensten Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft oder sogar von Nachbarwissenschaften. Besonders wichtig ist aber zweifellos auch ein politisch-moralischer Grund, der das Interesse an den Fragestellungen des 19. Jahrhunderts steigen ließ. In der Arbeitergeschichte des 19. Jahrhunderts dominiert die Geschichte der Herausbildung einer relativen Einheit und Geschlossenheit der Arbeiterklasse in sozialer und politischer Hinsicht trotz ihrer Herkunft aus den unterschiedlichsten Wurzeln, während in späteren Abschnitten bereits Prozesse der internen Klassendifferenzierung, der unterschiedlichsten Interessenlagen und politischen Ausdrucksformen vorherrschend werden. Zudem ist die Frage des Elends der Arbeiterklasse im Frühkapitalismus, eines Elends, dessen Ausmaß und dessen Ursachen im wesentlichen unbestritten sind, Motivation für einen stark moralischen, kapitalismuskritischen Zugang zur Geschichte, da es hier leichter fällt, Partei zu ergreifen und Stellung zu beziehen als bei der viel komplexeren Situation des 20. Jahrhunderts. Neben diesen inhaltlichen Gründen sprechen aber für eine Hinwendung zum 19. Jahrhundert auch methodische Überlegungen. Das 19. Jahrhundert entzieht sich weitgehend der »oral history«, und Forscher, die in der »oral history« auch eine tendenzielle Gefahr der Individualisierung von Geschichte erblicken, zögern bei der Anwendung dieser Methode gerade in einem Bereich, der strukturgeschichtlich das Gemeinsame einer großen Gruppe von Menschen, der Arbeiter, zu zeigen versucht. Die quantifizierende Geschichte mit dem teilweise hervorragenden statistischen Material der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist hier sicher problemfreier anzuwenden. Man muß zwar konstatieren, daß dies keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen »oral history« und Quantifizierung bedeutet und daß in der »oral history« große Möglichkeiten liegen, Bereiche zu erforschen, die sich nur mit diesem Zugang erschließen 48 Ernst Bloch, Gespräch über Ungleichzeitigkeit, in  : Kursbuch 39 (April 1975), 1.

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lassen, und zwar gerade dort, wo es in der regionalen Darstellung um den Alltag geht, der ja die Subjektivität der Erfahrung braucht. Vielleicht besteht diese leichte Skepsis aber auch nur, weil im Gegensatz zu den mit quantifizierenden Methoden erarbeiteten Arbeitergeschichten die großen Beispiele der wirklich erfolgreichen Anwendung der »oral history« noch nicht vorliegen49. Dort, wo sich die Regionalgeschichte dem 20. Jahrhundert zuwendet, wird sie sich wohl der »oral history« stellen müssen, und aus dieser Konfrontation werden sich bestimmt neue Überlegungen und Fragestellungen ergeben. Die Unsicherheit kommt aber zweifellos auch daher, daß es Historiker nie gelernt haben, mit anderem als »totem« Material zu arbeiten und Prozesse einer Interaktion zwischen Forschungsgegenstand, Quellen und Forscher eine Erfahrung sind, vor der man zurückschreckt, in deren Nutzung aber vielleicht große Möglichkeiten liegen50.

7. Zum derzeitigen Forschungsstand in Österreich Regionale Arbeitergeschichte läßt sich in Österreich heute auf verschiedenen Ebenen und mit durchaus unterschiedlichen Zugängen auffinden. Allerdings überwiegt noch eindeutig eine traditionelle, organisationsgeschichtliche Sichtweise, neuere Ansätze haben erst wenig in die Forschung Eingang gefunden. Jedes der neun österreichischen Bundesländer kann auf Arbeitergeschichtsschreibung verweisen, die dem jeweiligen Land (oder einer Region des Landes) gewidmet ist. Darstellungen von länderübergreifenden Industrieregionen (Südbahnstrecke, Alpenvorland) fehlen hingegen völlig, was durchaus mit der geschilderten Regionsabgrenzung nach Archivbeständen zusammenhängt. Allerdings gibt es ein großes, auch die Geschichte der Arbeiterbewegung entscheidend berührendes Projekt, nämlich das bereits in mehreren Bundesländern erfolgreich abgeschlossene Bemühen, Widerstand und Verfolgung von 1934 bis 1945 umfassend zu dokumentieren. Die Bände zu Wien, zum Burgenland und zu Oberösterreich sind bereits erschienen. Das Burgenland muß wohl als eines der Stiefkinder der österreichischen Arbeitergeschichtsschreibung betrachtet werden. Dieses jüngste Bundesland Österreichs mit der weitaus am spätesten angelaufenen Industrialisierung wurde bisher nur von Richard

49 Dies wird sich voraussichtlich nach dem Erscheinen der Arbeit von Reinhard Sieder über den Arbeiteralltag, besonders den Alltag von Frauen, im Wien der Zwischenkriegszeit ändern. 50 Ein Versuch wird eben in der Fortsetzung eines Projekts zum »alten Menschen in der Geschichte« versucht. Siehe auch Anm. 109.

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Berczeller und Norbert Leser51 in biographischer und organisationsgeschichtlicher Weise aufgearbeitet. Neue Wege, wenn auch eher am Versuchsfeld der Arbeiterautobiographie als der Regionalgeschichte, schlägt das von Gero Fischer edierte Buch von Hanna Sturm52 ein, das in packender Weise das Arbeitermilieu des Landes schildert. Wesentlich besser ist es um die Arbeitergeschichtsschreibung der Steiermark bestellt. Hier liegt bereits aus dem Jahre 1920 das klassische Werk von Michael Schacherl53 vor, das den ersten dreißig Jahren der Organisationsgeschichte nach dem Hainfelder Parteitag gewidmet ist. Zehn Jahre später erfolgte die Aufarbeitung der Geschichte der Konsumgenossenschaften des Landes54, und 1935 veröffentlichte Paula Wallisch im Prager Exil die Geschichte ihres Mannes, des steirischen Schutzbundführers Koloman Wallisch, eines der prominentesten Opfer des österreichischen Bürgerkrieges55. Eine der typischen Landesgeschichten aus sozialdemokratischer Sicht folgte 1966 mit Sepp Reichls Der große Aufstieg56, das innerhalb der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte das einzig nennenswerte Produkt steirischer Arbeitergeschichtsschreibung sein sollte. Erst gegen 1980 setzte an der Universität Graz eine neue Welle der Beschäftigung mit Arbeitergeschichte ein, die mit den Dissertationen von Eduard Staudinger57 und Karin Maria Schmidlechner58 sowie mit den Arbeiten Robert Hintereggers59 bemerkenswerte Resultate brachte. Jüngstes Produkt dieser Richtung ist ein ambitioniertes Buch über Fohnsdorf60, in dem der Versuch einer umfassenden kulturgeschichtlichen Darstellung, verbunden mit einem basisdemokratischen Ansatz, unternommen wird. In der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Graz wird am Aufbau einer Dokumentation über die Geschichte der steirischen Arbeiterklasse gearbeitet. 51 Richard Berczeller/Norbert Leser, … mit Österreich verbunden. Burgenlandschicksal 1918–1945, Wien/München 1975. 52 Hanna Sturm, Die Lebensgeschichte einer Arbeiterin. Vom Burgenland nach Ravensbrück (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 8), Wien 1982. 53 Michael Schacherl, 30 Jahre steirische Arbeiterbewegung, Graz 1920. 54 Anton Pohl, Die Konsumgenossenschaften in der Steiermark und Kärnten, Graz 1930. 55 Paula Wallisch, Ein Held stirbt, Prag 1935. 56 Sepp Reichl, Der große Aufstieg. Eine Geschichte der arbeitenden Menschen und der Arbeiterbewegung in der Steiermark, Graz 1966. 57 Eduard Staudinger, Die Bildungs- und Fachvereine der Arbeiter in der Steiermark von 1848 bis 1873, phil. Diss., Universität Graz 1977. 58 Karin Maria Schmidlechner, Die steirische Industriearbeiterschaft 1875–1890, phil. Diss., Universität Graz 1979. 59 Robert Hinteregger, Die steirische Arbeiterschaft zwischen Monarchie und Faschismus, in  : Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich 1978. 60 Ernst Hinner u.a., Fohnsdorf. Aufstieg und Krise einer österreichischen Kohlenbergwerksgemeinde in der Region Aichfeld-Murboden, Graz 1982.

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Das Bundesland Kärnten weist mit dem umfangreichen, zweibändigen Werk von Karl Dinklage61 aus den Jahren 1976 und 1982 eine ausführliche und reich dokumentierte Geschichte der Kärntner Arbeiterschaft auf, die den Bogen von der Urgeschichte bis zur Gegenwart spannt und mit den anderen Arbeiten des Autors zur gewerblichen Wirtschaft und zur Landwirtschaft des Landes korrespondiert. Begrifflich meist sehr unscharf, meint der Autor, mit seinen insgesamt 6 Bänden »die einzige umfassende Darstellung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte […] in den Kulturländern der Erde«62 geschrieben zu haben. Neben Dinklages Arbeit ist die Aufarbeitung der Konsumgenossenschaften erwähnenswert63. Neuere fachwissenschaftliche und methodische Erkenntnisse fließen allerdings besonders in die Geschichtsschreibung zur slowenischen Minderheit ein, die sich, vorerst außerhalb, nun aber auch schon innerhalb Kärntens zu einem wesentlichen regionalgeschichtlichen Forschungsthema entwickelt hat64. In Salzburg wurde die Geschichte der sozialistischen Bewegung des Landes 1961 von Josef Kaut umfassend aufgearbeitet65. Mit der Gründung des Karl-SteinocherFonds und mit der Hinwendung der Zeithistoriker an der Universität Salzburg zur Arbeitergeschichte gingen in den letzten Jahren von diesem Bundesland kräftige Impulse aus, die vor allem die Diskussion um die Methoden zur regionalen Arbeitergeschichtsschreibung voranbrachten66. Obwohl es die Struktur des Landes nicht vermuten läßt, zählt das Bundesland Tirol zu den am besten aufgearbeiteten Ländern in Österreich. Das ist beinahe ausschließlich das Verdienst von Gerhard Oberkofler, der die Form der klassischen Organisationsgeschichte perfektioniert hat und methodisch konservative, aber umfassende und exakte Darstellungen zur Entwicklung der Arbeiterbewegung in Tirol vorgelegt hat67. Mit der Gründung der Michael-Gaismair-Gesellschaft, die der konservativen 61 62 63 64

Karl Dinklage, Geschichte der Kärntner Arbeiterschaft, 2. Bde., Klagenfurt 1976/1982. Ebd., S. 14. Pohl, Konsumgenossenschaften. Hanns Haas, Fortschritt und Deutschtum. Kärntner sozialdemokratische Slowenenpolitik in der Ersten Republik, in  : Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich 1978. Siehe ferner  : Arbeitsgemeinschaft Volksgruppenfrage (Hg.), Kein einig Volk von Brüdern. Studien zum Mehrheiten-/Minderheitenproblem am Beispiel Kärntens (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 9), Wien 1982. 65 Josef Kaut, Der steinige Weg. Geschichte der sozialistischen Bewegung im Lande Salzburg, Salzburg 1961. 66 Dies gilt für die Arbeiten von Rudolf Ardelt und besonders von Ernst Hanisch. Siehe Hanisch, Regionale Zeitgeschichte. 67 Gerhard Oberkofler, Die Tiroler Arbeiterbewegung. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 13), Wien 1979  ; ders., Der 15. Juli 1927 in Tirol. Regionale Bürokratie und Arbeiterbewegung (= Materialien zur Arbeiterbewegung 23), Wien 1982.

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Landeskulturpolitik eine Alternative entgegenstellen will, ist auch verstärktes Interesse an neuen methodischen Zugängen zur Geschichte zu bemerken, das sich in Tagungen, Ausstellungsprojekten etc. niederschlägt. Es dürfte den Kenner der österreichischen Landesgeschichte noch mehr als am Tiroler Beispiel erstaunen, daß zur Geschichte der Arbeiterschaft Vorarlbergs bemerkenswerte Arbeiten vorliegen. Manfred Scheuch hat die Zeit bis 1918 knapp, aber präzise und mit starken sozialhistorischen Teilen dargestellt 68. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg liegen nur Detailstudien vor, so Gerhard Wanners Geschichte der Kammer für Arbeiter und Angestellte69 und Kurt Greussings Arbeit über die Jahre 1934 bis 193870. Die Gründung der August-Malin-Gesellschaft und die Bemühungen der Stadt Bregenz beginnen sich zunehmend auf das Entstehen von kleineren Arbeiten, Projekten (wie etwa zum Widerstand) und Ausstellungsplänen auszuwirken. Oberösterreich ist, nicht zuletzt durch das hier ansässige Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung und durch die jährlich in Linz stattfindenden internationalen Tagungen der Historiker der Arbeiterbewegung, zweifellos zu einem Land geworden, in der Arbeitergeschichtsforschung von überregionaler Bedeutung geleistet wird. Dennoch kann regionalgeschichtlich nur die Frühzeit als einigermaßen aufgearbeitet gelten71. Für die Zeit nach dem Hainfelder Parteitag gibt es Memoiren72, landespolitische Gesamtdarstellungen73 oder Spezialuntersuchungen74, aber keine umfassende Darbietung der Arbeitergeschichte. Allerdings laufen eine Reihe methodisch interessanter Projekte, so zu den Bergarbeitern des Hausrucks75, zur Arbeiterkulturgeschichte im Vergleich zweier größenmäßig ähnlicher, strukturell aber grundverschiedener Städte76, und zum Arbeiterwohnen in Linz77. 68 Manfred Scheuch, Geschichte der Arbeiterschaft Vorarlbergs bis 1918, Wien 1961. 69 Gerhard Wanner, Die Geschichte der Vorarlberger Kammer für Arbeiter und Angestellte 1921– 1938. Ein Beitrag zur Vorarlberger Arbeiterbewegung, Feldkirch 1977. 70 Kurt Greussing, Vorarlberger Sozialdemokraten in der Illegalität 1934–1938, in  : Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich 1978. 71 Gerhart Baron, Der Beginn. Die Anfänge der Arbeiterbildungsvereine in Oberösterreich, Linz 1971  ; Konrad, Entstehen. 72 Anton Weiguny, Erinnerungen eines Alten. Aus den Anfängen der oberösterreichischen Arbeiterbewegung, Linz 1911. 73 Dazu zählen die erwähnten Arbeiten von Slapnicka. 74 Wilhelm Rausch/Max Lotteraner, Aufbruch in eine bessere Zeit. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich 1920 bis 1980, Linz 1981. 75 Bearbeiter ist Hubert Hummer. 76 Diese Arbeit zu Wels und Steyr unternimmt Reinhard Kannonier. 77 Das Projekt steht unter der Leitung von Brigitte Perfahl.

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Eine besondere Situation ist in Niederösterreich festzustellen. Dieses am frühesten industrialisierte Bundesland hat bis heute keine einzige Arbeitergeschichte aufzuweisen, die dem gesamten Land gewidmet ist. Die klassischen Organisationsgeschichten sind auf Bezirks- oder Stadtebene angesiedelt78 oder Teilorganisationen, wie den Buchdrucker- und Schriftgießer-Vereinen79 oder den Konsumvereinen80, gewidmet. Als besonders gut aufgearbeitet kann in den letzten Jahren die Organisationsgeschichte in Wiener Neustadt gelten81. Niederösterreich ist aber auch jenes Bundesland, in dem die heute historische, damals aktuell sozialwissenschaftliche Studie über die Arbeitslosen von Marienthal82 angesiedelt ist. In den letzten Jahren entstand, ausgehend von Dissertationen an der Universität Wien, ein Projekt mit dem Titel Fabrikarbeiter auf dem Land 83, in dem in einer vor allem der englischen Arbeiterkulturforschung, aber auch den Ansätzen Zwahrs verpflichteten Arbeit der Versuch unternommen wird, am Beispiel von drei ausgewählten Regionen das Leben der niederösterreichischen Metallarbeiter darzustellen. Wien soll hier nur ganz kurz behandelt werden, denn im wesentlichen ist gesamte österreichische Arbeitergeschichtsschreibung mit Ausnahme der oben angeführten Arbeiten Wiener Regionalgeschichte. Dies entspricht dem Zentralismus der Bewegung und der tatsächlichen Dominanz der Hauptstadt. Die gesamte Austromarxismusforschung, alle kulturgeschichtlichen Bücher und Ausstellungen über die Sozialgeschichte und auch die Organisationsgeschichte sind auf Wien fixiert und meist auf diese Stadt beschränkt. Dennoch gibt es in der letzten Zeit Bemühungen, innerhalb Wiens verstärkt regionale Unterschiede herauszuarbeiten und mit einem für Österreich neuen wissenschaftlichen Instrumentarium zu Ergebnissen zu kommen, die selbst die Wiener Geschichte noch um unerwartete Aspekte bereichern können84. 78 Franz Lettner, Arbeiterbewegung im Bezirk Lilienfeld. Aus der Arbeiterbewegung im Traisental, Traisen [oJ.]. 79 Karl Höger, Aus eigener Kraft. Die Geschichte eines österreichischen Arbeitervereines seit fünfzig Jahren, Wien 1892. 80 Hans Herbst, Die Geschichte des ersten niederösterreichischen Arbeiter-Konsumvereins von 1864 bis 1919, Wien 1920. 81 Karl Flanner, Die Anfänge der Wiener Neustädter Arbeiterbewegung. 1865–68 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 1), Wien 1975  ; ders., Die Revolution von 1848 in Wiener Neustadt (= Materialien zur Arbeiterbewegung 8), Wien 1978  ; ders., Geschichte der Wiener Neustädter Gewerkschaftsbewegung bis 1888/89, Wiener Neustadt [oJ.]. 82 Maria Jahoda/Paul Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Leipzig 1933. 83 Wolfgang Maderthaner u.a., Fabriksarbeiter auf dem Land. Lebensweise, gesellschaftliche Erfahrung und politisches Verhalten am Beispiel niederösterreichischer Metallarbeiter, unveröffentlichtes Manuskript. 84 Siehe dazu die bereits zitierten Arbeiten von Josef Ehmer und Reinhard Sieder.

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8. Forschungslücken Für eine Arbeitergeschichte, die sich einerseits aus den Fesseln einer engen politikgeschichtlichen Darstellung zu befreien versucht und die Anregungen der Sozialgeschichte aufgreift, die sich anderseits bewußt um strukturgeschichtliche Sichtweisen bemüht und regionale Besonderheiten nicht nur in heimatkundlicher Tradition sammelt, sondern stets die nationale und internationale Entwicklung mitberücksichtigt, die drittens nicht nur moralisch-museal die soziale Lage der Unterschichten beschreibt, sondern in der Organisation das erfolgreiche (oder erfolgversprechende) Mittel zur Änderung dieser Lage erblickt, also parteiisch ist, die viertens die Arbeiterklasse nicht isoliert, sondern als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sieht und daher die anderen Klassen in der Darstellung ebenso berücksichtigt, also eine gesellschaftsgeschichtliche Konzeption versucht, und die fünftens regionale Entwicklungen nicht hierarchisch aus den zentralen Entwicklungen ableitet, sondern das Verhältnis von »Provinz« und »Metropole« dialektisch erfassen möchte, bietet sich ein unüberschaubares Betätigungsfeld an. Über erste Ansätze, bei denen der theoretische Anspruch in der praktischen Durchführung aber kaum eingelöst wurde, ist die österreichische Historiographie bisher nicht hinausgekommen. Auf Jahre hinaus liegen in diesen Ansätzen noch Forschungsprojekte, Dissertationsthemen etc. in unbegrenzter Menge. Bei der Beschäftigung mit einem regionalgeschichtlichen Projekt, das schließlich zum Buch Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich85 führte, zeigte sich, in welch großem Ausmaß Bereiche nicht abgedeckt werden konnten, wie viele Fragen offenbleiben mußten, weil Regionalgeschichte doch noch Neuland ist, und zwar nicht nur in Österreich, sondern auch in der internationalen Entwicklung der Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung und -klasse. Das Hauptproblem, das sich bei dieser konkreten regionalgeschichtlichen Arbeit stellte, die ihre räumliche Abgrenzung nicht eng am homogenen Industriegebiet vornahm, sondern, nicht zuletzt einem legitimen Bedürfnis nach Darstellung der Geschichte von derzeit bestehenden Organisationen der Arbeiterklasse entsprechend, ein relativ großes Verwaltungsgebiet aufarbeitete, war die Tatsache, daß man einer Entwicklung voller Widersprüchlichkeiten gegenübersteht und daß diese Vielfalt oft nur schwer den Prozeß einer Vereinheitlichung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und mit der Voraussetzung für die Entwicklung einer Arbeiterbewegung erkennen läßt. Wenn die Fülle des vorhandenen Materials zu einer Selbstbeschränkung zwingt, so sieht der Historiker sich mit den Möglichkeiten einer weiteren räumlichen oder aber 85 Konrad, Entstehen.

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einer zeitlichen Einschränkung konfrontiert. Die von mir getroffene Beschränkung des Zeitraums entsprang dem Stand der Forschung um die Mitte der Siebzigerjahre. Sie erwies sich in letzter Konsequenz als nicht ganz glücklich, und der heute erkennbare Trend, kleinstmögliche geographische Räume und größtmögliche Zeiträume zu wählen, bietet sicher Vorteile. So wurde mit dem Buch der Arbeiterklasse in Oberösterreich der Forschungsgegenstand nur in Teilen, wie etwa der Organisationsgeschichte, wirklich abgedeckt. Aus den Lücken, die bei der Arbeit bleiben mußten, aber auch aus den Fragestellungen, die zusätzlich zu den im Buch aufgeworfenen noch möglich sind, sei hier ein kleiner »Forschungslückenkatalog« zusammengestellt, der vielleicht als Anregung für weitere Arbeiten (nicht nur zur Geschichte der Arbeiter des Landes Oberösterreich) dienen kann, aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. a) Im Rahmen einer so großen Verwaltungseinheit wie der eines österreichischen Kronlandes spielt sich der Prozeß der Herausbildung industrieller Zentren und des Zurückbleibens anderer Regionen gemeinsam ab. Die Herausbildung von Steyr als Metropole der metallverarbeitenden Industrie ist unmittelbar mit dem Niedergang der Kleineisenindustrie des Alpenvorlandes verbunden. Die Etablierung des Raumes Linz-Traun als oberösterreichisches Zentrum der Textilindustrie ging zu Lasten der Mühlviertler Weber. Der Industrialisierungsverlauf war von unterschiedlicher Dynamik, die Struktur des gesamten Landes veränderte sich. Da der Industrialisierungsverlauf des Landes exakt aufgearbeitet ist86, könnte nunmehr an einen Vergleich der unterschiedlichen Industrialisierungsmuster in ihren Auswirkungen auf die Situation am Arbeitsplatz herangegangen werden. Dabei wären sowohl Vergleiche zwischen unterschiedlichen Branchen, als auch Vergleiche zwischen Betrieben der gleichen Branche in unterschiedlichen Regionen und schließlich Vergleiche zu den zeitgleich existierenden vorindustriellen Betrieben von Interesse. Die Arbeitszeit, ihre Normiertheit, die Arbeitsintensität und die Muster der Arbeitsteilung bilden dabei einen Bereich, der unterschiedlich schwierig zu erschließen ist. Arbeitszeit ist gut dokumentiert und leicht faßbar, Fragen der Arbeitsintensität benötigen aber auch Zugänge aus der Technikgeschichte und über »subjektives« Material (Erinnerungen, Arbeiterautobiographien, Konfliktberichten in der Presse etc.). Einen weiteren Bereich bilden die Löhne, die in ihrer großen Abstufung nach Branchen, aber auch in ihrer innerbetrieblichen Differenzierung quellenmäßig leicht erschließ86 Rudolf Kropf, Oberösterreichs Industrie (1873–1938). Ökonomisch-strukturelle Aspekte einer regionalen Industrieentwicklung (= Linzer Schriften zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3), Linz 1981.

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bar sind und wichtige Aufschlüsse über die erstaunlich große innere Differenzierung schon der frühen Arbeiterklasse bieten können. Löhne haben aber nur im Zusammenhang mit den Reproduktionsbedingungen und -kosten (siehe unten) einen echten Erklärungswert. Branchen- und regionsspezifische Frauen- und Kinderarbeit, Fragen der Fabriksordnungen, der innerbetrieblichen sozialen Sicherungssysteme, der Hygiene, der Arbeitsunfälle, der Entlassungs- und Einstellungsmodalitäten, der Berufskrankheiten etc. bilden im Bereich der Situation am Arbeitsplatz ein schier unerschöpfliches Reservoir für Fragestellungen, die über die Sozialgeschichte im engeren Sinn hinausführen können. Außerwissenschaftlich sind sie vor allem im Bereich der alternativen Betriebsgeschichte aufzugreifen, wofür es eindrucksvolle Beispiele gibt87. b) In unmittelbarem Zusammenhang mit den Fragestellungen von Industrialisierung und Arbeitsplatz ist das Problemfeld der Rekrutierungsmuster der Arbeiterklasse zu sehen. Besonders in der Epoche der sozialen Konstituierung der Arbeiterklasse ist dies ein lohnendes Forschungsgebiet, wobei es solche Konstituierungsprozesse zeitverschoben seit der Industrialisierung ständig gibt. So bieten sich etwa in Oberösterreich die Phase der Gründerzeit im 19. Jahrhundert und der Industrialisierungsschub am Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft als gleichwertige Forschungsfelder an, an die mit ähnlichen Fragestellungen herangegangen werden könnte und die vielleicht sogar einen direkten Vergleich ermöglichen. Für das 19. Jahrhundert läßt sich global sagen, daß sich die Arbeiterklasse aus einer ländlichen und gewerblichen Überschußbevölkerung herleitet. Für Oberösterreich ist es etwa typisch, daß durch den relativ langsamen Verlauf der Industrialisierung die Fabriken des 19. Jahrhunderts nicht in der Lage waren, diese großen Bevölkerungsüberschüsse zu absorbieren. In absoluten Zahlen überwogen die »Armen« (als Sammelbezeichnung für alle jene, die nie in ihrem Leben einen Arbeitsplatz hatten, im Gegensatz zu der Gruppe der »Arbeitslosen«, die des Arbeitsplatzes verlustig gegangen waren) im ganzen 19. Jahrhundert stets die Industriearbeiter, und die soziale Frage stellte sich als Frage des Bettelns, der Vagabondage und der Armenhäuser wesentlich massiver als die Frage industrieller Ausbeutung. Fragen nach konkreten regionalen Ursachen des Bevölkerungswachstums sind in diesem Zusammenhang ebenso wie Fragen des Verhältnisses von Arbeitern zu Armen von Interesse. Unter denen, die Arbeit fanden, dominierten zwei Gruppen. In gewissen Regionen mit absteigendem Gewerbe und solchen neuen Betrieben, die relativ qualifizierte Arbeitskräfte verlangten (Steyr als Beispiel), überwog der alte Gesellenstand mit seinen 87 Sven Lindquist, Grabe-wo-du-stehst.

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langen vorindustriellen Traditionen der kollektiven sozialen Sicherung und Konflikt­ austragung. In den neuen Zentren der Textilindustrie, der Papierindustrie oder der Lebens- und Genußmittelproduktion dominierte der Zuzug aus dem ehemals ländlichen Bereich. Hartmut Zwahr unterscheidet »drei Grundformen der Herauslösung aus der agrarischen beziehungsweise dorfgewerblichen Produktion  : 1. die Abwanderung mit den Eltern, 2. die Abwanderung aus dem Gesinde- oder Gesellenverhältnis, 3. die Abwanderung von Arbeiter- und Bauernsöhnen nach der Entlassung aus dem Militär«88. Da der dritte Punkt natürlich von den politischen Rahmenbedingungen (siehe unten) abhängig ist, dürfte in Österreich wohl die zweite Form dominant gewesen sein. Genauere regionale Analysen könnten hier nützlich sein, hinter dem Terminus »Landflucht« verbergen sich bis heute unterschiedlichste historische Sachverhalte. Zweifellos tragen die Zuwanderer vom Land andere Wertvorstellungen, Mentalitäten und Verhaltensnormen in die sich konstituierende Arbeiterklasse als die ehemaligen Handwerker. Manche bleiben zudem auf lange Zeit zumindest teilweise im ländlichen Bereich verwurzelt, sind Pendler, Nebenerwerbsbauern etc. und erleben als konkrete Personen in Geschichte und Gegenwart die Bruchlinie zwischen Gruppen mit ganz unterschiedlichen Normen an sich selbst, sie sind »heimatlos« und pendeln nicht nur räumlich, sondern auch in ihrem Bewußtsein. Historische »Pendlerforschung« könnte zweifellos, speziell für Oberösterreich, auch von politischer Gegenwartsrelevanz sein. c) Trotz der unbestreitbaren Existenz von Pendlern war die Phase der Industrialisierung mit einem großen Urbanisierungsschub verbunden. Linz wuchs zwischen 1857 und 1880 um 50,9%, Steyr gar um 60% in den Einwohnerzahlen89. Viele Städte sind bis heute im Stadtbild von dieser Zeit geprägt. »Cities do not grow  : they are built«90, schreibt Hoskins und betont die Bedeutung der visuellen Komponente auch in der Aufarbeitung der letzten hundert Jahre der Stadtgeschichte. Hier geschehen in der letzten Zeit doch einige bemerkenswerte regionalgeschichtliche Arbeiten91. Nur in den seltensten Fällen sind die Städte des Industriezeitalters Neugründungen, aber für das Wachstum einzelner Städte kommt der Industrialisierung zentrale Bedeutung zu. 88 Hartmut Zwahr, Zur Konstituierungsgeschichte der deutschen Arbeiterklasse, in  : ders. (Hg.), Die Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse von den dreißiger bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts (= Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft 1), Berlin 1981, 25. 89 Konrad, Entstehen, 32. 90 Hoskins, Fieldwork, 93. 91 So läuft seit einigen Jahren ein großes Projekt unter der Leitung von Karl R. Stadler und Peter Feldbauer mit dem Titel »Wohnen in Wien 1848–1938«. Daneben ist auf das Projekt »Arbeiterwohnen in Linz« zu verweisen, das von Brigitte Perfahl u.a. bearbeitet wird.

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In der deutschen Stadtgeschichtsforschung wurde der Versuch gemacht, Typen von Städten zu unterscheiden, die im Industriezeitalter Wachstumsschübe erfuhren. Peter Schöller unterscheidet etwa vier Typen  : »1. Kernbestimmte Bürgerstädte, die auf älterer gewerblicher Grundlage zum Standort moderner Industrien werden. Zum Beispiel Dortmund, Lüdenscheid, Iserlohn. 2. Zentralstädte, die vorwiegend durch die Vermehrung der Hoheits-, Verkehrs- und Dienstleistungsaufgaben der modernen industriellen Gesellschaft wachsen. Zum Beispiel München, Münster, Oldenburg. 3. Industriestädte, die durch kontinuierliche räumliche Konzentration und Verdichtung von Verarbeitungsbetrieben, Wohngebieten und verkehrsbezogenen Zentreneinrichtungen zu geschlossenen Stadträumen mit neuen Stadtkernen werden. Zum Beispiel Remscheid, Barmen, Gevelsberg. 4. Bergbauorte, die durch disperse Zechen- und Koloniebildung und wirtschaftliche und soziale Monostruktur bestimmt sind. Als Beispiele  : Castrop-Rauxel, Wanne-Eickel, Herne. Bei ihnen ist der Prozeß der inneren Stadtwerdung noch nicht abgeschlossen.«92

Es wäre sicherlich reizvoll, in Zusammenarbeit mit der Stadtgeschichtsforschung auch aus dem Blickwinkel der Arbeiter Städtebildungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts zu analysieren und dabei andere Fragestellungen, wie etwa Stadttyp und Arbeiterbewußtsein beziehungsweise Ausformungen von Arbeiterkultur, mit zu berücksichtigen. d) Der Verstädterungsprozeß deutet an, daß der Mobilitätsforschung für die Arbeitergeschichte eine Bedeutung zukommt, die bisher in Österreich nur teilweise erkannt wurde. Mobilität kann allerdings sowohl räumlich als auch sozial verstanden werden. Bei der räumlichen Mobilität stellt sich die Frage nach der Herkunftsregion, nach den Motiven der Wanderbewegung und nach der Struktur der Zuwanderer. Und besonders reizvoll wäre es, im Lichte der neueren skandinavischen93 und amerikanischen94 Forschungsergebnisse der Frage von Mobilität und politischem Bewußtsein nachzu92 Peter Schöller, Grundsätze der Städtebildung in Industriegebieten, in  : Helmut Jäger (Hg.) Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter (= Städteforschung A/5), Köln/Wien 1978, 103. 93 Elmar A. Terjesen, Sozialgeschichtliche Forschungen in Norwegen, in  : Helmut Konrad (Bearb.), Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (XVI. Linzer Konferenz 1980)  : Die internationale Gewerkschaftsbewegung zwischen den beiden Weltkriegen. Soziale Prozesse der Entwicklung der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert (Bibliographie, Historiographie, Methodologie) (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 15), Wien 1981. 94 Jürgen Kocka, Stadtgeschichte, Mobilität und Schichtung, in  : Archiv für Sozialgeschichte 18 (1978).

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gehen. Wie hat die »hohe Wanderungsmobilität besonders der unteren Bevölkerungsschichten die Protestbereitschaft, Militanz und Aktionsfähigkeit der Arbeiterschaft beeinflußt«95  ? Hat die Fluktuation die »Gefährlichkeit« und Aktionsbereitschaft der Arbeiter erhöht, da überwiegend nur, wie auch oberösterreichische Beispiele zeigen, eine bessergestellte, privilegierte Gruppe von Arbeitern rasch seßhaft wurde  ? Oder hat »gerade die hohe Wanderungsmobilität zur Entschärfung sozialer Spannungen«96 beigetragen, da Konflikte einfach durch (freiwillige oder erzwungene) Abwanderung abgeschwächt wurden  ? Wie wirkt sich die Wanderbewegung auf das Bewußtsein aus (siehe unten)  ? All diese Fragen sind für Österreich praktisch unbeantwortet.97 Mobilität, als sozialer Auf- beziehungsweise Abstieg verstanden, bietet ebenso lohnende Fragestellungen an. »Aufstiegsmobilität«, Übergänge aus dem Proletariat zu kleinbürgerlichen Berufs- und Tätigkeitsgruppen, die Erwartungshaltungen, vor allem für die Generation der Kinder, die sich am deutlichsten in der Wahl der Paten, teilweise auch in der Wahl der Ehepartner ausdrückt, ist allerdings, besonders im Gefolge der Arbeiten von Zwahr98, in Österreich von Josef Ehmer99 bereits erfolgreich untersucht worden. Dies hat schon weitere Projekte angeregt100, sodaß die soziale Mobilität im Gegensatz zur Wandermobilität kein Stiefkind der Forschung mehr ist. e) Regionalgeschichtliche Arbeiten zur Arbeiterklasse, die sich meist an Industrieorten orientieren werden, müssen unbedingt die Struktur des »Hinterlandes« in die Betrachtung einbeziehen. Zum einen ging meist der Industrialisierungsschub im Industrieort Hand in Hand mit sozialen Umschichtungsprozessen in der ganzen Region. Die Bauernbefreiung von 1848 stellte etwa eine wichtige Triebfeder der oberösterreichischen Entwicklung dar. Die infrastrukturelle Erschließung beziehungsweise Versorgung des Hinterlandes, die gesamte geographische Lage (Grenzen, Verkehrswege, Rohstoffe, Energie etc.), die Zahl der (verfügbaren) mobilen Menschen, Absatzmöglichkeiten, gewerbliche Traditionen und Facharbeiter, all diese Fragen und mehr stehen hinter konkreten Investitionsentscheidungen. Von zentraler Bedeutung sind hier aber auch die politischen Rahmenbedingungen. Sowohl für den Industrialisierungsverlauf als auch für die Möglichkeit einer Arbeiter 95 Ebd., 556.  96 Ebd.  97 Zwahr, Konstituierungsgeschichte, 15.  98 Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution (= Schriften des Zentralinstituts für Geschichte 56), Berlin 1978.  99 Ehmer, Familienstruktur. 100 Maderthaner, Fabriksarbeiter.

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klasse zur politischen Aktion, aber auch für die soziale Lage ist es nicht gleichgültig, ob ein Land konservativ oder liberal regiert wird, ob es ein allgemeines Wahlrecht gibt, wie groß der Einfluß der Kirche ist, ob es ein Berufsheer gibt etc. Die Arbeiterklasse und deren politische Organisationen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum, sondern stecken ihr Aktionsfeld in einer Umwelt ab, deren Charakter die Möglichkeiten und Arten der Aktionen wesentlich mitbestimmt. f ) Unter diesen Rahmenbedingungen ist die Rolle der Bourgeoisie für die Arbeiterklasse am bedeutendsten, wenn man anerkennt, daß »sich die Elemente beider Klassen in direkter Abhängigkeit vom Gestaltwandel des Kapitals und in Wechselwirkung mit ihm entwickeln«101 und die entscheidende Trennlinie der Industriegesellschaft eben zwischen diesen Klassen verläuft. »Kapital und Lohnarbeit sind zwei Seiten eines und desselben Verhältnisses. Die eine bedingt die andere«102, hatte Karl Marx formuliert. Tatsächlich kann man an der Frühgeschichte der Arbeiterklasse zeigen, wie unterschiedliche Typen von Unternehmern das Verhalten der Arbeiter in großen Bereichen mitbestimmen. Patriarchalische Unternehmer wie Krupp in Essen und Berndorf oder Werndl in Steyr können durch ihre Art der Unternehmensführung andere Formen der Loyalität erzeugen als die Textilbarone mit ihrer rücksichtslosen Ausbeutung. Die unmittelbare Klassenkampferfahrung, die »Feindbilder«, prägen das Bewußtsein, die Konfliktbereitschaft und Organisationsfähigkeit der Arbeiterklasse mit. Hier liegt noch ein weites, unbearbeitetes Feld für die vergleichende regionale Arbeitergeschichtsschreibung, die praktisch die gesamte Geschichte des Bürgertums mitschreiben kann und soll, um beide Seiten des Klassenkampfs zu zeigen und nicht nur immer die Arbeiterklasse in der Auseinandersetzung mit völlig imaginären Gegnern. g) Spätestens seit Helene Maimanns vor fünf Jahren erhobener Forderung, den Alltag als »Sockel und Material in der Geschichte«103 zu akzeptieren, hat sich die Geschichtsschreibung stärker der Beachtung der Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse zugewandt. Untersuchungen über die Arbeiterfamilie und über die Arbeiterfrau, über Arbeiterkindheit, Wohnen, Ernährung, Gesundheit, Freizeit, Sexualität, Kleidung, Wirtshaus, Altenversorgung usw. werden überall eingefordert, seltener aber geschrieben. 101 Zwahr, Konstituierungsgeschichte, 19. 102 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, in  : Marx-Engels-Werke, Bd. 6, Berlin 1956, 411. 103 Maimann, Bemerkungen, 606.

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Wirklich beachtenswerte Leistungen sind allerdings zu den Wohnverhältnissen von Arbeitern geschrieben worden oder sind eben im Entstehen104. Gerade hier zeigt sich die Bedeutung des visuellen Bereichs in der Geschichtswissenschaft, die schon erwähnt wurde. Der Vorwurf von Hoskins  : »Most academically-trained historians are completely blind to the existence and value of visual evidence. Visually speaking, they are still illiterate«105, stimmt für die Generation von österreichischen Arbeiterhistorikern, die sich der Wohnungsfrage widmen, heute nicht mehr. Einige wertvolle Arbeiten liegen inzwischen auch zur Frage der Lebensmittelpreise vor106, ein Teilbereich aus dem weiten Feld der Reproduktionskosten, das eine unbedingt notwendige Ergänzung zur Darstellung der Lohnentwicklung ist. Was kostete das Leben in der Stadt im Gegensatz zum Leben im halbagrarischen Bereich  ? (Die Beispiele reichen bis zum Jagdrecht im Revier des Unternehmers)107. Was bedeuteten Löhne im Wechsel der Jahreszeiten  ? Welche Rolle spielt die Arbeiterfrau im großstädtischen Bereich, welche in Regionen, wo Arbeiter kleine Gärten etc. besitzen  ? Alle diese Fragen lassen sich bei einer Geschichte der Lebensmittelpreise stellen und führen über die wirtschaftsgeschichtlichen Aspekte hinaus. Erfolgreiche Ansätze gibt es auch auf dem Gebiet der Erforschung der Arbeiterfamilie, wo im Rahmen eines großen Projektes zur historischen Familienforschung an der Universität Wien schon beachtliche Arbeiten zum 19. und 20. Jahrhundert vorliegen, wobei vor allem hier sich die ersten Erfolge der »oral history« abzuzeichnen beginnen108. Als Teilgebiet der Familienforschung kann die Beschäftigung mit Fragen des alten Menschen, in unserem Fall des alten Arbeiters, in der Geschichte betrachtet werden. Auch da gibt es abgeschlossene Arbeiten und laufende Projekte109. Das Betätigungsfeld ist aber auch hier praktisch unbegrenzt. Neben den drei genannten Gebieten (Wohnen, Löhne/Preise, Familie) erfreut sich nur noch die Arbeiterkultur im engeren Sinn eines starken Forschungsinteresses, und zwar

104 Michael John, Hausherrenmacht und Mieterelend. Wohnverhältnisse und Wohnerfahrung der Unterschichten in Wien 1890–1923 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 14), Wien 1983. Siehe auch die genannten Projekte von Stadler/Feldbauer und von Brigitte Perfahl. 105 Hoskins, Fieldwork, 183. 106 Roman Sandgruber, Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 15), Wien 1982. 107 Konrad, Entstehen, 45, 80. 108 Mitterauer/Sieder, Patriarchat. 109 Helmut Konrad (Hg.), Der alte Mensch in der Geschichte (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 11), Wien 1982. Ein Folgeprojekt ist bereits in Arbeit, in dem der »oral history« zentrale Bedeutung zukommen wird.

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von Arbeiterhistorikern110 und Volkskundlern111. Alle übrigen Gebiete des Reproduktionsbereiches sind im wesentlichen unbekanntes Land, die methodischen und quellenmäßigen Probleme lassen keine rasche Schließung dieser Forschungslücken erwarten. h) Selbst die Organisationsgeschichte der Arbeiterklasse ist keineswegs vollständig geschrieben, obwohl hier ohne Zweifel die größte Zahl von Arbeiten vorliegt und es nur noch um eine regionale Verfeinerung oder um neue Sichtweisen, nicht aber mehr um grundlegende Informationen geht. Eine exakte regionale Organisationsgeschichte kann aber durchaus als Korrektiv zu den großen Entwicklungslinien geschrieben werden. Das Verhältnis von Zentrale zu Region in seiner hierarchischen und dialektischen Komponente ist keineswegs noch erschöpfend aufgearbeitet. Und vor allem kann Organisationsgeschichte unter Mitberücksichtigung der unter a) bis g) genannten Gesichtspunkte neuen Stellenwert erhalten. Zudem gibt es noch immer kaum erschlossene Randgebiete der Organisationsgeschichte. Historische Konfliktforschung, von Gerhard Botz in einem Bereich schon bemerkenswert dargeboten112, könnte durch regionale Streikforschung, durch die Untersuchung des Verhältnisses spontaner und organisierter Elemente in regionalen Konflikten, durch die Fragestellung, ob Konflikte Organisation bilden oder Organisation Konflikte herbeiführt, entscheidend weitergetrieben werden. Eine der nächsten Tagungen der Linzer Konferenz der ITH wird dieser Thematik gewidmet sein. Wichtige Bereiche der regionalen Organisationsgeschichte können auch, wie unlängst Ernst Hanisch für Salzburg gezeigt hat113, durch historische Wahlforschung sinnvoll bearbeitet werden, die in ihrem Instrumentarium zwar den empirischen Wahlforschungen der Sozialwissenschaft von heute angenähert werden kann, die aber auch schon mit wesentlich einfacheren Methoden zu aufschlußreichen Erkenntnissen gelangt. i) Ideen- und Ideologiegeschichte, neben der Organisationsgeschichte wohl das Hauptbetätigungsfeld der bisherigen Arbeitergeschichtsschreibung, kann in der Regionalgeschichte ebenfalls neue Dimensionen erhalten. So ist zum Beispiel die Frage des »Ideologietransfers« kaum wirklich aufgearbeitet. Die Theorie der Arbeiterbewegung stammt aus den industriellen Metropolen und den Hochburgen der Bewegung. 110 Reinhard Kannonier, Zwischen Beethoven und Eisler. Zur Arbeitermusikbewegung in Österreich (= Materialien zur Arbeiterbewegung 19), Wien 1981. 111 Fielhauer/Bockhorn, Kultur. 112 Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1934, München 1976. 113 Hanisch, Regionale Zeitgeschichte, 52.

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Ihre Transferierung in andere Gebiete änderte oft den Sinngehalt oder, blieb sie unverändert, so stellte die Theorie meist eine unpassende Schablone dar, die auf die konkreten Probleme der Region nicht angewendet werden konnte. Besonders anregend sind Untersuchungen des Zusammenhangs von Wanderbewegungen von Arbeitern und dem Ideologietransfer. Am oberösterreichischen Beispiel konnte gezeigt werden, wie sich ein syndikalistischer Standpunkt, der sich unter großindustriellen Strukturen ausgebildet hatte, bei einer Verpflanzung des Trägers in ein kleingewerbliches Umfeld in gewalttätige Formen des Anarchismus wandeln mußte. Intellektuelle liefern die Theorie, aber was davon wird rezipiert  ? Wieviel Marxismus findet sich an der Basis der Bewegung  ? Warum war Lassalle so anziehend  ? Welche regionalen Besonderheiten begünstigen den Anarchismus  ? Wie stellt sich konkret das Verhältnis von Theorie und Praxis  ? Die regionale Ideengeschichte kann auch besser auf die Wurzeln von Denkmustern in der Arbeiterbewegung eingehen, die außerhalb der Theoriebildung der Arbeiterbewegung lagen. Wie steht es mit religiösen Traditionen  ? Welche nationalen Denkmuster liegen vor  ? Decken sich die beiden114  ? Wie entstehen nationale Vorurteile  ? Ist der Nationalismus primär »bürgerliche Ideologie«115  ? Wieviel kann die ökonomische Entwicklung tatsächlich von der Ideengeschichte erklären  ? Wie stellt sich die Dialektik zwischen ideologischen Grundmustern und Industrialisierungsverlauf dar  ? Welche Rolle spielte der Kulturkampf  ? Das Fragenfeld ließe sich noch beliebig erweitern. Dieser unvollständige Katalog von Problemkreisen, die in einer regionalen Arbeitergeschichte der Aufarbeitung harren, soll keinesfalls den Eindruck vermitteln, daß hier jeder Teildisziplin ein eigenes weites Forschungsfeld offenstehen soll. Ziel soll es vielmehr sein – und das war ja schließlich einer der Hauptgründe für die Hinwendung zur Regionalgeschichte – die Spezialisierung möglichst zu überwinden und eine gesellschaftsgeschichtliche Grundkonzeption zu verfolgen. An der Einlösung dieser zentralen Forderung sollte Regionalgeschichte in Hinkunft gemessen werden. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Arbeitergeschichte und Raum, in  : Helmut Konrad (Red.), Geschichte als demo­ kratischer Auftrag. Karl R. Stadler zum 70. Geburtstag, Wien/München/Zürich 1983, 37–75 ­(Europa Verlag). 114 Rudolf Grulich, Konfession und Nationalität, in  : Rainer S. Elkar (Hg.), Europas unruhige Regionen. Geschichtsbewußtsein und europäischer Regionalismus, Stuttgart 1981, 14. 115 Helmut Konrad, Der Nationalismus. Eine »bürgerliche« Ideologie  ? In  : Anton Pelinka (Hg.), Ideologien im Bezugsfeld von Geschichte und Gesellschaft (= Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 2), Innsbruck 1981, 217.

Österreichische Arbeiterbewegung und nationale Frage im 19. Jahrhundert (1988)

Für die österreichische Arbeiterbewegung gehört bis in die Gegenwart ihr Verhältnis zur nationalen Frage und damit zum Verständnis der österreichischen Nation zu jenen Problembereichen, in denen manches Detail tabuisiert ist. Das ist nur zu verständlich, wenn man bedenkt, wie groß in Österreich nach der Niederringung des Faschismus die Berührungsangst mit Ideologien sein mußte, die in der Geschichte unseres Landes zumindest teilweise die historische Katastrophe erst möglich gemacht hatten und wie sehr die Geschichte der Arbeiterbewegung in diesem Bereich Unrecht gegeben hatte. Dennoch ist es unbedingt notwendig, in verstärktem Ausmaß an die Aufarbeitung des Verhältnisses von Sozialismus und nationaler Frage zu gehen, speziell unter den österreichischen Sonderbedingungen des 19. Jahrhunderts, um einerseits in einer kritischen Analyse eine Korrektur am allzu glorifizierenden Geschichtsbild der Arbeiterbewegung anzubringen, um andererseits aber auch zu verdeutlichen, daß die postfaschistische Kritik in ihrer totalen Ablehnung des Nationalismus ahistorisch ist und somit der Situation der Arbeiterbewegung in der Habsburgermonarchie nicht gerecht werden kann. Der Nationalismus, historisch für den Großteil der österreichischen Bevölkerung gleichbedeutend mit dem Deutschnationalismus, gehört zu jenen Ideologien, die in der Geschichte einen ambivalenten Charakter aufwiesen, das heißt, daß der Nationalismus einerseits sowohl als emanzipatorische Bewegung begriffen werden konnte, als er andererseits auch totalitäre Herrschaftsformen notwendigerweise begünstigte.1 In den Jahrzehnten vor der Großen Depression des vorigen Jahrhunderts, bevor der Imperialismus die politische Landschaft gründlich veränderte, überwog unzweifelhaft die emanzipatorische, fortschrittliche Komponente des Nationalismus, der hier mit dem Liberalismus praktisch zusammenfiel. Damals war nicht abzusehen, daß derselbe Nationalismus ein halbes Jahrhundert später die Rechtfertigungsideologie der ausgeprägtesten antiliberalen Politik bilden sollte. Am Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schien daher für die Arbeiterbewegung kein Anlaß gegeben, den Nationalismus einer wirklich gründlichen Analyse zu unterziehen und die Kritik an ihm 1

Hans Mommsen/Albrecht Martiny, Nationalismus, Nationalitätenfrage, in  : Claus D. Kernig (Hg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Bd. 4, Freiburg/ Basel/Wien 1971, 623–695.

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wissenschaftlich zu untermauern. Daß Karl Marx und Friedrich Engels keine »marxistische« Theorie der Nation und des Nationalismus hinterlassen haben, ist daher wohl auf den Umstand zurückzuführen, daß sich diese Frage zumindest zu Lebzeiten von Marx nicht als zentrales Problem aufdrängte. Dennoch ist auffällig, daß Marx und Engels in der Behandlung der nationalen Frage ihre eigenen Methoden sehr vereinfacht und mechanistisch angewandt haben. Einerseits zeigt sich in ihren Arbeiten eine starke idealistische Tradition, indem sie »in liberaler Fortschrittsgläubigkeit die Schaffung großer Wirtschaftsräume begrüßten«2, die möglichst homogen in der Sprache sein sollten. Andererseits beharrten sie eindeutig auf dem Primat der sozialen vor der nationalen Frage und betonten, daß sich die nationale Frage nach der Lösung der Klassengegensätze gleichsam »von selbst« lösen würde. »Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden lassen«3, schrieben sie in ihrem populärsten Werk, dem Manifest der Kommunistischen Partei, und boten damit sicher keine Anleitung für ein praktisches politisches Agieren, sondern eher Argumente für eine Nichtbehandlung und Vertagung der nationalen Frage. Auch das, was Marx und Engels zu Österreich zu sagen hatten, wo die Situation des Vielvölkerstaates die nationale Frage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Existenzfrage machte, bot wenig Handlungsanleitung oder auch nur Orientierungshilfe für die junge Arbeiterbewegung. 1848 schrieb Engels voller Hohn  : »Die buntscheckige zusammenererbte und zusammengestohlene österreichische Monarchie, dieser organisierte Wirrwarr von zehn Sprachen und Nationen, dieses planlose Kompositum der widersprechendsten Sitten und Gesetze, fängt endlich an, auseinanderzufallen.«4 Doch die konkreten Ereignisse des Jahres 1848, als die Monarchie der Habsburger mehr Härte und Überlebensfähigkeit gezeigt, als Engels ihr zugemutet hatte, als sich insbesondere einzelne Nationalitäten von der Reaktion zur Niederschlagung der Befreiungsbewegungen mißbrauchen ließen, beeinflußte Engels Meinung entscheidend.

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Helmut Konrad, Nationale Frage und Arbeiterbewegung in Österreich um die Jahrhundertwende, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 6/2 (1977), 195. Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1956, 479. MEW, Bd. 4, 504.

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Er entwickelte nunmehr die bereits oft kritisierte5 Theorie der »geschichtslosen« Völker, in der er die Unterdrückung »barbarischer« Nationen durch die »Zivilisation« im Namen des Fortschritts rechtfertigte. Er lieferte hiermit Argumente, die im weiteren Verlauf der österreichischen Geschichte (und nicht nur der österreichischen) oftmals in verhängnisvoller Weise verwendet werden konnten. Bis zu seinem Tode ließ er diese Äußerungen unkorrigiert. Zwangsläufig mußten in der Geschichte der internationalistische Anspruch der Arbeiterbewegung und nationales Denken in Konflikt geraten. Im ersten Jahrzehnt des Bestehens von Organisationen der Arbeiterbewegung in Österreich, also in der Zeit nach 18676, schien aber der Nationalismus ausschließlich eine Sache des Bürgertums und des Adels zu sein. Die Arbeiter betonten bei all ihren Versammlungen, »den nationalen Stolz der Abstammung«7 dem Adel überlassen zu wollen und führten in ihrem ersten programmatischen Dokument im Jahre 1868 aus  : »Wer das arbeitende Volk für die Aufwärmung abgetaner Nationalitäts-Sonderzustände benützen will, der sucht es zu verhindern, seine Befreiung zu vollziehen. Die Zeit der NationalitätenAbsonderung ist vorüber, das Nationalitätenprinzip steht heute nur auf der Tagesordnung der Reaktionäre.«8 Vor so geballtem »naiven Kosmopolitismus«9 mußte sogar der massive preußisch-­ zentrierte Deutschnationalismus des ansonsten in der österreichischen Arbeiterbewegung hochverehrten Ferdinand Lassalle zurückstecken. Lassalle, der dezidiert für eine Zerstückelung der Habsburgermonarchie eintrat und deren Gebiete mit deutschsprechender Bevölkerung als Provinzen eines zukünftigen Deutschen Reiches sehen wollte10, stieß in diesem Punkt bei den Österreichern auf Unverständnis, ein Schicksal, das auch seinem Nachfolger Johann Baptist von Schweitzer nicht erspart blieb.11   5 Siehe etwa  : Roman Rosdolsky, Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der ›geschichtslosen‹ Völker (Die Nationalitätenfrage in der Revolution 1848–49 im Lichte der »Neuen Rheinischen Zeitung«), in  : Archiv für Sozialgeschichte 4 (1964), 87–282. Ausführlich ist das Problem auch dargestellt bei  : Ernst Hanisch, Der kranke Mann an der Donau. Marx und Engels über Österreich, Wien 1978.   6 In diesem Jahr wurde in Österreich das Vereinsgesetz beschlossen und es kam zur ­Konstituierung der ersten Arbeiterbildungsvereine.   7 Ludwig Brügel, Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, Bd. 1, Wien 1922, 92.   8 Manifest an das arbeitende Volk in Österreich, 1868. In  : Klaus Berchtold (Hg.), ­Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1967, 110.   9 Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, 304. 10 Ferdinand Lassalle, Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens, in  : Eduard Bernstein (Hg.), Ferdinand Lassalles Reden und Schriften. Neue Gesamt-Ausgabe, Bd. 1, Berlin 1897, 325. 11 Vgl. Helmut Konrad, Nationalismus und Internationalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 4), Wien 1976, 21 ff.

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Dennoch galt es damals als selbstverständlich, daß sich die österreichische Arbeiterbewegung, die durch das unterschiedliche Tempo der Industrialisierung in den einzelnen Gebieten der Monarchie eine deutschsprachige Bewegung mit tschechischen Teilen war, an der größeren und fortgeschritteneren Bruderpartei in den deutschen Staaten orientierte. Drei Jahre nach Königgrätz, wo alle Hoffnungen auf eine großdeutsche Lösung, also auf ein Deutschland mit Einbeziehung der Habsburgermonarchie, begraben werden mußten, wurde die österreichische Sozialdemokratie 1869 ohne interne Diskussion auf dem Parteitag von Eisenach zur Teilorganisation der deutschen Bewegung. Erst nach dem deutsch-französischen Krieg wurde von der Arbeiterbewegung die staatliche Trennung von Deutschland akzeptiert, allerdings für eine vorübergehende Erscheinung gehalten, wie es auch Friedrich Engels kurz vor seinem Tode noch einmal dezidiert betonte. Diese erste Anlehnung an Deutschland vollzog die österreichische Arbeiterbewegung einerseits keinesfalls unter den Auspizien eines preußischen Zentrismus, wie er von Lassalle vertreten wurde, andererseits aber auch nicht mit nationalistischen Argumenten allgemeinerer Art, sondern ganz einfach im vermeintlichen Sinn des Fortschritts. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schien die Schaffung großer, einheitlicher Wirtschaftsräume auf dem Programm zu stehen, für die man eine möglichst einfache Form der internen Kommunikation zu finden hatte. Der größtmögliche Wirtschaftsraum mit der einfachsten Kommunikationsform war für den wichtigsten Teil der österreichischen Arbeiterbewegung das Siedlungsgebiet deutschsprachiger Menschen in Europa. Hinter diesem Gedanken stand vorerst keine emotionale Bindung an die »Nation«, sondern die »rationale« Fortschrittsgläubigkeit in einer immensen Wachstumsphase des Kapitalismus auch in Österreich. Diese Denkweise bot allerdings die günstigsten Voraussetzungen für das Eindringen des Nationalismus in die Arbeiterklasse. Wie rational diese Argumente auch vorgetragen werden mochten, bei den nichtdeutschsprachigen Arbeitern mußte es Widerstände geben. Dabei boten sich insgesamt nicht ungünstige Voraussetzungen für eine Gesprächsbasis zwischen den Arbeitern der verschiedenen Sprachgruppen an. Obwohl in der Habsburgermonarchie über zehn Nationalitäten lebten, rekrutierte sich die Arbeiterklasse im wesentlichen nur aus Deutschen und Tschechen, ergänzt noch von Italienern und Slowenen. Zum Maßstab der nationalen Verständigungsbereitschaft und Toleranz wurde dabei das Verhältnis der Deutschen und der Tschechen zueinander, da den Slowenen zahlenmäßig keine sonderliche Bedeutung zukam und die Italiener meist in völlig isolierten Branchen tätig waren, in denen sie kaum mit Angehörigen anderer Nationalitäten Kontakt hatten. Das galt für die Ziegelwerke, die Saisonarbeitsplätze für Italiener in ländlichen Gebieten boten, und auch für den Straßen- und Eisenbahnbau, der die

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italienischen Arbeiter mit dem Baufortschritt mitziehen ließ und daher die Aufenthalte an einem Ort auf kurze Zeit beschränkte.12 Regionalgeschichtliche Studien über die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts bestätigen ganz eindeutig, daß es in dieser Phase einen Nationalismus unter den Arbeitern nicht gab, daß es vielmehr selbstverständlich zu sein schien, quer über die Sprachgrenzen hinweg für die gemeinsamen sozialen Anliegen zu kämpfen. Das Bild vom »privilegierten« deutschsprachigen Arbeiter und dem unterdrückten tschechischen Arbeiter ist zudem nur sehr differenziert aufrecht zu erhalten. Selbstverständlich bildeten in den Sudetengebieten die zuwandernden Tschechen die industrielle Reservearmee und lebten unter besonders drückenden Bedingungen. Wenn aber tschechische Arbeiter in andere Teile der Monarchie zogen, in denen der Industrialisierungsprozeß eben erst angelaufen war, bildeten sie mit ihrer industriellen Erfahrung meist die Gruppe der Vorarbeiter, die die deutschsprechenden Arbeiter der ersten Generation einzuschulen hatte. Viele Betriebe in Nieder- und Oberösterreich können dafür als Beleg angeführt werden, und zwar sowohl in der metallverarbeitenden Industrie als auch bei den Papierfabriken und in der Textilindustrie.13 Nationale und soziale Unterdrückung liefen also nicht zwangsläufig parallel, was bedeutete, daß selbst unter den Bedingungen der Habsburgermonarchie in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts kein autochthoner Nationalismus in der Arbeiterbewegung entstehen konnte. Die Entfaltung geschah erst später unter vornehmlich externen Einfluß. Das beste Beispiel, wie sicher die junge Arbeiterbewegung in den Siebzigerjahren die Problematik der nationalen Frage im Griff hatte und in welchem Ausmaß der naive Kosmopolitismus bereits einer fundierten Analyse weichen mußte, bietet das Neudörfler Programm aus dem Jahre 1874, nicht zu Unrecht oft als die eigentliche Geburtsurkunde der österreichischen Sozialdemokratie bezeichnet. Dem Parteitag von Neudörfl war ein heftiger innerorganisatorischer Konflikt vorausgegangen, in dem die Anhänger eines Kurses der Anlehnung an das liberale Bürgertum gegen den marxistischen Flügel der Bewegung unterlegen waren. An der Spitze der neuen Führungsgarnitur der Partei stand Andreas Scheu, der sich bei der Programmgestaltung ziemlich genau an das Eisenacher Programm der deutschen Sozialdemokratie hielt, der aber gleichzeitig erkannte, daß eine eigenständige österreichische Partei auch eine Antwort auf die spezifische Situation in der Habsburgermonarchie geben mußte, die nun eben vom Zusammenleben verschiedener Natio­ 12 Zum Schicksal der Italiener siehe  : Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981, 367–370. 13 Ebd., 370 ff.

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nalitäten gekennzeichnet war. So kam es schließlich zu jenem Passus im Neudörfler Programm, der den wesentlichen Unterschied zum deutschen Vorbild ausmachte  : »In nationaler Beziehung stellt sie [die österreichische Arbeiterbewegung] das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz auf, erblickt aber in der nationalen Gliederung ihrer Genossen kein Hindernis ihres gemeinsamen Strebens nach materieller Befreiung, sondern erkennt im Gegenteil nur in einem brüderlichen Zusammenwirken, welches alle Arbeiterschaften gleich berechtigt und gleich verpflichtet, die einzige Bürgschaft eines Erfolges.«14

Mit diesem Absatz war in der österreichischen Arbeiterbewegung der bisher überhaupt nicht hinterfragte deutschsprachige Führungsanspruch gebrochen und die somit ins Leben gerufene Partei war »die erste internationalistische, gemeinsame Organisation der Arbeiter in einem multinationalen Staat.«15 Diese hoffnungsvollen Ansätze von Neudörfl, die sich nicht nur auf eine solidarische Bewältigung der nationalen Problematik beschränkten, wurden allerdings in den Folgejahren durch die wirtschaftliche Entwicklung in Österreich zerstört. Die Große Depression der Siebziger- und Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts machte den Neudörfler Parteitag zu einer Episode der Frühgeschichte der österreichischen Arbeiterbewegung und nicht zum Startsignal für den Aufstieg zu Massenorganisationen des Proletariats. Arbeitslosigkeit und verstärkter sozialer Druck führten zur organisatorischen Schwächung, die zudem durch persönlichen Differenzen in der Führungs­garnitur der Bewegung verstärkt wurden. Und als mit dem Sozialistengesetz Bis­marcks in Deutschland die ungleich mächtigere Vorbildorganisation im Nachbarland mit einem Schlag in die Illegalität getrieben wurde, führte die Orientierungslosigkeit in Österreich zum Zerfall der Bewegung in Fraktionen, die einander heftig bekämpften. Ohne hier näher auf die oftmals schematische und verzerrte Darstellung der politischen Positionen näher eingehen zu können, muß doch, in Abweichung von der Standardliteratur, folgende Kurzcharakteristik geboten werden, um die Auswirkungen der Standpunkte auf die Beurteilung der nationalen Frage verstehen zu können  : Die »Gemäßigten« hielten im wesentlichen an den marxistischen Positionen des Neudörfler Programms fest, fügten ihm aber die Staatsauffassung Lassalles hinzu. Die Fraktion der »Radikalen« muß wohl unterteilt werden in eine größere Gruppe, die syndikalistische Positionen vertrat, und in einen kleinem, aktionistisch-terroristischen Flügel. Diese letzte Gruppierung 14 Berchtold, Parteiprogramme, 116. 15 Herbert Steiner, Der Neudörfler Parteitag und der Internationalismus, Referat, gehalten auf der Tagung der ITH in Neudörfl, 1974, 1.

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entstand vor allem dort, wo Syndikalisten durch Entlassung oder Ausweisung aus hochindustrialisierten Gebieten mit Groß­betrieben in Orte kamen, wo diese sozioökonomische Basis nicht vorhanden war. Dort degenerierte der Syndikalismus zum aktionistischen Individualismus, machte sich in terroristischen Handlungen Luft. Zweifellos zeigt uns die erste Hälfte der Achtzigerjahre eine eindeutige Dominanz der syndikalistischen Position. In der nationalen Frage tat sich diese Gruppe, wie auch deren anarchistischer Ableger, sehr leicht. Wer an der Vorstellung festhielt, den Klassengegensatz in einer einmaligen, kurz bevorstehenden Aktion aufheben zu können, der konnte leicht darauf bauen, daß sich die nationalen Gegensätze nach diesem Schritt gleichsam »von selbst« lösen würden. Die nationalen Gegensätze mußten daher nicht ausdiskutiert werden, über die Sprachgrenzen hinweg fand man sich in der gemeinsamen Aktion. Die Gemäßigten taten sich hier viel schwerer. Einerseits stellten sie sich auf eine langdauernde Umgestaltung der Gesellschaft ein, die es unbedingt notwendig machte, für die Dauer dieses Prozesses Übergangslösungen zu diskutieren. Andererseits schlossen sie sich an die Position an, die die in Zürich erscheinende Zeitschrift Sozialdemokratie vertrat. Diese Zeitschrift hatte Lassalles preußischen Zentrismus übernommen, nannte sich im Untertitel internationales Organ der Sozialdemokratie deutscher Zunge und trat ausdrücklich für eine vollständige Integration der deutschsprachigen Sozialdemokraten Österreichs in der deutschen Bewegung ein. Mit dieser Position konnten die Gemäßigten bei den slawischen Arbeitern Österreichs überhaupt nie Fuß fassen, und nur mühsam entstand in den Achtzigerjahren eine tschechische Fraktion der Gemäßigten, die allerdings ohne Rückhalt in Zürich zu ihrem Selbstverständnis finden mußte. In der Praxis bedeutete dies, daß in sprachlichen Mischgebieten (und die Industria­ lisierung hatte entschieden mehr sprachliche Mischgebiete entstehen lassen, als alle offiziellen Angaben aussagen) die radikale Fraktion national gemischt war, mit einem überproportionalen Anteil der jeweiligen Minderheit. Die Gemäßigten rekrutierten sich hingegen ausschließlich aus Arbeitern der Mehrheitsbevölkerung. Ganz deutlich kann dies etwa im Linz der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts gezeigt werden, in das viele tschechische Arbeiter zugezogen waren. Um 1885 konnte man eine sozialdemokratische Führungsgarnitur von 18 Personen feststellen, wobei sechs den Gemäßigten und zwölf den Radikalen (beider Fraktionen) zuzurechnen waren. Waren alle sechs Gemäßigten deutschsprachige Arbeiter, so gab es unter den zwölf Radikalen nicht weniger als fünf Tschechen, ein Anteil, der weit über dem Anteil der Tschechen in der Gesamtarbeiterschaft lag.16 16 Konrad, Entstehen, 234.

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Gegen Ende der Achtzigerjahre wurde es allerdings auch in Österreich spürbar, daß der Nationalismus im Zeitalter des Imperialismus eine neue Qualität erreicht hatte. »Nationalismus ist in seiner ersten Phase die Ideologie abhängiger Gesellschaften an der Pforte zur Moderne. Erst als auch abhängige Gesellschaften aufgeholt und ökonomisch wie politisch den Status von Metropolen erreicht hatten, wurde ihr Nationalismus zum Großmachtnationalismus und Chauvinismus.«17 Das galt besonders für den deutschen Nationalismus, der »bis in die frühen 1870er Jahre hinein ein Vehikel der gesellschaftlichen Modernisierung«18 in Richtung auf den bürgerlichen Einheitsstaat gewesen war und sich nun als aggressiv, militaristisch und chauvinistisch entpuppte. Der Imperialismus benötigte den Nationalismus als Rechtfertigungsideologie der eigenen Überlegenheit und damit der Unterdrückung anderer Völker. Daneben entstand, gleichsam als Reflex, auch eine emotionalere Form des Nationalismus bei den Völkern ohne Unterdrückungsmöglichkeit, also bei solchen, die Minderheiten in den europäischen Großstädten des 19. Jahrhunderts waren. Dieser neuen Form der Nationalismen hatte die österreichische Arbeiterbewegung wenig entgegenzusetzen. Deklamatorisch hielt sie an einem Internationalismus fest, der als Antithese zur tatsächlichen historischen Entwicklung an der Vorstellung der »Arbeiter ohne Vaterland« des Kommunistischen Manifestes festhielt. Die Schaffung der Zweiten Internationale und die Maifeiern sind ab 1890 deutlicher Ausdruck dieses Umstandes. Hinter der internationalistischen Fassade stand man aber der natio­ nalen Problematik hilfloser als je zuvor gegenüber. Die Arbeiter waren nationalen Parolen gegenüber nicht mehr so verschlossen wie noch vor zwei Jahrzehnten. In dieser Situation setzte Dr. Victor Adler den bedeutsamsten Schritt in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie  : den Hainfelder Parteitag als Einigungsparteitag zwischen den Fraktionen der Bewegung und als Startsignal für einen gigantischen organisatorischen Aufschwung. Neben dieser großen historischen Bedeutung verblaßt die mit diesem Parteitag geschaffene Verschärfung der nationalen Problematik, die erst zwei Jahrzehnte später ihre volle Sprengkraft zeigen sollte. An dieser Verschärfung waren zwei Personen maßgeblich beteiligt. Einerseits war dies Victor Adler selbst, andererseits Karl Kautsky, der, obwohl schon überwiegend in Deutschland tätig, als der Chefideologe der österreichischen Sozialdemokratie dieser Zeit angesprochen werden muß. Kautsky hatte schon seit 1875 Arbeiten zur nationalen Frage 17 Jochen Blaschke (Hg.), Handbuch der westeuropäischen Regionalbewegungen, Frankfurt am Main 1980, 13. 18 Heinrich August Winkler, Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 38), Göttingen 1979, 26.

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verfaßt und fühlte sich, nicht nur in diesem Bereich, als legitimer Sachwalter des Marxismus, den er allerdings gewaltig einengte und extrem mechanistisch interpretierte.19 Durch diese Erwartung der Revolutionsmechanik sah er in der Lösung der natio­ nalen Probleme zwangsläufig erst nach der großen Umwälzung. Nation wurde von Kautsky auf »Sprachnation« reduziert. Konflikte waren daher prinzipiell reine Überbauphänomene ohne grundlegende Bedeutung. Victor Adler griff diese Haltung nur zu gerne auf, bot sie ihm doch die Legitimation, die nationale Problematik aus der Diskussion um das Hainfelder Programm herauszuhalten, um so das Einigungswerk nicht zu gefährden. Er wußte zudem sehr gut, daß seine eigene Position in dieser Frage äußerst problematisch war. Seine deutschnationale Herkunft hatte ihn tief geprägt, und erst die Übernahme antisemitischer Grundsätze hatte ihn aus der Bewegung Schönerers vertrieben, in der er noch in den frühen Achtzigerjahren eine wesentliche Rolle gespielt hatte.20 Wie stark national Victor Adler dachte, zeigt ein Artikel von ihm in der Gleichheit, knapp zwei Jahre vor dem Hainfelder Parteitag  : »Auch die deutschen Arbeiter sind sich bewußt, was sie ihrem Volk als Deutsche schulden, und sie sind genötigt, den Kampf aufzunehmen, wenn die slawischen Genossen sie dazu zwingen, wenn in die proletarische Bewegung der Sprachenstreit getragen wird […]. Als Deutsche kann es uns sehr gleichgültig sein, ob die Tschechen deutsch lernen  ; als Sozialdemokraten müssen wir es geradezu wünschen  !«21

Berücksichtigt man diese persönlichen Voraussetzungen, so war ein Ausklammern der nationalen Frage auf dem Hainfelder Parteitag bestimmt nicht die schlechteste Lösung. Adlers Taktik lief darauf hinaus, jeweils ein zentrales Thema mit solcher Ausschließlichkeit in den Mittelpunkt zu rücken, daß alle andere Fragen als belanglos erscheinen mußten. Solche Themen, die alle begeisterten, waren erst das Einigungswerk und dann der Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Diese »Überlagerungstaktik« Adlers erreichte aber nur, daß unterschwellig die nationale Frage anwuchs, während die Bewegung die dringend notwendigen Antworten schuldig blieb. Während also die österreichische Arbeiterbewegung mit krampfhafter Ausschließlichkeit den Kampf um das Allgemeine Wahlrecht diskutierte (und auch führte) 19 Die grundlegendste Kritik findet sich bei  : Karl Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky, in  : Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 14 (1929), 179–279. 20 So war Adler einer der Autoren des »Linzer Programmes« der Deutschnationalen von 1882. 21 Die Gleichheit 1/4 (1887), 2.

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und am 1. Mai internationalistische Parolen zur Schau trug, vollzog sich unter der Oberfläche das Auseinanderbrechen der multinationalen Bewegung in ihre nationalen Bestandteile. Nur wenige Jahre war Adlers Taktik somit erfolgreich. Schon 1897 bestand »keine gemeinsame österreichische sozialdemokratische Partei mehr, sondern eine geeinigte Partei der österreichischen Sozialdemokratie, welche aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt ist«22, wie man am Parteitag im Gasthaus Wimberger in Wien konstatieren mußte. Die Tschechen hatten ihren Ablösungsprozeß vollzogen, der spätestens 1893 mit aller Kraft begonnen hatte, als man feststellte, wie viele tschechische Arbeiter zu den Jungtschechen überliefen, deren nationale Parolen dem Selbstverständnis dieser Arbeiter, sowohl sozial als auch national zu einer unterprivilegierten Gruppe zu gehören, obwohl dies nicht immer der Realität entsprach, entgegenkam. Für die tschechische Sozialdemokratie war somit eine nationale Föderalisierung der Gesamtpartei die einzige Chance, nicht ganz unterzugehen. Besonders tragisch war es aber, daß die nationalen Separationsbestrebungen auch vor der Gewerkschaftsbewegung nicht haltmachten. Ist die nationale Frage für eine politische Bewegung wie die Sozialdemokratie vor allem eine taktische und ideologische Frage, so ist sie für die Gewerkschaftsbewegung ein echtes Existenzproblem. Die nationale Spaltung der Partei kann sogar die Schlagkraft der Bewegung erhöhen (und hat sie manchmal erhöht), da die Propagandabedingungen wesentlich verbessert werden können. Eine Spaltung der Gewerkschaft in nationale Gruppen erschwert den Kampf in Fabriken mit national uneinheitlicher Arbeiterschaft und schwächt die Bewegung entscheidend. Das Dilemma der österreichischen Arbeiterbewegung in der Beurteilung speziell des tschechisch-deutschen Gewerkschaftskonfliktes bestand darin, daß für beide Standpunkte Argumente aufgeboten werden konnten, die mit einem marxistischen Interpretationsinstrumentarium unwiderlegbar waren. Die Tschechen forderten zu ihrer anerkannten selbständigen Sozialdemokratischen Partei eine selbständige Gewerkschaftsbewegung, da sie dem Grundsatz der Einheit von Partei und Gewerkschaft folgen wollten. Zudem ließen sich für einen solchen Standpunkt handfeste materielle Gründe anführen, da die wesentlich mitgliederstärkere und finanzkräftigere Gewerkschaftsorganisation das Rückgrat der Partei bildete. Die deutsche Gewerkschaftszentrale in Wien betonte den Grundsatz der Einheitlichkeit der gewerkschaftlichen Organisation in einem gemeinsamen Staats- bzw. Wirtschaftsgebiet, da sich der gewerkschaftliche Kampf quer über die nationalen 22 Verhandlungen des sechsten österreichischen Sozialdemokratischen Parteitages. Abgehalten zu Wien vom 6. bis einschließlich 12. Juni 1897 im Saale des Hotel Wimberger. Nach dem stenographischen Protokolle, Wien 1897, 125.

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Grenzen hinweg vollzog und auch in gemischtnationalen Betrieben nur eine einheitliche Organisation dem Unternehmer wirkungsvoll entgegentreten konnte.23 In den Führungsgremien von Partei und Gewerkschaft herrschte Ratlosigkeit. Sogar Karl Kautsky, der Cheftheoretiker, war mit seinem Latein am Ende. Am 5. August 1897 schrieb er an Victor Adler  : »Ebensowenig wie Ihr weiß ich ein Programm für den österreichischen Sprachkampf […]. Die naturgemäße Lösung wäre der Zerfall Österreichs resp. die Loslösung der Deutschen von Österreich. Das bedeutet aber eine Revolution, deren die Bourgeoisie nicht mehr fähig ist. Ihr werdet Euch also durch die nationalen Kämpfe weiter fortfretten müssen. Zum Glück sind unsere Gegner so dumm, daß sie Euch immer noch genug zu tun geben.«24

Trotz dieser Entwicklung in den eigenen Reihen muß aber doch festgestellt werden, daß die Sozialdemokratie in der Habsburgermonarchie die einzige Partei mit einem Vertretungsanspruch für alle Nationalitäten des Staatsgebildes war. Sie war damit, so paradox es klingen mag, neben dem Herrscherhaus die stärkste staatserhaltende Kraft in diesen Jahren extremer zentrifugaler Tendenzen. Die oft zitierte Bezeichnung der »k. k. Sozialdemokratie« ist also durchaus nicht nur Kritik an einer gewissen Verbürgerlichung der Bewegung, sondern auch treffende Illustration für die Situation, in der sich in diesen letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine in ihrem Selbstverständnis noch durchaus revolutionäre Partei befand. Deutlicher Ausdruck dieser Zwiespältigkeit ist das Brünner Programm von 1899, in dem die Sozialdemokratie erstmals nach einer Lösung der Nationalitätenfrage suchte. Es gab heftige Diskussionen, ob dem Territorialprinzip, wie es die Gesamt­ exekutive der Partei vorschlug, oder dem Personalitätsprinzip, das vor allem von den Südslawen vertreten wurde, der Vorzug gegeben werden sollte. Der Standpunkt der Exekutive setzte sich schließlich durch, nicht zuletzt deshalb, weil die Tschechen, selbst in interne Diskussionen verstrickt, keine klare Position bezogen. Das Brünner Programm wird als nationaler Lösungsvorschlag meist weit überschätzt, galten die Formulierungen doch nicht der Organisation der Partei sondern der des Staates. Es brachte die »Aussöhnung der Arbeiterschaft mit der Reichsidee«25 und damit das 23 Konrad, Nationalismus, 208. 24 Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky sowie Briefe von und an Ignaz Auer, Eduard Bernstein, Adolf Braun, Heinrich Dietz, Friedrich Ebert, Wilhelm Liebknecht, Hermann Müller und Paul Singer. Gesammelt und erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954, 236. 25 Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918 (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Ost 4), Bd. 2, 2. erweit. Auflage, Graz/Wien/Köln 1964, 162.

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Entstehen der vielgelästerten »k. k. Sozialdemokratie«. Aber gerade hierin liegt die Bedeutung dieses Programms. »Das Brünner Nationalitätenprogramm stellte sich auf den Boden der gegebenen staatlichen Verhältnisse, erkannte also den Bestand der habsburgischen Monarchie als solchen an. Eine Zerschlagung Österreichs lag nicht nur außerhalb des Möglichen, sondern auch – nach sozialdemokratischer Auffassung – des Wünschenswerten. Allgemein stimmte man in der Überzeugung überein, daß die Beibehaltung eines großen Wirtschaftsgebietes im Interesse der Arbeiterschaft lag.«26

Unter diesen Aspekten kann man sicher akzeptieren, daß »die Bedeutung des Brünner Programms viel weniger in konkreten Lösungsvorschlägen als in der Bejahung des Reiches an sich«27 lag. Hinter dem Brünner Programm stand eindeutig noch Karl Kautsky, der, obwohl persönlich nicht anwesend, mit seinem sprachlich-kulturellen Nationsverständnis die Sozialdemokratie bis zur Jahrhundertwende entscheidend formte. Es war diese Grundhaltung, die trotz aller Akzeptierung des Vielvölkerstaates den deutschsprechenden Arbeitern keine andere Möglichkeit ließ, als sich als »Deutsche« zu fühlen und als solche den slawischen Genossen entgegenzutreten. Dazu kam, daß die Arbeiterbewegung, vor allem in der deutschsprachigen »Provinz«, unter großem Einfluß der alten liberalen und deutschnationalen Tradition der Männer von 1848 stand. Manchmal scherzhaft »Lehrersozialismus« genannt, entwickelte sich diese provinzielle Arbeiterbewegung unter dem Dreigestirn des Antiklerikalismus, des Deutschnationalismus und des sozialen Engagements. Die Frage, ob eher die deutschsprachige Führungsgarnitur oder die deutschsprachige Basis deutschnationales Gedankengut vertrat, ist somit nicht eindeutig zu beantworten. Es gab ausgeprägt deutschnationale Funktionäre, wie etwa Victor Adler und ganz besonders den Gewerkschaftsführer Anton Hueber, ein Musterbeispiel an nationaler Intoleranz, aber der Deutschnationalismus war tief auch in der Basis selbst verwurzelt. Ohne diese Tatsache wären die Ereignisse von 1914 sicher nicht interpretierbar. Unter diesen Auspizien fanden sich im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts einige junge Männer zusammen, die man später als »Austromarxisten« bezeichnen 26 Hans Mommsen, Nationalitätenfrage und Arbeiterbewegung (= Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, Trier 6), Trier 1971, 35. 27 Robert A. Kann, Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in  : Helmut Rumpler (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 2  : Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, 36.

Österreichische Arbeiterbewegung und nationale Frage im 19. Jahrhundert

sollte, und machten sich an eine gründliche theoretische Aufarbeitung des gesamten Problemkreises. Nicht zufällig war 1907 das Geburtsjahr des Austromarxismus. Einerseits war nun, nach der Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechtes, Victor Adlers Überlagerungstaktik endgültig gescheitert, andererseits hatte Karl Kautsky auf weiteren Einfluß in der österreichischen Arbeiterbewegung verzichtet. Die junge Garde wollte nun mit dem Instrumentarium des Marxismus an die Lösung der spezifischen österreichischen Probleme herangehen  : »Jedes Proletariat entwickelt seine besonderen Tugenden kraft der Natur seiner Aufgabe. Wurden die Deutschen als Kinder des Volkes der Dichter und Denker die Lehrmeister der Theorie, die Engländer die Vorbilder der gewerkschaftlichen Organisation, die Belgier die Meister der revolutionären und parlamentarischen Taktik, die Russen endlich bewunderte Vorbilder persönlicher Kampf- und Opfermuts – die ausgleichende Tendenz des Kapitalismus hat übrigens in der jüngsten Zeit auch den Austausch, die Verallgemeinerung und Ergänzung dieser Vorzüge bewirkt – so blieb uns Österreichern eine Besonderheit vorbehalten. Wir hatten und haben vor allem die schwere Aufgabe, den Gedanken der Internationalität in die lebendige Wirklichkeit zu übersetzen. Wir können es nicht anders als im Kampfe, wir wundern uns darüber nicht, daß uns keine fertige Lösung in den Schoß fällt, wir verzagen nicht, weil wir einander abringen, was zum Schlüsse der Vorteil aller sein wird. Konnten wir, die Schüler des historischen Materialismus, es anders erwarten  ?«28

Mit diesen Grundsätzen gingen Otto Bauer, Karl Renner und andere an die nationale Frage heran, Renner eher als Staatstheoretiker, der in der Tradition von Lassalle und der liberalen 1848er zu begreifen ist, Bauer als geschulter und kreativer Marxist. Beide lieferten aufsehenerregende Arbeiten zur nationalen Frage, in denen sie die Monarchie als reale Grundlage ihrer Überlegungen akzeptierten, ohne allerdings frei von deutschnationalen Emotionen zu sein, die sich ja auch nach 1918 noch auswirken sollten. Bauer überwand Kautskys engen Begriff der Staatsnation und begann, die Nation auch als historische und ökonomische Kategorie zu akzeptieren, ohne allerdings zu erkennen, wie groß der Unterschied zwischen dem Nationalismus einer dominierenden und einer unterdrückten Nation in der historischen Realität tatsächlich ist. Den Blick für diesen Umstand hätte eine Analyse der Situation der Dritten Welt schärfen können, aber die blieb aus den Überlegungen der Austromarxisten weitgehend ausgeklammert. Das austromarxistische Bemühen um eine Klärung der nationalen Probleme kam für die Habsburgermonarchie jedenfalls zu spät und blieb für die Mehrheit der Par28 Der Kampf 1 (1907), 3.

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teimitglieder auch zu abstrakt. Nur sieben Jahre nach dem Beginn der austromarxistischen Bemühungen erfaßte der nationale Taumel bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Mehrzahl der Arbeiter und ließ nach der »Kleinen Internationale« in der Habsburgermonarchie auch die große Weltorganisation kläglich zerbrechen. Die Idee einer österreichischen Nation wurde aber auch im und nach dem Ersten Weltkrieg nicht geboren. Es bedurfte der Unmenschlichkeit des Faschismus, um in der österreichischen Arbeiterbewegung der deutschnationalen Grundtendenz den Boden zu entziehen und diese jahrzehntelange Denkstruktur durch ein Bekenntnis zur österreichischen Nation zu ersetzen. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Österreichische Arbeiterbewegung und nationale Frage im 19. Jahrhundert, in  : Wolfgang Maderthaner (Hg.), Sozialdemokratie und Habsburgerstaat (= Sozialistische Bibliothek 1/1), Wien 1988, 119–130 (Löcker Verlag).

Politische Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung 1889 (1991)

Ohne jeden Zweifel kam der österreichischen Sozialdemokratie als der politischen Organisationsform der Arbeiterklasse vor etwa einem Jahrhundert nicht mehr als die Bedeutung einer Splitterpartei zu, die in einem demokratischen Parteienspektrum noch eine zu vernachlässigende Größe gewesen wäre. Dennoch galt ihr schon Jahre vor dem Hainfelder Parteitag das volle Interesse der Behörden, was weniger dem politischen Weitblick der österreichischen Staatsorgane als vielmehr den internationalen Beispielen zuzuschreiben sein dürfte. Dem Beispiel der deutschen Behörden1 folgend gingen die österreichischen Sicherheitsbehörden in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts daran, jährlich gedruckte Berichte über die »sozialdemokratische und anarchistische Bewegung«2 im Umfang von etwa 30 bis 40 Seiten zu verfassen, die jeweils im Jänner oder Februar des Folgejahres vorlagen und auch die internationalen Verflechtungen im Auge hatten. Diese erstaunlich gehaltvolle Quelle (nach der übrigens unzitiert die sogenannten »klassischen« Darstellungen zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung geschrieben sind3) ist im wesentlichen ohne kurzfristige politisch-strategische Erwägungen verfaßt. Der oder die Verfasser sind um Sachlichkeit bemüht und dramatisieren nicht. Das gezeichnete Bild kann also als realistische Einschätzung gelten, wenn auch eine genaue Quellenkritik, wie sie bisher in einigen Einzelfällen möglich war,4 ganz deutlich zeigen kann, wo Fehler in den Berichten sind, deren Ursachen in erster Linie im eigenartigen Entstehungsprozeß dieser Berichte liegen. 1

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Zum deutschen Beispiel liegt bereits für die hier zu behandelnden Jahre eine Quellenedition vor  : Dieter Frikke/Rudolf Knaack (Bearb.), Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878–1913, Bd. 1  : 1878–1889 (= Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam 17), Weimar 1983. Die Österreicher begannen im Oktober 1882 mit einem kurzen, nur 11 Seiten umfassenden Bericht, der den Titel »Skizzierte Darstellung der sozialdemokratischen Bewegung in Österreich-Ungarn (September 1880 bis Oktober 1882)« trägt. 1890 war der Bericht auf 52 zweispaltige Seiten angewachsen. Ab 1886 tragen die Berichte den Titel  : »Die sozialdemokratische und anarchistische Bewegung im Jahre …«. Das Wort »anarchistisch« wurde erstmals im Bericht zum Jahr 1884 verwendet. Vor allem  : Ludwig Brügel, Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, 5 Bde., Wien 1922– 1925. Siehe die entsprechenden Abschnitte in  : Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981.

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Die Informationen in den Berichten stammen aus den bei den Statthaltereien gesammelten regelmäßigen Antworten der Bezirkshauptmannschaften auf einschlägige Umfragen. Die Bezirkshauptmänner verließen sich dabei auf die Berichte der lokalen Behörden. Auf allen Ebenen (Gemeinde, Bezirk, Kronland) ergab sich die Genauigkeit der Informationen aus einem Konfidentensystem, denn Angaben zumindest zum anarchistischen Teil der Arbeiterbewegung wären auf andere Weise kaum zu erhalten gewesen. Das System der Konfidenten konnte aber nur bei absoluter Vertraulichkeit funktionieren. Das bedeutete, daß der jeweilige Konfident auf der über- oder untergeordneten Dienststelle nicht als solcher bekannt war und daher als Mitglied der Arbeiterbewegung observiert wurde. Daraus ergaben sich die eigenartigsten Verzerrungen, deren markanteste (zumindest beim derzeitigen Stand der Forschung) hier kurz referiert werden soll  : Einer der wirkungsvollsten Konfidenten der Behörden, nicht nur für das Kronland Oberösterreich, war Ludwig Schrödl.5 Er war für einige Jahre, bis zu seinem Tod im Jahr 1888, die zentrale Persönlichkeit der oberösterreichischen Anarchisten. Durch das Ausnahmegesetz aus Gloggnitz vertrieben, war er mit der Reputation des politisch Verfolgten nach Linz gekommen, arbeitete aber praktisch vom ersten Tag an für die Statthalterei, wo zumindest wöchentlich ein genauer Bericht mit Mitgliedslisten, provokativen Vorhaben und exakten Diskussionsschilderungen aus der Feder Schrödls eintraf. Praktisch alle größeren Aktionen der oberösterreichischen Anarchisten waren für drei Jahre als gezielte Provokationen angelegt, um ein hartes Durchgreifen der Behörden zu rechtfertigen. Da aber nur der Statthalter selbst um Schrödls Doppelspiel wußte, wurde er auf der Bezirksebene genauest observiert und für besonders gefährlich gehalten. Besonders auffällig ist auch, daß sogar die Ablage der Konfidentenbriefe Schrödls von der Statthalterei getarnt durchgeführt wurde und sich im Archiv im Dossier bei den Liebesbriefen an die Mitglieder des Hauses Habsburg (wie sie aus dem Salzkammergut abgeschickt wurden) findet und nicht unter dem Material zur Arbeiterbewegung.6 Die Tarnung war so perfekt, daß Schrödl völlig unverdächtig war und erst 9 Jahrzehnte nach seinem Tod enttarnt werden konnte. Als etwa in Anarchistenkreisen bekannt wurde, daß die Polizei Mitgliedslisten der geheimen Verbände besaß (ein verliebter Mitarbeiter der Exekutive hatte die Tochter eines Anarchisten gewarnt), ein Verräter also in der Führungsgruppe vermutet werden mußte, galt nur Schrödl selbst allen als unverdächtig. Wie Dorfrichter Adam ermittelte er im Auftrag seiner 5 6

Ebd., 354–361. Oberösterreichisches Landesarchiv, Landesregierungsarchiv, Geheime Präsidialakten, Karton 187, Konfidentenbriefe von Ludwig Schrödl, Nr. 1–120.

Politische Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung 1889

Mitstreiter gegen sich selbst – nur mit mehr Geschick und großer Freude an jeder Intrige. In die zentralen Berichte flossen nun Schrödls Angaben (dessen Identität auch nach oben nicht gelüftet wurde, der seine Briefe mit falschem Namen zeichnete und, nach anfänglichen Fehlern, sich auch selbst immer in den eigenen Berichten als gefährlich anführte) und die Observierungsresultate der Bezirksbehörde ein. Der Polizeibericht nannte also mehrfach im guten Glauben seinen besten Mann als den gefährlichsten Gegner. Diese konkrete Kritik an der Quelle, die durch genaue regionale Forschung (und selbst hier letztlich durch einen Zufallsfund) möglich geworden ist, zeigt zwar deutlich die Problematik einer herrschaftsproduzierten Quelle, wenn es um soziale, gesellschaftsverändernde Bewegungen geht. Dennoch muß mit allem Nachdruck auf die Bedeutung dieser Quelle hingewiesen werden, die, dem deutschen Beispiel folgend, im Detail sogar genauer ansetzt als ihr Vorbild. Ihr Wert für die Forschung zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Nimmt man diese zentralen Informationen, die vor allem durch ihre Regelmäßigkeit und innere Systematik die Entwicklungslinien der achtziger Jahre sehr deutlich werden lassen, ergänzt sie durch ihr eigenes »Rohmaterial«, also die Berichte der Bezirkshauptmannschaften und die anderen regionalen Materialien, so kann man, unter Berücksichtigung der neueren Forschungsarbeiten zu einzelnen österreichischen Bundesländern7 zu relativ exakten Aussagen über die politischen Positionen aus der Frühgeschichte der österreichischen Arbeiterbewegung gelangen. Die Befunde von der »Basis« können somit die gehaltvolle Studie von Brigitte Kepplinger-Perfahl8 sinnvoll ergänzen. Was die soziale Zusammensetzung der Arbeiterpartei betrifft, so war sie nie vorher und auch niemals nachher eine so reine Klassenbewegung wie im Zeitraum von 1880 bis 1886. Das liberale Bürgertum, das bei den Bildungsvereinen9 und den Genossenschaften10 an der Wiege der Organisationen gestanden war, hatte sich in der Großen Depression politisch von der sozialen Frage abgewendet, die Intelligenz hingegen hatte   7 Darunter vor allem  : Karin M. Schmidlechner, Die steirischen Arbeiter im 19. Jahrhundert (= Materialien zur Arbeiterbewegung 30), Wien 1983.   8 Brigitte Perfahl, Marx oder Lassalle  ? Zur ideologischen Position der österreichischen Arbeiterbewegung 1869–1889 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 22), Wien 1982.   9 Siehe dazu das Grundlagenwerk von  : Gerhart Baron, Der Beginn. Die Anfänge der Arbeiterbildungs­ vereine in Oberösterreich, Linz 1971. 10 Franz Seibert, Die Konsumgenossenschaften in Österreich. Geschichte und Funktion (= Materialien zur Arbeiterbewegung 11), Wien 1978.

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noch nicht zur Bewegung gefunden. Das Bündnis von Intelligenz und Arbeiterbewegung blieb aber auch in den Folgejahren ein fast ausschließlich Wiener Phänomen, wenn man an die deutschsprachigen Teile der Habsburgermonarchie denkt. Am flachen Land hielten sich viel eher in einzelnen Randbereichen alte Liberale mit schwachem ökonomischen Hintergrund (z. B. Lehrer in den Gesangsvereinen der Arbeiter), wobei die alte Kulturkampftradition das Verbindungsglied darstellte (und bis heute darstellt). Der Charakter als Klassenpartei bedeutete aber nicht, daß die Arbeiterbewegung sozial oder gar politisch homogen war. Das unterschiedliche Industrialisierungstempo hatte ganz zeitverschoben die Großindustrie entstehen lassen, sodaß im Regelfall vor dem Hainfelder Parteitag noch die Handwerker in der Bewegung dominierten. Dieser Umstand kommt nicht nur in den Mitgliedslisten der lokalen Organisationen zum Ausdruck, sondern fand auch in der Zusammensetzung der Delegierten auf dem Hainfelder Parteitag seinen Niederschlag. Leider ist es nicht möglich, die genaue Zusammensetzung des Parteitages von Hainfeld festzustellen. Wir wissen nur die Zahl der Delegierten nach Kronländern und können den größten Teil der Namen über die im Protokoll angeführten Wortmeldungen erschließen. Die politischen Positionen sind genau zu verorten, nicht jedoch die Berufsgliederung der Delegierten. Betrachtet man das kleine Segment der fünf Delegierten aus Oberösterreich, so zeigt sich ein erstaunlicher Umstand  : Zwei Schuster, ein Schneider, ein Hafner und ein Holzarbeiter vertraten das Kronland mit einem der größten österreichischen Industriebetriebe, der Waffenfabrik in Steyr, mit den großen Textilfabriken und der modernen Papierindustrie. Sie kamen alle aus klassischen Handwerksbetrieben, die allerdings, wie man den Memoiren des Schneiders, des Linzers Anton Weiguny,11 einer der wichtigsten Personen am Parteitag, entnehmen kann, keinerlei Hoffnung auf einen beruflichen Aufstieg innerhalb des Betriebes mehr zuließen. Die Tatsache, daß 1888 die Arbeiter der Großbetriebe noch kein Interesse an den politischen Bemühungen der Arbeiterbewegung hatten, ist kein auf Oberösterreich beschränktes Phänomen. Für die Steiermark konstatiert Karin Schmidlechner,12 daß in der Organisation bei »Schustern, Tischlern und Schneidern«13die Erfolge groß waren, bei den Industriearbeitern hingegen nicht. Zu gegenteiligen Ergebnissen kommt hingegen die neue große Studie über Niederösterreich, die von Sylvia Hahn, Wolfgang Maderthaner und Gerald Sprengnagel unter der Projektleitung von Helmut 11 Anton Weiguny, Erinnerungen eines Alten. Aus den Anfängen der oberösterreichischen Arbeiterbewegung, Linz 1911. 12 Schmidlechner, Arbeiter. 13 Ebd., 330.

Politische Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung 1889

Konrad erstellt wurde.14 Hier wurde besonders unter den Feilenhauern von Furthof deutlich gemacht, daß im niederösterreichischen Alpenvorland die Industriearbeiter bereits die politisch prägende Gruppe waren. Die Differenz ist leicht erklärt. Der Konstituierungsprozeß der österreichischen Arbeiterklasse in der für unser Land so typischen Form des Industriedorfes mit einem einzigen, dominierenden Großbetrieb, dauert, wie Maderthaner, Hahn und Sprengnagel ganz schlüssig nachweisen, etwa bis zur dritten Generation nach der Betriebsgründung. Erst dann ist die Integration der meist weitgewanderten Facharbeiter in die Region sowie die ökonomische und emotionale Abnabelung der Nahwanderer, die das Gros der Hilfsarbeiter stellten, aus dem ländlichen Umfeld vollzogen. Etwa gleichzeitig war dann meist auch die patriarchalische Betriebsstruktur überwunden, anonyme Gesellschaften waren an die Stelle der mit dem Werk und den Arbeitern persönlich verbundenen (und von den Arbeitern verehrten) Gründerväter getreten. Das südliche Niederösterreich erlebte die Fabriksgründungen, wie etwa die der Lokomotivfabrik in Wiener Neustadt, aber auch die Feilenfabrik in Furthof, in der Zeit des Vormärz. Die Waffenfabrik in Steyr wuchs hingegen erst nach Königgrätz. Die Metallarbeiter von Steyr waren daher im Gegensatz zu den niederösterreichischen Kollegen 1888 noch nicht wirklich organisationsfähig. Sie bildeten aber schon wenige Jahre später eine der politischen Hochburgen der österreichischen Sozialdemokratie. Was die politischen Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung in diesen Jahren betrifft, so ist wohl immer noch die erwähnte Studie von Brigitte Kepplinger-Perfahl15 das wichtigste Hilfsmittel für die Beschreibung. Was an dieser Arbeit methodisch von Interesse ist, konnte bereits anläßlich des ersten bilateralen Symposiums DDR-Österreich vorgestellt werden.16 In ihrer quantifizierenden Analyse der österreichischen Arbeiterzeitungen jener Jahre kommt die Autorin zu dem bemerkenswerten Schluß, daß in Victor Adlers »Gleichheit« ideologische Diskussionen und Positionskämpfe weit zurücktreten hinter die Schilderung sozialer Mißstände. Dahinter stand das Bemühen, über das gemeinsame Feindbild die inneren Gegensätze zu überwinden. 14 Leider liegt zum Projekt »Der niederösterreichische Metallarbeiter im 19. Jahrhundert« trotz mehrfacher Ankündigung die Publikation zum Zeitpunkt des Abfassens dieses Artikels noch nicht vor. 15 Perfahl, Marx. 16 Helmut Konrad, Das Eindringen des Marxismus in die österreichische Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, in  : Jutta Seidel (Red.), Internationale Stellung und internationale Beziehungen der deutschen Sozialdemokratie. 1871–1900. Unter besonderer Berücksichtigung ihrer Zusammenarbeit mit der österreichischen Arbeiterbewegung. Protokoll des 1. Bilateralen Symposiums von Historikern der DDR und der Republik Österreich veranstaltet von der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, 28./29. Mai 1980, Leipzig 1981.

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Dieser Prozeß der Einigung, der Beendigung eines jahrelangen, heftigen Fraktionskampfes, lief mit unglaublicher Geschwindigkeit ab. Wer beobachtet, wie fast durch ein Jahrzehnt nicht nur Gegensätze, sondern tiefe Feindschaft die unterschiedlichen Gruppierungen der Arbeiterbewegung trennten, kann Tempo und Erfolg der Zusammenführung zwar beschreiben, sicher aber nur mangelhaft erklären. In den Jahren vor 1887 kann man in der österreichischen Arbeiterbewegung zumindest drei einander feindlich gegenüberstehende Gruppierungen verorten, die einigermaßen in politischen Kategorien beschreibbar sind. Die traditionelle Literatur17 nennt zwar, ganz im Gefolge der eingangs erwähnten Quelle, nur zwei Gruppen (Sozialdemokraten und Anarchisten bzw. Gemäßigte und Radikale), damit liegt aber nicht nur eine Unschärfe vor, sondern man tut der radikalen Fraktion auch Unrecht. Die drei Gruppen kann man wie folgt benennen  : a) die Gemäßigten  : Diese Gruppe war in den Jahren 1874 bis 1887 ziemlich klein. Sie hielt an den Prinzipien des Neudörfler Parteitags, die im Neudörfler Programm festgeschrieben worden waren, fest, allerdings mit einigen Zugeständnissen an die Staatsauffassung Lassalles. Die Gruppe der Gemäßigten war keinesfalls nur legalistisch, das beweisen die Gefängnisstrafen, die über Mitglieder dieser Fraktion verhängt wurden, sowie der illegal organisierte Zeitschriftenvertrieb. Auch die öfters verwendete Bezeichnung »mechanistisch« charakterisiert die Gruppe nur unvollkommen. Eher wird man sie als theoriefern und mit großer sozialer Motivation ausgestattet bezeichnen können. b) die Radikalen  : Sie waren in den Jahren zwischen Neudörfl und Hainfeld die eindeutig stärkste Gruppe, die daher auch offensiv gegen die Gemäßigten (»Wassersuppensozialisten«) vorgehen konnten und aktionistisch agierten. Diese Gruppe war besonders in jenen Orten vertreten, in denen ein dominanter Großbetrieb syndikalistische Aktionen einigermaßen erfolgversprechend erscheinen ließ. Diese Fraktion ist vor allem durch die Ablehnung des Parlamentarismus (und der Positionen Lassalles) und durch das Setzen auf gewerkschaftliche Aktion in den Großbetrieben gekennzeichnet. c) die Terroristen  : Sie bildeten in den oben erwähnten Jahren ein überwiegend großstädtisches Element. Ihr waren die Wiener Bäckereiarbeiter, die Schneider von Graz und einige Arbeiter kleinerer Metallbetriebe in Linz zuzuzählen. Stark von Provokateuren durchsetzt, vertraten sie im Gefolge des führenden Anarchisten aus den frühen achtziger 17 Etwa  : Hans Hautmann/Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945. Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 4), 3. Auflage, Wien u.a. 1978.

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Jahren, Josef Peukert, eine »Propaganda der Tat« und brachten damit einerseits die Gemäßigten in die Defensive, anderseits aber ermöglichten sie die harten Durchgriffe der Exekutive gegen die gesamte Arbeiterbewegung. Diese extrem divergierenden Gruppen innerhalb ganz kurzer Zeit zusammenzuführen und zu einer politischen Bewegung von großer Schlagkraft zusammenzuschweißen, war ein Prozeß, der in den Jahren 1886 bis 1888 lief und 1887 seine entscheidenden Weichenstellungen erfuhr. Die genau beobachtenden Behörden konstatierten, daß der Prozeß zwar in Böhmen seinen Ausgang nahm, im Jahr 1887 ging das Gesetz des Handelns aber auf Wien über. In der eingangs erwähnten Quelle wird die Versammlung in Schwenders Colloseum, die am 3. April 1887 stattfand, ganz richtig als »Wendepunkt in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung«18 bezeichnet. Die Quelle führt bemerkenswert richtig aus  : »Die in dieser Versammlung gefaßten Beschlüsse, welche hinzielen auf die sofortige Aufhebung der Ausnahmsverordnung, auf die Beseitigung der Beschränkungen der Pressfreiheit, auf ein freies Vereins- und Versammlungsrecht, auf Einführung des allgemeinen Wahlrechtes vom zwanzigsten Lebensjahre an, auf Schaffung eines freien Coalitionsrechtes und eines Gesetzes, das die strengste Bestrafung solchen Beamten gewährleistet, welche die politischen Rechte einzelner Staatsbürger oder Vereine beeinträchtigen, lassen wohl auf ein zwischen beiden Parteien vereinbartes Compromiss schließen. Wenn früher die Anarchisten dem allgemeinen Wahlrechte, dem Parlamentarismus überhaupt, sowie den gesetzlichen Reformen in Festhaltung des Standpunktes der strammsten Negation entgegengetreten sind und solche Errungenschaften nur als Palliativmittel bezeichneten, die geeignet sind, das Proletariat aus der revolutionären Bahn in ein Sumpfwasser zu führen, stimmten in diesen Versammlungen Anarchisten vereint mit den Socialdemokraten für diese Postulate, jedoch erst nach der Versicherung, daß die Socialdemokraten dermalen auch nicht mehr den Parlamentarismus und das allgemeine Wahlrecht überschätzen und daß ihnen der Gedanke fern sei, im Parlamente eine Majorität für den Beschluß der Vergesellschaftlichung der Productionsmittel zu erhoffen. Vielmehr sollen Wahlrecht und Parlamentarismus nur als die wirksamsten Mittel der Agitation ausgenützt werden.«19

Dieser politische Wendepunkt in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung stellte die Weichen, die den Hainfelder Parteitag möglich gemacht haben. Die Frage, welche der Fraktionen sich in Hainfeld durchsetzen konnte, soll hier im fol18 Die sozialdemokratische und anarchistische Bewegung im Jahre 1887, 3. 19 Ebd.

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genden biographisch beantwortet werden. Die aktionistisch-terroristische Fraktion war jedenfalls nach dem Auszug des Grazer Delegierten Rissmann nicht mehr präsent. Wenn auch die oberösterreichischen Delegierten vielleicht nicht typisch sind, so liegt in den politischen Biographien der fünf Männer doch einiges, was das Schicksal der Fraktionen erklären kann  : Nur ein einziger der Gruppe war immer ein Gemäßigter  : Anton Weiguny, der Schneider aus Linz, die Zentralfigur der oberösterreichischen Arbeiterbewegung nach dem Hainfelder Parteitag. Er repräsentierte die lange politische Kontinuität aus der Zeit vor dem Neudörfler Parteitag und ist als ganz typischer Vertreter der Sozialdemokratie in der Provinz anzusprechen. Daß er am Hainfelder Parteitag als Hauptreferent zum Thema »Soziale Reform und Arbeiterschutz-Gesetzgebung«20 eingesetzt war, ist typisch für diesen eher pragmatisch-sozialen als theoretischen Zugriff. Ebenfalls eine lange Kontinuität repräsentiert der Welser Holzarbeiter Matthias Tischlinger. Er übernahm 1874 den Arbeiterbildungsverein Wels und konnte diesen, als einzigen Arbeiterverein des Landes, bis Hainfeld legal erhalten. Tischlinger war ein typischer Zentrist, seine persönliche Politik war stark an den Mehrheiten der Bewegung orientiert. 1886 zählte ihn der Konfident Schrödl noch zur besonders radikalen Gruppe um Karl Hubmaier, 1887 war er hingegen schon der Verbindungsmann für Andreas Grosse, den Vertrauten Victor Adlers. In Hainfeld meldet er sich nicht zu Wort.21 Alois Bocek, der Schuhmacher aus Steyr, war ein typischer Radikaler. Er stand für die syndikalistische Position der Industriestadt, war selbst auf einer Handwerkerwanderung dort hängengeblieben. Die Radikalen waren immer, und zwar unter den Organisierten, zu 100 %, jene Gruppe, die die nicht deutschsprachigen Arbeiter ansprechen konnte. In Hainfeld äußerte sich Bocek lange zur Frage der Krankenkassen (und zwar so ausführlich, daß er vom Vorsitz ermahnt wurde),22 wobei sein Mißtrauen gegen den Staat deutlich zum Ausdruck kam. Bocek ist übrigens der einzige Ober­österreicher, der am Aufruf zum Gründungskongreß der 2. Internationale aufscheint.23 Anton Indra, der Schuster aus dem Salzkammergut, präsentierte sich 1888 als geläuterter Radikaler. 1886 war er in der Hubmaier-Fraktion. Seine Kritik an der Prinzipienerklärung war nur mehr, für den Protestantismus des Salzkammerguts typisch, auf ein Hineinreklamieren des Wortes Religion in die Einleitung der Prinzipienerklärung (»Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt für das gesamte Volk ohne 20 J. Popp/G. Häfner (Hg.), Verhandlungen des Parteitages der österreichischen Sozialdemokratie in Hainfeld (30./31. Dezember 1888 und 1. Jänner 1889), Wien 1889, 48–52. 21 Konrad, Entstehen, 276. 22 Popp/Häfner, Verhandlungen, 63. 23 Brügel, Geschichte, Bd. 4, 35.

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Unterschied der Rasse, der Nation und des Geschlechts […]«)24 beschränkt, konnte aber nicht durchdringen. Ansonsten stand er zu seiner Wandlung  : »Wenn anfangs der achtziger Jahre Genosse Rißmann die heutigen Ausführungen in einer Versammlung vorgebracht hätte, so hätte die große Majorität der Anwesenden ihm zugestimmt. Die meisten von uns haben eben ihre Ansichten geändert […] Ich glaube, die Forderung des allgemeinen Wahlrechts kann von allen unterschrieben werden.«25 Schließlich ist noch Alois Sperl, der Hafner aus Ried, zu nennen, obwohl nicht verifizierbar ist, ob er tatsächlich der erwähnte Vertreter aus Ried in Hainfeld war. Jedenfalls war er der unbestrittene Repräsentant der Rieder Arbeiterbewegung seit der Trennung vom Liberalismus, die in Ried, stärker als in allen anderen Orten der Habsburgermonarchie, auch eine Trennung vom Altkatholizismus war. Sperl war jedenfalls 1886 den Anarchisten zuzuzählen, 1888 begann er sich als Gemäßigter zu profilieren. Das bedeutet, daß in den politischen Kategorien des Jahres 1886 jene fünf Männer, die Oberösterreich in Hainfeld vertraten und deren berufliches Profil weiter oben beschrieben wurde, sich politisch wie folgt zusammensetzten  : drei Anarchisten, ein Radikaler und ein Gemäßigter. Innerhalb von nur zwei Jahren (mit dem Schlüsseljahr 1887) waren daraus fünf Männer geworden, die sich vorbehaltlos auf die Positionen von Victor Adler verpflichten ließen.26 Dieser Wandel, den in diesem Zeitraum natürlich nicht nur die Führungskader, sondern auch die größten Teile der regionalen Organisationen vollzogen, müßte noch Gegenstand genauerer historischer Analysen werden. Nach dem heutigen Wissensstand und den Informationen, die wir über Autobiographien und behördliche Berichte von damals erhalten, lassen sich jedenfalls einige Gründe benennen, ohne daß diese, auch in ihrer Gesamtheit, den Ablauf dieses dramatischen Änderungsprozesses wirklich schlüssig und umfassend erklären könnten. Diese Gründe seien hier sehr subjektiv in sieben Punkten zusammengefaßt  : 1. Seit der Gründerzeit waren etwa zwei Jahrzehnte vergangen. Die Arbeiterklasse konnte sich in diesem Zeitraum stabilisieren, die Auswirkungen der Krise waren im Abklingen. Obwohl die Sozialgesetzgebung Taaffes bei den Führungskadern der Arbeiterbewegung, die aus dem Handwerk stammten, kaum griff, entstand eine neue Basis unter den Arbeitern der industriellen Großbetriebe. Die Partei legte in den Jahren hin zum Ersten Weltkrieg immer stärker ihren handwerklichen Charakter ab. 2. In der Hauptstadt Wien, wo nunmehr wieder das Gesetz des Handelns lag, waren der Arbeiterbewegung neue intellektuelle Führungspersönlichkeiten zugewachsen, 24 Popp/Häfner, Verhandlungen, 26. 25 Ebd., 16 f. 26 Konrad, Entstehen, 276.

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die vor allem wegen der nationalistisch-antisemitischen Verengung des bürgerlichen Lagers ihre neue politische Heimat in der Sozialdemokratie fanden. Kritiker nannten die Gruppe der Wiener »Kompromißler« oft manchmal verächtlich die »Judenpartei«. Und während die Behörden 1885 in den ersten Ausgleichsbemühungen noch antisemitische Tendenzen zu erkennen glaubten, stellten sie im Bericht über das Jahr 1886 erstaunlicherweise fest  : »Am 11. December erschien die erste Nummer des von dem Hauseigentümer Dr. Victor Adler herausgegebenen socialdemokratischen Wochenblattes ›Gleichheit‹, zu dessen Redacteur der Stimmführer der Wiener Socialdemokraten Ludwig Bretschneider bestellt wurde. Begreiflicherweise hat dieses mit ausreichenden Geldmitteln herausgegebene Blatt frohe Hoffnungen in Parteikreisen wachgerufen, ja es sollen selbst radicale Arbeiter sich nicht ausnahmslos gegen die Abnahme dieses Blattes erklärt haben  ; nichtsdestoweniger fehlt es nicht an Stimmen unter den Arbeitern, daß dieses Organ es nur darauf angelegt habe, die Arbeitermassen zu Gunsten der Liberalen und Antisemiten zu ködern.«27

Solche Aussagen machen deutlich, in welchem Ausmaß die Behörden ihre Informationen aus der anarchistischen Szene bezogen und daher auch deren Vorurteile in ihren Berichten widerspiegeln lassen. 3. Unter den neuen Führungspersönlichkeiten, die der Arbeiterbewegung zuwuchsen, nahm Dr. Victor Adler sehr bald die zentrale Rolle ein. Das Innenministerium warnte in einem Rundschreiben voller Sorge alle Statthaltereien  : »In letzter Zeit ist nach einem Berichte der k. k. Polizeidirektion Wien ein lebhafter Verkehr des in Wien wohnenden, als sozialistischer Agitator bekannten Hausbesitzers und Med. Dr. Victor Adler in Wien mit fast allen Orten zu konstatieren, in denen eine sozialistische Organisation bestanden hat oder sozialistische Elemente auftauchen. Adler, der als ein gefährlicher Streber geschildert wird, möchte in der österreichischen Arbeiterbewegung eine dominierende Stellung einnehmen und sucht in der Annahme, das in Wien erscheinende und von ihm herausgegebene Arbeiterblatt Gleichheit werde in kurzer Zeit das Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs sein, mit jedem in der Bewegung nur irgendwie Einfluß besitzenden Genossen Fühlung zu erlangen.«28

27 Die sozialdemokratische und anarchistische Bewegung im Jahre 1886, 8 f. 28 Oberösterreichisches Landesarchiv, Statthalterei-Präsidium, Arbeiterbewegung, Karton HO, Brief des Innenministeriums an das Präsidium der Statthalterei in Linz vom 9. August 1887.

Politische Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung 1889

Der »gefährliche Streber« entwickelte erstaunliches politisches Geschick im Gespräch mit allen zerstrittenen Gruppen und fand manche unterschiedlich auslegbare Kompromißformel. 4. Adler brachte nicht nur sein Talent, sondern auch eine solide materielle Grundlage in die Arbeiterbewegung ein. Damit war es möglich, die Gleichheit zu gründen, mit der die anderen Blätter ökonomisch nicht mithalten konnten. Auch ein letzter Versuch, die anarchistische Zeitung Arbeit als Gegenstück in Linz erscheinen zu lassen, blieb Episode.29 Adler schuf auch einen Agitationsfonds, mit dem es möglich war, ständig überregionale Kontakte aufrechtzuerhalten. Er und seine Freunde waren viel auf Reisen und fanden Zugang zu regionalen Organisationen oft über Leute der zweiten Garnitur, die bisher nicht exponiert waren, wie etwa in Linz über den Schuhmacher Ignaz Katzenschläger,30 einen langgedienten Funktionär, der aber durchaus keine Führungskraft in einer der Fraktionen war. 5. Die Behördenschläge, oftmals bewußt durch Provokateure herbeigeführt, hatten die Anarchisten zermürbt. Ein guter Teil der Führungsgarnitur war ins Ausland geflohen. Ludwig Schrödl war völlig unerwartet im Mai 1888 verstorben und konnte die Einigungsbemühungen nicht weiter hintertreiben. So blieb Johann Rissmann als die einzige anarchistische Leitfigur 1888 übrig, und er ist wohl eher als eine lokale Größe zu bezeichnen. Nur ganz kleine Gruppen (die Bäcker in Wien, einige kleine Teile der Fachvereine in Graz, Klagenfurt, Marburg, Linz und Traun) standen zu ihm. Wie minoritär der Standpunkt Rissmanns war, kam schließlich am Hainfelder Parteitag ganz deutlich zum Ausdruck. 6. Die Orientierungslosigkeit des großen politischen Vorbilds, der deutschen Arbeiterbewegung, war schon deutlich rückläufig. International ging die Bedeutung des Anarchismus ständig zurück. Hatten die deutschen Sozialistengesetze zur Welle des Anarchismus in Österreich geführt, so ging der politische Import aus dem Deutschen Reich nun in die gegenteilige Richtung, als sich die Wirkung der Bismarckschen Sozialistengesetze als obsolet erwies. 7. Die neue Führungsgarnitur der österreichischen Arbeiterbewegung war im Schnitt nicht jung. Die genannten fünf Spitzenfunktionäre aus Oberösterreich hatten im Schnitt alle etwa 15 Jahre Erfahrung in der Organisationsarbeit aufzuweisen. Sie alle hatten also auch Kenntnis von der Politik vor der Spaltung und hatten die Jahre der Spaltung als Zeit der politischen Schwächung erlebt. Die führenden Anarchisten hingegen waren im Regelfall jung, unverheiratet und mobil (oder aber Männer mit gebrochenen Biographien). Dieses relative Alter der neuen Führungsgarnitur 29 Konrad, Entstehen, 254–259. 30 Ebd., 271.

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und die damit verbundenen politischen Erfahrungen machten deutlich, was in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung in den Folgejahrzehnten als »Einheitstrauma« gelten sollte. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Politische Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung 1889, in  : Helmut Konrad (Hg.), »Daß unsre Greise nicht mehr betteln gehn  !« Sozialdemokratie und Sozialpolitik im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn von 1880 bis 1914 (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/Zürich 1991, 17–28 (Europa Verlag).

Sozialutopien und Gewerkschaften (2013)

I. Projekte für eine bessere Welt Für alle Menschen, die gestalten, verändern, verbessern wollen, sind Zielvorgaben unumgänglich. Es gilt, von hier, von einer als unbefriedigend empfundenen gesellschaftlichen oder privaten Realität, nach dort, zu einer besseren oder zumindest verbesserten Welt zu gelangen. Ziele können nah angepeilt werden, zeitnah und räumlich nah. Auf den Gipfel zu steigen und in wenigen Stunden die bessere Aussicht genießen, könnte so ein Ziel sein. Man kann aber auch mittelfristige Ziele ins Auge fassen  : Als Fußballverein in 2 Jahren Meister zu werden, als Partei in absehbarer Zeit die Mehrheit zu erringen, als Person einen Studienabschluss zu schaffen und ähnliches. Mittelfristige Ziele sollten zumindest theoretisch realisierbar sein, das heißt sie wären bei optimalem Einsatz der Mittel und bei guten Rahmenbedingungen und bei etwas Glück erreichbar. 1.1 Helle und dunkle Utopien

Es gibt aber Ziele, deren Konstruktion bereits auf die Unerreichbarkeit gerichtet ist. Sie sind »utopisch«, sind, aus dem Griechischen übertragen, ein »Nicht-Ort«. Solche »Nicht-Orte« bewegen sich in folgendem Schema  : Inhaltlich beschreiben sie entweder eine ideale Welt, in der alle Probleme gelöst sind (helle Utopien), oder dunkle, in denen Übersteigerungen von gegenwärtigen Fehlentwicklungen zu Situationen geführt haben, die wir als grausam, diktatorisch und menschenverachtend beschreiben können. Abstufungen dazwischen oder auch Teilutopien (zum Beispiel grüne Utopien) sind durchaus denkbar. In ihrer Positionierung auf den Zeit-Raum-Koordinaten liegt »Utopie« entweder unerreichbar weit weg (etwa auf einer unerreichbaren Insel oder im All) oder in ferner Zukunft. Thomas Morus, einer der bedeutendsten englischen Gelehrten und Politiker des 16. Jahrhunderts, verfasste mit Utopia1 eine helle Utopie, auf einer fernen Insel, aber in 1

Vgl. Thomas Morus, Utopia, Leuven 1516. Deutsche Ausgabe  : Gerhard Ritter (Übers.), Thomas Morus, Utopia (= Reclam Universal Bibliothek 513), Stuttgart 2007  ; als e-book bei Projekt Guten­ berg  : Henry Morley (Hg.), Utopia by Thomas Morus, http://www.gutenberg.org/catalog/world/ readfile?fk_files=15465l4&pageno (15.3.2013).

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der Epoche angesiedelt, in der der Autor lebte. Es handelt sich um eine positive Gegenwelt, die mit den Ressourcen und den technischen Möglichkeiten der damaligen Gegenwart schon angedacht werden konnte, also durchaus als Zielvorgabe gelesen werden sollte und eigentlich sogar wiedererkennbar das damalige England beschreibt. 450 Jahre später erdachte George Orwell in seinem 19842 hingegen eine schwarze Utopie, die – von 1949 aus gesehen, der Zweite Weltkrieg war gerade erst vorbei – in der Zukunft liegt und verdeutlichen sollte, worauf die politischen Fehlentwicklungen der Zeit hinsteuern oder zumindest hinsteuern könnten. Zur Lebenszeit von Thomas Morus war eine »unentdeckte Welt« irgendwo im Ozean noch denkbar. George Orwell konnte sich, wollte er unseren Planeten nicht verlassen, nur noch auf der Zeitachse bewegen. Im 16. Jahrhundert schien sich die Welt durchaus im Sinne der Vernunft umzugestalten, vieles schien erreichbar. Im »Zeitalter der Extreme«,3 im blutigen 20. Jahrhundert, war hingegen der Glaube an die Vernunft als ordnende Kraft verloren gegangen. Die beiden hier angeführten Utopien stehen idealtypisch für eine ganze Reihe von literarischen Werken dieser Gattung, denen es gemeinsam ist, dass sie als Warnung oder aber als wünschenswerte Vision verstanden werden wollten. Und beide Werke stehen auch dafür, dass »Utopia« nicht nur ein Hirngespinst und unerreichbar ist, sondern dass »Utopia« durchaus auch ein mögliche Alternative zur Gegenwart beschreiben kann. Ein »Nicht-Ort« ist »Utopia« nur insoweit, als die geschilderten Zustände aktuell noch nicht existieren. Das unterscheidet ihn grundlegenden von einer »Illusion«, bei der es sich um einen (unerfüllbaren) Wunschtraum oder Albtraum handelt. 1.2 Sozialutopien

Utopien können verschiedene Lebensbereiche umfassen. Aus der Sicht von Gewerkschaftsbewegungen ist der soziale Aspekt wohl dominant, daher soll hier eingeschränkt nur von »Sozialutopien« die Rede sein. Sozialutopien beschreiben nicht individuelle Wunschträume, auch keine Einzellösungen (wie etwa in Robinson Crusoes vor 200 Jahren entstandener Gegenwelt auf der Insel4), sondern Gesellschaftsentwürfe, entweder weltweit oder aber auf eine 2 3 4

Vgl. George Orwell, Nineteen Eighty-Four, London 2008 (Erstausgabe  : 1949). Vgl. Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2009. Vgl. Daniel Defoe, The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York, Ma-

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Region oder Stadt beschränkt. Und sie folgen nicht nur dem angesprochenen Schema von hellen oder dunklen (positiven oder negativen) Utopien, sondern man kann sie auch noch entlang der Trennlinie archistisch5-anarchistisch einordnen. Anarchie lehnt idealtypisch jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen ab, erkennt vielmehr sogar in Hierarchien die Grundlage für Unterdrückung. Archistische Utopien anerkennen Strukturen und Herrschaftssysteme, die entweder aufgeklärt gütig, oder aber – negativ – diktatorisch einengend gedacht werden können. Das von Thomas Morus entworfene Leitbild und die meisten anderen utopischen Texte sind archistisch-positiv, oder richtiger  : Ihre Intuition war zur Entstehungszeit so, obwohl sie heute auch anders gelesen und interpretiert werden. Das gilt etwa für den Sonnenstaat, des italienischen Dominikanerpaters, Philosophen und Politikers Tommaso Campanella aus dem Jahr 1602,6 für den 1839/40 publizierten Roman des französischen Frühsozialisten Étienne Cabet Reise nach Ikarien,7 für die Abhandlung des britischen Frühsozialisten Robert Owen Eine neue Auffassung von der Gesellschaft von 18138 oder für Menschen, Göttern gleich, das der ebenfalls in England lebende Schriftsteller H. G. Wells 1923 veröffentlichte.9 Erst im 20. Jahrhundert nehmen negativ-archistische Utopien zu, neben Orwells 1984 ist dabei wohl der Science-­ Fiction-Roman des britisch-amerikanischen Autors Aldous Huxley Schöne neue Welt von 1932 der bekannteste Text.10 Anarchistische Utopien sind eher selten, am bekanntesten dürfte unter dieser Art von Zukunftsbildern Ernest Callenbachs Roman

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riner, New York 1994 (Erstausgabe  : 1719). Ungekürzte deutschsprachige Ausgabe  : Daniel Defoe, Robinson Crusoe (= Menasse Bibliothek der Weltliteratur), Zürich 1957. Vgl. dazu die erste Verwendung dieses Begriffs in  : Andreas Voigt, Die sozialen Utopien. Fünf Vorträge, Leipzig 1906. Vgl. Tommaso Campanella, Civitas Solis. Idea republicae philosophicae, Frankfurt am Main 1623. Aktuelle deutschsprachige Ausgabe  : Tommaso Campanella, Der Sonnenstaat. Idee eines philo­sophi­ schen Gemeinwesens. Ein poetischer Dialog, Köln 2012. Vgl. Étienne Cabet, Voyage et aventures de Lord William Carisdall en Icarie, traduit de ­l’Anglais de Francis Adams par Théodore Dufriu, Paris 1840. Aktuelle deutschsprachige Ausgabe  : Étienne Cabet, Reise nach Ikarien (= Bibliothek der Utopien), Berlin 1979. Vgl. Robert Owen, A New View of Society. Or, Essays on the Principle of the Formation of the Human Character, and the Application of the Principle to Practice, London 1813. Aktuelle deutschsprachige Ausgabe  : Robert Owen, Eine neue Auffassung von der Gesellschaft. Ausgewählte Texte (= Ökonomiehistorische Texte), Berlin 1989. Owens Ideen hatten einen großen Einfluss auf die erste englische Gewerkschaftsbewegung. Vgl. Herbert G. Wells, Men Like Gods, London 1923. Aktuelle deutschsprachige Ausgabe  : Her­bert G. Wells, Menschen, Göttern gleich, München 2004. Vgl. Aldous Huxley, Brave New World, London 1932. Aktuelle deutschsprachige Ausgabe  : Aldous Huxley, Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft, Frankfurt am Main 2012.

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Ökotopia sein,11 mit dem der US-amerikanische Autor in der Mitte der 1970er Jahre nicht zuletzt der politischen Bewegung der Grünen kräftige ideologische Impulse gegeben hat.

II. Chancen, Arbeit und Leben 2.1 Die Frage des Eigentums

Wenn man die Gesellschaft in die Bereiche Ökonomie, Politik und Kultur aufgliedert, stellt sich, nicht nur für die Gewerkschaften, die Frage des Eigentums, und zwar des Eigentums (bzw. der Verfügungsgewalt) an und über die Produktionsmittel einerseits, sowie des privaten Besitzes oder Reichtums anderseits. In Schlaraffia stellt sich die Frage ganz klar überhaupt nicht. Wenn Milch und Honig fließen, wenn gebratene Hühner durch die Luft direkt in den Mund segeln, dann kann sich jeder am Überfluss bedienen, die Frage einer gerechten Verteilung stellt sich nicht. Bei anarchistischen Utopien stellt sich die Eigentumsfrage prinzipiell nicht. Schon Denis Diderot andere modernisierungskritische Aufklärer siedelt den »edlen Wilden« in einer sich selbst regulierenden Überflussgesellschaft an, und auch bei Callenbach ist das Eigentum nach der tendenziellen Abkehr von Haben und Sein, nach der bewussten Reflexion des eigenen Lebenswandels und nach dem letztlich gefundenen Einklang mit der Natur, keine Frage mehr. Teilweise in dieser Tradition sind auch Robert Owens zeitlich frühere Sozialexperimente zu stellen, die als gewerkschaftliche Frühformen gelesen werden können, die allerdings in der Praxis an den nicht zügelbaren Einzelinteressen der Mitwirkenden zerbrechen mussten. Und besonders weit geht der französische Wissenschaftler und anarchistische Theoretiker Pierre-Joseph Proudhon mit seiner Formulierung »Eigentum ist Diebstahl«12. Proudhon sprach damit schon 1840 an, dass ein durch Ausbeutung Anderer erworbenes Eigentum auf erpresserische Weise die Grundlage für unverdiente Privilegien erzeugt. 11 Vgl. Ernest Callenbach, Ecotopia. The Notebooks and Reports of William Weston, New York 1975. Aktuelle deutschsprachige Ausgabe  : Ernest Callenbach, Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999, 3. Auflage, Berlin 1995. 12 Pierre-Joseph Proudhon, Qu’est ce que la propriété  ? Ou recherches sur le principe du droit et du gou­vernement. Premier mémoire, Paris 1841. Aktuelle deutschsprachige Ausgabe  : Pierre-Joseph Proud­hon, Was ist Eigentum  ? Untersuchungen über den Ursprung und die Grundlagen des Rechts und der Herrschaft (= Klassiker des Sozialismus), Münster 2013.

Sozialutopien und Gewerkschaften

Utopien, die obrigkeitliche Lenkung vorsehen, sprechen von der Arbeit als Quelle des Reichtums, aber auch von einer strikten solidarischen Beschränkung des Besitzes auf die Notwendigkeit des Lebens. Sie kennen kein Auseinanderklaffen von Reichtum und Armut. Schon beim antiken griechischen Philosophen Platon war es für die oberste, politisch führende Gruppe Vorgabe, über kein Privateigentum zu verfügen. Auch das frühe Christentum passt sich genau in dieses Bild ein. Urchristliche Gemeinden waren frei von Privateigentum. Erst Thomas Morus musste in seiner Schrift auf die neue, auf die Schaffung von Mehrwert gerichtete Systemlogik des Frühkapitalismus antworten und die Utopien lenkend in die neuen Wirtschaftsformen eingreifen lassen. Die Frage des Geldes, die als Grundlage ökonomischer Dynamik anerkannt wird, ist dabei natürlich eine ganz zentrale. 2.2 Arbeit und Arbeitsteilung

In der Überflussgesellschaft ist Arbeit als Lebensgrundlage entbehrlich, sie dient, auch in der von Karl Marx, dem einflussreichsten sozialistischen Theoretiker spielerisch entworfenen Zukunftsgesellschaft, nur mehr zur Selbstverwirklichung und zum Zeitvertreib. Da kann man dann Jagen, Fischen, Lesen oder Kritiken schreiben,13 wenn jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben wird und jeder nach seinen Fähigkeiten zum Gemeinwohl beiträgt. Das Bild, das Marx hier entwirft, ist auch als Utopie in Zeiten immer stärkerer Normierung zu lesen und differenziert die Gesellschaft in einer glücklichen Zukunft wieder aus. Das Recht auf Faulheit, das Marx-Schwiegersohn Paul Lafargue 1880 formuliert hat und das durchaus auch als Kritik an der Gewerkschaft und dem gewerkschaftlichen Arbeitsethos gelesen werden kann,14 ist eine Antwort auf das »Recht auf Arbeit«, also ebenfalls ein utopischer Gegenentwurf zum Industriezeitalter. Die anarchistischutopische Arbeitsverweigerung, die auch Charlie Chaplin in seinen grandiosen Filmen in der Bandbreite vom Tramp bis »Modern Times« vertritt, ist ein Sehnsuchtsort und wird es wohl teilweise auch heute wieder, während in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das »Wirtschaftswunder« fast die gesamte Gesellschaft in die Konsum- und Leistungspflicht genommen hat.

13 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In  : Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin/DDR 1969, 3–530, hier 33. 14 Vgl. Paul Lafargue, Le droit ä la pareses. Reputation du droit au travail de 1848, Paris 1883. Aktuelle deutschsprachige Ausgabe  : Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit. Widerlegung des Rechts auf Arbeit von 1848, Frankfurt am Main 2010.

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Der hier schon oft genannte Thomas Morus nimmt eine Mittelposition ein. Arbeit ist nicht mehr die entscheidende Sinngebung für das Leben, sie ist nicht mehr länger die Antriebsfeder für soziale oder geschlechtsspezifische Ausdifferenzierungen. Daher sagt er  : »E i n Gewerbe betrieben alle, Männer und Frauen ohne Unterschied  : den Ackerbau […]. Neben der Landwirtschaft, die, wie gesagt, alle betreiben, erlernt jeder noch irgendein Handwerk als seinen besonderen Beruf. Das ist in der Regel entweder die Tuchmacherei oder die Leinenweberei oder das Maurer- oder das Zimmermanns- oder das Schmiedehandwerk.«15

Die Herrschenden sorgen dafür, »dass niemand untätig herumsitzt, sondern dass jeder sein Gewerbe mit Fleiß betreibt, ohne sich jedoch, gleich einem Lasttiere, in ununterbrochener Arbeit vom frühesten Morgen bis in die tiefe Nacht abzumühen.«16 Die Utopier arbeiten drei Stunden am Vormittag, drei Stunden am Nachmittag und gehen gegen acht Uhr am Abend schlafen. Verglichen mit den Forderungen der 1. Mai-Demonstrationen von 1890 an,17 wo die Losung lautete  : »Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf«, ist die für Utopia formulierte und konzipierte Arbeitszeit von sechs Stunden aus dem 16. Jahrhundert also noch immer utopisch. Aber es liegt darin ein starker Hinweis, wie solidarische Gesellschaften sich der Frage der Verteilung der Arbeit in gerechter und vertretbarer Weise stellen könnten. Morus wird in der Begründung, weshalb sechs Stunden Arbeit ausreichen, sehr deutlich  : Diese Arbeitszeit genüge zur Herstellung von allem, was zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Lebens gehört  : »Das werdet auch ihr einsehen, wenn ihr euch überlegt, ein wie großer Teil des Volkes in anderen Ländern untätig dahinlebt  : erstens fast alle Frauen, also die Hälfte der Gesamtheit, oder wenn irgendwo die Frauen arbeiten, schnarchen dort meistens an ihrer Stelle die Männer  ; außerdem dann die Priester und die sogenannten frommen Männer, was für eine große und faule Schar ist das  ! Nimm noch all die Reichen und besonders die Grundbesitzer dazu, die man allgemein als Standespersonen und Edelleute bezeichnet  ! Zu ihnen rechne

15 Morus, Utopia, 2007, 31. 16 Ebd. 17 Seit 1890 wird dieser Tag weltweit als Kampf- und Festtag der arbeitenden Menschen begangen. In Österreich gelang die Demonstration in der Hauptstadt Wien besonders eindrucksvoll. Sie gilt als das erste machtvoll-friedliche Auftreten der jungen, politisch geeinten Arbeiterschaft.

Sozialutopien und Gewerkschaften

noch ihre Dienerschaft, jenen ganzen zusammengespülten Haufen von Raufbolden und Windbeuteln  ! Vergiss schließlich auch die kräftigen und gesunden Bettler nicht, die ihren Müßiggang mit irgendeinem Gebrechen bemänteln, und die Zahl der Leute, die durch ihre Tätigkeit für die gesamten Bedürfnisse der Sterblichen sorgen, wirst du dann viel geringer finden, als du angenommen hast. Und nun überlege dir, wie wenige von diesen selbst mit wirklich notwendigen Arbeiten beschäftigt sind  ! Da nämlich bei uns das Geld der Maßstab für alles ist, müssen wir viele völlig unnütze und überflüssige Gewerbe betreiben, die bloß der Verschwendung und der Genusssucht dienen.«18

Man sieht also schon im 16. Jahrhundert ein Kernproblem deutlich  : die Produktion weckt und steigert Bedürfnisse jenseits der Notwendigkeit, was dann wieder als verstärkte Nachfrage die Produktion steigert und damit, zumindest mit den damaligen technologischen Möglichkeiten, die Arbeitszeit oder das Arbeitstempo. Arbeit hängt aber auch mit der Entwicklung der Technik, mit der Bändigung der Natur (die uns meist, außer bei den Geschichten vom »Edlen Wilden«, gezähmt entgegentritt) und mit der Frage zusammen, wer die Macht hat, Arbeit zu verteilen. In den schwarzen Utopien wird die Arbeit nach unten ausgelagert, in Huxleys »schöner neuer Welt« zu jenen, die nicht dazugehören. In »grünen« Utopien adelt die Arbeit, die mit und nicht gegen die Natur geleistet wird. In real gelebten »utopischen« Arbeitswelten (Genossenschaften oder die frühe Kibbuz-Bewegung) wird Arbeit demokratisch verteilt, oft rotiert sie – durchaus auch zwischen den Geschlechtern – und betont damit die Elemente der Gleichheit. Unter den »Gleichen« herrscht aber selbst in schwarzen Utopien Gleichheit, sie müssen alle wenig bis gar nicht an der Arbeit teilhaben. 2.3 Der Lebensalltag

Der »Edle Wilde« ist nackt. Sein Zustand ist paradiesisch. Die Kunstgeschichte bietet uns hier eine große Fülle von Beispielen. Nacktheit ist für den »Edlen Wilden« auch kein sexuelles Signal, Sexualität und Nacktheit haben keinen direkten Bezug. Dieser Gedanke steht auch hinter den Konzepten der Wiener »Lobau-Indianer« oder der Freikörperkultur, auch hinter den Ideen des Monte Verita (»der Monte Verita in Ascona am Lago Maggiore, wo ein wunderbar verrücktes Völkchen aus Freidenkern, Freigeistern und Freikörperkulturlern seine Übungen macht«19). Kleidung dient einerseits der Vereinheitlichung und anderseits der sozialen Strukturierung, der Inklusion und der Exklusion, der Einbeziehung und dem Ausschluss 18 Morus, Utopia, 2007, 32. 19 Florian Illies, 1913. Der Sommer eines Jahrhunderts, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2012, 44.

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von Menschen und Gruppen. Wer trägt das italo-faschistische »Schwarzhemd«, wer das sozialistische »Blauhemd«, wer das nationalsozialistische »Braunhemd«  ? Welche Abendrobe kann sich wer leisten  ? Welche Signale will man damit aussenden  ? Kleidung ist entweder, wie bei Morus, einfach und einheitlich, oder aber Konsumtriebfeder wie bei Huxley. Anarchistische Utopien erlauben die volle Individualität auch in dieser Frage. Kleidung wird sozial begleitet von der Frage der Ernährung. Alle Utopien sind hungerfreie Gesellschaften. Sie schwanken von der Überflussgesellschaft bis zur gerechten Nahrungsverteilung in Einküchenhäusern oder in Kibbuz-Gemeinschaftsküchen. Der »Edle Wilde« darf sich auch noch dazu berauschen. In Sozialutopien aber dominieren Mäßigung und Selbstdisziplin, bis hin zur Ernährung über Pillen und zur Gedankenregulierung. Auch beim Wohnen stellen sich ähnliche Fragen. Passen sich die Häuser den Menschen an oder umgekehrt  ? Welche sozialen Verhaltensmuster werden durch welche Wohnformen erreicht oder gar erzwungen  ? Utopien sind meist Stadtgesellschaften, und in der realisierten Utopie der Zwischenkriegszeit wird, nach den Gemeindewohnungen im Roten Wien, auch die »Frankfurter Küche«, der »Prototyp« der die Arbeit erleichternden modernen Einbauküche, geschaffen. Brasilia, die 1922 bis 1981 in den Dschungel gebaute neue Hauptstadt Brasiliens, oder aber das Modell der Wohngemeinschaft, des Zusammenlebens von Nicht-Verwandten in einer Wohneinheit mit festgelegten Rechten und Pflichten, zeigen weitere utopisch angeregte Zukunftsszenarien von Wohnformen. Die Zukunftsstadt sieht aber meist aus wie das »Metropolis« des Filmregisseurs Fritz Lang, wenn sie sich »modern« versteht. 2.4 Eliten, Herrschaft und soziale Schichtung

In manchen Utopien tritt uns das Bild des »Neuen Menschen« entgegen,20 ein Bild, das auch in politischen Konzepten auftaucht. Die Sozialdemokratie im »Roten Wien« konzipierte den »Neuen Menschen« als eine Person, die zukünftige solidarische Lebensformen bereits in der Gegenwart umzusetzen versuchen sollte. Geprägt ist ­dieses Bild von Gedanken der Gleichheit, realisiert in einer Gleichheit zwischen den Geschlechtern, in einem gleichen Zugang zur Bildung, in einem hohen Maß an Triebkontrolle, in Partnerschaftlichkeit und in einem hohen sozialen Anspruch. Die 20 Unter den vielen Abhandlungen zu den »Neuen Menschen« im »Roten Wien« ist noch immer die beste  : Josef Weidenholzer, Auf dem Weg zum »Neuen Menschen«. Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 12), 2. Auflage, Wien/München/Zürich 1983.

Sozialutopien und Gewerkschaften

Jugendorganisationen der Sozialdemokratie lebten diesen Traum. Es ist bewegend zu lesen, wie sehr Gruppen von Jugendlichen, denen zum Teil heute als große Persönlichkeiten des Kultur- oder Wissenschaftslebens unserer Geschichte Anerkannte wie Jura Soyfer21 oder Karl R. Stadler22 angehörten, diesen Idealen verpflichtet waren. »Neue Menschen« kannte auch der Kommunismus, und in China hoffte man, dass die nach der Machtübernahme Maos geborenen Jugendlichen in der Kulturrevolution den Gedanken der Gleichheit zur Realität werden lassen sollten. Die Resultate waren aber wohl eher erschreckend. Herrschaftsfreiheit durch Einsicht, durch Vernunft und durch Selbstdisziplin, Gewaltfreiheit (nicht nur, vor allem aber untereinander), das waren die hehren Zielsetzungen. Dabei sollte es aber eine Bildungsaristokratie geben, die in der Lage sein sollte, komplexe Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen sollten also von Personen mit Wissen und Sachkompetenz getroffen werden. Bei Robert Owen, dem Ahnherren gewerkschaftlicher Utopien, war die Macht dezentral, und auf der regionalen Ebene sollten die Entscheidungen autonom fallen, gelenkt durch ein Anciennitätsprinzip, das auf den Wissensvorsprung aus Erfahrung abgestellt war. Der Staat sollte praktisch keine Sanktionsgewalt über die autonomen Entscheidungen haben. Diese Abschaffung oder aber zumindest die Minimierung rechtsstaatlicher Sanktionsmöglichkeiten ist eine Zielvorgabe der meisten Utopien bis ins beginnende 20. Jahrhundert. Man träumt auch von der gefängnislosen Gesellschaft, gestraft sollte durch Gewissensbisse, nicht durch Gefängnis werden. Reue und Einsicht bei den Übeltätern und den Fehlgeleiteten waren die Ziele. Bei den schwarzen Utopien wird hingegen der anonyme Staat zur Unterdrückungsmaschine, die auch die Kontrolle des Denkens und Fühlens übernommen hat. »Big Brother is Watching You«, das ist das Bedrohungsszenario, wie es Orwell in 1984 ausformt. Die Macht ist längst nicht mehr allein Mittel zur Lenkung, sie ist Selbstzweck geworden. Ihr einziges Ziel ist jenes der Aufrechterhaltung der Macht, des Verbots der Hinterfragung von Strukturen und von getroffenen Entscheidungen. Anarchistische Utopien (»Keine Macht für niemand«, wie es in einem Song der deutschen Rockband »Ton Steine Scherben« formuliert ist), sind prinzipiell herrschaftsfrei und egalitär gedacht. Dennoch kennt man auch dort Eliten  : Bildungseliten, technische Eliten, kulturelle Eliten, Alterseliten. Bei Callenbach rücken etwa die Frauen zentral in die Entscheidungspositionen ein. Da sie ökologisch denkfähiger 21 Jura Soyfer, 1912 in Charkow geboren, gestorben 1939 im Konzentrationslager Buchenwald, war einer der führenden Dramatiker der 1930er Jahre in Österreich. 22 Karl. R. Stadler, 1913 in Wien geboren, gestorben 1987 in Linz, war der Begründer der österreichischen Schule der Geschichte der Arbeiterbewegung.

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sind als die Männer, zukunftssicherer und in den Instinkten ausgeprägter, sichern sie sehr viel besser das Überleben und treffen daher präziser und sinnhafter die notwendigen (Minimal-)Entscheidungen, die auch in einer Gesellschaft der Gleichen notwendig sein können. Egalitäre Züge tragen auch die frühen Kibbuz-Bewegungen, und selbst manchem christlichen Experiment sind egalitäre Grundverständnisse nicht fremd, wenn sie auch meist den Gedanken der Gleichheit nicht auf die Geschlechterfrage ausdehnen und nur von Männern sprechen. 2.5 Familie und Geschlechterbeziehungen

Die Frage der Geschlechterbeziehungen ist in den meisten Sozialutopien ein zentrales Diskussionsfeld. Anarchistische Utopien kennen keine stabilen Familienbeziehungen, und in den Träumen des Jahres 1968 wurde das auf die Spitze getrieben (»Wer zweimal mit der/ demselben pennt, gehört schon zum Establishment«). Aber selbst in schwarzen archistischen Utopien wird damit experimentiert. Bei Huxley ist die Promiskuität zwangsverordnet, aber losgelöst von der Reproduktion. Zeugung, Schwangerschaft und Aufzucht finden gleichsam außerhalb der Gesellschaft statt, leibliche Elternschaft hat keinen Platz. Liebe ist auch bei Orwell unwesentlich, sie ist dort die ungewünschte Antwort auf die normierten staatlichen Eingriffe in das Privatleben, sie ist also verpönt und wird verfolgt. Sind Kinder das Resultat von Beziehungen, so greifen anarchistische Utopien, auch jene mit Realisierungsversuchen, kollektive Erziehungsstrategien auf. Elternliebe tritt zurück, das Kinderhaus im Kibbuz oder aber der Kinderladen in den Großstädten um 1970 treten an die Stelle von Kernfamilien. Selbst in archistischen Utopien ist die Erziehung eine Gemeinschaftsverpflichtung. Gleichgeschlechtliche Liebe ist nur bei Callenbach ein Thema und wird dort als Zeichen für eine tolerante Grundhaltung der Gesellschaft angesehen. Die anderen Schriften thematisieren die Fragestellung nicht, sie hatte zur Zeit der Entstehung der Texte noch keinen Platz in den öffentlichen Diskursen und lag noch unter der Schwelle der Wahrnehmung.

Sozialutopien und Gewerkschaften

III. Gewerkschaftliche Schlussfolgerungen 3.1 Die Bedeutung der Grundbedürfnisse »Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen, Dass Brot und Arbeit uns gerüstet stehn, Dass unsre Kinder in der Schule lernen Und unsre Greise nicht mehr betteln gehen.«23

Diese meist Ferdinand Freiligrath zugeschriebenen Verse sind zu einem Motto der österreichischen Arbeiterbewegung geworden. Sie können als Zusammenfassung gewerkschaftlicher Utopien des 19. Jahrhunderts gelten und machen Stärken und Defizite gewerkschaftlicher Zukunftsvisionen über die Jahrhunderte hin deutlich. Wie schaut hier »Utopia« aus  ? Vier Bereiche sind angesprochen  : 1. Ausreichende Versorgung, 2. Recht auf Arbeit, 3. Gerechter Zugang zur Bildung, 4. Altersversorgung. Verglichen mit den schon genannten Utopien fehlen alle Bereiche von Demokratie, von Herrschaftsformen, von Geschlechterbeziehungen, von Umwelt, von Freiheit, Frieden und Menschenrechten. Die hier formulierte Utopie ist zumindest ansatzweise auch in 1984 oder in der Schönen Neuen Welt verwirklicht. Auch dort hungert und bettelt niemand. Das sollte deutlich machen, dass selbst der Nationalsozialismus recht leicht diesen Verszeilen seine Zustimmung hätte geben können, denn die Beschränkung auf die sogenannten »Primärbedürfnisse« beschreibt eine Welt, die auch Diktaturen anstreben, zumindest für jene, die nicht ausgegrenzt sind. Dass die Verse immer von »uns« sprechen, von »unseren« Kindern und »unseren« Alten, könnte ja auch implizieren, dass all dies für die »anderen« nicht notwendig ist. Allerdings muss klargestellt werden, dass es zwischen 1848 und der Konjunktur am Ende des 19. Jahrhunderts im industrialisierten Europa einfach vorerst darum gehen musste, Grundbedürfnisse zu befriedigen, Leben und Überleben zu sichern und die 23 Praktisch die gesamte Literatur aus und über die Arbeiterbewegung schreibt diese Zeilen Ferdinand Freiligrath zu. Sie sind aber eine Übersetzung eines französischen Verses aus dem Revolutionsjahr 1848.

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eigenen Probleme überindividuell einzuordnen, Gemeinsamkeiten zu erkennen und solidarisches Handeln zu erreichen. Das hat noch keine »politische« oder »kulturelle« Komponente, die soziale Frage ist eine Frage »moralischer Ökonomie.«24 Und »mit Trade Unions usw. muss es anfangen, wenn es Massenbewegung sein soll«, schrieb Friedrich Engels 1890 an Friedrich Adolf Sorge.25 In ihrem europäischen Verständnis waren Gewerkschaften bis ins späte 20. Jahrhundert ein Teil der Arbeiterbewegung, mit der Aufgabe, für jene Bedürfnisse der arbeitenden Menschen einzutreten, die sich aus den Arbeitsverhältnissen, also der Situation am Arbeitsplatz und der notwendigen Regeneration, ergaben. Da galt der Blickwinkel klarerweise primär der Arbeitssicherheit, den Löhnen und den Preisen, wobei dieser letzte Bereich etwas später auch durch Genossenschaften übernommen wurde. Das Feld von Politik und Kultur deckten die Parteien der Arbeiterbewegung ab, für die dann das Wahlrecht, die Demokratie, die Geschlechterfrage, die Teilhabe an Produktion und Konsumtion von Kultur und das Bildungssystem die zentralen Betätigungsfelder waren. Die Trennlinie war aber keine scharfe, Parteien und Gewerk­ schaften tummelten sich meist miteinander, manchmal durchaus auch gegeneinander, auf identen Schauplätzen. 3.2 Sozialstaat als Einlösung sozialer Utopien

Nord-Amerika war immer anders, politische Arbeiterparteien waren bedeutungslos, und die Gewerkschaften mutierten in der Immigrationsgesellschaft zu strikten Inter­ essensvertretungen der Menschen in Arbeitsverhältnissen gegen die neuen Arbeitssuchenden auf der einen, und zu starken, ja exklusiven Lobbyisten gegen die Unternehmer auf der anderen Seite. Ein gesellschaftsverändernder Anspruch wurde von den Gewerkschaften amerikanischen Typs mit wenigen Ausnahmen nicht ernsthaft erhoben. Sie waren und sind auf die Interessensvertretung einer Bevölkerungsgruppe im Rahmen des liberal-kapitalistischen Gesellschaftssystems beschränkt. Aus dem großen Arsenal der Sozialutopien der letzten Jahrhunderte haben also die Gewerkschaften vornehmlich jene Teile zu den ihren gemacht, in denen es um die Arbeitsverhältnisse und die soziale Situation geht. Tatsächlich  : aus den sechs Stunden Arbeit in Utopia wurde die Forderung nach dem Achtstundentag, erhoben über 24 Der Begriff wurde vom englischen Sozialhistoriker Edward Palmer Thompson geprägt und meint die moralischen Grundannahmen der werktätigen Bevölkerung vom »gerechten Lohn« und von ausreichender Ernährung. 25 Friedrich Engels, Brief an Friedrich Adolph Sorge vom 8 Februar d. J. [1890], in  : Marx-EngelsWerke, Bd. 37, Berlin/DDR 1969, 352–353, hier 353. Das Zitat stammt aus  : Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981.

Sozialutopien und Gewerkschaften

Jahrzehnte, vor allem in den Aufmärschen zum 1. Mai seit 1890 und schließlich erfolgreich eingelöst. Die »große Erzählung« der Gewerkschaften umfasst aber vor allem die gesamte Sozialgesetzgebung. Kinderarbeit ist in der industrialisierten Welt ein Tabu, Frauenarbeit ist rechtlich (wenn auch nicht überall ökonomisch) gleichgestellt, im Krankheitsfall ist man versichert und im Alter durch Pension oder Rente so versorgt, dass Betteln fast ausschließlich zu einem Migrationsphänomen geworden ist. Ausbildung wird umfassend angeboten, das Recht auf Arbeit ist zwar nicht verwirklicht, aber für Jahrzehnte war es gelebte Realität in der industrialisierten Welt, ein Zustand, der sich derzeit auf ganz dramatische Weise zu ändern beginnt. Betriebsräte, Arbeiterkammern und behördliche Sozialeinrichtungen springen in Konflikt- und Notfällen ein, karitative Einrichtungen kümmern sich um die offiziell nicht oder zumindest nur schlecht erfassten Graubereiche. 3.3 Gewerkschaften in Europa  : Die legitimen Kinder der Moderne

Die europäischen Gewerkschaften sind ohne Zweifel legitime Kinder der Moderne. Unter dieser aus dem Prozess der Modernisierung hervorgegangenen Gesellschaftsform meint man ein System, das von den Merkmalen Industrialisierung, Urbanisierung, Normierung, Säkularisierung, Demokratisierung, Arbeitsteilung und Spezialisierung geprägt ist.26 Moderne Gesellschaften brauchen industrielles Wachstum, sie brauchen den Glauben an mögliche und machbare »nächste Schritte«. Sie sind also fortschrittsorientiert, haben in den Gewerkschaften einen Motor und sind Garantinnen dieser Entwicklung. Die gesellschaftlichen Änderungen der letzten zwei Jahrzehnte des 20. und des erstens Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts haben allerdings dazu geführt, dass die sozialen »großen Erzählungen«, also das kollektive, solidarische Bemühen um Wachstum und der Kampf um den gerechten Anteil an den neu geschaffenen Werten, ins Wanken geraten sind. Diese Veränderungen vollzogen sich sowohl auf der politischen (die Implosion des Sowjetimperiums) und auf der technologischen Ebene (vor allem in der Kommunikation) als auch im kulturell-gesellschaftlichen Bereich (Grenzen des Wachstums, Zweifel an Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Teilbereichen des »Fortschritts«). Nicht nur neue Formen von nationaler und internationaler Arbeitsteilung, sondern auch ein neues Verständnis von wünschenswerter Zukunft haben das ehemals 26 Vgl. Konrad, Helmut, Zeitgeschichte und Moderne, in  : Rudolf Haller (Hg.), nach kakanien. Annäherung an die Moderne (= Studien zur Moderne 1), Wien/Köln/Weimar 1996, 23–57.

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gefestigte Fundament unterschwemmt. Solidarisches Eintreten für die alten, vormals utopischen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber weitgehend eingelösten Zielsetzungen im Sozialbereich bilden heute nicht mehr ausreichend jenen Kitt, der die Massen der Werktätigen begeistern und zu kollektivem Handeln veranlassen könnte. Und noch weniger sprechen jene Bilder Bevölkerungsgruppen an, die unfreiwillig außerhalb des Arbeitsprozesses stehen. 3.4 Öffnung von Handlungsfeldern neben der Arbeitswelt

Da es die klassischen Arbeiterparteien im Sinn des Zeitalters der Moderne heute aber nicht mehr gibt, sind Handlungsfelder jedenfalls umgehend neu zu definieren. Ein Festhalten an den Positionen von gestern ist der sichere Weg in das Schrumpfen bis hin zur gesellschaftspolitischen Bedeutungslosigkeit. In der Postmoderne sind auf lange Strategien angelegte Utopien, also neue »große Erzählungen« nicht mehr einfach oder auch nur sinnvoll zu formulieren. Aber es steht wohl außer Frage, dass einerseits Grundwerte wie Solidarität oder Einsatz für die Schwachen in der Gesellschaft in gewerkschaftlichen Zukunftskonzepten aufrechterhalten werden müssen. Also nicht nur Absicherung erworbener Rechte und Gratifikationen, sondern auch ein Eintreten für jene, die (noch) nicht daran teilhaben, ist ein solches moralisches Ziel. Anderseits müssen die Blicke über die Wirtschaft hinaus gerichtet werden. Gewerkschaften müssen ihre Handlungsfelder erweitern, ihr zukünftige Funktion muss auch eine gesellschaftspolitische sein, fordert der deutsche Soziologe Oskar Negt  : »Die Gewerkschaften stehen nicht nur für die lebendige Arbeitswelt, sondern auch für Gestaltungswillen in der Gesellschaft.«27 Das meint keine Bildung von gewerkschaftlichen »Ersatzparteien«, sondern ist die Erkenntnis, dass die Arbeitswelt nicht mehr die ausschließliche Identitätsstiftungsinstanz der Menschen ist. Man definiert sich nicht mehr so dominant über Berufe, die im Lebenszyklus auch wechseln (können). Wohl gibt es noch die über vier Jahrzehnte dauernde berufliche Kontinuität in einigen wenigen Berufsfeldern, ein guter Teil der jüngeren Generation stellt sich aber auf Flexibilität und mehrfachen Wechsel des Berufes ein. Und die wirklich sozial Schwachen stehen heute leider außerhalb der gewerkschaftlichen Interessensvertretungen, was als ein besonderer Mangel festgehalten werden muss. Ein breiter aufgestelltes Konzept sollte sich also auch jener Lebensbereiche annehmen, die neben der Arbeitswelt existieren. Dazu gehört zentral die Kultur, von der Alltagskultur bis zur Kunst. Hier die neuen Strömungen aufzugreifen, Avantgarde 27 Oskar Negt, Wozu noch Gewerkschaften  ? Eine Streitschrift, Göttingen 2004, 158.

Sozialutopien und Gewerkschaften

zu sein, wäre ein lohnendes Feld. Den Geschmack kritisch mit zu formen, Konflikte auch außerhalb der Kollektivvertragsverhandlungen auszutragen und auszuhalten. Das muss auf der Tagesordnung stehen. Bildung, ohnedies schon ein zentraler Aufgabenbereich, sollte den Blick über Ausbildungsaufgaben hinaus richten und als Grundlage zur umfassenden Lebensbewältigung in Beruf und Freizeit aufgefasst werden. 3.5 Der Anspruch, Veränderer zu sein

Gewerkschaften werden heute eher als Bewahrer denn als Veränderer ­wahrgenommen. Das entspricht weder ihrer historischen Funktion noch ist es eine erfolgversprechende Ausgangslage für die nächsten Jahrzehnte. Avantgarde zu sein, das war die Mission im beginnenden Industriezeitalter. Und dort sollte auch der Platz der Gewerkschaften in der postindustriellen Zeit sein. Nur wer vorne geht, kann die Richtung entscheidend mitbestimmen. Und wenn man nach vorne geht, dann ist der Blick auch frei. Er kann auf den Boden gerichtet werden, auf die Geschichte und auf das stabile Fundament einer langen, stolzen und erfolgreichen Tradition und auf die realen sozialen Verhältnisse. Der Blick kann aber auch nach oben gehen, hin zu den Träumen, den Utopien, den großen Zielen. Jedenfalls ist er frei für das Umfassende  : Das Leben miteinander, geprägt von Natur (Umwelt und Ökologie) und Kultur (Lebensgestaltung und Kunst). Und man sollte nicht nur den geraden Weg nach vorne sehen, sondern auch die mäandernden Alternativen links und rechts, also auf beiden Seiten des Mainstreams. Nicht nur die betonierte, vom Fortschrittsglauben geformte Autobahn führt zu den »utopischen« Zielen, die heute wie damals in einer umfassend gerechten Welt liegen. Manchmal ist auch ein nicht gleich sichtbarer Abstecher durch noch wenig erschlossene Landschaften ein durchaus lohnender Weg. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Sozialutopien und Gewerkschaften, in  : Brigitte Pellar (Red.), Wissenschaft über Gewerkschaft. Analysen und Perspektiven, Wien 2013, 351–369 (ÖGB-Verlag).

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Between “Little International” and Great Power Politics Austro-Marxism and Stalinism on the National Question (1992)

In 1913 a man sat in the Schönbrunner Schloss-Strasse in Vienna studying, at Lenin’s behest, the problem of the national question and in particular the positions adopted by the Austrian Social Democrats on this question. The man’s name was Joseph Stalin, and the book he wrote during these months was called “Marxism and the National Question.”1 It is no accident that this book was written in Vienna. For it is not so much a program for the nationalities policy of a future Soviet state as a critical discussion of Austro-Marxism. Stalin’s plan for dealing with national problems within the Soviet Union, as it later became, was thus conceived at least partly as an antithesis to the Austrian positions. That Stalinism was unable to provide a definitive solution to the national question became evident last year, if it had not been so before. Not one of the conflicts has really abated  : on the contrary, the national question today has more explosive potential than ever. As late as September, 1989, the Central Committee in Moscow passed a resolution that invoked the peaceful development of interethnic relations within the Soviet Union as an inevitable consequence of the October Revolution  ;2 but at the time of that resolution the reality was already quite different, and there have been further dramatic developments since then. While 48 percent of the Soviet Union’s population are Russians and 14 percent Ukrainians, there are no fewer than a hundred other ethnic groups, and areas where ethnic and religious conflict lines coincide have become especially volatile, as the USSR’s Muslim areas in particular (with a population, after all, of almost fifty million) showed so dramatically at the beginning of 1990. Of course the failure of the nationalities policy based (though in a much modified form) on Stalin’s ideas does not mean that its antithesis, the Austro-Marxist theory, would have stood the test of history. It was never given the chance to prove itself in 1 2

Quotations from this work and others of Stalin’s own writings are taken from  : Josef W. Stalin, Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Cologne 1976. All translations are mine. John Rettie, The Decline and Fall of the Russian Empire  ?, in  : Guardian Weekly, January 21, 1990 (a slightly abridged version of  : John Rettie, Vengeful Spirits of a Bitter Past, in  : Guardian Weekly, January 16, 1990).

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practice, and it was too clearly designed for the specific situation of the Habsburg Monarchy to have been applicable to other areas of the world. It must be noted, however, that there were similarities as well as differences in the Austro-Marxist and Stalinist assessments of the national question, not least because both movements were products of the same intellectual tradition.

The Common Roots Except where the national question was based on older religious lines of conflict, it was a child of the nineteenth century.3 As an idea it arose in the wake of the romantic movement, but it gained mass support only as a result of the Industrial Revolution. It was the mobility brought about by the emancipation of serfs, urbanization, and industrialization that turned the national question into an issue in which the masses too had an interest. In the mechanistic worldview of Marxism two narrow viewpoints on nationalism became established. One view reduced it to nothing more than a “question of language”  ; in other words, the mother tongue was regarded as the sole criterion of membership of a nation. This turned the national question into a cultural phenomenon that Marxism was able to relegate to the domain of so-called superstructure, thus making it an issue of only secondary importance. Alternatively, nationalism was seen, because of the historical context of its origin, as a phenomenon belonging to a specific stage in the development of industrial society, the assumption being that it would automatically decline in importance as soon as the market ceased to be merely national and expanded to become a world market. This enabled the early theoreticians of the labor movement to regard national conflicts and sentiments as temporary phenomena that might be disregarded and would virtually resolve themselves.4 Moreover, Karl Marx and Friedrich Engels, in an odd curtailment of their own theories, judged the national question only in relation to the acceleration or slowing down of the processes of economic development. For this reason larger states were viewed a priori as being more advantageous, while the aspirations of smaller nations were all too easily dismissed as inimical to progress. Only this could lead to the for-

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For a fuller account see  : Ernst Hanisch, Der kranke Mann an der Donau  : Marx und Engels über Österreich, Vienna 1978. This point is clearly made in the best-known work, The Communist Manifesto, in  : Marx-EngelsWerke (MEW), vol. 4, Berlin 1956, 459–593, see esp. 479.

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mation of the theory of “non-historic nations,”5 one of the “saddest”6 chapters in the development of Marxism. Engels based his distinction between “historic” and “non-historic” peoples on the difference between civilization and barbarism. By civilization he meant industry, capitalism, and the bourgeoisie. Feudalism, economic backwardness, and peasant culture counted as barbarism. This attitude to the peasantry had its due consequences not only in the 1848 revolution but in the whole history of the labor movement. Engels uses this distinction between historic and non-historic peoples to justify the oppression of “barbarians” by civilized peoples, thus indirectly also justifying colonialism.7 This oppression is a historical necessity, as it is the only way in which the non-historic peoples can begin to be part of any political development at all. This understanding of “progress” makes it justifiable, furthermore, “forcibly to crush many a delicate little nation-flower”8 – ruthlessly to implement a policy of assimilation. Here Marxism is in complete accord with the fundamental position of the liberal doctrine of free trade  : the goal is the creation of large economic units, with the most favorable possible communications (i.e., one wholly dominant language).9 This has been euphemistically called a nationaler Flächenstaat – meaning a large homogeneous national state – completely disregarding the ethnic minorities in Western Europe. Another tradition also helped to shape the Marxist position on the national question. The intellectuals of the 1848 revolution were never able to free themselves from certain elements of German idealistic philosophy. They shared Herder’s “illusion that social emancipation would render national conflicts superfluous,”10 but they went further still and emphasized in The Communist Manifesto that even “nationality” itself would progressively disappear.11 This tradition was continued and developed further   5 Roman Rosdolsky, Friedrich Engels und das Problem der ›geschichtslosen‹ Völker  : Die Nationalitätenfrage in der Revolution 1848–1849 im Lichte der »Neuen Rheinischen Zeitung«, in  : Archiv für Sozialgeschichte, vol. 4, (1964), 87–282.   6 Hanisch, Mann, 265.   7 Helmut Konrad, Nationalismus und Internationalismus  : Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 4), Vienna 1976, 11.   8 MEW, vol. 6, Berlin 1956, 278 f.   9 Hans Mommsen, Sozialistische Arbeiterbewegung und nationale Frage in der Periode der I. und II. Internationale, in  : Hans Hautmann, comp., Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (XI. Linzer Konferenz, 1975)  : Einheits- und Volksfrontpolitik 1935–1939  : Klassenkampf und nationale Frage zur Zeit der II. Internationale (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 10), Vienna 1978, 263. 10 Ibid. 11 MEW, vol. 4, 479.

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in the naive cosmopolitanism of the young labor movement, epitomized by the creation of the world language, Esperanto. There is no mistaking the teleological element in this  : here, as elsewhere, the pseudo-religious aspect of Marxism as a secularized doctrine of salvation is strongly present. What emerges, then, is that there was no fully matured plan for the solution of the national question that the young labor movement could simply inherit. This newly formed political force had as its starting point only the few, contradictory, and fragmentary pieces of theory I have indicated in the writings of its ideological mentors, and was obliged to work out its own positions independently and in response to the concrete problems that presented themselves.

The Special Characteristics of the Habsburg Monarchy In this process it was, among the multinational states of the nineteenth century, the Habsburg Monarchy that had the key role. Only there had industrialization led to the formation of a working class that was numerically strong and soon also politically well organized, while no one nationality was strong enough to establish itself as the culturally dominant Staatsnation. In the large Flächenstaaten of Western Europe, language boundaries had largely adapted themselves to the frontiers drawn for reasons of power politics, and had thus created the preconditions for efficient communication systems, which in turn formed the basis for industrialization. In the Habsburg Empire such developments took place in a far more complex way. An account of the Empire’s national composition as a whole cannot really be included here. This discussion will focus on those aspects of it that enable a comparison to be made with Stalinism. The hope expressed by Friedrich Engels in 1848 that “the Austrian monarchy, that patchwork of territories amassed by inheritance and by theft, that organized muddle of ten languages and nations, that unplanned conglomeration of the most contradictory customs and laws,”12 was at last beginning to fall apart, proved illusory. On the contrary, in the next seven decades it was the labor movement that was to become the strongest force, after the ruling house, the bureaucracy, and the military, cementing the multinational state together. Today the term Central Europe denotes, in essence, a region with identical or at least similar symbols of the ruling power (the same baroque churches, the same barracks, the same official buildings, and so on), which the present-day visitor sees with a sense of familiarity. But for the workers the Habsburg Empire meant more than merely suffering under the 12 Ibid., 504.

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same scourge  : this state was also the economic and living environment of an underprivileged section of the population that hoped that within this particular framework the dream of a future society without national prejudices could, as it were, be tested out in advance. The labor movement’s “naive cosmopolitanism,”13 expressed in the many documents of the movement’s early phase, is characterized by a high degree of optimism that precisely in the multinational state it will be possible to demonstrate how tolerant the workers can be, in contrast to the other sections of society. Even so, it was assumed without question at that time that the Austrian labor movement, which because of the different pace of industrialization in the individual regions of the Empire was a German-speaking movement with Czech sections, should take its lead from its larger and more fully developed sister party in the German states. At the party conference at Eisenach in 1869 – three years after Königgrätz, when all hopes of a Pan-German solution, of a Germany including the Habsburg Monarchy, were buried – Austrian Social Democracy became, without any internal debate, an organization forming part of the German movement. It was only after the Franco-Prussian War that the labor movement accepted the separation of the Austrian from the German state – though it still regarded this as only a transient phenomenon, a point emphatically reiterated by Friedrich Engels shortly before his death. In this first attempt to identify itself with Germany, the Austrian labor movement was not acting under the auspices of Prussian centralism of the kind advocated by Lassalle, nor, on the other hand, was it influenced by nationalist arguments of a more general kind  : it was acting simply in what it saw as the interests of progress. In the second half of the nineteenth century the creation of large, unified economic areas with the simplest possible means of internal communication seemed to be what was required. In the eyes of the majority of the Austrian labor movement, the largest possible economic unit with the simplest means of communication was the area of Europe inhabited by German speakers. The idea was inspired, at this early stage, not by any emotional attachment to a “nation”, but by the “rational” faith in progress prevalent in a period that, in Austria as elsewhere, saw the immense growth of capitalism. This attitude did, however, offer highly favorable conditions for the spread of nationalism among the working class. However rationally these arguments were presented, there was bound to be opposition from non-German-speaking workers. Yet, all in all, conditions were such that there could have been a basis for discussion between workers of the different language groups. Although more than ten nationalities lived in the Habsburg Empire, the 13 This expression, which has become a standard term in the subject literature, was first used by  : Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Vienna 1907, 304.

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working class was made up almost wholly of Germans and Czechs, with some Italians and Slovenes. It was the relationship between Germans and Czechs that became the yardstick of tolerance and willingness to communicate among the nationalities, for the Slovenes were numerically of no great significance and the Italians were mostly engaged in types of work where they were wholly isolated and had almost no contact with members of other nationalities. They were employed, for instance, at brickworks that offered seasonal jobs to Italians in rural areas, and also in road and railway construction, where they moved with the work as it progressed and so stayed only briefly in any one place.14 Regional historical studies of the 1870s make it absolutely clear that at this stage there was no nationalism among the workers  ; on the contrary, it seemed to be taken for granted that the aim must be to fight, right across the language boundaries, for common social goals.15 Also, the picture of the “privileged” German-speaking worker and the oppressed Czech worker is a considerable oversimplification. Of course Czechs who migrated to the Sudeten areas formed an industrial reserve force and suffered particularly harsh conditions. But when Czech workers moved to other parts of the Monarchy where the process of industrialization had only just begun, it was they, with their experience of industrial work, who generally became the foremen entrusted with the task of training the first generation of German workers. This can be shown to have happened in many industrial concerns in the provinces of Lower and Upper Austria, in the metal-processing industry, and also in the paper mills and the textile industry.16 Thus national and social oppression did not necessarily go together, and this is why, even in the circumstances prevailing in the Habsburg Empire in the 1870s, no nationalism sprang up in the labor movement from within the Empire itself. That development took place only later, chiefly as a result of outside influences. At the formation of the first workers’ party in 1874 at Neudörfl – where, of course, discussion took place and minutes were recorded in several languages – on the national question there was a fundamental departure from the German model, however closely it was followed in other respects. That all the nations should have equal 14 On the situation of the Italians in Austria see  : Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Vienna et al. 1981, 367–370. 15 Thus pamphlets were printed in two languages as a matter of course. At meetings speakers used their mother tongues. At party conferences in the early years there were interpreters. Several instances of this are cited in  : Herbert Steiner, Die Arbeiterbewegung Österreichs  : 1867–1889  : Beiträge zu ihrer Geschichte von der Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereines bis zum Einigungsparteitag in Hainfeld (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 2), Vienna 1964. 16 Konrad, Entstehen, 370 ff.

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rights was not merely recognized as necessary  : in the Neudörfl Program it was seen as “the sole guarantee of success.”17 By this formulation the German speakers’ hitherto wholly unquestioned claim to leadership of the Austrian labor movement was lost. The party thus called into being was “the first internationalist, common organization of workers in a multinational state.”18 These promising beginnings were quickly undone by external influences  : the Great Depression had halted the economic boom of the Gründerzeit, and in Germany, Bismarck’s Sozialistengesetz (Socialists Act) had shown the means to an achievement Taaffe tried to emulate in Austria  : the weakening of the labor movement by social reforms on the one hand and harsh political persecution on the other. By the late 1880s, however, the character of nationalism in Austria, too, had changed. The ideology that had essentially run parallel with liberalism had become an aggressive, militaristic, and chauvinistic movement that served as a justification for oppression and discrimination.19 As if in response to this, a more emotional form of nationalism grew up among the smaller Central European nationalities, or those that were not yet nation-states. Both these tendencies gained a foothold among the workers and undermined their cosmopolitanism. It is understandable that the Austrian labor movement re-founded by Victor Adler in 1889 could not at first find a remedy for this new nationalism. Adler therefore decided on a tactic of, as it were, overlaying this problem with other issues  :20 he pushed into the foreground common goals of great importance, such as the achievement of universal (male) suffrage, so that these should wholly dominate political debate and deny the national issue any room to develop. Adler himself bore the deep imprint of his own German-national political background. He had left Schönerer’s movement only after it had included anti-Semitic points in its program.21 His personal restraint with regard to the national question should therefore also be seen as a contribution to the lowering of tension. In the matter of theory he relied on Marxism’s Keeper of the Holy Grail, Karl Kautsky. Kautsky himself had considerably pared down the 17 Klaus Berchtold, ed., Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Vienna 1967, 116. 18 Herbert Steiner, Der Neudörfler Parteitag und der Internationalismus  : Conference paper given at Tagung der Internationalen Konferenz der Historiker der Arbeiterbewegung (ITH  ; the International Conference of the Historians of the Labor Movement), in Neudörfl, 1974, 1. 19 Jochen Blaschke, ed., Handbuch der westeuropäischen Regionalbewegungen, Frankfurt 1980, 13. 20 Helmut Konrad, Österreichische Arbeiterbewegung und nationale Frage im 19. Jahrhundert, in  : Wolfgang Maderthaner, ed., Sozialdemokratie und Habsburgerstaat (= Sozialistische Bibliothek 1/1), Vienna 1988, 126. 21 This had happened in the mid-1880s. Before this, as late as 1882, Adler had played a major part in formulating the Linz Program of the Deutschnationalen. See  : Berchtold, Parteiprogramme, 195 ff.

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already modest body of reflections by Marx and Engels on the national question, and recognized only the Sprachnation (the nation defined by language), which would lose all significance after the imminent collapse of the capitalist system. It was merely a matter of holding out until then. Thus, while the Austrian labor movement, with desperate single-mindedness, discussed (and engaged in) the fight for universal suffrage, and on May Day carried banners bearing internationalist slogans, beneath the surface the multinational movement was breaking up into its national components. Adler’s tactic was successful, then, only for a few years. By 1897 there was “no longer a common Austrian Social Democratic party, but a united party of Austrian Social Democrats made up of various nationalities.”22 The Czechs had by now formed their own section, completing a process of separation that was vigorously under way by 1893, when it became apparent how many Czech workers were going over to the “Young Czechs”. The nationalistic slogans of that movement struck a chord with these workers, who saw themselves as belonging, in terms of both social and national status, to an underprivileged group, even though this was not always in fact the case. Only the federalization of the Social Democratic party gave Czech Social Democracy any chance of surviving at all. Despite this development within its own ranks, it must nevertheless be acknowledged that the Social Democratic party in the Habsburg Empire was the only party that could claim to represent all the nationalities that made up the state. This meant that, paradoxical as it may sound, the Social Democratic party was, after the ruling house, the strongest force preserving the state during these years of powerful centrifugal tendencies. The much-quoted designation of it as the k.k. Sozialdemokratie (Imperial and Royal Social Democratic Party) therefore not only conveys criticism of a certain, bourgeois tendency in the movement but also neatly describes the situation in which this party, which still saw itself as a revolutionary party, found itself in the two decades leading up to World War I. The breaking up of the Empire was at that time not only beyond the bounds of possibility, but also not desirable. This crucial premise was accepted also by the Austro-Marxists, who were to dominate the debate of the following years. Once universal male suffrage had been achieved, in 1907 or more precisely the year before, the national issue occupied a prominent place on the agenda. Reconciliation with the state had been achieved, and the next problem to tackle was how to organize the coexistence of the nations within the multinational state. Within the borders of 22 Verhandlungen des sechsten österreichischen Sozialdemokratischen Parteitages  : Abgehalten zu Wien vom 6. bis einschließlich 12. Juni 1897 im Saale des Hotel Wimberger  : Nach dem stenographischen Protokolle, Vienna 1897, 125.

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the Austrian half of the Empire lived about twenty-eight million people, of whom 35,5 percent claimed German as their mother tongue, 23 percent, Czech  ; 17,8 percent, Polish  ; 12,6 percent, Ruthenian  ; 4,5 percent, Slovene  ; 2,8 percent, Italian  ; and 1 percent, Rumanian.23 A purely linguistic analysis of this kind takes no account of the Jews, who were also a factor in the complex of national issues but who, unlike their counterparts in Russia, did not play a separatist role within the labor movement.24 The Jews in the Habsburg Monarchy, especially the intellectual elite (exactly according to the theories), opted for assimilation. Naturally, the linguistic groups mentioned (whether these were to be equated with nationalities was, of course, one of the key issues in Austro-Marxist theory) had not all experienced industrialization to the same degree. Some, in particular the Czechs, already had a highly self-assured, educated bourgeoisie  ; others, most notably the Italians, looked to a neighboring state for their cultural identity. It was only these small sections of the population oriented to the outside that had a centrifugal effect on the Empire – and so of course (though this is often overlooked) did the Germans. Austro-Marxist theory, as developed above all from 1907 onward, that is, from the first appearance of the monthly periodical Der Kampf,25 had two outstanding characteristics. First, it was emphatically, indeed almost exclusively, concerned with the formation of a Social Democratic theory on the national question  ; and second, despite the multinational background, its exponents were predominantly German speakers. Not only that, but one cannot fail to recognize in it certain deutschnational elements. The two leading theoreticians on the national question, who were, as holders of the most diverse offices of great influence on the course of twentieth-century Austrian history, were Karl Renner and Otto Bauer. While Bauer was concerned above all with the attempt to establish a definition of a “nation” in the context of the special characteristics of the Habsburg Empire, and to determine the consequences of such a definition for the policy of the workers’ party, Karl Renner was giving thought to the practical reorganization of the Empire. Bauer was attempting to identify the essence of a nation, Renner to defuse the conflicts between the nationalities, though there 23 Peter Urbanitsch, Die Deutschen in Österreich  : Statistisch-deskriptiver Überblick, in  : Adam Wandruszka and Peter Urbanitsch, eds., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, vol. III  : Die Völker des Reiches, part 1, Vienna 1980. Percentages are taken from the table on p. 38. 24 John Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora  : Zur Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 5), Vienna 1975. 25 The editorial to the very first issue states explicitly that it is the special task of the Austrian Social Democrats to concern themselves with the national question. Otto Bauer and Adolf Braun and Karl Renner, eds., Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift, vol. 1, issue 1 (1907).

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was not such a rigid demarcation between the two as this implies. Nevertheless, it is appropriate here to concentrate on Bauer’s development of theory and on Renner’s application of theory to practical politics. Without a doubt, the great historical significance of Bauer’s theory lies in the fact that he rejected Kautsky’s narrow view of the nation and instead saw the nation as an independent category that was not merely super-structural. “A nation is the totality of people bound together by a community of fate (Schicksalsgemeinschaft) into a community of character”  ;26 a nation is solidified, or “clotted,” history.27 In Bauer’s theory, terms such as Schicksal – destiny or fate – and “history” no longer merely have cultural connotations. They are something more than language  ; they embrace communication in a broader sense, and of course they include territorial factors too. The experiencing of historical and political events does not necessarily happen only in linguistic or religious communities, but also in states. Bauer believed that national characteristics would continue to exist even after a revolution. The workers could then participate in the national cultures, but even after a world revolution humanity would divide up into “autonomous national communities.” Whereas Marx, Engels, and Kautsky saw national differences completely disappearing and world society developing a global language and culture, for Bauer culture is so closely interwoven with literature and history that it must form an independent category, the nation, which has validity quite apart from the question of society, and which ultimately cannot be fitted into political categories either. Thus, although for Bauer a nation is defined by culture (Kulturnation) and the economic and territorial factor is secondary, the seventy-year-old Soviet state has in recent months afforded striking evidence that he was right. It is from that “clotted history” that the nationalities of the Soviet state draw their new self-assurance, and there is no link between this and the resolution of the social question that has been accomplished (successfully or not, but at any rate to the extent of abolishing private ownership of the means of production). Language, often regarded in Central Europe as the only criterion, is complemented by culture, tradition, and historical consciousness, thus forming the combination described by Bauer. Renner’s main concern, in view of the primary aim of preserving the Habsburg Empire as a political and thus also as an economic unit, was to make it possible for the nationalities to live together with as little conflict as possible. He saw no problem in equating nation with Sprachnation (nation defined by language), so retaining an 26 Bauer, Nationalitätenfrage, 135. 27 Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus  : Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Vienna et al. 1968, 253.

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exclusively cultural definition. For him as a pragmatist the question of whether in a future, post-revolutionary society there would still be national differences did not arise. His proposals were aimed at creating the best and most just state possible in whatever conditions prevailed at a given time. Only this made it possible for this enthusiastic advocate of the Habsburg Monarchy to become, twice in the twentieth century, the founding father of the Austrian Republic. Although there are slight variations in Renner’s attitude to the national question,28 the characteristic tenor of his proposals is most clearly conveyed in a paragraph from a work published, under the pseudonym Rudolf Springer, in 1906, Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreichisch-Ungarischen Monarchie  : “The territory of the state is everywhere divided up on a single basis  : into provinces, districts, parishes. We, however, must survey the country twice, on different principles, we must trace two networks of lines on the map, an economic one and an ethnic one, we must make a division through the total number of holders of state office, separating national and political business, we must organize the population twice over, once on a national and once on a state basis.”29

So in dealing with all matters of culture a different principle of classification from that of the state administration was to be applied. In a manner comparable to the organization of religious groups, the members of a nation, wherever they lived, were to be granted certain rights  : the rights thus applied to a person, not to a territory. It was precisely this Personalitätsprinzip (principle of personality) (as distinct from the proposals of the Brünn Program) that was to become the key idea in the Austro-Marxist position on the nationalities issue. And, as we shall see, it was this idea that drew especially sharp criticism from Stalin, who saw the personality principle as a particularly clear indication of the weakness of Austro-Marxist theory. Of course a contradiction is present when a movement capable on the one hand of developing a cogent theory of what constitutes a nation, and on the other of presenting such constructive proposals for the preservation of the multinational state, is unable to persuade its own members to fulfill its claim to be a “Little International.”30 It must be noted, however, that there were at least two special reasons for the separatism of the 28 Ernst Panzenböck, Ein deutscher Traum  : Die Anschlussidee und Anschlusspolitik bei Karl Renner und Otto Bauer (= Materialien zur Arbeiterbewegung 37), Vienna 1985, 28 f. 29 Rudolf Springer [= Karl Renner], Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Vienna 1906, 208. 30 Raimund Löw, Der Zerfall der »Kleinen Internationale«  : Nationalitätenkonflikte in der Arbeiterbewegung des alten Österreich (1889–1914) (= Materialien zur Arbeiterbewegung 34), Vienna 1984.

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non-German-speaking labor movement. This was, first, a tactic it adopted in order to avoid losing all its workers to the nationalist parties with their strong emotional appeal. But it was also a reaction to the arrogant deutschnational stance of the elite, particularly the elite of the trade union movement, a stance that bore no relation to the theory that had been developed but was simply adopted unthinkingly.31 This led to a curious dichotomy in the South Slav and Czech labor movements  : up to World War I, its thinkers, prime among them Bohumír Šmeral,32 were working intensively at the further development of the Austro-Marxist theory in close conjunction with Renner and Bauer, while the party organizations of which they were the leaders distanced themselves ever more noticeably from the all-Austrian party. Nevertheless, the Social Democratic party’s role in the preservation of the Empire is one of its most salient features.

Stalin’s Critique of Austro-Marxism A notable characteristic of those Social Democratic parties, including the Russian one, that were late in becoming mass parties is that their adoption or development of theory rushes ahead of political reality in the country itself. The theory can develop without the corrective of concrete politics, and this is especially true of theories developed in exile. While the Austro-Marxists had had to take a rather hopelessly muddled situation as the starting point of their analyses, bolshevism was able to counter with the “pure doctrine” without, at least before World War I, having to descend to the lower levels where ideas had to stand up to reality. Because of the later practical significance of Stalin as an individual in relation to the nationalities policy of the Soviet state, it is on him that we will focus here, though this is not to ignore the fact that Lenin and other Bolsheviks also took up positions on the national question. We will not enter here into the controversies about the authenticity of the texts. In 1904 Stalin made his first contribution to the debate on the national question, in a short article that remains wholly within the tradition of Marx and Engels.33 31 Konrad, Nationalismus, 97 ff. 32 See for example  : Bolumír Šmeral, Die Sozialdemokratie und die nationale Frage  : Paper given at the Ninth Conference of the Czechoslav Social Democratic Workers’ Party, Prague, September 4–8, 1909. Reprinted in  : Löw, Zerfall, 238–274. See also Zedenek Solle, Die tschechische Sozialdemokratie zwischen Nationalismus und Internationalismus, in  : Archiv für Sozialgeschichte, vol. 9, (1969), 181–266. 33 Josef W. Stalin, Welche Auffassung hat die Sozialdemokratie von der nationalen Frage  ? in  : Josef W. Stalin, Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Cologne 1976, 5–25.

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The national question, he says, merits attention only insofar as it may contribute to the raising of class-consciousness. He claims that dialectical materialism has proved incontrovertibly that there is no such thing as a “national spirit”.34 Nationalism is relevant only when used as an instrument of the class struggle. In 1913, in the longer work mentioned at the beginning of this essay, Stalin treats the question less simplistically. First he tries, as Otto Bauer had done, to define what constitutes a “nation”. Language is of course one of the characteristic features of a nation, but Stalin adds the idea of territory to it, on the grounds that “living together for a long period is […] impossible without a shared territory.”35 Alongside these there are the economic community and the culture. Accordingly, his definition reads  : “A nation is a stable community of people created in the course of history, having come into being on the basis of shared language, territory, and economic life and of that psychological makeup that manifests itself in a community of culture.”36 One is immediately struck by a major difference between this and Austro-Marxist theory  : Stalin’s approach lays greater stress on the economic aspect, and his emphasis on this and on territory rules out Renner’s personality principle. And indeed the very considerable intermingling of nationalities that in the Habsburg Empire resulted from the internal migration caused by industrialization was not a factor in the Russian situation. For Stalin there is nothing incalculable about nationalism  ; significantly, he accuses Bauer of making the nation into something mystically intangible and otherworldly. One of the main points on which Austro-Marxism was criticized was its understanding of the right of self-determination. The traditions of the Empire, and the traditional deutschnational outlook that out of a sense of cultural mission wanted to preserve the Empire, were unfamiliar to Stalin, and his thinking went beyond the Habsburg Monarchy. Indeed, in 1913 it was still easy for Stalin’s thinking to go beyond Russia, which was to lead to problems only a few years later. For Stalin in 1913 autonomy means that any nation “has the right to secede completely”37. Under socialism in particular this aspect of the equal rights of all nations would pose no problems, given that even capitalist countries like Switzerland and the United States were able to minimize conflicts between nationalities. Thus a blind faith in progress marks Stalin’s views in 1913 on the Caucasus, which today is a particularly volatile region  : 34 Ibid., 23. 35 Josef W. Stalin, Marxismus und nationale Frage, in  : Josef W. Stalin, Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Cologne 1976, 30. 36 Ibid., 32. 37 Ibid., 44.

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“The national question in the Caucasus can be resolved only in the spirit of letting those nations and peoples that are latecomers become part of the general current of higher culture. […] Regional autonomy for the Caucasus is acceptable precisely because it draws the late-coming nations into the general cultural development […] propels them forward and facilitates their access to the benefits of higher culture. In contrast, national-cultural autonomy works in precisely the opposite direction, for it leaves the nations encased in their old shells, holding them down at the lower levels of culture.”38

Stalin’s premise is, then, that the nations he describes as latecomers (that is, the less industrialized nations) will in any case not feel a need for separation, for they will “strain with all their might to ascend to higher levels of culture.”39 So once again technological and cultural progress mechanistically solves all problems, even if it is no longer explicitly stated that all national characteristics will disappear. Seen from the standpoint of this worldview, Austro-Marxism would inevitably appear idealistic and conservative, pusillanimous in its proposed solutions and not materialistic in its theory. And this criticism cannot be wholly brushed aside  : neglect of the economic factor is indeed a weakness in the Austro-Marxist conceptions of the nation. Yet the twentieth century has amply demonstrated how small a part economic factors actually play in this context.

The Austrian “Solution” of 1918/19  : The End of Central Europe  ? Although during World War I the Austrian labor movement was able to avoid a split, and this was of enormous significance for the history of the interwar years, the currents within it were perceptibly moving further apart, especially on the national issue. While Renner and the so-called rightists believed to the end in preserving the Habsburg Monarchy and cooperated loyally in the administration of the state, the “leftists” surrounding Otto Bauer chose a different path. Undoubtedly Bauer’s period as a prisoner of war in Russia – he returned in 1917 – played a part in this. At all events, in their Nationalities Program of 1917 the leftists recognized the right of nations to self-determination.40 Although they had to express themselves cautiously because of censorship, they clearly envisaged a time when the Monarchy would have ceased to exist. 38 Ibid., 79. 39 Ibid. 40 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Vienna 1923.

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When the matter was decided, it was not decided by political programs, and not even, except in part, within the Habsburg Empire itself. The events of the war, the nationalities’ (especially the Czechs’) politicians in exile, and, last, the surge of nationalism bursting free from its bonds in the final weeks of the war were what finally led to post-1919 Austria’s being left over as a mere “remnant”41. The politicians assembled in the Paris suburbs did no more than acknowledge what had long since become a political reality.42 The decisions on frontiers made at Versailles, Saint-Germain, and Trianon may be criticized for some instances where the final fixing of a borderline was unjust or at least unfortunate, but not for the breaking up of the Monarchy itself. And “Central Europe” was not broken up in Paris – no one will deny that in the interwar period Prague was at least as European as Vienna. The term Central Europe, used in a cultural sense, describes those regions whose eastern boundary marks the limit of the spread of Western European cultural traditions (the Reformation, the Renaissance, pluralistic democracy, etc.)  ; the changes made in 1919 affected only the patterns of government and economic life, usually, in the short term, in the direction of greater democracy and more limited markets. Intellectually and culturally there was no real break in continuity  : in Prague, “Austrian” literature (that is, literature in German) continued to be written, and nowhere was the old architecture deliberately destroyed. It was only World War II that brought the traditions to an abrupt end, and created for the following decades a divided Europe with palpable incisions that suddenly placed a real distance between Vienna and Pressburg (Bratislava). “Central Europe” had up to 1933 been a concept of no real significance, since Prague at that time was – not only geographically – farther to the west than Vienna  ; but along this new dividing line a “Central Europe” came into being specifically in response to a need felt by the side that in 1945 had clearly come off worse. The fact that the region associated itself in a romantic fashion with the Habsburg Monarchy signifies no more than that politics need to be legitimized by history. But the area now described as “Central Europe” does not correspond even geographically to the old Empire. A region that includes Bosnia and Herzegovina, but not Silesia – what exactly is it supposed to represent in the present day  ?

41 The expression is Clemenceau’s. 42 In the very last weeks of the war large parts of the Habsburg Monarchy were designated as belligerent states in opposition to the Central Powers. This made the work of the conference in the area of reparations, too, very complicated. See  : Manfred Bansleben, Das österreichische Reparationsproblem auf der Pariser Friedenskonferenz (= Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 9), Vienna 1988.

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At all events, for Renner, Bauer, and the other Austrian Social Democrats the decisive change took place in 1918. Suddenly invested with responsibility for the new, barely viable state, which, moreover, was largely homogeneous in terms of nationalities (despite the ethnic minorities, with whom the majority has an uneasy relationship to this day), they had other, more pressing problems to deal with. Before World War I the Austro-Marxists’ strength had been that they responded to concrete political problems  ; after 1918 this same trait meant that the national question was necessarily pushed to the sidelines. To be sure, Bauer was an enthusiastic advocate of Anschluss with Germany, in the belief that this would accelerate progress toward socialism,43 but the Social Democrats’ political energies were fully absorbed by political conflicts within Austria. Austro-Marxism acquired a completely different political profile.44 It was now most strongly identified with the discussion about the emergence of “New Men”45 or about an integral socialism, a “third way”46.

Soviet Nationalities Policy in Practice The events of 1917 meant that in Russia the nationalities policy conceived in theoretical terms could now be tested out in practice. What would the territorial principle, and the right of self-determination even to the point of secession, mean in the real world of politics  ? The first retraction came even before the October Revolution. True, in May 1917 the Bolsheviks still emphasized the right of self-determination, but “the question of the right of nations to be free to secede must not be confused with the question of whether it is expedient for this or that nation to secede at this or that particular moment.”47 After Brest Litovsk this was expressed even more clearly  : “The limited 43 Hanns Haas, Otto Bauer und der Anschluss 1918/1919, in  : Helmut Konrad, ed., Sozialdemokratie und »Anschluß«  : Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen  : Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Vienna et al. 1978, 36–44. 44 Hans Hautmann and Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945  : Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 4), 3. edition, Vienna et al. 1978, 146 ff. 45 Josef Weidenholzer, Auf dem Weg zum »Neuen Menschen«  : Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 12), Vienna 1981. 46 Otto Bauer, Die illegale Partei  : Aus dem unveröffentlichten Nachlass, Paris 1939. 47 Resolution on the national question passed by the Seventh All-Russian Conference of the Russian Social Democratic Workers’ Party in April 1917, in  : Stalin, Marxismus, 365 ff.

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perspective of the Austrian Social Democrats of the type of Renner or Bauer is shown by the fact that they did not understand the indissoluble link between the national question and the issue of power.”48 This was probably right during the phase of civil war and intervention. Under conditions of war, political independence was incompatible with military unity. A solution was found in the creation of Autonomous Soviet Socialist Republics (ASSRs), the first of which was set up in Turkestan in 1919. A commission was entrusted by the Central Committee with the “task of helping Turkestan to strengthen its state and party organs, to rebuild the economy, and to correct mistakes made in connection with the nationalities policy.”49 In 1919 and 1920 a number of other republics were founded, namely, the Bashkir ASSR, the Tatar ASSR, the Kirgiz ASSR, and the Karelian ASSR, as well as a number of so-called autonomous regions. On December 29, 1920, the Russian Socialist Federative Soviet Republic and the Ukrainian Soviet Republic concluded a treaty of cooperation that united the military and economic People’s Commissariats of the two signatories. Barely three weeks later Belorussia obtained a similar treaty.50 Georgia swiftly followed. The Tenth Soviet Congress of December 1922 created the Union of Soviet Socialist Republics (USSR), consisting at that time of the Russian, Transcaucasian, Ukrainian, and Belorussian Soviet Republics (others joined later). With this development, and the constitution of 1923, which the individual republics adopted in 1924 by making appropriate changes in their own constitutions, the process of consolidation was largely complete. “In this way the proletariat has found in the Soviet system the key to the proper solution of the national question, and has found in it the way to organize a firmly united multinational state based on equal rights for the nationalities and their voluntary agreement.”51 Statements were still made confirming the right of self-determination – even the “inalienable right to secession from Russia,” in Stalin’s words of 192052 – but the reality was that secession and the viability of the state were incompatible. Also involved were the vital interests of the mass of the people at the “center”  : “The interests of the masses of the people signify, however, that at the present stage of the revolution the demand for secession of the peripheral regions is wholly and utterly counterrevolu48 Josef W. Stalin, Der Oktoberumsturz und die nationale Frage (1918), in  : Josef W. Stalin, Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Cologne 1976, 111. 49 Ilja Borisovič Berchin, Geschichte der UdSSR  : 1917–1970, Berlin [East] 1971, 201. 50 Ibid. 51 Die nationalen Momente in Partei- und Staatsaufbau  : Resolution passed by the Twelfth Party Conference of the Russian Communist Party in April 1923, in  : Stalin, Marxismus, 386. 52 Ibid., 383.

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tionary.”53 Since the autonomy of a cultural group – the outstanding instance of a demand for such autonomy being the program of the Jewish Bund54 – was also ruled out, there remained only the concept of regional autonomy, which, although it did permit federative structures, was based on an association that was fixed and not to be called into question. Stalin also modified his theory on these matters. He now accepted that the exis­ tence of different nations remained and would remain a fact, even after the revolution. “Allowing the schools, the law courts, the administration, the organs of state power to operate in the mother tongue is to realize in practice autonomy within the Soviet system, for this autonomy is nothing other than the sum of all these institutions clad in Ukrainian, Turkestani, Kirgizian, etc., forms.”55 Once again the nation is defined by language, and the problem of mobility is disregarded. Despite the wish for, and later massive encouragement of, the centralization of large-scale industries, Stalin believes that he can identify linguistic groups by geographical area. The rights of minorities, if one is not to limit autonomy to the realm of culture, must therefore be attached to a specific territory because only then can administration, etc., be included. It is one of the chief flaws of the Soviet nationalities policy that rights are thus denied to all groups that have become minorities through migration. The implementation of the territorial principle has, right up to the present day, led in practice to the creation of a very complex state structure that has nevertheless been unable to deal successfully with this problem of migration. As well as the fifteen Union republics there are twenty autonomous republics, which are independent but lack the sovereignty in international law possessed by the Union republics. Within these there are a further eight autonomous regions and ten autonomous districts, which are wholly subject to the laws of whichever republic they are situated in and exist only to preserve the languages of the groups concerned. Even 24 million out of the 137,4 million Russians do not live in their own republic.56 The Jews’ territory in Asia is practically useless to them, since they virtually all live in the European part of the Soviet Union. Only 2,7 million of the 4 million Armenians and 1,6 of the 6,3 million Tatars benefit from the protection of their own republics. About half of the members of the 100 smaller nations live outside 53 Josef W. Stalin, Die Politik der Sowjetmacht in der nationalen Frage in Russland (1920), in  : Josef W. Stalin, Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Cologne 1976, 115. 54 On the history of the Bund see  : Arye Gelbard, Der jüdische Arbeiter-Bund Rußlands im Revolutionsjahr 1917 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 26), Vienna 1982. See also  : Bunzl, Klassenkampf. 55 Stalin, Politik, 120. 56 Helen L. Krag, Vielvölkerstaat Sowjetunion, in  : Wiener Tagebuch, issue 11 (1989), 24.

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the regions in which they would enjoy autonomy.57 Everywhere, then, the territorial principle reveals its limitations. It is more effective than any personality principle in safeguarding the existence of a language and culture, but its lack of flexibility creates new problems. And it was and still is impossible to avoid the creation of a linguistic hierarchy  ; upward social mobility inevitably leads to bilingualism, especially among the smaller nationalities with no republics of their own. Lenin, who in the early years of the Soviet state accepted Stalin’s views on the national issue, thought that the principle of “internationalism before nationalism” solved the problems.58 While his People’s Commissar for Nationalities set up the structures for the strict application of the territorial principle, Lenin spoke of the primacy of the class struggle, saying, in other words, that the resolution of social conflicts in Soviet society must be given priority over that of national conflicts. This is almost an echo of the naive cosmopolitanism of the young European labor movement, and it stands in stark contrast to Stalinist policies, especially of course those of the later decades. The liquidation of the intelligentsia of the non-Russian nationalities, the resettlements, and the particular role played by anti-Semitism, because the Jews fitted least well into the rigid scheme, were all logical and brutal consequences of Stalin’s theory when put into practice.

Conclusions There was unfortunately no opportunity for the Austro-Marxists’ proposals, which vacillated between pure personality principle and moderate territorial principles, to be put to the test in practice. From the vantage point of the last decade of the twentieth century, our verdict must probably be that the main strength of the Austro-Marxist approach to the national question lay in its analysis of the problem rather than in its practical proposals for the ordering of the coexistence of different nations within one state. All theories on what constitutes a nation, right up to those, certainly the most important, that approach the subject from the perspective of communication theory,59 take Otto Bauer’s analyses as their starting point. To have laid down such a foundation, by developing a category of “nation” beyond the merely linguistic and 57 Ibid. 58 Ibid., 23. 59 See the studies by K. W. Deutsch, which are also cogently summarized in  : Hans Mommsen and Albrecht Martiny, Nationalismus, Nationalitätenfrage, in  : Claus D. Kernig, ed., Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft  : Eine vergleichende Enzyklopädie, vol. 4, Freiburg et al. 1971, 623–695.

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cultural sense, but without falling prey to a rigid, mechanistic, predominantly economic interpretation, was unquestionably an important contribution. The Austro-Marxists’ practical proposals are, in contrast, still strongly influenced by the understanding of the nation as a linguistic group. Moreover, had these proposals been implemented, the personality principle would have had the effect of accelerating assimilation  ; the pressure exerted by the majority in a given region (and by, as some of the Austro-Marxists would have it, the superior German culture) would have been stronger than in the Soviet model, in which a nation’s territory formed a protective zone – if only, in some cases, in the manner of the “homelands” in South Africa. However, the theory behind these provisions by the Soviet state cannot exactly be classed as a milestone in the history of European thought. After the disintegration of the Danube Monarchy and the end of the Russian civil war, however, the national issues ceased to be of central concern to Social Democratic and Communist theoreticians. For Europe at least, at the end of World War I the time of fulfillment seemed to have arrived when the continent could be divided up on a national basis. In Eastern Europe “the collapse of four empires created a conglomeration of weak and inexperienced states”60, all formed in the name of the right of peoples to self-determination. But the drawing of the frontiers was not easy, for strategic, power-political, economic, historical, or simply practical factors were often the primary considerations. Furthermore, especially in the decades following industrialization, the lines separating nations (here in the sense of linguistic groups) had become increasingly blurred. With the “balkanization” of Eastern and Central Europe, sixty million people were liberated from foreign rule, but twenty million became new minorities61 in the new states, a breeding ground for social and political unrest in the decades that followed. This is especially true of the German-speaking minorities who, more than others, suffered a lowering of their political, though usually not their social, status. They were ready to support revisionist movements that called into question the results of the Paris peace conferences, and among these groups elements of fascist ideology, that monstrously heightened form of nationalism, were able at an early date to find fertile soil. Certainly exaggerated nationalism is not the only or even the central characteristic of the fascist movements of the interwar period. Nevertheless, it is an essential component, and is cited in all attempted definitions of fascism. Fascism would be 60 Karl R. Stadler, The Birth of the Austrian Republic 1918–1921, Leiden 1966, 8 (German edition  : Hypothek auf die Zukunft. Die Entstehung der österreichischen Republik 1918–1921, Vienna et al. 1968, 10). 61 Ibid., 17/17.

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unthinkable without an ideology of the “community” that enables sections of the population whose social position is threatened or who have already suffered a loss of social status to feel a sense of security and superiority (over other communities, i.e., nations or states).62 That this process was inevitably accelerated to an extraordinary degree by the world economic crisis can hardly be doubted. That was one of the reasons why fascism attained a mass following and why left-wing internationalist attempts to oppose it were powerless. Internationalism – apart from some forms of naive cosmopolitanism – can on the whole be transmitted only by rational arguments, whereas nationalism and the “community” ideology were spread almost entirely by irrational, emotive means. Because nationalism was being taken over by fascism, and because analysis of the causes of World War I pinpointed the role played by nationalism, the organized labor movement for some time suppressed nationalist ideas. Although there were two movements, in sharp competition with one another, which each had their own international organizations, both attached great importance to dissociating themselves from nationalist tendencies. The acute anti-Marxism that is characteristic of all fascist movements was to a large extent a hostile reaction to the international aspirations of the Social Democratic and Communist workers’ movements (“the Jewish-Bolshevist world conspiracy”). The labor movement, by its distrust of nationalism, made it easy for fascism to appropriate a whole range of emotionally charged aspects of culture such as the study of one’s native land, traditional customs, folksong, dance and so on, and was unable to offer effective alternatives.63 It remained elitist, rational, and abstract, and was therefore bound to be defeated, at least outside the Soviet Union. A change in Stalin’s attitude toward the nationalities in the years of greatest threat helped Bolshevist Russia to succeed in its struggle for survival against National Socialism, but this does not prove that Stalin’s theory was correct. Quite the contrary  : whereas until a few years ago the national issue was considered to have been resolved reasonably satisfactorily, the events now taking place show that the problems had merely been overlaid with other things, not actually overcome. The new nationalism in the Soviet Union corresponds to an awakening of nationalist tendencies in many parts of Europe.64 The belief that nationalism was a nine62 Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft  : Liberalismus–Faschismus, Reinbek 1971, 85 f. 63 Helmut Konrad, Der Nationalismus. Eine »bürgerliche« Ideologie  ? in  : Anton Pelinka, ed., Ideologien im Bezugsfeld von Geschichte und Gesellschaft (= Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 2), Innsbruck 1981, 225. 64 On the regional movements see  : Blaschke, Handbuch.

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teenth-century ideology and that modernization would make it less and less relevant is increasingly proving to be a fallacy. On this point Bauer’s theory that national sentiment and the division of people into national groups would continue is borne out even in our present-day world of growing uniformity, in which McDonald’s and Coca-Cola (and, equally, Sony, and higher culture) are beginning to iron out cultural differences. Given the speed of events in the last few months, however, any prognosis for the future, especially one by a historian (whose profession makes him more inclined to bet on yesterday’s horseraces), would be pure charlatanry. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Between “Little International” and Great Power Politics  : Austro-Marxism and Stalinism on the National Question, in  : Richard L. Rudolph and David F. Good, eds., Nationalism and Empire  : The Habsburg Empire and the Soviet Union, New York 1992, 269–291 (St. Martin’s Press in association with the Center for Austrian Studies, University of Minnesota).

Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Sozialdemokraten (1990) Die Geschichtsschreibung zur österreichischen Arbeiterbewegung der Zwischenkriegs­ zeit hat ihr Augenmerk vornehmlich auf die Arbeiterbewegung als Kulturbewegung gerichtet. Das Experiment des »Roten Wien«, die Erziehung zu »Neuen Menschen« standen und stehen im Vordergrund des Interesses. »Eine siegreiche Revolution braucht vor allem Ingenieure (Sowjetunion)  ; eine erfolglose Revolution bedarf der Psychologie (Wien)«1, hatte Paul Lazarsfeld geschrieben und damit einen möglichen Erklärungsansatz dafür geboten, warum der Austromarxismus, die dominante politische Position in der österreichischen Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit, sich in erster Linie als Kulturbewegung darstellt. Aber auch das prinzipielle Politikverständnis der österreichischen Sozialdemokratie mit der reformistischen Grundtendenz war schon seit dem Hainfelder Parteitag von 1888/89 darauf ausgerichtet, der »Erhebung aus der geistigen Verkümmerung«2 zu dienen und somit dem sogenannten »Überbaubereich« die entscheidende Rolle zuzuordnen. Es gibt also neben dem kurzfristigen Erklärungsansatz, der den Verlauf der österreichischen Revolution als zentrales Moment sieht, auch die langen Linien einer ideologischen und kulturellen Tradition, die beachtet werden müssen. Um Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit richtig beurteilen zu können, scheint es daher wichtig zu sein, diesen kulturgeschichtlichen Gesamtzusammenhang als Hintergrund zu sehen und gleichzeitig die Schlüsselrolle der sogenannten »österreichischen Revolution« von 1918/19 zu akzeptieren. Gerade aber wenn man die zentrale Bedeutung der Jahre 1918/19 für den weiteren Verlauf der österreichischen Geschichte anerkennt, wird man wohl, nicht zuletzt wenn die Tagung und die Publikation einen bilateralen Vergleich im Auge haben, die Fragestellung des deutschen Historikertages aus dem Jahr 1982 aufgreifen müssen, die den Handlungsspielräumen in der Geschichte galt. 1

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Zitat nach  : Josef Weidenholzer, Auf dem Weg zum »Neuen Menschen«. Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 12), Wien 1981, 64. Prinzipien-Erklärung des Hainfelder Parteitags, in  : Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1967, 138.

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Handlungsspielräume, nach subjektiven und objektiven Faktoren (eine etwas schematische und damit nicht unproblematische Trennung) betrachtet, ermöglichen einen strukturgeschichtlichen Zugang zur Ereignisgeschichte und machen Vergleiche leichter, zumindest auf einer gewissen Ebene der Abstraktion. Es handelt sich dabei um keine »Was wäre gewesen, wenn«-Geschichtsbetrachtung, sondern ganz einfach um eine Anerkennung der Tatsache, daß es unter gewissen ökonomischen, sozialen, kulturellen und außenpolitischen Rahmenbedingungen für die politisch handelnden Personen Spielräume von unterschiedlicher Breite gibt. Bei der Weichenstellung in den Jahren 1918/19 wird von der Literatur allgemein der Handlungsspielraum, der der österreichischen Sozialdemokratie zur Verfügung stand, in der nationalen Frage, die sich vornehmlich als »Anschlußfrage« stellte, für klein, im Problemfeld Demokratie-Rätebewegung hingegen für groß gehalten. Hinter beiden Vermutungen wird man heute wohl ein Fragezeichen setzen müssen. Jedenfalls scheint eine Überprüfung nicht unangebracht zu sein, die nach den genannten subjektiven bzw. objektiven Faktoren erfolgen, die aber gleichzeitig auch die längerfristigen Ursachen und Auswirkungen beachten soll.

1. Der subjektive Spielraum in der Frage der Staatsform Seit der Übernahme des liberalen Erbes, zumindest in seinen demokratischen Teilen, aus der Revolution von 1848, ein Prozeß, der etwa in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ablief, spätestens aber seit der stillschweigenden Akzeptanz des Revisionismus um die Jahrhundertwende im Wiener Programm von 19013 trägt die österreichische Sozialdemokratie ihren Namen, in dem explizit auf den Charakter einer Partei verwiesen wird, die für die Erreichung bzw. Ausweitung der Demokratie eintritt, zurecht. Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht, vorerst für Männer (eine Einschränkung, die der Grundhaltung der österreichischen Sozialdemokratie in dieser Frage zumindest nicht zuwiderlief )4, galt nicht zufällig für Jahre als Hauptanliegen, das alle internen Fraktionskämpfe und Probleme, sogar die nationale Frage, den sogenannten »Sprachenstreit«, zudeckte.

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Vgl. Berchtold, Parteiprogramme, 145 ff. Maria Sporrer, Aspekte zur Frauenwahlrechtsbewegung bis 1918 in der österreichischen Sozialdemokratie, in  : Helmut Konrad (Hg.), Imperialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. Protokoll des 4. bilateralen Symposiums DDR-Österreich vom 3.–7. Juni 1985 in Graz (= Materialien zur Arbeiterbewegung 41), Wien 1985, 103–113.

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Als dieses allgemeine Männerwahlrecht 1907 die Sozialdemokratie zu einem bedeutenden innenpolitischen Faktor gemacht hatte, begann ein Prozeß der Integration in den Staat, der aus der verbal revolutionären Partei die »k.k. Sozialdemokratie« machte, deren staatserhaltende Grundtendenz nicht mehr ernstlich bezweifelt werden konnte. In der österreichischen Reichshälfte lief somit in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein Prozeß ab, der die führenden Männer der Arbeiterbewegung an die prinzipielle Änderung der bestehenden Gesellschaftsordnung oder zumindest an den Ausgleich der sozialen Ungleichgewichte im Rahmen bestehender (oder ohne Spielregelverletzung neu zu beschließender) Gesetze glauben ließ. Wenn es der Führungsgarnitur der Sozialdemokratie in Österreich auch erspart blieb, im Parlament zur Frage von Kriegskrediten Stellung zu beziehen, ist doch unverkennbar, daß das Beispiel im Deutschen Reich zumindest die Richtung des Verhaltens andeutete, der auch die Österreicher gefolgt wären, allerdings mit der Ausnahme, daß nicht zuletzt bedingt durch die späte Einigung5 der österreichischen Sozialdemokratie, ein Spaltungsprozeß unwahrscheinlicher gewesen wäre. War also die demokratische Grundhaltung akzeptiert, so stellten sich doch in der Diskussion um die Theorie, vor allem im Rahmen der Organisationstheorie, ernste Probleme. Vorrangig war hier die Auseinandersetzung um den »demokratischen Zentralismus«6. In der Kritik an der leninistischen Position, aber auch in Abgrenzung zu Rosa Luxemburgs Spontaneität »von unten« war etwa Otto Bauer für einen gemäßigten, aber doch konsequenten Zentralismus, soweit er in einem Staatsgebilde wie der österreichischen Reichshälfte praktizierbar war. Dieser Zentralismus, bis zur Gegenwart, zumindest aber bis in die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts7, strukturelles Merkmal der österreichischen Sozialdemokratie, hatte in der Monarchie ohne Zweifel eine wichtige Schutzfunktion für bildungsmäßig Unterprivilegierte, bedeutete aber auch einen Entscheidungsfluß von oben nach unten und die Verwerfung eines demokratischen Subsidiaritätsprinzips. Für Teile der Führungsgarnitur brachte das Ende des Ersten Weltkriegs ein Umdenken. Hatte die Sozialdemokratie insgesamt in den beiden letzten Kriegsjahren einen Schritt nach links getan, vor allem um die Einheit nicht zu gefährden, so schienen sich 1918 auch grundsätzlich neue Perspektiven aufzutun. Zwar wurde am de5 6 7

Diese These wurde mehrfach von Norbert Leser vertreten. Reinhard Kannonier, Zentralismus oder Demokratie. Zur Organisationsfrage in der Arbeiterbewegung (= Materialien zur Arbeiterbewegung 29), Wien 1983. Die Diskussion um das Parteiprogramm der SPÖ im Jahr 1978 brachte im Programm schließlich folgende Formulierung  : »Für eine dezentralisierte Verwaltung im Rahmen einer sinnvollen Verteilung der Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, wobei der Föderalismus nicht bei den Ländern enden darf.« Das neue Parteiprogramm der SPÖ, Wien 1978, 51.

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mokratischen Zentralismus festgehalten, und im Aktionsprogramm des Verbandes sozialdemokratischer Abgeordneter vom Februar 1919 wurde eine Verfassung für Deutsch-Österreich angeregt, die prinzipiell antiföderalistisch sein sollte (Einkammerparlament, Reichsrecht bricht Landesrecht etc.)8. Aber der linke Flügel der Bewegung, der die Organisation der Räte trug, begann über die Demokratie hinauszudenken, empfand sie als Hemmschuh. »Die Demokratie, so lange ein Hauptkampfmittel des Sozialismus, […] ist selbst verdächtig geworden als ein nur unzulängliches Werkzeug der proletarischen Revolution, als ein im wesentlichen bürgerliches Kampfmittel, das wohl geeignet sei, als Grundlage einer bürgerlichen Republik zu dienen, aber dem Klassenkampf des Proletariats nicht nur keine Bewegungsfreiheit zur Überwindung des bürgerlichen Klassenstaates belasse, ja die revolutionäre Energie für diese Aufgabe geradezu lähme«9,

schrieb Max Adler 1919. »Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel«, formulierten diese Kreise in Anlehnung an Deutschland wenig später. Stärker aber waren die geschilderten demokratischen Traditionen seit sieben Jahrzehnten. Der Großteil der handelnden Personen legte Wert darauf, zu den »besseren Demokraten« zu zählen, für sich in Anspruch zu nehmen, die parlamentarische Demokratie gegen den Willen des Bürgertums in diesem Staate durchgesetzt zu haben. So schrieb Otto Bauer etwa im Dezember 1919 in der Diskussion um das Asylrecht für geflüchtete ungarische Revolutionäre  : »Unser Bürgertum ist vor einem Jahr zu seiner eigenen Überraschung plötzlich ›demokratisch‹ geworden. Es hat schon ganz brav gelernt, gegen die Ansprüche der Arbeiterräte auf öffentliche Gewalt die Prinzipien der Demokratie zu verfechten. Aber man wird nicht über Nacht zum echten Demokraten. Vom Wesen, vom Inhalt, von der Tradition der Demokratie, ja selbst nur des echten Liberalismus, hat unser Bürgertum keine Ahnung. Seine Feindschaft gegen das Asylrecht ist geradezu ein Gradmesser seiner ›Demokratie‹«10.

Die Spannweite der Positionen innerhalb der Arbeiterbewegung war in dieser entscheidenden Frage, dem Verhältnis zur Demokratie, groß. Dennoch gelang es der österreichischen Sozialdemokratie, im Gegensatz zu den meisten europäischen   8 Aktionsprogramm des Verbandes sozialdemokratischer Abgeordneter (1919), in  : Berchtold, Parteiprogramme, 233.   9 Max Adler, Probleme der Demokratie, in  : Der Kampf 12/1 (1919), 12. 10 Otto Bauer, Auslieferung und Asylrecht, in  : Der Kampf 12/36 (1919), 792.

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Schwesterparteien, in dieser Phase ihre Integrationskraft zu bewahren. Sie war gleichzeitig die dominante Kraft in der Regierung und Trägerin der stärksten außerparlamentarischen Opposition, und dieser Mechanismus wurde in einem komplizierten und gefährlichen Spiel zur gegenseitigen Stützung und Beschleunigung eingesetzt, wobei aber außer Frage stand, daß die meisten Handlungsträger den demokratischparlamentarischen Ast als den wesentlichen und auch bestimmenden sahen. Es war aber der außerparlamentarische Druck, der die Erfolge in Parlament und Regierung, wie etwa die berühmte Sozialgesetzgebung, ermöglichten. Die mit diesem Druck erzielten politischen Erfolge bekamen aber so das Stigma des »revolutionären Schutts«, die von der Sozialdemokratie durchgeführte bürgerliche Revolution mit ihren sozialstaatlichen Komponenten galt einer bürgerlichen Öffentlichkeit als sozialistische Gesellschaftsänderung. Die bürgerliche Revolution gegen das Bürgertum bedingte die mangelhafte Identifikation der nicht-sozialdemokratischen Parteien mit dem Staat, den sie ab 1920 beherrschten. Anders als auf Bundesebene lief die Entwicklung in den Ländern. Von wenigen Ausnahmen in klassischen industriellen Ballungsräumen abgesehen, war hier die Sozial­ demokratie erst zu einem Zeitpunkt ein quantitativ beachtenswerter Faktor geworden, als die Theoriebildung insgesamt die revolutionäre Periode hinter sich hatte. Zudem waren die Christlichsozialen meist in einem Ausmaß dominant, daß ein Bündnis in kulturkämpferischer Tradition mit den Nationalen die Regel war. Nach 1918 standen Länderinteressen im Vordergrund, und selbst die Rätebewegung betonte primär ihre Landesbindung. Die Länderverfassungen sahen die politische Zusammenarbeit vor, und die Sozialdemokraten erwiesen sich als verläßliche Juniorpartner in diesen Proporzregierungen. Über die Länder ist auch die Frage der Kontinuitäten zur Zweiten Republik in einem anderen Licht zu sehen als bei einer Fixierung auf die großen Auseinandersetzungen auf gesamtstaatlicher Ebene. Es waren also nur wenige, die mit Max Adler »die bürgerliche Demokratie als eine große und tragische Weltillusion«11 begreifen konnten. Die meisten Sozialdemokraten dachten über eben diese Demokratie nicht hinaus. Und selbst die Vorstellungen Max Adlers konnten noch im Rahmen der damals angewendeten Strategien eingebaut werden. Da sie innerhalb der Sozialdemokratie Platz fanden, formierte sich im linken politischen Spektrum keine antidemokratische Partei von Relevanz. Allerdings betätigte sich die Sozialdemokratie hier, wie schon früher in der Monarchie, »als unbedankte Staatsretterin, indem sie die Etablierung einer Räteherrschaft im Stile 11 Zitat nach  : Gerald Mozetic (Hg.), Austromarxistische Positionen (= Klassische Studien zur sozial­ wissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung 2), Wien/Köln/ Graz 1983, 245.

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Ungarns und Bayerns verhinderte, gleichzeitig aber so einschüchternd und aggressiv agierte, daß sich das Bürgertum als Opfer einer Revolution fühlen«12 konnte. Wie groß war also in den Jahren 1918 bis 1920 der subjektive Handlungsspielraum der Sozialdemokratie in der Frage der Staatsform  ? Die Bewegung ließ zweifellos, außer am strategisch wichtigen linken Rand, ein Hinausdenken über die Demokratie nicht zu. ln zumindest drei Varianten wurden die Grenzen eng gezogen  : a) regional  : Nur die Großstadt und industrielle Ballungsräume ließen das alleinige Ausüben der Macht nicht gänzlich unrealistisch erscheinen. Je weiter von den Zentren, desto weniger waren Formen der Räteherrschaft (eher schon Reste von anarchistischen Herrschaftslosigkeitsideologien) überhaupt denkbar, denn desto ungebrochener stand man viel eher im liberal-demokratischen als im marxistischen Erbe  ; b) altersmäßig  : Je älter Politiker waren, desto stärker war ihre Integration in die bestehende Gesellschaft schon erfolgt. Nur bei jungen Funktionären, die auf diese Art auch einen Generationskonflikt austrugen, konnten Räteideen breiter Fuß fassen  ; c) hierarchisch  : Über die Demokratie hinaus dachten nicht die unmittelbare Führungsgarnitur, auch nicht der kleine Funktionär, sondern mittlere Funktionärskader, meist gebildet und jung, und kleinere Teile der sogenannten »Basis«. Die Positionen, die innerhalb der Sozialdemokratie in diesen entscheidenden Jahren bezogen wurden, blieben in großen Zügen auch in Jahren nach dem Bruch der Koalition bestehen. Die Partei fühlte sich als Hüterin der Demokratie, die Diskussion um andere Staatsformen (»Diktatur des Proletariats«) blieb ganz kleinen Zirkeln vorbehalten und spielte nur innerparteilich zur Einbindung des linken Flügels eine nennenswerte Rolle. Zudem blieb sie ihrer zentralistischen Grundposition treu. In ihrem Parteiprogramm von 1926 sprach sich die Sozialdemokratie eindeutig gegen die Konstruktion des Bundesstaates aus. Sie trat für die Einheitsrepublik auf und wollte das föderalistische Prinzip nur für die Gemeinden angewendet wissen. Das hat nicht nur aktuelle politische Gründe, sondern liegt auf der Linie der Diskussion um den demokratischen Zentralismus. Entscheidend ist in diesem Programm aber der Abschnitt »Der Kampf um die Staatsmacht«, da dieser zu den heftigsten politischen Kontroversen geführt hatte. Vorerst nimmt hier die Sozialdemokratie für sich in Anspruch, »die Monarchie gestürzt, die demokratische Republik begründet« zu haben, zweifelt aber sodann die 12 Norbert Leser, Der Bruch der Koalition von 1920 – Voraussetzungen und Konsequenzen, in  : Rudolf Neck/Adam Wandruszka (Hg.), Koalitionsregierungen in Österreich. Ihr Ende 1920 und 1966. Protokoll des Symposiums »Bruch der Koalition« in Wien am 28. April 1980 (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak Preises zur Erforschung der Österreichischen Geschichte der Jahre 1918 bis 1938 8), Wien 1985, 37.

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Gerechtigkeit des demokratisch-parlamentarischen Systems an, solange die Privilegierten die kulturelle Hegemonie haben, das Volk unter ihrem geistigen Einfluß halten können. Nach einer kurzen Schilderung des Zustandes eines »Gleichgewichts der Klassenkräfte« wird die Forderung nach der Eroberung der Herrschaft in der demokratischen Republik erhoben, »nicht um die Demokratie aufzuheben, sondern um sie in den Dienst der Arbeiterklasse zu stellen«. Die für diesen Fall zu erwartende Konterrevolution muß auf die Wehrhaftigkeit der Demokratie treffen. »Wenn es aber trotz allen diesen Anstrengungen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei einer Gegenrevolution der Bourgeoisie gelänge, die Demokratie zu sprengen, dann könnte die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch im Bürgerkrieg erobern.« Gewalt – zwar ausschließlich defensiv und nur zur Verteidigung der Demokratie, aber dennoch Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung, noch dazu in einer Formulierung, die zu bewußten oder unbewußten Fehlinterpretationen geradezu einlädt. Die Sozialdemokratie blieb durch die ganze Erste Republik eine demokratischzentralistische Partei mit einer höchstens defensiven Bereitschaft, Demokratie zu verteidigen. Daher entlud sich Gewalt auch primär gegen sie, wie die Opferstatistiken der politischen Auseinandersetzungen der Ersten Republik deutlich beweisen13.

2. Objektiver Handlungsspielraum in der »Österreichischen Revolution« Enger als bei den subjektiven Faktoren werden bei den objektiven Handlungsspielräumen die zeitlichen Grenzen zu ziehen sein. Denn nur für ein knappes Jahr, vom Kriegsende bis zum Sommer 1919, schien eine ganze Palette an Möglichkeiten für die Gestaltung des neuen Staates offenzustehen. Um die tatsächliche Bandbreite an Möglichkeiten in diesem Zeitraum feststellen zu können, müssen zumindest die folgenden drei Fragen gestellt werden  : a) War die österreichische Rätebewegung ein brauchbares Vehikel für eine Transformation der Gesellschaftsordnung  ? b) War ein »Gleichgewicht der Klassenkräfte« tatsächlich existent oder nur Fiktion  ? c) Wie unterschieden sich die ökonomischen und außenpolitischen Rahmenbedingungen von jenen der anderen unterlegenen Staaten, d. h., wie entscheidend war der Einfluß der Siegermächte  ? 13 Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße. Putschversuche. Unruhen in Österreich 1918–1938, 2. Auflage, München 1983, 301.

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Die österreichischen Räte waren in den Tagen des Jännerstreiks von 1918 entstanden. Aber schon in ihrer Entstehungsgeschichte zeigt sich die spezifisch österreichische Komponente. Spontan hatten die Streikenden am 15. Jänner im Wiener Neustädter Industrierevier ihre Räte gewählt, aber schon zwei Tage später wurden diese Räte von der Sozialdemokratie an die Leine genommen14. Von den gewählten 310 Mitgliedern des Wiener Arbeiterrates kamen nur zwei aus der Gruppe der Linksradikalen. Die Rätebewegung war also nie eine Alternative zur Sozialdemokratischen Partei, sondern deren Ergänzung. Bis zum März 1919 war die Wählbarkeit in den Arbeiterrat sogar »an die Mitgliedschaft zur Sozialdemokratischen Partei, zur Gewerkschaftsorganisation und überdies an das Abonnement der Arbeiter-Zeitung gebunden«15. Erst in den Folgemonaten gelangen den Kommunisten unbedeutende Einbrüche in die Gremien, die aber einer mehr als neunzigprozentigen sozialdemokratischen Mehrheit gegenüberstanden. Auch die Roten Garden, wohl für putschistische Aktionen, wie etwa am 12. November 1918, stark genug, waren kein machtpolitisches Gegengewicht. Dennoch, allein die Existenz der Arbeiterräte bildete einen wichtigen außerparlamentarischen Organisationsansatz. Wie immer instrumentalisiert, machten sie doch eine Staatsführung jenseits parlamentarisch-demokratischer Spielregeln denkbar. Und nur auf diese Weise konnte das Wechselspiel funktionieren, in dem die Räte glaubwürdig als Druckmittel zur Durchsetzung von Forderungen innerhalb des parlamentarischen Systems einsetzbar waren, eine Waffe, die aber bei häufiger Anwendung zwangsläufig stumpf werden mußte und historisch auch tatsächlich wurde. All dies funktionierte zudem nur in Wien und im ostösterreichischen Industriegebiet. In den westlichen Bundesländern verstanden sich die Räte selbst nicht als Vehikel zur Gesellschaftsänderung, sondern nur zur Regelung konkreter regionaler Probleme, vornehmlich der Versorgung der Städte. Man fand sich zu gemeinsamer Arbeit mit den Produzenten, den Bauern, zusammen, denn »das beste Mittel gegen den gefürchteten Bolschewismus sind Lebensmittel, und die müssen wir daher bekommen«16, wie der sozialdemokratische Vizebürgermeister von Steyr, Wokral, ausführte. Wie sehr hier die Landesinteressen vor den gesamtpolitischen Fragestellungen kamen, zeigt etwa eine Forderung des Arbeiter- und Soldatenrates von Oberösterreich vom 14 Hans Hautmann, Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, 2. erg. Auflage, Wien/Frankfurt/Zürich 1971, 54. 15 Ebd., 133. 16 Anton Staudinger, Rätebewegung und Approvisionierungswesen in Oberösterreich. Zur ­Einbindung der oberösterreichischen Arbeiter- und Soldatenräte in den behördlichen Ernährungsdienst in der Anfangsphase der österreichischen Republik, in  : Isabella Ackerl/Walter Hummelberger/Hans Mommsen (Hg.), Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Wien 1981, 73.

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Februar 1919, in der neben anderen Punkten auch die »hermetische Schließung der Grenzen Oberösterreichs und genaue Kontrolle der behördlich genehmigten Ausfuhr durch den Arbeiter- und Soldatenrat«17 verlangt wurden. All dies machte es möglich, daß auch nicht-sozialistische Politiker in den Bundesländern in den Räten eine willkommene Hilfe bei der Lösung der ungeheuren Probleme der ersten Friedensmonate erblicken konnten. Systemgefährdende oder gar -überwindende Perspektiven fehlen hier völlig. So wird man wohl konstatieren müssen, daß das notwendige Instrument für die Errichtung einer Räteherrschaft, die Arbeiter- und Soldatenräte, in Österreich 1918 bis 1920 nicht zu diesem Zweck eingesetzt werden konnte. Der Handlungsspielraum in der Frage der Staatsform war also dadurch entscheidend eingeengt. Und wenn radikale Elemente um die Kommunistische Partei Teile der Räte zu Demonstrationen gegen den bürgerlichen Staat bewegen konnten, wie etwa im April 1919 bei den Unruhen in der Wiener Hörlgasse, zögerten Sozialdemokraten wie Julius Deutsch und Matthias Eldersch nicht, »die Exekutive gegen Demonstrationen […] einzusetzen«18. »Hier handelte die Partei zwar nie so konsequent wie die SPD im Deutschen Reich, wo der Sozialdemokrat Noske die Bewegung revolutionärer Arbeiter niederkartätschen ließ, doch ließ die Partei auch in Österreich keinen Zweifel an ihrer antirevolutionären Grundhaltung aufkommen«19, folgert Matzka zwar sehr pointiert, im Grunde aber nicht ganz unberechtigt, wenn man die Funktion der Politik, nicht die Phraseologie betrachtet. Allerdings war, wie schon angedeutet, das Verhältnis von revolutionärer und demokratischer Politik doch wesentlich komplizierter und wechselseitig abhängiger, als es Matzka sieht, der auch nicht zwischen dem subjektiven Wollen und den objektiven Möglichkeiten der handelnden Personen unterscheidet. Wie stand es aber mit dem sogenannten »Gleichgewicht der Klassenkräfte«  ? »So wenig eine bürgerliche Regierung möglich war, so wenig war eine rein sozialdemokratische Regierung möglich. So wenig das große Industriegebiet Wiens, Wiener Neustadt und der Obersteiermark eine rein bürgerliche Regierung ertragen hätte, so wenig hätte das große Agrargebiet der Länder eine rein sozialdemokratische Regierung ertragen […] Es war keine Regierung möglich ohne und gegen die Vertreter der Arbeiter. Es war keine Regierung möglich ohne und gegen die Vertreter der Bauern. Eine gemeinsame Regierung der Arbeiter und der Bauern war die einzige mögliche Lösung. Arbeiter und Bauern wußten 17 Ebd., 77. 18 Felix Kreissler, Von der Revolution zur Annexion. Österreich 1918 bis 1938, Wien 1970, 69 f. 19 Manfred Matzka, Sozialdemokratie und Verfassung, in  : ders. (Hg.), Sozialdemokratie und Verfassung, Wien 1985, 21.

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sich in der Regierung zu verständigen, sie mußten gemeinsam zu regieren versuchen, wenn sie nicht binnen kurzem im offenen Bürgerkrieg einander gegenüberstehen sollten«20.

Tatsächlich war innerhalb der Regierung die Sozialdemokratie in der stärkeren Position. Sie war in der Phase des Zusammenbruchs der Monarchie rascher handlungsbereit, konnte schneller reagieren, nicht zuletzt durch die strafferen Organisationsformen, und hatte als einzige politische Kraft zumindest grobe Konzepte. Aber dennoch war sie nur bedingt mehrheitsfähig. Und als Vertreterin eines möglichst exakten Verhältniswahlrechts konnte sie zwar zur stärksten Partei werden, eine absolute Mehrheit lag aber nicht im Rahmen des Erreichbaren. Durch das Ausbleiben zumindest zweier zentraler Reformen, der Bodenreform und der Sozialisierung, entsprach das »Gleichgewicht« in den politischen Gremien aber keinesfalls der gesamtgesellschaftlichen Realität. Und das Konzept, die fehlende Macht durch außerparlamentarische Druckmittel zu holen, konnte nur kurze Zeit erfolgreich sein und mußte im Machtverlust enden, da einerseits die Domestizierung der außerparlamentarischen Kräfte notwendige Voraussetzung war, anderseits die Glaubwürdigkeit dieser Kräfte durch mehrfachen Einsatz geringer werden mußte. Aber angesichts der drohenden Spaltung des Landes, der ungeheuren Probleme der Versorgung etc. war eine andere Vorgangsweise ein Risiko, das man nicht tragen konnte und wollte. Die Sozialdemokratie mußte ihre Machtinstrumente daher selbst beschneiden. »Die Regierung stand damals immer wieder den leidenschaftlichen Demonstrationen der Heimkehrer, der Arbeitslosen, der Kriegsinvaliden gegenüber. Sie stand der vom Geiste der proletarischen Revolution erfüllten Volkswehr gegenüber. Sie stand täglich schweren, gefahrdrohenden Konflikten in den Fabriken, auf den Eisenbahnen gegenüber. Und die Regierung hatte keine Mittel der Gewalt zur Verfügung  : Die bewaffnete Macht war kein Instrument gegen die von revolutionären Leidenschaften erfüllten Proletariermassen. Nur durch den täglichen Appell an die eigene Einsicht, an die eigene Erkenntnis, an das eigene Verantwortungsgefühl hungernder, frierender, durch Krieg und Revolution aufgewühlter Massen konnte die Regierung verhüten, daß die revolutionäre Bewegung in einem die Revolution vernichtenden Bürgerkrieg endet. Keine bürgerliche Regierung hätte diese Aufgabe bewältigen können. Sie wäre wehrlos dem Mißtrauen und dem Haß der Proletariermassen gegenübergestanden. Sie wäre binnen acht Tagen durch Straßenaufruhr gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden. Nur Sozialdemokraten konnten diese Aufgabe von beispielloser Schwierigkeit bewältigen. Nur ihnen vertrauten die Proletariermassen«21. 20 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Wien 1923, 128 f. 21 Ebd., 128.

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Objektiv liegt allerdings im Ausbleiben des Versuchs, die österreichische Revolution bis zu einer Räteherrschaft voranzutreiben, gleichzeitig unausweichbar die Fixierung der österreichischen Sozialdemokratie auf der Minderheitsposition im jungen Staat. Das »Gleichgewicht der Klassenkräfte«, wenn es überhaupt je ein solches gegeben haben sollte, konnte sich nur zuungunsten der Arbeiterbewegung verschieben. Wenn man die ökonomischen und außenpolitischen Faktoren beachtet, so schien Deutschösterreich bei der Teilung der Erbmasse der Monarchie auf den ersten Blick gar nicht schlecht abzuschneiden. Auf 22 % der ehemaligen Gesamtbevölkerung entfielen nicht weniger als 30 % des Volkseinkommens22. Die Probleme lagen aber im strukturellen Ungleichgewicht und im Chaos, im Mangel an Lebensmitteln und an Brennstoffen. Sicherten sich schon in der jungen Republik die agrarischen Bundesländer gegen allzu große Lebensmittellieferungen nach Wien ab, so wäre die Ernährungslage in einem ostösterreichischen Rätestaat unvorstellbar gewesen. Im Jänner 1919 wurde in Donawitz der letzte Hochofen angeblasen, da die Kohle fehlte. Daran hing die gesamte Schwerindustrie und mit ihr die Lebensgrundlage der Arbeiterbewegung des jungen Staates. Jede revolutionäre Aktion hätte diese wirtschaftliche Situation noch zusätzlich verschärft, die ohnedies schlimmer als in Bayern oder in Ungarn war. So war das Bremsen der Revolution auch eine Überlebensfrage. Der »Sieg über den Bolschewismus bedeutete aber nichts weniger als die Selbstbehauptung der österreichischen Revolution. Hätte der Bolschewismus auch nur für einen Tag gesiegt, so wären die Hungerkatastrophen, der Krieg, die Besetzung des Landes durch fremde Truppen die unvermeidlichen Folgen gewesen«23. Aber selbst in dieser Situation bewährte sich das Doppelspiel der Sozialdemokratie mit Regierungsverantwortung und Rätebewegung. Wurde etwa in den Friedensverhandlungen von Saint-Germain mit einer Einstellung der Lebensmittellieferung durch die Siegermächte gedroht, »falls sich der junge Staat etwa nicht in den Ring um die ungarische Räterepublik einordnen lasse, so verstand es der Delegationsführer Renner, seine Antworten so zu formulieren, daß hinter seinem Bitten um weitere Lebensmittellieferungen unmißverständlich die Drohung mit der sonst unvermeidlichen sozialen Revolution in Deutschösterreich stand«24. Renner schrieb etwa am 15. Juli 1919 an Clemenceau  : 22 Hans Hautmann/Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945. Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 4), 2. korr. u. erg. Auflage, Wien u.a. 1976, 125. 23 Bauer, Revolution, 142. 24 Helmut Konrad, Die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in Saint-Germain, in  : Erich Zöllner (Hg.), Diplomatie und Außenpolitik Österreichs. Elf Beiträge zu ihrer Geschichte (= Schriften des Instituts für Österreichkunde 30), Wien 1977, 142 f.

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»In wenigen Tagen schon sollen die Lebensmittellieferungen eingestellt werden, die wir bisher von den alliierten und assoziierten Großmächten erhalten haben. Die Folge davon wäre, daß in Wien und in unseren Industriegebieten, die gegenwärtig kein Fleisch, keine Kartoffeln und nur sehr geringe Rationen Fett erhalten, auch die Verteilung von Brot und Mehl eingestellt werden müßte. Die Bevölkerung wäre so dem Verhungern und den schwersten sozialen Erschütterungen preisgegeben«25.

Die Furcht der Entente vor einer Machtübernahme der Räte in Österreich war 1919 tatsächlich für einige Monate zu groß, um die Industriegebiete ökonomisch gänzlich aushungern zu können. Dies vergrößerte den außenpolitischen Spielraum der Regierung, die es sich leisten konnte, Maßnahmen zu sabotieren, die gegen das revolutionäre Ungarn gerichtet waren. So wurden Waffen aus den deutschösterreichischen Depots, die der Tschechoslowakischen Republik ausgeliefert hätten werden sollen, um von dort gegen Ungarn eingesetzt zu werden, nach Innsbruck geschickt und den Italienern übergeben. Und der Einsatz von Freiwilligen in der Roten Armee Ungarns ist ja bekannt, vor allem die 1.200 Männer um Leo Rothziegel, die an der rumänischen Front kämpften und sich in Österreich zu einem guten Teil aus der ehemaligen »Roten Garde« rekrutierten. Rothziegel verlor in den Kämpfen sein Leben. Der außenpolitische Handlungsspielraum war also klein, aber doch durch geschickte Politik zu nützen. Ökonomisch aber waren die Grenzen so eng gezogen, daß darin wohl ein Hauptgrund für das Stoppen der österreichischen Revolution auf einer bestimmten Stufe gesehen werden muß.

3. Zur nationalen Frage Nicht nur für die Habsburgermonarchie, sondern auch für die Sozialdemokratie im Vielvölkerstaat stellte die nationale Frage in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ein Überlebensproblem dar26. Alle Ideologien, die im 19. Jahrhundert auf eine 25 Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in Saint-Germain-enLaye, Bd. 1 (= Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich, Beilagen 379), Wien 1919, 437. 26 Siehe dazu vor allem  : Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918 (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Ost 4), 2 Bände, 2. erw. Auflage, Graz/Wien/Köln 1964  ; Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Bd. 1  : Das Ringen um die supranationale Integration der zisleithanischen Arbeiterbewegung (1867–1907) (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Ge-

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Änderung der europäischen Gesellschaft abzielten, also neben dem Sozialismus auch der Liberalismus und der Nationalismus, hielten den einheitssprachlichen Flächenstaat, Nationalstaat genannt, für eine unabdingbare Voraussetzung für die angestrebte Industrialisierung. Die Existenz eines Vielvölkerstaates stellte daher einen Anachronismus dar. Allerdings bot er der Sozialdemokratie die Chance, internationalistisches Denken in der Praxis zu erproben, wenn diese Auseinandersetzung auch nicht immer freiwillig ablief. So ist es kein Zufall, daß nach der Erringung des allgemeinen Wahlrechts und dem damit verbundenen Verlust einer alles überdeckenden Fragestellung die Auseinandersetzung mit der nationalen Frage unausweichbar wurde. Eine Gruppe junger Theoretiker, unter ihnen Karl Renner und Otto Bauer, konnten gerade aus den Analysen des Problemkreises der nationalen Frage jene geistesgeschichtliche Richtung entwickeln, die später Austromarxismus genannt wurde27. Dieser Austromarxismus definierte Nation im Gefolge der Arbeiten Karl Kautskys vorerst dominant mit kulturellen, sogenannten »objektiven« Kriterien und blieb bei einem Verständnis von »Sprachnation« stehen. Zumindest Karl Renner hielt daran fest, während Bauers Definition von Nation als »geronnener Geschichte« bereits andeutet, daß auch subjektive Kriterien und vor allem ökonomisch-territoriale Aspekte einfließen müssen. So war es Bauer möglich, sich bis 1918 zu einem Territorialprinzip in der nationalen Frage durchzuringen, während Renner noch am Personalitätsprinzip festhielt und somit den Bestand der Monarchie auch bis zuletzt verteidigte. Für die Sozialdemokratie bot sich bei Ende des Ersten Weltkrieges eigentlich keine andere Möglichkeit, als das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (eigentlich noch immer mehrheitlich als Sprachnationen verstanden) anzuerkennen. Die Konsequenz aus dieser Anerkennung, bei gleichzeitigem Festhalten an der Marxschen Theorie, daß es für die Entwicklung hin zum Sozialismus notwendig sei, größtmögliche Wirtschaftsräume zu schaffen, konnte 1918 nur bedeuten, den dominant deutschsprachigen Rest der Habsburgermonarchie an Deutschland anzuschließen. Dies galt um so mehr, als in Deutschland eine revolutionäre Umgestaltung nicht ausgeschlossen schien. schichte der Arbeiterbewegung in Österreich 1), Wien 1963  ; Helmut Konrad, Nationalismus und Internationalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 4), Wien 1976  ; Raimund Löw, Der Zerfall der »Kleinen Internationale«. Nationalitätenkonflikte in der Arbeiterbewegung des alten Österreich (1889–1914) (= Materialien zur Arbeiterbewegung 34), Wien 1984. 27 Helmut Konrad, Wurzeln deutschnationalen Denkens in der österreichischen Arbeiterbewegung, in  : Helmut Konrad (Hg.), Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/ München/Zürich 1978, 19–30.

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Aber nicht nur rationale Argumente sprachen für einen Anschluß an ein sozialistisches oder zumindest demokratisches Deutschland. Neben den rationalen oder scheinrationalen Überlegungen, zu denen unbedingt auch noch der mangelnde Glaube an die Lebensfähigkeit des Kleinstaates zu zählen ist, kommt auch in dieser Frage subjektiven Elementen Bedeutung zu. Hier ist vor allem die geistige Traditionslinie zu beachten, die von der Revolution des Jahres 1848 ausging und mit der Übernahme des Erbes dieser Revolution durch die Sozialdemokratie in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in die Arbeiterbewegung einmündete. Ein romantischer Deutschnationalismus, der neben dem liberalnationalen Gedankengut der Revolution auch auf sozialistische Elemente (vor allem auf Positionen von Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle)28 zurückgreifen konnte, überlagerte den verbalen Internationalismus und führte schon im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu einer Überlagerungsstrategie in der nationalen Frage. Victor Adler, dessen sonstige Verdienste unbestritten sind, machte kein Hehl aus seiner nationalistischen Grundhaltung. In der Gleichheit schrieb er  : »Auch die deutschen Arbeiter sind sich bewußt, was sie ihrem Volk als Deutsche schulden, und sie sind genötigt, den Kampf aufzunehmen, wenn die slawischen Genossen sie dazu zwingen, wenn in die proletarische Bewegung der Sprachenstreit getragen wird […] Als Deutsche kann es uns sehr gleichgültig sein, ob die Tschechen deutsch lernen  ; als Sozialdemokraten müssen wir es geradezu wünschen  !«29

Von Karl Kautsky, dem wichtigsten Theoretiker, waren keine entscheidenden Impulse zu erwarten. Er resignierte spätestens 1897  : »Ebensowenig wie Ihr weiß ich ein Programm für den österreichischen Sprachenkampf«, schrieb er an Victor Adler. »Die naturgemäße Lösung wäre der Zerfall Österreichs resp. die Loslösung der Deutschen von Österreich. Das bedeutet aber eine Revolution […] .«30 Und so rational sich der Austromarxismus in seiner Herangehensweise an die nationale Frage auch gab, seine Vertreter standen persönlich ebenfalls in dieser Tradition. Otto Bauers Anschlußbefürwortung hatte also nicht nur rationale Gründe. Wohl argumentierte er als Staatssekretär des Außenamtes, daß »der Anschluß an Deutschland […] den Weg zum Sozialismus (bahnt). Er ist die erste Voraussetzung 28 Konrad, Nationalismus, 6 ff. 29 Die Gleichheit 1/4 (1887), 2. 30 Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky sowie Briefe von und an Ignaz Auer, Eduard Bernstein, Adolf Braun, Heinrich Dietz, Friedrich Ebert, Wilhelm Liebknecht, Hermann Müller und Paul Singer. Gesammelt und erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954, 236.

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der Verwirklichung des Sozialismus. Darum muß der Kampf um den Sozialismus hierzulande zunächst geführt werden als Kampf um den Anschluß an Deutschland«31. Aber dahinter verbarg sich doch eine emotionalere Position, die Bauer im Parlament zum Ausdruck brachte, als er noch Staatssekretär war. Bauer sprach vom großen deutschen Volk der 70 Millionen Menschen in Europa, von dem Teile gewaltsam in fremde Staaten eingesperrt seien. Besonders tragisch sei das mit Südtirol, denn »es gibt vielleicht nirgendwo einen Fleck deutscher Erde, der jedem Deutschen so teuer ist wie gerade dieses deutsche Südtirol. Denn es ist die einzige Stelle der Welt, wo der Süden deutsch ist […] So ist dieses Stück Erde jedem Deutschen heilig geworden«32. Es zeigt sich deutlich, wie stark Bauer in der Tradition der Revolution von 1848 stand und wie er für die Sozialdemokratie das Erbe der Revolutionäre auch oder gerade in der Frage der nationalen Einigung reklamierte. Aber das war fast ausschließlich ein Problem der Intellektuellen, der geistigen Führung der Sozialdemokratie in der Großstadt. Dies zeigt, daß es notwendig ist, die bisher in der Literatur vernachlässigte Differenzierung, in hierarchischer und regionaler Hinsicht, vorzunehmen, um zu einem Gesamteindruck im Verhalten zur nationalen Frage zu gelangen. So stellte der »Anschluß« in der Tradition von 1848 mit stark kulturell umschriebenem Nationsbegriff vor allem ein Problem der intellektuellen Führungsschicht dar, die gleichzeitig politisch den jungen österreichischen Staat zu repräsentieren hatte. Karl Renner etwa arbeitete an prominenter Stelle im österreichisch-deutschen Volksbund mit, einer Allparteienorganisation unter dem Vorsitz von Neubacher, der später in der Geschichte Österreichs noch eine wenig erfreuliche Rolle spielen sollte. Bauer scheute zwar diesen Umgang, seine Position hat aber auch er nicht entscheidend weiterentwickelt, und sogar noch 1938 stand er der Idee einer österreichischen Nation ablehnend gegenüber. In der Tradition von Engelbert Pernerstorfer (der 1918 gestorben war und an dessen Grab neben dem Lied der Arbeit auch »Der Gott, der Eisen wachsen ließ« gesungen wurde) standen mehrere der Intellektuellen der Bewegung. Ins gleiche Horn stießen einige Bundesländersozialisten, vor allem aus den »Grenzländern«, die in der Tradition des »Lehrersozialismus« aus dem 19. Jahrhundert standen und deren Weltbild durch die Troika sozial-national-antiklerikal geprägt war. Ohne marxistische Fundierung waren hier später die Übergänge zum Nationalsozialismus und zurück fließend, ohne radikale Brüche. 31 Otto Bauer, Der Weg zum Sozialismus, in  : Otto Bauer, Werkausgabe, Bd. 2, Wien 1976, 131. 32 Zitat nach  : Winfried Garscha, Großdeutschtum, Anschlußbewegung und Austromarxismus. Unveröffentlichtes Referat, gehalten am Austromarxismus-Kolloquium an der Universität Paris III, Februar 1982, 2.

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Die großstädtischen Arbeiter hingegen, die das Gros der Mitglieder der Sozialdemokratie stellten, hielten die nationale Frage für ein kleinbürgerliches Relikt ihrer Intellektuellen. Sie gestanden ihr keine Relevanz zu, soziale und ökonomische Fragen galten als die Bereiche, in denen die Sozialdemokratie anzutreten hatte und wo sich die Machtfrage stellte. Diese städtischen Arbeiter und die Arbeiter der Großbetriebe in den Industriegebieten Niederösterreichs, Oberösterreichs und der Steiermark rekrutierten sich selbst teilweise aus zugewanderten, assimilierten Tschechen, Slowaken oder Slowenen und hatten den Internationalismus nach der chauvinistischen Welle von 1914 wieder zu einer selbstverständlichen Haltung gemacht. Insgesamt stellte die nationale Frage in der Zwischenkriegszeit nicht die beherrschende Thematik dar. Mit dem Zerfall der Monarchie verschwand sie aus den theoretischen Zeitschriften und weitgehend auch aus der aktuellen politischen Diskussion. Die Sozialdemokratie nannte sich konsequent Sozialdemokratische Partei Deutschösterreichs, und erst nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland wurde der Anschlußparagraph des Linzer Programms von 1926 (»Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluß Deutschösterreichs an das Deutsche Reich als notwendigen Abschluß der nationalen Revolution von 1918. Sie erstrebt mit friedlichen Mitteln den Anschluß an die deutsche Republik«)33 gestrichen, und zwar am Parteitag im Oktober 1933. Bis dahin stand die prinzipielle Anschluß-Befürwortung außer Frage, und auch nach 1933 schien der Verzicht darauf nur ein zeitlich begrenzter, durch den Faschismus bedingter Rückzug. Obwohl in der politischen Literatur der Sozialdemokratie der Begriff »österreichisches Volk« im Sinn von Staatsvolk nicht fehlt, ist der Bewegung der Gedanke einer österreichischen Nation fremd. Dies erklärt den auch in der Emigration noch lange zu bemerkenden Vorbehalt gegen eine durch die Alliierten geplante Rückgängigmachung der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Die Hoffnung richtete sich vielmehr auf eine gesamtdeutsche Überwindung des Faschismus und auf die Existenz eines demokratischen großdeutschen Staates unter Einbeziehung Österreichs. Die Geschichte hat diese Perspektive verworfen, doch gerade im Ringen um ein nationales Selbstverständnis der Österreicher in der Zweiten Republik spielt die Analyse früherer Positionen, die für den Untergang der Ersten Republik nicht unwesentlich waren, eine entscheidende Rolle.

33 Linzer Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (1926), in  : Berchtold, Parteiprogramme, 264.

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4. Zur Verfassungsdiskussion Einige rudimentäre Bemerkungen sollten zu diesem Kapitel genügen, da unlängst eine breite Aufarbeitung dieser Thematik vorgelegt wurde34. Für die Sozialdemokratie gab es beim Zusammenbruch der Habsburgermonarchie zumindest vier Bereiche, in denen sie ihre Vorstellungen durchbringen wollte  : a) die Ablösung der Monarchie  : Als am 21. Oktober 1918 im niederösterreichischen Landhaus die provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich zusammentrat, waren mit Ausnahme der Sozialdemokratie alle anderen Parteien für die Beibehaltung der Monarchie. In wenigen Wochen gelang es, in dieser Frage einen Durchbruch zu erzielen und sich nach dem Rücktritt Kaiser Karls darauf zu einigen, daß der neue Staat eine demokratische Republik sein sollte. Von ebensolchem »Erfolg waren die Bemühungen der Staatsregierung um die Festigung der Republik und um die Beseitigung aller Reste der Monarchie gekennzeichnet. Am 27. März 1919 konnte Renner bereits die Gesetze betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen, über die Abschaffung der Exterritorialität einiger regierender Familien und die Aufhebung des Adels vorlegen«35. Dennoch blieb eine Bodenreform aus, der formalen Entmachtung des Adels folgte keine ökonomische  ; b) die Volksherrschaft  : Die Neugründung des Staates im Oktober 1918 wird mit gutem Grund als »parlamentarische Revolution«36 bezeichnet. Die deutschsprachigen Reichsratsabgeordneten hatten die Initiative ergriffen und waren an die Konstruktion des neuen Staates gegangen, der es nicht nur aus außenpolitischen Überlegungen ablehnte, als Rechtsnachfolger der Monarchie zu gelten. Diese parlamentarische Initiative unter der Dominanz der Sozialdemokratie führte dazu, daß eine unmittelbare Volksherrschaft errichtet werden sollte. »Die provisorische Nationalversammlung zog nämlich nicht nur die legislative, sondern auch die exekutive Gewalt an sich.«37 Der Staatsrat, vom Parlament aus seiner Mitte bestimmt, übte diese exekutive Gewalt aus. Ein Staatspräsident sollte, nach dem Willen der Sozialdemokraten, nicht gewählt werden. Diese Überlegungen konnten sich aber nur für kurze Zeit behaupten  ; 34 Matzka, Sozialdemokratie. 35 Ebd., 63. 36 Peter Kostelka, Der Kampf um die Demokratie, in  : Manfred Matzka (Hg.), Sozialdemokratie und Verfassung, Wien 1985, 218. 37 Ebd.

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c) der Antiföderalismus  : Über die Funktion des Zentralismus in der österreichischen Arbeiterbewegung wurde schon oben kurz gesprochen. In der Umbruchsituation von 1918 kam aber noch hinzu, daß die Separatinteressen der Länder die Existenz eines Gesamtstaates ernsthaft bedrohten und die ökonomische Krise, vor allem die der Lebensmittelversorgung, dramatisch verschärften. Zudem schienen die konservativen Kräfte die Vorherrschaft in den Ländern so deutlich innezuhaben, daß die Landesverwaltungen zu Ausgangspunkten gegenrevolutionärer Bestrebungen hätten werden können. Es war vor allem Friedrich Austerlitz, der aus den genannten Gründen den Kampf gegen den Föderalismus führte  ; d) der »Anschluß« an Deutschland  : Alle Diskussionen um die Verfassung eines deutschösterreichischen Staates wurden aber überlagert von der Vorstellung, daß es sich nur um eine sehr kurze Übergangslösung handeln müsse, denn der Anschluß an ein demokratisches und womöglich sozialistisches Deutschland schien ein realisierbares Nahziel zu sein. »Wenn wir heute bekräftigen, daß Deutschösterreich als eine demokratische Republik ein Bestandteil der großen deutschen Republik sein soll, so wird niemand bezweifeln können, daß wir befugt sind, diesen Beschluß zu fassen im Namen unserer Wählerschaft, im Namen des ganzen deutschösterreichischen Volkes. (Lebhafter Beifall.) Die Vereinigung Deutschösterreichs mit der großen deutschen Republik bekräftigen wir heute als unser Programm. Aber über die Phase bloß programmatischer Erklärungen sind wir heute zum Glücke schon hinaus«38,

führte Otto Bauer im März 1919 vor der Nationalversammlung aus. Vor diesem Hintergrund ist das relativ geringe Engagement der Sozialdemokratie in der Verfassungsdiskussion der ersten Monate des jungen Staates erklärbar. Tatsächlich überließ die Arbeiterbewegung für einige Zeit die Initiative in der Verfassungsdiskussion den anderen Lagern. Neben dem Anschlußdenken spielte dabei auch die Hoffnung auf eine weitergehende Gesellschaftsänderung eine nicht geringe Rolle. Erst 1920 stieg das Interesse an, als die außerparlamentarische Macht abnahm und der Anschluß in weite Ferne gerückt war. Vor allem Robert Danneberg arbeitete intensiv an Verfassungsfragen. Er konnte im April 1920 einen ersten Verfassungsentwurf vorlegen, der noch manche Punkte aus den ursprünglichen Zielsetzungen enthielt (z. B. war kein Staatsoberhaupt vorgesehen), der aber die bundesstaatliche 38 Otto Bauer, Rede auf der 3. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung vom 12. März 1919, in  : Otto Bauer, Werkausgabe, Bd. 5, Wien 1978, 742.

Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage

Konstruktion schon akzeptierte39. Alle zwei Jahre sollte gewählt werden, um den Politisierungscharakter von Wahlkämpfen nutzen zu können40. Ein heftiges Ringen setzte ein, und Dannebergs Entwurf bildete den Gegenpol zum Entwurf von Staatssekretär Mayr. Renner, Mayr und Kelsen feilten an einem Kompromiß, und ein Unterausschuß des Verfassungsausschusses mit den Sozialdemokraten Bauer, Danneberg, Eldersch und Eisler (die beiden Letztgenannten wurden später durch Abram und Leuthner ersetzt)41 arbeitete bis September 1920 diesen Kompromiß aus. »So setzte eine mit sozialistischen Vorstellungen angetretene, von revolutionären Massen getragene Sozialdemokratie unter den Spielregeln der parlamentarischen Diskussion letztlich doch keine sozialistische, sondern lediglich eine parlamentarisch-demokratische Verfassung durch.«42 Allerdings galt dies 1920 als Sieg, und von christlichsozialer Seite wurde der Verfassungskompromiß auch kritisiert. Die weitere Geschichte sollte bestätigen, wie sehr die bürgerlichen Parteien diese Verfassung als Hemmschuh bei der Durchsetzung ihrer Politik empfinden mußten. Vor allem in der Verfassungsreformdiskussion von 1928/29, in der von sozialdemokratischer Seite wiederum Robert Danneberg die zentrale Persönlichkeit war, sollte sich dies zeigen. Wenn die Fassung von 1929 auch nach dem Zweiten Weltkrieg als Verfassung der Zweiten Republik übernommen wurde, stellt sie doch keinen Kompromiß dar, sondern ist nur Ausdruck des Verteidigungsgeschicks der sozialdemokratischen Verhandler. Ulrich Kluge sieht in ihr sogar einen wichtigen Markstein auf dem Weg, der von der Demokratie weg und hin zur autoritären Staatsform führte, und spricht von einer »präsidialstaatlichen Umformung des Verfassungsgefüges«43, mit dem Ziel, »die Autorität der Exekutive und des Bundespräsidenten auf Kosten der Legislative zu stärken«44. Wenn dies auch, vor allem aus der Sicht der Gegenwart, ein überhartes Urteil sein dürfte, so ist doch richtig, daß in den Verhandlungen ursprüngliche Positionen der Sozialdemokratie preisgegeben werden mußten, was den »historischen Kompromiß« des Jahres 1920 verwässerte und Ausdruck des neuen Kräfteverhältnisses im Staat war, das sich zuungunsten der Arbeiterbewegung verschoben hatte. Die Sozialdemokratie mußte aber »schließlich im Jahr 1933 in voller Tragweite erkennen, daß zu einer Demokratie mehr notwendig ist als eine demokratische Verfassung. Im Unterschied zu 39 40 41 42 43

Matzka, Sozialdemokratie, 72 ff. Kostelka, Kampf, 224. Matzka, Sozialdemokratie, 80. Ebd., 91. Ulrich Kluge, Der österreichische Ständestaat 1934–1938. Entstehung und Scheitern, Wien 1984, 17. 44 Ebd., 22.

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autoritären Staatsformen muß die Demokratie […] vor allem von der demokratischen Mehrheit ihrer Bürger getragen werden«45. Und diese nicht wirklich geformt zu haben, war die Hauptschwäche der Ersten Republik, an der sie letztlich zerbrach. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Sozialdemokraten, in  : Anna M. Drabek/Richard G. Plaschka/Helmut Rumpler (Hg.), Das Parteienwesen Österreichs und Ungarns in der Zwischenkriegszeit (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 15  : Mitteleuropa-Gespräche), Wien 1990, 107–125 (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften).

45 Kostelka, Kampf, 230.

Der Weg in den Abgrund Die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen (2012)

Österreichs Weg in den Abgrund, mit dem hier die Ausschaltung der Demokratie und die Errichtung der ständestaatlichen Diktatur gemeint ist, hat lange Vor- aber auch Wirkungsgeschichten. Beide zeitlichen Dimensionen erfordern zudem die Ausweitung des räumlichen Blicks über unser Land hinaus. Die Republik Österreich, genauer die Republik Deutsch-Österreich, wie sie bis Oktober 1919 hieß, war das Resultat des von der Habsburgermonarchie begonnenen und schließlich verlorenen Krieges. Dieser Erste Weltkrieg änderte Europa und die Welt grundlegend. Konnte man bis 1914 die Moderne1 als ein Projekt begreifen, das der positiven Weiterentwicklung der Gesellschaft zuzuordnen war, so hatte der Krieg die dunklen Seiten dieses Prozesses überdeutlich hervortreten lassen. Die Zukunftsgläubigkeit musste einer tiefen Verunsicherung Platz machen, die mit dem Donner der Granateneinschläge, mit der damals unbegreifbaren technisierten Gewalt und mit der Reduzierung der menschlichen Existenz auf die Funktion als eine Fortsetzung der Maschinen gewachsen war. In diesem Krieg zerbrach die alte Ordnung. Der Rest ist Österreich – so hieß es, als ringsum neue Staaten entstanden, deren Grenzen letztlich eher Ausdruck der aktuellen Machtverhältnisse als Verwirklichung des Friedensprogramms nach Präsident Wilsons 14 Punkten war. Dieser Reststaat startete seine unfreiwillige Existenz (so lautete der erste Beschluss der Nationalversammlung nach der Gründung einer demokratischen Republik gleich auf Selbstauflösung und Eingliederung in ein demokratisches Deutschland) mit gewaltigen Hypotheken.2 Wolfgang Maderthaner hat gemeinsam mit mir und einer Schar von fast 40 Autorinnen und Autoren diese Hypotheken nachgezeichnet.3 Der Staat war geographisch 1

2 3

Von 1993 bis 2005 konnten sich an der Universität Graz etwa 25 Forscherinnen und Forscher dem Thema »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900« widmen. Trotz einiger bemerkenswerter Ergebnisse, die vor allem dem Zusammenwirken der unterschiedlichsten Fächer (Geschichte, Germanistik, Soziologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft) zu danken waren, steht eine allgemein akzeptierte Definition von »Moderne« noch aus. Stenographisches Protokoll der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten, 21.10.1918. Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, 2 Bände, Wien 2008.

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neu zu definieren, ökonomisch zu redimensionieren, sozial zu stabilisieren, politisch auszuverhandeln und kulturell sichtbar zu machen. Es ist hier nicht der Raum, all diese Schritte nachzuzeichnen. Sie gelangen aber unterschiedlich gut. Als bleibende Verdienste sind hier die Verfassung von 1920 und die Sozialgesetzgebung der ersten Jahre zu nennen. Beides stellte Österreich trotz aller anderen Problemfelder in die erste Reihe der europäischen politischen Entwicklung. Auf ihnen konnte später auch die Zweite Republik aufsetzen und mit dieser Grundlage rasch Akzeptanz nach innen und nach außen finden. Es blieben aber große Problemfelder, die den Weg Österreichs in den Abgrund beschleunigten. So war die wirtschaftliche Lage bis auf einen ganz kurzen Zeitraum in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre desaströs  : die Versorgungslage am Ende des Krieges, die Hyperinflation,4 die die kleinen Ersparnisse vernichtete, und schließlich als das menschlich dramatischste Element in der Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit. Jeder dritte industrielle Arbeitsplatz ging verloren, und die Hälfte der Arbeitslosen rutschte schließlich auch aus der Arbeitslosenversicherung mit den ohnedies geringen Auszahlungen in die Position von Ausgesteuerten. Bis heute ist der schlüssige Text dazu die Arbeit von Jahoda, Zeisel und Lazarsfeld über die Arbeitslosen von Marien­ thal,5 da er auch die politischen und moralischen Konsequenzen zeigt. Dazu kam, dass Staat und Nation auch nicht annähernd deckungsgleich zu machen waren. Österreich war nach 1918 im Selbstverständnis deutsch und katholisch, alle anderen Gruppen waren Minoritäten. Deutsch zu sein bedeutete damals im Prinzip zweierlei  : einerseits das gängige Verständnis, dass sich Nation über Sprache definiert  ; anderseits die selbstverständliche Annahme, Teil des deutschen Kulturraumes zu sein und daher die Verweigerung des »Anschlusses« an Deutschland als Unrecht zu begreifen.6 Katholisch zu sein bedeutete, die evangelische Kirche zu marginalisieren und das Judentum als Gegner, ja sogar als Feind im Land zu sehen. Der Antisemitismus war somit das umfassende Feindbild, das durch nationale Ausgrenzungen wie 4 5 6

Fritz Weber, Zusammenbruch, Inflation und Hyperinflation. Zur politischen Ökonomie der Geld­ entwertung in Österreich 1918 bis 1922, in  : Konrad/Maderthaner, Rest, Bd. 2, 7. Maria Jahoda/Paul Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Leipzig 1933. Auch die gesamte intellektuelle Elite des Austromarxismus trug diese Position mit. Sprache war, speziell in Zentraleuropa, das anerkannte Merkmal für nationale Zugehörigkeit. Der Begriff der »Sprachnation« war quer zu den politischen Gruppierungen common sense. Auch (oder vielleicht ganz besonders) die Sozialdemokratie und ihre Theoretiker der nationalen Frage (Otto Bauer, Karl Renner) machten hier keine Ausnahme. Siehe  : Helmut Konrad (Hg.), Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/München/Zürich 1978, 19–30.

Der Weg in den Abgrund

gegen die Slowenen in Kärnten oder aber regionale »Erbfeindschaften« wie in Tirol gegen Italien wegen der Südtirollösung ergänzt wurde. Die Gesellschaft der Ersten Republik hat durch die Erfahrungen, die speziell die jungen Männer an den Fronten durchzumachen hatten, das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen und physische Gewalt auch außerhalb der gesetzlichen Regelungen zurück auf die Tagesordnung gebracht. In den Schützengräben am Isonzo lagen, wie das Lutz Musner7 beschrieben hatte, auf der einen Seite Mussolini und jene Männer, die direkt aus der Front heraus die fasci di combattimento bildeten. Und auf der anderen Seite lag Major Fey, dessen Männer nach Kriegsende ihre Waffen nicht retournierten, da sie sich dem jungen Staat und dem »jüdisch-bolschewistischen« Heeresminister8 nicht verpflichtet sahen. Sie bildeten die Heimwehren, die aus den lokalen Heimatwehren zu einer politischen Kampftruppe gegen das revolutionäre Potenzial im Staat zusammenwuchsen. Dass am Karst auch Rommel lag, sei am Rande angemerkt. Aber auch die Linke rüstete auf, der Republikanische Schutzbund war zwar etwas kleiner als die Heimwehren (am Höchststand waren das 80.000 zu 100.000 Mann), dafür aber straffer und einheitlicher organisiert. Da der Friedensvertrag nur ein Berufsheer mit 30.000 Mann erlaubte, übertrafen die Privatarmeen diese Truppenzahl um das Sechsfache. Gerhard Botz hat sich dem Thema der Gewalt in der Politik der Ersten Republik schon vor Jahren ausführlich gewidmet.9 Er zählt in der Zeit vom November 1918 bis zum 11. Februar 1934 nicht weniger als 215 Tote in politischen Konfrontationen auf Österreichs Straßen. Natürlich ragt hier der Justizpalastbrand hervor, aber Phasen ohne Opfer waren rar. Im Ständestaat (inklusive Februar 1934) folgten noch weitere 621 Tote durch politische Kontroversen. Rechnet man dies für den gesamten Zeitraum der Ersten Republik durch, die 7.060 Tage Lebensdauer hatte, so ergibt das ein Todesopfer nach jeweils 8,4 Tagen. Also praktisch fast jede Woche lag ein Toter auf Österreichs Straßen. Diese Gewaltbereitschaft ist als direkte Folge des Ersten Weltkrieges zu lesen. Der Krieg hatte die Menschen deformiert. Der Anblick von Toten, von Verstümmelten, von psychisch Beschädigten (die »Zitterer« nennt sie Karl Kraus10) war alltäglich geworden, die Hemmschwellen sanken. Der Krieg hatte den Prozess der Zivilisation umgekehrt. Die Gesellschaft war in hohem Maß gewaltbereit, ein Verhaltensmuster,   7 Lutz Musner, Im Schatten von Verdun. Die Kultur des Krieges am Isonzo, in  : Konrad/Maderthaner, Rest, Bd. 1, 45–64.   8 Julius Deutsch.  9 Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche. Unruhen in Öster­reich 1918–1938, 2. Auflage, München 1983. 10 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog, Wien 1922.

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das durch die ökonomische Not, speziell in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, eine zusätzliche Verstärkung erfuhr. Und die politische Landschaft war tief gespalten. Die Trennlinie lief entlang der durch den Ersten Weltkrieg verschärften Disparitäten. Da gab es die Großstadt Wien, die noch immer Weltstadt war und mehr als ein Viertel der österreichischen Bevölkerung beherbergte. Die Sozialdemokratie herrschte hier mit absoluter Mehrheit und zog ein ehrgeiziges soziales Modernisierungsprogramm durch.11 Eine säkulare Gegenwelt entstand, in der Wohnen, Gesundheit, Schule und Kultur nach ganz anderen Regeln abliefen als am flachen Land. Dort dominierte die katholische Kirche, die auch offen Politik machte und ihr konservatives Weltbild zwangsverpflichtend über die Dörfer und Kleinstädte legte. Moderne versus Vormoderne, ländliches Leben versus Urbanität, Katholizismus versus Säkularisierung, das beschreibt die Trennlinie zwischen den beiden großen Lagern. Dass das sogenannte »Dritte Lager«, in dem sich der Liberalismus längst, d. h. schon Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, zugunsten eines Deutschnationalismus verabschiedet hatte, den Konservativen näher stand als der Linken, war trotz der Kirchenferne dieses Lagers in der Angst vor dem Marxismus begründet. Dessen demokratisch-austromarxistische Ausprägung wurde teilweise bewusst missverstanden und instrumentalisiert. Sozialdemokratie und Bolschewismus wurden gleichgestellt und gaben optimale Feindbilder ab, überhöht durch den Antisemitismus. Die Trennlinie von Moderne und Antimoderne ist allerdings in jenen Jahren nicht exakt entlang der politischen Gruppierungen zu ziehen. So gab es im bürgerlichen Milieu durchaus Offenheit gegenüber Inhalten und Formen der künstlerischen Moderne, während in Arbeiterkreisen konservative, vormoderne Ansichten zur Kunst vorherrschten. Im Arbeiterhaushalt meiner Großeltern hing etwa eine Reproduktion von Dürers Hasen, während in politisch konservativen Häusern wohl durchaus die Kunst des 20. Jahrhunderts zu finden gewesen sein wird. Und auch politisch war die Linke nicht davor gefeit, in Einzelbereichen der Moderne entgegenzusteuern. Versteht man unter politischer Moderne auch politische Partizipation, durchgesetzten Parlamentarismus und Verfassungskonformität der Entscheidungen,12 so sah auch die Sozialdemokratie vereinzelt die rasche Entscheidung von oben als gangbaren Weg an. Besonders deutlich wird dies in der Haltung gegenüber dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz,13 das Politikern aller Parteien der Ersten Republik als 11 Zum »Roten Wien« siehe die neueste Darstellung  : Helmut Konrad, Das Rote Wien. Ein Konzept für eine moderne Großstadt  ?, in  : Konrad/Maderthaner, Rest, Bd. 1, 223–240. 12 Siehe Anmerkung 1. 13 Reichsgesetzblatt, 307 vom 24. Juli 1917. Offiziell  : »Gesetz vom 24. Juli 1917, mit welchem die

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taugliches Instrument erschien und das daher auch in die Verfassung von 192014 übernommen wurde, ohne einen Widerspruch von der Seite der Sozialdemokratie. Und auch die praktische Anwendung, etwa im Fall der Haftung der Verantwortlichen beim Zusammenbruch der Creditanstalt, wurde nicht beeinsprucht, da der Linken hier der Inhalt über die Form des Zustandekommens ging. So hatte also das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz durchaus auch eine Geschichte in der demokratischen Periode der Ersten Republik. Betrachtet man aber insgesamt Bruchlinien, so ist es eher als erstaunlich zu bezeichnen, dass das demokratische System immerhin anderthalb Jahrzehnte überleben konnte. Dies ist nicht nur der unzweifelhaft vorhandenen demokratischen Tradition zu danken, auch nicht nur der Verfassung oder den anderen Werten, die nach dem Krieg entstanden waren, wie etwa das Wahlrecht auch für Frauen. Es ist auch der Tatsache geschuldet, dass unser Land ökonomisch von den westlichen Demokratien abhängig war.15 1922 gelang die Sanierung über eine Völkerbundanleihe, und 1931 untersagte der internationale Gerichtshof die geplante Zollunion mit Deutschland, da dies als Aufweichung des Anschlussverbots gesehen wurde. Die Völkerbundanleihe von 1932 führte zur internationalen Kontrolle des österreichischen Staatshaushaltes und schrieb das Anschlussverbot auf weitere 20 Jahre fest. Es war notwendig, ein demokratisches System zu sein, um erfolgreich beim Völkerbund um eine Anleihe zu werben. Die Situation in den Nachbarstaaten war deutlich anders. Selbst in Ungarn, das bei Kriegsende die Revolution gewagt hatte, ein Experiment, das nicht zuletzt an der Haltung von Teilen der österreichischen Linken gescheitert war, die den Weg zu einem revolutionären Mitteleuropa von München bis Budapest nicht mitgehen konnten oder wollten, hatte die antidemokratische Rechte schon lange die Macht.16 Ganz Zentraleuropa, vom Baltikum bis an die Adria, war nach kurzen demokratischen Versuchen in autoritären Strukturen gelandet, nur die Tschechoslowakei und Österreich hielten an der Demokratie fest. In Prag war es erst der Druck von außen, der mit der Zerschlagung des Staates auch die demokratischen Strukturen beseitigte. In Österreich überwog bei diesem Schritt, den der Staat einige Jahre früher vollzog, die Innenpolitik als Motivationsfaktor. 1932 erreichten die Nationalsozialisten signifikante Erfolge bei Landtagswahlen, die in einigen Bundesländern stattfanden. Sie waren damit als dritte Großgruppe auf der politischen Landkarte Österreichs angekommen und hatten das ganze nationale Regierung ermächtigt wird, aus Anlass der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen.« 14 Klaus Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich, Wien u.a. 1998. 15 Dies hat Hans Mommsen im November 2008 bei einer Konferenz in Wien mit Nachdruck betont. 16 Wolfgang Maderthaner, Die eigenartige Größe der Beschränkung. Österreichs Revolution im mitteleuropäischen Spannungsfeld, in  : Konrad/Maderthaner, Rest, Bd. 1, 287–206.

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und nationalliberale Lager aufgesogen. Zudem waren ihnen Einbrüche in Stammwählerschichten der Konservativen und der Sozialdemokraten gelungen. Damit war deutlich geworden, dass keines der drei Lager mehrheitsfähig war und sich parlamentarische Krisenlösungen zumindest kurzfristig nicht anboten. Es standen sich 1933/34 also drei politische Gruppierungen in einer politischen Pattsituation gegenüber  : Die Nationalsozialisten, die nach Terroranschlägen verboten worden waren und nur illegal agieren konnten. Das christlich-konservative Lager unter Bundeskanzler Dollfuß, das als Regierungspartei auch Zugriff auf Heer und Exekutive hatte und dem die Heimwehren zuzuzählen waren. Und dann die Arbeiterbewegung, die spätestens seit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 in die Defensive geraten war. Betrachten wir die Arbeiterbewegung und ihre strukturellen Voraussetzungen für eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der Staatsmacht und den Heimwehren, so ist vieles widersprüchlicher, als es sowohl die Kritiker als auch Wahrer der sozialdemokratischen Tradition gerne zeichnen. Die österreichische Arbeiterbewegung, bis 1933 von der Sozialdemokratie und der ihr politisch verbundenen Freien Gewerkschaft praktisch alleine vertreten, gilt gemeinhin als homogene, zentralistisch geführte und ideologisch dem Austromarxismus verpflichtete Bewegung. Doch dieses Bild, geprägt durch das Rote Wien, täuscht. Es sind zumindest drei Grundrichtungen erkennbar, die auch den unterschiedlichen Verlauf der Februarkämpfe erklären helfen  :17 a) In Wien war die Organisationsstruktur verfestigt, die Sozialdemokratie hatte ihre Mitglieder auch über materielle Werte der Partei verpflichtet. Das Informationsnetz war dicht, und der Austromarxismus drang durch breite Angebote der politischen Bildung weit an die Basis vor, jedenfalls weiter als es andere Parteien des Westens je schafften. Die Sozialdemokratie bot ein lebensweltliches Konzept mit großen Anreizen, was die Mitglieder politisch festigte, die Risikobereitschaft reduzierte und nur die Jüngeren nach Alternativen suchen ließ, als das Zögern der Parteiführung 1933 offenkundig geworden war. Die Sozialdemokratie in Wien hatte die Stadt umgestaltet, sie zur sozialdemokratischen Musterstadt gemacht. Es war also sehr viel zu verlieren. Dass die Parteiführung daher den Kampf, der militärisch nicht zu gewinnen war, 17 Ein erster Versuch einer solchen Gliederung wurde von mir 2004 unternommen. Helmut ­Konrad, Der Februar 1934 im historischen Gedächtnis, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Wider­standes (Hg.), Themen der Zeitgeschichte und der Gegenwart. Arbeiterbewegung – NS-Herrschaft – Rechtsextremismus. Ein Resümee aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Neugebauer (= Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten 4), Wien u.a. 2004.

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scheute, ist ein konsequentes Verhaltensmuster. Allerdings ging die Schere immer weiter auf  : gerade die Jungen, die innerhalb der Subkultur sozialisiert worden waren, waren bereit, den Verbalradikalismus des Austromarxismus wörtlich zu nehmen und Risiken zu tragen. So verlor die Sozialdemokratie in der Stadt die Jungen und die Intellektuellen an die vorerst meist frei schwebenden, später vorwiegend an die KPÖ angebundenen alternativen Gruppierungen. In der zentralistischen politischen Struktur der Stadt war der Faktor, dass die Führung der Partei nicht an der Spitze des Aufstandes stand, die Ursache für das relativ rasche Scheitern. b) In den Industriegebieten der Steiermark, besonders in jenem der Schwerindustrie in der Mur-Mürz-Furche, war die Tradition eine gänzlich andere. Die Industrieansiedlungen waren mit einem ländlichen Umfeld konfrontiert, was die Subkulturen wechselseitig radikalisierte. Koloman Wallisch war in der ungarischen Revolution sozialisiert worden, hatte also schon eine tatsächliche politische Transformation mitgetragen. Teile der obersteirischen Arbeiter hatten 1919 ihre Betriebe sozialisiert und wurden von Otto Bauer nur mit Mühe überzeugt, diesen Schritt zurückzunehmen und sich im Rahmen der großkoalitionär ausgehandelten Ordnung zu halten. Die Obersteiermark hatte also ein radikales Potenzial, das sich gegen die zögerliche Haltung der Parteispitze auflehnte und aktionsbereiter war als Wien. In konsequenter Weise war hier der Wechsel zu den Kommunisten, die in der Illegalität praktisch den Alleinvertretungsanspruch innehatten, ein Massenphänomen. Das lässt sich statistisch für die Zeit von 1934 bis 1945 eindeutig erhärten. 90% aller Urteile, die die beiden Diktaturen gegen Widerstandskämpferinnen und -kämpfer fällten, betrafen Kommunisten. Von diesen waren wiederum vor 1933/34 90% Mitglieder der Sozialdemokratie gewesen. c) Ein ganz anderer Typ von Sozialdemokraten tritt uns in den damals weniger industrialisierten Bundesländern entgegen. Eher kleinbürgerlich, national sozialisiert, eine Art »Lehrersozialismus«, dem Antisemitismus zumindest nicht abhold. Die soziale, antiklerikale und deutschnationale Unterfütterung dieser Gruppe machte einerseits eine scharfe, auch aktionistisch-kämpferische Ablehnung des katholisch-konservativen Österreichs möglich, sie führte aber auch zu leichten Übergängen hin zum Nationalsozialismus, bei dem eine Weiterführung des Kampfes gegen den Ständestaat vermutet wurde. So wechselten in Oberösterreich ganze Gruppen des Republikanischen Schutzbundes zu den Nationalsozialisten, und Richard Bernaschek selbst ist an dieser Ideologie zumindest ganz deutlich angestreift.18 In Kärnten und Teilen der Steier18 Inez Kykal/Karl R. Stadler, Richard Bernaschek. Odyssee eines Rebellen, Wien u.a. 1976.

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mark fanden sich ehemalige Sozialdemokraten mit dieser Grundhaltung im 1934 erfolgten Juliputsch der Nationalsozialisten. Es steht natürlich außer Frage, dass dieser ausdifferenzierten Linken das konservative Lager nicht als monolithischer Block gegenüberstand. Nicht nur ist die Parteienlandschaft der Rechten und der rechten Mitte nicht homogen, auch die Heimwehren folgten oft Partikularinteressen, lokalen oder regionalen Führern. Dazu kam, dass das mangelnde Österreichbewusstsein einem umso massiveren und historisch gewachsenen Landesbewusstsein gegenüberstand. Landespolitik und föderale konservative Politik waren daher nicht einfach als einheitliche konservative Front zu sehen, sondern es gab mühsam einzubindende Interessenlagen. Einig war man sich aber in der Distanz gegenüber dem Roten Wien und den »bolschewistischen« Sozialdemokraten. Dabei zwangen die Landesverfassungen fast überall die Konservativen und die Linken in eine Koalition, eine Besonderheit der Landesverfassungen, die auch weit in die Zweite Republik hineinreicht. Die Kämpfe im Februar 1934 waren unter diesen Rahmenbedingungen für die Linke nicht zu gewinnen. Mehr noch, es kam ihnen, trotz der großen Zahl der Opfer, nicht die Rolle eines politisch-ideologischen Entscheidungskampfes zu, sondern vielmehr hatten sie für die Linke die Funktion, als internationale Ikone installiert zu werden. Ihr Symbolgehalt war und ist letztlich bedeutender als das nicht einmal unklar, sondern überhaupt nicht formulierte angestrebte Ziel. Dem verzweifelten Aufstand fehlte ein Programm, und zwar vollständig. Er war daher nicht ein Kampf mit offenem Ausgang, sondern nur ein Schritt der Selbstachtung. Damit wirkte er nach innen, in die Arbeiterbewegung selbst, die für die Zeit seither mit dem Februar 1934 starke Identifikationspunkte und Gedächtnisorte hat. Und er wirkte international, galt er doch als das erste Auftreten gegen die faschistischen Bewegungen in Europa, die mit dem Einsatz aller Mittel und mit dem Risiko der Auslöschung der individuellen und organisatorischen Existenz geführt wurde. Speziell im Gegensatz zu Deutschland wurde diese Erhebung in Österreich gelesen. Sie kam spät, zu spät, setzte aber ein Fanal. Das internationale Bild über die Februarkämpfe stützte sich auf mehrere durchaus widersprüchliche Wahrnehmungen. Da gab es vorerst die nicht gespaltene Linke. Der Alleinvertretungsanspruch einer linken Partei hatte die österreichische Sozialdemokratie in der Ersten Republik die Durchsetzungskraft in den Anfangsjahren und dann die Gestaltungskraft in der Metropole gebracht. Es gab keine Auseinandersetzungen in der Linken, die Frontstellung gegen die sogenannten »Anderen« war deutlich. Aber dieses Monopol war spätestens ab 1933 gebrochen, als sich viele von der Sozialdemo­

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kratie ab- und den Kommunisten oder linken Splittergruppen zuwendeten. Allerdings wurde der Februaraufstand durchaus noch als gemeinsamer Kampf begriffen, wenn er auch letztlich die Absetzbewegung von der Sozialdemokratie beschleunigte. International war es der Kampf »der« österreichischen Arbeiterbewegung gegen den Faschismus, der im Gegensatz zu Deutschland durch die Einheit möglich war. Tatsächlich konnten sich international die unterschiedlichsten Fraktionen auf die Februarkämpfe berufen. Das Bild der Seite an Seite kämpfenden Sozialdemokraten und Kommunisten »erregte […] die Fantasie und die Hoffnungen vieler linker und kommunistischer Schriftsteller, unter ihnen Friedrich Wolf, Brecht, Becker, Herzfelde und Otto Maria Graf«19, schrieb unlängst Christiane Zehl Romero. Besonders gilt dies für Anna Seghers und ihren Text »Der letzte Weg des Koloman Wallisch«20, eine Art reportagehafte Novelle, die wahrscheinlich auf Anregung von Willi Münzenberg verfasst wurde und sich somit in das Zwischenfeld von Sozialdemokratie und Kommunismus platzierte. Besonders auffällig ist dabei, wie sehr die Person Koloman Wallisch eine beinahe religiöse Überhöhung erfährt. Seghers beschreibt den Kreuzweg eines Mannes, der letztlich tatsächlich ein Märtyrer war. Die Verlängerung des Standrechtes, bis man Wallisch gefangen und zum Tode verurteilen konnte, seine Hinrichtung als ikonenhaftes Bild, auf dem ein grausames Regime eine Symbolfigur jenseits aller Spielregeln von Rechtsstaat und Justiz tötet, all das hat nicht nur via Seghers die Geschichte beeinflusst. Auch auf meinem Schreibtisch stand lange das nicht authentische Foto »Koloman Wallisch kurz vor seinem Tode«, das Wallisch an eine Mauer gelehnt zeigt. Für viele Jahre hatte es den Charakter einer starken Bezugsquelle, wohl nicht nur für mich, sondern für viele, die in der hagiographischen Traditionsbewahrung der Februarereignisse ihre politische Selbstdefinition fanden. Das Bataillon »12. Februar« im Spanischen Bürgerkrieg schien symbolisch ebenfalls noch die internationale Einheit der Arbeiterklasse zu beschwören. In seinem Umfeld vollzog sich aber schon, neben dem Kampf gegen die spanischen Faschisten, der innere Konflikt. Hier brechen Bild und Realität weit auseinander. Allein die Wege, auf denen die Linke die Reise nach Spanien eingeschlagen hatte, präformierte das spätere Verhalten in den Konflikten innerhalb der Republikaner, deren Niederlage letztendlich auch in diesen inneren Konflikten seine Ursache hatte. Und viele der Spanienkämpfer verloren ihr Leben  : entweder zurück im Moskauer Exil in den Mühlen der stalinistischen Terrorjustiz oder aber nach dem Ende des Bürgerkriegs in französischen Lagern und dann weiter in den Lagern des national19 Christiane Zehl Romero, Anna Seghers. Eine Biographie, 1  : 1900–1947, Berlin 2000, 319. 20 Anna Seghers, Der Weg durch den Februar, Berlin 1951.

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sozialistischen Deutschlands. Die Wunden, die sich die Linke in Spanien gegenseitig zugefügt hat, sind auch Jahrzehnte später noch nicht verheilt. Die Wirkungsgeschichte des Februar 1934 wäre national und international unvollständig, würde man nicht auch die Seite der damaligen Sieger betrachten. Die Ständestaatsverfassung, am 1. Mai als zusätzliche Provokation verkündet, und die nunmehr völlig durchgesetzte vormoderne Politik auch in Wirtschafts- und Kulturfragen, die die Antwort auf die Krise in ausschließlich rückwärtsgewandten Modellen suchte, all das schwächte das Land zusätzlich. Die politische Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit, auf der linken Seite konsequenter als auf der rechten, verhalf dem Imitationsfaschismus nicht zu Stabilität. Somit ist in der mittelfristigen Entwicklung der März 1938 ebenfalls als eine Folge des Februar 1934 zu lesen. International machte das Modell eines auf die katholische Kirche und auf die Enzyklika »Quadragesimo anno« gestützten (Teil-)Faschismus aber Schule. Als Resultat des Spanischen Bürgerkrieges wurde die Franco-Diktatur nach diesem Modell errichtet. So wurde Spanien in doppelter oder sogar mehrfacher Hinsicht zu einem Schauplatz der Niederlage für die österreichische Linke. Geschlagen im Kampf, geschwächt durch innere Konflikte und letztlich konfrontiert mit einem triumphierenden Sieger, der in Wien und in Madrid durchaus in der Gestaltung der damals neuen Politik große Ähnlichkeiten aufwies. Es sollte eigentlich keinen Zweifel geben  : Engelbert Dollfuß und seine politische Bewegung haben in Österreich die Demokratie zerschlagen, eine Diktatur errichtet und in den Februarkämpfen selbst die elementarsten Spielregeln der Reste eines Rechtsstaates missachtet, um Rache zu üben. Der Aufstand der österreichischen Arbeiter, der ein Ausdruck der letzten Selbstachtung von Schutzbundteilen war, wurde zu einer revolutionären Bedrohung Österreichs hochstilisiert, um die Linke nicht nur zu schlagen, sondern auch moralisch vernichtend zu treffen. Da war man gegen die Rechte nachsichtiger, was sich schließlich im Juliputsch, der mit der Ermordung des Bundeskanzlers seinen tragischen Höhepunkt fand, rächen sollte.21 Dollfuß ist aber auch ohne Zweifel ein Opfer der nationalsozialistischen Gewalt, der er sich entgegenstellte, indem er seinen Imitationsfaschismus unter italienischer Patronanz errichtete. Dies ist aber nur eine Seite der Medaille. Er ist auch jene Person, die Österreichs Erste Republik in den Abgrund führte. Bis heute ist die historische Einordnung der Ereignisse rund um den Februar 1934 in Österreich eines der umstrittensten Kapitel. Während man zum Nationalsozialismus eine einigermaßen akkordierte Sichtweise gefunden hat und selbst der A ­ nteil 21 Kurt Bauer, Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, Wien 2003.

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Österreichs an der Vernichtungsmaschinerie nicht mehr bestritten wird, ist die Situation in Bezug auf den Bürgerkrieg durchaus anders. Noch immer polarisieren Dollfuß und der Ständestaat die Politik und, wenn auch in geringerem Ausmaß, auch die Wissenschaft. Dies kann etwa an der Geschichte der Justizopfer des Februar 1934 deutlich gemacht werden. So wurde 2004, parallel zum Antrag der Rehabilitierung der Opfer der Justiz der Deutschen Wehrmacht, von der Sozialdemokratie und den Grünen ein Entschließungsantrag »betreffend Rehabilitierung von Justizopfern des Austrofaschismus«22 eingebracht, in dem der Justizsprecher der Sozialdemokratie, Dr. Hannes Jarolim, folgend argumentierte  : »Nach 1945 wurden die durch die NS-Justiz verurteilten Patrioten und Widerstandskämpfer nachträglich rehabilitiert. Im Zuge der Erhebung der Arbeiterschaft gegen die Bedrohung der Demokratie um den 12. Februar 1934 wurden 21 Standgerichtstodesurteile gefällt und neun sozialdemokratische Funktionäre, nämlich Karl Münichreiter, Emil Swoboda, Ing. Georg Weissel, Alois Rauchenberger, Johann Hoys, Koloman Wallisch, Josef Stanek, Josef Ahrer und Anton Bulgari zum Teil trotz schwerer Verwundung und mehr als zweifelhafter Anklage, so dass sogar Standgerichte vergebens Begnadigungen befürworteten, hingerichtet. Standgerichtlich hingerichtet wurden in Holzleiten in Oberösterreich weitere acht Sozialdemokraten. Zu diesen Opfern kommen noch zahlreiche andere von Standgerichten zu lebenslangen oder langjährigen Haftstrafen Verurteilte. […] Die hingerichteten und mit Kerkerstrafen belegten Persönlichkeiten haben aus politischer und demokratischer Überzeugung für den Erhalt der Ersten Republik gekämpft. Ihr Tod kam nicht zuletzt auch durch die proklamierte Exempelstatuierung, wonach in jedem Bundesland mit Kampfhandlungen wenigstens zwei Exekutionen zu erfolgen hatten, zustande. In einer Zeit, in der zu Recht verstärkt die Aufarbeitung der Vergangenheit als eine Voraussetzung für die Gestaltung der Zukunft angesehen wird, scheint es den unterzeichneten Abgeordneten in hohem Maße angebracht, zu einer politischen und juristischen Aufarbeitung des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes beizutragen und sich für eine Rehabilitierung der Opfer auch dieses Regimes einzusetzen. 70 Jahre nach Erlassung der rechtswidrigen Terrorurteile eines grausamen Unrechtsregimes ist es hoch an der Zeit, den Opfern dieses Regimes, die für Demokratie und Freiheit eingestanden sind, endlich Gerechtigkeit zukommen zu lassen.«23 22 Zitiert wird hier nach dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Albert Steinhauser, Freundinnen und Freunde vom 26. Februar 2009. 23 Ebd.

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Während das Bemühen um die Opfer der Wehrmachtsjustiz 2005 in einem Anerkennungsgesetz mündete, versandete der Antrag auf Rehabilitierung genannter Opfer des Ständestaats. Und die Großen Koalitionen, die politisch folgten (2004 war die Sozialdemokratie noch in Opposition), machten ein Weiterverfolgen des Antrags aus Rücksicht auf den Koalitionspartner nicht mehr opportun. So blieben die Grünen mit ihren politischen Bemühungen allein.24 Der lange Schatten des Februars 1934 ragt also bis in die Gegenwart. Es ist langsam an der Zeit, diese Epoche in einer Weise abzuschließen, wie es in den gemeinsamen Bemühungen von Dieter Binder und dem Verfasser vor einigen Jahren im Parlament versucht worden war.25 Zitiert nach  : Helmut Konrad, Der Weg in den Abgrund. Die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen, in  : Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler (Hg.), NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse, Wien/Köln/Weimar 2012, 31–41 (Böhlau Verlag).

24 Ebd. 25 Günther Schefbeck (Hg.), Österreich 1934. Vorgeschichte – Ereignisse – Wirkungen, Wien 2004.

Die Kronen-Zeitung im österreichischen Wahlkampf von 1966 (1990) Die Nationalratswahlen vom 6. März 1966 stellen in der österreichischen Innenpolitik einen ganz markanten Einschnitt dar. Ohne daß die Verschiebung der Kräfteverhältnisse, gemessen an späteren Wahlgängen oder an Wahlen in vergleichbaren Ländern, spektakulär gewesen wäre, reichte sie doch aus, den Abschnitt der Zusammenarbeit der großen Parteien zu beenden und die Phase der Alleinregierungen einzuleiten. Insgesamt erhielt die Österreichische Volkspartei 2,191.128 Stimmen (1962  : 2,024.501). Die Sozialistische Partei kam auf 1,928.922 (1962  : 1,960.658), die FPÖ erhielt 242.599 (1962  : 313.895) Stimmen. Die DFP mit Franz Olah verfehlte mit 148.521 Stimmen den Einzug ins Parlament. Die KPÖ, die nur mehr im Wahlkreis 4 (Wien Nordost) kandidiert hatte, kam auf 18.638 Stimmen. Zwei Kleinparteien, eine liberale und eine linke Splittergruppe, erhielten 1.570 bzw. 486 Stimmen. In Prozenten ausgedrückt konnte sich die ÖVP um 3,12% auf 48,54% steigern, wobei sie auf Kosten der SPÖ mit einem Minus von 1,44% und der FPÖ mit einem Minus von 1,69% gewann.1 Obwohl der FPÖ jeder 4. Wähler davongelaufen war (die Gründe sind, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt,2 durchaus auch im sogenannten »Fall Olah« zu suchen), ist das Verhältnis der beiden Großparteien, die nunmehr durch 5,98% statt bisher 1,42% getrennt waren, das eigentlich wesentliche Resultat der Wahl. Wahlsiege bzw. Niederlagen sind selten monokausal erklärbar. Das Erringen der absoluten Mehrheit an Mandaten für die ÖVP, das die Bildung einer Alleinregierung gestattete, war einerseits ein Sieg der geschickt agierenden Partei im ersten Persönlichkeitswahlkampf bei Nationalratswahlen in Österreich. Anderseits war es aber, und dies in stärkerem Ausmaß, eine Niederlage der SPÖ. Die Fussach-Affäre, das nicht zurückgewiesene Unterstützungsangebot der KPÖ, der »Fall Olah« und die damit zusammenhängende Auseinandersetzung um die Kronen-Zeitung mit Beschlagnahmungen und kurzzeitiger kommissarischer Verwaltung waren wohl die Hauptgründe. Christian Broda, Justizminister und wichtigster politischer Gegenspieler von Franz 1

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Etwaige Unschärfen in diesen Berechnungen, die leicht von den späten publizierten Resultaten (z. B. Peter Eppel/Heinrich Lotter (Hg.), Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte 1955–1980, Wien/München 1981, 4) abweichen, ergeben sich daraus, daß hier die unmittelbar nach dem Wahltag publizierten Zahlen zur Grundlage genommen wurden. Siehe  : Helmut Konrad, Zur politischen Kultur der Zweiten Republik am Beispiel des »Falles Olah«, in  : Geschichte und Gegenwart 5/1 (1986), 40–44.

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Olah, galt als der Hauptverlierer. Allein im Wahlkreis VII (von den damals 25 Wahlkreisen) verlor die SPÖ fast 9.000 Stimmen (insgesamt in Österreich 31.763). Es war dies Brodas Wahlkreis. Nicht zufällig führt Broda daher die »Abschußliste« der Kronen-Zeitung vom 9. März an. Dort heißt es  : »Keiner ist so ›tot‹ wie er  : Justizminister Broda hat sich durch die Aktion gegen die KronenZeitung sein politisches Grab gegraben. Er wird von den Sozialisten als der große Sündenbock bezeichnet. Wahrscheinlich wird er nicht in den Rechtsanwaltsberuf zurückkehren, sondern neben seinem Mandat den Direktorposten in einer Bank oder Versicherung erhalten.«3

Wenn auch die Vorhersage der politischen Zukunft für Christian Broda falsch war, so hat die Kronen-Zeitung gerade in seinem Fall ganz massiv den Ausgang der Nationalratswahl mitbestimmt. Brodas Wahlkreis liegt mit einem Minus von 8,43% als statistischer Ausreißer weit über den sozialistischen Durchschnittsverlusten von 1,44%. In diesen unterschiedlichen Größenordnungen kann verdeutlicht werden, in welchem Ausmaß ein Massenmedium politische Entscheidungen beeinflussen kann. Bedenkt man zudem das Anwachsen der angesprochenen Zeitung im Zeitraum seit 1966, so wird die Macht der Medien in der Politik der Gegenwart nur allzu deutlich. Gerade unter diesem Aspekt soll von dem Hintergrund der hitzigen Diskussion um die Frage des Eigentums an der Kronen-Zeitung das Verhalten dieser Zeitung im Wahlkampf beobachtet werden.

1. Das Eigentum an der Zeitung Das Verhalten der Kronen-Zeitung im Wahlkampf 1966 ist ohne ein Wissen über die Auseinandersetzungen, die zeitgleich um die Frage des Eigentums an dieser Zeitung geführt wurden, kaum verständlich. Die insgesamt feststellbare politische Zurückhaltung mit nur einem einzigen klaren Feindbild, nämlich Justizminister Broda, die laufende Berufung auf eine »bessere« sozialistische Tradition, das verdeckte Unterstützen von Franz Olahs DFP, die kühle Distanz zu den beiden bürgerlichen Parteien, all das ergibt erst einen Sinn, wenn der Machtkampf um die Zeitung transparent gemacht wird. Wem gehörte also die Kronen-Zeitung  ?4 3 4

Kronen-Zeitung, 9. März 1966, 3. Die bisher ausführlichste Darstellung der komplizierten Eigentumsverhältnisse findet sich bei  : Manfred Lechner, Politische Orientierungsmuster der Zweiten Republik. Am Beispiel des Falles Olah, Diplomarbeit, Universität Graz 1990, 196–250. Ein gemeinsames Buch von M. Lechner und H. Konrad zum Fall Olah ist für 1991 vorgesehen. Zur Arbeit des Verfassers siehe  : Konrad, Kultur.

Die Kronen-Zeitung im österreichischen Wahlkampf von 1966

Die Finanzierungsgeschichte der Kronen-Zeitung ist ein ganz wesentliches K ­ apitel zur politischen Kultur der Zweiten Republik. Sie ist Teil der Grauzonen aus dem Fall Olah im Beziehungsgeflecht von Geld und politischer Macht. Eine genaue Darstellung wurde schon 1986 vom Verfasser versucht, und die Diplomarbeit von Manfred Lechner widmet diesem Bereich ebenfalls einen breiten Abschnitt. Es kann hier also kurz und referierend verfahren werden  : Die Geschichte der Illustrierten Kronen-Zeitung reicht in die Monarchie zurück. Der Name bezog sich auf den Preis des Monatsabonnements dieses Blattes für kleine Leute, das sich durch wenig Text und viele Illustrationen, in den Anfängen vor allem von hervorragenden Zeichnern, auszeichnete. 1938 wurde die Kronen-Zeitung eingestellt.5 Als einziges Vermögen blieben bis zur Neugründung im Jahre 1959 nur die Titelrechte übrig. Vier Personen standen in gänzlich unterschiedlichen Funktionen an der Wiege der neugegründeten Zeitung  : Hans Dichand, Kurt Falk, Ferdinand Karpik und Franz Olah. Dazu kamen Anwälte, Sekretäre und Buchhalter. Hans Dichand,6 der als Chefredakteur 1958 den Kurier verlassen hatte, trug sich mit dem Gedanken, die Titelrechte der Kronen-Zeitung zu kaufen und damit den Versuch einer eigenen Zeitung zu wagen. Der Kontakt zu Franz Olah ermöglichte ihm eine Finanzierungschance. Olah stellte auch den Kontakt zu Kurt Falk7 her, mit dessen Vater er aus der Gewerkschaftsbewegung bekannt war. Kurt Falk war damals als Buchhalter bei Persil angestellt und erst 27 Jahre alt, ohne Geld aber voller Ambitionen. Ferdinand Karpik,8 Weggefährte Olahs aus gemeinsamer KZ-Haft, deutscher Unternehmer mit zusätzlicher, auf Interventionen Olahs erreichter österreichischer Staatsbürgerschaft,9 gab sich willig als Strohmann für die Finanzierungspläne her. Ohne hier auf die Details näher eingehen zu können, sei nur angemerkt, daß Dichand aus Eigenmitteln gerade 10% der Kosten der Titelrechte aufbrachte. Die restlichen 90% wurden von Falk auf dem Kreditwege zur Verfügung gestellt, wobei der Kredit mit Sparbüchern gesichert wurde, die Geldmittel aus Olahs geheimnisvoller Finanzierung des Express10 und aus dem »Sonderprojekt«,11 den amerikanischen   5 Privatsammlung zu Olah von Helmut Konrad (PO), Exposé über die Möglichkeit des käuflichen Erwerbs des Zeitungsunternehmens Illustrierte Kronen-Zeitung Wien, von Rechtsanwalt Dr. Heinz Damian, 16. September 1967.   6 Zu Dichand siehe  : Peter Muzik, Die Zeitungsmacher. Österreichs Presse. Macht, Meinungen und Milliarden, Wien 1984, 190 f.   7 Zu Falk siehe  : Lechner, Orientierungsmuster, 199.   8 Zu Karpik siehe  : Konrad, Kultur, 46.   9 PO, Vertrauliche Information an Bundesminister Probst vom 28. Oktober 1964 . 10 PO, Protokoll der Einvernahme von Fritz Klenner in den Vorerhebungen der Staatsanwaltschaft zum Fall Olah im September 1966, 11 f. 11 PO, Persönliche Verteidigungsschrift Olahs aus 1969, 5 ff.

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Geheimdienstmitteln zur Abwehr des Kommunismus, enthielten. Als das Gesellschafterkapital auf eine Million aufgestockt wurde, von der Dichand und Falk wieder 10% aufbrachten, stammten 300.000,– aus einer Erhöhung des Kredits für Falk und 600.000,– von Ferdinand Karpik, für den Rechtsanwalt Dr. Sandmann als Treuhänder agierte.12 Aber Karpik selbst war, wie ein weiterer Treuhandvertrag beweist,13 nur Treuhänder von Rechtsanwalt Dr. Levar, dem Vertrauensanwalt Olahs. Auch Levar war aber noch nicht der tatsächliche Eigentümer. Als dieser ist wohl Franz Olah (mit Mitteln der Bau- und Holzarbeitergewerkschaft und Sonderprojektmitteln) anzunehmen, wie unlängst nachgewiesen wurde. 90% des Eigentums an der Kronen-Zeitung kamen also von Franz Olah. Aber auch in der Überwindung der schwierigen Anfangsjahre, in denen die Kronen-Zeitung weit über 10 Millionen Schulden machte, war es Olah, der hilfreich einsprang – mit vorausbezahlten Inseraten seiner SW-Möbelaktion14 und mit der Verpfändung von gewerkschaftseigenen Sparbüchern zum Eckzinssatz (3,5%).15 Erst damit war der erfolgreiche Start der Zeitung möglich. Dem Gewerkschaftsbund aber erwuchs zumindest jener Schaden, den der Differenzbetrag zwischen dem Eckzinssatz und der erzielbaren Zinsbonifikation für Großanleger ausmacht. Welcher Anteil am Stammkapital direkt aus den Gewerkschaftskassen kam, läßt sich bei Olahs lockerer Vermengung der Konten leider nicht ermitteln. Daß ein guter Teil Gewerkschaftsgeld war, steht aber wohl außer Frage.16 Daß nach dem politischen Sturz Olahs im Jahr 1964, dem schon längere gewerkschaftsinterne Untersuchungen und Vorhaltungen17 vorausgingen, ein heftiger Streit um das Eigentum der inzwischen schon hochaktiven und einflußreichen Zeitung ausbrechen mußte, versteht sich von selbst. Der Gewerkschaftsbund sah sich als Besitzer an und versuchte, dieses vermeintliche Recht zu erzwingen. Ob es gerade vernünftig war, gut zwei Wochen vor den Wahlen des Jahres 1966 Hans Dichand durch einen gerichtlichen Verwalter ersetzen zu lassen,18 der ohnedies zwei Tage später das Feld wieder räumen mußte, bleibt dahingestellt.

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PO, Durchschrift der Anklageschrift vom 24. Juni 1968, 38 f. PO, Undatierte Abschriften von Treuhand Vereinbarungen. Konrad, Kultur, 48. PO, Kopie des Sparbuchs Nr. 586.622 der Zentralsparkasse der Gemeinde Wien. PO, Drei Schreiben der Zentralsparkasse der Gemeinde Wien an Kurt Falk vom 25. Juni 1959, 13. November 1959 und 27. Mai 1960  ; vier Antwortschreiben von Kurt Falk. 17 Fritz Klenner, Die österreichischen Gewerkschaften. Vergangenheit und Gegenwartsprobleme, Bd. 3  : Von 1953 bis 1978, Wien 1979, 2452, Anm. 9. 18 Kronen-Zeitung, 25. Februar 1966, 2.

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Jedenfalls mußte das Team um Dichand den ÖGB und die Olah-Gegner in der Sozialdemokratie ab 1964 durchaus für einige Jahre als Existenzbedrohung empfinden. Dies ging so weit, daß 1967 ernsthaft verhandelt wurde, die Kronen-Zeitung zu verkaufen.19 Als potentielle Käufer traten die Europäische Verlagsanstalt (EVA) und die Deutsche Bank für Gemeinwirtschaft auf, tatsächlich aber standen dahinter die sozialistischen Fraktionen im ÖGB. Dr. Kurt Grotter vermittelte, und als Kompromiß war bereits ein Kaufpreis von 30 Millionen, ein Ausscheiden von Kurt Falk mit einer Pension von 25.000,-, dem Verbleib von Hans Dichand in der Geschäftsführung und einer politischen Umstellung (Ausscheiden von Vodopivec, »Nimmerrichter werde dann anders herum schreiben«20) ausgehandelt. Olah, von Karpik informiert, ging im September 1967, gerade während des Gewerkschaftskongresses, an die Öffentlichkeit und ließ das Geschäft damit platzen. Der Prozeß, den der ÖGB gegen Dichand und Falk um die Herausgabe der KronenZeitung über einige Jahre führte, endete schließlich am 8. November 1969 mit einem Vergleich, in dem sich Dichand und Falk verpflichteten, dem ÖGB 7,825.000,– S zu zahlen. »Durch diesen Vergleich sind sämtliche, aus welchem Rechtsgrund immer entspringenden Ansprüche zwischen dem Österreichischen Gewerkschaftsbund und seinen Fachgewerkschaften einerseits und dem ›Zeitungsverlag Dichand und Falk Gesellschaft m.b.H. und Co.‹, dem ›Zeitungsverlag Dichand und Falk Gesellschaft m.b.H.‹, Hans Dichand und Kurt Falk anderseits verglichen und bereinigt.«21

Die Serie der Scheinverkäufe, Rechtsansprüche und Prozesse ging zwar noch bis 1973 weiter.22 Allerdings konnten sich seit dem Vergleich Hans Dichand und Kurt Falk als Eigentümer sicher fühlen. Mit 17.000,– S Eigenkapital waren sie zu den reichsten und mächtigen Meinungsmachern in Österreich aufgestiegen. Wer die Trennung zwischen Dichand und Falk mit der Abzahlung von 2 Milliarden23 vor Augen hat, kann diesen gigantischen Aufschwung ermessen.

19 Ein umfangreicher Bestand zu diesen Verkaufsbemühungen inklusive der damit verbundenen politischen Ausrichtungsänderungen befindet sich in der angegebenen Privatsammlung zu Olah. 20 PO, Brief von Dr. Kurt Grotter an Prof. Fritz Klenner vom 24. August 1967. 21 PO, Vergleichsausfertigung vom 7. November 1969. 22 Konrad, Kultur, 51. 23 Lechner, Orientierungsmuster, 202 f.

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2. Die politische Position der Kronen-Zeitung zu Beginn des Jahres 1966 Aus dieser sehr undurchsichtigen Eigentumskonstellation leitet sich auch die politische Position der Zeitung ab. Franz Olah war 1964 politisch gestürzt worden (pikanterweise war der vorgegebene Grund für den Rücktritt als Innenminister und die Verwarnung durch die SPÖ die »Mitarbeit an nichtsozialistischen Presseerzeugnissen ohne Einvernehmen mit dem Parteivorstand«,24 womit aber nicht die Kronen-Zeitung gemeint war) und im Gewerkschaftsbund hatte man zumindest schon einen groben Überblick über die mißbräuchliche Verwendung von Gewerkschaftsgeldern. Schon 1964 gab es intern einen Wissensstand, der wenig Zweifel über die Verflechtung offenließ. Die Frage des Eigentums begann also die Gerichte zu beschäftigen. Hans Dichand war also in jedem Fall Franz Olah zu Dank verpflichtet. 1966 war es aber nicht mehr opportun, dies öffentlich zu bekunden. Die Unterstützung des Wahlkampfes der DFP konnte also nur sehr indirekt erfolgen, wie später noch gezeigt werden wird. Die ÖVP spielte in der Geschichte rund um die Zeitung keine Rolle – entsprechend gering ist daher auch der Anteil der Berichte über die stärkste Partei. Die ÖVP war nicht »im Gerede«, Interna gab es nicht zu vermelden und so blieb sie fast außerhalb des Blickfeldes. Bei der FPÖ ist der äußere Eindruck ähnlich. Aber das Verhältnis zwischen Kronen-Zeitung und FPÖ war unter der Oberfläche doch entscheidend anders. Franz Olah hatte mit seinen Geldmitteln den politischen Kurs der FPÖ mitbestimmt, bis in die Personalpolitik hinein.25 Das hatte zu einer Krise der Freiheitlichen Partei geführt. Wirtschaftsgelder flossen spärlicher, Inserate waren daher schwer zu finanzieren, und einige Wählerschichten wanderten zur ÖVP ab. Die gemeinsamen finanziellen Wurzeln von Kronen-Zeitung und FPÖ hatten aber zu keinerlei Zusammenarbeit, sondern eher zu Berührungsängsten geführt. Ganz klar war die Haltung der Zeitung zur KPÖ. Der scharfe Antikommunismus erklärt sich zum Teil auch aus der Verflechtung mit Olah, der ja als der entscheidenste Exponent für Österreichs Westorientierung gelten kann. Sein Antikommunismus, trotz angeblicher Kontakte unmittelbar nach 1945, hatte seine Basis im Konzentrationslager erhalten, wo Olahs Überlebensstrategie, individuell angelegt, mit dem Bemühen der Kommunisten um gemeinsame (geringe) Steuermöglichkeiten in scharfe 24 Klenner, Gewerkschaften, 2452. Das Ehrgericht der SPÖ fällte am 3. November 1964 das endgültige Urteil nach 15 Sitzungen und 31 Einvernahmen von 24 Zeugen. Siehe  : Archiv Christian Broda, Justizministerium und Rechtspolitik, 1959 bis 1966, Mappe III, 142.5. 25 Konrad, Kultur, 41–45.

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Gegensätze geraten war.26 Olahs Amerikakontakte, speziell zu Wesely Cook,27 der ab 1949 in Wien die Funktion eines Labor-Attachés innehatte, das Streikjahr 1950 und das Sonderprojekt28 wiesen Olah als wichtigen Exponenten im Kalten Krieg aus. Die Kronen-Zeitung setzte diese Politik exakt fort und hatte, bei allem Bemühen um unscharfe Grenzen und populistische Positionen, einen ganz klaren Ablehnungsstandpunkt zum Kommunismus. Die SPÖ hatte 1966 das schwierigste Verhältnis zur Kronen-Zeitung. Von den Lesern her entwickelte sich das Blatt zum heimlichen Zentralorgan der SPÖ mit überproportionalem Anklang in Wien und bei sozial schwächeren Schichten. Olah hatte aber schon vor seinem Parteiausschluß die Kronen-Zeitung als Waffe gegen seine innenpolitischen Gegner, allen voran Justizminister Dr. Christian Broda, benutzt. Broda, der 1933 in den Kommunistischen Jugendverband eingetreten und im Ständestaat Zentralfigur einer oppositionellen Abspaltung, der »Ziel und Weg«Gruppe gewesen war,29 hatte auch 1945 noch kurzzeitig mit der KPÖ sympathisiert, ehe er zur SPÖ fand. Er war daher von Olah und der Kronen-Zeitung leicht als »ExKommunist« etikettierbar. Als Justizminister war er zudem eine wichtige Person in der Frage des Presserechts. Wenn er daher nach besonders heftigen persönlichen Angriffen, wie auch im Wahlkampf 1966, die Zeitung beschlagnahmen ließ, war er von zumindest zwei Seiten her angreifbar. Da die Justiz auch bei der Frage der Klärung der Besitzverhältnisse an der Zeitung eine Rolle spielte und Brodas Freund und Kollege Dr. Rosenzweig die Zeitung kurzzeitig sogar unter kommissarische Verwaltung stellte, bot sich Broda als negative Integrationsfigur für die Kronen-Zeitung an, die in den Wochen vor den Wahlen von 1966 fast so tat, als stünde sie für die positiven, aufbauenden sozialistischen Traditionen in diesem Land und gegen kommunistische Unterwanderung, Mißbrauch des Rechtsstaates etc. Pittermann wurde als schwache Führungsfigur hingestellt, die sich gegen den Druck der radikalen Linken und der 26 Über das Verhalten im KZ ist hier nicht zu richten. Keiner der Konfliktparteien ist jedenfalls abzusprechen, Opfer gewesen zu sein. 27 Interview des Verfassers mit Prof. Alice Cook, ehemalige Frau von Wesely Cook und selbst nach 1945 im Bereich der Re-education in der amerikanischen Zone in Deutschland tätig. Aufgenommen am 4. Mai 1990 in Ithaca, New York. 28 Siehe dazu  : Manfred Lechner, Das Sonderprojekt Olah oder »Ich weiß nicht, sooft ich den Mixer zusammenbaue, wird’s ein Maschinengewehr«, in  : Herwig Ebner/Horst Haselsteiner/Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Hg.), Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Institutes für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 1990, 351–362. 29 Helmut Konrad, Nachruf auf Karl R. Stadler, in  : Rudolf G. Ardelt/Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler, Wien/Zürich 1990, 12 f.  ; Fritz Keller, Gegen den Strom. Fraktionskämpfe in der KPÖ – Trotzkisten und andere Gruppen 1919–1945 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 10), 148 ff.

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Gewerkschaftsbürokratie, vertreten durch Broda, Rosenzweig und Co nicht durchsetzen konnte. Andere Problemfelder der SPÖ, wie etwa die Fussach-Affäre,30 blieben völlig ausgeblendet. Die Wahlempfehlung der KPÖ und der Kampf gegen Broda beherrschten das Feld.

3. Artikel der Kronen-Zeitung zum Wahlkampf Erstaunlich spät und auch in der Quantität sehr gering schaltete sich die Kronen-Zeitung in den Wahlkampf von 1966 ein. Erst acht Wochen vor den Wahlen am 6. März tauchen die ersten Artikel, Kommentare und Berichte auf, und auch die Gesamtzahl von 65 Beiträgen zum Wahlkampf nimmt sich nicht gerade überwältigend aus.31 In diesen 8 Wochen erschienen Meldungen zum Wahlkampf an elf Tagen auf der Titelseite. 4 Titelstories nehmen zudem indirekt Bezug auf den Wahlkampf. Weniger als jede dritte Nummer hat somit die Wahl als Aufhänger. Zählt man die 65 Beiträge auf die Erwähnung von aktiven Politikern durch, so scheint Christian Broda mit 24 Nennungen öfter auf als alle anderen zusammen. Franz Olah und Bruno Pittermann bringen es auf je sieben Nennungen, Franz Muhri wird dreimal, Bruno Kreisky und Josef Klaus je zweimal genannt. Eine Nennung haben Withalm, Czettel, Klenner und Nenning aufzuweisen. Von den 11 Titelgeschichten handeln nicht weniger als vier von Broda. Am 30.1. wird die Bedrohung an die Wand gemalt, daß Broda Kanzler werden könnte. Am 13.2. scheint ein angebliches Rücktrittsangebot Brodas auf der Titelseite auf, dem einige Tage später eine Entgegnung folgen mußte. Am 23.2. ist die Strafrechtsreform Gegenstand der Titelgeschichte, wobei Brodas »Geschenke an die Schwerverbrecher« im Mittelpunkt stehen. Am 3.3. wird schließlich der Anwalt Rosenzweig, einer der Hauptgegner der Kronen-Zeitung als Anwalt des ÖGB in den Verfahren um die Eigentumsrechte, als Nachfolger Brodas gehandelt, der angeblich ins Innenministerium übersiedeln sollte. Und die 4 indirekten Wahlkampfbezüge auf den Titelseiten vom 5.2., 6.2. und 8.2., wo es um die Beschlagnahme der Zeitung geht, sowie vom 26.2., wo über die kommissarische Verwaltung der Zeitung berichtet wird, beziehen sich ebenfalls auf Broda. Und ein »Das freie Wort« genanntes »Flugblatt der ›Kronen30 Der mißglückte Versuch, ein Bodenseeschiff gegen den Willen der lokalen Bevölkerung auf »Dr. Karl Renner« zu taufen. Die SPÖ erhielt dadurch einen besonders antiföderalistischen Anstrich. Aber der verantwortliche Minister (Probst) blieb in der Kronen-Zeitung praktisch unbehelligt. 31 Für die Überlassung der gebundenen Ausgaben Jänner bis März 1966 und April bis Juni 1966 der Kronen-Zeitung danke ich dem Chefredakteur der Steirerkrone, Herrn Markus Ruthardt, der auch in seiner Biographie dem Institut für Geschichte verbunden ist.

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Zeitung‹«, um weiteren Beschlagnahmen auszuweichen, trägt in Balkenlettern den Titel  : »Minister Dr. Broda schafft Sonderjustiz«. Dort heißt es  : »Dieser Dr. Broda, kommunistischer Agitator, Besitzer eines Schlosses, das einst den Fürstbischöfen von Salzburg gehörte, Staranwalt in der Welt des Films, Großverdiener durch Rechtsanwaltsarbeit für die Gemeinde Wien und heute Justizminister und Sprecher der Linksextremisten in der SPÖ, ist eine Gefahr für unser Land.«32 Diese Bilder werden ständig variiert. Kaum einmal scheint Brodas Name ohne die Beiworte »(Ex-) Kommunist«, »Linksextremist« etc. auf. Die anderen Politiker werden in neutrale bis positive Zusammenhänge gestellt, außer natürlich Muhri und teilweise Pittermann, letzterer aber fast ausschließlich wegen seiner angeblichen Führungsschwäche und seiner Nichtzurückweisung des Unterstützungsangebots durch die KPÖ. Es ist übrigens erstaunlich, daß in den acht Wahlkampfwochen kein einziger Politiker der FPÖ Erwähnung findet und auch die ÖVP kaum in den Meldungen auftaucht. Nur 2 Nennungen eines amtierenden Bundeskanzlers (der noch dazu einen Persönlichkeitswahlkampf führte) und eine des Generalsekretärs bilden den gesamten Niederschlag. Die ÖVP wird also praktisch außer Diskussion gestellt, beherrschendes Thema ist die Frage, warum man diesmal nicht die SPÖ wählen sollte. In den ersten Wochen dominierte ein einziger Themenkreis die Wahlkampfberichterstattung der Kronen-Zeitung  : die Unterstützungsparole der Kommunisten, die selbst nur mehr im einzigen Wahlkreis kandidierten, für die SPÖ. Es war gerade eines der wesentlichsten Merkmale jener Politik, für die in der SPÖ Franz Olah steht, die Sozialdemokratie verläßlich antikommunistisch und proamerikanisch auszurichten. Olahs Sturz wurde als Trendwende interpretiert (die es ab 1964 auch tatsächlich für einige Jahre gegeben hat  : Programme standen wieder vor Persönlichkeiten, Populismus und Grenzüberschreitungen spielten für ein halbes Jahrzehnt eine geringere Rolle). Allerdings war dies ein Wandel der Form, nicht der Inhalte. Schon der erste Artikel zum Wahlkampf, der am 11. Jänner 1966 erschien, zielt genau in diese Richtung. Dick unterstrichen lautete der Aufmacher der Titelseite  : »1962 hätten SP plus KP 50.000 Stimmen mehr als VP gehabt«33 (Kleiner Übertitel  : »KP-Unterstützung für SPÖ offiziell«). Die Analyse im Artikel behauptet, die KPÖ handle auf Weisung Moskaus in der Wiederbelebung alter Volksfrontstrategien  : »Schon im Februar 1965 schrieb die Prawda, daß sich heute innerhalb der Arbeiterbewegungen so manche Ähnlichkeit und Übereinstimmung herauskristallisiere, daß eine Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen Parteien durchaus möglich sei. Und das tschechische 32 Das freie Wort, undatiertes Flugblatt vom Februar 1966. 33 Kronen-Zeitung, 11. Jänner 1966, 1.

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Parteiorgan Rude Pravo bescheinigte der SPÖ erst vor kurzem, daß die rechtsgerichteten antikommunistischen Kräfte innerhalb der Partei in den Hintergrund gedrängt worden seien.«34

Und die Zeitung zieht mit der ÖVP den Schluß  : »Da die SPÖ nach links gerückt ist, braucht die KPÖ nicht nach rechts zu rücken, um eine Wahlempfehlung für die SPÖ zu rechtfertigen.«35 Damit war für einige Wochen die beherrschende Thematik vorgegeben. Von den folgenden 10 Artikeln in den nächsten Tagen hatten nicht weniger als 7 diesen Komplex als Gegenstand. Selbst ein Aufmacher am 18.1. ist der Zeitung nicht zu ausgefallen  : »›Chinesen‹ wollen SPÖ die Stimmen der KPÖ abjagen  !«36 Die Kleingruppe, die es im März auf weniger als 500 Stimmen brachte und als frühe sogenannte »marxistisch-leninistische« Fraktion gelten kann, brachte es wohl nie wieder zur Schlagzeile auf Seite 1 des Massenblattes. Erst knapp drei Wochen später rückte die zweite zentrale Thematik in den Wahlkampf der Zeitung ein  : Der Kampf mit Christian Broda wurde aufgenommen. Am 30. Jänner titelte die Kronen-Zeitung  : »Wenn die SPÖ mit Hilfe der KPÖ siegt  : Linksextreme und Kommunisten für Broda als Kanzler  !«37 Und im Artikel heißt es  : »Gerade in allerletzter Zeit hat sich der Kampf innerhalb der SPÖ zwischen den linksextremen Kräften und der gemäßigten Richtung verschärft. Symptomatisch für diese Verschärfung ist die Tatsache, daß zum Beispiel einzelne Spitzenfunktionäre jeden persönlichen Kontakt zu Dr. Broda abgebrochen haben. Es ist auch kein Geheimnis, daß Vizekanzler Dr. Pittermann und Außenminister Dr. Kreisky mit dem sturen Extremismus Doktor Brodas und vor allem des Gewerkschaftsflügels in der Partei nicht einverstanden sind. Demgegenüber sehen aber die Kommunisten in Justizminister Broda einen Mann, den zu forcieren ihnen günstig erscheint. Vor allem der Entwurf für die Strafrechtsreform, für den der Justizminister eintritt, ist ›Musik in den kommunistischen Ohren‹«.38 Teile dieses Entwurfs seien »buchstäblich dem im kommunistischen Ostdeutschland geltenden Strafrecht entnommen.«39 Brodas Kurs sei ein Verrat an den Positionen von Seitz, Helmer, Schärf und Körner. Damit hatte die Kronen-Zeitung die Position klar bezogen  : Broda und der Gewerkschaftsflügel als Finsterlinge, Pittermann gutwillig, aber schwach, und Kreisky, der am längsten zu Olah gestanden war (und in den siebziger Jahren manches die34 Ebd., 2. 35 Ebd. 36 Kronen-Zeitung, 18. Jänner 1966, 1. 37 Kronen-Zeitung, 30. Jänner 1966, 1. 38 Ebd., 2. 39 Ebd.

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ser Politik realisierte), als Hoffnungsträger in der SPÖ. Dies blieb das durchgängige Muster, nur daß später auch noch Dr. Rosenzweig als potentieller Justizminister bei einem Erfolg der Linken40 drohte. Broda wurde nicht nur als Kanzler, sondern auch als Innenminister gehandelt, wobei das Duo Broda und Rosenzweig im Innen- und Justizministerium als ganz besondere Bedrohung galt. Außer einer sehr eigenartigen Spitzenmeldung vom 8. Februar (»Auch Heinz Conrads Zielscheibe im Wahlkampf  !«)41 waren also die ausschließlichen Themen der Berichterstattung zum Wahlkampf die KPÖ-Empfehlung und Justizminister Dr. Broda. Daß anfangs die KPÖ-Empfehlung dominierte, hängt damit zusammen, daß der Konflikt mit Broda erst im Februar 1966 eskalierte. Im Archiv der Kronen-Zeitung fehlt in der Ausgabe vom 5. Februar 1966, einem Samstag, das zweite Blatt, also die Seiten 3 und 4.42 Am Sonntag, 6. Februar, findet sich die Erklärung  : »Schon zweimal beschlagnahmt. Kronen-Zeitung klagt die Republik auf Schadenersatz«43 lautet die Schlagzeile des Artikels, mit dem die heiße Phase in der Auseinandersetzung mit dem Justizminister eingeleitet wurde. Auf Seite 2 zeigt eine Karikatur Broda, der auf einem Stapel beschlagnahmter Zeitungen sitzt.44 Die nächste Nummer vom Dienstag, 8. Februar, bringt, neben Heinz Conrads, ein wenig schmeichelhaftes Photo von Broda auf der Titelseite mit dem zynischen Bildtext »Anwalt der Pressefreiheit«.45 Am 12. Februar werden die Leser auf das bereits zitierte Flugblatt »Das freie Wort«46 aufmerksam gemacht. Die nächste Ausgabe berichtet von Brodas angeblichem Rücktrittsangebot,47 und die übernächste teilt den Lesern auf Seite 1 mit, daß ein halb abgeschnittenes Logo der Kronen-Zeitung in Hinkunft für den Käufer signalisieren sollte, daß wieder eine Beschlagnahme stattgefunden habe und man daher kostenlos »Das freie Wort« dazu verlangen solle.48 Der Kampf gegen Broda beherrscht auch die folgenden Nummern. Am Mittwoch, 23. Februar, wird es wieder extrem heftig – die Strafrechtsreform ist die Ursache. Was nun folgte, ist aber wohl als Höhepunkt des Konfliktes zu bezeichnen, weil sich die politische Auseinandersetzung mit der Eigentumsfrage an der Zeitung paarte. Routinierte Leser der Kronen-Zeitung dürften nicht wenig überrascht gewesen sein, am Donnerstag, 24. Februar, einen 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Kronen-Zeitung, 3. März 1966, 1. Kronen-Zeitung, 8. Februar 1966, 1. Kronen-Zeitung, 5. Februar 1966, 3 f. Kronen-Zeitung, 6. Februar 1966, 1. Ebd., 2. Kronen-Zeitung, 8. Februar 1966, 1. Das freie Wort. Kronen-Zeitung, 13. Februar 1966, 1. Kronen-Zeitung, 15. Februar 1966, 1.

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völlig neutralen Aufhänger zum Wahlkampf zu lesen (»Österreicher im WahlwettFieber  !«49) Auf Seite 2 wurde »in eigener Sache« vermeldet  : »Auf Antrag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes hat das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien für das Unternehmen [die Zeitung, H.K.] einen gerichtlichen Verwalter ernannt. Hiezu wurde der ehemalige Chefredakteursstellvertreter der Kronen-Zeitung, Werner Grosberg, bestellt. Aufgabe des Verwalters ist es […] dafür zu sorgen, daß das Blatt […] sich aus politischem Zank und Hader heraushält. Die ›Kronen-Zeitung‹ soll wieder das werden, was sie immer war – ein Blatt mit viel Herz und nicht mit viel Galle  !«50

Die Zeitung vom Folgetag folgt noch der neuen Linie, doch am Samstag triumphierte das alte Team  : »Wir sind wieder wir  !  !  ! Das Recht hat gesiegt  !«51 Dichand mit Bild auf der Titelseite, Dichand in allen Kommentaren. Der ÖGB und das Justizministerium hatten diese Runde der Auseinandersetzung verloren, und das sollte sich in den verbleibenden Tagen bis zur Wahl niederschlagen. Am Samstag, 27. Februar, wurde der Jubel weitergeführt. Der »kalte Hauch aus dem Osten«,52 wie es am Samstag genannt wurde, war vorüber. In fünf der sechs Ausgaben, die bis zum Wahltag noch erschienen, tauchte jeweils an prominenter Stelle (Seite 3) ein Ausspruch Dr. Brodas aus dem Wahlkampf 1945 auf  : »Sie werden mit mir übereinstimmen, daß die Kommunistische Partei Gegenwart und Zukunft ist«.53 Am Freitag, 4. März, steht dieses Zitat auf Seite 1, versehen mit dem Zusatz  : »Broda ist Spitzenkandidat der SPÖ im Wahlkreis 7, Wien-West (Penzing, Hernals und Ottakring)«,54 und zwar unter einer Karikatur, wo grimmige Österreicher zusehen müssen, wie Broda an Muhri eine Schere überreicht, mit der das Band für den Weg in die Volksdemokratie (im Hintergrund ist der Kreml zu erkennen) durchschnitten werden soll. Der Titel der Karikatur lautet  : »Broda, Broda, leih ma d’Scher …«.55 Am Samstag zeigt die nächste Karikatur einen verängstigten Wähler unter einem riesigen Broda-Kopf  : »Der große 49 Kronen-Zeitung, 24. Februar 1966, 1. 50 Ebd., 2. 51 Kronen-Zeitung, 26. Februar 1966, S. 1. 52 Ebd. 53 Fünf Ausgaben der Kronen-Zeitung vom 27. Februar 1966 (3), vom 1. März 1966 (3), vom 2. März 1966 (3), vom 3. März 1966 (3) und vom 4. März 1966 (1). Die Ausgabe vom 2. März hat übrigens auf der Titelseite eine Karikatur mit dem Titel »Die Kanonen von Brodarone«, die zeigt, wie sich nach den Rohrkrepierern von Beschlagnahmen und Zeitungsputsch Broda und seine Getreuen hinter der letzten, der Volksfrontkanone, versammeln, während sich einige sozialistische Kämpfer bereits enttäuscht abwenden. 54 Kronen-Zeitung, 4. März 1966, 1. 55 Ebd.

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Broda blickt dich an …«.56 Und am Dienstag nach den Wahlen klagt Pittermann auf der Titelseite als römischer Herrscher  : »Broda, Broda, gib mir meine Legionen wieder  !«57 Die Kronen-Zeitung hat also zweifellos das Wahlergebnis mitbestimmt.

4. Der Wahlkampf in der Inseratenwerbung Auffallend spärlich schlägt sich der Wahlkampf 1966 in den Inseraten der KronenZeitung nieder. Noch bevor ein einziges Inserat einer Partei erschienen war, meldete sich die Zeitung selbst in einer prominent platzierten Mitteilung58 an die Leser. Die Redaktion begründet darin, daß sie bewußt auf Einnahmen verzichte als die Leser zu lange damit zu behelligen. Und daß »Wahlinserate der Kommunisten von der ›Kronen-Zeitung‹ nicht angenommen werden, ist ein unumstößlicher Grundsatz«.59 Und weiter  : »Solange sich die SPÖ nicht von den Kommunisten distanziert wie sie es zum Beispiel 1949 getan hat, schalten wir keine sozialistischen Wahlinserate ein. Wir glauben damit im Sinne vieler Zehntausender unserer Leser, die Sozialisten sind, zu handeln. Wir wissen, daß eine sehr große Gruppe überzeugter Sozialisten gegen das bisherige Schweigen der im Moment offenbar von Linksextremisten beherrschten SPÖ ist.«60

Wohl nicht zufällig befindet sich unmittelbar unter dieser Mitteilung eine der zahlreichen Karikaturen von Christian Broda. Ganz wurde die Ankündigung nicht durchgehalten. Aber immerhin befinden sich unter den in den Folgewochen bis zum Wahltag veröffentlichten Inseraten nur 4 sozialistische, hingegen 13 von der ÖVP, 4 von der DFP, eines von der FPÖ und 2 einer Arbeitsgemeinschaft für Politik und Wirtschaft mit antisozialistischer Grundhaltung. Ohne auf den Inhalt der Anzeigen einzugehen, zeigt sich allein durch die Platzierung in der Zeitung einiges über die Haltung der Zeitung selbst. Am 11. Februar, an einem Freitag, ist das erste Inserat aufzufinden, das im Anzeigenteil ganzseitig die Frage »Klaus oder Pittermann« (Pittermann verziert mit den Siegeln von SPÖ und KPÖ) stellt. Dieses Thema des Wahlkampfs zieht sich fast durch alle Anzeigen der ÖVP. Am 56 Kronen-Zeitung, 5. März 1966, 3. 57 Kronen-Zeitung, 8. März 1966, 1. 58 Kronen-Zeitung, 6. Februar 1966, 2. 59 Ebd. 60 Ebd.

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Die Sozialdemokratie im Kontext politischer Kultur in Österreich

13.2., 18.2., 20.2., 25.2., 27.2., 1.3., 2.3. und 3.3. folgen weitere ganzseitige ÖVPAnzeigen, die alle blickseitig, also auf ungeraden Seitenzahlen (17, 27 bzw. 29) platziert sind, aber alle im Anzeigenteil. Am 26.2. erschien die ÖVP-Werbung zwar linksseitig, allerdings ist dies der beste Platz, die hintere Umschlagseite. Nur am 4.3. ist ein Inserat ganzseitig auf einer S. 24 platziert. In der Endphase des Wahlkampfs setzte die ÖVP noch mit 2 halbseitigen Inseraten nach, die jeweils blickseitig platziert wurden. Ganz kommentarlos setzte sich die Zeitung am 27.2. über ihre eigene Ankündigung, keine SPÖ-Werbeeinschaltungen aufzunehmen, hinweg. In der heißen Phase des Wahlkampfes wurden 4 ganzseitige SPÖ-Anzeigen aufgenommen, drei davon aber linksseitig (am 27.2. auf S. 36, am 3.3. auf S. 18 und am 4.3. auf S. 22). Erst am 6.3. erschien auf S. 19 ein blickseitiges Inserat der SPÖ. Völlig anders wurde mit den 4 Inseraten der DFP von Franz Olah verfahren. Drei erschienen blickseitig, das erste hingegen zwar auf S. 12, was aber bedeutet, daß es mitten im Textteil der Zeitung platziert war. Am 19.2. erschien das DFP-Inserat auf S. 23, am 20. Februar auf S. 25, 2 Seiten vor dem Inserat der ÖVP und inhaltlich exakt einen Staberl-Artikel vom 10. Februar paraphrasierend. (Staberl hatte zur Tradition der SPÖ geschrieben  : »Wir verbeugen uns in Ehrfurcht vor Männern wie Renner, Körner, Böhm oder Schärf, die, obgleich ihrer Partei ergeben, doch stets mehr Staatsmänner als Parteipolitiker gewesen sind.«61) Olahs Inserat lautete in Balkenlettern  : »Das Erbe von Karl Seitz, Karl Renner, Oskar Helmer und Johann Böhm bewahren  ! Darum DFP und Franz Olah«.62 Daß Helmer Körner und Schärf verdrängte, ist nicht verwunderlich, ging es Olah doch um diese spezielle »niederösterreichische« Traditionslinie mit ihren starken Signalen zum »Dritten Lager«. Seitz rückte sichtlich ein, um ein Wiener Symbol zu erhalten. Aber das verdeckte Zusammenspiel von DFP und Kronen-Zeitung ist wohl dennoch unverkennbar. Die FPÖ konnte sich nur am 1.3. auf S. 10 (im Textteil der Zeitung) ein halbseitiges Inserat leisten. Die beiden antisozialistischen Anzeigen der Arbeitsgemeinschaft für Politik und Wirtschaft waren blickseitig (am 26.2. auf S. 29 und am 3.3. auf S. 15) platziert. Natürlich wurde damit die Wahl nicht entschieden, ein Beitrag zum Ausgang wurde aber auch auf diese Weise geleistet. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Die Kronen-Zeitung im österreichischen Wahlkampf von 1966, in  : Herwig Ebner/ Horst Haselsteiner/Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Hg.), Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Institutes für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 1990, 329–337 (Selbstverlag des Institutes für Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz). 61 Kronen-Zeitung (»Staberl«), 10. Februar 1966, 6. 62 Kronen-Zeitung, 19. Februar 1966, 23.

Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938 (1990) Die Frage, in welchem Ausmaß den Nationalsozialisten in Österreich in den ­Jahren vor 1938 der Einbruch in die Reihen der Sozialdemokratie gelang, hat um die Mitte der siebziger Jahre die österreichische Geschichtsschreibung heftig bewegt. Vor allem in den beiden großen Arbeiten von Karl R. Stadler1 aus diesen Jahren, aber auch in den Aufsätzen von Gerhard Botz2 bildete die Auseinandersetzung um diese auch für die Gegenwart politisch relevante Frage einen zentralen Untersuchungsgegenstand. Ohne daß abschließende, umfassende Urteile gesprochen werden konnten, verschwand aber der Gegenstand von der Tagesordnung der Forschung, sodaß man sich heute, von regionalen Untersuchungen abgesehen,3 noch immer auf dem Informationsstand aus der Zeit vor über einem Jahrzehnt bewegt. Dieses kurzzeitige Interesse an der heiklen zeitgeschichtlichen Thematik fiel in jene Jahre der Geschichte unseres Landes, in denen die »Koalitionsgeschichtsschreibung«4 endgültig überwunden schien. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten, die der Zeitgeschichtsforschung kaum Ansatzpunkte boten (der erste Lehrstuhl für Zeitgeschichte an einer österreichischen Universität wurde erst zwei Jahrzehnte nach Kriegsende geschaffen5), akzeptierten die großen politischen Lager wechselseitig historisch-politische Tabuzonen, und außenpolitisch war es opportun, Österreich als erstes Opfer nationalsozialistischer Expansionspolitik zu präsentieren. So blieb der eigenständige Beitrag Österreichs zur Ausformung des Nationalsozialismus und die Teilnahme von Österreichern am Herrschafts- und Vernichtungsapparat wissenschaftlich unterbe1

Karl R. Stadler, Opfer verlorener Zeiten. Die Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934, Wien 1974  ; Inez Kykal/Karl R. Stadler, Richard Bernaschek. Odyssee eines Rebellen, Wien u.a. 1976. 2 Gerhard Botz, Faschistische Bewegungen und Lohnabhängige in Österreich, in  : Gerhard Botz (Red.), Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (X. Linzer Konferenz, 1974)  : Arbeiterbewegung und Faschismus. Der Februar 1934 in Österreich (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 9), Wien 1976, 329–345. 3 Harald Walser, Die illegale NSDAP in Tirol und Vorarlberg 1933–1938 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 28), Wien 1983. 4 Gerhard Botz, Die Ausschaltung des Nationalrats und die Anfänge der Diktatur Dollfuß’ im Urteil der Geschichtsschreibung von 1933 bis 1973, in  : Anton Benya u.a. (Hg.), Vierzig Jahre danach. Der 4. März 1933 im Urteil von Zeitgenossen und Historikern, Wien 1973, 40. 5 Helmut Konrad, Zum österreichischen Geschichtsbewußtsein nach 1945, in  : Rudolf Altmüller u.a. (Hg.), Festschrift/Mélanges Felix Kreissler (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/München/Zürich 1985, 129.

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lichtet. Erst eine Generation von Historikern, die persönlich weder den Nationalsozialismus noch die großen Brüche der österreichischen Geschichte (1914, 1918, 1933/34, 1938, 1945) erlebt hatten, näherte sich, geführt vor allem von den ehemaligen Emigranten, vorerst über die Widerstandsforschung diesen brisanten Fragen. Es war das Gefühl der Stärke im sozialdemokratischen Lager in den siebziger Jahren, das den Blick auf die dunklen Flecken der eigenen Geschichte ermöglichte. Stärker als die konservativen Historiker, die bei der Betrachtung der Geschichte des letzten Jahrzehnts vor dem Zweiten Weltkrieg auch viel massivere Probleme hatten und haben, wurde Selbstkritik geübt. Die Verengung des Handlungsspielraumes in den letzten zehn Jahren hat aber die Lagermentalität in Österreich wieder verstärkt und der Geschichtsschreibung die Möglichkeiten der Selbstkritik beschränkt. Daher blieb der Erkenntnisfortschritt in diesen für das Verständnis der heutigen politischen Landschaft in Österreich so wichtigen Forschungsfeldern gering. Es steht heute außerhalb jeder Diskussion, daß es beträchtliche Einbrüche des Nationalsozialismus in das sozialdemokratische Lager gab. Aber ebenso ist wohl als geklärt anzusehen, daß die Arbeiter im Nationalsozialismus stets unterrepräsentiert blieben, d.h., daß der Wechsel der anderen sozialen Segmente (und damit meist von Mitgliedern bzw. Wählern anderer Parteien) noch dramatischer war. Aber statistische Gesamtangaben verzerren die österreichische Realität. Der Wechsel von Sozialdemokraten zum Nationalsozialismus war kein kontinuierlicher, gleichmäßig über Österreich verteilter Prozeß. Er ging sprunghaft vor sich und wurde durch eine Vielzahl regionaler Besonderheiten erleichtert oder erschwert, wobei es sich deutlicher um Besonderheiten der Arbeiterbewegung als solche des Nationalsozialismus handelte. Während Führungskader nur in Ausnahmefällen wechselten, waren einfache Mitglieder regional ganz unterschiedlich anfällig, die Militanten hingegen zeigen deutlich erkennbare Zeitpunkte und Motive für den Übertritt. Die österreichische Sozialdemokratie war vor 1934 eine echte Massenpartei, in der mehr als 10 % der österreichischen Gesamtbevölkerung organisiert waren.6 Jeder dritte Wähler war Parteimitglied, und die Selbstschutzorganisation der Partei, der Republikanische Schutzbund, hatte bis zu 96.000 Mitglieder.7 Er übertraf damit die österreichische Armee mit ihren 30.000 Mann um mehr als das Dreifache. 6

7

Josef Weidenholzer, Auf dem Weg zum »Neuen Menschen«. Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 12), Wien 1981, 19. Barry McLoughlin, Zur Wehrpolitik der SDAPÖ 1923–1934, in  : Erich Fröschl/Helge Zoitl (Hg.), Februar 1934. Ursachen, Fakten, Folgen (= Thema 2  : Zeitgeschichte), Wien 1984, 288.

Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938

Die NSDAP blieb dagegen bis zur Weltwirtschaftskrise eine Splitterpartei. 1933 hatte sie aber bereits etwa 10 % der sozialdemokratischen Mitgliederstärke8 und konnte in der Illegalität sogar noch anwachsen, während die Sozialdemokratie nach dem Verbot im Februar 1934 auf wenige organisatorische Kerne schrumpfte. Dies bedeutet aber nicht, daß sich die beiden politischen Bewegungen wie kommunizierende Gefäße verhielten. Die quantitativ bedeutsamste Reaktion von Sozialdemokraten auf das Verbot war zweifellos die Resignation, gefolgt von der Anpassung an das herrschende Regime des Ständestaates. Die dramatischen Wechsel zu den Nationalsozialisten auf der einen und zu den Kommunisten auf der anderen Seite fallen zahlenmäßig nicht allzu sehr ins Gewicht, sie sind nur natürlich spektakulärer als resignatives Verhalten und Rückzug ins Privatleben. In den folgenden Abschnitten sollen die Rahmenbedingungen für einen Wechsel von Sozialdemokraten zu den Nationalsozialisten und einige typische Wechselformen analysiert werden. Für das Verstehen der Rahmenbedingungen ist eine Differenzierung nach regionalen Gesichtspunkten von besonderer Bedeutung, die auch insgesamt für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, etwa für eine Erklärung der Februarkämpfe,9 hohen Erklärungswert besitzt.

Die regionalen Besonderheiten der österreichischen Sozialdemokratie Die Forschung zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung hat bislang meist ihr Augenmerk auf Wien gerichtet und die Wiener Entwicklung mit der gesamtösterreichischen Geschichte gleichgesetzt. Nun mag für eine zentralistisch ausgerichtete Bewegung diese Vorgangsweise nicht ganz unberechtigt sein, zumal sich in der Zwischenkriegszeit die österreichische Sozialdemokratie zu über 60 % aus Wiener Mitgliedern rekrutierte.10 Austromarxismus, Rotes Wien, proletarische Gegenkultur – alle diese Themen ließen die Arbeiterbewegung des flachen Landes außerhalb des Blickfeldes. In den letzten Jahren haben regionalgeschichtliche Arbeiten dieses Bild zwar korrigiert, es fehlt aber noch immer ein interregionaler Vergleich, der für die Beantwortung der Frage, warum in einigen Gegenden ein Wechsel von der Sozialdemokratie zu den   8 Francis L. Carsten, Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler, München 1977, 184.   9 Helmut Konrad, Zur Geographie der Februarkämpfe, in  : Erich Fröschl/Helge Zoitl (Hg.), Februar 1934. Ursachen, Fakten, Folgen (= Thema 2  : Zeitgeschichte), Wien 1984, 333–340. 10 Weidenholzer, Weg, 26.

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Nationalsozialisten leichter war, unerläßlich ist. Aber es lassen sich dennoch bereits Strukturen erkennen, die einigen Erklärungswert besitzen. In zumindest sieben historisch gewachsenen Bereichen lassen sich Faktoren finden, die jenseits von Zufällen oder rein individuellen Entscheidungen allgemeinere Erklärungsansätze bieten können. a) Industrialisierungsverläufe

Österreich kennt alte und junge Industrieorte, Orte mit Monoindustrie und mit gemischter Struktur. Manche Industrieorte fußen auf alten handwerklichen Traditionen der Gegend, andere verdanken ihr Entstehen einfach infrastrukturellen Vorzügen. Der Bergbau hat meist lange Tradition. Die unterschiedlichen Industrialisierungsverläufe haben eine unterschiedlich homogene Arbeiterklasse geschaffen. Der Zerfall der Habsburgermonarchie führte zu strukturellen Ungleichgewichten, und die Weltwirtschaftskrise war branchenmäßig unterschiedlich stark zu spüren. Je stabiler der Arbeitsplatz war, je besser eine Gegenkultur der Arbeiterbewegung Arbeitslosigkeit zumindest emotional auffangen konnte, desto geringer war die Verlockung, zum Nationalsozialismus abzuwandern. In geschlossenen traditionellen Industrieansiedlungen wurde man durch einen solchen Schritt geradezu stigmatisiert. Da aber diese Rahmenbedingungen meist auch eine Beteiligung an den Februarkämpfen des Jahres 1934 begünstigten, sahen Arbeiter dieser Orte den Hauptgegner allerdings in den Regierungen Dollfuß-Schuschnigg. Partielle Bündnisse gegen dieses System schienen auch mit dem Nationalsozialismus möglich, Übertritte hingegen kaum. b) Die Lage der Industrieansiedlung

Für Österreich waren und sind Industrieenklaven die wichtigere Form als geschlossene Industriegebiete. Nur das südliche Niederösterreich und die Obersteiermark bildeten Ausnahmen. Bei isolierten Industrien im ländlichen Umfeld war der Pendleranteil an der Arbeiterklasse stets hoch. Pendler, die aus dem agrarischen Umland kommen, erfahren in ihrem Tages- oder Wochenablauf unterschiedliche Kulturen, was leicht zu Identitätsproblemen führt. In dieses Milieu konnte der Nationalsozialismus leichter eindringen als in die resistenten Bereiche der katholischen Bauern und der gefestigten Industriearbeiter. c) Der politische Gegner

Nicht überall stand die österreichische Sozialdemokratie einem klar umrissenen politischen und wirtschaftlichen Widerpart gegenüber. Handlungsspielräume in der Poli-

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tik leiten sich aber nicht nur aus dem eigenen Programm und dem eigenen Selbstverständnis ab, sondern entscheidend auch von den Feldern, die der Gegner besetzt hält. In der österreichischen Geschichte ist die Inhomogenität des Bürgertums augenfällig. Fast vollständig fehlt der Typ des großen Unternehmers, da die Industrialisierung entscheidend vom anonymen Bankkapital getragen wurde. Kleinstädtisches Bürgertum stammte hauptsächlich aus Handel, Gewerbe und Intelligenz, wobei oftmals sozial engagierte Kleinbürger, etwa Lehrer, wichtige Rollen in der Arbeiterbewegung spielten. Vor allem gegen die Kirche gab es Bündnisse mit dem nationalen Bürgertum. In kleineren Industriegemeinden mit ländlichem Umfeld waren die Kontrahenten oft Großbauern mit katholischem Weltbild. Ein starker Einfluß des Bildungsbürgertums in der Arbeiterbewegung, der meist weiter abseits von der Metropole zu bemerken war, erleichterte den Wechsel zum Nationalsozialismus nicht zuletzt dadurch, weil das den Arbeitern vermittelte Kulturgut eine ausgeprägt nationale Komponente (»deutsches kulturelles Erbe«) hatte. Diese Form der Arbeiterbewegung, oft »Lehrersozialismus«11 genannt, machte unter dem Dreigestirn sozial-national-antiklerikal in einigen Gegenden Österreichs die Trennlinie zwischen Sozialismus und Nationalsozialismus so undeutlich, daß der Wechsel (und die Rückkehr 1945) überhaupt nicht als entscheidender Bruch in individuellen Biographien empfunden wurde. d) Die organisatorische und ideologische Entwicklung

Nur weil die zentrale Programmatik der österreichischen Arbeiterbewegung ein klar erkennbares »austromarxistisches« Profil hatte, wirkt die Bewegung so geschlossen. Aber der Marxismus war keinesfalls die ideologische Grundlage der Länderparteien. Politischer Aktionismus, Linksliberalismus, Reste des »klassischen« Anarchismus, Lassalleanismus und einiges mehr prägten die regionalen Organisationen. Wo tatsächlich marxistisch geschulte Kader existierten, wurde der Übergang zum Nationalsozialismus stark begrenzt. In Wien und in den traditionellen industriellen Ballungsgebieten mit einer ausgeformten Gegenkultur, die den ganzen Menschen erfaßte und versuchte, politisch bildend »Neue Menschen« zu formen, war die Resistenz groß.

11 Helmut Konrad, Zur österreichischen Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit, in   : Friedhelm Boll (Hg.), Arbeiterkulturen zwischen Alltag und Politik. Beiträge zum europäischen Vergleich in der Zwischenkriegszeit, Wien et al. 1986, 93.

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e) Die Religion

Österreich galt und gilt als weitgehend homogenes katholisches Land. Nicht zuletzt verstand sich auch der Staat 1934 bis 1938 als katholisch. Aber neben dem Katholizismus existierten eine starke jüdische Gemeinde und einige Rückzugsinseln des Protestantismus. Und selbst in manchen Regionen, die formell katholisch waren, war die Gegenreformation nur oberflächlich erfolgt. Die beiden letztgenannten Fälle, besonders deutlich im Salzkammergut, im Ennstal und in größeren Regionen Kärntens zu bemerken, waren durch eine historisch gewachsene Kritik am katholischen Zentralstaat besonders anfällig für tendenziell antikatholische Ideologien und damit für leichte Wechsel vom sozialdemokratischen ins nationale Lager. (Sogar noch in der Gegenwart können Wahlergebnisse dies bestätigen). Daß Antisemitismus den Wechsel begünstigte, steht wohl außer Frage. Innerhalb der Arbeiterbewegung war der Antisemitismus ein Provinzphänomen, das vor allem in der Gewerkschaftsbewegung mit der Kritik an praxisfernem Intellektualismus zusammenfloß. f) Die nationale Situation

Die nationale Frage hatte in der Arbeiterbewegung mehrere Komponenten. Obwohl sich die Sozialdemokratie entschloß, nach der Machtübernahme Hitlers das Parteiprogramm von 1926 in jenem Punkt abzuändern, der sich für den Anschluß an Deutschland aussprach,12 blieb in den Reihen der Mitglieder ein österreichischer Patriotismus fremd. Man blieb weiter eine Partei, die den Begriff »Deutsch-Österreich« im Namen führte. Die ab der Mitte der dreißiger Jahre von den Kommunisten forcierte Diskussion um eine österreichische Nation als eigenständige, von der deutschen Nation auch objektiv unterscheidbare Kategorie stieß in der Sozialdemokratie auf Ablehnung.13 Aus nationalen Gründen wurde also der Wechsel zu den Nationalsozialisten zumindest nicht erschwert. Daneben ist aber unbedingt zu beachten, daß Österreich kein sprachlich homogener Staat war und in den nationalen Mischgebieten die Grenzziehungen nach dem 12 Helene Maimann, Der März 1938 als Wendepunkt im sozialdemokratischen Anschlußdenken, in  : Helmut Konrad (Hg.), Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/München/ Zürich 1978, 63. 13 Felix Kreissler, Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozeß mit Hindernissen, Wien/Graz/ Köln 1984, 174–183.

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Ersten Weltkrieg eine in dieser Frage traumatisierte Bevölkerung zurückließen. Vermeintliche Bedrohungen durch Nachbarstaaten (unter Ausnutzung der ethnischen Minderheiten als fünfter Kolonne) ließen, speziell etwa in Kärnten, die gesamte Landespolitik vom Gedanken eines nationalen Abwehrkampfes geprägt erscheinen. Dazu kam die Frage der deutschsprachigen Minoritäten in den Nachbarländern, speziell die Südtirol-Problematik, aber auch die Sudetenfrage. Je stärker österreichische Regionen mit diesen Fragen konfrontiert wurden, desto stärker war auch die Bereitschaft von Sozialdemokraten, deutschnationalem Denken gegenüber offen zu sein. g) Die zentralistisch-autoritäre Parteistruktur

Die Sozialdemokratie war, seit der Überwindung der spontaneistisch-anarchistischen Tendenzen im ausgehenden 19. Jahrhundert, eine zentralistische Partei, deren Meinungsbildungsprozeß von oben nach unten lief. Wenn dies auch nicht konsequent verwirklicht war, so galt dennoch, daß vor allem lokale Führer das Verhalten ihrer Gefolgschaft entscheidend beeinflußten. So konnte etwa das Ausfallen eines solchen Führers zur völligen Passivität regionaler Schutzbundeinheiten (auch gut organisierter, wie das Beispiel Wiener Neustadt14 beweist) in den Februarkämpfen von 1934 führen. Das politische Wechseln einzelner Führungspersonen aus dem militanten Bereich bewirkte das Überwechseln ganzer organisatorischer Einheiten etwa vom Schutzbund zur nationalsozialistischen »Österreichischen Legion« jenseits der deutsch-österreichischen Grenze nach dem Februar 1934. Dies galt besonders, wie noch zu zeigen sein wird, für Oberösterreich. Neben den angesprochenen regionalen Unterschieden in der Tradition und Politik der Sozialdemokratie ist aber auch festzuhalten, daß der Nationalsozialismus in Österreich regional unterschiedliche Adressaten hatte. In Vorarlberg waren die nach dem Ersten Weltkrieg um den großen Markt gebrachten Textilindustriellen die entscheidende Trägerschicht, vor allem in Dornbirn. Natürlich führte politischer Druck dazu, daß in diesen Betrieben die Belegschaft stark nationalsozialistisch beeinflußt war. In Tirol und Salzburg war das Fremdenverkehrsgewerbe eine wichtige Zielgruppe des Nationalsozialismus. In der Steiermark und in Kärnten dominierte das gebildete Kleinbürgertum, vor allem Lehrer, die mit der Argumentation der deutschen kulturellen Mission im Grenzland gewonnen wurden. In Ober- und Niederösterreich zielte man auf das städtische Kleinbürgertum, die kleinen Selbständigen, in Wien und den anderen Universitätsstädten auf die Studenten. 14 Karl Flanner, Wiener Neustadt im Ständestaat. Arbeiteropposition 1933–1938 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 31), Wien 1983, 75–85.

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Der Wechsel von »Militanten« In den späten zwanziger Jahren hatte die paramilitärische Wehrorganisation der österreichischen Sozialdemokratie, der Republikanische Schutzbund, an die 96.000 Mitglieder. Er übertraf damit das österreichische Bundesheer, ein Berufsheer mit 30.000 Mann, quantitativ ganz beträchtlich, wenn auch natürlich nicht in der Ausrüstung. Die konservativen Heimwehren brachten es auf immerhin 100.000 Mann, waren aber sehr föderalistisch strukturiert und von widersprechenden Interessen gekennzeichnet. Erst 1931 bildete sich eine kleine, aber schlagkräftige nationalsozialistische Sturmabteilung (SA). Die SS gelangte noch später zu Bedeutung. In Innsbruck hatte etwa die SA zum Jahreswechsel 1931/32 96 Mitglieder. Die SS konnte in dieser Stadt im April 1933 erst auf 30 Mitglieder verweisen.15 Man hatte damit nur Bruchteile der Mitgliederzahlen der anderen Wehrverbände erreicht. Es ist daher nicht verwunderlich, daß im Republikanischen Schutzbund die Heimwehren für den Hauptgegner gehalten wurden. Auffallend ist, daß Gerhard Botz für die militanten Nationalsozialisten ein deutlich geringeres Alter als bei Schutzbund und Heimwehren ermitteln konnte (23,1 Jahre zu 27,7 bzw. 27,2),16 was darauf schließen läßt, daß vor allem Leute in der Ausbildung oder solche, die nach dem Schulabschluß keine Arbeit fanden, zum militanten Nationalsozialismus tendierten. Daher hatten die Wehrformationen der Nazis auch nur 36 % Arbeiter in ihren Reihen, die Heimwehren immerhin 56 %, der Schutzbund 82 %. Am deutlichsten sind die Studenten bei den militanten Nazis überrepräsentiert, gefolgt von den Angestellten.17 Im Republikanischen Schutzbund war der pensionierte General und spätere österreichische Bundespräsident Theodor Körner mit dem Vorschlag einer differenzierten Strategie (Verankerung des Schutzbundes in der Bevölkerung statt Vorbereitung auf konventionelle Kriegstaktik) unterlegen.18 Der Schutzbund wurde also militärisch durchgegliedert und ausgebildet, was als »Soldatenspiel« sicher die Übergänge zu den Nationalsozialisten erleichterte. Im Februar 1934 löste Richard Bernaschek, Landesparteisekretär und Schutzbundkommandant von Oberösterreich, mit seinem Widerstand gegen die Hausdurch15 Walser, NSDAP, 64. 16 Gerhard Botz, The Changing Patterns of Social Support for Austrian National Socalism (1918– 1945), in  : Stein U. Larsen/Bernt Hagtvet/Jan Petter Myklebust (Hg.), Who Were the Fascists  ? Social Roots of European Fascism, Bergen/Oslo/Troms 1980, 206. 17 Gerhard Botz, Introduction, in  : Stein U. Larsen/Bernt Hagtvet/Jan Petter Myklebust (Hg.),Who Were the Fascists  ? Social Roots of European Fascism, Bergen/Oslo/Troms 1980, 196. 18 Ilona Duczynska, Der demokratische Bolschewik. Zur Theorie und Praxis der Gewalt, München 1975, 109–134.

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suchung im Parteilokal die kurzen, heftigen, aber von Beginn an hoffnungslosen Kämpfe gegen Heimwehr, Heer und Exekutive aus, europaweit der erste bewaffnete Widerstand gegen die Beseitigung der Demokratie. Aber nicht einmal der gesamte Schutzbund, geschweige denn die Sozialdemokratie, beteiligte sich aktiv an den Kämpfen. In Oberösterreich, Wien, der Steiermark, Niederösterreich und in ganz geringem Ausmaß auch in Salzburg und Tirol gab es bewaffnete Auseinandersetzungen. Nach Schätzungen waren etwa 20.000 Schutzbündler an den Kämpfen beteiligt bzw. kampfbereit. Und nur diese Gruppe fühlte sich tatsächlich im Kampf besiegt und suchte nach Möglichkeiten zur Weiterführung der militanten Auseinandersetzung mit der Regierung. Daher ist auch die Betrachtung der Wechselbereitschaft dieser Gruppe besonders interessant. Von diesen Kämpfern befanden sich etwa 1.000 im Ausland, vornehmlich in der Tschechoslowakei, über jene, die ins Deutsche Reich geflüchtet waren (nach Schätzung etwa 200) wird noch gesondert zu berichten sein. Weitere 1.000 saßen in den Gefängnissen, von den verbleibenden 18.000 wird man wohl mit einem Drittel Resignierter rechnen müssen. Der Rest von etwa 12.000 hatte vier politische Optionen  : a) die Mitarbeit bei den illegalen »Revolutionären Sozialisten«, b) den Versuch, den Schutzbund als »Autonomen Schutzbund« weiterzuführen, c) den Wechsel zu den Kommunisten und d) den Übertritt zu den Nationalsozialisten. Historiker, die den Kommunisten nahestehen, so zuletzt Garscha und Hautmann, vermeinen in der KPÖ nach dem Februar 1934 eine Massenpartei zu erblicken und sprechen von entscheidenden Umgruppierungen in der österreichischen Arbeiterbewegung.19 Sie haben insoferne recht, als der KPÖ tatsächlich der größte Teil der genannten 12.000 Schutzbündler und zahlreiche Mitglieder der Jugendorganisationen zufielen. Die Revolutionären Sozialisten waren der schwächere Teil, was sich auch in den Kämpfen um die Führungsrolle im Autonomen Schutzbund offenbarte. Aber der Schutzbundübertritt schuf keine neue linke Massenpartei. Auch die Übertritte zu den illegalen Nationalsozialisten änderten die Sozialstatistik dieser Bewegung kaum. Man wird nicht fehlgehen, wenn man etwa 4.000 Übertritte annimmt, speziell in Oberösterreich, in der Steiermark und in Kärnten, kaum in Wien. Aber es kamen aktive, kämpferische Elemente, und der Sicherheitsdirektor von Oberösterreich führte in einem Schreiben vom 26. Februar sogar aus, »Konfidentennachrichten zufolge wurde ein Großteil der verübten und den NSDAP-Anhängern angelasteten Sprengstoffanschläge der letzten Zeit von den Mitgliedern der Terrorgruppen des Resch [= Republikanischer Schutzbund] ausgeführt«.20 19 Winfried R. Garscha/Hans Hautmann, Februar 1934 in Österreich, Wien 1984, 185–187. 20 Peter Kammerstätter, Der Aufstand des Republikanischen Schutzbundes am 12. Februar 1934 in

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Zweifellos gab es für diese Zielgruppe eine Art Attraktivität der Gewalt. Die Zahl der größeren blutigen Gewalttaten der Nationalsozialisten übertraf jene des gesamten linken Lagers in den Jahren 1934–1938 um das Fünffache.21 Carsten hat unlängst zudem auf den Einfallsreichtum und die Spontaneität nationalsozialistischer Protestformen hingewiesen, die oft voll von kindlichem Übermut waren.22 (So ist neben den von Carsten aufgezählten Fällen dem Autor bekannt, daß in einer Kärntner Gemeinde in den Auspuff am Wagen des Pfarrers Papierhakenkreuze gestopft wurden. Der Pfarrer hinterließ bei seiner Abfahrt eine Hakenkreuzwolke am Dorfplatz). Auch im Westen Österreichs setzten die Nationalsozialisten auf eine »Propaganda der Tat«,23 beinahe in anarchistischer Tradition. All dies förderte bei den geschlagenen sozialdemokratischen Kämpfern das Gefühl, daß nur der Nationalsozialismus aktiv und offensiv das verhaßte Regime bekämpfe. Im Osten Österreichs blieben die Übertritte selten. Nur Einzelfälle, wie etwa der Schwechater Schutzbundführer Lassnig,24 lassen sich nachweisen. Es war vor allem Oberösterreich, wo die Übertritte massenhaft auftraten, wo vor allem ganze geschlossene Einheiten überwechselten. Üblicherweise vollzog sich aber der Übertritt nicht im Rahmen der illegalen Arbeit im Land, sondern nach dem Überschreiten der Grenze. So berichtete etwa der ehemalige Schutzbundführer Hüttl aus dem Kohlenrevier des Hausrucks, der aus der sozialistischen Arbeiterjugend stammte und nach den Februarunruhen, in denen er zu den aktivsten Kämpfern zählte, einer der meistgesuchten Schutzbündler war, daß er und seine Kameraden deshalb nach Deutschland flüchteten, weil die Grenze zur Tschechoslowakei weiter entfernt und besser bewacht war. Im Deutschen Reich wurden die Flüchtlinge freundlich aufgenommen, zur Teilnahme beim Turnen eingeladen und schließlich nach Passau geholt, wo angeblich Richard Bernaschek vor ihnen eine Rede hielt, in der er sie zum Eintritt in die Organisationen der NSDAP aufforderte, obwohl er selbst diesen Schritt nicht wagen wollte.25 Bernaschek wurde zur Zentralfigur in der Frage der Übertritte. Er war, gemeinsam mit Franz Schlagin und Otto Huschka, zwei weiteren prominenten Schutzbündlern,

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Oberösterreich. Eine Sammlung von Materialien, Dokumenten und Aussagen von Beteiligten, 3, Linz 1983, 1901. Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche. Unruhen in Österreich 1918–1938, 2. Auflage, München 1983, 277. Carsten, Faschismus, 230. Walser, NSDAP, 80–104. Heinz Arnberger, Die politische Situation im Raum Schwechat 1930 bis 1945, phil. Diss, Universität Wien 1976, 179. Interview Hubert Hummer.

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sowie zwei Nationalsozialisten (Ignaz Fastner und Karl Straßmayr) aus dem Linzer Landesgericht geflohen, und zwar in der Nacht vom 2. zum 3. April 1934. Die Flucht hatte Karl Dobler, ein Justizwachebeamter und illegaler Nationalsozialist, organisiert. Karl R. Stadler und Inez Kykal haben die Ereignisse schon minutiös in ihrem Buch über Bernaschek verarbeitet.26 Zwei Monate verbrachte Bernaschek im Deutschen Reich, mit voller Bewegungsfreiheit und mit allen Ehren. Seine beiden Freunde wechselten rasch zur NSDAP. Er selbst vollzog den Schritt nie, schrieb aber in einer aktuellen Arbeit jener Wochen, daß den österreichischen Arbeitern das Programm der Nationalsozialisten näher stünde als der Ständestaat, daß also im neuen Ringen der Sieg des Nationalsozialismus in Österreich wünschenswert wäre, über Nationalsozialismus und Kommunismus schrieb er damals  : »Zwei gewaltige sozialistische Versuche zwingen heute ganz Europa und zum Teil auch die übrige Welt in ihren Bann. Welcher Weg wird rascher zum Ziel führen  ? Laufen sie parallel  ? Werden sie sich schneiden  ? Oder laufen sie irgendwo, in einer heute noch nebelhaften Ferne, zusammen  ?«27

Die Nationalsozialisten als Sozialisten zu bezeichnen, ihnen den Sieg in Österreich zu wünschen – und das alles von der unbestrittenen Symbolfigur der aktivistischen Teile der österreichischen Sozialdemokratie, die speziell in Oberösterreich große Anhängergruppen besaß  ! Es dauerte bis Juni 1934, ehe die Revolutionären Sozialisten in einem Flugblatt in Oberösterreich eine Distanzierung Bernascheks vom Nationalsozialismus veröffentlichen konnten.28 Inzwischen konnten die Nationalsozialisten mit Bernaschek Werbung betreiben. Ihr folgten etwa Zaribnicky, der einzige Überlebende des Massakers von Holzleithen, einem der tragischsten Ereignisse des Februar 1934.29 Oder aber auch Josef Redlinger, der spätere SPÖ-Bürgermeister des genannten Ortes.30 Auch er ging in die Österreichische Legion nach Bayern. Flugblätter der Nationalsozialisten mit Parolen wie »Der Sozialismus lebt – durch uns Nationalsozialisten« oder »Wir sind Deine Ar-

26 Kykal/Stadler, Richard Bernaschek, 101–121. 27 Ebd., 138. 28 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich. 1934–1945. Eine Dokumentation, Bd. 1, Wien 1982, 44. 29 Hubert Hummer, Widerstand auf dem Land, in  : »Es wird nicht mehr verhandelt …«. Der 12. Februar 1934 in Oberösterreich, Linz 1984, 75–80. 30 Kammerstätter, Aufstand, 1909.

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beiterpartei« oder »Arbeiter, Genossen, kämpft an unserer Seite  ! Eure Toten rufen«,31 überschwemmten das Land und taten ihre Wirkung. Nach dem gescheiterten Juliputsch der Nationalsozialisten gab es erneut eine Werbekampagne, in der betont wurde, daß das Blut des Februar und das Blut des Juli verbindend wirkten. Allerdings hatte sich in der Zwischenzeit die illegale Arbeiterbewegung so gefestigt, daß die Werbung auch in der umgekehrten Richtung zu laufen begann. Stadler zitiert ausführlich ein solches Flugblatt,32 mit dem enttäuschte Nationalsozialisten für die revolutionären Sozialisten gewonnen werden sollten. Die Wirkung war sicherlich minimal. Ein Sonderkapitel beim Wechsel der Militanten stellt sicher die Frage der Anhaltelager dar. Die Regierung des Ständestaates hatte solche Lager, deren bekanntestes Wöllersdorf in Niederösterreich war, zur Bekämpfung ihrer politischen Gegner errichtet. Nationalsozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten saßen dort gemeinsam ein. Neben der dabei selbstverständlich entstehenden Gefängnissolidarität verstanden es die Nationalsozialisten, aus dem Lager eine Kaderschmiede zu machen, indem sie »das Gefühl, Märtyrer für eine ›heilige‹ Sache zu sein«,33 ausnutzten. Sie erhielten die beste Unterstützung von außen (Gelder und Lebensmittel), sie traten zu besonderen Tagen, etwa dem Geburtstag des »Führers«, lautstark auf. Da sie zahlenmäßig die größte Gruppe bildeten, stammten aus ihren Reihen die meisten Zimmerführer, eine Funktion, die der politisch stärksten Gruppierung zufiel.34 All das hatte einen gewissen Werbeeffekt auch auf die anderen Lagerinsassen, zumal die Nationalsozialisten auch am ehesten in der Lage waren, für Haftentlassene Arbeit vermitteln zu können. Als kleines Detail zur Geschichte der Lager sei noch vermerkt, daß die Nationalsozialisten im Rahmen des Juliputsches sogar den Versuch unternahmen, in GrazMessendorf das Lager zu stürmen,35 in dem seit dem Februar 1934 Sozialdemokraten gefangen gehalten wurden. Wenn der Befreiungsversuch auch mißglückte, so stellte er doch ein weiteres Indiz für die emotionale Nähe unter den militanten Gegnern des Regimes dar.

31 Ebd., 1892–1896. 32 Stadler, Opfer, 97–100. 33 Gerhard Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich (1933–1938), in  : Ludwig Jedlicka/Rudolf Neck (Hg.), Vom Justizpalast zum Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927–1938, Wien 1975, 130. 34 Ebd., 143. 35 Ebd., 146.

Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938

Der Wechsel einfacher Mitglieder Im Gegensatz zu den Militanten ist der Wechsel einfacher Mitglieder der Sozialdemokratie zu den Nazis kein Prozeß, der an den markanten Einschnitt vom Februar 1934 gebunden ist, obwohl selbstverständlich das Parteiverbot auch hier der signifikanteste äußere Anlaß war. Für diese Art des Wechsels spielte die regionale Differenzierung, die weiter oben vorgenommen wurde, wohl die entscheidende Rolle. Nicht zufällig sind daher die Beispiele, die man in der Literatur antreffen kann, praktisch ausschließlich aus Oberösterreich, Kärnten und der Steiermark. Carsten kann etwa auf einen Bericht des deutschen Konsuls aus dem Juni 1933 verweisen, in dem dieser das Eindringen des Nationalsozialismus in sozialdemokratische Kreise im gemischtsprachigen Gebiet Kärntens als »erstaunlich« bezeichnet.36 In der Steiermark finden sich vor allem Erwähnungen, daß Dr. Armin Dadieu, der spätere Gauhauptmann, Sozialdemokraten gewinnen konnte. Aus Oberösterreich berichtete im Februar 1934 der Sicherheitsdirektor, daß »die NSDAP sich mit Erfolg bemüht, die gemäßigten Anhänger der aufgelösten SDAP für ihre Zwecke zu erfassen. Es werden zu diesem Zwecke Aufnahmebögen in Umlauf gesetzt«.37 Holtmann kann auf einen Bericht aus dem Juli 1934 verweisen, nach dem in Steyr zu einer Versammlung des katholischen Arbeitervereines nur 80 Personen erschienen waren, am gleichen Tag aber über 1.000 Arbeiter trotz strömenden Regens am Begräbnis eines deutschnationalen Turners teilnahmen.38 Und eigenen Interviews zufolge schien für viele Menschen im österreichischen Süden in diesen Jahren die NSDAP am besten der antikirchlichen oder zumindest antikatholischen Grundhaltung zu entsprechen.39 Der Aktionismus der Nazis, der primär gegen die Repräsentanten des katholischen Ständestaates ging, gefiel nicht nur den militanten Anhängern der ehemaligen Sozialdemokratie. Es war in der Obersteiermark auch, aber nicht nur der Druck der Alpine-Montan-­ Gesellschaft,40 der viele Arbeiter von der Sozialdemokratie wechseln ließ. Antikatholizismus und andere schon aufgelistete Gründe spielten hier ebenfalls eine Rolle. Sogar noch 1945, als es politisch nicht opportun war, bekannte sich der Delegierte 36 Carsten, Faschismus, 193. 37 Kammerstätter, Aufstand, 1878. 38 Everhard Holtmann, Zwischen Unterdrückung und Befreiung. Sozialistische Arbeiterbewegung und autoritäres Regime in Österreich 1933–1938, Wien 1978, 173. 39 Bruce F. Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz. Steirischer Heimatschutz und Nationalsozialismus 1918–1934, Wien/München/Zürich 1972, 100. 40 Ernst Hinner u.a., Fohnsdorf. Aufstieg und Krise einer österreichischen Kohlenbergwerksgemeinde in der Region Aichfeld-Murboden, Graz 1982, 253–256.

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Erwin Linhart aus Bruck am ersten Parteitag der SPÖ zu dieser Tradition, indem er ausführte  : »[…] wir haben deshalb auch oft mit den Nazi gemeinsam gegen diese Regierung gearbeitet […] Die vielen Idealisten, die ja auch mitgearbeitet haben, unsere Genossen, die im Februarputsch, der niedergeschlagen wurde, mitgetan haben und ihre Wut dann ausließen, indem sie beim Juliputsch der Nazi im vierunddreißiger Jahr mittaten, weil es gegen die schwarze Regierung ging und weil sie glaubten, in dieser Bewegung gegen die Schwarzen zu arbeiten.«41

Diese Einbrüche, die dem Nationalsozialismus ins Lager der ehemaligen Sozialdemokraten gelangen, machten aber aus den Nationalsozialisten in Österreich keine Arbeiterpartei. Gerhard Botz konnte ganz schlüssig nachweisen, daß die Arbeiter bis 1938, bis zum sogenannten »Anschluß«, deutlich unterrepräsentiert blieben.42 Vor allem in Wien gelangen kaum Einbrüche. »Was wir an proletarischen und halbproletarischen Wählern besitzen, sind kleine Angestellte, Chauffeure, Eisenbahner und Straßenbahner«43, analysierte Dr. Riehl, eine der zentralen Persönlichkeiten des österreichischen Nationalsozialismus. Und auch Gerhard Botz kann quantitativ diese Analyse bestätigen  : das Halten des sozialdemokratischen Lagers in Wien bei den letzten Wahlen44 und die Einbrüche vor allem im Transportwesen.45 Tatsächlich hat erst der Nationalsozialismus an der Macht das Bild gründlich verändert. Industrieneugründungen und neue große Arbeitersiedlungen schufen eine neue Gruppe von Arbeitern der ersten Generation, die subjektiv der Ansicht waren, dem Nationalsozialismus Arbeit und menschenwürdige Existenz zu verdanken. Dies waren zwar keine ehemaligen, wohl aber künftige Sozialdemokraten. Der markante Wechsel erfolgte also in diesem Milieu 1945 von der NSDAP zur SPÖ. Als Beispiel sei hier die komplett neu aus dem Boden gestampfte nationalsozialistische Mustersiedlung Steyr-Münichholz angeführt. Dort Wohnung zu finden, setzte ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus voraus. Dennoch bekam 1945, bei den ersten freien Wahlen, die SPÖ fast 70 % der Stimmen. Als aber 1949 der Verband der Unabhängigen, ein Sammelbecken der »Ehemaligen«, zur Wahl antrat, halbierte er den SPÖ-Anteil und zog mit etwa 35 % fast gleich. Inzwischen sind aber alle diese 41 42 43 44 45

Stadler, Opfer, 94 f. Botz, Patterns, 211. Carsten, Faschismus, 186. Botz, Patterns, 212. Ebd., 208.

Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938

Wähler zur SPÖ zurückgekehrt, die bei allen Wahlen fast 80 % (auch durch das Aufsaugen kommunistischer Wähler) erhält.46 Diese Menschen in Münichholz hatten aber keinen doppelten Wechsel vollzogen. Sie kamen nicht, wie manche Arbeiter in der Obersteiermark, in Kärnten, Salzburg oder Oberösterreich, aus der Sozialdemokratie zur NSDAP, um nach dem Krieg in die SPÖ zurückzufinden. Aber auch sie hatten die Nationalsozialisten als Arbeiterpartei empfunden. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938, in  : Rudolf G. Ardelt/Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler, Wien/Zürich 1990, 73–89 (Europa Verlag).

46 Helmut Retzl, Steyr-Münichholz. Ein Stadtteil im Wandel der Zeit. Eine historisch-sozialwissenschaftliche Studie, Diss., Universität Linz 1985, 203 ff.

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Der Einfluß des Hitler-Stalin-Paktes auf die Kommunistischen Parteien Europas (1974) Die Geschichtsbetrachtung hat bisher fast durchwegs die Reaktion der Kommunistischen Parteien auf den sogenannten »Hitler-Stalin-Pakt« vom 23. August 1939 nicht so sehr nach einem intensiven Quellenstudium und den daraus gewonnenen Erkenntnissen, sondern vielmehr nach dem jeweiligen politischen Standort des Verfassers beleuchtet.1 Daher hat eine gründliche Untersuchung der heiklen Materie gegen eine Reihe von verschiedenen Vorurteilen anzukämpfen. Es läßt sich nämlich weder die Ansicht aufrechterhalten, der Abschluß des Paktes wäre das Ende der Arbeitsmöglichkeit für die Kommunistischen Parteien – besonders natürlich für die illegalen – gewesen, noch ist es richtig, in diesem Ereignis nicht einen ganz entscheidenden Einschnitt und eine Kursänderung in der Geschichte der Kommunistischen Parteien zu sehen. Man kann dem Problem nur gerecht werden, wenn man sein Augenmerk auf die großen Unterschiede legt, die in der Auswirkung des Paktes sowohl regional als auch in den unterschiedlichen Organisationsstufen auftreten.

Der neue politische Kurs In den Jahren vor dem Paktabschluß hatte die kommunistische Propaganda aller Länder, neben den jeweiligen lokalen Angriffspunkten, zwei Hauptstoßrichtungen. Die erste richtete sich gegen den Faschismus, die zweite gegen die Sozialdemokratie. Nach dem Paktabschluß blieb von diesen Stoßrichtungen nur die zweite erhalten, die erste wurde geändert in die These vom imperialistischen Krieg, die die wichtigste Argumentationsbasis der beiden nächsten Jahre bildete. Diese These wurde in einer Sitzung der Kommunistischen Internationale (Komintern) ausgearbeitet und von den Vertretern 1

Es ist hier nicht Raum, eine Bibliographie anzuschließen. Es seien aber speziell aus der österreichischen Literatur Extrembeispiele genannt. Hermann Mitteräckers Bücher (Kampf und Opfer für Österreich, Wien 1963 und Zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs, Wien 1958) versuchen, die Auswirkungen des Paktes als gering anzusehen. Andere Autoren, wie etwa Otto Molden (Der Ruf des Gewissens, Wien 1958) lassen ihre KP-feindliche Haltung voll in ihre Beurteilung einfließen. Den positivsten Versuch einer Einschätzung der Problematik des Paktes und seiner Auswirkungen auf die Kommunistischen Parteien stellt das deutschsprachige Manuskript eines tschechoslowakischen Autorenkollektivs dar, das unter dem Titel »Widerstandskampf und Revolution« (nach der Zeitschrift Odboj a revoluce, Prag) im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes liegt.

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aller Landesparteien in diesem Gremium gebilligt.2 Die theoretisch beste Ausformulierung fand Georgi Dimitroff in dem Artikel »Der Krieg und die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern«, der am 6. November 1939 in einer Sondernummer der Zeitschrift »Die Welt«, einem Organ der Komintern, verbreitet wurde.3 Erstmalig faßbar ist die Weiterleitung der These an Parteiorganisationen außerhalb der UdSSR in einem Funkspruch, den Klement Gottwald, der erste Mann der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ), der sich in Moskau aufhielt, am 8. November 1939 an das illegale Zentralkomitee in Prag übermittelte.4 Um die These vom imperialistischen Krieg zu verdeutlichen, wollen wir allerdings ein Dokument aus dem österreichischen Raum verwenden. In der illegalen Zeitschrift »Weg und Ziel«, dem theoretischen Organ der KPÖ, erschien in der Nummer 4 des Jahres 1940 ein Artikel mit dem Titel  : »Über die Soldatenarbeit«.5 In ihm versuchte man, vor allem in den Unterkapiteln mit den Titeln  : »Welche Stellung haben wir zum Krieg  ?«, »Was für einen Krieg führt Deutschland  ?«, »Was für einen Krieg führen die Westmächte  ?«, klarzumachen, daß sich die Ziele der kriegführenden Parteien im wesentlichen deckten. Beide Lager führten einen imperialistischen Krieg, denn die Westmächte versuchten nur, ihren Imperialismus gegen den Imperialismus des 3. Reiches zu verteidigen. Es könne also nicht darauf ankommen, eines der beiden kriegführenden Lager zu unterstützen, da es unmöglich sei, sich mit irgendeinem Kriegsziel zu identifizieren, sondern die Hauptaufgabe müsse darin gesehen werden, alles zu versuchen, diesen imperialistischen Krieg in einen Volkskrieg umzuwandeln, wie Lenin es in seinem Werk »Gegen den Strom« erläutert hatte. Die Konsequenzen aus dieser Analyse für die Arbeiterbewegung werden sodann folgendermaßen dargelegt  : »Sieg oder Niederlage  ! Diese Frage im gegenwärtigen rein imperialistischen Krieg zwischen den Hitlerkapita­ listen und den Kapitalisten der Westmächte darf nur in einem Sinn beantwortet werden  : 2 3

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Nach einem Gespräch des Autors mit Friedl Fürnberg über die KPÖ zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, aufgenommen am 19. November 1969 in Wien XXI, Höchstädtplatz 3. Der Krieg und die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern, in  : Die Welt. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung 1/9 (1939). Abgedruckt auch in  : Georgi Dimitroff, Ausgewählte Schriften, Bd. 3  : 1935–1948, Berlin-Ost 1958, 161–184. Es findet sich dort die Angabe, daß der Artikel erstmalig in der Zeitschrift Kommunistische Internationale, Heft 8/9, August/September 1939, erschienen ist. Diese Ausgabe konnte der Autor leider nicht überprüfen. Depeše mezi Prahou a Moskvou 1939–1941 (Funksprüche zwischen Prag und Moskau 1939–1941). Funkspruch A 14, 8.9.1939. In  : Příspěvky k dějinám KSČ (Beiträge zur Geschichte der KSČ), Nr. 3, 1967, 375–433. Über die Soldatenarbeit, in  : Weg und Ziel. Organ der KPÖ 4 (1940), 1–6. [Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes].

Der Einfluß des Hitler-Stalin-Paktes auf die Kommunistischen Parteien Europas

Das Proletariat eines jeden dieser Länder, jeder entschlossene Revolutionär darf nur für die Niederlage seiner eigenen kapitalistischen Regierung kämpfen und für die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, in die Revolution. Die Gruppen der Trotzkisten und einige Sozialdemokraten und die durch die faschistische Kriegshetze Verwirrten sagen, daß diese klare und eindeutige Lösung falsch sei, denn die Niederlage Deutschlands bedeute den Sieg Englands und wir dürfen nicht für den Sieg des englischen Imperialismus kämpfen, weil wir dadurch nicht nur den englischen Imperialisten helfen, ihre eigenen Völker zu unterdrücken, sondern auch ihre Herrschaft auf Kosten unseres Volkes zu erweitern und zu festigen. Ist das richtig  ? Die Niederlage des deutschen Imperialismus wünschen heißt keinesfalls den Sieg des englischen wünschen  ! Wir sind in allen Ländern für die Niederlage der Imperialisten dieser Länder und den Sieg der revolutionären Klassen.«6

Die Schwierigkeit, daß die Umwandlung des Krieges in einen Volkskrieg, die Niederlage der Imperialisten wohl kaum gleichzeitig in allen Ländern stattfinden könne, daß man also objektiv dem imperialistischen Lager hilft, das sich diesem Prozeß besser widersetzt, wird mit folgenden Bemerkungen abgetan  : »Ist der Sturz des Kapitalismus in allen Ländern zugleich wahrscheinlich  ? Die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Kapitalistenländer ist ungleich, daher auch das Eintreffen der revolutionären Situation nicht gleichzeitig. Nicht alle am Krieg Beteiligten können gleichzeitig eine Niederlage erleiden. Die Weltrevolution ist nicht eine schlagartige, in der ganzen Welt gleichzeitig erfolgende revolutionäre Erhebung, sondern ein langwieriger Kampf, der zuerst in den für die Revolution günstigen Ländern ausbricht und erst nach und nach die anderen Länder mit hinein zieht. Solange aber die kapitalistische Armee unversehrt bleibt, kann die Revolution nicht siegen und siegt die Revolution, so zersetzen sich und zerfallen die Armeen der Imperialisten. Wir müssen daher ohne Rücksicht darauf, ob in allen Ländern gleichzeitig die Revolution erfolgen kann, für die eigene Niederlage unserer Regierungen arbeiten und durch unsere erfolgreiche Aktion den Proletariern aller Länder den Weg zeigen, sie zur Nachahmung anspornen.«7

Nun gilt es, die Auswirkungen dieser Thesen auf die Kommunistischen Parteien in Europa darzulegen.

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Ebd., 2. Ebd., 3.

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Die Auswirkungen dieses neuen Kurses auf die politische Praxis Bei der Untersuchung der Auswirkungen dieser Thesen auf die politische Praxis ist größte Vorsicht geboten. Jeder Parallelschluß, etwa von der Situation eines Landes auf die in einem anderen, ist unzulässig, wenn er nicht durch Quellen abgesichert ist, da sich größte regionale Unterschiede aufzeigen lassen. Besonders schwierig ist die Beantwortung der Frage nach der Auswirkung dieser Thesen in jenen Ländern, die unter nationalsozialistischer Herrschaft standen. Einerseits mußte den Kommunisten im »Altreich«, im Protektorat oder in der Ostmark das Bündnis zwischen Stalin und Hitler, zwischen ihrem ärgsten Feind und ihrem stärksten Bundesgenossen, ganz besonders unverständlich sein, andererseits hatte sich gerade für sie die Ausgangslage im Kampf gegen den Faschismus am wenigsten geändert. Denn, wenn die neue Losung hieß, daß man nur für den Sturz der eigenen Regierung arbeiten durfte, bedeutete dies in den genannten Ländern doch, den Kampf gegen den Nationalsozialismus unvermindert fortzusetzen. Und so zeigen uns auch die Quellen ganz erstaunliche Tatsachen  : Einerseits zeigen alle Statistiken, daß der Abschluß des Paktes zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich keine Minderung der kommunistischen Widerstandstätigkeit mit sich brachte. In den Tagesrapporten der Gestapo nehmen in der 2. Augusthälfte des Jahres 1939 die Berichte über kommunistische Widerstandsarbeit nicht weniger Raum ein als in den Wochen und Monaten vor und nach diesem Zeitpunkt. Illegale Arbeit, Verfolgungen und Prozesse gehen also unvermindert weiter.8 Andererseits machte sich in den Reihen der illegalen Kommunistischen Parteien, besonders natürlich an der Basis, eine große Unsicherheit und Verwirrung breit, die die eigenartigsten Auswüchse mit sich brachten.9 Der Literatur-Apparat10 hatte größte Mühe, gegen diese Verwirrung anzukämpfen, zumal es nicht immer leicht war, die Direktiven aus Moskau rasch an die einzelnen Widerstandsgruppen weiterzugeben. Es zeigt sich also in den Kommunistischen Parteien jener Länder, die unter nationalsozialistischer Herrschaft standen, ein weiteres Phänomen  : Die Reaktion auf den Paktabschluß und auf die theoretische Untermauerung des neuen Kurses war wesent  8 Vgl. dazu  : Magdalena Koch, Der Widerstand der Kommunistischen Partei Österreichs gegen Hitler von 1938 bis 1945, phil. Diss., Universität Wien 1964  ; Helmut Konrad, KPÖ und KSČ zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, phil. Diss., Universität Wien 1972.   9 Siehe etwa  : Karl R. Stadler, Österreich 1938–1945 im Spiegel der NS-Akten (= Das einsame Gewissen. Beiträge zur Geschichte Österreichs 1938 bis 1945 3), Wien/München 1966, 229 f. 10 So nannte man die zentralen Propagandastellen mit allen technischen Gruppen und Verteiler-Organisationen.

Der Einfluß des Hitler-Stalin-Paktes auf die Kommunistischen Parteien Europas

lich auch vom jeweiligen Rang innerhalb der illegalen Organisationsstruktur abhängig. Höhere Funktionäre – die es außerdem eher gewohnt waren, Kurswechsel der Partei schnell zu akzeptieren und ihre eigene Meinung der Parteilinie anzupassen –, die rasch an die Informationen aus Moskau kamen, überwanden die Verwirrungsphase wesentlich schneller als die Leute an der Basis, die nur geringe Informationen erhielten und in viel größerem Maße auf den nationalsozialistischen Rundfunk und die offizielle Presse angewiesen waren, zumal Moskau es, trotz mancher Intervention, unterließ, Rundfunksender für die Widerstandsbewegungen zu errichten. Je tiefer man also in der Organisationspyramide angesiedelt war, je weiter man von den Zentren Berlin, Wien und Prag entfernt war, desto schwieriger hatte man es, aus dem Dilemma der theoretischen Verwirrung herauszukommen. Während also die Phase der Unsicherheit in den politischen Führungsgremien relativ rasch überwunden werden konnte – wenn auch, wie etwa Stadler nachweist,11 die theoretische Verwirrung für einige Wochen selbst Dimitroff als Vorsitzenden der Komintern nicht verschonte – so entstanden an der Basis Fehleinschätzungen der Lage auch noch Monate nach dem Paktabschluß. Es sind Fälle bekannt, wo etwa Kommunisten allen Ernstes der Ansicht waren, ihre Partei stehe kurz vor einer Legalisierung, man trug Parteiabzeichen und bekannte sich öffentlich zur kommunistischen Weltanschauung. Verhaftung und Konzentrationslager waren die unvermeidlichen Folgen. Dennoch kann man diese Fälle als Ausnahmen betrachten, da es den illegalen Kommunistischen Parteien doch gelang, einem Großteil ihrer Mitglieder bald den neuen politischen Kurs verständlich zu machen. Ferner war es natürlich unvermeidlich, daß die illegalen Kommunistischen Parteien innerhalb der gesamten antifaschistischen Bewegung in eine isolierte Stellung gerieten, daß es für sie notwendig wurde, einen Zweifrontenkrieg zu führen. Besonders deutlich wurde dies im Protektorat, wo die alte Losung der »Volksfront« gegen Hitler aufgegeben werden mußte. Außerdem bildeten im Februar 1940 alle nichtkommunistischen Widerstandorganisationen ein gemeinsames Führungsgremium, UVOD12 genannt, das in der Bevölkerung gegen die KSČ argumentierte und die Isolation der Kommunisten verschärfte. Dennoch führte die KSČ, wie auch die KPD und die KPÖ, in diesen Jahren ihren Kampf gegen Hitler mit gleicher Heftigkeit und mit größten Opfern weiter. Gänzlich anders als in den bisher behandelten Ländern stellte sich die Situation dort dar, wo die Kommunistischen Parteien vor der Frage standen, sich mit den Regierungen des jeweiligen Landes im Kampf gegen den Nationalsozialismus zusam11 Stadler, Österreich, 230. 12 Ústřední vedení odboje domácího (Zentralleitung des Widerstandskampfes im Lande).

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menzuschließen, oder, getreu der neuen Linie, gegen eben diese Regierungen zu arbeiten und somit objektiv zu einem Verbündeten Hitlers zu werden. In England und in Frankreich hatte dieser Kurs der Komintern demnach auch schlimmste Folgen für die Kommunisten. Blieben sie weiter Antifaschisten und unterstützten sie ihre Regierungen im Kampf mit dem Deutschen Reich, gerieten sie in Widerspruch mit der Parteilinie. Dies wird nicht nur an Mitgliedern der Kommunistischen Parteien Frankreichs und Englands deutlich, sondern besonders auch am Verhalten der kommunistischen Emigranten aus den Ländern unter nationalsozialistischer Herrschaft, die nicht nach Moskau, sondern in den Westen gingen. Als Beispiel sei das Schicksal des bekannten tschechischen Kommunisten Clementis angeführt, über den sich Gottwald in einem Funkspruch am 20. April 1940 folgendermaßen äußerte  : »Clementis Auftritt gegen sowjet-deutschen Pakt. War gegen Sowjetunion in Frage Finnland. Ist für Krieg an Seite englisch-französischen Imperialismus gegen Deutschland. Ist für die Unterordnung unserer Partei unter Benes. Wurde für seine parteifeindliche Haltung aus Gefängnis in Frankreich entlassen . . . Haben ihn aus Partei ausgeschlossen.«13

Traf man die andere Entscheidung, war man also linientreu und griff die eigene Regierung an, so stieß man bei der Masse der Bevölkerung auf Unverständnis und schroffe Ablehnung und hatte außerdem mit Verfolgung und Internierung zu rechnen. Dennoch wählte die große Mehrheit der Kommunistischen Parteien des Westens diesen Weg, da sie es eben gewohnt waren, sich der Parteilinie in allen Konsequenzen zu fügen. Als Beispiel von besonderer Tragik sei noch das Schicksal von in Frankreich internierten Spanienkämpfern aus Deutschland und aus Österreich angeführt. Als sie von der französischen Regierung aufgefordert wurden, als Arbeitskräfte nach Algerien zu gehen, gab die Kommunistische Partei, getreu den Richtlinien zur Zeit des HitlerStalin-Paktes, die Losung aus, daß jeder, der nicht als besonders gefährdet anzusehen sei, in sein Heimatland zurückkehren müsse, da es untragbar sei, in Nordafrika den Interessen der französischen Imperialisten zu nützen. Für hunderte Kommunisten war diese Rückkehr in ihr Heimatland gleichbedeutend mit ihrer Internierung in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager, und es muß wohl nicht ausgeführt werden, was das für Folgen hatte. Daß sich mit dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion die Lage grundsätzlich änderte, ist selbstverständlich. Die Kehrtwendung der Kommunistischen Parteien ergab sich praktisch von selbst, da die Zusammenfassung aller Kräfte die Einordnung bzw. 13 Depeše. Funkspruch A 71, 20.4.1940.

Der Einfluß des Hitler-Stalin-Paktes auf die Kommunistischen Parteien Europas

Unterordnung der Kommunisten in die Front aller Hitlergegner notwendig machte. Durch die illegalen Kommunistischen Parteien jener Länder, die unter nationalsozialistischer Herrschaft standen, ging ein Aufatmen, was sich deutlich in den Flugblättern dieses Zeitabschnittes zeigt, in denen die Formulierung  : »Die Fronten sind nun klar gezogen«14 mehrmals aufzufinden ist. Dennoch ist keine Zunahme der Widerstandstätigkeit festzustellen, da erstens, wie bereits festgestellt wurde, diese ohnedies nie eingestellt worden war, und zweitens die Kader bereits so arg dezimiert waren, daß an eine Steigerung der Arbeit nicht gedacht werden konnte. In noch wesentlich stärkerem Maße wirkte sich der Angriff auf die Sowjetunion auf die Kommunistischen Parteien des Westens aus. Nun war der Kurs klar  : Einordnung in die Front aller Hitlergegner, und damit Unterordnung unter die Regierungen der Alliierten. Die Phase des Schwankens und der Unsicherheit war somit zu Ende. In letzter Konsequenz führte diese neue weltpolitische Konstellation schließlich zur Auflösung der Kommunistischen Internationale. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Der Einfluß des Hitler-Stalin-Paktes auf die Kommunistischen Parteien Europas, in  : zeitgeschichte 1/4 (1974), 82–85.

14 Vgl. dazu  : Konrad, KPÖ, Dokumentenanhang.

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Linksgerichteter Widerstand und Mitteleuropa 1939–1945 (1995) Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Erforschung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zumindest in der Quantität den Studien zu den Trägern und Sympathisanten des Systems überlegen ist. Selbst qualitativ lassen sich, bedingt durch eine längere Tradition der Forschung, die beiden konträren Untersuchungsfelder noch kaum vergleichen.1 Dieses Verhältnis, das empirisch in jeder Fachbibliothek überprüft werden kann, muß heute umso mehr erstaunen, als es wohl keinen Zweifel daran geben kann, daß historisch die Opponenten des Systems, zumindest jene, die tatsächlich Widerstand leisteten, im vom Nationalsozialismus kontrollierten Gebiet eine Minorität waren. Auch bei Fragen der Ideologie und der Organisation könnte man sehr viel stärker ein Forschungsinteresse beim Nationalsozialismus vermuten, war doch dieser die neuartige Herausforderung der gewachsenen politischen Landschaft, welcher der Widerstand in der Regel verpflichtet war. Die starke Beachtung, die die Thematik Widerstand erfahren hat, ist wohl in erster Linie durch politische Rahmenbedingungen erklärbar. Dieser Teilbereich der Geschichte konnte in den letzten vier Jahrzehnten als eines der wenigen Forschungsfelder gelten, die in Ost- und Westeuropa über die Trennlinie des Kalten Krieges hinweg parallele Interessen fanden. Beide politischen Systeme verstanden sich als Antithese zum Nationalsozialismus, Widerstandsforschung war somit Teil der jeweiligen politischen Legitimation. Dennoch waren die inhaltlichen und methodischen Auseinanderentwicklungen sehr rasch zu sehen. Galt in Osteuropa auch die geopolitische Situation als unmittelbares Resultat der Überwindung der nationalsozialistischen Bedrohung, was in erster Linie bedeutete, daß der kommunistische Widerstand als Vorgeschichte und Legitimationsbasis der neuen politischen Systeme interpretiert werden konnte, so war die 1

Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Erforschung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich sowohl theoretisch als auch empirisch neue Qualitäten erreicht hat und sich in das Gesamtbild der Erforschung der nationalsozialistischen Zeit integriert. Vgl. dazu exemplarisch  : Ernst Hanisch, Nationalsozialistische Herrschaft in der Provinz. Salzburg im Dritten Reich (= Salzburg-Dokumentationen 71), Salzburg 1983. Dazu sei aus Österreich die Reihe »Widerstand und Verfolgung« des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes genannt, die schon für sechs Bundesländer vorliegt. Zur deutschen Situation sei genannt  : Martin Broszat/Elke Fröhlich/ Falk Wiesemann (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. 1  : Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte, München/Wien 1977.

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Zentraleuropa und der Nationalsozialismus

westliche Annäherung bald differenzierter. Einerseits waren die Bezugsebenen zum Widerstand vielfältiger, was dem politischen Pluralismus entsprach, anderseits war die Akzeptanz des Anteils am nationalsozialistischen Herrschaftssystem, und damit der Übernahme einer Hypothek, größer, so daß bald auch die Grauzonen im Übergang von Widerstand und Anpassung im Alltag unter dem Nationalsozialismus ins Blickfeld gerieten.2 Blieb also Widerstandsforschung im Osten politische Geschichte im engeren Sinn, so kamen im Westen sozial-historische Fragestellungen dazu. Es gab auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges zudem die für die Zeitgeschichte einmalige Situation, daß das Quellenmaterial nur wenigen Sperren unterlag. Wohl wurde es in Osteuropa nur sehr selektiv der Forschung zugänglich gemacht, was zu Ungewichtigkeiten und zu Aussparungen gewisser Themenbereiche führte, dennoch konnte schon wenige Jahre nach der Überwindung des Nationalsozialismus mit Originaldokumenten gearbeitet werden, was früh zu einer Stabilisierung der Ergebnisse führte.3 Da die hier zu diskutierende Thematik, die Mitteleuropakonzeptionen des linksgerichteten Widerstandes, zudem primär in einem Material den Niederschlag fand, das schon unter der nationalsozialistischen Herrschaft für die Öffentlichkeit bestimmt war (Flugblätter, Propagandabroschüren, Zeitungen und Zeitschriften), ist die Quellenproblematik nicht allzu groß, und die Resultate sind seit mindestens zwei Jahrzehnten festgeschrieben. Änderungen gab es seither nur in der Gewichtung der Argumente  ; neue, die prinzipielle Sichtweise revidierende Dokumente sind nicht aufgetaucht. Dennoch hat die Diskussion um die nationale Frage und die damit verbundenen Grenzziehungen in Europa in den letzten Jahren eine neue Dynamik erhalten, unter der die Diskussionen vor einem halben Jahrhundert eine neuerliche Betrachtung verdienen. In den in diesem Abschnitt des Bandes präsentierten Beiträgen geht es im wesentlichen um Gestaltungsvarianten der europäischen Landkarte, die entweder vor fünfzig Jahren gerade gewaltsam realisiert wurden oder zumindest damals das Potential für eine Verwirklichung hatten. Der linksgerichtete Widerstand in Europa hatte hingegen für einige Jahre, zumindest bis Stalingrad, die nationale Frage nur für zwei Berei2

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Filme und Bücher wie »Herbstmilch«, Oral-History-Projekte (in Österreich rund um das Bedenkjahr 1988 verstärkt angesiedelt), Autobiographien, Photobände etc. haben geradezu einen Alltagsgeschichte-Boom zur Erhellung jener Jahre ausgelöst. Vgl. etwa  : Otto Weber, Tausend ganz normale Jahre. Ein Photoalbum des gewöhnlichen Faschismus, Nördlingen 1987. Das Berlin Document Center war sogar in späteren Jahren, bedingt durch die neuen Datenschutzbestimmungen, schwieriger zu benutzen. Große zentrale Archive, wie etwa das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, waren aber durchgängig ohne Behinderungen für die Forschung offen.

Linksgerichteter Widerstand und Mitteleuropa 1939–1945

che verwenden können  : einerseits für die Mobilisierung gegen die nationalsozialistische (Fremd-)Herrschaft oder Bedrohung, anderseits für die Binnendifferenzierung der Widerstandsgruppen untereinander. Die Verwirklichung der Vorstellungen hatte damals keinen Realitätsanspruch. Unter linksgerichtetem Widerstand wollen wir hier drei unterschiedliche Gruppen subsumieren  : die Sozialdemokraten, die Kommunisten und die heterogenen Kleingruppen, die man höchst unscharf mit dem Etikett »trotzkistisch« belegt.4 Die Trennlinien zwischen den Gruppen waren scharf, ja feindselig, und manchmal war der Riß so tief, daß er für Betroffene tödliche Konsequenzen hatte. Es ging also nicht nur um den Kampf gegen den Faschismus, sondern auch um den Kampf gegeneinander  : vom Sozialfaschismusvorwurf über die Liquidierungen hinter der Front im Spanischen Bürgerkrieg über die Opfer in den stalinistischen Schauprozessen der dreißiger Jahre (inklusive der Auslieferung von Dissidenten an die Nationalsozialisten) bis zum Überlebenskampf in den Konzentrationslagern.5 Diese Brüche waren natürlich viel bedeutender als die Gegensätze in den geopolitischen Fragen. Dennoch zeigten sich auch bei den Konzeptionen zur Gestaltung Mitteleuropas Unterschiede, die weit zurückreichende historische Wurzeln haben und auch nach 1945 nachwirkten, durchaus bis in die Gegenwart. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich die Positionen in der nationalen Frage geklärt und gleichzeitig verhärtet. Die Sozialdemokratie hatte sich auf eine kulturelle Definition von Nation verständigt, wobei vor allem der Austromarxismus seine bedeutendsten theoretischen Leistungen auf diesem Gebiet vollbrachte.6 Stalin hingegen sah in der Nation mechanistisch eine dominant ökonomische Kategorie.7 Das bedeutete, daß die sozialdemokratische Richtung in der Zwischenkriegszeit besonders stark auf kulturelle Gemeinsamkeiten und individuelle Selbstbestimmung setzte, was etwa für Österreich das rückhaltlose Bekenntnis zum »Anschluß« an Deutschland 4

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Einen guten Einblick in die Heterogenität dieser politischen Gruppe bietet zumindest für Österreich  : Fritz Keller, Gegen den Strom. Fraktionskämpfe in der KPÖ – Trotzkisten und andere Gruppen 1919–1945 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 10), Wien 1978. Eine dramatische Aktualität erhielten die Diskussionen um die sogenannte »Lagerfeme« zuletzt in der Auseinandersetzung zwischen dem Historiker Hans Schafranek und dem ehemaligen Häftling Ernst Carlebach. Siehe dazu  : Richard Mitten, Im Gericht die Geschichte, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3/1 (1992), 76–87. Darunter besonders  : Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907 und Rudolf Springer [= Karl Renner], Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie. Politische Studie. Über den Zusammenbruch der Privilegienparlamente und die Wahlreform in beiden Staaten, über die Reichsidee und ihre Zukunft, Wien u.a. 1906. Josef Stalin, Marxismus und nationale Frage, in  : Josef W. Stalin, Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Köln 1976, 32.

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bedeutete,8 während die Kommunisten die Eigenstaatlichkeit Österreichs und die wirtschaftlichen Bindungen an die Nachfolgestaaten der Monarchie zumindest tendenziell zur Entwicklung einer Theorie der österreichischen Nation nutzen konnten.9 Allerdings hatten auch die Kommunisten bis 1935 gebraucht, ehe die stalinistische Theorie der nationalen Frage im Sinn der Mobilisierung nationaler Gefühle im Kampf gegen die nationalsozialistische Expansionspolitik ausgenutzt werden konnte. Der Siebente Weltkongreß der Kommunistischen Internationale hatte mit einem radikalen Kurswechsel die Abkehr vom Sozialfaschismusvorwurf gegen die Sozialdemokraten vollzogen und zur Bildung von Einheits- und sogar Volksfrontbewegungen aufgerufen.10 Dies geschah allerdings zu einem Zeitpunkt, als die Kommunisten bereits ihre Glaubwürdigkeit durch die Ereignisse in Moskau eingebüßt hatten. Sie waren also politisch damit nicht mehr erfolgreich, wohl aber fixierten sie mit ihren neuen Theorien, wie etwa in der Artikelserie von Alfred Klahr,11 die für sie bestimmenden geopolitischen Vorstellungen für Mitteleuropa. In der theoretischen Annäherung kann man daher bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im linksgerichteten Widerstand die folgenden unterschiedlichen Positionen festmachen  : Die Kommunisten setzten auf ein territoriales Prinzip, die Akzeptanz nationaler Gefühle und die damit verbundene Rückgängigmachung nationalsozialistischer Expansionspolitik. Die Sozialdemokraten begriffen Nation als kulturelle Kategorie und sahen daher die Überwindung des Nationalsozialismus als gemeinsame Aufgabe der »anderen Deutschen« an. Die linken Splittergruppen maßen der nationalen Frage keinerlei Bedeutung bei, es ging ihnen nur um die Überwindung des Faschismus, getragen von einem Revolutionsverständnis, das Staatsgrenzen überflüssig  8 Dies hielt bis zur Machtübernahme Hitlers in Deutschland an. Erst dann strichen die österreichischen Sozialdemokraten die Anschlußforderung aus ihrem Parteiprogramm, und dies nur aus taktischen, nicht aus theoretischen oder prinzipiellen Erwägungen. Siehe dazu  : Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1967, 264  : »Angesichts der durch den Faschismus im deutschen Reich veränderten Lage des deutschen Volkes beschließt der Parteitag  : Aus dem 6. Abschnitt des Parteiprogrammes wird der Punkt 4, der den Anschluß Deutschösterreichs an das Deutsche Reich fordert, gestrichen.« Selbst im Oktober 1933 hieß bei den Sozialdemokraten Österreich noch immer »Deutschösterreich«  !   9 Franz Marek, Die österreichische Nation in der wissenschaftlichen Erkenntnis, in  : Albert Massiczek (Hg.), Die österreichische Nation. Zwischen zwei Nationalismen, Wien 1967, 153. 10 Wolfgang Neugebauer, Die nationale Frage im Widerstand, in  : Helmut Konrad (Hg.), Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/München/Zürich 1978, 88 f. 11 Alfred Klahr, Zur nationalen Frage in Österreich, in  : Weg und Ziel. Blätter für Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung 2/3 (1937), 126–133  ; ders., Zur nationalen Frage in Österreich, in  : Weg und Ziel. Blätter für Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung 2/4 (1937), 173–181.

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machen sollte. Von einem »Mutterland des Sozialismus« zu sprechen, schien ihnen ebenso obsolet wie von der gesamtdeutschen Revolution oder von der Konstruktion einer österreichischen Nation. Obwohl dies nicht die wichtigste Thematik für die Binnendifferenzierung der linken Opposition war, ist ihr Beitrag doch wesentlich. Er bewirkte im Widerstand selbst und im Exil einige prinzipielle Muster, die für das Verständnis der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von besonderer Bedeutung sind. In der unmittelbaren Verfolgung waren die nationalsozialistischen Behörden massiv daran interessiert, möglichst großen Teilen der linken Opposition das Etikett »Kommunismus« verpassen zu können, denn nur eine Kategorisierung als Kommunist konfrontierte den einzelnen Widerstandskämpfer mit dem Vorwurf, »ein zum Reich gehöriges Gebiet mit Gewalt losreißen zu wollen«12, also mit der Anklage des Hochverrats, was für das Strafausmaß entscheidend war. Nicht zufällig dominieren also in den Gerichtsakten die Kommunisten quantitativ in einem Ausmaß, das den realen Stärkeverhältnissen im Widerstand nicht wirklich entsprochen haben kann,13 wenn auch konstatiert werden muß, daß die Kommunisten enormen Zulauf erhielten und ohne Zweifel die stärkste und aktivste Gruppe waren. Dies war auch darin begründet, daß sie als einzige Fraktion den Charakter einer durchorganisierten Partei bewahrten, was den Gefährdungsgrad der Anhänger erhöhte. Im Exil konkurrierten die Kommunisten mit den Konservativen um den Anspruch, nationale Eigenart zu bewahren – vom Liedgut über die Volkskultur bis zur Interpretation der Geschichte.14 Die anderen Linksgruppen blieben hier lange auf Distanz, zu eigenartig erschien ihnen der so rasch erfolgte Kurswechsel auf die Anweisung aus Moskau hin. Ein ganz entscheidender Einschnitt für die weitere Entwicklung war ohne Zweifel der Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes. Die damit verbundene Kehrtwendung der sowjetischen Außenpolitik ließ auch die kommunistischen Parteien der anderen Länder rasch reagieren. Relativ leicht tat man sich dabei in Österreich. Die Position, daß der eben ausbrechende Krieg ein imperialistischer Krieg sei, der gegen die Interessen der Arbeiterklasse eingesetzt würde, hatte nämlich zur Folge, daß als neue politische Losung der Kampf

12 Vgl. dazu die zitierten Prozeßakten in  : Helmut Konrad, Widerstand an Donau und Moldau. KPÖ und KSČ zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, Wien/München/Zürich 1978, 153. 13 Vorsichtigen Schätzungen nach allen von mir eingesehenen Gerichtsakten zufolge dürfte der Anteil laut Anklage bei 80 Prozent liegen. 14 Helene Maimann, Politik im Wartesaal. Österreichische Exilpolitik in Großbritannien 1938–1945 (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 62), Wien 1975, 84.

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gegen die jeweils eigene »imperialistische Führung«15 auszutragen war. In Westeuropa führte dies zu Katastrophen, in der »Ostmark« hingegen hieß der Gegner weiterhin Nationalsozialismus. Allerdings schwächte sich die Position im geopolitischen Bereich deutlich ab  : Zwischen März 1938 und August 1939 hatte die KPÖ klar die Position der Unabhängigkeit Österreichs vertreten, nunmehr lautete die Parole »Selbstbestimmungsrecht des österreichischen Volkes«, was verschiedene Optionen offenließ.16 In der ehemaligen Tschechoslowakei lagen die Dinge deutlich komplizierter. 1938 hatte die kommunistische Partei (KSČ) das Münchner Abkommen weder inhaltlich noch parteiorganisatorisch akzeptiert,17 die KSČ verstand sich weiterhin als eine Partei mit einem Wirkungsfeld in den Grenzen der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Der Hitler-Stalin-Pakt brachte aber auch das klare Ziel einer Wiedererrichtung der Tschechoslowakei ins Wanken. Flugblätter sprachen nur mehr vom »tschechischen«, nicht mehr vom »tschechoslowakischen« Volk.18 Dies war vor allem eine politische Konsequenz der Anerkennung der Slowakei als selbständiger Staat durch die Sowjetunion am 16. September 1939. Die Weisung aus Moskau ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig  : »Alle Losung(en) über Slowakei fallenlassen. Slowakischer Staat ist gegebene Grundlage für Kampf um volle Freiheit der Slowaken. Zukünftiges Verhältnis zwischen tschechischem und slowakischem Staat ist Selbstbestimmungsfrage beider Völker …«19 Gerade in einem multiethnischen Staat wie der Tschechoslowakei befanden sich die Kommunisten in einer extremen Zwickmühle  : Einerseits mußte es anfänglich heißen, alle Kraft gegen das Münchner Abkommen zu mobilisieren, anderseits mußte die sowjetische Außenpolitik mitgetragen werden. Und auch in der Theorie taten sich Schwierigkeiten auf  : War der tschechoslowakische Staat die ökonomische und politische Grundlage, so mußte man von einer »tschechoslowakischen« Nation sprechen. Die »slowakische« Nation mußte man allerdings nicht erst, wie die österreichische, »erfinden«, sie existierte im Bewußtsein der Bevölkerung der Slowakei selbstverständlich schon seit Jahrzehnten. Und im Sudetenland stieß die Theorie völlig an ihre Grenzen, daher wurde dort auch nur mit den historischen Trennlinien und nicht mit Identitäten argumentiert. 15 Johann Wolfgang Brügel, Stalin und Hitler. Pakt gegen Europa, Wien 1973. Siehe auch  : Konrad, Widerstand, 12. 16 Reinhard Bollmus, Österreichs Unabhängigkeit im Widerstreit. Neuere Arbeiten über das politische Exil der Österreicher in Großbritannien und der Sowjetunion 1938–1945, in  : zeitgeschichte 4/2 (1976), 71. 17 Konrad, Widerstand, 155. 18 UDKSČ (Ústav dějin KSČ), Fond 48, sign. 149. 19 Depeše mezi Prahou a Moskvou 1939–1941, in  : Příspêvky k dêjinám KSČ 7 (1967)  ; Funkspruch A 61 vom 15. März 1940.

Linksgerichteter Widerstand und Mitteleuropa 1939–1945

Wie sehr die Außenpolitik der Sowjetunion die Argumentationslinien prägte, soll noch an einem weiteren Detail gezeigt werden  : In der Slowakei selbst war die Parole »Für eine sowjetische Slowakei«20 entwickelt worden. Noch im Mai 1941 kam die Anweisung aus Moskau, diese Losung zu verwerfen, da man eine Trübung des Verhältnisses zu Berlin befürchtete. Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion änderte die Situation mit der Annäherung an die alte tschechoslowakische Position erneut, im sowjetisch-tschechoslowakischen Abkommen vom 18. Juli 1941 wurden die Weichen wieder in die Richtung der historischen Grenzen gestellt.21 Der Überfall des nationalsozialistischen Deutschland auf die Sowjetunion beendete die knapp zweijährige Epoche ideologischer Verwirrung. Bis zum Kriegsende waren die Fronten wieder klar gezogen, der Nationalsozialismus war für alle Gruppen der Hauptfeind. Dennoch blieben neben den ideologischen Trennlinien zwischen den linken Widerstandsgruppen (die im Hitler-Stalin-Pakt noch entscheidende Vertiefungen erfahren hatten, nicht zuletzt durch Auslieferung von Dissidenten durch die Sowjetunion an Deutschland)22 auch unterschiedliche Positionen zur Frage der Grenzziehungen nach der Überwindung des Nationalsozialismus offen. Dabei machten alle drei Gruppen bemerkenswerte Entwicklungen durch. Die österreichischen Sozialdemokraten hatten sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit von großdeutschen Positionen verabschiedet. Im Exil ging hier die Gruppe in Skandinavien voran, aber selbst in England beweisen neuere Forschungen23 zu Einzelpersonen, daß die Idee einer gesamtdeutschen Revolution gegen Hitler nicht erst 1943 verworfen wurde. Wohl gab es Einzelpersonen, wie etwa Friedrich Adler, die konsequent bis zum Kriegsende und darüber hinaus an der Idee festhielten, daß die Wiedererrichtung eines unabhängigen österreichischen Staates ein historischer Anachronismus sei. Friedrich Adler sah darin einen Verrat am »anderen Deutschland«,24 20 Widerstandskampf und Revolution. Entwurf der Geschichte des tschechoslowakischen Widerstandskampfes 1938–1945. Makette einer vorbereiteten, aber nicht publizierten Trilogie, ohne Jahres- und Ortsangabe, 2 Teile, hier Teil 1. 21 Widerstandskampf, Teil 2, 7. 22 Karl R. Stadler, Opfer verlorener Zeiten. Die Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934, Wien 1974, 361 ff. 23 Helmut Konrad, Karl R. Stadler, in  : Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Internationales Symposion 19.–23. Oktober 1987 in Wien, Wien/München 1988, 509 ff. 24 Friedrich Adler, Die Legende vom glücklichen Österreich. Zitiert nach dem Beitrag von Rudolf Ardelt, Das »Problem« Friedrich Adler, in  : Helmut Konrad (Hg.), Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/München/Zürich 1978, 80.

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ein Hinausstehlen der Österreicher aus der Verantwortung oder zumindest der Mitverantwortung am nationalsozialistischen System, also politischen Opportunismus und Aufgabe der allgemeinen austromarxistischen Positionen. Seine Verweigerung der Rückkehr nach Kriegsende war die konsequente Weiterführung dieses G ­ edankens, daß es eine gesamtdeutsche demokratische Alternative zum nationalsozialistischen System gegeben habe, die sich die breite Unterstützung auch der österreichischen Sozialdemokratie verdient hätte. Friedrich Adler war jedoch, bei aller Achtung, die er in der österreichischen Sozialdemokratie genoß, in dieser Frage für die Gedankenwelt seiner Partei nicht mehr repräsentativ. Diese war vielleicht am stärksten durch Personen wie Karl Renner, dessen »Ja« zum »Anschluß« bald kritischeren und kleinstaatlicheren Perspektiven gewichen war, und Adolf Schärf, der im Frühsommer 1943 dem deutschen Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner eine Absage an eine gemeinsame Zielrichtung im Kampf gegen Hitler erteilt hatte,25 repräsentiert. Es war also nicht erst opportunistisches Verhalten nach der Moskauer Deklaration, das die Sozialdemo­ kratie zur Eigenstaatlichkeit Österreichs brachte, sondern das konkrete Erleben der nationalsozialistischen Herrschaft. Allerdings ist dieser Richtungswechsel noch nicht mit der Akzeptanz einer eigenständigen österreichischen Nation verbunden. Dazu waren noch Jahre in der Zweiten Republik notwendig, ehe gleichsam selbstverständlich und ohne theoretische Fundierung die Existenz einer eigenen Nation angenommen wurde. In der Tschechoslowakei hielt die Sozialdemokratie ihre Linie von München bis zum Kriegsende. Mehr als 20.000 sudetendeutsche Sozialdemokraten bezahlten ihre Verteidigung der Existenz eines tschechoslowakischen Staates nach dem Münchner Abkommen mit dem Abtransport in die Konzentrationslager des Dritten Reiches.26 Im Widerstand im »Protektorat Böhmen und Mähren« hielten die sozialdemokratischen Gruppen und Zirkel konsequent an den historischen Grenzen fest, wenngleich auch Diskussionen liefen, wie es möglich wäre, die Zahl der Deutschen in einem künftigen Staat zu verringern.27 Und zur Slowakei gab es zwischen den Gruppen durchaus Differenzen, wenn man auch sagen kann, daß die Vorstellung des gemeinsamen Staates in den Grenzen vor dem Münchner Abkommen dominierte. Insgesamt blieb damit die Sozialdemokratie der Tschechoslowakei ihrer Grundlinie treu, die sie schon in der Habsburgermonarchie von den Südslawen so deutlich unterschieden 25 Adolf Schärf, Erinnerungen aus meinem Leben, Wien 1963, 167. 26 Wenzel Jaksch, Europas Weg nach Potsdam. Schuld und Schicksal im Donauraum, neu bearb. und erg. Auflage, Köln 1967, 346. 27 Detlef Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, Bd. 1  : Besatzungspolitik, Kollaboration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren bis Heydrichs Tod (1939–1942), München/Wien 1969, 63 f.

Linksgerichteter Widerstand und Mitteleuropa 1939–1945

hatte. Die nationale Frage wurde nie in den Kategorien des Personalitätsprinzips gedacht, sondern immer territorial und damit als Machtfrage. Die kommunistischen Parteien waren nach dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Sowjetunion wieder zu den Positionen von 1938/39 zurückgekehrt. Ihre Isolation innerhalb des Widerstandes blieb aber zumindest noch bis Stalingrad aufrecht, ihre Opfer waren ohne Zweifel überproportional hoch. Den Kampf gegen Hitler als Kampf für die Überlebensinteressen der Sowjetunion sehen zu können, legitimierte diese Kampfbereitschaft, die sich gegen Kriegsende natürlich mit Zukunftshoffnungen paarte, ohne erkennen zu können, wie sehr letztlich das machtpolitische Kalkül jede idealistische Position negierte und wie die Teilung Europas in Einflußsphären wenig Rücksicht auf die sorgsam entwickelten nationalen Theorien nahm. Polens Grenzen, Deutschlands Teilung und andere Änderungen hatten keine nationalen, sondern nur machtpolitische Grundlagen. Einzig im südslawischen Bereich hatte die kommunistische Partei die Ausgangslage, erst dann auf die nationalsozialistische Aggression mit ihren eigenen geopolitischen Vorstellungen reagieren zu müssen, als die Phase der Verwirrung durch den HitlerStalin-Pakt schon fast vorüber war. Die spätere Entwicklung Jugoslawiens verstellt den Blick auf die Tatsache, daß Tito in der nationalen Frage ganz eindeutig Stalinist war.28 Sein Konzept, in den Jahren des Zweiten Weltkrieges wohl die wirkungsvollste Alternative neben den ausschließlich nationalistischen Positionen der anderen Widerstandsgruppen, war völlig auf die stalinistische Definition von Nation abgestellt und daher föderalistisch angelegt, ohne zu sehen, daß jede territoriale Lösung bei der ethnischen Gemengelage nur zu neuen Minderheiten führen mußte. Das gerade im südslawischen Raum aus den hier existierenden Besonderheiten geborene Personalitätsprinzip galt als viel zu »idealistisch«, als zu sehr kulturell und zu wenig ökonomisch fundiert. Die Folgen dieser Überlegungen kann man in der unmittelbaren Gegenwart sehen. Das gesamtjugoslawische Konzept konnte nur mit der Klammer Tito und als vermeintliche antistalinistische Alternative zum sowjetischen Weg erfolgreich sein. In den Diskussionen der linken »trotzkistischen« Gruppen hatte die nationale Frage nie einen eigenen Stellenwert. Wichtig war die Überwindung des Hitlerregimes, und alle Kräfte sollten dafür mobilisiert werden. Weder stalinistischer Zentralismus noch nationalistische Kleinstaaterei waren jedoch die Alternativen. Es ging um eine entgrenzte Gesellschaft, die mit internationalistischer weltrevolutionärer Perspektive angestrebt werden sollte. Der Kampf gegen Österreichs »Anschluß«, der Kampf 28 Wolfgang Höpken, Die Unfähigkeit zusammenzuleben. Der nie bewältigte Nationalitätenkonflikt, in  : Josip Furkes/Karl-Heinz Schlarp (Hg.), Jugoslawien  : Ein Staat zerfällt. Der Balkan – Europas Pulverfaß, Reinbek bei Hamburg 1991, 48.

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g­ egen das Münchner Abkommen etc. war für die Trotzkisten nicht durch bestimmte Vorstellungen von künftigen Staatsgrenzen motiviert, sondern nur von einer Eindämmung der Macht des Nationalsozialismus. Sowohl innerhalb des linksgerichteten Widerstandes als auch in der Gestaltung Nachkriegseuropas hatten diese Positionen aber keinen Platz. Der Anteil der aus dem Exil nicht mehr nach Mitteleuropa Heimkehrenden war daher in diesem Milieu besonders groß, die Wirkung in der Nachkriegsgeschichte bei dieser Gruppe deutlich am geringsten. Viele hervorragende Persönlichkeiten des Wissenschafts- und Kulturbetriebes in aller Welt waren in den hier zur Diskussion stehenden Jahren dieser Position verbunden.29 Die politischen Entscheidungsträger aber kamen aus den anderen Lagern, die Frage der Gestaltung Nachkriegseuropas lief daher an dieser Gruppe vorbei. Daß letztlich am deutlichsten geopolitisch die kommunistischen Positionen realisiert wurden, war von den militärischen Resultaten des Krieges und von den Vereinbarungen auf internationalen Konferenzen abhängig. Dennoch haben sich gewisse Positionen, wie etwa das Verhältnis der Österreicher zu ihrer Nation, unabhängig von der politischen Überzeugung der Menschen, grundlegend verändert. Die ehemals praktisch ausschließlich von Legitimisten und Kommunisten vertretene Position wurde bald Allgemeingut und hat sich von den »Erfindern« gelöst, ja zum guten Teil gerade gegen sie gewendet und mit den demokratischen Positionen verbunden. Das Herausbilden der Staatenlandschaft innerhalb der kommunistischen Einflußsphäre, in großen Zügen ebenfalls an den Vorkriegsgrenzen ausgerichtet, schien für über vier Jahrzehnte stabil. Die letzten Jahre haben hier vieles in Bewegung gesetzt, wodurch die Geschichte des Umgangs der Linken mit der nationalen Frage eine neue Dimension erhält. Sie wird aus einer rein fachimmanent historischen Diskussion zu einer des momentanen politischen Alltags. Der Historiker kann aber nur die Genese der einzelnen Positionen nachzeichnen, die Entwicklung von Lösungen für die Zukunft fällt nicht in seinen fachlichen Kompetenzbereich. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Linksgerichteter Widerstand und Mitteleuropa 1939–1945, in  : Richard G. Plaschka u.a. (Hg.), Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (= Zentraleuropa Studien 1), Wien 1995, 359–368 (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften).

29 Vgl. Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Internationales Symposion 19.–23. Oktober 1987 in Wien, Wien/München 1988.

Karl R. Stadler (1988)

Am 7. Juli 1987 starb in Linz der österreichische Historiker Karl R. Stadler. Obwohl beinahe 74 Jahre alt, hatte er bis kurz vor seinem Tod trotz schwerer Krankheit am Wissenschaftsbetrieb mit voller Energie teilgenommen. Diese Teilnahme ging von der Leitung des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung und den damit verbundenen Förderungen der wissenschaftlichen Arbeiten anderer Historiker bis zum eigenen Forschen und Schreiben  : Sein letztes Buch, die Biographie über Johann Böhm, an dem er in den letzten Monaten gearbeitet hatte, blieb leider unvollendet. Um bei einer Veranstaltung, die der Emigration österreichischer Wissenschaft gewidmet ist, exemplarisch die Lebensgeschichte von Karl R. Stadler einbringen zu können, wird man wohl einschränkend vorausschicken müssen, daß er 1938 nicht als bekannter Wissenschaftler Österreich verlassen mußte, sondern als politisch engagierter Student. Im Ausland aber erfuhr er jene Prägung, die ihn zu einem Forscher und Lehrer besonderer Art werden ließ. Die drei Jahrzehnte in England, der Stil der englischen Universitäten, das antifaschistische Engagement, das waren die Säulen, auf denen Karl R. Stadler nach seiner Rückkehr nach Österreich aufbauen konnte und die es möglich machten, daß er den österreichischen Wissenschaftsbetrieb so entscheidend mitzubestimmen vermochte.

Die Ursachen für die Emigration Karl R. Stadler wurde am 8. Oktober 1913 in Wien-Favoriten als Karl Rudolf Stavaritsch geboren und besuchte die Volksschule in seinem Heimatbezirk. Von 1923 bis 1931 konnte er jenen Schultyp besuchen, der im »Roten Wien« den Aufstieg für begabte Kinder aus nicht begütertem Milieu erlaubte  : die Bundeserziehungsanstalt Wien-­Breitensee. Früh engagierte er sich im Verband Sozialistischer Mittelschüler. Von 1931 bis 1938 war er Student an der Universität Wien, erst an der juridischen, dann an der philosophischen Fakultät, mit den Fächern Anglistik und Germanistik.1 Während man dies alles den publizierten offiziellen Biographien entnehmen kann, ergeben die Tagebücher2 (Karl R. Stadler gehörte zu jenen Menschen, die über 1 2

Helmut Konrad u.a. (Hg.), Geschichte als demokratischer Auftrag. Karl R. Stadler zum 70. Geburtstag, Wien/München/Zürich 1973, 307. Karl R. Stadler hat, zumindest bis 1947, ein Tagebuch geführt (Nachlaß Stadler).

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viele Jahre mit großer Konsequenz Tagebücher geführt haben) und die persönlichen Gespräche ein erstaunliches, berührendes Bild  : Ganz unvermittelt tritt uns da ein Mensch entgegen, der alle jene Eigenschaften besitzt, die heute von der neueren Literatur manchmal als Fiktion bezeichnet werden. Karl R. Stadler war jener »Neue Mensch«, für den das Wert- und Normensystem aus der Gegenkultur der Arbeiterbewegung Gültigkeit hatte – bis hin zu den Fragen von Partnerschaft und persönlicher Lebensgestaltung. Daß die Sozialdemokratie ab 1933 gerade ihre aktivsten Mitglieder verlor, von denen, zumindest in Wien,3 die meisten nach links gingen, ist heute allgemein bekannt. Es war vor allem Christian Broda, der die junge linke Intelligenz dem Kommunistischen Jugendverband zuführte. Hier, nicht in der KPÖ, sondern in der offenen Jugendorganisation, fand auch Karl R. Stadler sein politisches Betätigungsfeld. Er arbeitete vor allem in den legalen Organisationen mit, die auch dem KJV eine gewisse Plattform boten. Sein größtes Engagement entwickelte er dabei in der Friedensbewegung und deren »Hilfsorganisation« für Jugendliche. Stadler stand in der Friedensbewegung in der vordersten Reihe. Er war Delegierter auf der Internationalen Jugendkonferenz für den Frieden. Er hielt dort eine flammende Rede, in der er die Friedensfrage mit der sozialen Frage zu verknüpfen verstand. Und strategisch enthielt die Rede eine ganz bemerkenswerte Passage  : »Österreichs Jugend ist wahrlich nicht kriegsbegeistert  ; sie hat die Schrecken des Krieges und der Nachkriegsjahre stärker empfunden als manch anderes Land und ist daher gewillt, alle ihre Kräfte in den Dienst der Verhinderung des Krieges zu stellen. Aber wir wissen, daß wir jungen Österreicher dazu allein zu schwach sind, darum blicken wir über die Grenzen unseres Staates und suchen die Verbindung mit der Jugend anderer Länder, vor allem unserer Nachbarn. Wir interessieren uns für das Leben der tschechoslowakischen, ungarischen, jugoslawischen und bulgarischen Jugend und finden, daß wir vieles gemeinsam haben  : gemeinsame wirtschaftliche Interessen als Bewohner des Donauraumes und gemeinsame politische Interessen in der Abwehr des Nationalsozialismus. Darum schlägt die österreichische Delegation vor, eine Beratung der Jugend Mittel- und Osteuropas zu veranstalten, bei der die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit geprüft werden können. In Grenzjugendtreffen wollen wir uns mit unseren Nachbarn treffen, in regem Meinungsaustausch wollen wir eine Plattform für den gemeinsamen Kampf der Jugend des Donauraumes schaffen.«4 3 4

Vgl. etwa  : Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate. Zusammenstöße. Putschversuche. Unruhen in Österreich 1918–1938, 2. Auflage, München 1983, 275. Nachlaß Stadler, Rede des Delegierten Stavaritsch (Österreich) auf der Intern. Jugendkonferenz für

Karl R. Stadler

Als treibende Kraft erscheint er auch auf der Enquete »Was soll die Jugend für den Frieden tun  ?«, die vor allem von Ludovica Hainisch organisiert wurde, bei der aber auch Dr. Viktor Matejka, 1936 ja politisch durchaus noch anders zuzuordnen, unter den Einberufern aufscheint. Stadler, in der Broschüre auch groß im Bild, schlug den 29. März 1936 als Friedenstag der österreichischen Jugend vor und die Schaffung eines »Friedensgroschens« zur Finanzierung der weiteren Aktivitäten.5 Er brachte damit beide zentralen Beschlüsse der Enquete in Vorschlag. Am Flugblatt zum 97. Geburtstag von Marianne Hainisch war Karl Stavaritsch einer der acht Unterzeichner, zugleich aber der Verantwortliche laut Impressum,6 und zwar mit voller Adresse. Er war also bei den österreichischen Behörden kein Unbekannter. In diesen Jahren trampte er mit seiner späteren Frau Gina auch mehrfach durch England. In englischen Zeitungen erschienen erste antifaschistische Artikel von ihm, teilweise schon unter Verwendung des Namens Stadler. Politisch war Gina nur am Rande organisiert, sie bot in ihrer Wohnung der Gruppe um Broda aber die Infrastruktur – bis hin zu Brötchen, von denen der spätere Minister noch 1983 träumte.7 Die locker im KJV organisierte Gruppe geriet aber bald in Widerspruch zur Linie der illegalen KPÖ. Sie kritisierte den Kurswechsel nach dem VII. Weltkongreß der Komintern von links und war betroffen über die ersten Nachrichten von den Schauprozessen des Stalinismus. »Janda« (= Broda), »Reiter« (= Stadler) und ein kleiner Kreis mit ihnen gründeten die Zeitschrift Ziel und Weg und gerieten ins politische Schußfeld. »Man wird uns vielleicht Trotzkisten nennen. Wir sind über den Vorwurf erhaben«,8 argumentierte man vorausschauend, um im Juli 1937 scharf zu kritisieren  : »Der österreichische Kommunist, der unter der Herrschaft des klerikalen Faschismus für die Freiheit und Unabhängigkeit der österreichischen »Nation« kämpfen will, wird unweigerlich zu einer komischen Figur.«9

den Frieden, Brüssel, 29. Februar bis 1. März 1936, unveröffentlichtes Manuskript, 2. Nachlaß Stadler, Österreichs Jugend will den Frieden  ! Erster Bericht über die Enquete »Was soll die Jugend für den Frieden tun  ?« Wien 1936, 21 f. 6 Nachlaß Stadler, Der großen Friedenskämpferin Frau Marianne Hainisch. Gruß und Dank zum 97. Geburtstag, unveröffentlichtes Flugblatt, Wien 1936. 7 Unveröffentlichte Rede von Christian Broda anläßlich der Feier zum 70. Geburtstag von Karl R. Stadler, Oktober 1983, Linz. 8 Franz West, Die Linke im Ständestaat Österreich. Revolutionäre Sozialisten und Kommunisten 1934–1938 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 8), Wien/München/Zürich 1978, 265. 9 Ebd.

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Das war der endgültige Bruch mit einer Partei, bei der Stadler nie Mitglied im formalen Sinn gewesen war. Auch die politischen Auseinandersetzungen an der Universität wurden härter. Stadler, der mitreißende Redner, stand in der ersten Reihe gegen den Nationalsozialismus. Mehrfach konnte er, der blond war und sehr »arisch« aussah, durch sein Eingreifen nationalsozialistische Schläger von Aktionen gegen jüdische Studenten ablenken. Als sich im März 1938 die Ereignisse dramatisch zuspitzten, ging die Gruppe um Stadler massiv in die Öffentlichkeit für Schuschniggs Volksabstimmung. Während in Marie Tidls Buch Stadler angeblich bei der Stadtbahnstation Hietzing Flugblätter verteilt,10 fährt dieser im »organisierten« Lastwagen durch Arbeiterbezirke und streut Blätter mit folgendem bemerkenswertem Inhalt aus  : »Für die Freiheit  ! Österreich der Jugend  ! Die Jugend für Österreich  ! Vier Jahre nach den blutigen Schicksalskämpfen des Jahres 1934 – am 12. Februar 1938 – wurde die österreichische Arbeiterschaft und ihre Jugend vor die Frage gestellt  : Was soll aus Österreich werden. Nach der Reise des Bundeskanzlers nach Berchtesgaden setzten Umtriebe verantwortungsloser Gesellen ein, die den Frieden im Lande – und damit in Europa – auf das Schwerste gefährden. Österreichs Arbeiterjugend will den Frieden, denn der Friede ist Voraussetzung für unseren Kampf um Freiheit und Arbeit. Die Stunde ist ernst, es geht ums Ganze. Die Arbeiterjugend will ein freies, soziales Österreich. Sammlung heißt die Parole. Eine freie Arbeiterjugendbewegung für Österreichs Freiheit  ! Am 13. März gehen wir zur Urne. Es ist ein historischer Tag, an dem wir unser Bekenntnis für ein freies und unabhängiges Österreich ablegen. Folgen wir dem Beispiel derer, die vor 90 Jahren, am 13. März 1848, für die Freiheit kämpften. An dem ehernen Wall der einigen Arbeiterjugend werden die Feinde der Freiheit und des Friedens zerschellen. Es geht um Österreich  ! Es geht um uns  ! Unsere Losung  : Ja  ! Karl Königsberger, Freisler  ; Heinrich Math, Gerz  : Hans Miller, Beamter  ; Toni Spiker, Kremenezky, Rudolf Musial, Hutter & Schrantz, Hans Koci, Südbahnwerkstatt, Marie Opletal, Lourie, Emmerich Stockinger, Ortsstelle X, Karl Stavarits, Student, Philip, Ortsstelle XII.«11

Wenige Wochen später, als er in England unter anderm sein Brot mit dem Schreiben von Artikeln verdiente, schrieb er rückschauend  : »A policeman comes over, one of our leaflets in his hand. ›In the name of the new Government – you are arrested. Get out of the car, all of you  !‹ W. flings a parcel of leaflets into his 10 Marie Tidl, Die Roten Studenten. Dokumente und Erinnerungen 1938–1945 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 3), Wien 1976, 23. 11 Nachlaß Stadler, unveröffentlichtes Flugblatt, 11. März 1938.

Karl R. Stadler

face, R. steps on the accelerator, and we dash off at an incredible speed. Looking back, we see him take down our number.‹ – ›Well, this is the last time you’ve used your car‹, we tell our driver. ›Never mind‹, he attemps to joke, ›my grandmother wasn’t Aryan, so they would have taken it anyway.‹«12

Der Weg ins Ausland Die Nacht nach dieser Aktion verbrachte Karl Stadler nicht mehr zu Hause. Die Angst vor einer drohenden Verhaftung war zu groß. Vergeblich suchte die Mutter ihn auch bei Gina. Sie konnte aber in Erfahrung bringen, daß er mit dem Zug nach Paris wollte. Auch Gina mußte fort. Zufällig sahen sie sich am Bahnhof  : Beide wollten also mit demselben Zug abfahren  ! Gina, begleitet von Freunden mit Hakenkreuzen, im Koffer wenige Sachen und die praktisch fertige Dissertation, signalisierte ihm, daß sie sich nach der deutschen Grenze treffen sollten. Karl, der sich noch von seiner Mutter verabschieden konnte, saß aber im Zugteil nach Frankreich, Gina in dem nach Holland. Als sie ihn nach der Grenze nicht fand, mußte sie annehmen, er wäre der Gestapo in die Hände gefallen. Und beinahe war es so  : In Kehl wurde Karl Stadler aus dem Zug geholt und auf die deutsche Zollstation gebracht. Ein Anruf in Wien blieb aber ohne Erfolg. Zu Fuß überquerte er schließlich den Rhein, um von der Brücke die NS-Zeitungen in den Fluß zu werfen. Paris und den Weg nach London beschrieb er einige Wochen nach den Ereignissen in einem anderen autobiographischen Text  : »English Hospitality – the Finest Thing in the World.«13 Aber trotz aller Gastfreundschaft, trotz perfekter Sprachkenntnisse  : ein mittelloser Student, »a young Austrian ›Aryan‹ refugee from Vienna«,14 der nicht auf die jüdischen Hilfsprogramme zählen durfte, konnte nur schwer Fuß fassen. Erste Station waren die Quäker. Eine ältere Dame bot dort ein Zimmer für ein »jüdisches Mädchen« an – der »christliche Junge« erhielt es. Während Gina kurz Hilfsprogramme in Anspruch nahm, um dann als Kindermädchen aufs Land zu gehen, sicherte sich Karl mit Artikeln und Nachhilfestunden die Existenz. Einen 12 Nachlaß Stadler, Karl R. Stadler, Good-night, Vienna  ! An Austrian Refugee Looks Back, wahrscheinlich unveröffentlichter Artikel, 1938, 3. 13 Nachlaß Stadler, Karl R. Stadler, English Hospitality – the Finest Thing in the World, wahrscheinlich unveröffentlichtes Manuskript, 1938. 14 Ebd., 1.

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begüterten Schüler begleitete er sogar aufs schottische Landgut. Tagsüber als Treiber auf der Jagd, abends im vom Butler geliehenen Dinner-Jacket am Familientisch – Bilder, die schwer in Einklang zu bringen sind mit dem Karl R. Stadler der letzten Jahrzehnte. Das ISS (International Student Service) half bei der Suche nach Studienplätzen. Die Universität London sagte zu, bestand aber auf dem Ablegen der englischen Matura. Schließlich fiel die Entscheidung für Bristol, wo ein Studienabschluß in zwei Jahren möglich war (den Karl als einziger seines Jahrgangs mit Auszeichnung erreichte. Nebenbei erhielt er den Preis für den besten Aufsatz – und das gegen die Konkurrenz mit englischer Muttersprache  !). Quartier boten in Bristol erst zwei alte Fräulein, wo es statt Tee warmes Wasser gab. Ein Methodistenpfarrer organisierte etwas Taschengeld, ISS half materiell. Schließlich organisierte Gina ein akzeptables Quartier. Die Artikel zeichnete Karl nur noch mit dem Namen Stadler, vor allem deshalb, um seine Mutter in Wien nicht zu gefährden. Politisch brachten schon die ersten Monate ein Umdenken. Im Tagebuch findet sich im Oktober 1938 folgende Notiz  : »Von Janda kam ein Abschiedsbrief, wer weiß, ob ich ihn jemals wiedersehen werde  ! Ich weiß nicht, ob ich den Mut bewundern oder über den Fanatismus staunen soll  ; geht kaltblütig in den Kerker, vielleicht gar in den Tod … Das ist sicher das Holz, aus dem die treibenden Kräfte der Menschheit geschnitzt werden, und doch kann eine lächerliche Kleinigkeit dieses Licht zum Erlöschen bringen, ein blinder Zufall ihn schweigen machen. 6. Oktober. Eben habe ich an ISS geschrieben, eine Liste meiner extratourl. Ausgaben geschickt  : Koffer 13’, Transport 3’6, laundry 4’, taylors and shoemakers’ bills 7’, Gown 10’, 2 altengl. Bücher 14’, macht ca. 50 Shilling aus, und das bedeutet, daß ich Mitte Oktober stier bin  : bin neugierig, ob sich was rührt.«15

Stadler näherte sich rasch den Positionen der Exilsozialisten in London. In Vorträgen und Artikeln aus diesen Monaten kam dies deutlich zum Ausdruck. Brieflich teilte er dies auch Broda mit – die Freundschaft hielt aber über die politische Differenz hinweg. Vorträge hielt er übrigens beinahe jeden zweiten Tag. Sie bildeten schließlich die erste Existenzgrundlage. Daneben entstand ein großer Roman, der allerdings wahrscheinlich von ihm selbst nie zum Druck befördert und schließlich wohl vernichtet worden ist.

15 Nachlaß Stadler, unveröffentlichtes Tagebuch, Eintragung Oktober 1938.

Karl R. Stadler

Krieg, Internierung, Universität Im Jahr 1939 wechselt das Tagebuch die Sprache  : das neue Heft, das mit dem Kriegsausbruch beginnt, ist englisch geschrieben, und Stadler ist schon am 8. September 1939 »confident, that this time I shall not have to burn my notes hurriedly before the approach of a Fascist agent  ; for however long it is going to last, Hitler and his system are doomed.«16 Aber während der Schlußprüfungen kam Hitlers Überfall auf Holland. Ginas Familie, dorthin geflüchtet, war in existentieller Gefahr – eine Annahme, die später zur traurigen Realität wurde. Vorerst mußten alle Ausländer von der Küste weg. Gina ging nach Coventry, um später Zeugin der Bombardierung zu werden. Karl Stadler aber wurde interniert. Sechs Monate verbrachte er hinter Stacheldraht. Er, der Antifaschist, zusammengepfercht auch mit echten Nazis. Erst war es ein Lager bei Derby, dann bei York, schließlich die Isle of Man. Die spätere Aversion gegen Fischgerichte resultiert aus dieser Zeit. Schließlich drohte die Verschiffung nach Kanada. Verzweifelt bemühten sich Karl und Gina um die Heiratserlaubnis, die wenigstens die gemeinsame Verschiffung gesichert hätte. Der deutsche U-Boot-Angriff auf ein Transportschiff und dessen Versenkung stoppten glücklicherweise die weiteren Transporte. Viele Freunde bemühten sich um die Freilassung. Der Preis wäre schließlich der Eintritt in die Armee gewesen. So galt es für den Pazifisten, die reguläre Entlassung abzuwarten. Das Informationsministerium brachte ihn trotzdem mit der Armee in Verbindung. Vorträge zur Geschichte und politischen Entwicklung vor Angehörigen der Armee war eine der nächsten Aufgaben. Dies ging mit der Berufslaufbahn konform. Die Universität in Derby bot Stadler eine Lecturer-Stelle im Rahmen der Erwachsenenbildung im Extra-Mural-Departement an, von der er später an die Universität Nottingham wechselte. Dort folgte auch der Berufswechsel hin zur Zunft der Zeithistoriker, der allerdings kein wirklicher Wechsel war. Stadler war immer Zeithistoriker und Erwachsenenbildner, auch in den späteren österreichischen Jahren. Nach Kriegsende gab es sofort Arbeit in der Re-education des Informationsministeriums. Es waren vor allem Kriegsgefangene aus Österreich, die in den Lagern von Stadler zur Demokratie geführt wurden. Im Februar 1947 traf eine erste Delegation deutscher Erwachsenenbildner in England ein. Und von diesem Kontakt an war Stadler eine zentrale Figur für den Wiederaufbau der deutschen Erwachsenenbildung. In einem umfangreichen Tagebuch beschrieb er seine Eindrücke von seiner ersten Reise durch das zerstörte Deutschland. 16 Nachlaß Stadler, unveröffentlichtes Tagebuch, Eintragung 8. September 1939.

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Die Geschichtswissenschaft Seit 1946 lehrte Karl R. Stadler an der Universität von Nottingham. Extern vollendete er seine Studien an der Universität London. Obwohl stark in der Lehre, der Erwachsenenbildung und der Re-education engagiert, unternahm er zahlreiche Archivreisen, in denen er neues zeithistorisches Material erschloß. Neben seinen Schriften zur Erwachsenenbildung erschienen in deutscher Sprache 1962 und 1966 bahnbrechende Werke zum österreichischen Widerstand,17 die dazu beitrugen, auf höchstem wissenschaftlichem Niveau die Widerstandsforschung zu etablieren. Zweites Forschungsgebiet jener Jahre war die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. In den sechziger Jahren erschienen in englischer und deutscher Sprache umfangreiche, bis heute wichtige Monographien.18 Später sollte noch der Schwerpunkt 1934 hinzutreten.19 Die Alterswerke aber waren, gleichsam als Vollendung, Biographien.20 Nicht nur über die Forschungsfelder bestanden enge Kontakte zu Österreich. Die österreichischen Volkshochschulen banden Karl R. Stadler bald in führende Positionen ein (er war dann auch langjähriger Präsident, in den letzten Lebensjahren der erste und einzige Ehrenpräsident des Volkshochschulverbandes), aber auch die persönlichen Kontakte bestanden weiter. Gäste aus Österreich, darunter der junge Student Heinz Fischer, kamen und bevölkerten das Haus in Nottingham, das die Familie Stadler mit den beiden Töchtern bewohnte. 1962 zum Senior Lecturer für Neuere Geschichte und Internationale Beziehungen avanciert, wurde er 1964 bis 1966 von seiner englischen Universität beurlaubt, um in Wien das von Bruno Kreisky initiierte Wiener Institut für Entwicklungsfragen aufzubauen und gleichzeitig am Institut für Höhere Studien und an der Diplomatischen Akademie als Gastprofessor zu wirken.

17 Maria Szecsi/Karl R. Stadler, Die NS-Justiz in Österreich und ihre Opfer (= Das einsame Gewissen. Beiträge zur Geschichte Österreichs 1938 bis 1945 1), Wien/München 1962  ; Karl R. Stadler, Österreich 1938–1945 im Spiegel der NS-Akten (= Das einsame Gewissen. Beiträge zur Geschichte Österreichs 1938 bis 1945 3), Wien/München 1966. 18 Karl R. Stadler, The Birth of the Austrian Republic 1918–1921, Leiden 1966  ; ders., Hypothek auf die Zukunft. Die Entstehung der österreichischen Republik 1918–1921, Wien/Frankfurt/Zürich 1968. 19 Karl R. Stadler, Opfer verlorener Zeiten. Die Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934, Wien/ München/Zürich 1974  ; Inez Kykal/Karl R. Stadler, Richard Bernaschek. Odyssee eines Rebellen, Wien/München/Zürich 1976. 20 Karl R. Stadler, Adolf Schärf. Mensch, Politiker, Staatsmann, Wien/München/Zürich 1982.

Karl R. Stadler

Der Ruf nach Linz Mit 55 Jahren, am 1. April 1968, folgte Stadler einem Ruf an die neugegründete Universität Linz. Wer darin »nur« eine späte Wiedergutmachung der Republik Österreich sehen wollte, mußte bald zur Kenntnis nehmen, mit welch großen Ambitionen Karl R. Stadler antrat. Gemeinsam mit Kurt W. Rothschild prägte er lange Jahre das Bild der Universität. Stadlers Institut, aus dem Gerhard Botz, Helmut Konrad, Hans Hautmann, Josef Weidenholzer, Reinhard Kannonier, Brigitte Kepplinger-Perfahl und andere Historiker hervorgegangen sind, erzielte von allen Instituten der Universität wohl die größte Außenwirkung. Dies war vor allem auch dem Umstand zu danken, daß in Personalunion von Karl R. Stadler auch das erste Institut der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft, das sich außerhalb des medizinisch-naturwissenschaftlichen Bereichs bewegte, geführt wurde. Das Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, in dessen Publikationsreihen von Stadler etwa 80 Bücher herausgegeben wurden, erlangte in kurzer Zeit Weltgeltung und führte die österreichische Geschichtswissenschaft im Teilbereich »Geschichte der Arbeiterbewegung« an den internationalen Standard heran. Die Teildisziplin wurde erstmals in Westeuropa in einer Weise akademisch verankert, die ganze Studentengenerationen prägen konnte. Daß Stadler daneben noch immer die Zeit fand, seinen Aufgaben in der Erwachsenenbildung in alter Tradition nachzukommen, ist nur durch seine enorme Arbeitskraft erklärbar. Dem Volkshochschulverband stand er weiter als Präsident vor, dem Dr. Karl Renner-Institut war er in den schwierigen Anfangsjahren der erste Rektor. Selbst seine Emeritierung mit fast 72 Jahren stellte keinen Endpunkt in Stadlers Schaffen dar. Das Ludwig Boltzmann-Institut führte er mit ungebrochener Energie, bei ihm, in seinem Haus, liefen noch immer die Fäden zusammen, auch die zwischen den nunmehr an anderen Universitäten arbeitenden ehemaligen Schülern und Rudolf Ardelt, dem Nachfolger am Linzer Lehrstuhl. Er war bis zuletzt eine Institution. Mit seinem Tod ging für die österreichische Geschichtswissenschaft eine Epoche zu Ende. Stadlers Nachfolger müssen mit der Hypothek leben, an seinen Verdiensten gemessen zu werden. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Karl R. Stadler, in  : Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Internationales Symposion 19.–23. Oktober 1987 in Wien, Wien/München 1988, 509–514 (Verlag Jugend und Volk).

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Zurück zum Rechtsstaat (Am Beispiel des Strafrechts) (1981) Zweifellos ist gerade das Strafrecht ein Bereich, der deutlicher als andere Rechtsgebiete seine Abhängigkeit von den jeweiligen politischen Wertsystemen erkennen läßt. »Jedes politische System hat sein eigenes Strafrecht, und dem Wechsel der politischen Systeme in unserem Lande folgten daher auch stets strafrechtliche Bestimmungen auf dem Fuß, die die geänderten politischen Überzeugungen und Zielsetzungen zum Ausdruck brachten.«1 In Österreich wurden am 1. Mai 1945 durch das Rechts-Überleitungsgesetz (StGBl. Nr. 6/1945) alle jene Gesetze des Deutschen Reiches aufgehoben, die »mit dem Bestand eines freien und unabhängigen Staates Österreich oder mit den Grundsätzen einer echten Demokratie unvereinbar sind, dem Rechtsempfinden des österreichischen Volkes widersprechen oder typisches Gedankengut des Nationalsozialismus enthalten«.2 Am 12. Juni 1945 folgten zwei Gesetze, die das österreichische Strafrecht und das Strafgesetzrecht jeweils in der Fassung vom 13. März 1938 wiederherstellten. Dennoch waren damit nicht alle Probleme geklärt. Einerseits gab es Unterschiede zwischen diesen Gesetzen und der Verfassung von 1929, die wieder in Kraft getreten war, anderseits erforderte die spezielle Situation der ersten Nachkriegszeit auch Maßnahmen, die durchaus nicht unbedingt mit den zitierten Grundsätzen des RechtsÜberleitungsgesetzes in Einklang standen. Einige dieser Problemkreise sollen hier kurz skizziert werden.

Das Ausnahmegesetz »Schon in der Regierungserklärung vom 27. April 1945 wurde angekündigt, daß gegen die Schuldigen nach einem zu erstellenden Ausnahmerecht vorgegangen werden soll. Dies entsprach auch etwa dem Befehl Nr. 1 des sowjetischen Militärkommandanten von Wien.«3

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Eugen Serini, Entwicklung des Strafrechts, in  : Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik, Bd. 2, Graz/Wien/Köln 1972, 109. Ebd., 111. Rudolf Neck, Innenpolitische Entwicklung, in  : Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik, Bd. 1, Graz/Wien/Köln 1972, 157.

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In der Erklärung hieß es, daß die Verantwortlichen »nach demselben Ausnahmerecht behandelt werden, das sie selbst den anderen aufgezwungen haben und jetzt auch für sich selbst für gut befinden sollen«.4 Auch die Öffentlichkeit forderte vehement ein strenges Vorgehen gegen jene, »die nicht einfach mißbrauchtes Kanonenfutter und marschierende ›Gefolgschaft‹ waren, sondern die ihre Hände zu Henkersdiensten und Grausamkeiten hergegeben haben, und vor allem auch jene, die bewußt geholfen haben, Österreich in den Krieg hineinzureißen«.5 So forderte die bedeutendste österreichische Zeitung der Nachkriegsjahre, das Allparteienblatt Neues Österreich, am 11. Mai 1945 unter der Schlagzeile  : »Tod den Kriegsverbrechern« härteste Bestrafung  : »Das österreichische Volk ist nicht rachsüchtig. Es ist maßvoll und gerecht. Es verzeiht manche Verfehlung und Verirrung. Es will jedoch Österreich von der Pest des Faschismus reinigen, gründlich und für alle Zeit. Das ist der einmütige Wunsch. Und dieser Wunsch und Wille gebietet  : Tod den Kriegsverbrechern  !«6

Vier Wochen später wurde die Forderung nochmals mit Nachdruck erhoben  : »Reinigung und Erneuerung unseres Volkskörpers  ; also Ausschaltung und Unschädlichmachung der Naziverbrecher. [Wir] fordern nicht Rache, sondern das Walten der Gerechtigkeit […] Der Glaube unseres Volkes an die Gerechtigkeit würde schwer erschüttert werden, wenn den Kriegsverbrechern nicht bald der Prozeß gemacht wird. Wer Menschenleben auf dem Gewissen hat, muß sühnen. Das Urteil kann nur lauten  : Tod den Kriegsverbrechern  !«7

Wenn man natürlich berücksichtigen muß, daß diese Artikel auch mit einem Seitenblick auf die Besatzungsmächte geschrieben wurden, so kann man doch annehmen, daß sie die Stimmung der Antifaschisten unseres Landes zum Ausdruck brachten. Über die gesetzliche Basis und die Durchführung der Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Österreich hat Generalanwalt Dr. Karl Marschall vom Bundesministerium für Justiz eine ausgezeichnete Dokumentation vorgelegt,8 sodaß hier kurze zusammenfassende Bemerkungen genügen. 4

Zitiert nach  : Bundesministerium für Justiz (Hg.), Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich 1945 bis 1972. Eine Dokumentation, Wien 1977, 5. 5 Neues Österreich, 11. Mai 1945. 6 Ebd. 7 Neues Österreich, 1. Juni 1945. 8 Bundesministerium für Justiz, Volksgerichtsbarkeit.

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Bereits am 8. Mai wurde das Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP von der Provisorischen Staatsregierung erlassen. Dieses Gesetz, als »Verbotsgesetz« bekannt, erhielt am 6. Februar 1947 als »Nationalsozialistengesetz« (BGBl. Nr. 25/1947) seine endgültige Form. Von zumindest ebensolcher Bedeutung war schließlich das Kriegsverbrechergesetz vom 26. Juni 1945, das im Neuen Österreich am 26. Juni im vollen Wortlaut veröffentlicht wurde. Es stellte in seinen ersten acht Paragraphen verschiedene Handlungen der vergangenen Jahre unter Strafe. § 1 behandelte die Kriegsverbrechen im engeren Sinne, die »mit schwerem Kerker von 10 bis 20 Jahren, wenn aber durch das Vorgehen des Täters die schwere körperliche Beschädigung einer Person oder ein größerer Vermögensschaden angerichtet wurde, mit lebenslangem schwerem Kerker, falls jedoch das Vorgehen den Tod einer Person zur Folge hatte, mit dem Tode bestraft«9 werden sollten. Als Kriegsverbrecher wurden auch jene Personen betrachtet, »die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Österreich, wenn auch nur zeitweise, als Mitglieder der Reichsregierung, Hoheitsträger der NSDAP, vom Gauleiter oder Gleichgestellten und vom Reichsleiter oder Gleichgestellten aufwärts, Reichsstatthalter, Reichsverteidigungskommissare oder Führer der SS einschließlich der Waffen-SS vom Standartenführer aufwärts, tätig waren. Sie sind als Urheber und Rädelsführer dieses Verbrechens mit dem Tode zu bestrafen«.10

Für Kriegshetzerei (§ 2) wurde fakultativ die Todesstrafe angedroht, ebenso für Quälereien und Mißhandlungen (§ 3), Verletzungen der Menschlichkeit und Menschenwürde (§ 4) und Erschwerungen (= Anordnungen von solchen Maßnahmen, § 5). Wegen mißbräuchlicher Bereicherung (§ 6) konnte man zu schwerem Kerker, wegen Denunziation (§ 7) zu lebenslangem Kerker verurteilt werden. Auf Verrat am österreichischen Volk (§ 8) stand die Todesstrafe. Dieses Kriegsverbrechergesetz fand großen Widerhall in der Öffentlichkeit. Als Beispiel sei eine Versammlung angeführt, die auf Aufforderung der Kommunistischen Partei, der Volkspartei und der tschechoslowakischen Minderheit in Favoriten stattfand und zu der immerhin 3000 Menschen auf dem Antonsplatz erschienen waren. Der Bezirksleiter der ÖVP Favoriten, H. Hofstadler, brachte eine Resolution ein, der die Teilnehmer »in einmütiger Begeisterung«11 zustimmten und die folgenden Wortlaut hatte  :   9 Neues Österreich, 27. Juni 1945. 10 Ebd.  ; siehe auch  : Bundesministerium für Justiz, Volksgerichtsbarkeit, 12 f. 11 Neues Österreich, 10. Juli 1945.

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»Die auf dem Antonsplatz in Favoriten am Samstag, 7. Juli, versammelte demokratische Bevölkerung begrüßt das Erscheinen des Kriegsverbrechergesetzes und fordert seine sofortige kompromißlose Anwendung. Sie verlangt ferner den Zusammentritt der Volksgerichte und die rasche, öffentliche Verurteilung und Hinrichtung der Kriegsverbrecher und Naziführer.«12

Die hier erwähnten Volksgerichte waren durch den Artikel des Verbotsgesetzes geschaf­ fen worden und nach § 13 des Kriegsverbrechergesetzes auch für dieses Gesetz sinngemäß anzuwenden. Diese problematische Institution, die aus zwei Berufsrichtern und drei Schöffen bestand13 und die, zumindest vom Namen, aber auch von der Zusammensetzung her, Assoziationen zu dem Volksgerichtshof der vorangegangenen Epoche weckt, wurde »bei den Landesgerichten am Sitze des Oberlandesgerichtes gebildet  ; auch an anderen Gerichtsorten, wie in Klagenfurt und Leoben, wurden Außensenate gegründet, doch gehörten diese Senate zum Volksgericht Graz.«14 Diese Volksgerichte entschieden grundsätzlich in erster und einziger Instanz, d. h. die Urteile konnten durch ein ordentliches Rechtsmittel nicht angefochten werden. Erst ein Überprüfungsgesetz aus dem Jahre 1946 ermöglichte eine amtswegige Nachprüfung der Urteile. Daß diese Gerichte in der Öffentlichkeit stark beachtet wurden und auch mancher Kritik ausgesetzt waren, ist wohl selbstverständlich. Manchen waren die Verfahren zu langsam, viele hielten die Urteile für zu milde, manche auch für zu hart. Nach knapp einem Jahr Arbeit zog Justizminister Dr. Gerö eine erste Bilanz. Allein im Bereich des Volksgerichtes Wien waren in den ersten zehn Monaten nach der Einrichtung des Senats am 15. Juli 1945 in 8549 Fällen Voruntersuchungen wegen Kriegsverbrechen eingeleitet worden. Hievon wurden 3360 Straffälle erledigt, und von diesen führten 1184 zur Erhebung der Anklage. Im gleichen Zeitraum wurden in Wien zehn Todesurteile gefällt, in den Bundesländern vier – auf der ganzen Welt wurden in diesem Zeitraum 273 Todesurteile gegen Kriegsverbrecher ausgesprochen. Der Justizminister konnte also feststellen, »daß das kleine Österreich bei der Verfolgung der Kriegsverbrecher einen nicht ganz geringen Beitrag zur Befreiung der Welt von Kriegsverbrechern geleistet hat«.15 Die Volksgerichtsbarkeit gab es in Österreich bis 1955. Erst die Wiederherstellung der vollen staatlichen Souveränität Österreichs brachte auch die Rückkehr zu den traditionellen Formen der Gerichtsbarkeit. »Infolge der Verfassungsbestimmung des § 1 12 Ebd. 13 Serini, Entwicklung, 112. 14 Bundesministerium für Justiz, Volksgerichtsbarkeit, 14. 15 Wiener Zeitung, 6. Juli 1946.

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des Bundesgesetzes vom 20.12.1955, BGBl. Nr. 285/1955, über die Aufhebung der Volksgerichte und die Ahndung der bisher diesen Gerichten zur Aburteilung zugewiesenen Verbrechen stellten die Volksgerichte ihre Tätigkeit mit dem Tage des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes ein.«16 Da aber bis 1968 die gesetzliche Möglichkeit zur Bildung von Ausnahmegerichten bestand, war auch die Todesstrafe in Österreich 1955 noch lange nicht endgültig abgeschafft. Aus der Dokumentation des Justizministeriums ist ersichtlich, daß die Volksgerichte in den zehn Jahren ihres Bestehens 13.607 Schuldsprüche fällten, davon 43 Todesurteile, 34 lebenslange Kerkerstrafen, 264 Freiheitsstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren, 381 Strafen zwischen fünf und zehn Jahren, 8.326 Strafen zwischen einem und fünf Jahren und 4.559 Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr. Von den Todesurteilen wurden dreißig vollstreckt, zwei zum Tode Verurteilte starben durch Selbstmord vor der Verurteilung. Die letzten Todesurteile wurden 1948 ausgesprochen.17 Im März 1950 konnte im Nationalrat Abg. Karl Mark (SPÖ) berichten, daß nur mehr 2,5% aller Fälle der Volksgerichte noch nicht erledigt waren. Er führte aus  : »Im ganzen wurden bisher 43 Todesurteile gefällt, von denen 30 vollstreckt wurden. Wenn wir diese Zahl in Vergleich setzen zu den Millionen von Toten, die in der Zeit des Nationalsozialismus zugrunde gegangen sind, so ist dies, wie immer man zur Todesstrafe stehen mag, eine Relation, die wirklich unbeträchtlich ist.«18

Die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren Am Morgen des 20. Juni 1946 konnte die österreichische Bevölkerung den Tageszeitungen entnehmen, daß am Vortag im Mordprozeß gegen Rinderknecht und Gewürz, die eine Frau vergiftet hatten, die beiden Angeklagten zum Tode verurteilt worden waren. Einige Monate vorher hatte der Nationalrat mit nur vier Gegenstimmen (den kommunistischen Abgeordneten) bekräftigt, daß das Bundesverfassungsgesetz von 1929 in allen seinen Bestimmungen, also auch in seinem Artikel 85, der die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren für abgeschafft erklärt hatte, Bestandteil der gegenwärtigen Rechtsordnung ist. So mußten, bei aller Widerwärtigkeit des Verbrechens, Stimmen laut werden, die die Einwände des Verteidigers, der die Verfassungswidrigkeit des Urteils betonte, un16 Bundesministerium für Justiz, Volksgerichtsbarkeit, 17. 17 Ebd., 33 ff. 18 Neues Österreich, 10. März 1950.

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terstützten. Als erstes reagierte die Arbeiter-Zeitung, in der bereits am Tag nach der Urteilsverkündigung Oscar Pollak scharf gegen das Urteil auftrat, obwohl der Verteidiger, dessen Argumentation damit unterstützt wurde, Dr. Hans Gürtler, »ein alter Gegner der Sozialisten« war.19 Pollak betonte  : » […] wahre Sicherheit gegen die furchtbare Flut des Unrechts und der Gewalt, die uns der Faschismus zurückgelassen hat, gegen Demoralisierung, Verlotterung und Verbrechen bietet nur die kompromißlose, die unnachgiebige, die nicht auf den Augenblick schielende, die manchmal unbequeme Rückkehr zum Recht.«20

Die Wiener Zeitung ging einen Schritt weiter und holte sich bei der Justizverwaltung eine Auskunft über die Zulässigkeit dieses Todesurteils ein.21 In der offiziellen Stellungnahme stellte man sich natürlich hinter die Entscheidung des Gerichts. Man argumentierte, daß durch die Verfassung von 1934 und durch das Strafrechtsänderungsgesetz des gleichen Jahres die Todesstrafe in ordentlichen Verfahren wiedereingeführt worden war. Das Bundesgesetz über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts vom 12. Juni 1945 hätte für die Zweite Republik das Strafrecht in der Fassung vom 13. März 1938 wieder in Kraft gesetzt, also mit den Todesstrafdrohungen, die auf Grund des Strafrechtsänderungsgesetzes von 1934 wieder gegolten hatten. Man argumentierte ferner, daß auch das Kriegsverbrechergesetz vom 26. Juni 194522 und das Bedarfsdeckungsgesetz vom 24. Oktober 1945 nur auf dieser Basis interpretiert werden könnten. Dennoch war man sich der Schwäche dieses Standpunktes bewußt und unternahm daher den Versuch, mit einem Bundesverfassungsgesetz Klarheit zu schaffen. Am 24. Juli 1946 wurde vom österreichischen Nationalrat das Bundesverfassungsgesetz über die Anwendung der Todesstrafe und das Schwurgerichtsverfahren23 beschlossen, das rückwirkend ab 19. Juni 1946 in Kraft trat. Damit war auch das an diesem Tage ausgesprochene Urteil gegen Rinderknecht und Gewürz von der Verfassung gedeckt. Rechtsanwalt Gürtler faßte seine Bedenken gegen diese Vorgangsweise in einer Broschüre zusammen.24 19 Arbeiter-Zeitung, 20. Juni 1946. 20 Ebd. 21 Wiener Zeitung, 22. Juni 1946. 22 StGBl. Nr. 32/1945. Siehe  : René Marcic, Zur Geschichte der Verfassung und der Grundrechte, in  : Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik, Bd. 2, Graz/Wien/Köln 1972, 651. 23 BGBl. Nr. 141/1946. Siehe  : Marcic, Geschichte, 653. 24 Siehe  : Wiener Zeitung, 10. Juli 1946.

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Das Gesetz, das nebenbei gesagt genau zwölf Jahre nach dem Strafrechtsänderungsgesetz vom 19. Juni 1934 in Kraft trat, hatte allerdings nur für die Dauer eines Jahres Gültigkeit, da man in der Begründung der Regierungsvorlage die Ansicht vertrat, daß es nur unter den gegenwärtigen Verhältnissen unmöglich sei, auf die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren zu verzichten. Daher mußte man sich 1947 erneut dieser Frage zuwenden. Bereits am 30. April 1947 berichtete das Neue Österreich über den Entwurf zu einem Bundesverfassungsgesetz, das die Geltungsdauer der Vorschriften über die Anwendung der Todesstrafe verlängern sollte. Der Entwurf wurde von Justizminister Dr. Gerö vorgelegt.25 Im Plenum des Nationalrates kam der Bericht des Justizausschusses schließlich in der 53. Sitzung vom 21. Mai 1947 zur Abstimmung.26 Der Berichterstatter Dr. Tschadek schlug eine Verlängerung der Bestimmungen bis 30. Juni 1948 vor und führte aus  : »Wir haben erlebt, daß die Kriminalität in Österreich im abgelaufenen Jahre nicht zurückgegangen, sondern ungeheuer angestiegen ist. Die besonderen Umstände unseres Landes, für die wir keineswegs allein die Verantwortung tragen, lassen daher die Aufhebung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren noch nicht zu. Ich darf feststellen, daß sämtliche Mitglieder des Justizausschusses einmütig erklärt haben, daß sie grundsätzliche Gegner der Todesstrafe sind. Wir alle wünschen den Tag herbei, an dem Sicherheit und Ordnung in unserem Lande wieder eingekehrt sind und an dem wir die Todesstrafe endgültig abschaffen können. Der Justizausschuß aber war zugleich der Überzeugung, daß in der heutigen Zeit auf die Androhung der Todesstrafe noch nicht verzichtet werden kann. Ich kann dem Hohen Haus mitteilen, daß die Todesstrafe äußerst sparsam angewendet worden ist. Es ist im abgelaufenen Jahre in Österreich die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren nur einmal vollstreckt worden  ; nicht eingerechnet sind dabei Todesurteile im politischen Ausnahmeverfahren. Sie sehen also, daß unsere Gerichte außerordentlich vorsichtig zu Werke gehen. In mehreren Fällen hat auch der Herr Bundespräsident von seinem Gnadenrecht Gebrauch gemacht. Zur Zeit aber brauchen wir die Androhung der Todesstrafe  ; denn nur, wenn die außer Rand und Band geratenen Verbrecher wissen, daß eine Bluttat ihr eigenes Blut kosten kann, werden sie doch in vielen Fällen abgeschreckt werden, neue Gewalttaten gegen unser ohnehin schwer geprüftes Volk zu begehen. Der Justizausschuß hat daher, obwohl er grundsätzlich gegen die Todesstrafe ist, dem Gesetzentwurf seine Zustimmung gegeben und schlägt vor, daß die Anwendung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren bis zum 30. Juni 1948 verlängert wird.«27 25 Neues Österreich, 30. April 1947. 26 Stenographische Protokolle des Nationalrates (Sten.-Prot.), V.G.P., 53. Sitzung (Stzg.), 21. Mai 1947, 1465. 27 Ebd.

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Der Gesetzesentwurf wurde einstimmig zum Beschluß erhoben und von der Presse emotionslos und ohne Kritik zur Kenntnis genommen.28 Im Folgejahr geriet aber die Todesstrafe erstmals in der Zweiten Republik in eine heftige Diskussion, in der sie in Frage gestellt wurde. Unter dem hoffnungsvollen Titel  : »Abschaffung der Todesstrafe in Österreich  ?« kündigte die Weltpresse Ende Februar an,29 daß das Bundesministerium für Justiz für Anfang März zu einer Enquete mit Vertretern der Wissenschaft und der Praxis geladen hatte, die diese Frage zum Thema hatte. Obwohl man sich prinzipiell gegen die Todesstrafe aussprach, war doch die Mehrheit der Teilnehmer dieser Enquete für eine vorläufige Beibehaltung. Das löste eine breite Diskussion von Fachleuten in der Presse aus, wobei sich besonders die Zeitschriften des konservativen Lagers (Österreichische Monatshefte, Die Furche) beteiligten, während die Auseinandersetzung an den Sozialisten ziemlich vorbeilief. Der einzige Beitrag in der Zukunft, der 1948 zur Todesstrafe Stellung bezieht, ist ein Artikel von Fritz Kurz, der allerdings eher die politischen Todesurteile in den Volksdemokratien, den Militärdiktaturen und in Österreich zum Inhalt hatte. Zur Todesstrafe im ordentlichen Verfahren heißt es nur lakonisch  : »Zugegeben, daß der schimpfliche Galgentod eine gerechte Strafe für die schauerlichen Raubmorde ist, die in Nachahmung der Gepflogenheiten unserer unbekannten Befreier von Unmenschen begangen werden, denen ein Menschenleben nicht mehr als ein Taschengeld oder ein wackliges Fahrrad wert ist  ; zugegeben auch, daß der Schutz der Republik es erfordert, politische Betätigungen, die den neuerlichen Sturz der Demokratie zum Ziele haben, mit dem Tode zu bestrafen.«30

Ganz heftig verlief die Diskussion jedoch in der Furche. Sie wurde von Univ.-Prof. Dr. Ferdinand Kadečka eröffnet, der die Ansicht vertrat, daß »die Meinung, daß die Todesstrafe eine absolute Forderung der Gerechtigkeit sei, obwohl sie unter anderem von Kant und Hegel vertreten wird, nichts anderes als ein atavistischer Rückstand des uralten starren Vergeltungsgedankens«31 sei. Er bestritt auch jede abschreckende Wirkung dieser Strafe und führte Statistiken aus jenen Ländern ins Treffen, die die Todesstrafe bereits abgeschafft hatten, ohne daß eine Zunahme der früher mit dem Tode bedrohten Verbrechen festzustellen war. Ihm widersprach drei Wochen später 28 29 30 31

Siehe etwa  : Welt am Abend, 21. Mai 1947. Weltpresse, 23. Februar 1948. Fritz Kurz, Im Schatten der Galgen, in  : Die Zukunft, März 1948, 87. Ferdinand Kadečka, Um die Abschaffung der Todesstrafe, in  : Die Furche, 20. März 1948.

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ganz vehement ein Praktiker, Oberlandesgerichtsrat Dr. Gustav Camillo Chamrath, der zu dieser Frage ausführte  : »Es ist anläßlich der Enquete des Justizministeriums von den meisten befragten sachverständigen Autoritäten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Vertretern der Berufsverbände der Standpunkt eingenommen worden, die Todesstrafe sei grundsätzlich zwar abzulehnen, mit Rücksicht auf die besonders schwere Kriminalität der Gegenwart zeitlich begrenzt jedoch beizubehalten. Im wesentlichen haben sich hiefür auch die politischen Parteien ausgesprochen. Bei der auffallenden Zunahme der Mordverbrechen sieht man eben keinen anderen Ausweg, die ansteigende Kurve wieder zum Absinken zu bringen. Mit einem Wort, der Abschreckungszweck der Strafe im allgemeinen, insbesondere der Todesstrafe, gibt für diese Erwägungen den Ausschlag.«32

Auch er bringt Zahlen und versucht, an Hand einer Statistik aus Sachsen zu belegen, wie sehr die Vollstreckung von Todesurteilen die Zahl der Schwerverbrechen senken konnte. Das führt ihn zur folgenden Ansicht  : »Im übrigen darf man sich keiner Täuschung hingeben. Die Androhung der Todesstrafe allein wird selten den Abschreckungszweck erfüllen. Auf den Vollzug dieser Strafe kommt es an. Wenn wir der Statistik entnehmen, daß in den letzten Jahren in Österreich von 23 zum Tode verurteilten Mördern 18 vom Staatsoberhaupt zu Freiheitsstrafen begnadigt wurden, so kann der Möglichkeit und der Tatsache eines Todesurteils in einem solchen Staate nicht mehr eine besonders abschreckende Wirkung beigemessen werden, denn jeder Mörder wird nicht mit Unrecht darauf rechnen, daß die prozentuelle Wahrscheinlichkeit für seine Begnadigung spricht. Genauso wie ein Erzieher, der seinem Zögling eine strenge Strafe wiederholt androht und sie fast nie verwirklicht, schließlich von diesem kaum mehr ernstgenommen und letzten Endes vielleicht sogar verlacht wird.«33

Ein weiteres Argument, das er für die Todesstrafe ins Treffen führte, ist der Schutz der Polizei- und Gendarmeriebeamten. »Glaubt man wirklich, von den mutigen, braven Männern des öffentlichen Sicherheitsdienstes Pflichterfüllung bis zum letzten und Aufopferung weiterhin verlangen zu können, ohne 32 Gustav Camillo Chamrath, Das umstrittene Problem  : Todesstrafe oder nicht  ?, in  : Die Furche, 10. April 1948. 33 Ebd.

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ihnen und ihren Angehörigen durch Androhung und Verhängung der strengsten Strafe einige Sicherheit zu geben, daß sie von der Verbrecherwelt nicht als Freiwild betrachtet werden.«34

Dennoch kommt Chamrath schließlich zur Kompromißauffassung, daß man den Versuch wagen könnte, die Todesstrafe zwar auszusprechen, aber sie automatisch in eine lebenslange schwere Kerkerstrafe umzuwandeln, bei der eine weitere Begnadigung durch ein eigenes Verfassungsgesetz ausgeschaltet werden sollte. Damit wäre »die Sicherung der menschlichen Gesellschaft vor dem Verbrecher erreicht«.35 Doch gerade dieses Argument war eine Woche vor dem Erscheinen dieses Artikels Gegenstand eines breit angelegten Leserbriefes an den Herausgeber der Furche, der die Furcht vor Ausbrüchen dieser Schwerverbrecher artikulierte.36 An die Seite der scharfen Gegner der Todesstrafe trat schließlich noch der Psychologe und Soziologe Adolf Albrecht Friedländer, der für die Ersetzung der Todesstrafe durch Anhaltung zu werteschaffender Arbeit eintrat. »Österreich, das als erstes Land die Segnungen Hitlerscher Weltanschauung erfahren hat und dem größte Blutopfer auferlegt worden waren, sollte beispielgebend wie so oft in kultureller Beziehung wirken und in der weithin verpesteten Welt die verdunkelte, vielfach vergessene Lehre aufs neue erstrahlen lassen, gemäß dem Gesetz  : ›Du sollst nicht töten  !‹«37

Wenn man aus den publizierten Stellungnahmen auch fast den Eindruck erhalten könnte, daß Anhänger und Gegner der Todesstrafe sich annähernd die Waage hielten, so mußte die Redaktion der Furche dennoch eingestehen, daß unter der Fülle der Zuschriften, die zu dieser Frage eingegangen waren, die Stimmen für die Beibehaltung der Todesstrafe bei weitem überwogen. In den Österreichischen Monatsheften, dem theoretischen Organ der Österreichischen Volkspartei, wurde eine ähnliche Diskussion in den Monaten April bis Juni 1948 geführt. Den Auftakt machte ein strikter Gegner der Todesstrafe, Dr. Josef A. Tzöbl. Der Herausgeber der Monatshefte sah sich immerhin veranlaßt, seinem Artikel folgende redaktionelle Vorbemerkung voranzustellen  :

34 Ebd. 35 Ebd. 36 Alma Motzko, Die Todesstrafe als Genugtuung, Brief an den Herausgeber der Furche, in  : Die Furche, 3. April 1948. 37 Adolf Albert Friedländer, Todesstrafe  ?, in  : Die Furche, 27. März 1948.

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»Der Verfasser des vorliegenden Artikels, der vor 1938 bereits als entschiedener Gegner der Todesstrafe aufgetreten ist, wendet sich auch gegen die vorübergehende Beibehaltung der Todesstrafe. Er vertritt damit nur seine eigene Auffassung. Ihre Wiedergabe erfolgt, ohne daß damit der Stellungnahme der ÖVP irgendwie vorgegriffen werden soll.«38

Tzöbl bestritt vor allem die abschreckende Wirkung der Todesstrafe, da kein Verbrecher damit rechnet, daß seine Tat entdeckt werden könnte und vor allem keinem bei der Tat die Strafe gegenwärtig sei. »Die Quellen für das Steigen und Fallen der Kriminalität sind eben soziologischer Natur, nicht kriminalistischer.«39 In die gleiche Kerbe schlug in der nächsten Nummer der Zeitschrift Abg. Dr. Nadine Paunovic, die vor allem auch moralische Überlegungen in die Diskussion warf. In ihrer Argumentation schwingen allerdings bereits Elemente mit, die in späteren Jahren immer wieder auftauchten, dann allerdings gegen die Humanisierung und Liberalisierung des Strafvollzugs verwendet wurden. Sie spricht vom gesunden Kern im Volk, der gegen die Weichheit und Sentimentalität dem Verbrecher gegenüber eingestellt ist, und führt dann aus  : »Nie oder fast nie wird ein Mensch als Verbrecher geboren. Die moderne Justiz sollte sich daher zuerst fragen, wo die dunklen Ouellen sind, aus denen die Menschen trinken, ehe sie Verbrecher werden. Ist es nicht so, daß die Gesellschaft viel Schuld trägt durch die vollständige Säkularisierung des öffentlichen Lebens, daß sie unter dem Vorwand einer falsch verstandenen Freiheit moralische Morde geschehen läßt, sie sogar unterstützt, und daß sie dann heuchlerisch hergeht und ihre eigenen Kinder henkt  ? Wenn der Staat auf Sauberkeit nicht sieht, wenn er ein schrankenloses Dirnentum sogar sanktioniert, wenn er plötzlich milde gestimmt wird, sobald es sich um die Tötung werdenden Lebens handelt, wenn er Kindermißhandlung, Trunksucht verhältnismäßig milde beurteilt, dann darf er nicht auf der anderen Seite eine Gerechtigkeit in die Tat umsetzen, die sich von dem Grundsatz  : Auge um Auge, Zahn um Zahn herleitet.«40

Schließlich meldete sich nochmals Oberlandesgerichtsrat Dr. Chamrath zu Wort, der sich bereits an der Diskussion in der Furche beteiligt hatte, wiederholte seine Argumente und meinte, daß 38 Österreichische Monatshefte, April 1948, 316. 39 Josef A. Tzöbl, Die Todesstrafe – kriminologisch wertlos, in  : Österreichische Monatshefte, April 1948, 318. 40 Nadine Paunovic, Betrachtungen über die Todesstrafe, in  : Österreichische Monatshefte, Mai 1948, 366.

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»die tatsächlich sehr weitgehend abschreckenden Wirkungen der Todesstrafe den Fachleuten und Hochschulprofessoren mitunter verschlossen bleiben, während sie jedem Polizeibeamten, jedem Untersuchungsrichter seit jeher eine Selbstverständlichkeit sind. Irgendwelche Zahlen von Statistiken sind hier nicht zu gebrauchen  ; denn niemals kann statistisch nachgewiesen werden, wie viele Morde aus Angst vor der Todesstrafe nicht begangen wurden. Die Häufigkeit von Morden hängt selbstverständlich auch von den gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und dem sittlichen Niveau der Bevölkerung ab, und man kann bei einiger Erfahrung in der Strafrechtspflege mit gutem Grund sagen, daß die Häufigkeit der Mordverbrechen trotz ihrer ohnedies schon hohen Zahl zweifellos noch größer wäre, wenn wir heute die Todesstrafe nicht hätten. Dies leugnen zu wollen kann – wie ich mir anläßlich der Urteilsbegründung im Raubmordprozeß Barta, den ich als Vorsitzender zu führen das Mißvergnügen hatte, zu sagen erlaubte – vom Strafrechtspraktiker höchstens als wissenschaftliches Geplauder vereinzelter lebensfremder Theoretiker und Gelehrter empfunden werden«.41

Als beste Lösung schlug Chamrath eine Volksabstimmung über diese Frage vor, denn »das Volk denkt viel gesünder, einfacher und naturhafter, als seine Vertreter oft glauben wollen. Und wenn eine Volksabstimmung nicht durch einseitige und demagogische Propaganda weitgehend beeinflußt und damit ihr Ergebnis gefälscht wird, kann der Ausgang einer solchen Volksbefragung wohl nicht zweifelhaft sein«.42 Soziologische Untersuchungen der jüngsten Vergangenheit43 können leider Chamraths Optimismus voll bestätigen. Als sich also im Mai 1948 der Nationalrat erneut mit der Frage der Verlängerung der Bestimmungen zur Todesstrafe im ordentlichen Verfahren befassen mußte, hatten die Enquete des Justizministeriums und die Diskussion in der Presse die Basis für eine fundiertere Auseinandersetzung mit dieser Frage als in den Jahren zuvor geschaffen. Berichterstatter Dr. Tschadek legte Zahlen vor, daß sich allein in der Zeit vom 1. Juli 1947 bis zum 1. März 1948 in Österreich 172 Mordfälle zugetragen hätten. »Die Todesstrafe ist daher zur Zeit als Abschreckungsmittel unentbehrlich, und die Bevölkerung würde es in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht verstehen, wenn sie des Schutzes dieser Strafandrohung beraubt würde. Dazu kommt noch, daß die Zeit noch nicht reif ist,

41 Gustav Camillo Chamrath, Und noch einmal die Todesstrafe, in  : Österreichische Monatshefte, Juni 1948, 410. 42 Ebd., 412. 43 Vergangenheitsbewältigung. Unveröffentlichter Bericht über ein Forschungsprojekt, durchgeführt am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, Universität Linz, 1978.

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um die Todesstrafe aus den Sondergesetzen des politischen Verfahrens zu beseitigen. Noch braucht die junge Demokratie einen starken Schutz gegen alle Elemente, die den Staat unterhöhlen, die Verfassung gewaltsam beseitigen und die demokratischen Freiheitsrechte des Volkes vernichten wollen.«44

Ernst Fischer, als erster Diskussionsredner, erinnerte an die Einführung der Todesstrafe im Jahre 1933. Während Tschadek die Meinung vertreten hatte, die Todesstrafe ließe sich nur generell (also auch in der Sondergerichtsbarkeit) oder überhaupt nicht abschaffen, zog Fischer eine klare Trennlinie zwischen dem Kriegsverbrecher, der durch seine Verbrechen ein neues System konstituieren wollte, und dem pathologischen oder aus der Bahn geworfenen Einzeltäter. Er kündigte an, seine Fraktion werde gegen die Verlängerung der Todesstrafe stimmen, weil Kommunisten zwar das Prinzip der Sühne akzeptieren, nicht aber das der Strafe. Gabriele Proft meldete für die sozialistische Fraktion ihre Bedenken gegen eine Verlängerung an. Sie stellte die Frage  : »Ist die Todesstrafe ein Heilmittel gegen alle diese furchtbaren Verbrechen gewesen, die in den letzten Jahren begangen worden sind und immer wieder begangen werden  ? Nein  ! Das kann man nicht behaupten. Im Gegenteil  ! Der Bericht des Justizausschusses sagt ja selbst, es häufen sich die Verbrechen, daher sei die Verlängerung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren notwendig. Wenn es überhaupt eines Beweises bedürfte, daß der Zweck dieses Gesetzes, das wir seit 1946 zweimal beschlossen haben und jetzt ein drittes Mal beschließen sollen, nicht erreicht worden ist, dann geht das aus dem Bericht des Justizausschusses selbst hervor. Obwohl die Todesstrafe besteht, haben die Kapitalverbrechen nicht nur nicht aufgehört, sondern – der Bericht sagt es selbst, und das wird wohl richtig sein – die Mordfälle, die Kapitalverbrechen häufen sich, ihre Zahl steigt weiter an.«45

Trotz heftigster Bedenken konnte sich die sozialistische Fraktion aber nicht zu einer Ablehnung der Verlängerung entschließen, sondern sie gab, wie Proft ausführte, ihren Abgeordneten die Abstimmung frei. Konsequent für eine Verlängerung der Zulassung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren sprach sich sodann Dr. Scheff von der ÖVP aus. Das Abstimmungsergebnis brachte die notwendige Zweidrittelmehrheit von 102 gegen 29 Stimmen. Anscheinend hatten viele Sozialisten vor der Abstimmung den 44 Sten.-Prot., V.G.P., 81. Stzg., 12. Mai 1948, 2268. 45 Ebd., 2272.

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Saal verlassen. Bei denen, die sich an der Abstimmung beteiligten, scheinen die Gegner der Verlängerung knapp in der Überzahl gewesen zu sein. Da das Gesetz in seiner Gültigkeit auf zwei Jahre begrenzt war, mußte die Frage im Frühjahr 1950 erneut diskutiert werden. Dr. Tschadek, nunmehr Justizminister, brachte am 29. März für die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf zur neuerlichen Verlängerung der Todesstrafe ein. Er verwies darauf, daß sich die Verhältnisse wenig geändert hätten. Im Sprengel des Oberlandesgerichtes Wien hätten sich 1949 149 Straffälle ereignet, die nach dem Stand der Gesetzgebung dieser Zeit mit der Todesstrafe bedroht waren, im Sprengel des Oberlandesgerichtes Graz 51, im Sprengel des Oberlandesgerichtes Linz 39 und im Sprengel des Oberlandesgerichtes Innsbruck 31. Daraus schloß Tschadek  : »Wer nicht selbst zur Bejahung des menschlichen Lebensrechts zurückkehrt, muß durch Strafandrohungen, die geeignet sind, wirkliche Furcht zu erzeugen, von der Begehung krimineller Handlungen abgehalten werden.«46 Noch ehe im Mai die Beratung und Abstimmung über die Vorlage erfolgte, meldete sich Tschadek auch in der Zukunft zu Wort. Er wiederholte seine Argumente aus dem Parlament und berichtete von einem konkreten Fall  : »Für die Wirksamkeit der Todesstrafe als Abschreckungsmittel spricht die erwiesene Tatsache, daß in einem Mordfall die Ausübung der Tat einem Jugendlichen übertragen wurde, weil man wußte, daß dieser im Falle der Aufdeckung nicht zum Tode verurteilt werden kann. Die strafmündigen Täter haben also aus Furcht vor der Todesstrafe darauf verzichtet, an das Opfer Hand anzulegen.«47

Vom Standpunkt der Generalprävention könne in Zeiten schwerer Kriminalität auf die Todesstrafe nicht verzichtet werden, die zudem aus moralischen Gründen nur in allen Fällen, also auch der Ausnahmegesetzgebung, abgelehnt werden könnte. Ganz vehement gegen Tschadeks Ansichten griff Johann Wolfgang Brügel in die Diskussion ein. Die Zukunft konnte aber aus drucktechnischen Gründen seinen Beitrag erst in der Juni-Nummer 1950 bringen, als die Entscheidung im Nationalrat bereits gefallen war. Brügel führte aus  : »Unter Sozialisten kann es wohl kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber geben, daß die Wurzel der meisten Verbrechen, nicht nur der in Bereicherungsabsicht ausgeführten, in den sozialen Verhältnissen zu suchen ist und daß die wirksamste Verbrechensvorbeugung in einer großzügigen Sozialpolitik, in einer gerechteren Aufteilung des Volkseinkommens, 46 Sten.-Prot., VI. G.P., 22. Stzg., 29. März 1950, 785. 47 Otto Tschadek, Die Todesstrafe, in  : Die Zukunft, April 1950, 91.

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in einer Verbesserung der Wohnungsverhältnisse und in allen den anderen Programmpunkten der sozialistischen Bewegung liegt. Hier ist eine stärkere Garantie dafür, daß Schäden verhütet werden, als sie die Todesstrafe zu geben vermöchte – wenn sie es überhaupt vermöchte.«48

Am 24. Mai 1950 fand im Nationalrat die entscheidende Sitzung in dieser Frage statt. Dr. Häuslmayer faßte als Berichterstatter des Justizausschusses nochmals die Argumente zusammen, die für eine Verlängerung der Geltungsdauer der Vorschriften über die Anwendung der Todesstrafe sprachen. Als erster ergriff Abg. Scharf von den Linkssozialisten das Wort. In einer von heftigen Zwischenrufen unterbrochenen Rede führte er aus, daß es in der Geschichte immer die fortschrittlichen Kräfte waren, die gegen die Todesstrafe eingetreten waren, von Joseph II. über das fortschrittliche Bürgertum von 1848 bis zur Arbeiterbewegung  : »Heute sind es die Vertreter des Linksblocks, die Linkssozialisten und Kommunisten, die sich den Glauben an das Gute im Menschen bewahrt haben (Heiterkeit und anhaltende Zwischenrufe – der Präsident gibt neuerlich das Glockenzeichen), die von der Überzeugung ausgehen, daß der Fortschritt der Geschichte ein Fortschritt zu größerer Humanität sein muß. In diesem Sinne werden die Vertreter des Linksblocks gegen die Verlängerung der Todesstrafe stimmen. (Lebhafte Zwischenrufe.)«49

Für die Sozialisten war es wieder Gabriele Proft, die ihre Bedenken gegen die Todesstrafe vorbrachte und mit den Worten schloß  : »Hohes Haus  ! Wenn die Abstimmung über dieses Gesetz ergibt, daß die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren nicht weiter beibehalten wird, dann wird uns die Nachwelt dies ganz bestimmt als eine Kulturtat anrechnen, und sie wird es uns danken. (Lebhafter Beifall bei den Sozialisten.)«50 Scharf gegen die Todesstrafe trat auch Dr. Herbert Kraus vom Klub der Unabhängigen auf, der die Ansicht vertrat, auch gegen die Meinung eines großen Teiles der Bevölkerung müßten solche Änderungen möglich sein, die mehr Humanität bringen. Abg. Dr. Bock entgegnete hierauf scharf, daß er den Klub der Unabhängigen nicht für berechtigt halte, »sich hier für Humanität und Menschlichkeit auszusprechen«,51 was zu Tumulten und zum Auszug der Abgeordneten des Klubs der Unabhängigen führte. Scharfe Zwischenrufe erntete er auch bei seiner Auseinandersetzung mit den 48 49 50 51

Johann Wolfgang Brügel, Um die Todesstrafe, in  : Die Zukunft, Juni 1950, 166. Sten.-Prot., V.G.P., 25. Stzg., 24. Mai 1950, 885 f. Ebd., 888. Ebd., 889.

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Kommunisten. Bock trat für eine geheime Abstimmung nach dem Gewissen der Abgeordneten ein. Dem Präsidium lag ein Antrag von Ing. Raab und Dr. Pittermann auf geheime Abstimmung vor, der einstimmig angenommen wurde. Die Abstimmung brachte folgendes Ergebnis  : »Abgegeben wurden 150 Stimmen. Es ist also die für die Beschlußfassung über ein Verfassungsgesetz erforderliche Anwesenheitszahl gegeben. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit beträgt 100 Stimmen. Von den abgegebenen Stimmen lauten auf Ja 64, auf Nein 86. Damit ist der Antrag des Justizausschusses gefallen. (Lebhafter Beifall.)«52

Damit war ein wesentlicher Schritt nicht nur der Rechtsgeschichte in der Zweiten Republik gesetzt worden, wenn auch das Abstimmungsergebnis konsequente Gegner der Todesstrafe kaum wirklich befriedigen kann. Zudem bestand die Todesstrafe in der Ausnahmegesetzgebung ja noch weiter, obwohl ab 1950 in Österreich in keinem Verfahren mehr ein Todesurteil ausgesprochen wurde.

Die Wiedereinführung der Geschworenengerichtsbarkeit53 Der Gedanke der Rechtsprechung durch das Volk ist alt und in den meisten Staaten anzutreffen. Sie tritt vor allem in zwei Formen auf, als Geschworenen- oder als Schöffengerichtsbarkeit. »Während die Schöffengerichtsbarkeit erst 1920 in Österreich Eingang fand, ist die Geschworenengerichtsbarkeit vorerst in den Jahren 1848/49 für Pressedelikte, dann 1850 vorübergehend für schwere politische Verbrechen und 1873 für Jahrzehnte durch die geltende Strafprozeßordnung in Österreich eingeführt worden.«54

Erst die Bundesverfassung von 1920 brachte daneben die zweite Form der Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung, nämlich die Schöffen.

52 Ebd., 891. 53 Da es sich bei diesem Referat eher um eine historische Analyse handelt, wird bewußt auf den in der Rechtssprache üblichen Terminus »Geschworne« zugunsten des landläufigen Begriffs »Geschworene« verzichtet. 54 Otto Tschadek, Die Wiedereinführung der Geschworenengerichtsbarkeit in Österreich, in  : Die Zukunft, Oktober/November 1950, 291.

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»Während beim Schöffengericht zwei Berufs- und zwei Laienrichter gemeinsam über Schuld und Strafe entschieden, waren die Aufgaben der Berufsrichter und Geschworenen […] streng voneinander getrennt. Die Geschworenen selbst hatten vor allem über die Schuld, der aus drei Berufsrichtern bestehende Schwurgerichtshof im Fall eines auf schuldig lautenden Verdikts der Geschworenen allein über die Strafe zu entscheiden.«55

Für die politischen Verbrechen und schweren Kriminalfälle blieben jedoch die Geschworenen zuständig. Manche Urteile der Geschworenengerichte waren auf heftige Kritik gestoßen, eines hatte 1927 sogar die österreichische Innenpolitik wesentlich beeinflußt. Nicht zuletzt deshalb wurden diese Gerichte 1933/34 wesentlich eingeschränkt, um im Ständestaat vollständig der Schöffengerichtsbarkeit zu weichen. Nach 1945 ging es nun darum, einerseits dieses Erbe der austrofaschistischen Epoche zu beseitigen, andererseits aber die Geschworenengerichtsbarkeit der Zweiten Republik von den Schwächen ihrer Vorläufer zu befreien.56 Daher war man nicht in der Lage, mit der Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustandes von 1929 auch die Geschworenengerichte sofort wieder einzuführen. Gemeinsam mit den Verlängerungen der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren mußte der Nationalrat also auch stets die Verlängerung des Schwurgerichtsverfahrens behandeln. Die letzte Verlängerung lief am 31. Dezember 1950 aus, seit 1. Jänner 1951 ist ein neues Geschworenengesetz in Kraft. Dieses Gesetz legt den Geschworenen die Pflicht auf, im Falle eines Schuldspruchs gemeinsam mit den Berufsrichtern über die Strafe zu beraten und abzustimmen. Das hat vor allem den Sinn, unmotivierte Freisprüche, die oft dadurch entstanden waren, weil die Geschworenen eine zu strenge Bestrafung durch die Berufsrichter befürchteten, zu verhindern. Mit der Wiedereinführung der Geschworenengerichte war ein weiterer wichtiger Schritt zur Wiederherstellung demokratischer rechtsstaatlicher Strukturen gesetzt. Dennoch war es bis zur Herstellung eines echten Rechtsstaates noch weit, nicht zuletzt deshalb, da die Anwesenheit der Besatzungsmächte es nicht erlaubte, wirklich die Unabhängigkeit der Rechtsprechung von fremden Einflüssen zu garantieren. Aber selbst 1955 stellte keinen Endpunkt in der Entwicklung dar, da einzelne Elemente, wie etwa die Möglichkeit der Todesstrafe in Ausnahmeverfahren, noch lange nicht beseitigt wurden. 1968 und die große Strafrechtsreform der siebziger Jahre bildeten weitere Etappen auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat.

55 Serini, Entwicklung, 125. 56 Siehe etwa  : Sten.-Prot., V.G.P., 53. Stzg., 21. Mai 1947, 1465.

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Zitiert nach  : Helmut Konrad, Zurück zum Rechtsstaat (Am Beispiel des Strafrechts), in  : Bundesministerium für Justiz/Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), 25 Jahre Staatsvertrag. Proto­ kolle des wissenschaftlichen Symposions »Justiz und Zeitgeschichte«, 24. und 25. Oktober 1980  : Die österreichische Justiz – die Justiz in Österreich 1933 bis 1955 (= 25 Jahre Staatsvertrag), Wien 1981, 67–78 (Österreichischer Bundesverlag).

Drafting the Peace (2014)*1

Introduction In 1918, as the First World War, generally considered the Ur-catastrophe of the twentieth century, was drawing to a close and its outcome was no longer in doubt, the creation of a new order for Europe, indeed for the world, became the central issue of the day, especially for the victorious powers. Peace treaties needed to be established that, on the one hand, would satisfy the war aims of the victors, but that, on the other, would also guarantee a long-lasting peace and prevent further wars, especially those of the magnitude of the war of 1914 to 1918. A full century earlier, the Napoleonic Wars, stemming from the French Revolution, had forced a new order upon Europe, which was formalised at the Congress of Vienna. Of course, the circumstances at that time were clearly different. First of all, it really was just a question of Europe. Secondly, the losers sat as equals at the negotiating table. And, thirdly, a “top-down” decision could be made, a pact between leaders  ; for neither political parties nor parliaments, let alone “the people”, were major participants. Nationalism was still in its infancy, and the social question was not yet a vital political concern. Information could not yet travel easily and rapidly, and spatial and social mobility were still minimal. Thus, it was possible to spread a kind of net over the entire continent that kept conflict in check and that for decades limited the interests that had to be balanced to those of the dominant groups. The balance of power between the ruling houses, the reconciliation of interests within the aristocracy between St. Petersburg and Paris, and between Berlin and Istanbul was soon challenged by the phenomena accompanying industrialisation, especially mobility, the decline in illiteracy, new forms of communication and nationalism. But the measures taken in Vienna to promote the restoration of the Ancien Régime withstood the pressures of the new age for an astonishingly long time. The pre-modern structures endured, at least on the surface, while underneath a social transformation was completing its course, as became stunningly evident in the revolutions of 1848. If 1815 witnessed the restoration of the old order, at the end of the First World War an entirely new order had emerged. In the course of a century, changes had taken *

Harvey Mendelsohn translated this chapter from German into English.

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place that were so dramatic that the preconditions for arranging a peace settlement were scarcely comparable to those existing 100 years earlier. Most of these changes were linked with the contradictory project of modernity. Science had made great strides in many areas of life. Weights and measures were standardised, and new systems of rules were developed in various domains. The first metropolises strikingly displayed the new types of mobility. Medicine and technology were the guiding disciplines  ; the world seemed to be subject to calculation, and nature itself seemed to be becoming more subject to human control. The tempo of these changes awakened great hopes for the future, but also anxiety and uncertainty. The feeling of belonging and (pseudo-) scientifically based fantasies of superiority offered protection and security in the form of definitions of “us” and “others”. While questions of belonging had long been settled in terms of religion or of who ruled the territory one lived in, the power of definition was now assumed by language. One was no longer a “Bohemian”, but a Czech or a German, no longer a “Carinthian”, but a German or a Slovene, depending on one’s so-called “mother tongue”, that is to say, the language preferred for use in everyday communication. Europe was the centre and motor of this ambivalent development, and the decades before 1914 can rightly be called a European era. The world was becoming smaller at an accelerating rate, as men, goods, capital, services and, above all, information, circulated ever-more quickly, and politically, economically and culturally most of the globe was ruled or at least dominated by Europe. The First World War fundamentally altered this situation. It laid bare the darker aspects of modernisation, its accompanying depersonalisation, and the destructive potential of its new technologies, which threatened not only people’s physical existence, but also their psychological balance. And in the thunder of combat (or in the fog of the gas fumes), it burst asunder the dominant role of the Old Continent. The broken pieces it left in its wake had to be reassembled into a new order. It was abundantly clear, moreover, that this task would not be limited to Europe. The war had become a world war, which, on the one hand, brought troops from all over the world to the European theatres of operations, and, on the other, was literally fought on other continents, as well. Accordingly, more than Europe was at stake  : it was essential to create some form of order throughout the entire world. The nature of the war, which had involved the entire population of the combatant countries, and the fact that, ultimately, its outcome was decided at least as much on the home fronts as on the battlefields gave rise to new representations of the enemy that were widely disseminated by the new media. Thus, it was no longer only territorial claims and issues of power that were at stake  ; the situation was seen in terms of good and evil, of black and white. Many saw the war in an ideological perspective and thought

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it should result in the defeat of the evil side, whose challenge to the good and whose overweening and unjustified aspirations to power had unleashed the war and which thus now had to bear sole responsibility for the war. This is also the deeper cause of the notion of war guilt, which was formulated for the first time in history at Versailles, and although it pertained chiefly to Germany, it extended to all of its allies, as well. The defeated countries, Germany above all, were shocked and appalled by the victors’ contention “that Germany, on account of its ‘aggression’ in the year 1914, was guilty of a crime and was solely responsible for the [resulting] unparalleled mass deaths and immense destruction”.1 Such language was not included even in the Treaty of Brest-Litovsk, which the Russians were constrained to sign. Although the harshness of its basic elements was not surpassed in any of the subsequent treaties, in negotiating Brest-Litovsk the victors and the vanquished at least sat together at one table, and the proceedings included no moral assessment of the war or of the warring parties. Thus, at Paris new norms were in fact introduced  : exclusion of the defeated countries from the discussions and a moral condemnation of the defeated states and their political system, without, moreover, any recognition of the structural transformations which had begun in the autumn of 1918.

The Treaty of Brest-Litovsk Beginning in December 1917, an armistice had been in effect along the battle line known (from the German perspective) as the “Eastern Front”. Romania had already signed it on 9 December, and Russia followed suit on 15 December. The peace negotiations of Brest-Litovsk began on 22 December, and at the request of the Russians they were held in public. “The representatives of the new Russia thereby were able to exploit the conference table to make revolutionary propaganda.”2 Germany, on the other hand, spoke of the right of self-determination for Poland, Lithuania and Courland (Latvia), as well as of an independent Ukraine, which it saw as a source of raw materials for the German munitions industry and, above all, as a source of grain for the starving population of the Habsburg monarchy. Russia insisted on a peace 1

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Gerd Krumeich, Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg  : Eine Einführung, in  : Gerd Krumeich, ed., Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte  : N. F. 24), Essen 2010, 11. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens  : Die Zeit der Weltkriege 1914–1945, Munich 2011, 72.

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without annexation or monetary payments, while the Central Powers called for voluntary separation of the repressed peoples. On 28 December, the two sides agreed on a ten-day pause in the proceedings. By the time they reconvened on 8 January 1918, the internal political situation had changed, especially in Vienna. A revolutionary mood had gripped Austria-Hungary, and a few days later Vienna was crippled by strikes. On 18 January, the strike affected Budapest, too, and ten days later half a million people stopped working in the German Empire, as well. In the Habsburg monarchy, a total of 700,000 workers were on strike. In its naval port, Cattaro (Kotor), the 6,000 sailors there raised red flags and disarmed their officers.3 The flames of revolution seemed truly to be spreading to the main power bases of the Central Powers, and thus at Brest-Litovsk Trotsky played for time. After their defeat in the election for a constitutional convention, the Bolsheviks bloodily suppressed democratic demands and transferred power to the councils (soviets) on “19 January 1918, marking no more and no less than a definitive break between the Bolsheviks and the democratic majority of the European workers’ movement”.4 But Trotsky’s tactic of drawing out the peace proceedings in order to strengthen the Central European revolutions was frustrated by Lenin’s conviction that, whatever the cost, peace had to be established in order to secure the Bolsheviks’ hold on power within Russia. On 10 February, Trotsky broke off the negotiations in Brest-Litovsk. The Germans responded on 16 February with a forty-eight-hour ultimatum and on 18 February resumed fighting, but there was no functioning Russian army to oppose them. Finally, in the face of the existential threat to the Soviets’ only recently established domination, Lenin was able to impose his decision to accept Germany’s peace conditions. But the latter had hardened in the meantime. Now the Russians not only had to give up the entire Baltic region and Finland, but also had to recognise the independence of the Ukraine, with which Germany had signed a separate peace on 10 February and whose mineral wealth and agricultural output would now be available to the Central Powers. The Bolsheviks gave in to the pressure and on 3 March 1918 signed the peace treaty. “It was a brutal Diktat.”5 Russia lost about one-quarter of its European territory, 73 per cent of its iron industry and coal mines, one-quarter of its railroad network6 and 3

4 5 6

Richard G. Plaschka, Cattaro-Prag  : Revolte und Revolution  : Kriegsmarine und Heer im Feuer der Aufstandsbewegungen vom 1. Februar und 28. Oktober 1918 (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Ost 3), Graz et al. 1963. Winkler, Geschichte, 74. Winkler, Geschichte, 77. Wolfdieter Bihl, Österreich-Ungarn und die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk (= Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 8), Vienna et al. 1970, 118.

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60 million people  ; about one-third of the total population of the Tsarist Empire henceforth lived outside of Russia. The Central Powers treated Romania just as ruthlessly. With the Peace of Bucharest on 7 May 1918, Romania had to relinquish Dobruja, which was divided between Bulgaria and the victors. Furthermore, the Central Powers obtained the right to exploit the oil fields and Romania had to sell its agricultural surplus to the victors. Three days after the signing, at their 7th party congress, the Bolsheviks approved the conditions of the peace treaty. But they did not obtain the pause they had hoped for in order to consolidate their power at home. On 9 March, British troops landed at Murmansk to give support to the Bolsheviks’ opponents. The ensuing bloody civil war and further interventions proved to be decisive in the following years. It is not entirely without justification that Heinrich August Winkler characterised the Bolshevik regime of terror as “to date the most radical counter-scheme to the normative project of the West”.7 Russian modernisation, although oriented towards the Western paradigm (for example, in the change of calendar), excluded the liberal, democratic developments in the West and took up where the French Revolution had left off in 1794.

The counter-model One of the men whose ideas shaped the peace settlement after the great bloodletting of the war years was without a doubt the US President, Woodrow Wilson. “Although he had campaigned in 1916 on a platform of keeping the country neutral, Wilson brought the United States into the war in April 1917. He was convinced that he was doing the right thing.”8 Above all, he was convinced that a lasting peace settlement could be established on the basis of the Fourteen Points he presented to both houses of the US Congress on 8 January 1918. Some of the points were clear and completely accepted among the Allies. This was especially true of Point 7  : “Belgium, the whole world will agree, must be evacuated and restored without any attempt to limit the sovereignty which she enjoys in common with all other free nations. No other single act will serve as this will serve to restore confidence among the nations in the laws which they have themselves set and determined for the government of their relations with one another. Without this healing act the whole structure and validity of international law is forever impaired.”9 7 8 9

Winkler, Geschichte, 82. Margaret MacMillan, Paris 1919  : Six Months that Changed the World, New York 2003, 4. Ibid., 496.

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Point 8, the return of Alsace-Lorraine to France, could also be seen as a common concern of the Allies. And the same is true of Point 14, the plan to work towards the creation of a “general association of nations” which would mutually guarantee “political independence and territorial integrity”.10 But Point 1, the renunciation of any form of secret diplomacy, was a naive dream. And Points 2 through to 4, which called for liberal, free-trade policies and a reduction in armaments, did not find favour in all quarters. The Africans and Asians who had risked their lives in the war to fight for democracy might have had problems with Point 5  : “A free, open-minded, and absolutely impartial adjustment of all colonial claims, based upon a strict observance of the principle that in determining all such questions of sovereignty, the interests of the populations concerned must have equal weight with the equitable claims of the government whose tide is to be determined.”11

Point 6 pertaining to Russia had to remain ambiguous due to the moment in time when it was proclaimed, namely a few weeks after the October Revolution. Points 9 through to 13, concerning the creation of new boundaries in Europe and the Near East, awakened many hopes but were based on totally false premises. What, in fact, were “clearly recognizable lines of nationality”  ? What was meant by the “freest opportunity of autonomous development”  ?12 To promise the Serbians access to the sea and, simultaneously, to promote “international guarantees of the political and economic independence and territorial integrity of the several Balkan states”13 was self-contradictory. In line with European thinking of the time, Wilson’s conception of a nation was based solely on linguistic considerations. He paid no heed to mobility within the multi-ethnic states, and other forms of identity such as religion were subordinated to language. Accordingly, there were no Jews, but also no “Bohemians” (with differing mother tongues). Language boundaries for him were definite, specifiable lines on the map. The fact that the right of self-determination ceased to apply when it came to the colonies and (understandably) to the soon-to-be defeated enemy powers weakened the proclamation’s moral force. Freedom of the seas, free trade, the economic and political dominance of the Allies – these were Wilson’s primary concerns. Rights were established at the level of 10 Ibid., 495. 11 Ibid., 496. 12 Ibid. 13 Ibid.

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states, not of individual people. In this regard, the legacy of 1815 can still be clearly seen. Nevertheless, it was precisely the lack of clarity in the Fourteen Points and the possibility of different ways of reading them, as well as the expression itself of “self-determination”, which exercised a huge fascination. Just who the “self ” was in that expression remained unclear. (In any case, it was not the individual person.) Nor was what “nation” meant defined. Hopes were thereby awakened that could not withstand the pressures of reality.

The war’s end The hopes of the Central Powers that the end of the war on two fronts was sure to bring quick successes on the Western Front were rapidly disappointed. Their offensive remained stalled. Likewise, Ukrainian grain never reached the capital of the Austro-Hungarian monarchy, and expectations of relief for the hungry were disappointed. The home front, scene of the sacrifices of an exhausted population, played as decisive a role as the military front in bringing about the end of the war. “Hunger as a weapon of war was etched more deeply in the memory of people in Germany in the winter of 1918–1919 than during the war years.”14 In 1918, the internal situation facing the Central Powers had become as decisive a factor in undermining their war effort as were events on the battlefield. Moreover, in Berlin and Vienna, as well as in the other large cities of these two allies, Wilson’s Fourteen Points were “very rightly interpreted as a call for a democratic revolution”.15 To be sure, in the minds of many the conception of a revolution went beyond a matter of gaining greater democracy. The Russian model was attractive, not least because the Soviets’ radical exit from the war had made possible the return of many war prisoners. Revolution and the end of war were thereby seen as closely connected. Austria’s efforts to make a separate peace in 1918 failed miserably. The so-called “Sixtus Affair”16 was ultimately a fiasco and yoked the Habsburg monarchy definitively to Imperial Germany until the war’s end. By the second half of the year 1918, the Central Powers could no longer think of achieving a “victorious peace”. Their chief concern was, therefore, to create the preconditions for an armistice and for the best possible terms at the peace settle14 Hew Strachan, Der Erste Weltkrieg  : Eine neue illustrierte Geschichte, Munich 2006, 394. 15 Winkler, Geschichte, 88. 16 Robert A. Kann, Die Sixtusaffäre und die geheimen Friedensverhandlungen Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg, Vienna 1966.

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ment. These were thought to lie in the overthrow of the old aristocratic order in the Habsburg monarchy, but also in granting greater autonomy to the various “nations” in the multi-ethnic state. The “Peoples’ Manifesto” (Völkermanifest)17 came much too late, however, and, above all, did not take into account the influence of the Czech exiles in the United States, an influence further strengthened by the existence of the Czech Legion in Russia. From the time of the establishment of the Czechoslovakian National Council in 1916, Tomáš Masaryk and Edvard Beneš aimed at an independent state of Bohemia, Moravia and Slovakia. By the middle of May 1918, such a state had already taken shape on paper in the Pittsburgh Agreement between the exile groups, with an autonomous administration foreseen for the Slovaks.18 The fact that Wilson had not yet made the destruction of the Habsburg monarchy a point of his programme was the result of tactical considerations, namely in order not to push Austria even closer to Germany. The influence of the Czech exiles in the United States on shaping the post-war order has, however, long been acknowledged. Moreover, what the Czechs and Slovaks had already actually achieved was not something that could be denied to the southern Slavs, whose interests, to be sure, clashed with those of the Italians, who had been induced to enter the war by the territorial rewards promised to them in the Treaty of London. The Ottoman Empire, whose collapse was likewise imminent as a result of the war, was the object of the often conflicting interests of the Allies, and the problems resulting from its break-up persisted throughout the twentieth century. Since by autumn of 1918, at the latest, the victory of the Allies was no longer in any doubt, their principal concern in the months around the end of the war was how to balance their respective interests, which, in fact, diverged dramatically. They agreed on the need to put an end to the “old” systems in Germany and Austria, which, in any case, were beginning to change in the last weeks of the war in response to internal pressures. In Germany, the Social Democrats and the bourgeois parties were united in thinking that democratisation would, on the one hand, lay the basis for milder peace conditions, and, on the other, deprive a potential Bolshevik revolution of mass support. In Austria, political changes came even earlier, and far-reaching concessions regarding the so-called “national question” were already announced. Massive political change in Germany, however, was decisively accelerated in the end by revolutionary actions, above all the sailors’ revolt in Kiel. Meanwhile, in Austria, without waiting for the 17 Helmut Rumpler, Die Sixtusaktion und das Völkermanifest Kaiser Karls  : Zur Strukturkrise des Habsburgerreiches 1917/18, in  : Karl Bosl, ed., Versailles – St. Germain – Trianon  : Umbruch in Europa vor fünfzig Jahren, Munich et al. 1971, 112–113. 18 Winkler, Geschichte, 90.

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war to end, the individual nationalities declared their separation from the state before the “Austrian Revolution”19 forced the transformation of the remainder state into a democratic republic – in this case, too, through popular unrest. All of this, however, came too late to make a difference. The interests of the victorious Allies were too clearly spelled out, and the outlines of the future disposition of power were too firmly settled in their minds, even though there were still major differences to be worked out. Their focus was not going to be on the establishment of an ideal post-war order, but rather on questions of power and influence. Wilson himself was primarily interested in creating a League of Nations, as well as setting up a cordon sanitaire, a ring of states to contain revolutionary Russia. On this latter point, he was supported by Britain, which, however, looked with suspicion on French efforts to weaken Germany’s position in Europe for the foreseeable future. Beyond this French effort to secure hegemony on the continent, there was also tension between the British and French concerning the colonies and the crumbling Ottoman Empire. Finally, Italy considered herself a victor and sought to exert dominance in the Adriatic, in disregard of the claims of the new southern Slav state, but supported by the Treaty of London. In sum, even before the peace negotiations began, the positions of the victorious powers were not harmoniously aligned  ; in fact, they were full of contradictions and potential conflicts.

Versailles “The peace treaties were the principal legacy of the war. The struggle over their acceptance was the main subject of post-war international politics and proved to be similarly decisive in the internal politics of the successor nations.”20 The war had been fought, as the French formulated it before the Armistice, “in order to achieve results”.21 Above all, “it was Belgium and France which had suffered. They wanted compensation for past injustice and security for the future.”22 The peace treaty should, on the one hand, put an end to military activity and, on the other, hinder wars in the future through the existence of a new world. But there was also the matter of compensation, which was put forward by those countries where the battles had actually 19 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Vienna 1923. It was this book, which first introduced the notion of revolution into the discussion of the fall of the Habsburg monarchy. 20 David Stevenson, 1914–1918  : Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf and Zurich 2006, 595. 21 Ibid. 22 Strachan, Erste Weltkrieg, 397.

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taken place. To this was added the human toll, both physical and psychological, the care of the dependents, and much more as well. The peace treaties thus had to establish new boundaries, forestall further wars through disarmament and the reduction in the size of standing armies, and deal with the material damages caused by the war. All this, it was decided, would come exclusively at the cost of the losers, and it could be done with all the more justification if it were possible to make an unambiguous judgement concerning the question of war guilt. The Paris Peace Conference began in January 1919 and lasted until January 1920, when it was succeeded by a permanent conference of the Allied ambassadors. “The Conference produced five peace treaties  : with Germany, in Versailles, on 29 June 1919  ; with Austria, in Saint-Germain-en-Laye, on 10 September  ; with Bulgaria, in Neuilly, on 27 November  ; with Hungary, at the Trianon, on 4 June 1920  ; and with Turkey, in Sèvres, on 10 August 1920.”23 The treaty with Germany was undoubtedly the most important  ; for it was not only the model for the others, but also anticipated their content (for example, forbidding Austrian incorporation into Germany – the Anschlussverbot). Overcoming Wilson’s objections, the victorious European powers were able to impose their own views of how the peace conference should be conducted. There were in fact “preliminary meetings which excluded the public, the less important among the participating countries, and the adversaries, on the grounds, in part, that their governments could not be considered legitimate. Instead, the basic substance of the peace proposals was to be determined by the High War Council (later called the ‘Council of Ten’), membership in which was limited to the Great Powers.”24 Nevertheless, the conference formally opened in proper form with a plenary session at which were seated the representatives of the governments of all thirty-two participating states, consisting of the Entente Cordiale, that is to say, Great Britain and France, the powers “associated” with them like the United States and Japan, “additional members of the British Empire”, i.e., Canada, Australia, New Zealand, South Africa and India, as well as the new states like Poland and Czechoslovakia, and, as a late-joining ally, Romania. Russia was not represented, despite great efforts to bring a non-revolutionary representative to the table. To be sure, the really important decisions were made by the Council of Four (the United States, Great Britain, France and Italy). The conflicts between the respective goals of the French and the Anglo-Saxons quickly became apparent. France pursued its intention to occupy the left bank of 23 Stevenson, 1914–1918, 596. 24 Klaus Schwabe, Das Ende des Ersten Weltkriegs, in  : Gerhard Hirschfeld et al., eds., Enzyklopädie Erster Weltkrieg, updated and enlarged edition, Paderborn 2004, 295.

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the Rhine and advocated a large Polish state, whereas Britain strove for a “balance of power”25 in order to prevent too great a French dominance on the continent. “Wilson was fully committed to an appropriate punishment of Germany (and made little distinction between the fallen imperial state and the new regime). He was, however, unwilling to compromise any more than was absolutely necessary concerning the principle of the self-determination of peoples that he had so vigorously proclaimed, and for this reason alone could not give in to French pressure.”26 Thus, the ­conflicts among the four main personalities (Wilson, Lloyd George, Clemenceau and Orlando) quickly became apparent. Clemenceau wanted to exclude any possibility of a strong Germany posing a threat in the future, and Lloyd George was mainly concerned with eliminating the Germans as competitors on the world market, and therefore with matters pertaining to the colonies and the size of the German navy. The struggles over the treaty finally ended with a compromise among the victorious powers. Germany’s western boundary was pushed eastwards, with Alsace-Lorraine being returned to France without a plebiscite being held. The Saarland was placed under the aegis of the League of Nations for fifteen years, and then the population would decide on its final disposition. The Rhineland remained in Germany, but was demilitarised. In addition, the Allies were to hold several bridgeheads on the Rhine’s right bank. Belgium obtained the district of Eupen-Malmedy. In the east, Germany’s territorial losses were much more dramatic. The Grand Duchy of Posen (Poznan) was given to Poland, as was Upper Silesia. In order for it to obtain access to the sea, Poland also received a large portion of West Prussia, which resulted in East Prussia being cut off from the rest of Germany. Danzig became a “Free City” under the supervision of a League of Nations’ commissioner. Memelland was also to be administered by the Entente. A plebiscite led to the division of North Schleswig between Denmark and Germany, and in Masuria (in the southern part of East Prussia) the population voted to remain in Germany. Wilson’s Fourteen Points really should have supported the unification of Germany and the German-speaking part of Austria, since all the nations of the fallen Dual Monarchy had flown into the arms of their respective “mother countries”. The great majority of the Austrian population did in fact wish this to happen, as several regional polls made clear, but the Allies simply could not accept a measure that would have added 6 million people to Germany’s population. This was the reason for Article 80 of the Treaty of Versailles, forbidding German annexation of Austria (the Anschlussverbot), which was to have a lasting influence on post-war politics. 25 Winkler, Geschichte, 175. 26 Ibid.

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“As a result of the peace treaty Germany gave up a seventh of its territory and tenth of its population, and it lost its colonies as well.”27 It also lost one-third of its coal and three-quarters of its mineral resources. And it had to hand over still more wealth in the form of reparations. In addition, it was forced to reduce its armed forces  : the army was limited to 100,000 men, and the navy to 15,000, all of whom had to be professional soldiers. Submarines, military aircraft, tanks and weapons for gas warfare were all forbidden to Germany. Finally, the ocean-going fleet had to be surrendered, but this was rendered unnecessary by the fact that the Germans had already scuttled their own warships. Emotionally, the most upsetting element of the settlement for Germany was undoubtedly the question of war guilt. Even decades later, it was still the subject of vigorous scholarly controversy.28 Article 231 stated that Germany was the instigator of the war and therefore was responsible for all the damages and losses suffered by its military opponents as a result of the war that was forced upon them. The expression “sole guilt” was not used, but this is how it was interpreted in Germany, and this perception led to stronger protests than all of the other provisions, even though the latter were extremely burdensome. Germany, moreover, did not sit at the negotiating table, whereas even in Brest-Litovsk the victors and the defeated had sat down together, although, certainly, there the terms dictated to the loser were more severe than at Versailles. These two points, war guilt and exclusion from the negotiations, were not decisive on the material level, yet they were very disturbing on the emotional level and were experienced as traumas well into the Weimar Republic. They smoothed the way for the perception among part of the population that Versailles was a “shameful peace”, and they offered fertile ground for the revanchist politics of the National Socialists. The internal negotiations between the victorious powers at Versailles were overshadowed by two conflicts which were only very indirectly related to their work on the treaty. The first involved Italy, whose claim to Dalmatia and Fiume29 raised the basic question of what criteria should be used in concluding the peace  : Wilson’s announced ideal of national self-determination or the superior power the victorious states were intent on exerting  ? Wilson supported the resistance of the southern Slavs, even though he had already agreed to Italy’s demand that the frontier should be the Brenner pass between Bolzano and Innsbruck. Meanwhile, in the Far East, Great 27 Ibid., 176. 28 Fritz Fischer, Der Griff nach der Weltmacht  : Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1961. 29 Klaus Schwabe, ed., Quellen zum Friedensschluss von Versailles (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 30), Darmstadt 1997, 17.

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Britain and France had offered Japan major concessions as the price of its entering the war. Wilson, however, refused to go along with these, not least because of his defence of the right of self-determination for the Chinese. In this connection, there also existed an unspoken claim of the “white man’s” right to exercise power. “An article submitted by the Japanese to the group working on the creation of the League of Nations, which affirmed the principle of the equality of all races, was likewise rejected.”30 Both of these conflicts delayed agreement on the treaty with Germany and made it clear how thin was the ice on which the negotiating partners were skating. On 7 May 1919, the German delegation at Versailles was handed a draft of the peace conditions. This first meeting of the Germans with the representatives of the victors was a disaster right from the start. “None of the German diplomats had noticed, apparently, until this moment, what a dreadful public speaker Brockdorff-Rantzau was.”31 And the fact that during his first speech he remained sitting while Clemenceau had stood up in order to address his remarks to the delegation was an additional source of irritation. The sharp rejection of the notion of German war guilt and the charges of inhuman cruelty directed against the Allies further worsened the negotiating climate. Accordingly, the compromises that still remained in the treaty were truly minimal. In Germany, the tide of rejection was at first very strong, and it did not abate even with the two revisions concerning the Rhineland and Upper Silesia. It was clear, certainly, that there was no alternative. “On 22 June the National Assembly agreed to sign the peace treaty by a majority of 237 to 138 votes, with 6 abstentions, with reservations concerning the questions of war guilt and war crimes. The response came quickly – in the form of an ultimatum to sign the treaty within 24 hours without reservations.”32 On 28 June 1919, sitting in the Hall of Mirrors at Versailles, where forty-eight years earlier the German Empire had been established, the Germans, under the leadership of the Foreign Minister Hermann Müller, placed their signatures on the treaty. With all its short- and long-term consequences, with all the anticipations and rejections it incorporated, the model for the subsequent treaties was now established.

Saint-Germain The First World War, at least formally, was a consequence of the Habsburg monarchy’s declaration of war against Serbia. The shots fired at Sarajevo, which killed the succes30 Ibid. 31 Charles L. Mee, The End of Order  : Versailles 1919, New York 1980, 214. 32 Winkler, Geschichte, 179.

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sor to the Austrian throne, and Vienna’s ultimatum to Belgrade (which was largely complied with), formed the basis for a war which fundamentally changed the world, and most especially “Zwischeneuropa” – “the Europe in between”.33 The Habsburg monarchy was already an anachronism for decades before the war. As early as 1848, Engels had observed that “the Austrian monarchy, the patchwork of territories amassed by inheritance and by theft, that organized muddle of the ten languages and nations, that unplanned conglomeration of the most contradictory customs and laws”34 was at last beginning to fall apart. He was right on the mark with his description of the state’s structure, though not in his prediction of its life expectancy. “Kakania” (as it was nicknamed), which was often described as a “prison of peoples”, long maintained its structure intact, even into the war years. Disloyalty was uncommon, and it was not only the severe court-martial sentences which kept the number of troops going over to the enemy low. “Respect for the army persisted in broad sectors – even among internal political opponents – for a surprisingly long time.”35 It was the homecoming prisoners of war who first created the potential for serious unrest, and they bore “a strong social, not a nationalist accent”.36 The Entente, too, thought that the Austro-Hungarian monarchy, once it was democratised within and its external borders were corrected, would remain intact. The Fourteen Points were formulated from this point of view, despite America’s strong backing of the Czechs, and in the Empire itself they were read as a guarantee of its continued existence. The Habsburg monarchy differed from the other multi-ethnic states, above all in its lack of a dominant “national” (that is to say, linguistic) group. Among the at least eleven nationalities, the Germans constituted only 24 per cent of the total population, and the Magyars only 20 per cent. They were surpassed by the Slavic groups, which to33 The notion of “Zwischeneuropa” has appeared sporadically since 1916, when it was introduced in the Zeitschrift für Erdkunde zu Berlin, issue 3 (1916), 177 ff. Most recently it has been reintroduced into discussion by Helmut Konrad and Monika Stromberger as an alternative to the politically charged notion of “Mitteleuropa”. See Helmut Konrad and Monika Stromberger, Der kurze Traum von Selbstständigkeit  : Zwischeneuropa, in  : Walther L. Bernecker and Hans Werner Tobler, eds., Die Welt im 20. Jahrhundert bis 1945 (= Globalgeschichte der Welt 1000–2000), Vienna 2010, 76–77. 34 Karl Marx and Friedrich Engels, Werke, vol. IV, Berlin 1959, 504. 35 Richard G. Plaschka et al., Innere Front  : Militärassistenz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonarchie 1918, vol. 1  : Zwischen Streik und Meuterei (= Veröffentlichungen des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 8), Vienna 1974, 12. 36 Holm Sundhaussen, Von der Multiethnizität zum Nationalstaat  : Der Zerfall “Kakaniens” und die staatliche Neuordnung im Donauraum am Ende des Ersten Weltkrieges, in  : Holm Sundhaussen and Hans-Joachim Torke, eds., 1917–1918 als Epochengrenze  ? (= Multidisziplinäre Veröffentlichungen/ Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin 8), Wiesbaden 2000, 83.

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gether made up 47 per cent. Even in the “Austrian half of the Empire”, the German-­ speaking population was only about a little over one-third of the total. And the Magyars, likewise, failed to constitute the majority of those living in the Hungarian half of the Empire.37 In the autumn of 1918, hunger on the home front, the growth of revolutionary sentiments and the dissolution of the imperial state made continued prosecution of the war impossible. Indeed, the army in the field “was ever more openly accused of prolonging the war”.38 Emperor Karl finally decided, much too late to save the monarchy, to ask for an armistice, the conditions for which were transmitted on 2 November and signed on 3 November 1918. The war was over for the Austro-Hungarian monarchy, and it ceased to exist as a state. Moreover, twelve days previously, even the German-speaking deputies had already constituted “German Austria” as a state.39 New states had emerged which were to assume their definitive form at Saint-Germain. The Austrian delegation travelled to Paris as early as May 1919, but it was not admitted to the proceedings. The team of delegates drew on individuals from all those parts of the Habsburg monarchy which, on the one hand, included a German-speaking population, but which, on the other, were claimed by the new states which already existed by this date (and which, despite participating in the war as parts of Austria, were accorded the status of victorious powers). The Treaty of Saint-Germain was biased in important respects through the decisions made at Versailles. In any event, simultaneously with the Austrian peace treaty, a treaty was signed with Czechoslovakia guaranteeing the rights of minorities, namely of the “Germans” and “Slovaks” in the new Czech Republic. Austria’s contention that in 1914 it did not yet really exist as a state and was only one among a number of successor states of a defeated empire fell on deaf ears. Czechs, Slovaks, Romanians, Italians, Croats and Slovenians who lived under the monarchy were victors, and the German-speaking population and the Magyars were the only losers. The Austrians’ desire to obtain a national treaty instead of a peace treaty could not be realised in 1919, and it was only thirty-six years later, on the basis of similar arguments, that this goal was achieved. On 2 September 1919, the Austrian delegation in Saint-Germain was presented with the treaty, which was finally signed eight days later by Karl Renner. In drawing 37 Sundhausen and Torke, 1917–1918, 80–81. 38 Manfred Rauchensteiner, »Das neue Jahr machte bei uns einen traurigen Einzug.« Das Ende des Großen Krieges, in  : Helmut Konrad and Wolfgang Maderthaner, eds., … der Rest ist Österreich  : Das Werden der Ersten Republik, vol. 1, Vienna 2008, 41. 39 Heinz Fischer, Vorwort, in  : Helmut Konrad and Wolfgang Maderthaner, eds., … der Rest ist Österreich  : Das Werden der Ersten Republik, vol. 1, Vienna 2008, 7.

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Austria’s northern boundary, the treaty, disregarding the right to national self-determination, employed the old frontiers of the crown lands. Thus, all of Bohemia, Moravia, Silesia and even a few communities in Northern Austria were given to Czechoslovakia, thereby bestowing on the latter a German-speaking minority of as many as 3 million people. Galicia went to Poland  ; South Tyrol, Welsch Tyrol and the Carinthian Canal Valley went to Italy, as did Istria. Bukovina was given to Romania. Dalmatia, Lower Styria, the Miess Valley and Seeland were promised to the new state of Serbia, Croatia and Slovenia (Yugoslavia). A plebiscite was set for Lower Carinthia south of the Drau, the result of the so-called “Carinthian Defensive Battle” (“Kärnter Abwehrkampf ”). The West Hungarian counties went to Austria (with the exception of the county of Sopron/Ödenburg, which joined Hungary after a later plebiscite). The use of the name “German Austria” (Deutsch-Österreich) was forbidden, and the prohibition against Austria joining Germany stated in the Versailles Treaty was reconfirmed. The army was reduced to 10,000 professional soldiers, and Austria was obliged to pay reparations. Altogether, only two-thirds of the German-speaking population of the Austria of the old Habsburg monarchy resided in the new state. Within the country itself many long doubted its viability, and incorporation into Germany seemed to be the only hope for the future, a hope that was realised exactly two decades later under dramatically altered circumstances.40

Trianon When the Hungarian delegation was invited to Paris at the end of 1919, after the conclusion of the treaty with Austria, the essential decisions had already been taken at Versailles and Saint-Germain  ; and they also reflected the political reality in Hungary’s northern and southern regions. Hungary, like Austria, was accorded a peace treaty, but not a treaty creating a nation-state. And it, too, had to accept the burden of war guilt. This, however, was not the central concern of the Hungarian population, and the same may be said of the articles regarding reparations and the restrictions placed on the size of the army and on armaments. The overwhelming concern of the Hungarians was the establishment of the nation’s new boundaries, and this has continued to be the case for the entire period up to the 40 Helmut Konrad, ed., Sozialdemokratie und »Anschluß«  : Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen  : Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts, Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Vienna et al. 1978.

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present. The Magyars, an ethnicity without a great “brother country” beyond the frontiers of the Habsburg Empire, were much more strongly drawn to nationalism as an instrument of internal cohesion. This was all the more important in Hungary – as opposed to Germany and Austria – inasmuch as the revolutionary experiment at the end of the war actually took on a concrete form there. In Germany, the revolutionary forces were able to take power for just a short period, and at that only regionally, with strong support in only a few cities  ; and in Austria, the strong Social Democratic movement quickly domesticated the revolution and used the councils or soviets as extra-parliamentary reinforcement of their own domination of the parliament itself. In Hungary, by contrast, a revolution really occurred. In March 1919, Béla Kun proclaimed the creation of the “Federated Hungarian Soviet Socialist Republic”, which for just about half a year was able to hold its ground against stiff resistance. Kun, who had become a Bolshevik while a Russian prisoner of war, followed the revolutionary path all the way to the end. The experiment of rule by the soviets failed in Hungary, in part because of Austria’s refusal to follow suit, but also because of the military intervention of Romania, whose forces reached as far as Budapest and compelled Kun to take flight. Miklós Horthy, who headed the conservative, nationalistic counter-regime established in Szeged, entered Budapest as victor in November 1919. The “red” terror was followed by a “white” terror directed against communists and socialists  ; it also displayed strong anti-Semitic tendencies. In March 1920, Horthy became “regent” in a monarchy without a king. The traumatic internal political disruptions of this period could be mastered only through the establishment of clearly defined external enemies. Hungarians believed that they had been sacrificed and been bequeathed a country without friends and without allies. The territorial determinations of the Treaty of Trianon were tailor-made to encourage this belief. According to its terms, Hungary lost Slovakia and the Carpathian Ukraine to the Czechoslovakian Republic  ; the western Hungarian counties to Austria  ; Croatia, Slavonia, Prekmurje, Batshcka and part of the Banat to the new Yugoslavian state  ; and Transylvania and the remainder of the Banat to Romania. Poland received a small region, as well, and Fiume, too, was separated from Hungary (and was itself destined to traverse a very difficult period). As a result of all these changes, from 1920 onwards 3 million Hungarians lived outside of the Hungarian state. Minor, partially contested border revisions did little to alter the situation. Moreover, Hungary’s population still included 800,000 members of minority groups (Germans, Slovaks, Romanians, Croatians, Serbs and Slovenians). The Trianon immediately became a dramatic site of memory, and still today, on numerous Hungarian automobiles and even in semi-official contexts, one can see depictions of the country in which ethnic boundaries are displayed rather than the actual

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international frontier. Even scholarly discussions about Hungarian emigration41 are full of nationalistic discourse, whereas, for example, the Slovakian discussions seek to establish a more nuanced picture.42 Hungarian schoolchildren in the interwar years learned that Hungary is surrounded only by Hungarians, because there is a significant Hungarian population in all neighbouring countries. They lived with the watchword “Nem, nem, Soha  !” (“No, no, never  !”) and saw the national flag constantly flying at half-mast. To a much greater degree than Saint-Germain or even Versailles in the cases, respectively, of Austria and Germany, the Trianon remained the central focal point of Hungarian self-understanding into the twenty-first century. Trianon-Hungary – as opposed to the “Lands of the Crown of St Stephen”, or at least as opposed to a “language ­union” – persisted as the hated counter-image of what Hungary ought to be. As late as 1999, it was argued that “according to the census of 1910, 54.5 % of the population of Hungary was Hungarian. The minorities in Historic Hungary numbered 45.5 %. After Trianon, in the successor states, the number of minorities grew to 54.2 %.43 And only 20 % of the new Hungarian borders were natural borders  ; 60 % of them took no account of linguistic borders.”44 Horthy built his dominant position on this negative image of the Treaty of Trianon, together with the negative image of the “Judeo-Bolsheviks” as the nation’s enemies. Accordingly, after the Treaty of Trianon this anachronistic state – which introduced no land reform, retained exalted privileges for the nobility, was formally a monarchy, rejected liberalism and maintained an “ethnic-national” definition of who was a genuine Hungarian – was in conflict with all of its neighbouring states.

Neuilly Bulgaria’s decision to enter the war on the side of the Central Powers was not something that could have been foreseen long in advance. In the First Balkan War, Bulgaria, Serbia, Greece and Montenegro had wrested Macedonia from the Ottoman Empire. The dispute over the division of the spoils led to the Second Balkan War between Bulgaria, on the one side, and Serbia, Greece and (later) Romania on the other. Bulgaria’s defeat led to its loss of Macedonia and the flight of over 100,000 people 41 42 43 44

Laszlo Bolos, The Road to the Dictated Peace, Cleveland/OH 1999. Marián Hronský, The Struggle for Slovakia and the Treaty of Trianon  : 1918–1920, Bratislava 2001. Bolos, Road, 417. Ibid., 431.

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from Macedonia to Bulgaria. The resulting economic problems compelled Bulgaria to borrow funds from abroad, and when the French refused to lend it money, Germany quickly agreed to do so in the summer of 1914. Macedonia constituted a problem both domestically, as the immigrants confronted a Macedonian elite in Bulgaria, and in the realm of foreign relations and military matters, where the “loss” of Macedonia was an important factor. These were Bulgaria’s two main concerns on the eve of entering the war. Thus, in terms of economic as well as territorial issues, the Central Powers were more suitable allies. “The war began well for Bulgaria. Alliance with the Ottoman empire meant the gain of some territory in Thrace, the defeat of Serbia meant Romania in 1916–17 placed some of the Dobruja under Bulgarian control. The fact that Bulgaria was in occupation of former enemy territory meant that Sofia, like Berlin, saw little reason to contemplate peace. It also meant that, like its counterparts in Berlin and Vienna, the government in Sofia refused to take sufficient account of the growing social problems affecting the country.”45

The main problem was provisioning the civilian population, but the army, too, faced a similar problem. Bulgaria, in fact, suffered in this respect even more than its allies. In addition, almost 39 per cent of the adult male population was serving in the military, more than in any of the other combatant countries, and their lack was felt in both agriculture and manufacturing. The supply of horses was also insufficient, since so many were being used by the army. Accordingly, Sofia experienced its first severe food shortages as early as 1916. By 1918, the situation had become hopeless  : food and clothing were almost entirely lacking. As a result, desertions increased, especially during the harvest months, when soldiers, after their home leave, simply disappeared instead of returning to the front. In September, the front collapsed. With the army in complete disarray, Tsar Ferdinand stepped down from the throne at the beginning of October. The war was lost, and malnutrition weakened resistance against the Spanish flu, which in this case, too, killed almost more people than the war did. Already a week before the Tsar abdicated, Bulgaria had sued for an armistice. Internally, the country was politically divided, but in the post-war years the conser­ vative forces were stronger than the radical left. The peace treaty with Bulgaria was concluded on 27 November 1919 in Neuilly-sur-Seine. In it Bulgaria had to guarantee that the frontier with Romania would 45 Richard J. Crampton, Deprivation, Desperation and Degradation  : Bulgaria in Defeat, in  : Peter Liddle and Hugh Cecil, eds., At the Eleventh Hour  : Reflections, Hopes and Anxieties at the Closing of the Great War 1918, Barnsley 1998.

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once again conform to the one drawn after its defeat in the Second Balkan War. It also had to give up access to the Aegean Sea, for Western Thrace came under the administration of the Entente, and therefore indirectly fell to Greece. Furthermore, Bulgaria lost several small areas to the new Yugoslavian state. Following the examples of the preceding treaties, its army was limited to 20,000 professional soldiers, and reparations were imposed. The latter, however, were reduced in 1923 and eliminated altogether in 1932. The treaty provided for a population exchange between Greece and Bulgaria, a “convention concerning a mutual and freely chosen emigration”, which led to the departure of 50,000 Bulgarians from Greece and 40,000 Greeks from Bulgaria. A total of more than 100,000 refugees, mainly from Macedonia, Thrace and Dobruja entered the country, intensifying the existing social problems. All the same, Bulgaria managed to break out of its international isolation and to enter the League of Nations already in 1920. Many of those who had fled to Bulgaria subsequently emigrated overseas.

From Sèvres to Lausanne In no other region of the world did the First World War and the peace treaties create a greater re-orientation and a greater, long-term potential for conflict than in those areas that until 1918 had constituted the “Ottoman Empire […] a structure that had survived the bygone era to which it belonged”.46 The “sick man of the Bosporus” had, for a variety of reasons, rejected the modernisation process of the second half of the nineteenth century and had fallen behind the other Great Powers in the areas of foreign policy, military technology and the economy, as well as social development. Even the population was declining. From being a player in world politics, it had become the stage on which the other powers sought to pursue their conflicting geopolitical ambitions. Moreover, its geographic position was of the greatest strategic importance. Russia was pushing in the direction of the Bosporus and the Dardanelles in order to secure an ice-free route to the world’s seas, and with the building of the Suez Canal Britain had shortened decisively the distance of the sea route to India. Military and political control of the region was thus of the highest priority. The long-delayed efforts to bring about modernisation were accelerated for the first time with the putsch led by the Young Turks in 1908. The latter, however, did not share a common programme. They included both secular centralisers who pushed for 46 David Fromkin, A Peace to End All Peace  : The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, 20th anniversary edition, New York 2009, 33.

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a strong state, on the one hand, and, on the other, liberal proponents of decentralisation who were especially concerned to work out an arrangement with the non-Muslim groups. In 1909, after a counter-putsch by the sultan and then his removal from the throne, the Ottoman Empire became a constitutional monarchy in which the military, which shared the political views of the centralist Young Turks, had the main say both on the road to war and during the war itself. The state was restructured as a secular entity, but it was not possible to provide it with a unified, “nation”-creating identity – neither on the basis of religion (Muslim, Jewish, Christian) nor of language or ethnicity. Even in Anatolia, many Armenians and Kurds lived alongside the Turks, and the European states within the realm included Greeks, Romanians, Albanians, Macedonians and still others. Added to these were large portions of the Arab world. The mixture was more complex than that of the Habsburg monarchy, and even more heterogeneous. In addition to all this, the Empire’s geographic situation made it one of the main crossroads of the interests of the Great Powers. Consequently, in this case the victors were not able to impose upon the losers the same sort of conditions that they could at Saint-Germain or the Trianon (and to a degree also at Versailles). The Ottoman Empire entered the war in November 1914 on the side of the Central Powers, a choice based on the actions of Russia and Great Britain. The British had annexed Cyprus and declared Egypt and Kuwait to be their protectorates  ; and Russia (like, moreover, its new ally, the Habsburg monarchy) was a competitor in the Balkans with a vital strategic interest in obtaining access to the Mediterranean from the Black Sea. The war in the Caucasus, which also influenced the Armenian tragedy, went poorly, and after the Treaty of Brest-Litovsk, which did not bar the Ottoman Empire from continuing the fight against Russia, it went no better. Only Gallipoli could be counted an Ottoman victory. In the Arab world, the conflict quickly passed from a test of strength into a matter of the enemy dividing the spoils. The British had occupied Baghdad in March 1917, and in the autumn of 1918 Arab troops pushed north from Egypt, alongside the British. An armistice was concluded on 30 October 1918. Already during the war an agreement had been signed concerning Palestine. Since Jerusalem was a holy place for more than one religion, the city and its symbolic power had to be protected by treaty. France considered itself to be the defender of the Catholics, especially those living in Lebanon. Russia saw itself as the protector of the Orthodox population, and Britain sought to represent the interests of the Jewish population, which numbered about 24,000 after the first waves of immigration to Palestine (a number which quickly grew larger). The Sykes-Picot Agreement of January 1916 foresaw a division of the Near East between a French sphere of influence and a British one, with Jerusalem and the surrounding territory to be internationalised and

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administered by France, Britain and Russia. By the time of the October Revolution, at the latest, the plan was already obsolete. In the Balfour Declaration of 2 November 1917, the British Foreign Minister promised the creation of a “national homeland” for the Jewish people, one which, however, would not diminish the rights of the other inhabitants of Palestine. After the war, mandates were created in the Near East under the auspices of the League of Nations, but in practice they were really French (in the case of Lebanon and Syria) and British (in the case of Palestine, Jordan and Iraq) zones of influence. Jewish emigration increased rapidly following the war, and conflicts with the Arab population of Palestine became bloody from 1919 on. The decisive factor in the peace process, though, was time. It took no less than twenty months to turn the ceasefire into a peace treaty, and almost a year-and-a-half went by before the victorious powers, meeting in London and San Remo in the first half of 1920, could reach an agreement in principle concerning the key points of the treaty. In the meantime, however, the region had undergone dramatic changes  : to the north in the Caucasus, in Anatolia itself and, above all, in the Arab portions of the defunct Ottoman Empire. The peace treaty was finally signed in Sèvres on 10 August 1920. At the end of the war, Britain had over 1 million soldiers stationed in the former Ottoman Empire. They oversaw the defeated armies as they sank their weapons into the swamps, but since by the summer of 1919 only one-third of the British troops remained in the country, the process could henceforth be only partially supervised. The most important development in the Caucasus was the creation of several independent countries (Armenia, Georgia and Azerbaijan). The main concern of the Allies, however, especially of Churchill, was support of the “Whites” in the conflict with the Bolsheviks, but in the summer of 1919, the British troops withdrew from the region. To the south, “where the present Turkish borders run with those of Syria, Iraq and Iran, lay the area imprecisely known as Kurdistan, where British officials thought of sponsoring another of their protectorates”.47 The area was promised to the French in the Sykes-Picot Agreement, but in 1919 they had no presence there. The British efforts ended, however, in an uprising of the various Kurdish groups against the recent meddling by outsiders in their affairs. Even within Turkey itself, it was unclear who was in charge. The British and French controlled Constantinople, the British fleet dominated the coast, and the means of communication and transport were in the hands of the victors. The Sultan had only limited power, and the Young Turks staged a putsch against him. He was ready to agree to all the victors’ demands, but the country was not under his control. Meanwhile, 47 Ibid., 404–405.

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General Mustafa Kemal, who had distinguished himself in Gallipoli, was creating a new Turkish army in eastern Anatolia. Turkish anxieties were awakened in May 1919 when Wilson and Lloyd George decided to support the Greeks against the Italians in the islands and in Anatolia. Given “Moslem Turkish hatred of the two large Christian populations in their midst – Greeks and Armenians”48 – this move strengthened Kemal and his supporters in their opposition to the victors. In February 1920, the newly formed Turkish army defeated a French unit in southern Anatolia, making it completely clear to the victorious powers that a new player had arrived on the scene. The situation was even more complex in the south, in the regions of the old empire where the majority of the inhabitants were Arab. The French had concentrated their power in Lebanon and along the Syrian coast. Syria’s interior was formally ruled by King Faisal, who resided in Paris during the peace conference, but effectively power was shared among a number of influential Arab families. A unified Arab nationalism did not yet exist, and the Arabs were divided in their objectives. “Those from communities like Jerusalem denounced Zionism in Palestine  ; those from Baghdad complained of the British in Mesopotamia  ; and the Syrians wanted to expel the French from their seacoast and from Lebanon.”49 The notion of Pan-Arabism was still a long way off, and King Faisal derived his power from the presence in Damascus of the British, who, however, withdrew in 1919. The French goals were clear  : dominance in Lebanon and Syria’s existence as a state dependent on the French. Faisal’s support within the Arab world, however, was contingent upon his success in resisting France’s efforts to assert its control over Syria. Thus, although he was supported by the French, he had at the same time to keep them at a distance. Finally, an agreement was reached with Clemenceau that Syria would become independent, but that it would draw exclusively on French “advisers”. It was amidst these difficult circumstances that the definitive decisions concerning the peace treaty were eventually reached, initially in London, then in San Remo, and finally in Sèvres. The principal outcome was the division of the region into English and French spheres of influence. The British received Palestine and Mesopotamia  ; Arabia was to remain independent but ruled by monarchs who would follow London’s directives  ; and Egypt and the Gulf coast were already under British control. Lebanon and Syria were assigned to the French sphere of influence. Iraq would be a mandate of the League of Nations, with independence as a medium-range goal. The Aegean islands, European Turkey and Smyrna, along with Western Anatolia, were given to the Greeks, with the understanding that in five years a plebiscite would 48 Ibid., 407. 49 Ibid., 409.

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be held in Western Anatolia. The area around the Dardenelles came under international administration, and the status of Constantinople was tied to Turkish treatment of the Christian minorities. Armenia was to become independent, and the Kurds were to be granted autonomy. Turkish finances were to be administered jointly by Britain, France and Italy. In August 1920, the Sultan’s plenipotentiaries signed the peace treaty in Sèvres, but peace itself was not thereby established – neither at home nor abroad. Internally, there were major conflicts of interest, for example, between the Kurds and the Armenians. Whereas the Armenians sat at the negotiating table in Paris, the Kurds were excluded. An indepen­ dent Kurdistan, going beyond autonomy, was in fact considered, but was made depen­ dent on it being demonstrated that the majority of Kurds wanted such a state. The harshness of the peace provisions had several grounds  : the strategic and geopolitical goals of Britain and France  ; the Armenian genocide  ; and also the defeat of the British at Gallipoli, which remained a sore spot. Finally, the centuries-old threat to Europe, to the “Christian West”, posed by the Ottoman Empire, the so-called “Turkish threat”, still evoked a strong emotional response  ; and thus the goal of seeing all of Europe once again lying outside of Turkish domination was indirectly a motive, at least for handing over the European portion of Turkey to the Greeks. “The Treaty of Sèvres did not signal the beginning of a new era guided by the idea of the self-determination of peoples, but rather a return to the zenith of European imperialism.”50 It was the last of the treaties concluded in the Parisian suburbs and also the only one that never actually went into effect  ; for the Turkish National Assembly did not ratify it. Those who signed it at Sèvres were called “traitors to the fatherland”, and Kemal manoeuvred politically and militarily to change it. Despite all of Turkey’s conflicts with the Bolsheviks, it signed a pact of mutual assistance with Russia, which ultimately led to their dividing Armenia between them. Furthermore, the Greek army intervened twice, in January and March 1921, and was defeated each time. In October 1920, France concluded a treaty with Turkey which amounted to a separate peace. Italy, too, moved closer to the Turkish regime. In January 1921, the Great National Assembly, sitting in Ankara, produced a constitution, which also spelled out the nation’s territorial claims. It “included Turkey’s renunciation of all Arab territories, but also the claim to full sovereignty over all regions in which there existed a Turkish majority”.51 This laid the basis for an advance 50 Winkler, Geschichte, 190–191. 51 Ulrike Freitag, Unter imperialer Herrschaft  : Vorderasien und Nordafrika, in  : Walther L. Bernecker and Hans Werner Tobler, eds., Die Welt im 20. Jahrhundert bis 1945 (= Globalgeschichte der Welt 1000–2000), Vienna 2010, 288.

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against the Greek army, and in September 1922 Turkish troops stood before Smyrna, which fell on 12 September. “The onward-rushing Turkish troops drove the fleeing Greek soldiers and civilians into the sea  ; and it was far from all of them who were able to board ships and boats and thus reach the nearby Greek islands of Chios and Mytilene.”52 Smyrna went up in flames in a fire presumably set by the Turkish troops. Since the Allies persisted in considering the Sultan’s regime in Istanbul as the country’s legal representative, the National Assembly decided on 1 November to abolish the Sultanate, thereby definitively bringing to a close the history of the Ottoman Empire. Mustafa Kemal and the Great National Assembly now claimed to be the country’s sole representatives, and they set about refashioning Turkey. Thus, after two years, the Treaty of Sèvres was already a dead letter. At a conference in Lausanne, which began in December 1922 and lasted beyond the middle of 1923, the treaty was substantially altered, and the frontier between Greece and Turkey was redrawn. The main concern of the Peace Treaty of Lausanne, signed on 24 July 1923, was the creation of new boundaries. The Straits of the Dardanelles came under international administration and were demilitarised. Neither a state of Kurdistan nor a state of Armenia was established, since the Turkish re-conquests had created new facts on the ground. In contrast, the “League of Nations mandates for the Arab provinces (Iraq, Palestine and Trans-Jordan going to the British, and Syria and Lebanon going to the French)”53 were reconfirmed. By the beginning of 1923, however, Greece and Turkey had agreed not only on an exchange of prisoners of war, but also on a massive population exchange. About 1.5 million Greeks and 400,000 Turks were resettled. The exchange encompassed “almost in their entirety the Muslim population of Greece and the Greek Orthodox population of Turkey (except for the Greeks in Istanbul and the Turks in Western Thrace)”.54 The Treaty of Lausanne gave its blessing to the plan. Adding this population exchange to the one provided for in the Treaty of Neuilly between Bulgaria and Turkey, we see that as a result of the First World War millions of people were resettled just along the boundaries of Europe and Asia Minor in order to achieve ethnic and religious homogeneity. The politics of “ethnic cleansing” was thereby introduced in twentieth-century practice, and seven decades later it reappeared in several dramatic follow-up experiments, particularly in the Balkans.

52 Winkler, Geschichte, 192. 53 Freitag, Herrschaft, 289. 54 Winkler, Geschichte, 192.

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An ambivalent outcome A Peace to End All Peace55 is the expression chosen by David Fromkin for his account of the collapse of “the Ottoman Empire and the creation of the modem Middle East”. The history of this region of the world, which Fromkin recounts up to the present day, justifies his title even if it indirectly minimises the significance of earlier periods. Yet, all things considered, were the treaties which ended the First World War peace treaties which actually made peace impossible  ? Are Versailles, Saint-Germain, Trianon, Neuilly and Sèvres symbolic sites of failure  ? One cannot answer this question in a completely unequivocal manner. It is clear that the treaties were compromise solutions which realised few of the idealistic preconceptions that originally swirled around them. In the end, they did not give rise to a group of self-determined “national states” with minimal military forces, united through free trade and agreements for the solution of international conflicts. Nor did the spark of revolution spread throughout the industrialised world, rendering national borders meaningless in the face of the overarching unity of the working class. To the contrary. Although in Paris even the minor victorious countries and those late in joining the Allies had a seat at the negotiating table, the decisions were ultimately determined by the political interests of the Great Powers. In Europe, the right of self-determination was subordinated to questions of power and security and to economic interests. Outside of Europe, the right of self-determination was not even a subject of discussion. The old ideology of “The White Man’s Burden”56 gave way only slightly in the case of Japan, which was one of the victors, and not at all when it came to the colonies and Dominions, which had shared the costs of the war and paid a heavy toll in blood. It was simply taken for granted that they would continue to bear the colonial yoke. Still, even if Wilson’s Fourteen Points had been more fully realised in practice, a fundamental problem would have remained unsolved  : securing rights at the level of nations, not just at that of individuals. From the perspective of human rights, the treaties would have had to establish the “self ” in “the right of self-determination” – in other words, come to grips with the decision of where an individual feels he or she belongs, of how he defines his identity – at the level of the individual person. There certainly existed models for this approach. The Moravian agreement of 1905, for example, had based rights such as the language one could use in the courts or 55 That is the title of David Fromkin’s book. 56 The poem by Rudyard Kipling was first published in 1899 and relates specifically to the United States and the Philippines.

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in school on the individual level, thereby abandoning the territorial principle,57 a change which found theoretical support in the writings of Karl Renner.58 This way of thinking, dating from before the First World War, pointed beyond the rather simple territorial concepts expressed in the 1919 to 1923 treaties  ; the latter recalled, rather, the solutions agreed upon at the Congress of Vienna, which, it must be said, were still considered the only feasible ones available in the Balkans even late into the twentieth century. The equation of nation and language is more than problematic, and if it is used to legitimate the establishment of political boundaries, then the kind of failures we have seen, ranging from Paris to the Dayton Accords, are inevitable. When it came to translating their ideas into practice, the Bolsheviks likewise often left theory behind. Events in Finland and the Baltic countries transpired “out of sight for the people in the western metropoles”.59 The Finns did reach an understanding with Lenin near the very end of 1917 that they could separate from Russia, but the October Revolution engulfed Helsinki, too. In a bloody war, the “Whites”, with the help of Germany, defeated the “Reds”, and in 1919 the Finns were in a difficult position, having soured their relations with both the Western powers and the Bolsheviks. The annexation of East Karelia was to remain only a dream, and it was not until October 1920 that the Russo-Finnish border was definitively established. Initially, for a period Russia really did try to honour the right of self-determination within its borders, although with scarcely adequate means, since, in practice, mobility and urbanisation were major constraints on Stalin’s territorial principle. In external matters, however, its policies, like those of other countries, were driven primarily by strategic considerations and a desire to maintain the status of a major power. In dealing with Finland, Armenia and Central Asia, its concerns were power, influence and security. Thus, both models, the Western and the Bolshevik, were completely and persistently shaped by self-interest. All the same, this is what made it possible to create, for the middle term, at least, a reasonably “just” peace. Moreover, most people had truly had enough of war. The great numbers of casualties, of the maimed and of the psychologically damaged – these sent a clear message. It was not only the pacifists who adopted the slogan “War on war  !” Another war seemed unthinkable  : images of destruction and annihilation had been seared into the minds of the survivors. The 57 Lukáš Fasora, ed., Der Mährische Ausgleich von 1905  : Möglichkeiten und Grenzen für einen natio­ nalen Ausgleich in Mitteleuropa, Brno 2006. 58 Rudolf Springer [= Karl Renner], Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, Vienna and Leipzig 1902. According to the author, national – in other words, linguistic – rights should be based on the interests of individual persons and not on a principle of territoriality. 59 Konrad and Stromberger, Traum, 61.

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pacifist Ernst Friedrich published images of this kind in 1924 in his book Krieg dem Kriege  ! Guerrre a la Guerre  ! War against War  ! Oorlog aan den Oorlog  ! 60 The public was shocked by the unimaginable examples of mutilation it contained, all of which were brought together and displayed in his anti-war museum in Berlin, a museum later destroyed by the Nazis. And yet, too many questions remained unanswered. Too many conflicts remained unresolved, and to these new ones were added. Considering the situation just within Europe, a number of factors rendered the peace a fragile one  : • Germany (“undefeated in the battlefield”) offered fertile ground for the legend of the “stab in the back”, for the thirst for revenge and for labelling the Treaty of Versailles a “shameful peace”. The Weimar Republic was able to contain the spread of these notions at least until the global economic crisis, but then they helped the National Socialists in garnering support for their policies. • Italy mourned its “lost victory”, seeing itself disadvantaged as a nation, one which, moreover, was sharply divided politically and socially. From the trenches of Isonzo there emerged numerous groups of men ready to employ violence to advance their jingoistic and anti-democratic ideas, and they furnished the basis of the Fasci di Combattimento (the early members of the Fascist Party). • In “Zwischeneuropa”,61 the creation of a chain of independent states did not diminish the number of ethnic minorities  ; instead, it simply reversed the hierarchies between the new majority populations and the old ones, which now found themselves occupying the position of minorities. From the Baltic Sea to the Adriatic, the new states – after brief democratic interludes – all became dictatorships, except for the Czech Republic. • Russia’s separate path, which led to its isolation and, at least partially as a result of that, to Stalin’s despotic rule, diminished the world of free trade and thereby de­ stabilised the market-based economies of the industrialised countries. The sources of future conflicts, moreover, could also be clearly discerned far beyond the borders of Europe  : • Japan, which during the war had gone from being a “debtor nation to a creditor nation”,62 was present in Paris, it is true, as a victorious power  ; and it did obtain 60 Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege  : Nachdruck der Ausgabe 1924, München 2004. 61 Konrad and Stromberger, Traum, 54–79. 62 Sepp Lienhart, Ein halbes Jahrhundert Imperialismus  : Japan, in  : Walther L. Bernecker and Hans

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Shandong as well as the former German South Seas colonies. Yet, even though it was a founding member of the League of Nations, it soon found itself isolated. “As the only non-Western great power, Japan demanded that the preamble of the clause establishing the League of Nations contain a declaration of the equality of all peoples, regardless of their race”,63 but a unanimous decision on this question could not be reached. On the other hand, it should be noted that Japan’s fantasies of superiority over its neighbours, especially Korea and China, stood in contradiction to its desire that the major powers should set aside racial prejudice and deal with each other as equals. • The unresolved colonial problems were simply left to be dealt with at a later time. The colonial powers spoke about self-determination, but in those lands under their control or in their zones of influence they refused to offer any form of self-determination and often suppressed any attempts to achieve it, thereby setting the stage for numerous wars and conflicts later in the twentieth century. • Palestine and, in fact, the entire Near East – encompassing not just the “special case of Palestine”,64 but also Syria, Lebanon and Trans-Jordan – were politically organised, it is true, but by no means stabilised. Treaties, especially when a large number of parties are involved in the negotiations, are necessarily compromises, and the compromises reached at Paris were primarily devoted to settling the conflicting claims within the victorious camp. The losers were not even seated at the negotiating table. What, then, can be counted among their positive achievements  ? It may certainly be said that, at the very least, in spite of all the critical objections raised about the League of Nations, a genuine effort was made to use it as a means of maintaining peace at a global level, and with the signing of the Treaty of Versailles the League of Nations was effectively established, since its creation was a part of the treaty. In 1920, the League of Nations protocols were ratified, and it could take up its work. The fact that the United States never became a member and that at different moments Germany, Italy, Japan and Russia all lacked member status permanently weakened the organisation. Still, associated organisations such as the International Labour Organization, to which all the members of the League of Nations belonged, quickly agreed upon and implemented very positive measures designed to halt any further estrangement between wage labour and capital throughout the world. Werner Tobler, eds., Die Welt im 20. Jahrhundert bis 1945 (= Globalgeschichte der Welt 1000– 2000), Vienna 2010, 171. 63 Lienhart, Jahrhundert, 172. 64 Freitag, Herrschaft, 300.

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Nationale und globale Dimensionen politischer Dynamiken

In the beginning, the actual effect of these efforts may have been small, but they nevertheless established the principle that the spiritual, physical and moral well-being of the individual person should be considered a political objective. Moreover, it was in this context that the notion of the rights of man received one of its earliest formulations. This was also the period of the creation of a number of associated organisations and of the International Court of Justice, all of which made significant contributions in the course of the twentieth century. The further course of history, the readiness of nations to turn to violence in the subsequent decades, and, finally, the catastrophe of the Second World War with its still unimaginable number of victims and its genocide(s) – makes it seem in retrospect that the results of the peace treaties were among the preconditions for these subsequent disasters. But the treaties should be judged in light of the conditions in which they were forged. In other words, they were fragile compromises in which the victors brushed aside the concerns of the losers, devoting their energy to jockeying for power among themselves and placing national interests above the common good. All the same, they were at least attempts to come to terms with the traumatic experience of the First World War, using the tools of diplomacy in the service of achieving strategic objectives. The main goal, however, that of making wars of this dimension impossible in the future through mutual commitments and guarantees, was not achievable, given the limited room for manoeuvre available in 1919, and given, as well, the world views and values of the leading participants. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Drafting the Peace, in  : Jay Winter, ed., The Cambridge History of the First World War, vol. II  : The State, Cambridge 2014, 606–637 (Cambridge University Press).

Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit (1977)*1

1. Die geänderte Ausgangslage Der Erste Weltkrieg, die erste umfassende militärische Auseinandersetzung, die im Zeitalter des Imperialismus aus den wachsenden Widersprüchen und Interessensgegensätzen entstanden war, hatte die weltpolitische Situation entscheidend neu gestaltet. Daß es sich dabei allerdings weniger um qualitative Veränderungen als um gewaltige quantitative Verschiebungen handelte, wird im folgenden zu zeigen sein. Prägend für die Wirtschafts- und, darauf aufbauend, die Außenpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Tatsache, daß der größte Staat der Welt, Rußland, durch die Oktoberrevolution aus dem weltumspannenden ökonomischen Kräftespiel ausgeschieden war. Alle politischen und militärischen Überlegungen und Maßnahmen der Siegermächte trugen den Stempel des nachhaltigen Schocks, den dieses Ereignis bei ihnen hinterlassen hatte. Die Auswirkungen waren auch in der Innenpolitik zu merken, wo die Existenz eines sozialistischen Landes die Position der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen erheblich stärkte. Das System von Versailles, die Neuaufteilung und Neuordnung der Welt, konnte die ihm gestellten Aufgaben nur mangelhaft erfüllen. Einerseits ging es darum, Sowjetrußland zu isolieren, um ein Überspringen der Revolution nach Mitteleuropa zu verhindern, andererseits sollten die im Weltkrieg besiegten Länder im Zaum gehalten werden. Allerdings hatte die Kriegsniederlage in Deutschland dazu geführt, daß die Kluft zwischen dem relativ hohen Stand seiner technischen und wirtschaftlichen Entwicklung und seiner schwachen Position auf den Weltmärkten und Kapitalanlagesphären noch vertieft wurde. Diese Diskrepanz, die eine der Hauptursachen des Ersten Weltkriegs gewesen war, barg bereits Konfliktstoff für die Folgejahre in sich. Außerdem ging die Auseinandersetzung der Siegermächte untereinander um die Neuaufteilung der Welt, die bereits vor der Unterzeichnung der Friedensverträge Probleme aufwarf, auch nach den Verträgen weiter. So unterstützte England Syrien gegen Frankreich, während Frankreich der Türkei im Konflikt mit England beistand. England trat für eine Unterstützung des deutschen Wiederaufbaus ein, was gegen *

Der Beitrag erschien ursprünglich in der Reihe »Lehrbehelfe«. Weiterführende und kommentierte Literaturhinweise enthält der das Buch ergänzende Materialband  : Jean Paul Lehners (Hg.), Kolonialismus, Imperialismus, Dritte Welt, Bd. 2  : Materialien (= Geschichte und Sozialkunde 2/2, Reihe »Lehrbehelfe«), Salzburg 1978.

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Nationale und globale Dimensionen politischer Dynamiken

die Interessen Frankreichs gerichtet war. Die USA, die stärkste kapitalistische Macht am Ende des Ersten Weltkriegs, die daher das Prinzip der »Freiheit der Meere« vertrat, konnte diese Forderung in den Verträgen nicht verankern. Konflikte mit Japan im Fernen Osten beeinträchtigten ferner die Profiterwartungen der amerikanischen Unternehmer. Die Erfordernisse der Kriegswirtschaft und speziell der Rüstungsindustrie hatten »die Entwicklung der Technik und den Ausbau der Großindustrie, nicht nur der Schwerindustrie, sondern besonders auch der chemischen Industrie, mächtig beschleunigt, sie haben auch die Tendenz zu Konzentration und Rationalisierung in der Wirtschaft unendlich gefördert«.1 Dieser Konzentrationsprozeß, der durch die Umstellung auf die neuen Produktionserfordernisse in Friedenszeiten und die durch Versorgungsengpässe angeheizte Inflation noch verstärkt wurde und zwangsläufig zu neuen Rationalisierungen führte, machte den Primat der Wirtschaft vor der Politik deutlicher als je zuvor. Dennoch hatte der Erste Weltkrieg das Ende der individu­ alistischen freien Marktwirtschaft gebracht. Diese in Kriegszeiten selbstverständliche Erscheinung konnte nach dem Krieg nicht vollständig beseitigt werden, wenn auch die ökonomische Entwicklung bis 1929 vom Versuch geprägt war, zu den individu­ alistischen Formen zurückzukehren. In den USA und in England gelang dies teilweise, zumindest für kurze Zeit, nicht aber in den kontinentaleuropäischen Staaten. Aktiengesellschaften, Kartelle und Trusts dokumentierten den Sieg des Finanzkapitals und wurden die normale Organisationsform, »große Unternehmer« wie Ford oder Stinnes bildeten die Ausnahmen. »Das Ergebnis ist, daß die Wirtschaftspolitik der Zwischenkriegszeit die Gefahren der freien, individualistischen Wirtschaft nicht ausschaltet, ohne sich ihre Vorzüge erhalten zu können.«2 Durch Konzentration und Rationalisierung stieg die Produktionskraft auch in der Zwischenkriegszeit rasch an, die Kaufkraft blieb weit dahinter zurück. Dies verschärfte notgedrungen den Kampf um äußere Märkte und Kapitalanlagesphären, da die inneren Märkte durch die Finanz- und Lohnpolitik teilweise sogar eingeengt wurden. Das Auseinanderfallen der Produktionskraft und der Kaufkraft mußte schließlich zur Weltwirtschaftskrise von 1929 führen. Die bereits erwähnte »Entpersönlichung« der Wirtschaft hatte selbstverständlich auch soziale und politische Konsequenzen. Die nicht mehr lösbare Verknüpfung von Staat und Kapitalismus in den Metropolen brachte das Ende des Liberalismus, der sich im Abstieg der liberalen Parteien (etwa in England) dokumentierte. Wie weit 1 2

Hans Herzfeld, Die moderne Welt. 1789–1945, Bd. 2  : Weltmächte und Weltkriege. Die Geschichte unserer Epoche. 1890–1945 (= Geschichte der Neuzeit 2), 3. erg. Auflage, Braunschweig 1960, 224. Ebd., 227.

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Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit

diese Situation die Position der Arbeiterklasse berührte, wird noch zu zeigen sein. Jedenfalls stand die geringe Änderung auf sozialem Gebiet in keinem Verhältnis zur politischen Stellung der Arbeiterklasse in diesem Zeitraum. Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Metropolen war die Frage der Erschließung neuer Energiequellen. Der Abstieg Englands und der Aufstieg der USA findet auch darin seinen Ausdruck. Die Bedeutung der Kohlenproduktion, eines zentralen Zweigs der englischen Wirtschaft, ging zurück. England hatte bis in die Gegenwart den Produktionsstand von 1913 nie wieder erreichen können. Einige Vergleichszahlen (in Millionen Tonnen)  : England

USA

Deutschland

Frankreich

1913

292,0

517,0

154,0

43,8

1920

233,1

597,0

140,8

24,3

1929

262,2

552,2

177,0

53,8

Im wichtigsten neuen Produktionszweig der Energiewirtschaft, der Elektrizität, lagen Gesamteuropa (ohne die Sowjetunion) und die USA 1920 etwa gleich auf. Einer Steigerungsrate von etwa 40 % bis zum Jahr 1929 in Europa stand ein Zuwachs von etwa 110 % in den USA gegenüber. Weit über den Rahmen der Frage nach der Energieproduktion hinaus muß man wohl grundsätzlich ein paar Überlegungen über die neue »Rangordnung« der Metropolen untereinander aufstellen. Politisch schien am Ende des Ersten Weltkrieges Frankreich sehr stark zu sein, es schien sich als dominierende Macht auf dem Kontinent etabliert zu haben. Allerdings hatte der Krieg das Land schwer belastet, die von England und den USA aufgenommenen Anleihen und die durch diese Schulden angeheizte Inflation schwächten die ökonomische Basis Frankreichs entscheidend. England war noch immer die führende Seemacht, die englische Flotte beherrschte die Meere. Eine deutsche Flotte gab es faktisch nicht mehr und die Auslieferung der deutschen Kolonien war ein leicht zu erzielender Beschluß. England mußte allerdings zur Kenntnis nehmen, daß auf vielen wichtigen Märkten, die bisher fast allein diesem Land zur Verfügung standen, die Konkurrenten Japan und die USA ihre Position entscheidend verstärken konnten. Die technische Entwicklung Englands war, bedingt durch die frühe Industrialisierung des Landes, hinter der Konkurrenz zurückgeblieben, was die englischen Produkte teurer und daher weniger konkurrenzfähig machte. Der Innovationsanreiz bleibt nämlich aus, solange mit alten Maschinen noch ein Profit zu erzielen ist, was selbstverständlich ist, wenn man akzeptiert, daß nicht »In-

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Nationale und globale Dimensionen politischer Dynamiken

novationsfreude« sondern der Profit die Triebfeder kapitalistischer Entwicklung ist. Zudem mußte England während des Krieges große Kredite aufnehmen und wurde zu einem Schuldner der USA. Unübersehbar ist der Aufstieg der USA zur finanziell und gesamtwirtschaftlich stärksten Macht im Laufe des Ersten Weltkriegs. 40 % des Goldvorrates der Welt befanden sich 1918 in amerikanischen Händen. Etwa 4 Milliarden Dollar Auslandsschulden standen 10 Milliarden Dollar gewährter Anleihen gegenüber, und dazu kamen noch 7 Milliarden Dollar langfristiger amerikanischer Kapitalanlagen im Ausland. Gemeinsam mit der gewaltigen Erhöhung des Anteils der USA an der Industrieproduktion der Welt war dies die Grundlage für den Sprung an die Spitze der wirtschaftlichen Macht in der kapitalistischen Welt. Auch Japans Aufstieg war beträchtlich. Japan konnte sich aus dem europäisch-amerikanischen Konflikt weitgehend heraushalten und eroberte sich während des Krieges faktisch die Monopolstellung auf dem ostasiatischen Markt. Das Außenhandelsvolumen hatte sich in den Kriegsjahren vervierfacht, der Goldvorrat verdoppelt. Anleihen, die den Ententemächten gewährt wurden, stärkten Japans Nachkriegsposition noch zusätzlich. Global ist zur wirtschaftlichen Entwicklung zu bemerken, daß trotz des starken Aufschwungs einiger Länder zum ersten Mal seit dem Beginn der Industrialisierung das weltweite Produktionswachstum ins Wanken geriet. »Der Erste Weltkrieg hatte es um 20 % verringert (1913–1921)  ; kaum hatte es sich erholt, da schränkte die Wirtschaftskrise von 1929–1932 es abermals um ein Drittel ein (was weitgehend an dem gleichzeitigen Zusammenbruch aller größeren Industriemächte bis auf Japan und die UdSSR lag). Noch wichtiger ist, daß die drei großen internationalen Ströme von Kapital, Arbeit und Waren, auf die sich die liberale Weltwirtschaft gegründet hatte, austrockneten. Der Welthandel mit Fabrikerzeugnissen erlangte erst 1929 wieder seinen Stand von 1913 und erlebte dann einen Sturz um ein Drittel  ; 1939 hatte er sich noch nicht erholt, sein Wert war in der Wirtschaftskrise von 1929 um die Hälfte gesunken. Der Welthandel mit Grundstoffen – der für Großbritannien, das vor allem an Hersteller verkaufte, lebenswichtig war – sank nach 1929 um mehr als die Hälfte. Obwohl die Grundstoffproduzenten größere Mengen zu Mindestpreisen verkauften, konnten sie 1936/38 doch nicht mehr als zwei Drittel dessen kaufen, was sie 1913 hatten kaufen können, bzw. mehr als ein Drittel dessen, was sie 1926–29 gekauft hatten. Überall entstanden Mauern entlang der Grenzen, die den freien Eingang von Menschen und Waren und den Ausgang von Gold verhindern sollten.«3 3

Eric J. Hobsbawm, Industrie und Empire. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750, Bd. 2, Frankfurt am Main 1969, 52.

Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit

Die Weltwirtschaft und die Weltpolitik zeigt in der Zwischenkriegszeit 4 Hauptetappen, die weitgehend in allen Metropolen aufgezeigt werden können  : 1. Die Phase der Neuorientierung nach Kriegsende, beherrscht von Inflation und Revolutionserwartung. Außenpolitik und Sozialpolitik werden als Mittel gegen revolutionäre Bewegungen eingesetzt. Verträge legen die neuen Machtstrukturen zwischen den Staaten fest. Die gesteigerte Nachfrage nach Konsumgütern heizt die Inflation mächtig an. 2. Die Phase der Konsolidierung der Wirtschaft und der Macht des Bürgertums. Die revolutionären Bewegungen außerhalb Rußlands sind zerschlagen oder in das System integriert. Die Währungen sind wieder stabil, die Rückkehr zum Goldstandard wird durchgeführt. Multinationale Konzerne beginnen sich auszubilden, ohne die Verschärfung der Widersprüche zwischen den Metropolen verhindern zu können. Die geringe Aufnahmefähigkeit der inneren Märkte und die Einengung des äußeren Marktes durch den Ausfall der Sowjetunion sowie der Kampf um wichtige Rohstoffe führen zu Protektionismus und zu Konflikten in der Dritten Welt. 3. Die Phase der Weltwirtschaftskrise, die das System des individuellen und partiell freihändlerischen Kapitalismus endgültig zerstörte und zu einer Existenzkrise führte. Die soziale Deklassierung ermöglichte dem Faschismus die Gewinnung einer Massenbasis in Deutschland und stellte das demokratische System in Frage. Allgemeine Tendenz zu Nationalismus und verstärktem Protektionismus. Die Einengung des Welthandels bot den Ländern der Dritten Welt gewisse Chancen für die Indust­ rialisierung, da Güter nun im eigenen Land hergestellt werden mußten, die bisher eingeführt wurden (Importsubstitutionsindustrialisierung). 4. Die Modelle des Auswegs aus der Krise, die grundsätzlich auf dem Gedanken eines stark interventionistischen Staates aufbauen, werden in den Metropolen in verschiedener Intensität eingesetzt. Der »starke Staat« in seiner reinsten Form, im Faschismus, unterdrückte jede oppositionelle Bewegung mit Terror und Gewalt. Diese engste Verknüpfung von (noch) nationalem Staat und Wirtschaft führt zu übersteigerten Formen nationalistischer Ideologie und zum Versuch, die eigene Wirtschaft auf Kosten anderer zu sanieren. Dies führt schließlich zum Zweiten Weltkrieg.

2. Die Weiterentwicklung der »klassischen« Imperialismustheorien Es gehört zu den erstaunlichsten Phänomenen der Entwicklungsgeschichte politischer und ökonomischer Theorien, daß jene Fragestellungen, die vor dem Ersten Weltkrieg einen Mittelpunkt der Diskussion bildeten und die zur Ausbildung der liberalen und marxistischen Imperialismustheorien führten, in der Zwischenkriegszeit weit in den

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Nationale und globale Dimensionen politischer Dynamiken

Hintergrund rückten. Für die liberale Theorie ist der Grund dafür leicht zu finden. Als eine durch die Ereignisse überrollte und diskreditierte Weltanschauung mußten sie sich erst der veränderten Situation anpassen und kam für einige Jahrzehnte über defensive Rechtfertigungstheorien nicht hinaus. Erst in den dreißiger Jahren hatte der Liberalismus, nunmehr weit entfernt vom klassischen laissez-faire-Prinzip, seine neue Position gefunden. Es war vor allem J. M. Keynes, der mit seiner »General Theory« im Jahre 1936 diese neue Form fixierte, die zwar grundsätzlich an der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems (und damit der Eigentumsverhältnisse) festhielt, jedoch erkannte, daß dies nur mit Hilfe eines stark interventionistischen Staates möglich ist. Der Keynesianismus ist bis heute die theoretische Grundlage staatlicher Wirtschaftspolitik in der kapitalistischen Welt. Wesentlich vielschichtiger muß man die Frage nach den Ursachen des ­marxistischen Theoriedefizits zum Imperialismus in der Zwischenkriegszeit zu erklären versuchen. Zweifellos aber kann man verallgemeinernd sagen, daß in diesen Jahrzehnten andere Probleme im Vordergrund standen, die die Imperialismusdiskussion der gesamten Linken überlagerten und deren Weiterführung hemmten. Einen echten Umschwung brachten hier erst die sechziger Jahre, als neue theoretische Ansätze und empirische Arbeiten die Stagnation überwanden. Für die Arbeiterbewegung hatte der Erste Weltkrieg die bis heute entscheidende Spaltung in zwei Hauptrichtungen gebracht, die sich bereits in der Revisionismusdiskussion um die Jahrhundertwende angekündigt hatte. Die Positionen in der Imperialismusdiskussion entsprachen somit in der Zwischenkriegszeit den fraktionellen Positionen innerhalb der Arbeiterbewegung. Für die Kommunisten wurde Lenins theoretischer Ansatz zum Dogma, und starke Argumente konnten für die Richtigkeit dieser Position angeführt werden. Lenins Verbindung von Monopolkapital und Imperialismus hatte in der Zwischenkriegszeit sogar entschieden mehr Berechtigung als zur Zeit des Entstehens der Theorie, als Lenin ein Phänomen der deutschen Entwicklung verallgemeinerte. Dazu kam, daß die objektiven Interessen der Arbeiterklasse in den Metropolen zunehmend, zumindest soweit sie den Lebensstandard betrafen, proimperialistisch waren. Lenins Theorie der »korrumpierten Arbeiteraristokratie« traf nun weitgehend auf die gesamte, hauptsächlich an gewerkschaftlichen Fragen interessierte Arbeiterbewegung der industrialisierten Länder zu. Der Kapitalexport verzögerte die Vergrößerung des konstanten Kapitals im Inland, die Arbeitsplätze waren dadurch sicherer.4 Zudem ermöglichten die großen Auslandsprofite 4

Ausführlich dazu  : Peter Feldbauer, Der klassische Imperialismus, in  : Alfred Bergmiller/Peter Feldbauer (Hg.), Kolonialismus, Imperialismus, Dritte Welt, Bd. 1 (= Geschichte und Sozialkunde 2/1, Reihe »Lehrbehelfe«), Salzburg 1977, 91 ff.

Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit

partielle Zugeständnisse an die Gewerkschaftsbewegung in den Metropolen. Der »Sozialimperialismus« als Ablenkungsstrategie von inneren Problemen und als Instrument zur Aufrechterhaltung des bestehenden Systems mußte umso wirksamer sein, als diese Politik bereits von Arbeiterparteien, deren Integration in den Staat weit fortgeschritten war, bewußt mitgetragen wurde. Die von Johan Galtung 1971 in seiner »Structural Theory of Imperialism« gewonnene Erkenntnis von den divergierenden Interessen der Arbeiterklassen in den Metropolen und den Peripherien bei gleichzeitiger Interessensharmonie der Besitzenden in beiden Gebieten läßt sich in diesem Zeitraum bereits deutlich belegen. Nicht zufällig fällt in diese Periode der Rückgang der bislang starken internationalen Komponente der Arbeiterbewegung, deren übernationale Organisationen in den kapitalistischen Metropolen bis heute eher bedeutungslos sind. Solange die Organisierung der Wirtschaft den nationalen Rahmen nur in der Beziehung zu den Peripherien überschritt, solange also die multinationalen Konzerne noch eine eher seltene Form darstellten, war auch die Arbeiterbewegung vor dem Eindringen nationalen Gedankengutes in ihre Reihen nicht gefeit. Das hatten bereits die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg nur zu deutlich vor Augen geführt. Der Imperialismus hat im Nationalismus seine ideologische Basis, sobald seine freihändlerische Anfangsphase überwunden ist. Die partielle Interessensharmonie von Imperialisten und einheimischer Arbeiterklasse erleichterte die Ausweitung der anfangs eher kleinbürgerlichen Ideologie des Nationalismus auf breite Kreise der Arbeitnehmer. Imperialismus und Nationalismus sind in diesem Zeitraum so eng miteinander verknüpft, daß Ursache und Wirkung gar nicht exakt getrennt werden können. So kann man zwar sagen, »daß der Imperialismus als Bewegung, oder, wenn man will, als Ideologie, zum Nationalismus überleitete, weil keine andere populäre Basis verfügbar war. Freilich kann diese Behauptung auch dahin umgekehrt werden, daß der Nationalismus zum Imperialismus wurde, sooft sich dazu Gelegenheit bot«5. So war der Nationalismus zweifellos eine jener Fragen, mit der sich die Arbeiterbewegung der westlichen Metropolen vordringlich beschäftigen mußte, vor allem in jenem Zeitabschnitt, in dem der Nationalismus zur aggressivsten Form, dem Faschismus, wurde. Da sich einerseits der Imperialismus in der Zwischenkriegszeit erst zu den Formen entfaltete, die Lenin in seiner Theorie dargelegt hatte, anderseits das Schicksal der Arbeiterklasse der Peripherien kaum im Blickfeld der europäischen Arbeiterbewegung lag, lief die marxistische Diskussion für Jahrzehnte an dieser Frage vorbei. Die Fragen des Verhältnisses zum bürgerlichen Staat, zur Demokratie, zur Sowjetunion und die 5

Georg Lichtheim, Imperialismus, München 1972.

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Nationale und globale Dimensionen politischer Dynamiken

Entwicklung von Abwehrstrategien gegen den Faschismus beherrschten die theoretischen Arbeiten. Die Spaltung der Arbeiterbewegung hatte auch für ihr Verhältnis zu ökonomischen Fragen entscheidende Bedeutung. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 hat deutlich die Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems vor Augen geführt. Zwei Auswege boten sich an  : auf der einen Seite hatte die Sowjetunion ihre erstaunliche Unanfälligkeit für die Krise deutlich dokumentiert, auf der anderen Seite standen die Ideen der Keynesianer. Für Kommunisten war die Entscheidung klar, die Sozialdemokraten aber folgten, zumindest in der Praxis, dem Beispiel der englischen Labour Party, die den Keynesianismus zu ihrer Position machte. Ihre Integration in das bestehende System war zu weit fortgeschritten, um revolutionäre Lösungen noch möglich zu machen. Man mußte auf Staatsinterventionen im System setzen, um Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit einigermaßen verhindern zu können. Während also die Kommunisten die leninistische Position auch in der Imperialismusfrage übernahmen, wurde innerhalb der Sozialdemokratie aus den bereits angeführten Gründen kaum eine Diskussion geführt. Wo Fragen aufgegriffen werden, zeigen sich große Unsicherheiten. Leichter als die Sozialdemokraten taten sich die Gruppierungen links von ihr, und von hier stammt auch die einzige wirklich geschlossene Imperialismustheorie der Zwischenkriegszeit. Fritz Sternberg hat sie 1926, deutlich auf der Linie Rosa Luxemburgs liegend, in seinem Buch Der Imperialismus entwickelt. Sternberg ist es dabei vor allem gelungen, den Zusammenhang zwischen Imperialismus und Arbeitslohn in den Metropolen klar herauszuarbeiten, indem er aufzeigte, daß jenes bereits von Marx entwickelte Gesetz der Einengung der Elastizität des Arbeitslohns und dessen Senkung im Imperialismus für längere Zeit, vielleicht sogar für Generationen, außer Kraft gesetzt ist.6 Diese Möglichkeit der Lohnerhöhung in bestimmten Zeiten habe aber innerhalb der Arbeiterbewegung zu einer Verabsolutierung des reformistischen Weges geführt, was Sternberg heftig kritisiert. Der Imperialismus ist zwar gekennzeichnet durch eine Abschwächung der dem Kapitalismus immanenten Widersprüche in den kapitalistischen Ländern selbst, aber die Entladung dieser Widersprüche hat sich an die kapitalistische Peripherie verlagert. »Die Situation des Weltkapitalismus nach 1918/19 ist nach Sternberg gekennzeichnet durch a) Verringerung der imperialistischen Expansionsmöglichkeiten, b) daraus sich ergebend  : Verschärfung der Konkurrenzkämpfe auf dem Weltmarkt, als Folge davon wiederum c) die 6

Fritz Sternberg, Der Imperialismus (= Archiv sozialistischer Literatur 23), Berlin 1971, 78. Nachdruck des Originaltextes aus dem Malik-Verlag 1926.

Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit

Periode der Rationalisierung, d. h. der forcierten Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und wiederum damit verbunden d) in Ausnutzung der entstandenen Kapazitäten Bildung von Monopolen ganzer Industriezweige mehrerer Länder, ja bereits weltumspannend. Der Kapitalismus befindet sich insgesamt nicht mehr in einer Aufstiegs-, sondern in einer Niedergangsperiode, so daß sich die Struktur des gesamten Konjunktur- und Krisenzyklus verändert und die Tendenzen zur fortschreitenden Verschärfung und Dauer der Krise sich durchsetzen  ; es zeichnet sich die gewissermaßen höchste Form der kapitalistischen Krise ab  : die ›Krise in Permanenz‹, zumindest wird es im Rahmen des kapitalistischen Systems immer schwieriger, Gegenkräfte zu organisieren, Auftriebstendenzen in Gang zu bringen, die die Krisenerscheinungen überkompensieren können. Doch rechnet Sternberg nicht mit einer endgültigen Erschütterung des kapitalistischen Systems in absehbarer Zeit.«7

Es ist bezeichnend, daß die sozialdemokratische Kritik an Sternbergs Buch, die vor allem von Otto Neurath und Helene Bauer vorgetragen wurde, das große Theoriedefizit der Sozialdemokratie in der Imperialismusdiskussion deutlich machte. Den ökonomischen Erklärungsmodellen der Widersprüche zwischen den Industriestaaten und den daraus resultierenden Konflikten hielt man entgegen, daß der Erste Weltkrieg »aus Verbrechen und Leichtsinn militärischer Cliquen, aus dynastischem Interesse der Habsburger, aus dem Größenwahn Wilhelms II., aus der Prestigepolitik der Romanows entstand«.8 Es soll hier keineswegs gesagt werden, daß diese Motive bedeutungslos waren. Selbstverständlich ließ die hierarchische Gesellschaft der Willkür von Einzelpersonen noch einen großen Spielraum, und eine ernstzunehmende Geschichtsbetrachtung wird diese Komponente nicht vernachlässigen können. Es dürfte aber heute wohl außer Streit stehen, daß die ökonomische Entwicklung das letztbestimmende Kriterium geschichtlicher Prozesse darstellt und daß gerade die beiden großen Kriege unseres Jahrhunderts den Primat der Wirtschaft nachdrücklich bestätigen.

7

8

Helga Grebing, Faschismus, Mittelschichten und Arbeiterklasse. Probleme der Faschismusinterpretation in der sozialistischen Linken während der Weltwirtschaftskrise, in  : Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 12/4 (1976), 446. Helene Bauer, Der Imperialismus, in  : Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift 20 (1927), 11.

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3. England in der Zwischenkriegszeit Als Ergebnis des Ersten Weltkriegs fielen England neue Gebiete mit Kolonialcharakter zu. Das britische Empire bedeckte nun einen größeren Teil der Erdkarte als je zuvor. Seine Dominions, deren relative Selbständigkeit durch eigene Delegationen und Unterschriftsleistungen bei den Friedensverhandlungen dokumentiert wurde, erhielten Völkerbundsmandate übertragen, was praktisch bedeutete, daß einige ehemals deutsche Kolonien nunmehr dem Empire angehörten. Aber trotz dieser Ausweitung vollzog sich der Zusammenbruch der englischen Weltherrschaft in diesen Jahren um den Krieg. England hatte im Krieg ein Drittel seines Nationalvermögens eingebüßt, die Staatsschulden hatten sich verzwölffacht und die Tilgung der Zinsen verschlang große Teile des Budgets. Der kurzen verstärkten Nachfrage nach Massenbedarfsartikeln bei Kriegsende folgte eine Wirtschaftskrise, die im Jahre 1919 die Ausfuhr englischer Waren um 45 % unter den Wert von 1913 fallen ließ. Die Vereinigten Staaten hatten England aus den Märkten Süd- und Mittelamerikas und im Fernen Osten zurückgedrängt. In den Dominions hatte sich während des Krieges beschleunigt eine eigene Industrie herausgebildet, besonders in Kanada, aber auch in Australien und teilweise in Südafrika. Der russische Markt fiel zur Gänze aus. Dennoch schien die Londoner City, das traditionelle Zentrum der Handels- und Finanzgeschäfte, der Krise standzuhalten, da vor allem die Einnahmen der Banken und Versicherungen nicht ausblieben. Die englische Außenpolitik dieser Epoche ist durch eine eigenartige Zwischenposition geprägt  : Obwohl Teil Europas, versuchte man sich aus der kontinentalen Politik weitgehend fernzuhalten und verstand sich als Zentrum eines außereuropäischen Weltreiches. Nur das Konkurrenzverhältnis zu Frankreich und die Ablehnung der russischen politischen Umgestaltung ließen England, das Deutschland aus beiden Motiven aufzuwerten trachtete, am Kontinent aktiv werden. Im Inneren Englands hatten sich entscheidende Änderungen vollzogen, die auch die Außenpolitik dieser Jahre mitbestimmen sollten. 1914 besaß England von den großen Industrienationen die am wenigsten konzentrierte Wirtschaftsform, der hochspezialisierte Mittelbetrieb, meist in Familienbesitz, dominierte. Es gab nur wenige Monopolprodukte, und die waren von geringer Bedeutung (Nähgarn, Tapeten etc.). 130 private Eisenbahnunternehmungen und 38 Aktienbanken charakterisieren die dezentralisierte Struktur der englischen Wirtschaft. Der Erste Weltkrieg leitete einen raschen Monopolisierungsprozeß ein. Die Nachkriegszeit sah etwa nur mehr vier nicht miteinander konkurrierende Monopolgesellschaften bei den Eisenbahnen, und bei den Banken beherrschten die »Big Five« das Terrain. Die 1916 gegründete Federation of British Industries umfaßte Betriebe, deren Belegschaftsstärken ein Drittel aller

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Arbeiter des Landes ausmachten und die Gesellschaft der Lever Brothers (später der englische Teil der »Unilever«) kontrollierte 1921 nicht weniger als 160 Unternehmen. Parallel mit der Monopolisierung zeigte sich eine Abkehr vom Freihandel hin zum Protektionismus und, wegen der mangelnden Konkurrenzfähigkeit in Industrieländern, ein größeres Interesse an der Sicherung der Märkte des Empires. Die englische Wirtschaftskonzentration der Zwischenkriegszeit ist allerdings kein Ausdruck einer besonderen Dynamik, sie hat ihre Wurzeln viel eher in einem defensiven Protektionismus. Man verzichtete auf den Wettbewerb nach außen (Schutzzölle) und nach innen, um einer technologisch überalterten Industrie die Profite zu sichern. Die Abkehr vom unsicheren Weltmarkt und die Hinwendung zum geschützten Inlandsmarkt zeigt sich etwa am Stahlsektor. In den Jahren 1910 bis 1914 wurden von einer Gesamtproduktion von 7 Millionen Tonnen nur 5 Millionen Tonnen im Inland verbraucht, in den Jahren 1927 bis 1931 ging beinahe die gesamte Produktion (7,6 von 7,9 Millionen Tonnen Stahl) in die heimische Fertigungsindustrie.9 Die traditionell exportorientierten Industrien, etwa die Baumwollindustrie, steckten in einer tiefen Krise, während jene Betriebe, die für den Inlandsmarkt produzierten, florierten. Besonders deutlich wird diese Hinwendung zum Inlandsmarkt, wenn man den ungeheuren Aufschwung des Einzelhandels in diesen Jahren betrachtet, der vor allem die Kaufkraft der Arbeiter auszunutzen verstand. Politisch bedeutete diese Entwicklung, daß die liberale Partei, die Partei des Freihandels und der Unternehmerfamilie, an Einfluß verlor, ein Prozeß, der durch die endgültige Demokratisierung des Wahlrechtes zusätzlich verstärkt wurde. »Die Konservativen wurden zusehends protektionistischer, bis sie sich ziemlich offen mit allen monopolistischen Interessen identifizierten, die innerhalb des offiziell so genannten gesonderten Schutzbereiches des britischen Empires lagen. Das war der Abschied vom goldenen Zeitalter, in dem den britischen Fabrikanten und Investitionen die ganze Welt offen gestanden hatte.«10

Als Gegenstück zum Abstieg der Liberalen ist der Aufstieg der Labour Party zu sehen, deren Stimmenanteil von einer halben Million im Jahre 1910 auf viereinhalb Millionen im Jahre 1922 angewachsen war. Die Labour Party war eine Klassenpartei, die Partei der manuell Arbeitenden, ohne allerdings eine marxistische Partei zu sein oder revolutionäre Vorstellungen zu verfolgen. Aus den Gewerkschaften hervorgegangen, ging es ihr darum, die materielle Situation der Arbeiter zu verbessern, nicht aber um   9 Nach Hobsbawm, Industrie, 53. 10 Lichtheim, Imperialismus, 115.

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eine Änderung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Dies wurde nicht zuletzt in den Perioden der Labour-Regierungen deutlich. Trotz aller politischer und wirtschaftlicher Änderungen wurde, speziell in der Londoner City, der Traum von der Rückkehr zur liberalen Freihandelstradition bis zur Weltwirtschaftskrise nicht aufgegeben. Das verstärkte das Unverständnis für die neue Situation und hemmte die Entwicklung und den Einsatz von Mitteln gegen die Krise. Die zentrale Rolle in den englischen außenwirtschaftlichen und außerpolitischen Überlegungen nahmen die Dominions ein, Gebiete, in denen man sich durch politische Schutzmaßnahmen die überlegene Konkurrenz vom Leibe halten konnte. Wie wertvoll das Empire für England war, hatte sich im Weltkrieg gezeigt. Indien etwa trug entscheidend an den Kosten des Krieges mit, und zwar in der Form von direkten Zahlungen mehrerer hundert Millionen Pfund Sterling und durch eine Vergrößerung der Nichtäquivalenz im Außenhandel. Die Preise für Importwaren stiegen in den Kriegsjahren um 168 %, die der Exportgüter nur um 50 %. In vielen Teilen des Empire hatte sich, wie bereits erwähnt, im Krieg eine einheimische Industrie herangebildet, die ihre eigenen Interessen zu wahren versuchte und die nun mit den Interessen Englands in Einklang gebracht werden mußten. Das erklärt die großen Zugeständnisse und die Suche nach neuen Organisationsformen für das Empire in der Zwischenkriegszeit. Schon 1910 wurde von der Zeitschrift Round Table die Idee einer Staatengemeinschaft propagiert, aber erst die veränderte wirtschaftliche Situation am Ende des Ersten Weltkriegs ließ die politischen Konsequenzen folgen. 1923 erhielten die Dominions das Recht zum Abschluß selbständiger Staatsverträge. Dieses neue Element in der Weltpolitik sollte in den Folgejahren eine erstaunliche Haltbarkeit beweisen und die englische Stellung eher festigen als schwächen. Einen entscheidenden Markstein in der Entwicklung zum Commonwealth of Nations bildete die Reichskonferenz des Jahres 1926, auf der die sogenannte »Balfour-Formel« angenommen wurde, die anerkannte, daß die Dominions Kanada, Australischer Bund, Neuseeland, die Südafrikanische Union, der Irische Freistaat und Neufundland autonome Gemeinschaften innerhalb des britischen Empire sein sollten. Sie sollten gleichberechtigt sein, keiner dem anderen untergeordnet, aber geeint durch die gemeinsame Treue gegen die Krone. Dies war die Geburtsstunde des freiwilligen Commonwealth of Nations, in dem England nur noch gewisse Einflußnahmen auf die Gesetzgebung in den Dominions erhalten blieben. Es konnte allerdings nicht verhindert werden, daß die Dominions manchmal eine recht eigenständige Politik betrieben und daß etwa in Kanada der englische Einfluß teilweise an die Vereinigten Staaten verloren wurde. Das 1931 verabschiedete »Statut von Westminster« hob schließlich auch noch die einschränkenden Vorbehalte Englands in der Gesetzgebung

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der Dominions auf. Strittig blieb lange Zeit die Frage der Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem »Mutterland« und den Dominions, doch darauf wird noch gesondert zurückgekommen. Die frühen zwanziger Jahre zeigten ein deutliches Scheitern von außenpolitischen Ambitionen der ersten englischen Nachkriegsregierung unter Lloyd George. Die Intervention in Rußland hatte sich als Mißerfolg entpuppt und der nationale Befreiungskampf gegen England war nicht nur in Irland, sondern auch in Indien und Ägypten entbrannt. Pläne, aus den Gebieten der zerfallenen Türkei einen Teil zu erobern, waren gescheitert, der Sieg der türkischen Nationalisten zwang die Ententemächte 1922 zu einem Waffenstillstandsabkommen, das einem Verzicht auf viele im Vertrag von Sèvres erhobene Forderungen gleichkam. Nach dem Rücktritt der konservativ-­ liberalen Regierung und den Neuwahlen von November 1922 kam die konservative Partei allein an die Macht, die Labour Party stellte die wichtigste Oppositionsgruppe dar. Die neue Regierung betrieb vor allem die Einführung von Schutzzöllen, eine Politik, die auf Ablehnung in der Bevölkerung stieß. So kam nach Neuwahlen im Dezember 1923 erstmals die Labour-Party an die Regierung. Sie war allerdings von der Unterstützung der Liberalen im Parlament abhängig. Wie sehr die englische Außenpolitik von wirtschaftlichen Notwendigkeiten bestimmt war, zeigte die Politik dieses Labour-Kabinetts, die sich kaum von der Vorgangsweise der vorangegangenen Regierungen unterschied. Die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion und der Abschluß eines Handelsvertrages bildeten die einzigen Maßnahmen, die aus der Reihe fielen. In Ägypten und Indien wurden Truppen gegen die Befreiungsbewegungen eingesetzt, die Aufwertung Deutschlands durch die Teilnahme am Dawes-Plan wurde fortgesetzt. Innenpolitisch gab es allerdings Fortschritte in der Sozialpolitik durch staatliche Subventionen zum Bau billiger Wohnungen, durch die Verbesserung der Arbeitslosenversicherung und durch Steuersenkungen bei Verbrauchsgütern. Rücksichtnahmen auf die Liberalen verhinderten allerdings die Durchführung des in den Wahlen angekündigten Nationalisierungsprogrammes. Durch die Enttäuschung breiter Stammwählerkreise verlor die Labour Party schließlich die Neuwahlen von 1924. Die folgende konservative Regierung hatte im Generalstreik des Jahres 1926, der größten Streikbewegung in der Geschichte Englands, eine innenpolitische Kraftprobe zu bestehen. Die Niederlage der Arbeiterklasse leitete eine Periode der Schwächung der gewerkschaftlichen Macht ein. 1927 wurde ein »Gesetz über Konflikte in der Industrie und über Gewerkschaften« beschlossen, dem die Arbeiter den Namen »Streikbrechercharta« gaben. Im sogenannten »Mondismus« wurde schließlich eine Politik der Sozialpartnerschaft installiert, die Initiativen auf betrieblicher Ebene zusätzlich erschwerte.

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Außenpolitisch gelang es dieser Regierung, endlich die strittige Frage des Anspruchs auf die irakischen Ölfelder zu regeln. Im Mosul-Vertrag von 1926 erhielt der Irak das Gebiet zugesprochen, die Anteile der irakischen »Petroleum Company« blieben allerdings in ausländischem Besitz. Sie wurden einer englischen (52,5 %), einer amerikanischen (21,25 %) und einer französischen (21,25 %) Gruppe von Ölfirmen geteilt. Dennoch waren damit die Probleme im Nahen Osten, wo England mit Frankreich um Einflußsphären rang, noch nicht beseitigt. Transjordanien wurde nach seiner Trennung von Palästina der engste Bündnispartner Englands im Nahen Osten. Die Frage der Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden, die 1917 in der Balfour-Deklaration zugesagt worden war, wurde nicht gelöst, Palästina blieb weiterhin britisches Mandatsgebiet. Daß gerade der Nahe Osten in diesem Zeitraum Hauptschauplatz der Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten wurde, hing natürlich mit der wachsenden Bedeutung der neuen Energiequelle, dem Erdöl, zusammen. Als 1929 die Weltwirtschaftskrise ausbrach, war auch England davon betroffen, allerdings nicht im gleichen Ausmaß wie etwa Deutschland oder die USA. Das hing mit der Schwäche der englischen Industrie zusammen, die den Aufschwung der anderen Staaten nur begrenzt mitvollzogen hatte und daher wegen der mangelnden Höhe nicht so tief fallen konnte. Dennoch sank der Index der Industrieproduktion auf 83 % im Jahre 1932 (1929 = 100 %) und 22 % Arbeitslose dokumentieren das Ausmaß der sozialen Katastrophe, die allerdings in Deutschland doppelt so groß war. Besonders schwer betroffen war der Außenhandel. Innerhalb der Jahre von 1929 bis 1933 sanken die Importe um fast zwei Drittel, die englischen Exporte reduzierten sich um mehr als die Hälfte. Diese ökonomische Situation fand natürlich ihren Niederschlag in der Innen- und Außenpolitik des Landes. Die Labour-Regierung, die seit 1929 an der Macht war, konnte den Trend zum Nationalismus nicht auffangen, was zu einer Spaltung der Partei und zur Bildung einer »Nationalen Regierung« führte. Diese nationale Koalition (Konservative und der nationale Labour-Flügel) betrieb im Inneren eine Politik der Einsparungen, was einerseits sozialpolitisch verhängnisvoll war, andererseits den Wiederaufschwung der Wirtschaft unfreiwillig verzögerte. Außenpolitisch war nun das gesamte Interesse den Kolonien und den Dominions zugewandt, da sich die Schutzzollpolitik aller Staaten verschärfte. Die nationalen Befreiungsbewegungen und der Versuch vor allem der USA, ökonomisch in das Empire einzudringen, hatten die Grundlage der englischen Herrschaft geschwächt, was die Position der Dominions stärkte. Das oben erwähnte »Statut von Westminster« war Ausdruck dieses Kräfteverhältnisses. Im gleichen Jahr 1931 schuf England den Sterling-Block, zu dem eine Reihe von Staaten gehörte, deren Währungen vom Pfund Sterling abhingen. Der Block umfaßte Großbritannien, die Kolonien und Do-

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minions, die skandinavischen Länder, Portugal und Argentinien. Die letzten Reste des liberalen Freihandels wurden beseitigt und ein rigider Protektionismus schützte vor ausländischer Konkurrenz. Im Jahre 1932 wurde in Ottawa ein Abkommen unterzeichnet, das ein System von Präferenzzöllen für die Einfuhr englischer Waren in die Dominions und umgekehrt errichtete. Ein kurz vorher abgeschlossener Handels­vertrag mit der Sowjetunion wurde wieder gekündigt, da er die Anwendung des Meistbegünstigungsprinzips vorgesehen hatte. Die direkte Abhängigkeit der außenpolitischen Aktivitäten von der ökonomischen Situation ist in diesem Zeitraum wohl unübersehbar. Die späte Übernahme der keynesianischen Erkenntnisse verlangsamte den Wiederaufstieg der englischen Wirtschaft. Eine gewisse Belebung setzte erst ein, als die Regierung ab 1934 zur Erweiterung der Rüstungsproduktion die Metallindustrie subventionierte und die Einfuhr von Erzeugnissen des Maschinenbaus und der chemischen Industrie durch ein Lizenzsystem regulierte. Allerdings versuchte die nationale Regierung, mit Deutschland und Japan ins Gespräch zu kommen, speziell um gegen die Sowjetunion zu wirken. »Britische Firmen versorgen das faschistische Deutschland ausgiebig mit solchen strategisch wichtigen Rohstoffen wie Kupfer, Aluminium und Nickel. Zur Finanzierung dieser Lieferungen gewährte die Bank von England der Deutschen Reichsbank im Dezember 1934 eine Anleihe von 750.000 Pfund Sterling. Die ›Nationale Regierung‹ begünstigte die Pläne zur Remilitarisierung Deutschlands und erhob auch keinen Einspruch, als Deutschland unter offener Verletzung des Versailler Friedensvertrages im März 1935 die allgemeine Wehrpflicht wiedereinführt.«11

Das Auftreten gegen Italien im Abessinienkonflikt war laut, aber nur verbal. Die wenig feindliche Politik gegenüber den faschistischen Ländern wurde von einem Parlament vertreten, in dem die Konservativen die Mehrheit hatten und dessen Abgeordnete zum Großteil aus den obersten Gesellschaftsschichten kamen. Fast ein Drittel der konservativen Abgeordneten kam aus Industriellen- oder Bankierfamilien, etwa die Hälfte der 387 Konservativen teilte unter sich 775 Direktorenposten in Industrie­ unternehmungen und Banken. Erst die Regierung Chamberlain, die im Mai 1937 vereidigt wurde, erkannte die Konsequenzen der bisherigen Außenpolitik, als Deutschland, Italien und Japan mit Nachdruck, eine Neuaufteilung der Welt anzustreben begannen. Nun wurde Singapur als Kriegshafen ausgebaut und Maßnahmen zur Verteidigung Australiens und 11 Evgenij M. Shukov (Hg.), Weltgeschichte in zehn Bänden, Bd. 9, Berlin 1968, 398.

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Neuseelands getroffen. Das Militärbudget wurde auf das Dreifache erhöht. Die kolonialen Ansprüche des deutschen Imperialismus, der in Lateinamerika den Einfluß Englands längst überflügelt hatte (Anteil des deutschen Außenhandels am Import in Brasilien 25 %, in Chile 26 % und in Peru 16 %, die Werte Englands lagen bei 10 %, 9,5 % und 8 %), begannen sich in Richtung der Rückgabe der 1918 verlorenen afrikanischen Kolonien zu entwickeln. England konnte nur durch eine Annäherung an die USA und an Frankreich dieser Tendenz entgegenwirken. So kam es zur Bildung der zwei Lager in der imperialistischen Welt, wobei auf der einen Seite der faschistische Block die Umstellung seiner Wirtschaft auf die Erfordernisse des Krieges bereits abgeschlossen hatte, während in England, Frankreich und den USA dieser Prozeß erst anlief. Hier liegen die ökonomischen Ursachen für die Befriedigungpolitik, die speziell England bis zum Kriegsausbruch einschlug, und nicht zuletzt erklärt diese wirtschaftliche Situation den Eintritt in Verhandlungen mit der Sowjetunion. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sah Englands Wirtschaft ganz anders aus als 1914. Es hatte eine gewaltige Ausweitung des tertiären Sektors stattgefunden. »Es gab nun weniger Landwirte, aber viel mehr Staatsangestellte, weniger Bergarbeiter, aber viel mehr Straßentransportarbeiter, weniger Industriearbeiter, aber viel mehr Verkäufer und Büroangestellte.«12 Großbritannien war ein Land mit zwei divergierenden Wirtschaftsbereichen geworden, einem veralteten (vornehmlich die Textilindustrie) und einem modernen (Elektroindustrie, chemische Industrie etc.). Beide Bereiche aber unterlagen den geschilderten Monopolisierungstendenzen, beide wurden, speziell im Krieg, zunehmenden staatlichen Interventionen ausgesetzt. Der Krieg zwang England die am stärksten staatlich geplante und geleitete Wirtschaft auf, die jemals außerhalb eines sozialistischen Landes eingerichtet wurde. Aber nur so konnte es den schwachen und veralteten Strukturen gelingen, die große Auseinandersetzung auch durchzustehen.

4. Die USA als dominierende imperialistische Macht Der Erste Weltkrieg erwies sich für die Wirtschaft der USA als äußerst einträgliches Geschäft. Die unmittelbar nach dem Krieg von Präsident Harden geprägte Devise des »America first«, hatte bereits in den Jahren zuvor volle Gültigkeit. Die USA fühlten sich kaum versucht, in den europäischen Konflikt einzugreifen, zumal ihnen die Neutralität riesige Gewinne brachte. Die Kapitalinvestitionen in der US-Industrie hatten sich während der Kriegsjahre verdoppelt, ebenso der Reingewinn der Unternehmen. 12 Hobsbawm, Industrie, 59.

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Die Tonnage der Handelsflotte hatte sich mehr als verdreifacht und New York hatte London als finanzpolitisches Zentrum der Welt abgelöst. Die USA verwandelte sich von einem Land, das Kapital importierte, in ein Land, das als Gläubigerstaat auftrat. 40 % der Goldvorräte der Welt hatten sich während des Krieges in den Vereinigten Staaten angesammelt. Auch die Eroberung von Absatzmärkten, Rohstoffquellen und Kapitalanlagesphären hatte in diesen Jahren große Fortschritte gemacht. So besaß etwa die »National City Bank of New York«, die zur Rockefeller-Gruppe gehörte, im Jahre 1914 nur eine einzige Auslandsfiliale, im Jahre 1919 waren es 74 Zweigstellen in fremden Ländern. Die »Guarantee Trust Company« gründete im Jahre 1919 in vielen Ländern Europas und Lateinamerikas Filialen und nahm Bank- und Handelsoperationen in Indien, Malaya, Burma, Australien und Neuseeland vor. Die Exporte der USA stiegen in den Kriegsjahren um das Dreifache. Besonders hohe Zuwachsraten hatten natürlich Sprengstoffe, deren Exportvolumen sich verzwölffachte, und chemische Erzeugnisse, die mit einer neunfachen Steigerungsrate kaum nachstanden. Da die USA von gewissen Versorgungs­ quellen in diesen Jahren abgeschnitten waren, begannen sie, eine Reihe von Waren, die früher importiert wurden, nun selbst zu produzieren. Das trug zur Steigerung der Gesamtproduktion entscheidend bei, die um 15 % in diesen Jahren lag. Die Vereinigten Staaten waren 1918 die Siegermacht schlechthin. Umso erstaunlicher mag sich der Rückzug dieses Staates aus der Weltpolitik ausnehmen, der sich vor allem darin ausdrückte, daß er nicht einmal dem Völkerbund beitrat, jener internationalen Organisation, die auf die Anregung von Präsident Wilson ins Leben gerufen wurde. Im Grunde war aber der Entschluß zur politischen Isolation nur die konsequente Fortsetzung der »America first«-Politik, die ein Hauptziel hatte, nämlich den Reichtum und die Macht der amerikanischen Imperialisten zu garantieren. Präsident Harding führte dazu 1920 aus  : »Ich setze in unser Amerika ein Vertrauen, das es überflüssig macht, daß sich ein Rat ausländischer Mächte versammelt, um uns auf unsere Pflichten zu verweisen. Wenn sie wollen, können sie das als nationalistischen Egoismus bezeichnen, ich jedoch glaube, daß es sich hier um die Eingebung eines leidenschaftlichen Patriotismus handelt. Amerika zuerst beschützen  ! An Amerika zuerst denken und Amerika zuerst preisen  !«13

Mit einem ihrer politischen Hauptanliegen, der »Freiheit der Meere«, also der vertraglichen Verankerung des Freihandels, waren die USA bei den Pariser Friedensverhandlungen nicht durchgedrungen. Ihre Reaktion auf den Protektionismus der üb13 Claude Julien, Der amerikanische Imperialismus, Frankfurt am Main 1969, 158.

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rigen kapitalistischen Metropolen mußte zwangsläufig ein politischer Isolationismus sein. Es ging darum, gegenüber den europäischen Verbündeten oder gegenüber dem Völkerbund keinerlei Verpflichtungen einzugehen, um sich die volle Handlungsfreiheit, vor allem auf dem amerikanischen Kontinent zu sichern, wo sich die US-Politik noch immer auf die Monroe-Doktrin stützte. Die Politik der Isolation zeigte sich, neben der Nichtratifizierung internationaler Verträge (Völkerbund, Friedensverträge) vor allem in zwei Bereichen. Einerseits wurde ab 1920, als wieder die Republikaner an der Macht waren, ein System von Schutzzöllen errichtet, um jede ausländische Konkurrenz vom amerikanischen Markt fernzuhalten. Eisen und Stahl mußten wieder verzollt werden, die Zollsätze für Textilien und landwirtschaftliche Produkte wurden drastisch erhöht. Daneben gab es nunmehr, als zweite Komponente, eine rigide Politik gegen die Einwanderung. 1921 wurden gesetzlich Quoten für Einwanderer festgelegt. Für jedes Land waren drei Prozent der Gesamtzahl der Personen, die im jeweiligen Land geboren wurden und sich zur Zeit der Volkszählung von 1910 bereits in den Vereinigten Staaten angesiedelt hatten, zur Einwanderung zugelassen. Die Quoten wurden 1924 nochmals reduziert. Das hatte zur Folge, daß der Prozentsatz der Einwanderer, der im Zeitraum von 1900 bis 1910 noch 9,5 % der Gesamtbevölkerung betragen hatte, 1910 bis 1920 immerhin noch bei 5,4 % lag, im Jahrzehnt bis 1930 nur noch 3,3 % und zwischen 1930 und 1940 sogar nur mehr 1,1 % betrug. Diese Gesetze trugen auch den Forderungen der Gewerkschaften Rechnung, die sich gegen die Einwanderung billiger Arbeitskräfte sträubten. Als Folge der russischen Revolution und als eine weitere Ursache für den Isolationismus muß wohl die Bolschewismusangst in den USA angesehen werden. 1920 setzte eine Jagd auf alle Linken ein, für die Justizminister Palmer verantwortlich zeichnete und die im Ausmaß den Verfolgungen der McCarthy-Zeit nicht nachstanden. Fünf gewählte Sozialisten wurden in New York aus der Volksvertretung verjagt, viertausend angebliche Kommunisten wurden festgenommen, fünftausend Emigranten ausgewiesen. Als späte Folge dieser Politik muß auch noch der Prozeß gegen die beiden italienischen Einwanderer Sacco und Vanzetti angesehen werden, die trotz erwiesener Unschuld und weltweiter Massenproteste 1927 wegen angeblichen Mordes hingerichtet wurden. Dabei war die Angst vor dem Bolschewismus nirgendwo unbegründeter als in den USA, wo es keine klassenbewußte Arbeiterbewegung gab und sich die Gewerkschaft stets als Standesvertretung der gelernten gegen die ungelernten Arbeitern verstand. Aber nicht nur gegen Linke richtete sich die Hetzjagd. Gleichzeitig verstärkten sich auch die Vorurteile gegenüber den Juden, es kam zu offenen Formen des Antisemitismus. Demagogie und Fremdenhaß ließen auch eine Organisation, die um

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die Jahrhundertwende bereits fast verschwunden war, wieder aufleben, den Ku Klux Klan. 1924 zählte er bereits wieder angeblich vier Millionen Mitglieder und verfolgte unablässig Schwarze, Juden und Katholiken. Rassenunruhen in den ersten Nachkriegsjahren forderten zahlreiche Menschenleben. Die Intoleranz ist als direkte Folge der politischen Isolation zu verstehen. Obwohl die Konzentration der Wirtschaft der USA bereits vor dem Ersten Weltkrieg wesentlich größer war als etwa in England, setzte sich der Trend zur Monopolisierung auch nach dem Krieg fort. Im Jahre 1919 machten 438 kleinere und mittlere Industrie- und Bergbauunternehmungen bankrott und verschmolzen mit großen Firmen. 1920 folgten weitere 760 Unternehmungen. Rockefeller, Morgan und Mellon rissen die Herrschaft über die Erdölindustrie an sich. Die drei größten Automobilgesellschaften produzierten 1915 51 % und 1920 bereits 71 % aller Kraftwagen. Morgan beherrschte die Stahl- sowie die Gummiindustrie, Dupont die chemische Industrie. Morgan, Mellon und Rockefeller teilten sich außerdem noch die Kohleindustrie. Eine Menge an Scharfsinn und Erfindungsgeist wurde entwickelt, um die Antitrust-Gesetze zu umgehen. Allerdings machte es die Regierung den Gesellschaften oft leicht und förderte indirekt sogar die Tendenz der Kartellbildung. Die Politik der Isolation, die die USA in der Zwischenkriegszeit zu charakterisieren schien, galt aber selbstverständlich nicht für den Außenhandel und die Investitionen im Ausland. Europa, das nach Kriegsende dringend Kapital für den Wiederaufbau benötigte, mußte sich erneut, obschon verschuldet, an die USA wenden. Neben Krediten gab es eine Fülle von Direktinvestitionen amerikanischer Gesellschaften in Bergbau, Industrie, Landwirtschaft und Handel in Europa. »Zu den Schulden der europäischen Regierungen kommt also noch die Tatsache, daß ein Teil ihrer Wirtschaft unter die Kontrolle des amerikanischen Kapitals gerät. Der politische Isolationismus, der den Senat veranlaßt, den Vertrag von Versailles und den Völkerbund zurückzuweisen, wird also von einem wirtschaftlichen Interventionismus begleitet. Der Senat besteht ebenso wie die Geschäftswelt in der Mehrheit aus Republikanern. Im Namen des Slogans America first ist also dieselbe politische ›Familie‹ an den politischen Regelungen im Nachkriegseuropa uninteressiert, die ihr wirtschaftliches Imperium ebenso auf das verwüstete Europa wie auf Lateinamerika und Kanada ausdehnt.«14

Um auf den ausländischen Märkten aktiver auftreten zu können, wurde 1918 das Webb-Gesetz verabschiedet, das es trotz der bestehenden Anti-Trust-Gesetze ermöglichte, daß sich Exporteure zu Kartellen zusammenschlossen. Die amerikanische 14 Ebd., 179.

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Handelsbilanz blieb auch nach dem Krieg stark aktiv, der jährliche Durchschnittssaldo lag bis 1930 bei fast einer Milliarde Dollar. Die Überschüsse wurden natürlich teilweise wiederum im Ausland investiert. Die sprunghafte Entwicklung der US-Wirtschaft im Ersten Weltkrieg hatte eine Schwerpunktverlagerung im Export bewirkt. Während im Jahre 1900 nur 24 % des gesamten Exportes Fertigprodukte waren, stieg dieser Anteil bis 1929 auf 49 %. Das änderte auch die Richtung des US-Außenhandels. Im Jahre 1918 gingen noch 63 % der Exporte nach Europa, 1929 waren es nur noch 44 %. In diesem Jahr gingen 37 % der Exporte nach Südamerika und Kanada. »Obgleich politisches Gebot, verbirgt sich hinter der Monroe-Doktrin auch eine wirtschaftliche Realität  : Die unterentwickelten Länder des amerikanischen Kontinents beliefern die USA mit ihren Rohstoffen und beziehen von ihnen Industrieprodukte, wobei sich die amerikanischen Investitionen in Kanada und Lateinamerika vervielfachen.«15 Die Kontinente Asien und Afrika waren zwar als Abnehmer amerikanischer Fertigwaren noch nicht sehr bedeutsam (12 bzw. 2,5 % der US-Exporte), wohl aber als Rohstofflieferanten. Asien lieferte etwa ein Drittel der US-Importe. Als starker Rohstoffkonsument hatten die Vereinigten Staaten neben England in den Zwanzigerjahren den intensivsten Importhandel der Welt, im Gegensatz zu England aber trotzdem eine stark aktive Handelsbilanz. Dieser Außenhandel ging mit der Außenpolitik der Vereinigten Staaten parallel, die sich vor allem auf Lateinamerika konzentrierte. 1924 verteilten sich etwa die 9 Milliarden Dollar, die im Ausland angelegt waren, folgendermaßen  : Südamerika  : 4 Milliarden (44,5 %), Kanada  : 2,5 Milliarden (27 %) und Europa  : 1,9 Milliarden (20,9 %). In Lateinamerika versuchte man vor allem, mit Hilfe der »Dollardiplomatie« den Staaten große Anleihen aufzuzwingen, um die Naturreichtümer, aber auch die Wirtschaft und Finanzen unter die Kontrolle der US-Konzerne zu bringen. Zudem hatte man während des Krieges in Haiti und in der Dominikanischen Republik Militärdiktaturen errichtet. 1925 verhalfen die Vereinigten Staaten in Kuba ihrem Günstling Machado zur Macht und 1926 wurde in Nikaragua offen militärisch interveniert, die nationale Befreiungsbewegung unterdrückt und eine Diktatur unter Präsident Diaz errichtet. Im Jahr 1928 erstreckte sich die militärische und finanzielle Kontrolle der USA bereits auf 14 der insgesamt 20 lateinamerikanischen Staaten. In Europa wurde vor allem in Deutschland investiert, da man sich bei Kriegsende günstig in die deutsche Wirtschaft einkaufen konnte und außerdem hoffte, ein Bollwerk gegen die »kommunistische Gefahr« zu errichten. So hatte Deutschland die 15 Ebd., 181.

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größte Steigerungsrate aller hochentwickelten Länder am Import amerikanischer Waren. Von 1913 bis 1925 wuchs der Anteil der USA an der Einfuhr Deutschlands von 6 auf 18 %. Im gleichen Zeitraum verzeichneten Frankreich eine Erhöhung von 11 auf 14 %, Italien von 14 auf 24 %, Japan von 17 auf 26 %. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der 1924 beschlossene Dawes-Plan, der den Wiederaufbau in Deutschland beschleunigte und Deutschland bis 1929 15 Milliarden Mark an Krediten brachte, was mehr als das doppelte der geleisteten Reparationszahlungen darstellte. Eine der zentralen Fragen der US-Außen- und Wirtschaftspolitik war das Ringen um Einfluß in Ostasien. Hier galt es vor allem, sich gegen zwei Konkurrenten, England und Japan, durchzusetzen. Das bestehende britisch-japanische Bündnis, ursprünglich gegen Rußland, im Ersten Weltkrieg sodann gegen Deutschland gerichtet, erhielt nach dem Krieg eine stark anti-amerikanische Tendenz. Die amerikanische Außenpolitik setzte vor allem England unter Druck, um eine Erneuerung des Bündnisses zu verhindern. Im Kampf um China und den Fernen Osten besaß Japan entschieden die günstigere strategische Position gegenüber den Vereinigten Staaten. Ausdruck dieser Gegensätze zwischen England, Japan und den USA war eine massive Flottenrüstung, bei der vor allem England, die stärkste Seemacht am Ende des Krieges, rein ökonomisch auf die Dauer nicht mithalten konnte. Zur Regelung all dieser Fragen wurde schließlich im November 1921 die Washingtoner Konferenz einberufen, die im Dezember folgendes Resultat brachte  : Die vier führenden kapitalistischen Mächte (auch Frankreich war eingeladen worden) verpflichteten sich, sich untereinander »in vollständiger und freimütiger Weise zu verständigen«, um die wirkungsvollsten Maßnahmen ergreifen zu können, falls ihre »Rechte« im Pazifischen Raum »durch die aggressive Haltung einer anderen Macht bedroht werden.« Das britisch-japanische Bündnis wurde außer Kraft gesetzt. Langwierige Verhandlungen wurden auch über eine Normierung der Kriegsschifftonnagen geführt, die schließlich das Resultat erbrachten, daß ein Verhältnis von 5 : 5 : 3   : 1,75  : 1,75 zwischen den Flotten der USA, Englands, Japans, Frankreichs und Italiens fixiert wurde. Die USA hatten sich somit die Möglichkeit eröffnet, offiziell mit der Stärke der immer noch überlegenen britischen Marine gleichzuziehen und sich die Überlegenheit über die japanischen Seestreitkräfte im pazifischen Raum garantieren zu lassen. Trotz ihrer Isolationspolitik waren also die USA nicht nur ökonomisch, sondern auch militärisch die dominierende Macht der Zwischenkriegszeit. Gerade wegen des enormen Aufschwungs ihrer Wirtschaft in den Zwanzigerjahren mußten die Folgen der Weltwirtschaftskrise umso ärger ausfallen. So sank von 1929 bis 1932 der Index der Industrieproduktion (1929 – 100 %) auf 54 %, allein die Stahlerzeugung sank bis 1932 auf 24 % der Produktion von 1929 ab. 13,2 Millionen Arbeitslose, 32 % der

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Gesamtzahl der Arbeiter, zeigten die Grenzen des »Landes der unbegrenzten Möglichkeiten«. Der Export amerikanischer Waren sank auf 30 % des Wertes von 1929, der Import reduzierte sich im gleichen Ausmaß. Die Weltwirtschaftskrise hatte für die Vereinigten Staaten große innen- und außenpolitische Konsequenzen. Man mußte das endgültige Ende der liberalen Epoche akzeptieren, und erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten fanden in Roosevelts Politik des »New Deal« größere staatliche Eingriffe und Lenkungen in der Wirtschaft statt. Das »Tennessee Valley Authority« ist Ausdruck dieser Politik. Die Banken gerieten unter stärkere staatliche Kontrolle, große öffentliche Bauvorhaben wurden in Angriff genommen, Mindestlöhne wurden fixiert und Tarifverträge für obligatorisch erklärt. Die Krise und die Politik des New Deal verstärkten den politischen Isolationismus der USA. So verweigerte das Johnson-Gesetz von 1934 allen jenen Regierungen Darlehen, die ihre alten Schulden noch nicht bezahlt hatten. Einzig mit der Sowjetunion, die sich als vollständig unanfällig für die Weltwirtschaftskrise erwiesen hatte, wurden diplomatische Beziehungen aufgenommen und Handelsabkommen unterzeichnet. Eine der wichtigsten außenpolitischen Änderungen betraf Lateinamerika, wo infolge der Krise viele US-Investitionen entwertet worden waren und man das verstärkte Auftreten Deutschlands beobachten konnte. Die USA wechselten von ihrer offen aggressiven Politik zu einer Politik der »guten Nachbarschaft«, die Verletzung der Souveränitätsrechte wurde abgebaut und Handelsabkommen auf Grundlage der Meistbegünstigungen abgeschlossen. Damit konnte man sich die Positionen einigermaßen sichern und zudem die Bedingungen für ein späteres weiteres Vordringen des US-Kapitals verbessern. Im Sinne des verstärkten Isolationismus wurden 1935 und 1937 Neutralitätsgesetze verabschiedet, die den Verkauf von Waffen an kriegführende Staaten verboten. Diese Politik begünstigte und ermutigte in Europa die faschistischen Staaten, deren Rüstungsindustrie die Englands und Frankreichs längst übertroffen hatte. Deutschland, Italien und Japan waren in der Aufrüstung England, Frankreich und der UdSSR damals schon weit voraus. Später sollte Roosevelt dazu bemerken  : »Unser Waffenembargo begünstigte die Aggression.« Die Haltung der USA in diesen Jahren erklärt sich auch daraus, daß starke Verbindungen des amerikanischen Kapitals mit deutschen und japanischen Unternehmen bestanden und England noch immer als der Hauptkonkurrent auf dem Weltmarkt betrachtet wurde. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Europa steckte die Wirtschaft der Vereinigten Staaten noch immer in der Krise. Aber wie bereits der Erste Weltkrieg, sollte auch der Zweite Weltkrieg einen ungeheuren Aufschwung der Wirtschaft der USA bringen. Zwischen dem Kriegsbeginn in Europa und dem Kriegseintritt

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der USA hatte sich die Industrieproduktion verdoppelt, der Export eine Steigerung um etwa 60 % erfahren. Von besonderer Bedeutung war die kurz nach Kriegsausbruch vorgenommene Änderung der Neutralitätsgesetze, die zum »cash and carry«Verfahren führte, die es den kriegsführenden Mächten erlaubte, in den USA einzukaufen, jedoch unter der Bedingung, bar zu zahlen und die Güter auf eigenen Schiffen zu transportieren, was natürlich in erster Linie von England ausgenützt werden konnte. Der Krieg verdreifachte schließlich die US-Exporte, und das Jahresmittel der Exportüberschüsse war in den Jahren 1941 bis 1945 neunmal größer als in den fünf Jahren vorher. 1945 war der Exportüberschuß fast doppelt so groß wie im äußerst ausgeprägten Wohlstandsjahr 1920 und sechsmal so groß wie 1925. Bei Kriegsende waren die USA somit nicht nur politisch und militärisch, sondern vor allem auch ökonomisch, die eindeutig dominierende Macht der kapitalistischen Welt.

5. Deutsche Revisionsbemühungen Schon vor dem Ersten Weltkrieg zeichnete sich die deutsche Weltpolitik durch große Aktivität und Aggressivität aus, die in keiner Weise mit der ökonomischen Bedeutung der deutschen Kolonien übereinstimmte, die aber ihre innenpolitische Funktion im Hervorkehren nationalen Prestigedenkens und der damit verbundenen Eindämmung sozialer Bewegungen hatte. Ökonomisch lagen die deutschen Interessen eindeutig im Raum Südosteuropa und der Türkei, wie bereits im Kapitel über die Periode des klassischen Imperialismus ausgeführt wurde. Dies zeigte sich deutlich in den Kriegszielen, die der deutsche Imperialismus während des Ersten Weltkrieges verfolgte. Besonders nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie im Westen richtete sich das Augenmerk verstärkt nach Osten und auf den Balkan. Zwar nahmen natürlich auch afrikanische Gebiete, wie etwa Marokko in der Auseinandersetzung mit Frankreich, ihren Platz in den militärischen und ökonomischen Überlegungen ein, der Schwerpunkt des deutschen imperialistischen Machtstrebens lag aber stets in Europa. Noch im Jahre 1917 hielt Reichskanzler Bethmann-Hollweg, der im Januar dem deutschen Botschafter in den USA die deutschen Friedensbedingungen übermittelte, an manchen Punkten der »Mitteleuropa«-Konstruktion fest. Nur eine der elf Friedensbedingungen des deutschen Reichskanzlers betraf außereuropäische Gebiete, und diese war wenig exakt formuliert  : »Koloniale Restitution in Form eines geschlossenen afrikanischen Kolonialreiches, durch maritime Stützpunkte gesichert.« In Deutschland waren Monopolisierungstendenzen bereits um die Jahrhundertwende eine klar erkennbare Entwicklung der Wirtschaft, man war hier den anderen

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europäischen Staaten deutlich voraus. Der Erste Weltkrieg hatte diesen Prozeß noch zusätzlich verstärkt. Die Interessen der Monopole beherrschten die Politik und bestimmten die militärischen Ereignisse entscheidend mit. Die Kriegsniederlage 1918 traf die deutsche Wirtschaft besonders hart. Der Glaube an einen Sieg war bis wenige Wochen vor dem Waffenstillstand ungebrochen, und das hatte eine Situation geschaffen, »die den Sprung von der Kriegswirtschaft vermeintlicher Sieger zur Friedenswirtschaft eines Landes von Besiegten noch weit schwieriger machte, als er sonst gewesen wäre.«16 Im Innern Deutschlands war die Furcht vor revolutionären Bewegungen groß und die Möglichkeit einer weitergehenden politischen Umgestaltung als nur von einer Monarchie zur Republik durchaus real. Die Novemberrevolution von 1918 und die Errichtung der bayerischen Räterepublik wenige Monate später dokumentierten die Stärke der revolutionären Linken. Allerdings war die deutsche Sozialdemokratie und auch die Gewerkschaftsbewegung an einer Revolution nicht interessiert, die Abkommen zwischen Großindustrie und Gewerkschaften (Stinnes-Legien-Abkommen) sicherten schließlich dem deutschen Kapitalismus das Überleben. Stärker als in anderen Ländern wurde in Deutschland nach Kriegsende die Außen­ politik von einer Bolschewismusangst geprägt. Man setzte seitens der gegenrevolutionären Kräfte auf die Hilfe der Weltmächte, besonders der USA. Die Vereinigten Staaten gaben auch umgehend bekannt, daß einer Räteregierung in Berlin keine Lebensmittel geliefert würden und daß im Falle eines politischen Umsturzes der Waffenstillstand gekündigt und Deutschland besetzt werden sollte. Man war seitens Deutschlands auch bereit, die konterrevolutionären Bemühungen in Rußland zu unterstützen. Schon am 16. November 1918 erklärte das deutsche Oberkommando in einem Befehl an die Truppen im Osten, daß eine schnelle Räumung der Ukraine und der baltischen Länder den nationalen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands entgegenlaufen würde. Im Dezember wurden schließlich den Ententemächten sogar Pläne für einen gemeinsamen Krieg gegen Sowjetrußland vorgeschlagen. Für den Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft war in den Folgejahren vor allem die enge Verflechtung mit dem amerikanischen Kapital von Bedeutung, das einen beträchtlichen Teil der deutschen Aktien aufgekauft hatte. Es entstanden gemischte deutsch-amerikanische Bankgruppen und amerikanische Banken beteiligten sich auch an der Finanzierung großer deutscher Trusts, darunter etwa der AEG. Das zentrale Ereignis der ersten Nachkriegszeit war zweifellos die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles, eines Vertrages, von dem zumindest 1919 in 16 George W. F. Hallgarten/Joachim Radkau, Deutsche Industrie und Politik von Bismarck bis heute, Frankfurt am Main 1974, 140.

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Deutschland allgemein angenommen wurde, daß seine Bedingungen sachlich und moralisch unerfüllbar waren. Zweifellos klafften Realität und Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit gerade in dieser Frage auseinander, aber wie meist war es die Ansicht über das Problem und nicht das Problem selbst, was geschichtswirksam wurde. Der Kampf um die Revision von Versailles wurde von dem Tage an, als die deutsche Delegation die Friedensbedingungen ausgehändigt bekam, die zentrale Frage der deutschen Außenpolitik. Allerdings ließen die Siegermächte, schon um eine Bolschewisierung Deutschlands zu verhindern, die Träger jener Politik, die als »Sammlungspolitik« (Inbegriff des sich nach Ost und West ausbreitenden Imperialismus) die Kriegsziele geprägt hatte, nämlich die Junker und die Industrie, in Amt und Würden. Diese halbe Lösung trug den Keim späterer Konflikte in sich. Der Verlust der überseeischen Territorien traf Deutschland nicht allzu hart, da ihre ökonomische Bedeutung eher gering war. Die Treuhandschaft über den größten Teil Deutsch-Ostafrikas sicherte sich Großbritannien, Ruanda-Urundi sollte von Belgien verwaltet werden. Das »Kionga-Dreieck« wurde Portugal übergeben, während sich England und Frankreich die Kolonien Togo und Kamerun teilten. Deutsch-Südwest­ afrika fiel als Mandat an die Südafrikanische Union. Der deutsche Teil Neuguineas kam zu Australien, die Samoa-Inseln wurden Neuseeland angegliedert. Japan erhielt die Marshall-Inseln, die Marianen und die Karolinen, sowie, nach langwierigen Auseinandersetzungen mit China und den USA, auch noch die chinesischen Provinz Shantung. Aber sowohl ökonomisch als auch im Bewußtsein der Deutschen waren es die europäischen Grenzziehungen, die die entscheidenden Verluste darstellten. ElsaßLothringen, 1871 annektiert, fiel an Frankreich zurück, das Rheinland wurde für 15 Jahre besetzt. Die Saar kam unter eine Sonderregierung und lieferte ihre Kohle vorerst nach Frankreich. Belgien erhielt kleinere territoriale Zugeständnisse. Im Osten war es vor allem das wiedererstandene Polen, dem große Gebiete zufielen (Ostpreußen, Oberschlesien), und schließlich wurde auch die mögliche Kompensierung der Verluste, der Anschluß Deutsch-Österreichs, durch den Friedensvertrag untersagt. Die Höhe der Reparationszahlungen wurde 1921 mit 132 Milliarden Goldmark festgesetzt. Den Revisionsbemühungen Deutschlands boten sich in den Folgejahren vor allem zwei Chancen. Einerseits war die Rivalität der Siegermächte untereinander ausnützbar, besonders die englisch-französischen Gegensätze. Anderseits konnte man die antisowjetischen Ambitionen besonders der USA und die Bestrebungen des internationalen Finanzkapitals zur Niederhaltung revolutionärer Bewegungen, die ihre Kapitalanlagen bedrohten, für eigene Ziele verwenden. Der deutsche Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht erklärte dies 1925 folgendermaßen  : »Man mag die Beweggründe der Amerikaner nennen, wie man will, sie sind im wesentlichen ge-

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tragen von dem Wunsch, die materielle Prosperität der Völker sicherzustellen und dadurch die Gefahr des Bolschewismus und aller umstürzlerischer Ideen, die letzten Endes nur aus Not und Verzweiflung geboren werden, zu bannen.«17 Und über den ökonomischen Aufschwung erfolgte auch die machtpolitische Wiedererstarkung Deutschlands. Ausdruck der ökonomischen Hilfe für Deutschland war vor allem der Dawes-Plan. Die vorausgegangene französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebietes im Jahre 1923 hatte die Widersprüche der Westmächte verdeutlicht. England und die USA setzten auf eine wirtschaftliche Durchdringung Deutschlands, Frankreich hingegen auf militärischen Druck. Die Ruhrbesetzung brachte allerdings für Frankreich nicht den erhofften Erfolg, so daß man sich schließlich 1924 in London zur Regelung der Reparationsfrage zusammenfand. Die Londoner Konferenz nahm schließlich den DawesPlan an, der einen ungeheuren Zustrom von ausländischem Kapital nach Deutschland einleitete. Vor allem große amerikanische Konzerne, wie etwa die Standard Oil Company, General Motors Corporation, die International Telegraph und Telephon Company (ITT), Ford Motor Company and Anaconda Company drangen mit direkter Kapitalbeteiligung in die deutsche Industrie ein. Das ausländische Kapital verstärkte weiter die Monopolisierungstendenzen. So bildete sich etwa der IG-FarbenKonzern, der faktisch alle wichtigen Zweige der chemischen Industrie monopolisiert hatte. Deutsche, englische und amerikanische Monopolisten schlossen eine Reihe von Kartellabkommen über die wirtschaftliche Aufteilung der Welt, aber der rasche Aufschwung der deutschen Industrie ließ diese bald zum Angriff auf die Positionen ihrer Konkurrenten übergehen. Von besonderer Bedeutung für die außenpolitische Entwicklung in diesem Zeitraum wurden die Locarno-Verträge des Jahres 1925. Frankreich, das den Abschluß eines umfassenden Sicherheitsbündnisses anstrebte, mußte sich mit einer Lösung bescheiden, in der die Grenzen Deutschlands im Westen nach den Beschlüssen von Versailles garantiert wurden, mit Italien und England als Garantiemächte. Die Verbündeten Frankreichs im Osten, speziell Polen, erhielten aber keine Grenzgarantie. Locarno legte also die mögliche deutsche Expansionsrichtung fest. Die seit dem Vertrag von Rapallo (1922) vollzogene Annäherung zwischen Deutschland und der Sowjetunion ließ sich als Druckmittel gegen die Westmächte gebrauchen, ein Effekt, der durch den deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag von 1926 noch verstärkt wurde. Im selben Jahr wurde Deutschland Mitglied des Völkerbundes. 17 Wolfgang Schumann/Ludwig Nestler (Hg.), Weltherrschaft im Visier. Dokumente zu den Europaund Weltherrschaftsplänen des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis Mai 1945, Berlin 1975, 17.

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Bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise war die deutsche Außenpolitik in erster Linie antipolnisch. Pläne, die über Europa hinausgingen, waren nur ökonomisch, nicht aber politisch von Bedeutung. Der sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller brachte dies 1927 zum Ausdruck  : »Trotzdem dem deutschen Volk das Recht auf koloniale Betätigung nicht bestritten werden kann, […] soll das deutsche Reich aus praktischen Gründen den Erwerb von Kolonien nicht anstreben […] Zur Zeit haben die Deutschen bei den erwachenden Kolonialvölkern das größte Ansehen, gerade weil Deutschland an der kolonialen Ausbeutung fremder Völker nicht beteiligt ist. Das muß sich auch handelspolitisch günstig für Deutschland auswirken.«18

Das Erstarken der deutschen Wirtschaft erlaubte Deutschland ein hartes Auftreten auf der internationalen Bühne. So wurde vor allem eine Herabsetzung der Reparationsforderungen verlangt. Frankreich sprach sich dagegen aus, die USA aber dafür, da sie ein Interesse daran hatte, daß ihre in Deutschland investierten Gelder hohe Profite abwarfen. Der Young-Plan des Jahres 1929, der schließlich angenommen wurde, reduzierte die Reparationszahlungen um 20 % und stellte eine weitere Aufweichung der Friedensbedingungen von Versailles dar. Wohl in keinem anderen Land der Welt waren die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise so entscheidend wie in Deutschland. Die Industrieproduktion sank von 1929 bis 1932 fast auf die Hälfte, der Außenhandel sank um 60 %. 5,5 Millionen Arbeitslose, das waren 43,8 % der Gesamtzahl der Arbeiter, sollten vor allem die politische Entwicklung beeinflussen. Genaue Analysen über den Zusammenhang von Wirtschaftskrise und Aufstieg des Faschismus wurden von der Forschung bereits geliefert. Hitlers Nationalsozialisten schienen jedenfalls die einzigen politischen Kräfte zu sein, die das System überhaupt am Leben halten konnten. Die Weltwirtschaftskrise zerstörte aber auch die Hoffnung, »durch ökonomische Initiativen die deutsche Weltstellung zu restituieren. Ein Anstieg der deutschen Exporte während der ersten Krisenjahre wurde seit dem Herbst 1931 durch die internationale Abwertungswelle und die allgemeinen Handelsrestriktionen in sein Gegenteil verkehrt. Die Aussicht auf Errichtung von Wirtschaftsimperien durch Kapitalexport schwand vollends, als die Illiquidität der deutschen Wirtschaft sogar einen Abbau der Auslandsbeteiligungen erzwang.«19 Die Zollschranken der Westmächte zwangen 18 Schuman/Nestler, Weltherrschaft, 20. 19 Hallgarten/Radkau, Industrie, 231.

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Deutschland zur Aufgabe aller überseeischen Überlegungen und zu einer Rückkehr zu Plänen einer wirtschaftlichen Infiltration der östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten, wie sie schon in den Mitteleuropa-Konzeptionen des Ersten Weltkriegs existierten. 1931 wurde der »Mitteleuropäische Wirtschaftstag« rekonstruiert, der sich zu einer Kooperationsbasis von Schwerindustrie, Elektro- und chemischer Industrie bei der Neuerschließung des Balkans für die deutsche Wirtschaft entwickelte. Die Zollunionspläne mit Österreich lagen ebenfalls auf dieser Linie. Unter der Last der Weltwirtschaftskrise war Deutschland natürlich nicht in der Lage, den Reparationsforderungen weiterhin nachzukommen. Im Jahre 1932 wurden auf Konferenzen der Großmächte in Lausanne und in Genf die Reparationszahlungen schließlich erlassen, so daß bei der Machtübernahme des Faschismus nur noch die Grenzfestlegungen des Versailler Vertrages in Kraft waren, zumal in Genf auch die militärische Gleichberechtigung Deutschlands anerkannt wurde. Nun konnte der schon früher erkannte Ausweg aus der Krise über Staatsinvestitionen im Rüstungsbereich eingeschlagen werden. Der Aufstieg Hitlers, von der Schwerindustrie teilweise mitfinanziert, hatte auch außenpolitisch wichtige Konsequenzen. Gerade die Programme Hitlers ermöglichten den wirkungsvollen Einsatz einer Politik des »Sozialimperialismus«, die nie eine solche Bedeutung hatte wie in den Jahren 1932/33, als beinahe 6 Millionen Arbeitslose das System gefährdeten. Mit der Streichung der Reparationszahlungen war, zumindest langfristig, wiederum eine Perspektive für den Kapitalexport gegeben. Der Zwang zur Ablenkung nach außen konnte nun durch krisenüberwindende Aufrüstung und einen dadurch hervorgerufenen Krieg oder durch Schaffung von »Lebensraum« im Osten geschehen. Für beide Varianten war Hitler der Garant, und beide konnten von der Industrie ausgenützt werden. Hugenberg, Hitlers erster Wirtschaftsminister, dem auch die Landwirtschaft unterstand, errichtete auch sofort Zollschranken, einerseits zum Schutz der deutschen Landwirtschaft, andererseits als politische Offensive. Damit wollte er die deutschen Großraumpläne vorantreiben. Italien, Holland, der Schweiz, den Ostseeländern und den südosteuropäischen Ländern einschließlich Österreichs sollte die Aufnahme in das Innere dieser handelspolitischen Mauer angeboten werden. Hugenberg führte zudem bei der Londoner Weltwirtschaftskonferenz aus, daß die Wiederherstellung der deutschen Zahlungsfähigkeit dadurch erreicht werden könnte, wenn »man Deutschland wieder ein Kolonialreich in Afrika gäbe«. Doch dies war vorerst nur ein Nebenaspekt einer Außenpolitik, die von der Devise »Volk ohne Raum« geprägt wurde. Der Austritt aus dem Völkerbund im gleichen Jahr hatte also seine ökonomische Entsprechung  : in beiden Bereichen wurde die Ebene der internationalen Verständigung systematisch verlassen. Die deutsche Handelsoffensive der Folgejahre hatte zwei Hauptstoßrichtungen, Südosteuropa und Lateinamerika. Die Südostrichtung folgte genau den Bahnen

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des wilhelminischen Imperialismus, und die entsprechenden politischen Untertöne mischten sich fast automatisch ein. »Eine besondere Bedeutung erlangten die deutschen Rüstungsexporte nach dem Balkan. Die offizielle Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit im März 1935, ohnehin eine Provokation für das westliche Ausland, schuf den Westmächten obendrein noch eine ökonomische Konkurrenz.«20 Bis 1938 waren die meisten osteuropäischen Staaten in ihrem Außenhandel nahezu zur Hälfte oder, wie Bulgarien, in noch höherem Maße von Deutschland abhängig geworden. Der Griff der deutschen Monopole nach der Türkei verstärkte die Differenzen mit England, das sich in seinen ökonomischen Interessen bedroht sah. Die Expansion in Lateinamerika hatte, im Unterschied zur Ausweitung nach Osteuropa, keinerlei Beziehungen zu den nationalsozialistischen Autarkie-, Großraumund Ostexpansionsplänen. Auch in der nationalvölkischen Propaganda konnte man nur vordergründig mit einer »Weltgemeinschaft der Auslandsdeutschen« argumentieren. Vor allem die Elektroindustrie und die chemische Industrie (IG-Farben) drangen in den lateinamerikanischen Markt ein. Dieses Vordringen der deutschen Wirtschaft beunruhigte natürlich vor allem die USA. Von 1932 bis 1936 verdoppelte Deutschland seinen Anteil an den lateinamerikanischen Importen von 7 auf 14 %, während der Anteil der USA bei 29 % stagnierte. In Chile und Brasilien hatte Deutschland die USA bereits übertroffen. Der Aufschwung im Handel war von außenpolitischen Erfolgen begleitet. Im Juni 1935 wurde ein deutsch-britisches Flottenabkommen unterzeichnet, im März 1936 wurde der Locarno-Vertrag aufgekündigt und die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes besetzt. Das Juliabkommen mit Österreich im Jahre 1936 war begleitet von einem starken Vordringen deutschen Kapitals in Österreich, dessen Wirtschaft sich mehr und mehr auf den Export von Rohstoffen in das Deutsche Reich umstellte. Die Annäherung an die beiden anderen aggressiven Staaten, Italien und Japan, vollzog sich in diesen Jahren ebenfalls und fand seinen Ausdruck in der Zusammenarbeit mit Italien im Spanischen Bürgerkrieg und im Abschluß des Antikomintern-Paktes. Trotz der politischen und diplomatischen Annäherung gab es aber große wirtschaftliche Differenzen mit diesen beiden Staaten. Mit Italien gab es Konflikte um das spanische Quecksilber, um den lateinamerikanischen Markt, vor allem aber um den Balkan und um Österreich. Japan und Deutschland gerieten vor allem wegen des chinesischen Marktes aneinander. Im Herbst 1937 drohten die Japaner sogar mit der Kündigung des Antikomintern-Paktes, falls Deutschland die Lieferungen an China, die vor allem aus Kriegsmaterial bestand, nicht einstellen würde. 1937 betrug der Wert des deut20 Ebd., 330.

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schen Kriegsmaterials, das nach China geliefert wurde, das Achtfache des Wertes der Lieferungen nach Japan. Das Vordringen Deutschlands auf den angegebenen Märkten war von Einbußen im Handel mit den industrialisierten Ländern begleitet. Das hing mit der gewaltigen Schrumpfung der Gold- und Devisenbestände der Reichsbank zusammen und mit der Behinderung des deutschen Exports durch die Abwertung des britischen Pfunds und anderer Währungen. Eine eigene Abwertung kam nicht in Frage, da erstens das Inflationstrauma eine solche Entscheidung verhinderte, und zweitens besaßen die Importinteressen ein starkes politisches Übergewicht, da hinter ihnen die Schwerindustrie stand, die von dem schwedischen Eisen abhängig war. Dieser Rückgang im Handel war natürlich propagandistisch ausnützbar (Einkreisungsideologie). Die Erhöhung der Gold- und Devisenreserven stand als ökonomisches Motiv auch hinter dem Anschluß Österreichs und der Sudetengebiete. Nach dem Anschluß Österreichs erhielt Deutschland 5 Millionen Pfund Gold- und Devisenreserven, die in London in der Bank von England lagen, ohne Vorbehalte der Reichsbank überwiesen. Gleichzeitig lehnte man aber die Anerkennung der Rechtsnachfolge in den Staatsschulden des »untergegangenen selbständigen österreichischen Staatswesens« kategorisch ab. Nach der Eingliederung des Sudetenlandes übernahm das Deutsche Reich die sudetendeutschen Filialen tschechischer Banken, erklärte sich aber auf der anderen Seite für die Auslandsschulden nicht zuständig. Mit dieser Politik setzte man eine Absicherung nach Westen während der Expansionsphase nach Osten aufs Spiel, weil ökonomische Notwendigkeiten politische Überlegungen in den Hintergrund rückten. Dies war letztlich auch mitentscheidend für die Auslösung des Zweiten Weltkriegs durch das nationalsozialistische Deutschland. Auch im Krieg dominierten für das Deutsche Reich wirtschaftspolitische Überlegungen die militärischen Entscheidungen. Die Pläne der Ersetzung von Rohstoffen, die im Krieg für das Deutsche Reich nicht zu erhalten waren, durch synthetische Produkte waren noch nicht ausgereift. 1940 erklärte etwa der Reichsminister für die Bewaffnung und Munition, Fritz Todt  : »Der Verlauf des Krieges zeigt, daß wir in unseren autarkischen Bestrebungen zu weit gegangen sind […] Man muß […] das, was man benötigt und nicht hat, erobern. Der Menscheneinsatz, der dazu einmal notwendig ist, wird nicht so groß sein wie der Menscheneinsatz, der für die Betreibung der betreffenden synthetischen Werke laufend benötigt wird. Das Ziel muß also sein, sich alle Gebiete, die für uns wehrwirtschaftlich von besonderem Interesse sind, durch Eroberung zu sichern.«21 21 Schuman/Nestler, Weltherrschaft, 27.

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Manche militärische Entscheidung, besonders im Krieg mit der Sowjetunion, wird vor diesem Hintergrund klarer.

6. Japan in der Zwischenkriegszeit Unter jenen Staaten, die am Ende des Ersten Weltkriegs zu den dominierenden kapitalistischen Metropolen gehörten, nahm Japan eine Sonderstellung ein. Spät und sprunghaft hatte dieses Land die europäische Entwicklung seit der industriellen Revolution in wenigen Jahren nachvollzogen, wobei die Industrialisierung anfänglich »fast ausschließlich durch die Initiative der Regierung bestimmt«22 war. Bis 1880 gehörten bis auf wenige Ausnahmen alle größeren Betriebe dem Staat. Erst um die Jahrhundertwende entstanden größere private Unternehmen, und in den Kriegen mit China (1894/95) und Rußland (1904/05) bildeten sich bereits mächtige Industrieund Finanzimperien in den Händen von Privatfamilien. Diese rasche Monopolisierung ließ Japan auch bald in das Wettrennen um Kolonien eingreifen. 1910 wurde Korea annektiert, das bis 1945 bei Japan bleiben sollte. Ab 1911 wurde der Druck auf China immer stärker, und der chinesische Bürgerkrieg wurde zur Formulierung der »21 Forderungen« ausgenützt, die auf ein japanisches Protektorat über China hinausliefen. Die russische Revolution wurde schließlich zur Besetzung der Mandschurei genutzt, und in den Pariser Friedensverträgen erhielt Japan die Karolinen, Marianen und Marschallinseln und schließlich auch noch für kurze Zeit die chinesische Provinz Shantung. Damit hatte sich Japan zu einer imperialistischen Führungsmacht im Pazifik entwickelt. Der amerikanische und europäische Imperialismus hatte seit 1919 nur noch Reststellungen im Fernen Osten  : die USA auf den Philippinen, England vor allem in Hongkong und in Shanghai. Dennoch gehörte Japan (wie Italien) zu den »enttäuschten Siegern« des Ersten Weltkrieges, da es seine hochgespannten Ziele in China nicht erreicht hatte und zudem mit der Versorgung einer ungeheuer rasch wachsenden Bevölkerung zu kämpfen hatte. Von 43,8 Millionen um die Jahrhundertwende stieg die Zahl der Einwohner bis 1937 auf 72 Millionen an.23 So geriet Japan 1920 in eine Wirtschaftskrise, die den großen Aufschwung der Kriegsjahre, in denen Japans Exporte nach Europa um 60 %, nach Asien um 125 %, nach Lateinamerika um 629 % und nach Afrika gar um 1002 % gestiegen waren und in denen sich der japanische Goldvorrat versechsfacht 22 Gertraude Horke, Arbeiter unter der roten Sonne. Japans Unternehmensgewerkschaften, Wien 1976, 25. 23 Herzfeld, Welt, 292.

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hatte, ablöste. Diese Wirtschaftskrise, die den Export um 40 % und den Import um 30 % sinken ließ, hatte eine Radikalisierung der Innenpolitik zur Folge, die in der Ermordung des ersten bürgerlichen Ministerpräsidenten, Hara Takashi, durch einen Nationalisten kulminierte. Die Krise war auch von außenpolitischen Mißerfolgen bei der Washingtoner Flottenkonferenz begleitet, in der Japans Unterlegenheit gegenüber England und den USA mit 3  : 5 : 5 in der Flottenstärke festgelegt wurde und die zur Auflösung des Bündnisses mit England führte, was Japans Position gegenüber dem Hauptkonkurrenten USA schwächte. Außerdem mußte die Shantung-Halbinsel an China zurückgegeben werden. Die Nationalisten erblickten in diesen Resultaten einen Verrat der liberalen Regierung. Die Linken waren in einer einzigen legalen politischen Organisation, die auch die Gewerkschaftsbewegung umfaßte, zusammengeschlossen. Starke syndikalistische Tendenzen, aber auch die Existenz eines großen bolschewistischen Flügels, kennzeichnete diese Organisation. Die zwanziger Jahre waren in Japan durch einen Rückgang des politischen Einflusses des Militärs und durch bürgerlich-konservative Regierungen gekennzeichnet. Es »ergab sich eine enge Verzahnung von Industriekapital, Regierungsgewalt und Parteispitzen. Die Politik in der parlamentarisch-demokratischen Phase der zwanziger Jahre wurde unmittelbar von der Industrie kontrolliert.«24 Die Führer der konservativen Parteien saßen in den Vorständen der großen Industriebetriebe. Mehrfache Interventionen in China und eine deutliche Abkühlung des Verhältnisses zu den USA im Jahre 1924, als die Vereinigten Staaten mit ihren Einwanderungsgesetzen eine japanische Immigration kaum mehr zuließen, prägten die Außenpolitik. Die Differenzen mit den USA führten zu Vertragsabschlüssen mit der UdSSR, die politische Streitfragen klärten. Die Weltwirtschaftskrise traf Japan wie alle anderen kapitalistischen Staaten. Allerdings konnte »Japan den Druck der Weltwirtschaftskrise durch Unterbietung des europäischen und amerikanischen Preisniveaus weitgehend auffangen.«25 Allerdings ging dies nur auf Kosten einer radikalen Umstrukturierung im Innern des Landes. Die dualistische Form der Wirtschaft, in der neben den großen Monopolen zahlreiche kleinere private Betriebe als Zulieferer existieren konnten, die den großen zur Abwälzung und zum Ausgleich konjunktureller Schwankungen dienten, und die Japans Ökonomie bis 1929 charakterisiert hatte, verschwand weitgehend, die Monopolisierung ging sprunghaft voran. Die parlamentarische Demokratie, längst ausgehöhlt und diskreditiert durch Fälle von Korruption, Ämterkauf und direkter Eingriffe des »big business«, verlor ab 1930 24 Günther Haasch, Japan. Eine politische Landeskunde, Berlin 1973, 37. 25 Herzfeld, Welt, 292.

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weiter an Ansehen und wurde schrittweise von einer Herrschaft der Militärs abgelöst. Diese Militärs gingen auch wiederum zu einer offensiveren Außenpolitik über, die ihre ökonomische Wurzel vor allem in einem eklatanten Rohstoffmangel Japans hatte. So mußte Japan nicht weniger als 80 % seines Eisen- und Erdölbedarfs importieren. Erstes Ziel der aggressiven Außenpolitik der dreißiger Jahre war wiederum China. Japan hatte 1931 die führende Position im Handel mit China an die USA abgeben müssen. Diesen Rückschlag wollte man nun mit langfristigen Plänen zur Schaffung eines »Großjapans«, später, ab 1938, einer »ostasiatischen Wohlstandssphäre«, die ein Kerngebiet, eine »Versorgungsregion« (hauptsächlich Hinterindien mit seinen reichen Erdöl-, Kautschuk-, Eisenerz- und Kupferreserven) und eine Verteidigungszone (Neuguinea und etliche strategisch bedeutende Pazifikinseln) umfassen sollte, kompensieren. 1931 wurde die Mandschurei besetzt, während ein Angriff auf Shanghai ­scheiterte, 1932 wurde die Mandschurei in den Staat Mandschukuo umgewandelt, der als abhängiges Kaisertum organisiert wurde. Der Angriff auf Shanghai, in dem es nicht weniger als 400 Niederlassungen amerikanischer Firmen gab, veranlaßte die Vereinigten Staaten zu scharfen Protesten und zur Verabschiedung der Stimson- oder Nichtanerkennungsdoktrin, in der jede Anerkennung gewaltsam herbeigeführter territorialer Besitzverschiebungen grundsätzlich abgelehnt wurde. Auch der Völkerbund erhob Einspruch, konnte aber Japan am weiteren Vordringen in China nicht hindern, sondern erreichte nur dessen Austritt im Jahre 1933, der später von Hitler zum Vorbild genommen wurde. Aber weder diese Politik noch die Dumping-Geschäfte und auch nicht die Aufgabe des Goldstandards konnten Japan auf die Dauer ökonomisch sanieren, vor allem, da noch immer bindende internationale Abkommen bestanden, die einen Ausbau der Flotte verhinderten. So erfolgte schlüssig 1934 der Rücktritt Japans von den Washing­toner und Londoner Flottenabkommen und es begann eine ungeheure Aufrüstung der Seestreitkräfte. Die politische Isolation, in die Japan geriet, führte zu einer Annäherung an das nationalsozialistische Deutschland, mit dem 1936 der gegen die Sowjetunion und den »Weltkommunismus« gerichtete Antikominterpakt abgeschlossen wurde, dem ein Jahr später auch Italien beitrat. Japan erhielt von beiden Staaten die Anerkennung Mandschukuos. Der Einfluß der Militärs in der Politik Japans nahm ständig zu, kein Kabinett wagte es mehr, gegen die Interessen dieser Gruppen aufzutreten. 1936 führte eine Offiziersverschwörung zur Ermordung von 24 hochgestellten Würdenträgern. Obwohl dieser Putschversuch letztlich scheiterte, brachte er sogar eine Stärkung des Einflusses für das Militär. 1937 kam es zu einem neuerlichen, langwierigen Krieg mit China, das trotz innerer Zwistigkeiten dem Aggressor heftigen Widerstand leistete.

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Das militärische Vordringen Japans in China und die Bekanntwerdung der japanischen Zukunftsvorstellungen für den ostasiatischen Raum verschärften die Spannungen mit den USA und mit England, zumal Japan seine Marinestützpunkte immer näher an Indochina heranschob. Um Japan unter Druck zu setzen, annullierte die Regierung der USA 1939 den amerikanisch-japanischen Handelsvertrag von 1911 und erschwerte damit den Export wichtiger Rohstoffe, wie etwa Erdöl, nach Japan, das in wirtschaftliche Bedrängnis geriet und sich ein Jahr später im »Dreimächtepakt« endgültig an die europäischen Achsenmächte band. 1940 besetzten japanische Truppen nach Frankreichs Kriegsniederlage in Europa das nördliche Indochina, was die USA zum endgültigen Stoppen der Erdöllieferungen veranlaßte. Als 1941, nach der Besetzung auch des südlichen Teils von Französisch-Indochina, ein Handelsembargo der USA, Englands und der Niederlande folgte, war die wirtschaftliche Lage Japans unhaltbar geworden. Es fehlte an Erdöl, Eisenerz, Kautschuk und den wichtigsten Metallen. Der Überfall auf Pearl Harbour und die Auslösung des Zweiten Weltkriegs im pazifischen Raum war die notwendige Konsequenz, für die sich Japan zuvor durch einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion, sehr zum Nachteil seiner europäischen Bündnispartner, den Rücken absicherte. In sechs Monaten beherrschte Japan nahezu ganz Ost- und Südostasien. 1942 war der Höhepunkt der Machtausweitung erreicht  : Außer Australien wurde der ganze pazifische Raum kontrolliert, 500 Millionen Menschen standen unter Japans Herrschaft. 95 % der Weltproduktion an Rohgummi, je 70 % an Zinn und Reis standen zu seiner Verfügung. Die Mandschurei und Nordchina lieferten ausreichend Kohle und Eisenerz, Borneo Erdöl.26 Dennoch war Japan auf die Dauer der Auseinandersetzung mit den USA nicht gewachsen. Im Inneren Japans waren 1940 die Parteien aufgelöst und durch eine »Vereinigung zur Verwirklichung des kaiserlichen Gesetzes« ersetzt worden. Rechtsradikale Gruppen und Militärs stellten die aktiven Elemente in diesem Verein, der manche Ähnlichkeit, aber auch manchen Unterschied zu den europäischen faschistischen Parteien aufwies. Beide hatten ihre Wurzeln in der Aushöhlung der Demokratie durch die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise, beide betrieben eine enge Verflechtung von Staat und Wirtschaft, beide wurden von den Monopolen unterstützt. Allerdings fehlte in Japan die Figur des »Führers«, und die Verzahnung mit Militärkreisen war wesentlich enger als in den vergleichbaren europäischen Bewegungen. Besondere Ähnlichkeiten zeigten sich allerdings im offensiven außen- und militärpolitischen Verhalten der beiden Mächte.

26 Haasch, Japan, 47.

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7. Frankreich in der Zwischenkriegszeit Der französische Imperialismus nahm schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine Sonderstellung als »defensiver« Imperialismus ein. Die wirtschaftliche Struktur Frankreichs hatte sich auch in den Jahren in und um den Ersten Weltkrieg nicht allzu sehr verändert. Noch 1936 waren 37 % der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, die klein- und mittelbetriebliche Struktur überwog noch immer. 1914 war Frankreich das Land mit der niedrigsten Geburtenziffer der Welt, das Bevölkerungswachstum stagnierte bis etwa 1934 und in den Folgejahren war Frankreich das einzige Land der Erde mit sinkender Einwohnerzahl. All dies macht die Erklärung außenpolitischer und imperialistischer Prozesse in Frankreich schwerer als in den anderen Ländern. Der Krieg, an dessen Ende Frankreich als politische und militärische Siegermacht schlechthin angesehen wurde, hatte das Land arg geschwächt. Die nördlichen Industriedepartments, vor Kriegsausbruch die am stärksten industrialisierte Zone Frankreichs, waren schwer zerstört worden, ein Verlust, den auch die Rückgewinnung von Elsaß-Lothringen, die Frankreichs Eisen- und Kohle-Ressourcen fast verdoppelte, nicht wettmachen konnte. Die vom Krieg zerstörten Gebiete mußten unter ungeheuren Kosten wiederaufgebaut werden, was neben der großen Kriegsverschuldung Frankreichs Finanzen arg belastete und die Inflation anheizte. Dennoch hatte sich Frankreich als stärkste Macht auf dem Kontinent etabliert, die vor allen an der Niederhaltung Deutschlands und einer Konterrevolution in Rußland, wo vor dem Krieg viel französisches Kapital hingeflossen war, interessiert war. Diese beiden Interessen bestimmten Frankreichs Europapolitik der ersten Nachkriegsjahre, die in der Festigung des Systems der Bündnisse und im Eintreiben der Reparationszahlungen von Deutschland ihre Hauptaufgabe sah. Militärbündnisse mit der »Kleinen Entente« (Tschechoslowakei  ; Rumänien  ; SHS-Staat, das heutige Jugoslawien) und mit Polen stärkten Frankreichs Position in Europa, eine nachdrückliche Einforderung der Reparationen scheiterte aber an englischen und amerikanischen Interessen. Bei Kriegsende hatte Frankreich durch Übernahme deutscher Gebiete in Afrika (Kamerun und Togo) sein Kolonialreich sogar noch ausgeweitet. Dazu kam die Errichtung eines französischen Protektorates in Syrien nach der Trennung der arabisch-­ syrischen Welt von der Türkei. Vor allem in den für Frankreich besonders wichtigen Kolonien war allerdings die Zwischenkriegszeit bereits von einem Erwachen der einheimischen Bevölkerung und einem starken Unabhängigkeitsstreben gekennzeichnet, das oft nur durch größere politische Zugeständnisse unterlaufen werden konnte. Dies galt speziell für Syrien (Drusen-Aufstand von 1925) und für die nordafrikanischen Kolonien.

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Die Länder Algerien, Tunesien und Marokko, von den Arabern »Maghreb« (Land des Westens) genannt, hatten 1918 unterschiedliche verwaltungstechnische Voraussetzungen. Algerien war eine durch einen Generalgouverneur verwaltete französische Kolonie, Tunesien und die französische Zone Marokkos waren Protektorate mit eigenen Regierungen, aber unter vollständiger Kontrolle der Kolonialmacht. Die Landwirtschaft (Wein, Oliven), der Bergbau (Eisen, Phosphate und Buntmetalle), das Verkehrs-, Kredit- und Finanzsystem war in Händen französischer Monopole. Im Ersten Weltkrieg mußten 160.000 Algerier zur französischen Armee, 119.000 wurden als Arbeitskräfte nach Frankreich verschickt. 1919 erhielt die algerische Bourgeoisie politische Zugeständnisse, die allerdings den Beginn des langwierigen algerischen Befreiungskampfes nicht mehr aufhalten konnten. Auch in Tunesien und ganz besonders in Marokko wurde die französische Kontrolle in den zwanziger Jahren ernsthaft in Frage gestellt. Aus Französisch-Westafrika und Französisch-Zentralafrika waren ebenfalls im Ersten Weltkrieg Soldaten zur französischen Armee geholt worden, in der die afrikanischen Einheiten besonders große Verluste aufzuweisen hatten (30.000 Mann). Nach Beendigung des Krieges erarbeitete der französische Kolonialminister Sarrout einen Fünfzehnjahresplan zur Entwicklung dieser Gebiete, der Maßnahmen in der Landwirtschaft sowie im Transportwesen vorsah, beides Zweige, in denen die französischen Interessen lagen. Die finanzielle Belastung wurde auf die Bevölkerung der Kolonien abgewälzt, die unter diesem zunehmenden Druck organisierte Formen des Befreiungskampfes zu schaffen begann. Führend war hier vor allem Senegal. Auch in Europa geriet Frankreichs Position bald ins Wanken. Die unzureichende technische Ausrüstung der französischen Industrie und ihre überwiegend mittelbetriebliche Struktur erschwerten den Absatz auf fremden Märkten, da in Frankreich teurer als in anderen Ländern produziert wurde. So wurde die deutsche Industrie mit der amerikanischen Stütze bald wieder ein bedrohlicher Konkurrent. Der französische Versuch, durch eine direkte Kontrolle der deutschen Wirtschaft die Energie- und Rohstoffbasis Frankreichs zu bessern (Ruhrabenteuer), schlug fehl. Spätestens dadurch mußte man erkennen, daß die Losung der Regierung des Nationalen Blocks »l’Allemagne paiera  !« (Deutschland wird zahlen  !) nicht verwirklichbar war, da sie den Interessen der stärksten imperialistischen Mächte, Englands und der USA, widersprach. Innenpolitische Konsequenz des Scheiterns der außen- und wirtschaftspolitischen Konzeption der Regierung war die Machtübernahme des Linksblocks im Jahre 1924. Dieser anerkannte zwar die Sowjetunion, behielt den französischen Kolonien gegenüber aber die Politik der früheren Jahre bei, was sich in der Fortsetzung des Marokkokrieges und in der Entfesselung eines Krieges in Syrien ausdrückte.

Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit

Die Außenpolitik Frankreichs geriet in diesen Jahren der Linksblockregierung und auch in den Folgejahren in immer größere Schwierigkeiten. Eine direkte Verständigung mit Deutschland (Briand-Stresemann) gelang nicht nach Wunsch, und das faschistische Italien wurde zunehmend zur Bedrohung. Die italienisch-britische Vereinbarung über Äthiopien war deutlich gegen Frankreich gerichtet, und die italienische Presse meldete mit Nachdruck den Anspruch Italiens auf Tunis und auf zentralafrikanische Gebiete an. Konflikte gab es auch am Balkan, wo Italien Albanien als Aufmarschgebiet für eine spätere Durchdringung des SHS-Staates auszunützen trachtete. Der französisch-jugoslawische Freundschafts- und Schiedsgerichtsvertrag von 1927 sollte dem entgegenwirken. Der Beschluß des Dawes-Planes, aber auch die Locarno-Verträge des Jahres 1925 stellten außenpolitische Niederlagen Frankreichs dar, das zunehmend anerkennen mußte, daß die Interessen der USA und Englands in Europa den französischen Plänen zuwiderliefen. Einzig im Briand-Kellog-Pakt von 1928, der den Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik enthielt und der auf eine Anregung des französischen Außenministers zurückging, konnte Frankreich mit seiner Meinung durchdringen, da sie den Interessen der anderen imperialistischen Mächten in diesem Fall entsprach. Die Weltwirtschaftskrise traf Frankreich später als die anderen Staaten Europas. Die Struktur der französischen Wirtschaft schien diese bis 1931 relativ wenig krisenanfällig zu machen. Dennoch traf die Krise auch Frankreichs Wirtschaft schwer, sie endete hier auch später als in den anderen Ländern und war teilweise bei Kriegsausbruch noch nicht überwunden. Betroffen wurde vor allem der Außenhandel, der sich um mehr als die Hälfte reduzierte. Da man der Konkurrenz Englands, der USA, Deutschlands und Japans nicht mehr gewachsen war, mußten eine Reihe von Positionen auf Auslandsmärkten aufgegeben werden. Einzig die Kolonien bewiesen jetzt ihren Wert für Frankreich, weil man mit Protektionismus (Franc-Block) durch die Hilfe dieser Gebiete die Krise in ihren Auswirkungen reduzieren konnte. Innenpolitisch hatte die Krise den Ruf nach einer starken, »autoritären« Regierung zur Folge, doch die demokratischen Kräfte vor allem der Linken verhinderten diese Entwicklung. Die Krise, die erst 1936 von einer Belebung abgelöst wurde, der allerdings schon 1937 ein neuer Rückschlag folgte, hatte auch in Frankreich den Konzentrationsprozeß der Produktion und des Kapitals verstärkt und damit die innenpolitischen Widersprüche vertieft. Die Linke gewann schließlich die Auseinandersetzung und bildete 1936/37 eine Volksfrontregierung unter Léon Blum. Es wurden nun »die Eisenbahngesellschaften zur SNCF zusammengefaßt (deren Aktienmehrheit in Staatsbesitz ist) und einige große Unternehmen der Luftfahrtindustrie in Gemeinei-

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gentum übergeführt.«27 Dazu kam die Nationalisierung der Bank von Frankreich und der Rüstungsbetriebe. Dennoch schwächte die Finanzkrise die Regierung derart, daß es zur Auflösung der Volksfront kam, der im letzten Jahr vor Kriegsausbruch die Regierung Daladier folgte, die Notverordnungen und ein Ermächtigungsgesetz autoritär zur Wiederherstellung der Wirtschaft einsetzte. Außenpolitisch waren auch die dreißiger Jahre durch das Bemühen Frankreichs um eine Isolation Deutschlands und um ein System der kollektiven Sicherheit in Europa gekennzeichnet. Trotz eines französischen Vermittlungsvorschlages im Abessinien-Konflikt wurden die Beziehungen zu Italien immer schlechter, um schließlich nach vollzogener deutsch-italienischer Annäherung ganz eingestellt zu werden. Gezwungenermaßen mußte sich Frankreich um eine Annäherung an England bemühen, trotz der Enttäuschung über Englands Zurückhaltung gegenüber Deutschland bei der Rheinland-Besetzung und beim Anschluß Österreichs. Das Münchener Abkommen war schließlich Ausdruck der folgenden engen politischen und militärischen Zusammenarbeit mit England, die auch in den Kriegsjahren anhielt.

8. Zusammenfassung Am Ende der Weltwirtschaftskrise und vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges läßt sich folgende ökonomische »Rangordnung« in einzelnen Sparten zwischen den Metropolen errechnen  : Kohleförderung (von der gesamten den Metropolen zur Verfügung stehenden Kohle entfiel auf die einzelnen Länder)  : USA  : 40,9  % Großbritannien  : 28,7 % (davon 22,6 % in den abhängigen Gebieten) Frankreich  : 4,3 % (davon 5 % in den abhängigen Gebieten) Deutschland  : 21,8  % Japan  : 4,1  % Italien  : 0,19  % Erdöl (ohne die Förderrechte in formell selbständigen Ländern)  : USA  : 96,2  % Großbritannien  : 3,2 % (zur Gänze in abhängigen Gebieten) 27 Klaus Hänsch, Frankreich. Eine politische Landeskunde (= Zur Politik und Zeitgeschichte 26/27), Berlin 1967, 86.

Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit

Frankreich  :  – Deutschland  : 0,3  % Japan  : 0,2  % Italien  :  – Elektroenergie  : USA  : 43,6  % Großbritannien  : 22,1 % (davon 55,5 % in abhängigen Gebieten) Frankreich  : 6 % (davon 2 % in abhängigen Gebieten) Deutschland  : 14,6  % Japan  : 9  % Italien  : 4,6  % Eisenerzförderung  : USA  : 57,9 % (davon 0,8 % in abhängigen Gebieten) Großbritannien  : 15,7 % (davon 57,4 % in abhängigen Gebieten) Frankreich  : 20,8 % (davon 14,2 % in abhängigen Gebieten) Deutschland  : 4,3  % Japan  : 0,5  % Italien  : 0,8  % Stahlerzeugung  : USA  : 49,5  % Großbritannien  : 16,3 % (davon 21,9 % in abhängigen Gebieten) Frankreich  : 7,6  % Deutschland  : 19  % Japan  : 5,6  % Italien  : 2  % Kraftwagenproduktion  : USA  : 78,2  % Großbritannien  : 11,4 % (davon 29,6 % in abhängigen Gebieten) Frankreich  : 3,2  % Deutschland  : 5,7  % Japan  : 0,3  % Italien  : 1,3  %

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Goldvorrat  : USA  : 61,7  % Großbritannien  : 23,2 % (davon 14 % in abhängigen Gebieten) Frankreich  : 12,5 % (davon 0,8 % in abhängigen Gebieten) Deutschland  : 0,2  % Japan  : 1,4  % Italien  : 1  % Die drückende Überlegenheit der USA in sämtlichen Bereichen läßt sich deutlich erkennen, ebenso der Umstand, daß gerade für England die formell abhängigen Gebiete die größte Bedeutung hatten. Nur Frankreich kann hier einigermaßen mithalten. Bei Japan fällt die Diskrepanz zwischen der Rohstoffbasis, etwa Eisenerz, und der Produktion, etwa Stahl, auf, bei Deutschland wohl vor allem das beinahe vollständige Fehlen von Goldreserven. Betrachtet man die imperialistischen Metropolen der Zwischenkriegszeit, so kann man wohl zusammenfassend drei unterschiedliche Verhaltensformen den Ländern der Dritten Welt gegenüber feststellen  : 1. Aus der Schwäche der heimischen Industrie ergab sich eine formelle Herrschaft, die protektionistisch die eigenen Märkte zu schützen versuchte und vor allem in der Weltwirtschaftskrise die abhängigen Gebiete zur Aufrechterhaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems im »Mutterland« benützen konnte. Diese Form findet sich besonders bei England und Frankreich. 2. Aus einer starken und aufstrebenden heimischen Industrie entwickelten sich Formen der informellen Durchdringung von Ländern der Dritten Welt, wobei zur ökonomischen Kontrolle manchmal auch die politische und finanzielle Abhängigkeit der Regierung dieser Länder kam. Besonders die USA, aber etwa auch Deutschland in den dreißiger Jahren in Lateinamerika, bevorzugten diese Vorgangsweise. 3. Stark expandierende Industrie und Bevölkerung bei mangelnder Rohstoffbasis und beschränkter Anzahl abhängiger Gebiete schufen stark aggressive Formen des Imperialismus, insbesondere im Fall von Japan. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit, in  : Alfred Bergmiller/Peter Feldbauer (Hg.), Kolonialismus, Imperialismus, Dritte Welt, Bd. 1 (= Geschichte und Sozialkunde 2/1, Reihe »Lehrbehelfe«), Salzburg 1977, 138–174 (Wolfgang Neugebauer Verlag).

Austria on the Path to Western Europe The Political Culture of the Second Republic (1995)*1 Like Robert A. Kann, I too am a historian by profession. Despite the close links between their subject and disciplines such as sociology and political science, historians on the whole avoid attempting to analyze contemporary politics. This lecture will therefore concentrate on the first twenty-five years of the Second Republic. Yet I am well aware that in the Kreisky era (notably as a result of the reforms introduced by Hertha Firnberg and Christian Broda) Austria’s progress toward Western Europe took on a new character, and the country underwent what was, for the time being at least, its final major modernization. But it was an analysis of the wholly different steps taken toward the West between 1945 and 1970 that laid the foundation on which the single-party Social Democratic (SPÖ) government of the 1970s was able to build. It therefore seems legitimate to focus upon that first half of the history of the Second Republic, and to see the turning point marked by the student movement of 1968 and the election results of 1970 as a natural cutoff point for this discussion. Broadly speaking, the main concerns of the new state in its first two and a half decades were to provide a framework of order for the very disparate elements that it had inherited and to deal with the immense problems now confronting it. National Socialism, by its policies and the effects of all-out war, had left behind a country in ruins in every sense – not only materially through the destruction of housing, infrastructure, and industrial plant, but also intellectually and culturally. Most of the leading figures in Austria’s cultural and intellectual life had been driven into exile or murdered. Schools and universities had adapted to the system with shameful readiness, and a whole generation had been brought up on the warped ideals of National Socialism. *



The author is Professor of History and Rector, Karl-Franzens University, A-8010 Graz, Austria. The Kann Lecture was delivered at the University of Minnesota on October 29, 1993, and has been revised for publication. This lecture is dedicated to Robert A. Kann. Although to the best of my knowledge Robert A. Kann did not do research on the Second Republic, much of what I am about to say is directly linked with his life and work. The course of his life is a good illustration of some of the points that I shall be making under the heading of “provincialization”. And his fundamental writings on the national question form the basis of what I have to say about national identity in the Second Republic. I had the great good fortune to meet Robert A. Kann while I was still a student and to be stimulated by his ideas through personal contact as well as through his works. It therefore gives me particular pleasure to deliver the 1993 Robert A. Kann Memorial Lecture.

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The new political leaders were faced with the task of ensuring material survival and, on the political front, of proving that the young state was capable of democracy. That this process of consolidation was rapidly accomplished was due to both internal and external factors. In this lecture I will try to address in particular the key internal issues of those twenty-five years. For many years the history of the Second Republic was not one of the main preoccupations of Austrian historical scholarship. Other periods in the twentieth century generated far more interest, notably the collapse of the empire and the great internal political struggles of the First Republic. Of the two dictatorships, National Socialism was able to attract significantly more attention than the Corporate State. But, taken as a whole, the twenty-seven years from 1918 to 1945 were the main focus of research interest, while for a long time the period following World War II – which now, after all, amounts to more than forty-eight years – suffered relative neglect. This bias toward the earlier period was due partly to factors within the historical discipline and partly to external factors. In the first category, the chief problem has without any doubt been the difficulty of access to archival material  : in certain areas a rigid fifty-year rule is in force, although there has been some relaxation recently.1 In addition, researchers themselves have been more strongly drawn to the spectacular events, the great changes, the conflicts, and the personalities of the first half of the century than to the relatively peaceful, self-contained, and undramatic decades of the Second Republic. An external factor that reinforced this preference was the fact that until the 1960s there were no academic institutes for contemporary history, so that instead of being subject only to the criteria of historical scholarship, research had to respond to the needs of politics.2 For each of the two major Austrian parties, eager to project its identity successfully to its own political constituency, there was a pressing need for publications describing the party’s historic mission and keeping alive the images of its heroic age. (This applies especially to the Social Democratic party, to which more studies were devoted.) Historical writings dedicated to this purpose naturally focused on the First Republic. And the great standard works on Austrian history appeared outside Austria, written either by émigrés or by persons whose concern with 1

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In its thirty-fourth issue the journal Historicum. Zeitschrift für Geschichte (Summer 1993, 28–32) carries a survey of the fifty-nine most important archives in Austria and shows that while policies on archival use vary widely, they are in some instances now very liberal. One problem lies in the differing powers of the authorities, making a standardization of policy more difficult. In the context of the “Year of Reflection, 1988” and building on the initial work done by Gerhard Botz, Heidemarie Uhl has published a major study of this subject  ; see Heidemarie Uhl, Zwischen Versöhnung und Verstörung  : Eine Kontroverse um Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem “Anschluß” (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 17), Vienna et al. 1992, 18 f.

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Austria dated from their own observation of the country before 1934, or 1938 as the case might be.3 More recently, however, the situation has changed. In addition to a great many studies, some of them excellent, on specific topics, and works from related disciplines such as political science, economics, and sociology, the historical discipline has now also produced major surveys of the period. In 1972 the first large-scale collective work on the Second Republic, edited by Erika Weinzierl and Kurt Skalnik, appeared.4 And two decades later Wolfgang Mantl, himself a political scientist, published his large volume, Politik in Österreich. Die zweite Republik  : Bestand und Wandel,5 which included substantial contributions from colleagues in the historical field. In particular, Alfred Ableitinger’s essay of almost one hundred pages summarizing the course of internal politics will probably remain the definitive account for some time to come.6 This does not mean that historians have changed their priorities. The first half of the century is still the preferred field of research, not least because, with the collapse of Communist rule, nationalism and the disintegration of multinational states have once more become topical issues, so historians are once again turning their attention to the final years of the Habsburg monarchy.7 But studies of the Second Republic have noticeably gained ground, both in quantity and in quality, and have at least caught up with those on the interwar years. It is not within the scope of this lecture to give an account of the current state of research on the Second Republic. My aim is rather to make a few observations, with reference to the loosely defined concept of “political culture”, on how and to what extent the Republic of Austria has developed 3

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The best example is the work by Charles A. Gulick, republished in abridged form as  : Charles A. Gulick, Österreich von Habsburg zu Hitler, Vienna 1976. Originally published as  : Charles A. Gulick, Austria from Habsburg to Hitler, 2 vols., Los Angeles 1948. Erika Weinzierl and Kurt Skalnik, eds., Österreich  : Die Zweite Republik, 2 vols., Graz et al. 1972. A shorter, single-volume edition appeared in 1975 under the title  : Erika Weinzierl and Kurt Skalnik, eds., Das neue Österreich  : Geschichte der Zweiten Republik, Graz et al. 1975. Wolfgang Mantl, ed., Politik in Österreich. Die Zweite Republik  : Bestand und Wandel (= Studien zu Politik und Verwaltung 10), Vienna et al. 1992. Alfred Ableitinger, Die innenpolitische Entwicklung, in  : Wolfgang Mantl, ed., Politik in Österreich. Die Zweite Republik  : Bestand und Wandel (= Studien zu Politik und Verwaltung 10), Vienna et al. 1992, 119–203. Comparison between this and Rudolf Neck’s account in the collection edited by Weinzierl and Skalnik clearly shows the advances made in the writing of contemporary history in the last two decades. Yet Neck’s essay is also of high quality, and as director-general of the Austrian State Archive he had no small knowledge of the sources. An example is the collection of essays edited by Richard L. Rudolph and David F. Good, eds., Nationalism and Empire  : The Habsburg Empire and the Soviet Union, New York 1992. It contains revised papers from a conference sponsored by the Center for Austrian Studies at the University of Minnesota.

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into a small European state that can be measured by the same yardsticks as those applied to other states of similar size in Western and Central Europe. The term political culture will be used, as it is by Fritz Plasser and Peter Ulram, to mean the values held by individuals, groups, and society as a whole that affect the behavior of people within and in relation to the political system of a country.8 This broad and somewhat vague concept will make it possible to draw comparisons both vertically and horizontally, that is, to make the historical comparison with the First Republic but also to consider the contemporaneous situation in other European states. Here it is important to guard against two oversimplifications. The First Republic must not be regarded simply as a negative foil to which the Second stands in total contrast or as a stage that it has left behind in the course of a gradual learning process. Nor is there any obvious way of defining the “normal” small state so as to assess in what ways Austria conforms to or deviates from such a norm. In hindsight, however, there is no doubt that, as Ernst Hanisch argues, the Second Republic has seen the development of a structure “more in accord with the industrialized West and the Western type of democracy. An overwhelming majority of the population takes a positive view of democracy, of the nation-state and the economic viability of the Republic.”9 But what does this statement mean  ? What had happened after 1945  ? What were the decisive steps that set Austria on this course  ?

I Austria’s situation in 1918 and in 1945 had one thing in common  : as a result of war a multinational state was broken up and from it a newly formed entity emerged, weak both internally and externally – the Republic of Austria. In 1918 the process undeniably bore revolutionary traits, which, if nothing else, speeded it up. The year 1945 is sometimes spoken of in terms of a restoration, but it would probably be truer to describe what took place as a revolution from above, in which an unprecedented consensus among the political elite set in motion long-delayed processes of modernization. This consensus among elites was able to work effectively because of 8

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Logically speaking, this term is in fact merely an empty formula, since it cannot be applied with analytical precision. The concept was developed in the book by Fritz Plasser and Peter A. Ulram, Unbehagen im Parteienstaat  : Jugend und Politik in Österreich (= Studien zu Politik und Verwaltung 2), Vienna et al. 1982. It was adapted to apply to contemporary history by Wolfgang C. Müller, Zum Konzept der politischen Kultur, in  : zeitgeschichte, vol. 12, issue 1 (1984/85), 26–35. Ernst Hanisch, Kontinuitäten und Brüche  : Die innere Entwicklung, in  : Herbert Dachs et al., eds., Handbuch des politischen Systems Österreichs, 2. edition, Vienna 1992, 12.

Austria on the Path to Western Europe

the country’s paternalistic structures, for only in a society with authoritarian characteristics is it conceivable that such unity at the top could, with little difficulty, be transmitted downward into what was still a strongly polarized and segmented society. At the grassroots level the “camp mentality” of the First Republic (including the Corporate State) and some attitudes inculcated during the years of National Socialist rule maintained their hold for a long time. At the level of government and of the leadership of the parties a different system of values and norms, a different way of relating to each other, and a different view of history had long since been adopted. A typical example of this disparity can be seen in the treatment of resistance fighters  : they received state honors and were useful in making Austria more respectable in the eyes of the outside world, but they had no place in everyday “normality”. Especially outside the large cities, they were regarded as foreign bodies, as disrupters of the communally held view of things.10 This side-byside existence of “camp mentalities” and consensus could only work because it took place in a democracy run by officialdom  ; after years in which politics had been a constant and explicit presence, people were glad to be able simply to delegate important questions upward, so the disparity was not so very noticeable. This Austrian system has been termed a versäulte Konkordanzdemokratie (a pillarized democracy of consensus)  :11 it is characterized by an extremely rigid “camp” formation (about one-third of the voters for the major parties were also members  ; three-quarters of the voters had a traditional and long-standing identification with one party  ; well over 90 percent voted  ; and the proportion changing their allegiance was extremely small), and the leaders engaged in well-practiced conflict avoidance strategies while playing to their own respective galleries with suitable sound and fury. This is how political patterns dating back to the interwar period and attitudes from the antiparliamentary years were able to survive and coexist with the new conception of the state. My own political socialization may stand as a typical example of this. The small industrial town of Frantschach-St. Gertraud in Carinthia had a strong Social Democratic subculture  : its children’s and youth organizations – the Kinderfreunde, Rote Falken, and Blauhemden – and its fighting songs were all a part of my childhood. 10 This has been shown most strikingly in a regional study by a sociologist  ; see Christian Fleck, Koralmpartisanen  : Über abweichende Karrieren politisch motivierter Widerstandskämpfer (= Materialien zur historischen Sozialwissenschaft 4), Vienna et al. 1986. 11 The essential characteristics of this system are described by Ableitinger, Entwicklung, 151–154, and by Wolfgang C. Müller, who points out that up to the 1970s Austria was “one of the countries showing the least voter fluctuation between the parties.” Wolfgang C. Müller, Das Parteiensystem, in  : Herbert Dachs et al., eds., Handbuch des politischen Systems Österreichs, 2. edition, Vienna 1992, 191.

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These were mixed with nationalist feelings of resentment, anticlerical attitudes, and so on dating from the years 1938 to 1945. Above it all there were the “saints” on their pedestals, such as Adolf Schärf, who was always right, although he of all people stood for compromise. Or Franz Olah, the proud crosser of boundaries (including those of the law), the architect of reconciliation with the church, and the populist. He was not controversial, because he was a representative of the official-run state. This provides an illustration of how the key years of 1934, 1938, and 1945 left a legacy of both radical changes and continuity. Without any doubt, contemporaries of mine who grew up in a Tyrolean mountain village would be able to tell of similar, although reversed, experiences in their political socialization during the 1950s.

II Another feature affecting the political culture of the Second Republic is the particular way in which it relates to the idea of modernity, of belonging to the modern age. Historically this was, in its Austrian form, an urban phenomenon  ; politically it was characterized by democratization, by horizontal and vertical mobility, a diminished sense of security, the breaking of molds, and dynamism.12 Since of course all this was linked with industrialization, modernity was always associated politically in Austria with only one section of society, namely the Left, represented by Social Democracy. “Modern” Vienna stood alone against all the rest of Austria, which was conservative, and the way in which the capital and the regions chose to portray themselves differed accordingly. Even Vienna reveals a dichotomy between the historicist architecture of the Ringstraße and the wish to be a modern city  ; even the modern infrastructural improvements, like the Stadtbahn (underground) and the piped water system, wear “antimodern” disguises. Only in the interwar years did Vienna truly become modern. One can see this by comparing the celebratory procession designed by Makart in 1879 with that of “New Vienna” in 1932. Whereas the first of these parades was about historical greatness, pomp, splendor, and the imperial dynasty, fifty years later the emphasis was on the social, educational, and economic provisions benefiting the broad mass of the people. The Corporate State reverted to the old symbolism, although without the dynastic elements – dominant 12 Within the Humanities Faculty of the University of Graz a special area of research, “Moderne”, has been formed  ; it is envisaged that over a period of ten years scholars in the fields of history, literature, music, philosophy, and the visual arts will jointly carry out a major program of research with the aim of identifying the specific features of “modernity” in Austria.

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images were those of crafts and trades and the Middle Ages, in other words preindustrial society.13 Of the achievements with which the Corporate State wished to be identified, only a few, among them the mythic Glocknerstraße, can count as modern. National Socialism, with its drive toward greater industrialization, changed the picture radically. But although it can be seen as an agency of modernity, it often made use of backward-looking symbolism  : the farmer sowing his seed by hand is an image totally at odds with the reality of the Autobahn, armaments, huge factories, and the perfected machinery of destruction. Even the most inhuman products of the modern age appeared with premodern trimmings. In the Second Republic there was for the first time a consensus across both camps in favor of identifying with modernity. Politically there was total agreement on this  : even the (conservative) Austrian People’s party followed the lead of the British Labour party as the party representing the interests of the mass of ordinary people. But in the area of symbolism, too, the Kaprun power station, the Linz-Donawitz steelmaking process and so on joined the range of generally accepted images with which the parties were happy to be identified.14 Soon the label Sozialstaat (welfare state) received the same recognition.15 Although nostalgic elements were still present – the Heimatfilm, Sissi, the Vienna Boys’ Choir, the Lipizzaner horses – modern symbolism not only predominated but was generally accepted across the “camp” boundaries. The “heroes of Kaprun” were unchallenged symbols, at least up to the emergence of the postmodern ecological challenge from society. With the rise of the antinuclear movement, this challenge gained especially strong support in Austria. Publications intended to project a particular image of a party, such as Festschriften, demonstrate this acceptance of modernity in their design and choice of illustrations. Another particularly nice example is the national anthem.16 As in the First Republic, the adoption of a new anthem was fraught with difficulties. Between 1918 and 1938 all attempts to gain acceptance for a new anthem failed because of the polarization of the different groups and the lack of a shared Austrian identity, and they had no chance of succeeding against the old Haydn anthem. However, in the Second Republic a moderately modern text (“Land of hammers, full of promise for the future”) 13 Under my supervision, Werner Suppanz is at present working on a research project on this subject titled “Zur historischen Legitimation von Ständestaat und Zweiter Republik”, which is due to be completed in 1995. 14 Ableitinger, Entwicklung, 166. 15 Ibid. 16 Johannes Steinbauer, »Markig und feierlich…«. Eine Geschichte der Bundeshymnen der Republik Österreich  : Betrachtet unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen, diploma thesis, University of Graz 1993.

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rapidly gained public acceptance. It would be tempting to analyze the melody and its connections with Freemasonry,17 but that would be too much of a digression.

III A problem for the First Republic was the discrepancy between the size of the country and the importance of the metropolis. Vienna, seat of the rulers of a great empire and administrative, educational, and cultural center, was out of all proportion to the poor, small state that was left after 1918. The resulting problems exacerbated the political tensions between “Red Vienna” and the “black Länder”, and there was no sense of a shared Austrian identity to bridge the gulf. In the sciences and arts, above all, Vienna could claim unrivaled stature, since to a large extent the city was able to claim for itself the great heritage of the empire. In the National Socialist period the importance of Vienna was significantly diminished in at least two ways. First, the Nazis demoted Vienna to a center of the second rank.18 Second, the leading figures in the cultural life of Vienna were driven into exile or liquidated.19 Some years ago a conference and its subsequent collection of essays gathered memories of such instances and in bringing together both the arts and scholarly disciplines showed the true magnitude of this hemorrhage.20 The fact that Austria was guilty of some shameful omissions after 1945, especially in bringing back the Jewish intellectuals,21 contributed to the narrowing of the gulf between Vienna and the Länder as the metropolis to a large extent became provincialized. What the National Socialists had sought to achieve as a political goal became a reality in 17 Ibid, 154 f. 18 Gerhard Botz, Wien vom “Anschluß” zum Krieg  : Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Vienna et al. 1978, 593 f. 19 Among the many published studies on this subject special mention may be made of Jonny Moser, Die Apokalypse der Wiener Juden, in  : Siegwald Ganglmair comp., Wien 1938  : Historisches Museum der Stadt Wien, 110. Sonderausstellung, Vienna 1988. 20 Rarely has the full extent of Austria’s loss been more palpable than at this conference, which in a comprehensive gathering brought together survivors of the tragedy from the fields of the arts, culture, and science and the researchers of the following generation. See Friedrich Stadler, ed., Vertriebene Vernunft II  : Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft  : Internationales Symposion 19.–23. Oktober 1987 in Wien, Vienna and Munich 1988. 21 Dramatic evidence, which even incriminates those responsible for internal policy, emerged with the recent publication of the minutes of meetings of the Austrian government. See Robert Knight, ed., “Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen”  : Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945–1952 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt 1988.

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the Second Republic. Vienna had lost its status as a European metropolis  ; only to a limited extent could it even become part of the international scientific, scholarly, and artistic community. Yet it now makes practically no difference where one studies in the Second Republic – since what all the universities offer is much the same – or where one goes to concerts. In matters of culture Austrian self-sufficiency has meant an averaging-out of standards over the country.

IV The existential problem, the key problem for Austria as for few other states, was the matter of national identity.22 A century of dramatic developments had thrown up various options, most of which, however, led directly or at least indirectly to crises and conflicts. Even under the Habsburg monarchy those parts of the empire that later became the Republic of Austria were ambivalent on the question of national identity. There was fairly general loyalty to the state and to the ruling dynasty, and this basic attitude was usually reinforced by the long term of military service.23 Moreover, at least the modern mass movement of the Left accepted the multinational state24 and did not let itself be dominated by ideas of nationhood defined by biological criteria. But it was also clear to the great majority of people in these areas that they belonged to the German “cultural nation” as defined by language and literature.25 The conflict between these two poles was sometimes considerable, but usually containable. In 1848 the sense of belonging to the “cultural nation” combined with liberal and even democratic positions. Later in the century it became more antiegalitarian and hostile to progress. But only the end of World War I revealed the whole dilemma. The removal of the imperial dynasty as the focus of Austrian loyalty cleared the way for “cultural 22 National identity was one of the chief areas of Robert A. Kann’s research. Other major writers such as Felix Kreissler, Friedrich Heer, Hans Mommsen, and Ernst Bruckmüller have also devoted their main works to the subject. No historian working in the field of modern Austrian history can evade it. 23 This has been clearly shown most recently by István Deák, Beyond Nationalism  : A Social and Political History of the Habsburg Officer Corps  : 1848–1918, New York 1990. 24 Helmut Konrad, Nationalismus und Internationalismus  : Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 4), Vienna 1976. 25 The concept of the Sprachnation, the nation defined by language, which was derived from Romantic thought, was dominant up to the end of the nineteenth century. It was then partially displaced by other attempts to define what constitutes a nation, on the basis of biology by the “Right”, on the basis of economic criteria by the “Left”. Only with Austro-Marxism and, later, communication theory did the Sprachnation concept undergo further dynamic development.

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nationalism” and led to the famous resolution that German Austria was a part of the German Republic,26 on the basis of the right of nations to self-determination. If there were other loyalties, these were to the Land. One was a Tyrolean or a Carinthian, but not an Austrian. “We did not want to say Austria, we were forbidden to say Germany, so we said Carinthia” – in these simple terms veterans of the defense of Carinthia even now sum up their attitude. Although the term “German-Austria” was prohibited, the Social Democrats included it in the name of their party, and the Anschluß paragraph was only removed from the program of the workers’ party after Hitler’s seizure of power.27 That the nationalist camp in Austria merged with the German-nationalists and the overwhelming majority then went over to National Socialism was only to be expected. But the positions adopted on the “national question” had made it easy for National Socialism to gain a foothold among members of other parties, too. In the Second Republic the parameters were fundamentally different. There was general acceptance of the small state, and what was now sought was precisely an identity separate from that of Germany. This was partly opportunism, a “creeping out of the shared house and away from shared responsibility”28, a convenient assumption of the victim’s role. In part, however, it was the logical antithesis to what had happened in the previous years. Identification with the Land had lost its attraction  : no single Land had a stronger antifascist tradition than the federal state itself. The process leading from acceptance of the state to the formation of an Austrian nation was slow and gradual. The Austrian nation has clearly been influenced more strongly by the American model than has the German nation. That the existence of an Austrian nation is now accepted as a matter of course has to do mainly with political not ethnic considerations. The State Treaty and neutrality are more important points of identification than language or culture. “We are one people” is a very German slogan  ; the Austrian understanding of nationhood is based on acceptance of a specific 26 Karl R. Stadler, Hypothek auf die Zukunft  : Die Entstehung der österreichischen Republik 1918– 1921, Vienna et al. 1968, 86. 27 Helene Maimann, Der März 1938 als Wendepunkt im sozialdemokratischen Anschlußdenken, in  : Helmut Konrad, ed., Sozialdemokratie und »Anschluß«  : Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen  : Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriften­ reihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Vienna et al. 1978, 63. 28 This had been opposed most vehemently by Friedrich Adler, and the way in which the matter was handled was one reason for his second emigration, as has been clearly shown by Rudolf Ardelt, Das »Problem« Friedrich Adler, in  : Helmut Konrad, ed., Sozialdemokratie und »Anschluß«  : Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen  : Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Vienna et al. 1978, 71–87.

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political order. And it is pleasing to note that the nationalist voices in Germany calling for unification have found virtually no echo in Austria. Today even the representatives of the former nationalist camp vigorously support this political view of Austrian nationhood, at least in their public utterances,29 and therefore also oppose the surrendering of any elements of independence in the process of integration with Europe. In this connection – and not only, of course, for that particular political group – neutrality is an extremely significant factor. Of all the political features associated with the Second Republic, it is neutrality that gives it its essential character. This will presumably be abandoned in the next few years, and with it will go an important, perhaps the most important, pillar upholding the nation’s conception of itself. Nevertheless, a relapse into German nationalism, or for that matter into racist modes of argument, is not likely. And although in the new European situation there is fear concerning the huge numbers of migrants, there is in fact little sign of support for a defensive attitude based on biology. It is certainly the economic arguments that dominate discussion at present.

V The considerable economic strength that Austria attained after 1945 and that contributed significantly to the citizens’ identification with the young state was by no means a foregone conclusion in the early years of the Second Republic. The myth of the “generation of reconstruction”, which was often invoked in Austria to settle generational conflicts, both political and private, certainly contains a core of reality. Owing to the destruction caused by the war, the problem of the so-called German assets, and the demands of the victorious powers, Austria’s starting position was little more encouraging than it had been in 1918. Few production sites had been destroyed in World War I, but there were structural imbalances, collapsed markets, and unbridled inflation.30 The problems after 1945 were equally grave, but the political consensus enabled major steps to be taken to solve the problems  : a monetary policy that, together with price regulation, kept inflation in check and, above all, a shared policy of nationalization that was acceptable across the “camp” boundaries because it

29 Jörg Haider has repeatedly expressed this point of view in recent speeches, following the almost uniformly hostile public reaction to his calling the creation of the Austrian nation a “monstrosity” (Mißgeburt). Needless to say, this is primarily a political ploy that he hopes will pay dividends in the form of popular support for his position on the question of Austria’s integration into Europe. 30 See Eduard März, Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913–1923  : Am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe, Vienna and Munich 1981, 273 ff.

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primarily concerned the “Austrification”31 of property. Because it was seen as a way of evading the Allies’ claim to “German assets”, in particular the Soviet claim to the Austrian oilfields (the value of which was overestimated at the time), what began as the Socialist program of socialization became the Austrian form of nationalization, in which, especially where the management of energy was concerned, the Länder were also involved in order to meet the requirements of the federalist conservatives. This led to the paradox that the Communists voted against nationalization and the conservatives for it.32 As a result of this legislation Austria had the largest proportion of its total economy under direct or indirect public control in the whole of the Western world. This enabled it for many years to have an exemplary record with regard to job security and social welfare. The fact that in recent years this development has reached its limits cannot and should not detract from that historic achievement.

VI In the economic sphere the other outstanding feature of the Second Republic, besides the nationalized industries, is the Social Partnership. Quite rightly, a great deal has been written about it, most recently the well-balanced analysis by Josef Marko in the collection of essays I mentioned at the beginning.33 It has been seen as a general acceptance of the corporatism that was attempted by one side in the Corporate State  : thus Alfred Ableitinger argues that in the nationalization legislation, traditional Socialist ideas were mixed with an element of Austrian patriotism and achieved general acceptance,34 while in the case of the Social Partnership, a basic model of conservative origin received support across the “camps”. Or the Social Partnership may be seen rather as a continuation of Renner’s policies at the beginning of the First Republic.35 Either way, it is certain that this broad support is its distinctive feature. Anton Pelinka places the Social Partnership on two quite different levels. One is the level of its institutions and decision-making processes. “The other is […] [its] condition, as the prevailing consciousness, as the prevailing political culture.”36 Both 31 Ableitinger, Entwicklung, 148. 32 Ibid., 147. 33 Josef Marko, Verbände und Sozialpartnerschaft, in  : Wolfgang Mantl, ed., Politik in Österreich. Die Zweite Republik  : Bestand und Wandel (= Studien zu Politik und Verwaltung 10), Vienna et al. 1992, 429–478. 34 Ableitinger, Entwicklung. 35 Josef Weidenholzer, Der sorgende Staat  : Zur Entwicklung der Sozialpolitik von Josef II. bis Ferdi­ nand Hanusch, Vienna et al. 1985, 251 f. 36 Anton Pelinka, Windstille  : Klagen über Österreich, Vienna and Munich 1985, 135.

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of these levels are indeed important to any consideration of the Second Republic, and one can rarely make a clear distinction between them. This is not the place to give a full account of the institutions of the Social Partnership. Above all its central principle is balance. Although both the organizations and the ideas in some cases go back as far as the monarchy – the idea of having workers’ chambers as counterparts to the chambers of commerce was being discussed one hundred years ago and was put into practice at the beginning of the First Republic.37 The Second Republic, as Ableitinger writes, developed “an economic-political and socio-political steering mechanism that rests on a partnership, full of conflicts but capable of compromise, involving the organizations representing the major interest groups and their leading figures.”38 That this worked was due more to the Austrian Federation of Trade Unions than to any of the other participants. I will therefore say a little about the federation, not least because this is one of my own research interests. The Austrian Federation of Trade Unions (ÖGB) was founded in 1945 as a united trade union encompassing the three parliamentary political parties and the unions representing the different trades. It is organized in a highly centralized manner, and the decision-making structure runs from the top down. This accords with the paternalistic nature of the basic political structure of the country. Politically, although it is clearly dominated by Social Democrats, it has some paradoxical features. Thus the Communists, as part of the federation, left the World Federation of Trade Unions but continued to be part of the Communist world organization, just as the Christian segment belongs to its own international association.39 But the highest union positions were always held by individuals who, by being party officials too, guaranteed a conti­ nuing close relationship with Social Democracy (SPÖ). Within the SPÖ they tended to belong to the so-called right wing, and it was they who were the vital partners in the alliance with the Americans. Austria’s orientation toward the West, encouraged by material support through various channels such as the targeted distribution of CARE parcels, prepared the ground for the widespread acceptance of the Marshall Plan,40 which was able to form the basis for the country’s further development. Here I will say something about one of the most 37 Heidemarie Uhl, Geschichte der steirischen Kammer für Arbeiter und Angestellte in der Ersten Republik, Vienna et al. 1991, 1–17. 38 Ableitinger, Entwicklung, 154. 39 Helmut Konrad and Manfred Lechner, »Millionenverwechslung«  : Franz Olah – die Kronenzeitung – Geheimdienste, Vienna et al. 1992, 48–50. Manfred Lechner has made these matters the subject of his dissertation. 40 Reinhold Wagnleitner, Coca-Colonisation und Kalter Krieg  : Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 52), Vienna 1991.

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prominent personalities in the political life of the Second Republic, Franz Olah, since the events of his life make him a representative example of the politicians of that generation.41 Franz Olah, born in 1910, was a typical adolescent in the political landscape of the First Republic, in which, in accordance with his social circumstances, he quickly found his way into the trade union and political organizations. Continuing to be active illegally after 1934, he was twice arrested and spent many months in the prisons of the Corporate State  ; this did not, however, prevent him from acting as a major participant in talks with the government on the formation of a defensive front against the National Socialists. He was accordingly one of the first to be arrested after the Anschluß, and was taken in a “transport of prominent people” to Dachau. He remained in the concentration camps of the Third Reich until 1945 and was known above all as a consistent opponent of any invitations from the Communists to form a united front. He stood for the Geist der Lagerstraße, the “spirit of the camp road”, which reconciled the two great political groups that had been opponents before 1938 but excluded the Communists. This continued to be his position during his rapid rise in the ÖGB and the SPÖ after 1945. This rapid rise was helped by the political system, which made it possible for large sections of the population to cease to take any active interest in politics. Also there were not so very many of his type  : he was a politician with commitment, yet prepared to compromise, and his background – the experience of the concentration camps and the respectability that this gave him – made him a presentable figure on the international political scene. It was precisely this background, which represented the “other Austria”, that enabled Olah to establish very close links with the United States. In 1948 he was a guest at the American Federation of Labor (AFL) congress, and finally his role in the strike of October 1950 provided the opportunity for a myth to be built up around him. The strike was partly a Communist threat and partly a spontaneous protest against the new form of politics, since the wage-price agreements may be regarded as the immediate forerunners of the institutions of the Social Partnership. Thus Olah stood for orientation toward the West, anticommunism, and the achievement of persuading the workers to accept the Social Partnership. It is no coincidence that he is to be counted among those who shaped the institutions of the Social Partnership, contained in the Raab-Olah Agreement. But at the same time he also typifies that aspect of the Social Partnership that points beyond the institutions to the domain of political culture. His general approach to politics was paternalistic. It ranged from the setting up of a private army in the context of the so-called Special Project to the policy 41 Helmut Konrad, Zur politischen Kultur der Zweiten Republik am Beispiel des »Falles Olah«, in  : Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung, vol. 5, issue 1 (1986), 31–53.

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directives that he gave to the Socialists concerning relations with the church and also with the nationalist camp. In the end it was this concentration of power in the hands of one man that mobilized traditionalist opponents and led to Olah’s downfall.

VII The political culture of a country is profoundly influenced by its public media. Some of the phenomena already described can be clearly seen in the following examples. At first an attempt was made to preserve the separate identities of the political camps by means of party newspapers,42 but this attempt was destined to fail, not least because of the thinning out of talent and the provincialization resulting from that massive loss of intellectuals between 1934 and 1945. The (Socialist) Arbeiterzeitung survived the longest, continuing publication for a considerable time, but with the disintegration of the “camp” structures it too finally closed down. Apart from the party newspapers, the main development was in the popular press. In the Kronenzeitung,43 originally founded by Franz Olah as his personal populist mouthpiece, Austria today has a newspaper with the highest ratio of circulation to population, although this says nothing about its quality. Radio and television to this day bear witness to two of the other characteristic features of the republic that I have mentioned, namely nationalization and that expression of the Social Partnership in terms of power politics, the Proporz (the balanced representation of the parties in appointments to public positions). That the People’s party at first chose to back radio and left television to the Socialists merely reflects the attitude of the two major political camps to modern technology. With the present debate about and tendency toward denationalization, the future of the broadcast media has naturally also come under discussion. Integration with Europe – or rather the annexation of Austria to Europe – has long since been achieved by cable and satellite  : the state’s broadcasting monopoly, supposedly a special characteristic of Austria, is now in any case no more than a fiction. The seven points discussed here cannot, of course, amount to a comprehensive characterization of the political culture of the Second Republic. They should have shown, however, that ultimately the decisive steps taken in 1945, in the form of a revolution 42 Kurt Wimmer, Struktur und Einfluß der Medien, in  : Wolfgang Mantl, ed., Politik in Österreich. Die Zweite Republik  : Bestand und Wandel (= Studien zu Politik und Verwaltung 10), Vienna et al. 1992, 479 ff. 43 Konrad and Lechner, »Millionenverwechslung«.

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from above and from outside, were what made Austria a state that was to undergo belated social modernization. Historical circumstances and the country’s geopolitical situation caused this process to take on the features that were characteristic of the new Austria. The Second Republic could not start from zero and, with practically no structures already in place, become a modern state of the Western European type. But, within the constraints of its circumstances and by following goals that were at least partly of its own choosing, it has created a state that has an unmistakable voice in the concert of the small states of Europe. Austria has had two chances to attempt to form a small state from the remnants of a larger political unit. Precisely by comparing these two attempts one can gain insight into the role played by those internal factors and external circumstances that have helped to shape attitudes now taken for granted. A study of this one example cannot, of course, generate a set of rules that will be appropriate in all cases. Moreover, there will certainly be many who do not read the early history of the Second Republic entirely as a success story. Too many things were deliberately repressed or simply overlaid that in later years, perhaps inevitably, rose to the surface, sometimes with eruptive force. The question of denazification, in particular, hardly represents an especially honorable chapter in the young republic’s history  : in this area both the main parties, although acting in very different ways,44 were guilty of errors that were to have serious consequences. Four decades after the end of the war the country felt the aftershocks. Yet all in all Austria may still serve as a model for developments taking place at this moment in Europe, a model for many of the new small states that have emerged from the collapse of another empire. By this I mean not a prescriptive model in the schoolroom sense, but an instructive example with both positive and negative facets, with features that will be considered worthy of emulation but also aspects from which others will wish to deviate or deliberately distance themselves. Above all the study of Austria’s path to Western Europe is both interesting and useful. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Austria on the Path to Western Europe  : The Political Culture of the Second Republic. Robert A. Kann Memorial Lecture (1993), in  : Austrian History Yearbook XXVI (1995), 1–15 (Center for Austrian Studies). 44 The question of denazification is treated fully in two standard works, Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Vienna 1981, and, building upon it and therefore naturally able to cover more aspects of the subject, Sebastian Meisel et al., eds., Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne  : Entnazifizierung in Österreich 1945–1955  : Symposion des Instituts für Wissenschaft und Kunst, Wien, März 1985, Vienna 1986. For the best and most comprehensive treatment of the consequences of this repression of guilt, see Uhl, Versöhnung.

Politische Weichenstellungen in den sechziger Jahren Zwischen Weltanschauung und Populismus (1992)* Die sechziger Jahre werden heute vielfach vor allem unter den großen Umbrüchen der zweiten Hälfte dieses Zeitabschnitts gesehen. Tatsächlich macht es weltweit durchaus Sinn, die Jahre 1968 und 1989 als die großen Bruchlinien der Nachkriegszeit zu interpretieren. Auch im Blick auf Österreich kommt dem Jahr 1968 einige Bedeutung zu – selbst innerhalb der SPÖ steht dieser Zeitpunkt für den Aufbruch zu den neuen Ufern und zu den Erfolgen in den Folgejahrzehnten. Im Vergleich zu den großen dramatischen Ereignissen dieser Jahre wirkt die erste Hälfte des Jahrzehnts eher statisch, gleichsam als eine Verlängerung der fünfziger Jahre. Aber unter der Oberfläche vollzogen sich gravierende Umschichtungen in der politischen Kultur und der Struktur unseres Landes – Umschichtungen, die das heutige Österreich mit allen seinen Stärken und Schwächen erst möglich gemacht haben. Die politischen Rollen in der Zweiten Republik schienen in den frühen sechziger Jahren klar verteilt zu sein  : die Österreichische Volkspartei mit ihrer bündischen Struktur und ihrem damit eher ständischen Konzept einer Gesellschaft lag in der Zustimmung durch die Wähler praktisch gleich mit der Sozialistischen Partei Österreichs, die sich eher als Klassenpartei mit hohem berufsspezifischem Stammwähleranteil begriff. Dem noch immer »Roten Wien« standen die »Schwarzen Bundesländer« gegenüber, nur historisch erklärbare Ausnahmen wie Kärnten (mit einer deutlich anderen SPÖ) paßten nicht ins Bild. Die Kommunistische Partei war politisch schon bedeutungslos, das nationale Lager hatte sich auf einer Größenordnung stabilisiert, die es höchstens als Juniorpartner in Betracht kommen ließ. Seit Staatsvertrag und Ungarnkrise war, begleitet von Wirtschaftswachstum und sportlichen Erfolgen wie Toni Sailers Schitriumphen, ein Österreichbewußtsein gewachsen, das nicht zuletzt vom Stolz auf die besondere Situation eines neutralen Staates genährt wurde. Für die Sozialistische Partei, die sich 1958 ein neues Parteiprogramm1 gegeben hatte, das in vielen Punkten an die stolze Tradition der Bewegung anknüpfte, schien *

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Der Text folgt in einigen Passagen meinem Beitrag mit dem Titel »An Organization of Votes or a Party with a Philosophy  ? The Political Conflict within the SPÖ in the 1960s«, der im Austrian History Yearbook 1992 erscheinen wird. Siehe Albert Kadan/Anton Pelinka, Die Grundsatzprogramme der österreichischen Parteien. Dokumentation und Analyse, St. Pölten 1979, 94 ff.

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der gesellschaftliche Wandel die Frage einer Mehrheit nur zu einer Frage der Zeit zu machen. Der Schwung aus dieser parteiinternen Verständigung über das Selbstverständnis der Bewegung, der sich auch in Wahlerfolge umsetzte, täuschte über die tiefe Identitätskrise hinweg, in die der österreichische Sozialismus in den frühen sechziger Jahren geraten war. Erst die Wahlen von 1966 machten deutlich, daß die politische Landschaft eine entscheidende Änderung erfahren hatte. Wohl war die Wahlniederlage der Sozialisten, mit der die Phase der Großen Koalition ein Ende fand und durch ein weniger starres System wechselnder Mehrheiten, Alleinregierungen und Koalitionen abgelöst wurde, in absoluten Zahlen und auch in Mandaten wenig spektakulär. Die SPÖ hatte 30.000 Wähler und zwei Mandate in dem damals 165 Sitze umfassenden österreichischen Parlament verloren.2 Vergleicht man das mit den Verschiebungen in den westlichen Demokratien oder aber auch mit der Mobilität der österreichischen Wähler in den Folgejahrzehnten, so nimmt sich der Verlust bescheiden aus. Daß eine Alleinregierung der ÖVP möglich wurde, war eher den Zufälligkeiten der Wahlarithmetik zuzuschreiben als großen politischen Verschiebungen. Auch die Zunahme der bürgerlichen Wähler um 170.000 ist zwar beachtlich, keinesfalls aber als sensationell zu werten. Die Österreichische Volkspartei hatte sich in den Jahren vor den Wahlen von 1966 unter schweren innerparteilichen Erschütterungen politisch und personell erneuert und konnte sich nunmehr als moderne Partei mit einem im damaligen Österreich noch durchaus ungewöhnlichen personenbezogenen Wahlkampf präsentieren.3 Das äußere Erscheinungsbild der Spitzenkandidaten wurde erstmals offensiv eingesetzt und kam zweifellos der Volkspartei zugute. Die SPÖ hingegen hatte sich nach innen und außen in mehrere Konflikte gestürzt, die die Partei schwächten. Unter diesen waren wohl am wichtigsten  : a) die »Fußach-Affäre«4, in der es um die Benennung eines Bodenseeschiffes ging und bei der sich die SPÖ verstärkt den Ruf einhandelte, eine auf Wien zentrierte, antiföderalistische Partei zu sein  ; b) der Kampf um die Eigentumsrechte an der Kronen Zeitung,5 in dem die SPÖ und vor allem ihr Justizminister, Dr. Broda, das Image des Beschlagnahmers, des Gefährders der Pressefreiheit erhielten  ; 2 3 4 5

Peter Eppel/Heinrich Lotter (Hg.), Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte. 1955–1980, Wien/München 1981, 4. Was ihr mit Josef Klaus in diesem Jahr auch tatsächlich hervorragend gelang. Rudolf Neck, Innenpolitik  ; in  : Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Das neue Österreich. Geschichte der Zweiten Republik, Graz/Wien/Köln 1975, 279. Siehe dazu  : Helmut Konrad, Zur politischen Kultur der Zweiten Republik am Beispiel des »Falles

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c) das ungeklärte Verhältnis zur KPÖ, die eine Wahlempfehlung für die SPÖ (mit der Ausnahme eines einzigen Wahlkreises) abgegeben hatte – ein Angebot, das von den Sozialisten nur sehr zögernd zurückgewiesen wurde und eine emotional antikommunistische Propaganda gegen die SPÖ möglich machte  ;6 d) die Olah-Krise7, die in ihrer Tendenz auf eine Spaltung der Partei hinauslief und die auch der Kern der folgenden Ausführungen sein soll. Berücksichtigt man diese Ausgangslage und die Kandidatur von Franz Olah mit der neugegründeten DFP, die zwar kein Mandat erzielte, den Sozialisten aber doch 160.000 Stimmen abnahm, so war der Gesamteffekt dieser Konflikte im Wahlresultat von erstaunlich geringem Niederschlag. Dennoch stellte das Wahlergebnis 1966 für die Sozialisten mehr dar als eine relativ glimpfliche Niederlage und den in einer Demokratie nicht unüblichen Abschied von der Regierungsbank, der ja in Österreich zudem nicht von einem totalen Machtverlust begleitet ist, da ein spezielles System von Institutionen den politischen Einfluß von Großgruppen absichert. Diese Wahlen bildeten das äußere Merkmal eines dramatischen innerparteilichen Klärungsprozesses, aus dem die SPÖ als gänzlich veränderte Partei hervorging. Nie seit dem Einigungsprozeß unter Victor Adler im 19. Jahrhundert hatte es unter den Bedingungen der politischen Legalität einen so dramatischen politischen Wandel gegeben. Während aber die politische Entwicklung im späten 19. Jahrhundert von innen und außen, also von den Anhängern, den Gegnern und Behörden exakt beobachtet und dokumentiert wurde,8 vollzog sich der Prozeß ein dreiviertel Jahrhundert später fast unregistriert. Die Grundsätzlichkeit dieses Prozesses und die Tiefe der Erschütterung blieben nicht nur den meisten Zeitgenossen verborgen. Aus den verschiedensten Gründen hat auch die Geschichtswissenschaft das ganze Ausmaß dieser Änderung bisher kaum zur Kenntnis genommen. Sie neigt immer noch dazu, die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung als relativ

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Olah«, in  : Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung 5/1 (1986). Siehe auch  : Manfred Lechner, Politische Orientierungsmuster der Zweiten Republik am Beispiel des Falles Olah, Diplomarbeit, Universität Graz 1990. Zuletzt auch  : Helmut Konrad, Die Kronen-Zeitung im österreichischen Wahlkampf von 1966, in  : Herwig Ebner/Horst Haselsteiner/Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Hg.), Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 1990. Helmut Konrad, Die Olah-Krise. Eine Krise der Sozialdemokratie, in  : Peter Pelinka/Gerhard Steger (Hg.), Auf dem Weg zur Staatspartei. Zur Geschichte und Politik der SPÖ seit 1945, Wien 1988, 47. Ein Buch von Helmut Konrad und Manfred Lechner ist dazu in Vorbereitung. Die Darstellungen der Polizeibehörden liefern hervorragendes Quellenmaterial für diese Phase der Arbeiterbewegung.

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friktionsfreien Ablauf darzustellen, der vor allem nach 1945, nach einer sehr kurzen Phase von Anpassungsschwierigkeiten an die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen, geradlinig und bruchlos, geleitet durch Antikommunismus und Westorientierung, aber den klassischen Werten der Sozialdemokratie in ihrer humanistischen Tradition verpflichtet, verlaufen ist. Dabei müßte doch dem aufmerksamen Betrachter ganz klar sein, daß zwischen einer Partei der fünfziger Jahre, geprägt von den Waldbrunners, Probsts und Pittermanns, und den siebziger Jahren, der Zeit von Kreisky und Androsch, eine Trennlinie laufen muß, die nicht nur ein Austausch von Spitzenpersönlichkeiten, sondern auch ein anderes Verständnis von Politik, von Sozialdemokratie und Öffentlichkeit markiert. Der erste Richtungsstreit in der österreichischen Arbeiterbewegung nach 1945, als vorerst die alten Sozialdemokraten und deren linke Abspaltung aus den Jahren der Illegalität, die Revolutionären Sozialisten, vereinigt wurden, endete rasch mit einer Abtrennung all jener Kräfte von der SPÖ, die sich dem Gedanken der Einheitsfront mit der KPÖ verpflichtet fühlten. Diese kurze Phase des Kalten Krieges innerhalb der Partei ist bereits gut dokumentiert9 und hat ihren Platz in der Geschichtsschreibung gefunden. Es ging dabei aber nicht wirklich um einen Machtkampf, dazu war der linke Flügel ganz eindeutig zu schwach. Die große Linie stand nie in Frage, und es war im In- und Ausland deutlich, daß die Sozialdemokratie die verläßlichste antikommunistische Bastion mit dem ausgeprägtesten proamerikanischen Profil unter den österreichischen Parteien war. Der Marshallplan mußte nicht gegen sie durchgesetzt, sondern konnte mit ihr als Partner durchgeführt werden. Bereits in jenen Jahren hatte der Mann, dem bereits in den Konflikten der sechziger Jahre die entscheidende Rolle zufallen sollte, mehrfach signifikante Handlungen gesetzt, denen rückschauend ein hoher Symbolwert zuzuordnen ist, wenn sie auch damals von einer breiteren Öffentlichkeit kaum registriert wurden. Franz Olah war 1948 für den prominentesten Vertreter des linken Flügels und Repräsentanten der Einheitsfront-Ideologie, Erwin Scharf, nach dessen Ausschluß aus der SPÖ in den Nationalrat nachgerückt. Erwin Scharf, der als Vertreter der Revolutionären Sozialisten immerhin ganz im Zentrum der Macht, als Generalsekretär der Partei, gearbeitet hatte, fusionierte seine eigene linkssozialistische Bewegung später mit der KPÖ. Ebenfalls 1948 fiel Franz Olah die Ehre zu, als erster Österreicher offiziell von der American Federation of Labor (AFL) zu einem Jahreskongreß eingeladen zu werden und auf diesem Kongreß auch zu sprechen.10 Sicherlich war die Tatsache,   9 Fritz Weber, Der Kalte Krieg in der SPÖ. Koalitionswächter, Pragmatiker und Revolutionäre Sozialisten (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 25), Wien 1986. 10 Report of Proceedings of the Sixty-Seventh Convention of the American Federation of Labor, held at Cincinnaty, Ohio, November 15 to 22, 1948, 284 ff.

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daß die Wahl für diese Delegation gerade auf Franz Olah fiel, nicht nur Zufall. Einerseits gehörte Olah zu jenen Gewerkschaftsfunktionären, die eine kurze Rede auch in englischer Sprache halten konnten, anderseits war es seine Biographie, die ihn zum Aushängeschild machte  : ein junger, gerade 38 Jahre alter Mann, der schon im Ständestaat Widerstand geleistet und im Gefängnis gesessen hatte und der schließlich 1938 schon mit dem ersten Transport, dem sogenannten »Prominententransport« nach Dachau gebracht worden war. Den Konzentrationslagern konnte Olah erst in den letzten Kriegstagen entkommen.11 Diese USA-Reise, bei der er einen für ihn damals noch unvorstellbaren allgemeinen Wohlstand kennenlernen konnte, war wohl eine der entscheidenden politischen Weichenstellungen im Leben Franz Olahs. Von Funktionären der AFL einige Wochen lang betreut und herumgereicht,12 bildeten sich Kontakte heraus und entstanden Freundschaften, die sich für beide Seiten als nützlich erweisen sollten. Eingebunden in die Gruppe entschiedener Antikommunisten in der AFL – während der Österreichische Gewerkschaftsbund gemeinsam mit dem Congress of Industrial Organizations (CIO) noch im kommunistisch dominierten Weltgewerkschaftsbund organisiert war13 –, war Olah der späteren Entwicklung in Österreich hier um einige Jahre voraus. Die privaten Kontakte zu jenen Männern, die durch die eigenartige Verflechtung von US-Außenpolitik und Gewerkschaftsstrategien die Außenpolitik der Weltmacht mittrugen und teilweise sogar mitformten, sollten spätestens dann bedeutend werden, als die Amerikaner informelle Kanäle suchten, um den antikommunistischen Kräften in Europa unter die Arme zu greifen.14 Die USA zogen aus den Ereignissen 1948 in Prag rasch politische Konsequenzen – das Vordringen des Kommunismus mußte gestoppt werden, Gegenstrategien waren notwendig, die formellen Kontakte allein reichten nicht aus. Österreich kam durch seine geopolitische Situation und durch die Tatsache, daß der Eiserne Vorhang quer durch das Land lief, eine besondere Bedeutung in all diesen Überlegungen zu. Und Franz Olah bot sich als ein idealer Kontaktmann an. Ein aufrechter Antifaschist, Proamerikaner und Antikommunist, mit einer Gewerkschaft hinter sich, die auch in der sowjetischen Besatzungszone ihre Stützpunkte hatte, ein Mann der Massen, Arbeiterführer im traditionellen Sinn, aber mit neuem politischen Profil  : so ergab Franz Olah das Bild, das die Amerikaner von einem Mitstreiter hatten. 11 Siehe dazu  : Konrad, Kultur, 34. 12 American Federationist. Official Monthly Magazine of the American Federation of Labor 55/12 (1948), 15. 13 John P. Windmuller, American Labor’s Role in the International Labor Movement 1945–1950, Thesis, Cornell University 1951, 68. 14 Wilhelm Svoboda, Franz Olah. Eine Spurensicherung, Wien 1990, 34.

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Natürlich spielten die Ereignisse rund um den Oktober 1950 eine wichtige Rolle in der weiteren Entwicklung. Aber es hätte gar nicht der im wesentlichen im nachhinein konstruierten Geschichte des »Helden vom Oktober 1950« bedurft, um Olah zu einem wichtigen Mann in einer internationalen Gesamtstrategie zu machen. Der Oktober 1950 machte nur vieles leichter, den Antikommunismus deutlicher und Olah, der in den letzten Streiktagen mit seinen Bau- und Holzarbeitern die Straßen »gesäubert« hatte, populärer. Damit war mehr umsetzbar als vor diesem Ereignis, Österreich hatte international als Bollwerk gegen den Kommunismus Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die folgende Inszenierung mit Geheimkonten, Scheinfirmen, Waffenlagern, Kampf­­gruppen und Geheimplänen für den »Ernstfall«15 mag zwar nicht wirklich große Ausmaße angenommen haben, sie prägte aber einen politischen Stil, in dem der Zugriff auf persönliche Machtinstrumente, nicht zuletzt auf Geld, eine wichtige Rolle spielte, wobei demokratische Kontrollinstanzen umgangen werden konnten. All das stellte einen wichtigen Schritt hin zu einem Politikverständnis dar, in dem die Erfolge von der Macht und dem Durchsetzungsvermögen der führenden Persönlichkeit, seiner Entscheidungsstärke und seinem persönlichem Charisma abhängen. Daß Massenmedien in diesem Politikverständnis eine ganz besondere Rolle spielen, hat Franz Olah früh erkannt. Schon in seinem geheimen »Sonderprojekt« hatte er sich von der amerikanischen Besatzungsmacht einen persönlichen Zugriff auf den Sender Rot-Weiß-Rot sichern lassen, um im Ernstfall eine wirksame Verbindung zur Öffentlichkeit zu haben.16 Nach dem Österreichischen Staatsvertrag von 1955 fiel dieses Privileg weg, der Rundfunk und die sehr zaghaften Anfänge des Fernsehens wurden staatlich, im Proporz zwischen den beiden politischen Großparteien, betrieben. Olah mußte sich also auf das Feld der Printmedien begeben, auf dem aber damals neben den Parteiblättern nur wenige Massenzeitungen (Kurier, Express, Kleine Zeitung) existierten, die ebenfalls politisch genau zuzuordnen waren. Einer der Versuche, persönlich auf eine dieser Zeitungen Einfluß zu nehmen, galt dem einzigen sozialdemokratisch ausgerichteten Massenprintmedium, dem Express. Als dieser 1961 in finanziellen Problemen steckte, ließ sich Franz Olah von einigen sozialistischen Fraktionen im Österreichischen Gewerkschaftsbund insgesamt 4,55 Millionen Schilling geben,17 um diese Zeitung zu stützen. Daß er nur 4 Millionen an die Zeitung weiterleitete und 550.000 Schilling in eigener Verfügung behielt und daß 15 Persönliche Verteidigungsschrift Olahs aus dem Prozeß des Jahres 1969. Sie durfte im Prozeß nicht verlesen werden, ist aber als Beilage in den Gerichtsakten. Das gesamte Material liegt derzeit in einer Privatsammlung zu Olah (PO), Abteilung Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte, Universität Graz  ; Verteidigungsschrift Olah, 5 ff. 16 Ebd., 5. 17 PO, Restitutionsfonds der Freien Gewerkschaften gegen Franz Olah, 20. Oktober 1965.

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er nach der Rückzahlung der Stützung eine Million dieser Mittel an die Freiheitliche Partei als Finanzhilfe abgab, um diese auf ein Zusammengehen mit der SPÖ, wohl unter Olahs Führung, vorzubereiten, ist nur eine Seite dieser Angelegenheit. Olah ging es ganz sicher auch um die Zeitung selbst, denn 1961 war noch nicht abzusehen, wie sich das andere, letztendlich viel entscheidendere Projekt einer eigenen Zeitungsneugründung behaupten würde. Dieses zweite Projekt, das nicht nur die österreichische Medienlandschaft, sondern längerfristig auch die österreichische Innenpolitik nachhaltig verändern sollte, war die Wiederbelebung einer 1944 eingestellten Zeitung, der Kronen Zeitung. In den achtziger Jahren war diese Zeitung sogar im internationalen Vergleich das erfolgreichste und meist gelesene Printmedium, wenn man die Leser mit den Einwohnern des jeweiligen Landes in Relation setzt. Wahlen können nur mit, nicht gegen die Kronen Zeitung gewonnen werden, das zeigen solch widersprüchliche Ergebnisse wie die Kreisky-Erfolge der siebziger Jahre und die Waldheim-Wahl von 1986. Stützt die Redaktion eine Umweltbewegung, dann sind deren Anliegen politisch durchsetzbar, wie die Verhinderung des Kraftwerks in Hainburg beweist. Heute ist die Kronen Zeitung tatsächlich ein unabhängiges Organ – nicht sie wird von Politikern oder von politischen Gruppen instrumentalisiert, sondern sie selbst ist der Machtfaktor. 1959 gab es nur die relativ günstig zu erwerbenden Titelrechte und drei Männer voller Ambitionen, einer davon mit Zugriff auf sehr viel Geld  : Hans Dichand, ehemaliger Chefredakteur des Kurier  ; Kurt Falk, Mitarbeiter bei »Persil« und Franz Olah, Gewerkschaftspräsident. Im März 1959 wurden die Titelrechte um etwa 170.000 Schilling gekauft.18 10 % brachte Hans Dichand aus Eigenmitteln auf, 90 % steuerte Kurt Falk über den Kreditweg bei, wobei dieser Kredit durch ein Sparbuch aus Franz Olahs altem »Sonderprojekt«, also aus amerikanischen (Geheimdienst-)Geldquellen besichert wurde. Nach einigen Änderungen hatte der Betrieb 1960 ein Stammkapital von einer Million, wobei 10 % von Dichand stammten, 30 % von Falk aus einer Erhöhung des erwähnten Kredits kamen und 60 % offiziell Ferdinand Karpik gehörten. Karpik, ein deutscher Geschäftsmann, war ein alter Freund und Vertrauter Franz Olahs aus den Jahren der gemeinsamen KZ-Haft, dem Olah an der Grenze der Legalität die österreichische Staatsbürgerschaft verschafft hatte.19 Zu diesen 600.000 Schilling von Karpik liegen Treuhandvereinbarungen vor, die zeigen, daß Karpik nur als Strohmann fungierte 18 Alle Unterlagen zur Finanzierungsgeschichte der Kronen Zeitung, inklusive Kopien der verpfändeten Sparbücher und aller Kreditvereinbarungen, befinden sich in der angegebenen Privatsammlung zu Olah. 19 PO, Vertrauliche Information an Bundesminister Probst vom 28. Oktober 1964.

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und daß die Kette der Treuhandverträge letztendlich bei Olahs Vertrauensanwalt endete. Eine letzte Treuhandvereinbarung, die zu Olah selbst als Quelle der Geldmittel führt, liegt zwar vor, aber nur im nicht unterzeichneten Entwurf. Der Nachweis, daß Olah für diesen Betrag widerrechtlich Gewerkschaftsgeld verwendet hat, ist allerdings nie wirklich schlüssig gelungen. Immerhin aber waren Hans Dichand und Kurt Falk, die späteren Eigentümer der Kronen Zeitung, nach einer Serie von Prozessen bereit, im Jahre 1969 dem österreichischen Gewerkschaftsbund fast 8 Millionen Schilling zu zahlen, wodurch alle eventuellen Ansprüche des ÖGB auf das Eigentum an der Kronen Zeitung für alle Zeiten »verglichen und bereinigt«20 wurden. Um eine Zeitung erfolgreich zu machen, muß man sie aber erst am Markt etablieren. Im Falle der Kronen Zeitung bedeutete dies, daß eine Durststrecke von etwa fünf Jahren zu überwinden war, in der die Schulden des Unternehmens teilweise sogar die Grenze von 10 Millionen Schilling überschritten. Um Kredite zu erhalten und weiter kreditwürdig zu bleiben, verpfändete Franz Olah Sparbücher der Gewerkschaft in der jeweils benötigten Höhe zum niedrigsten Zinssatz, der damals 3,5 % betrug. Kurt Falk und Hans Dichand konnten damit Kredite zu sagenhaft günstigen Konditionen mit nur 5,5 % Kreditzinsen erhalten, da die Bank kein Risiko zu tragen hatte, sondern einfach die Differenz zwischen den Kreditzinsen und den Zinsen auf den verpfändeten Sparbüchern als Gewinn einstreifen konnte. Das Risiko lag, ohne daß die gewählten Organe auch nur eine Ahnung von diesen Transaktionen hatten, ausschließlich beim ÖGB, dem zusätzlich noch die leicht zu erzielenden höheren Zinserträge für Großkunden verlorengingen. Die Kronen Zeitung war somit ganz eindeutig Franz Olahs Organ, ein machtvolles Mittel nicht nur in der Österreichischen Innenpolitik, sondern auch in der Austragung von innerparteilichen Rivalitäten. Dies sollte sich sehr bald zeigen. Diese innerparteilichen Machtkämpfe hatten am Beginn der sechziger Jahre eine bedrohliche Dimension angenommen. Neben persönlichen Querelen waren nämlich prinzipielle politische Trennlinien aufgetreten, die teilweise sogar die Existenz einer einheitlichen Partei gefährdeten. Wohl durchlaufen auch andere Parteien in Österreich fallweise ähnliche Prozesse, etwa die FPÖ 1986 und die ÖVP 1991, in einer sozialistischen Bewegung erreichen sie aber eine andere Qualität, nicht zuletzt durch das schärfer ausgeprägte politisch-ideologische Profil der Partei. Die eine Fraktion dieser Jahre stand ganz in der Tradition des österreichischen Sozialismus. Für sie war die SPÖ mehr als eine Partei – sie war »Heimat« in einem umfassenden Sinn, Lebensorientierung und Weltanschauung. Der Sozialismus gab hier ein Wert- und Normensystem vor, das das öffentliche und private Leben bestimmte. 20 PO, Vergleichsausfertigung der Streitparteien vom 7. November 1969.

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Das Parteiprogramm war mehr als eine Wahlplattform, theoretische Diskussionen galten nicht als intellektuelle Spielwiese, sondern als integraler Bestandteil politischer Kultur. Im Parteiapparat hatte diese Gruppe eine starke Bastion. Sie war vorwiegend in der älteren Funktionärsschicht verankert, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit hatte. Dazu kamen die vor allem publizistisch relevante Gruppe der aus England zurückgekehrten Emigranten und große Teile der politisch aktiven Jugendorganisationen. Obwohl in diesen Gruppen Personen nicht die entscheidende Rolle spielten, kann man Justizminister Dr. Christian Broda als die Kristallisationsfigur bezeichnen. Zumindest wurde ein Teil des Konflikts der sechziger Jahre rund um seine Person ausgefochten. Broda war einer der führenden intellektuellen Köpfe der Partei, aber nicht unbedingt ein Mann der Massen. Seine politische Biographie, 1986 in einer Festschrift gewürdigt,21 unterscheidet sich gründlich von der des Gegenspielers Franz Olah. 1916 geboren und bald politisch in Schüler- und Studentenkreisen aktiv, hatte er sich ab 1933 nach links entwickelt und die »Ziel und Weg«-Gruppe22 mitgeprägt, der manch prominentes Mitglied der Zweiten Republik entsprang. Als »trotzkistisch« verfolgt, fand er 1945 dennoch kurzzeitig zur Kommunistischen Partei, um aber rasch mit ihr zu brechen und innerhalb der SPÖ zur prägenden Figur für junge Intellektuelle zu werden. Von 1959 bis 1983 gehörte er durchgehend dem Nationalrat an, zwischen 1960 und 1966 sowie von 1970 bis 1983 war er Bundesminister für Justiz.23 Als solcher war er vor allem ab 1970 einer der ganz entscheidenden Architekten der Liberalisierung und politischen Modernisierung Österreichs. Als der wichtigste Gegenspieler Olahs war er natürlich das Hauptziel der politischen Angriffe durch die Kronen Zeitung. Besonders deutlich wurde dies im Wahlkampf 1966. Eine Durchsicht aller Kronen Zeitung-Nummern jener Monate24 ergab, daß Broda allein öfter aufscheint als alle anderen österreichischen Politiker zusammen. Er bringt es sogar auf vier Titelgeschichten, erscheint ausschließlich in gänzlich negativen Sinnzusammenhängen (»Dieser Dr. Broda, kommunistischer Agitator, Besitzer eines Schlosses, das einst den Fürstbischöfen von Salzburg gehörte, Staranwalt in der Welt des Films, Großverdiener durch Rechtsanwaltsarbeit für die Gemeinde Wien und heute Justizminister und Sprecher der Linksextremisten in der SPÖ, ist 21 Michael Neider (Hg.), Christian Broda zum 70. Geburtstag, Wien 1986. 22 Eigenständige politische Gruppierung linksoppositioneller Jungkommunisten um Josef Hindels, Georg Scheuer und etwa auch den Historiker Karl R. Stadler. 23 Neider, Broda, 165. 24 Konrad, Geschichtsforschung, 333 f.

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eine Gefahr für unser Land«25) und wird politisch nach der Wahlniederlage von 1966 auch totgesagt. Dies war die Revanche für das Ergebnis der innerparteilichen Auseinandersetzungen der Jahre zuvor. Broda und seine Gruppe standen für den traditionellen europäischen Sozialismus  : für Programme und Ideen, für ein Setzen auf längerfristige ökonomische Entwicklungstendenzen, die das konservative Wählerpotential schwächen und die Sozialisten stärken sollten, für die Unaufhaltsamkeit sozialistischer Wertvorstellungen. In der aufklärerisch-humanistischen Tradition der Arbeiterbewegung setzten sie in der Politik weniger auf die Emotionen der Massen als auf den Sieg der Vernunft. Insgesamt war dieser Teil der SPÖ eher auf Wien als auf die Bundesländer fixiert. Die Seite der politischen innerparteilichen Kontrahenten war deutlich anders strukturiert. Sie hatte eine klar erkennbare Führungsfigur in Franz Olah, setzte auf Charisma, Medien und Populismus. Die innerparteiliche Basis lag stärker in der Provinz, vor allem in Niederösterreich  ; verankert war man eher bei den einfachen Mitgliedern als bei den Funktionären. Besonderen Rückhalt hatte man bei jenen Menschen, die nach 1945 erstmals (oder wieder) zur SPÖ gefunden hatten. Eher pragmatisch orientiert, fern von ideologischen Grundsatzdiskussionen, mit einem wenig überdeckten Antisemitismus,26 der mit einer Kritik am Wiener Zentra­ lismus einherging, sahen diese Teile der SPÖ in Franz Olah einen Garant für zukünftige Wahlerfolge und in diesen erhofften Wahlerfolgen die Grundlage sowohl für allgemeine Verbesserungen als auch für individuelle Aufstiegsmuster. Die nationalsozialistische Zeit hatte dazu beigetragen, diese Gruppe von der Wirksamkeit starker Führungspersönlichkeiten zu überzeugen, und das Jahr 1945 hatte zwar den politischen Rahmen, nicht aber ein solches Verhaltensmuster geändert. Dieser »Bundesländersozialismus«, der natürlich auch in der Wiener Partei anzutreffen war, hatte keine Einwände gegen eine populistische Politik, wenn sie mit Erfolgen einherzugehen schien. Gewerkschaftliche Politik ging vor sozialistische Grundsatzdiskussionen, materielle Errungenschaften waren zentraler als ideologische Vorgaben. Die Politikmuster waren eher »amerikanisch«  : Die Partei wurde im wesentlichen als Vehikel für erfolgreiche Wahlkämpfe gesehen, die Politiker sollten sich auf breite, inhomogene Wählergruppen stützen, die vor allem von der Attraktivität des Spitzenkandidaten angezogen werden sollten. Charisma und Verkaufbarkeit von Personen, geschickte Öffentlichkeitsarbeit und Grenzüberschreitungen waren wichtig. 25 »Das freie Wort«, undatiertes Flugblatt vom Februar 1966 im Auftrag der Kronen Zeitung. 26 Zur Darstellung des Antisemitismus in der österreichischen Sozialdemokratie von den Anfängen bis zur Gegenwart vgl. Leopold Spira, Feindbild »Jud«. 100 Jahre politischer Antisemitismus in Österreich, Wien 1981.

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Franz Olah überschritt die Grenzen hin zu anderen politischen Lagern in Österreich wie kein anderer Politiker vor ihm  : er war die treibende Kraft hinter der Aussöhnung der Sozialdemokratie mit der Kirche,27 wobei es ihm vor allem gelang, die katholische Kirche im Präsidentenwahlkampf von 1957, als mit Dr. Adolf Schärf ein Agnostiker als letztendlich erfolgreicher Kandidat auftrat,28 zu neutralisieren. Der Preis dafür war das Konkordat. Olah ging aber noch weiter. Er ließ sich vom Papst in Rom in Privataudienz empfangen und führte einen heftigen innerparteilichen Disput mit dem atheistischen Flügel in der SPÖ um Weikhart, Czernetz und Waldbrunner.29 Wieder hatte Olah früher als andere die sinkende Bedeutung der Freidenkerbewegung registriert und erkannt, daß die große Mehrheit der österreichischen Katholiken sich mit dem Dasein als »Taufscheinkatholiken«30 anzufreunden begann, d.h., daß man gewissen Wert auf die kirchliche Verbrämung wichtiger privater Ereignisse (Taufe, Hochzeit, Begräbnis) zu legen begann, ohne sonst am kirchlichen Leben teilzuhaben. Wichtiger noch war die Grenzüberschreitung hin zum nationalen Lager. Hier stand Olah in der Tradition der »Niederösterreicher« in der SPÖ, einer Traditionslinie, die Innenminister Helmer 1949 begonnen hatte. Dieser hatte erkannt, daß das mehr als eine halbe Million Menschen umfassende, von den Wahlen 1945 weitgehend ausgeschlossene Wählerpotential des nationalen Lagers auf beide großen Parteien eine Sogwirkung ausübte. »Je nach persönlicher Motivierung für die Hinwendung zum Nationalsozialismus (antiklerikaler oder antimarxistischer Art), je nach österreichischer Region und je nach von den demokratischen Parteien anzubietenden Karrieremustern (Akademiker hatten von der SPÖ mehr zu erwarten, die im Proporz viele Positionen zu besetzen hatte, selbst aber nur ein kleines Reservoir an Leuten mit Hochschulbildung besaß) fanden Teile der ehemaligen Nationalsozialisten in eine der beiden Großparteien. Während aber die ÖVP auf vollständige Assimilation setzte, schien den Sozialisten die Gründung einer weiteren Partei, deren Wählerspektrum eher im bürgerlichen Lager vermutet wurde, die bessere Strategie.«31 Innenminister Helmer förderte daher mit allem Nachdruck die Etablierung und die Zulassung zur Wahl dieser vierten Partei, die sich »(Wahl-)Verband der Unabhängigen« nannte. Die Hoffnung auf eine Spaltung des bürgerlichen Lagers wurde allerdings nicht erfüllt. 27 28 29 30 31

Eppel/Lotter, Dokumentation, 479 ff. Karl R. Stadler, Adolf Schärf. Mensch, Politiker, Staatsmann, Wien/München/Zürich 1982, 475 ff. PO, Verteidigungsschrift Olahs, 10. Anton Pelinka, Windstille. Klagen über Österreich, Wien/München 1985, 46 f. Konrad, Kultur, 40 f.

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Es ist ein Paradoxon, daß in den folgenden Jahren gerade solche Politiker aus den Reihen der Sozialdemokratie die Initiative Helmers weiterführten, die selbst Opfer des Nationalsozialismus gewesen waren. Und diese Kontakte blieben eine Spezialität der »Niederösterreicher«, von Helmer über Olah zu Kreisky. Die 1983 installierte Kleine Koalition hat also eine sehr lange Vorgeschichte, in der Franz Olah eine bedeutende Rolle spielte. Er selbst war erstmals 1959 als Verbindungsmann zur FPÖ, wie sich die vierte Partei damals schon nannte, in Erscheinung getreten. 1961/62 sicherte er dann, wie bereits erwähnt, mit Gewerkschaftsgeldern die materielle Existenz der FPÖ, als der Industriellenverband seine Überweisungen an diese Partei eingestellt hatte und die FPÖ nicht mehr in der Lage war, die Gehälter ihrer Mitarbeiter zu bezahlen.32 Olahs völliger politischer Alleingang, von dem er erst später zwei andere Politiker, Bruno Kreisky und Felix Slavik, informierte, ist für den neuen politischen Stil besonders typisch. 1963 war Olah der Verhandlungspartner mit der FPÖ in der Habsburgkrise, und er leitete daneben ganz massiv Gespräche, die in die Richtung einer Kleinen Koalition zielten. Dazu Olah im Originalton  : »Neben der Habsburgfrage standen aber bei den Gesprächen mit der FPÖ auch finanzielle Probleme im Vordergrund, weil die FPÖ Schwierigkeiten mit der Finanzierung hatte. Die SPÖ übernahm damals die finanzielle Sicherstellung der FPÖ, die Überweisungen gingen aber so schleppend vor sich, sodaß die Vertreter der FPÖ wieder urgieren mußten. Weiters ging es nach wie vor um die Frage der Wahlreform, jetzt auf Bundesebene, welche im koalitionsfreien Raum gegen die Stimmen der ÖVP beschlossen werden könnte. Ich arbeitete einen Gesetzesentwurf für eine Änderung des Wahlsystems aus, der im Parlament als Initiativantrag eingebracht wurde, um nach Ablauf der im Arbeitsübereinkommen vorgesehenen Fristen im koalitionsfreien Raum von SPÖ und FPÖ beschlossen zu werden. Diese wesentliche Bindung sollte die Grundlage für eine künftige kleine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ sein. Obwohl diese Wahlreform vom Parteitag einstimmig beschlossen worden war, wurde sie doch von einigen Spitzenfunktionären der SPÖ immer wieder sabotiert, sodaß die FPÖ mit der Zeit ungeduldig wurde. Gleichsam als Abschlagszahlung wurde der damalige Fraktionsobmann der FPÖ im Parlament, Dr. Gredler, zum Gesandten beim Europarat in Straßburg bestellt. Dies entsprach dem Wunsche des Parteiobmannes der FPÖ, Peter, weil Gredler Peters Politik der Annäherung an die SPÖ entgegentrat. Nach dem Abgang Dr. Gredlers nach Straßburg wurde Dr. Kandutsch sein Nachfolger als Klubobmann im Parlament, doch wollte er auch Kandutsch aus dem Parlament entfernen, weil auch er den neuen Kurs der FPÖ nicht recht mitmachen wollte. Dr. Kandutsch wurde dann 32 PO, Einvernahme von Fritz Klenner in den Vorerhebungen zum Prozeß gegen Franz Olah, September 1966. Protokoll, 11.

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zum Rechnungshofpräsidenten bestellt, und der Abgeordnete Van Tongel wurde Klubobmann und schwenkte voll auf die Linie der kleinen Koalition SPÖ-FPÖ ein.«33

Gerade aus dieser persönlichen Stellungnahme Franz Olahs, die er ohne Zeitdruck selbst verfaßte, um sie zu seiner Verteidigung zu verwenden, in der er also eher bemüht sein mußte, von sich selbst ein möglichst positives Bild zu zeichnen, wird klar, wie politische Macht von ihm und seinen Freunden ausgeübt wurde und welches Selbstverständnis dahinterstand. So zu agieren, so weit in die Personalpolitik anderer Parteien einzugreifen, solch taktische Spiele zu spielen, dies mußte mit dem Politikverständnis der traditionellen Sozialisten kollidieren. Die Kollision ereignete sich in beiden großen Organisationen, in der Sozialistischen Partei und im Gewerkschaftsbund. Im ÖGB war bei einer Kontrolle Olahs Umgang mit den Sparbüchern zumindest teilweise aufgefallen. Die sozialistischen Fraktionen deckten den Präsidenten, doch als dieser 1963 seine Funktion niederlegte, um Innenminister zu werden, begannen die Auseinandersetzungen offener zu laufen. Sie mündeten schließlich im großen Olah-Prozeß und manche andere Austragung vor den Gerichten. In der Sozialistischen Partei wurde nach Olahs Fernsehauftritt in der »Spitzelaktenangelegenheit« (am 28. Jänner 1964 erhob Olah in einem Fernsehgespräch mit dem damaligen Redakteur und jetzigem Wiener Bürgermeister Dr. Helmut Zilk schwere Anschuldigungen gegen die früheren Leiter der Staatspolizei  : man habe Geheimakten über zahlreiche Staatsbürger anlegen lassen.34 Olahs Vorgänger, Innenminister Afritsch, starb kurz nach diesen Anschuldigungen an Herzversagen) die Kritik offen ausgesprochen. Vor allem im theoretischen Organ Die Zukunft wurde gegen eine »Führerpartei«35 argumentiert, und die Front der Gegner hatte sich formiert. Ihr gehörten neben Broda noch der Parteiobmann und Vizekanzler Bruno Pittermann, Sozialminister Otto Probst (der angeblich 1959 gerne an Olahs Stelle ÖGB-Präsident geworden wäre)36, Bildungsobmann Karl Czernetz, ÖGB-Präsident Anton Benya und der Gewerkschafter Fritz Klenner an. Gehalten wurde Olah bis zuletzt von seinen »Niederösterreichern« um Ernst Winkler und Bruno Kreisky. Es war schließlich auch Kreisky, der Jahre später, als er in seiner Funktion als Bundeskanzler den abwesenden Bundespräsidenten vertrat, die Straffolgen für Franz Olah tilgte und diesem so den Genuß der Ministerpension verschaffte.37 33 PO, Verteidigungsschrift Olahs, 23 f. 34 Eppel/Lotter, Dokumentation, 61. 35 Karl Czernetz, Führungsprobleme in einer Demokratie, in  : Die Zukunft 5 (1964), 4  ; Christian Broda, Die Sozialistische Partei ist keine »Führer«-Partei, in  : Die Zukunft 7 (1964), 21. 36 PO, Verteidigungsschrift Olahs, 29. 37 Lechner, Orientierungsmuster, 90.

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Am prägnantesten faßte Czernetz die Kritik an Olah zusammen  : »Es darf in der SPÖ keine plebiszitäre Demagogie, keine autokratischen Tendenzen, keine polizeilichen oder administrativen Interventionen in politischen oder gar parteiinternen Auseinandersetzungen geben. Jedes autoritäre oder autokratische Führertum widerspricht den Ideen und Grundsätzen des demokratischen Sozialismus.«38 Aber es konnte kein Zweifel bestehen  : die Traditionalisten hatten zwar die Mehrheit der höheren Funktionäre hinter sich, Olah aber die größten Teile der Basis. Daß Massen von Sozialisten gegen die eigene Partei auf die Straße gingen, Spitzenfunktionäre verbal und auch tätlich von den eigenen Mitgliedern attackiert wurden, ist eine einmalige Erscheinung in der Geschichte der relativ ruhigen Innenpolitik der Zweiten Republik. Diese spontane Massendemonstration für Olah vor der Parteizentrale der SPÖ in der Löwelstraße in Wien war das Echo der Parteibasis auf den erzwungenen Rücktritt Olahs als Innenminister. Ein von der SPÖ eingesetztes Schiedsgericht, dem durchaus bereits ein Großteil der Fakten über die finanziellen Transaktionen Olahs bekannt war, konnte sich am 16. September 1964 wohl aus Sorge um das öffentliche Erscheinungsbild der Partei nur dazu durchringen, Olah wegen der »Mitarbeit an nichtsozialistischen Presseerzeugnissen«39, wegen eines Interviews in der konservativen Presse, zu verwarnen. Olahs erzwungener Rücktritt vom Ministeramt mußte daher in der Öffentlichkeit und an der Parteibasis als Aktion böswilliger Neider erscheinen. Die Legendenbildung begann. Daß es in der Massendemonstration unüberhörbar antisemitische Parolen gab (obwohl gegen Broda, Benya und Pittermann gerichtet  !), zeigt deutlich, daß sich der Unmut der Basis gegen die vermeintlich »jüdischen Intellektuellen« der Sozialdemokratie richtete. Es ist bezeichnend, daß die niederösterreichische Landesparteiorganisation sogar in diesen Tagen noch voll zu Franz Olah hielt. Bruno Kreisky führte am Tag der Demonstration in einer Sitzung aus  : »Wir haben uns dafür entschieden, daß unser Franz weiter der erste Vertrauensmann der Partei in Niederösterreich bleibt. Die Leute, die geglaubt haben, ihn mit ihren ungeheuerlichen Methoden politisch erledigen zu können, haben ihm damit nur eine noch größere Beliebtheit gesichert als er je hatte. Diese Popularität neidet ihm Broda.«40 Sechs Wochen später aber wurde Franz Olah aus der SPÖ ausgeschlossen, ohne daß sich im Parteivorstand eine Opposition gegen diesen Schritt artikulierte. Das Ab38 Czernetz, Führungsprobleme, 4. 39 Fritz Klenner, Die österreichischen Gewerkschaften. Vergangenheit und Gegenwartsprobleme, Bd. 3  : Von 1953 bis 1978, Wien 1979, 2452. 40 Archiv Christian Broda, Abt. Justizministerium und Rechtspolitik 1959 bis 1966, Mappe III., 142.9, Gedächtnisprotokoll der Sitzung der Landesparteivertretung von Niederösterreich am 18. September 1964. Zitiert bei  : Lechner, Orientierungsmuster, 88.

Politische Weichenstellungen in den sechziger Jahren

stimmungsergebnis lautete 24 zu 0. Im Jänner 1965 wurde Franz Olah als Angestellter des ÖGB entlassen. Im Parlament verblieb er als sogenannter »wilder« Abgeordneter, um 1966 mit einer eigenen Partei, der Demokratisch-Fortschrittlichen Partei (DFP) bei den eingangs erwähnten Wahlen zu kandidieren. Es gelang ihm damit zwar nicht der Einzug ins Parlament, wohl aber eine solche Schwächung der SPÖ, daß die ÖVP eine Alleinregierung bilden konnte. Der Einsatz der Kronen Zeitung speziell gegen Christian Broda war dafür wohl ausschlaggebend. 1969 wurde Olah schließlich zu einem Jahr schweren Kerkers verurteilt.41 Einziger Grund für dieses Urteil war die Abhebung von Gewerkschaftsgeldern für Zwecke der Finanzierung der DFP zu einem Zeitpunkt, als Olah keine Verfügungsgewalt über die Konten mehr besaß. Alle anderen Fragestellungen flössen nicht in die Urteilsbegründung ein. Die Kronen Zeitung, die FPÖ-Finanzierung, das »Sonderprojekt« etc. blieben somit einer breiteren Öffentlichkeit verborgen. Ohne Zweifel hat sich Franz Olah in all den Machenschaften nie persönlich bereichert. Diesen Vorwurf erhoben nicht einmal seine entschiedensten Gegner. Es ging ihm immer um Macht und Einfluß, nie direkt um einen persönlichen materiellen Vorteil. Das unterscheidet den »Fall Olah« ganz klar von den Skandalen der Folgejahre, an denen die Geschichte der Zweiten Republik keinen Mangel kennt. Der Fall Olah war ein ausschließlich politischer Konflikt um den Charakter der Sozialistischen Partei in der Zweiten Republik. Er endete 1964 mit einer Niederlage Olahs. Die Traditionalisten hatten zumindest vorübergehend gesiegt. Kurzzeitig wurde sogar die Erinnerung an Olah durch ein Verschweigen seines Namens verdrängt. Trotz dieses klaren Resultats des innerparteilichen Machtkampfes war es eine Ironie der Geschichte, daß das Gerichtsverfahren gegen Franz Olah noch nicht abgeschlossen war, als die SPÖ mit der Wahl Bruno Kreiskys zum neuen Parteiobmann große Teile der inhaltlichen Positionen Olahs zu ihrer neuen Politik machte. Kreisky war nicht nur ein Gefolgsmann Olahs bis zu dessen Sturz, er war, wenn auch wesentlich intellektueller, ein Verfechter ähnlicher politischer Positionen. Auch Kreisky agierte oftmals populistisch, überschritt die Grenze zum nationalen Lager sogar noch deutlicher (was in seiner Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal eine besondere Dramatik erhielt), er war ein Medienmensch (der die Zeitungen aber nicht mehr besitzen mußte, um sie zu seinen Selbstdarstellungen nutzen zu können  ; zudem agierte er souverän in den Bild- und Tonmedien) und regierte oft in direktem Schulterschluß mit der Bevölkerung (»Laßt Kreisky und sein Team arbeiten«42). Was ihn aber deutlich von Olah unterschied, war die Fähigkeit, die innerparteiliche Kluft zu 41 PO, Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien am 28. März 1969. 42 Das war der wichtigste Slogan des Wahlkampfes 1971.

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Nationale und globale Dimensionen politischer Dynamiken

überwinden. Selten war die SPÖ so geeint wie in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Intellektuelle und Arbeiter, Sozialaufsteiger und alte Aristokratie gingen »ein Stück des Weges gemeinsam«43. Christan Broda fand, wenn auch nicht in enger persönlicher Zuneigung, seinen Platz in Kreiskys Team, mit dem sich sogar gute Teile der Studentenbewegung identifizieren konnten. Daß er Hertha Firnberg in die Regierung holte und sie mit der Führung des neugegründeten Ministeriums für Wissenschaft und Forschung betraute, war dazu ein besonders gelungener Schachzug. Die linken Studenten ergriffen ihre Chance und reformierten die Universitäten – sie wurden aber dadurch gleichzeitig in die SPÖ integriert. Dem formalen Sieg der Traditionalisten war inhaltlich ein Sieg der Olah-Gruppe gefolgt, ohne Olah selbst damit zu rehabilitieren. Die Rückkehr in die Öffentlichkeit erfolgte erst in den letzten Jahren. Als »Retter Österreichs«, als weiser Staatsmann, so sieht man Olah heute in den Medien. Er gilt, angesichts der politischen Skandale des letzten Jahrzehnts, sogar als unschuldiges Opfer einer Intrige, eines über die Gerichte ausgefochtenen politischen Machtkampfes. Seine alten Gegner sind politisch längst nicht mehr aktiv, der größere Teil ist verstorben. So hat Olah, nach zwei Jahrzehnten in der unfreiwilligen inneren Emigration, heute den Triumph, wieder populärer zu sein als seine Widersacher. Er entspricht auch ohne Zweifel eher dem heutigen Bild (in positiver und negativer Hinsicht) der Sozialdemokratie als die Vertreter der anderen Fraktion. Daß der SPÖ in den sechziger Jahren eine ernste Spaltung erspart geblieben ist, ist auf das dünne Eis zurückzuführen, auf das sich Olah mit seinen Machenschaften begeben hatte und das seine politische Bewegungsfreiheit entscheidend einengte. So blieb der Apparat der Partei intakt, die Wahlniederlage von 1966 hielt sich in Grenzen. Aus dem Konflikt lernten alle, und bis zu den neuen politischen Herausforderungen ab der Mitte der achtziger Jahren durch Ökologie und Frauenfrage blieb die Einheit im wesentlichen unbestritten. Diese war die Grundlage für jenes »sozialdemokratische Jahrzehnt«, das Österreich so entscheidend verändert hat. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Politische Weichenstellungen in den sechziger Jahren. Zwischen Weltanschauung und Populismus, in  : Wolfgang Maderthaner (Hg.), Auf dem Weg zur Macht. Integration in den Staat, Sozialpartnerschaft und Regierungspartei (= Sozialistische Bibliothek. Abteilung 1  : Die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie 1), Wien 1992, 133–146, Anm. 173–175 (Löcker Verlag).

43 So wurde das partielle Bündnis mit dem »Liberalen Lager« genannt.

Heimaten (1987)

Heimathaus, Heimatdorf, Heimattal, Heimatland – »Heimat bist Du großer Söhne« – also der Gesamtstaat  ? Wo doch die Heimat erst »Hoch vom Dachstein an« beginnt – aber in welche Richtung schaut man vom Dachstein aus  ? Nördlich davon liebt man das »Hoamatland« mit der gleichen Ergebenheit »wie a Hinderl sein Herrn«. Weiter südlich weiß man wenigstens genau, daß an den Karawanken »lauttosend« Heimat (und mit ihr Mannesmut und Frauentreu) endet. Das ist schon was, da kann man wenigstens erkennen, wer und was nicht dazugehören. Und einige, die hier wohnen, aber nicht dazugehören, müssen nur mit ein paar kräftigen Stößen über den Loibl befördert werden, zum Schutz der Heimat. Heimat hat Grenzen, grenzt aus  : »Wer am Podium ist denn eigentlich aus dem Ennstal  ?«, fragte bei einer Heimat-Diskussion in Wörschach ein erregter Mann aus dem Publikum. Nur einer der Redner konnte eine Ennstaler Genealogie vorlegen. Die anderen, darunter zwei Juden aus Wien, sie wollten den Ennstalern die Heimat erklären  ? Wo sie doch Wörschach erst eine halbe Stunde zuvor auf der Landkarte gefunden hatten, im Ennstal also fremd sind  ? Heimat als Gegenbegriff zur Fremde. Ist überall Heimat, wo man sich nicht fremd fühlt oder als fremd betrachtet wird  ? Oder anders  : Läßt sich Heimat durch die Abwesenheit von Fremde definieren  ?

1. Heimat, historisch Für den durchschnittlichen Europäer, der keiner wandernden Minorität angehörte, war Heimat für lange Zeit das Dorf, die Gemeinde. Hier besaß er Heimatrecht, was auch sozialen Schutz bedeutete, hier war er getauft, hier fand er sein (Familien-)Grab. Geringe regionale und soziale Mobilität, kleine Märkte und eine begrenzte Kenntnis der »Welt« ließen den Lebensraum überschaubar und stabil, wenn auch nicht immer lebenswert bleiben. Mit der Industrialisierung änderte sich das Bild. Der Einbruch der Eisenbahn in die Landschaft brachte schon beim Bau Unruhe. Hunderte von Fremden, meist Italiener – Männer, jung, ohne Familie – brachten für die Phase des Baus jene Unsicherheit, die die Erstbegegnung mit anderen Kulturen und Sprachen bedeutet. Im Dorf wehrte man sich mit dem bodenständigen Instrumentarium  : Wirtshausraufereien, Kasernierung der Frauen und Mädchen, Verachtung. Unser Bild der Italiener ist heute noch wesentlich von dieser Erfahrung geprägt. Kurze Zeit später aber war diese

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Kultur und Gesellschaft

Eisenbahn das Tor zur Welt  : freiwillig oder von der Not getrieben machte man sich auf, der Arbeit nachzufahren, erlebte selbst die Fremde. Heimat – das war noch immer das Dorf, in dem man zuständig war, in das man im Verarmungs- oder Konfliktfall per Schub zurückgebracht wurde. Aber Heimat wurde auch der neue Lebensraum, die Stadt, der nicht naturgeschichtlich auferlegte, sondern der ausgewählte Wohnort. Die Sprache wurde wichtig, speziell im Gewirr des Vielvölkerstaats. Die Möglichkeit der Kommunikation, des Gesprächs im Wirtshaus, im Verein  ; das Verstehen von Zeitungen, Plakaten, Reden  ; das Gefühl kultureller Überlegenheit als Teil des Selbstwertgefühls. Mit der Sprache wurde daher auch Politik gemacht  : der Nationalstaat war immer Sprach-Raum, Sprachgrenzen wurden umkämpfte Linien. Heimat über Sprache definiert  : über den Dialekt des Tals, des Landes, oder aber in der Abgrenzung zur Fremdsprache  ? Wie machen das die Schweizer, die Amerikaner  ? War die Bildung der sprachlich homogenen Nationalstaaten nicht auch durch Kolonialisierung im Inneren, durch die Unterdrückung regionaler Sprachen und Kulturen gekennzeichnet  ? Haben sich nicht Sprachgrenzen den Landesgrenzen angepaßt und nicht umgekehrt  ? In welcher Sprach-Heimat lebt denn ein Waliser, ein Bretone oder ein Kärntner Slowene  ? Wird in der Unterscheidung von Vater-Land und Mutter-Sprache nicht auch das Unterdrückungsverhältnis der Geschlechter sichtbar, der bestimmende und der untergeordnete Teilaspekt  ? Die Änderungen der letzten beiden Jahrhunderte haben jedenfalls den Begriff »Heimat« dehnbar, veränderbar gemacht. Emotional umfaßt er zwar noch immer den engeren Lebensraum, politisch ist er jedoch auch für größere Einheiten abrufbar, bis hinauf zu Staaten. Wer kennt nicht das Gefühl, nach Überqueren der Staatsgrenze »daheim« zu sein  ? Oder man beachte die Autos beim Überfahren der Landesgrenzen  : Wie oft wird da auf die Hupe gedrückt, um die »Heimat« zu grüßen  ! Aber in Gesprächen kristallisiert sich dann doch meist ein engerer Heimatbegriff heraus. »Daheim«, das ist dann der Wohn- oder Geburtsort, wo man mit der eigenen Fußballmannschaft ein Heimspiel mit Heimvorteil hat, die vertraute Lebensumwelt, die regionale Identität. Wo man das Gefühl hat, dazuzugehören, wo die Fremden die Anderen sind, wo man zu den Starken gehört. Wenn aber historisch diese Gefühle für politische Zwecke abgerufen wurden, wirkten sie sich dramatisch aus. Fremdenhaß als politisches Ventil, als Antriebsfeder für Kriege, für den Völkermord. Nur zu begreiflich war daher in den letzten Jahrzehnten die Berührungsangst vor diesen Begriffen. Aber selbst die Wohlstandsgesellschaft der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre konnte das Bedürfnis nach der emotionalen Wärme, die auch im Begriff Heimat liegt, nur überlagern, aber nicht auslöschen. Als regionale Identität tritt heute das alte Gefühl in modisch-schicker Verkleidung wieder auf.

Heimaten

2. Spurensuche Wenn Heimat also regionale Identität ist, das Ankern (nicht Wurzeln) im vertrauten Raum, veränderbar, aber doch zumindest vorübergehend stabil, so ist es sicher legitim, die eigenen Ankerplätze nachzuzeichnen. St. Michael

Die richtige Straße wird mit einiger Mühe gefunden  : Hier soll ich also meine ersten Lebensjahre verbracht haben. Alles ist mir fremd. Kein Haus, kein Gesicht weckt auch nur eine schwache Erinnerung. Gefühle  ? Ein unbekanntes, nicht allzu einladendes Dorf. Soll ich hier Spuren suchen  ? Wozu  ? St. Gertraud

Heute ist der Friedhof der Treffpunkt der Familie. Niemand von uns wohnt mehr hier, kein warmes Zimmer erwartet uns nach dem neblig-kalten Besuch am Grab. Aber hier grüßen die Leute, viele Gesichter kenne ich, manche Namen. Die Grabsteine erzählen von bekannten Familien. Ein altes Klassenphoto  : Volksschule 3.a, 1956/57. In der dritten Reihe stehe ich. Vor mir, mit einer großen Masche im Haar, Anita Pucker, daneben Buchhäusl Susanne. Hinter mir, mit einem schicken Tuch um den Hals, Pirker Gertrude. Jugendlieben – heute Mütter mit einigen Kindern. Der Lehrer – mein eigener Vater. Erinnerungen an das Schulhaus, das mir auch Wohnung war. Der kleine, dunkle Abstellraum, die Drohung, als Strafe dort eingesperrt zu werden. Die Wege sind vertraut, die Geschäfte – aber Heimat  ? Zu rasch trennten sich die Wege, die Bildungsgänge, die Interessen. Die meisten Buben auf dem alten Photo gingen wohl in die Papierfabrik, blieben im Ort. Die Mädchen nutzten die schmalen Möglichkeiten des Dienstleistungssektors. Dann wurde geheiratet, Haus gebaut. Sie alle nennen St. Gertraud wohl mit mehr Recht Heimat als ich. Klagenfurt

Die Erinnerungen sind eher bedrohlich. Das Heim der Volkshilfe, in das ich als Elfjähriger kam, die Erzieher, der Terror der älteren Mitbewohner. Musils »Törless« am eigenen Leib. Die Schule – der Ausweg über Leistungen, Belohnungen mit Ausgang vom Heim. Die Flucht in die Literatur, Männerbünde, Sport. Wurde mir Klagenfurt je vertraut  ? Aber hält nicht noch heute der Glaube an den KAC, seine Dominanz im österreichischen Eishockey, Gefühle für diese Stadt wach  ? Habe ich sie nicht in

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St. Gertraud gegen die alten Freunde verteidigt  ? Gab es dort Freunde  ? Das Matura­ treffen nach 2 Jahrzehnten dient allerdings eher der Ernüchterung. Wien

Zielpunkt, Wunschtraum  : Studium, Freiheit, Theater, Kino, Selbstbestimmung. Studentenbewegung, Beziehung stabilisiert (die am nächsten Ortswechsel zerbrach). Offen mit allen Fasern für die neuen Eindrücke. Mit dem Rad durch den Schnee. Demonstrationen, Feste, durchwachte Nächte. Kann ein Studentenheim Heimat sein  ? Oder die kleine Wohnung in Lainz  ? Oder die politischen Organisationen, aus denen man ausgeschlossen wurde, die man mitgegründet hat  ? Kärntner in Wien – die Kontakte zu anderen Kärntnern  : erst gesucht, dieses vertraute Idiom, diese lautstarke Defensive  ; spätere Distanz kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie lange man diesen Halt gebraucht hat. Linz

Die neue Aufgabe, sozialer Aufstieg, turbulente Jahre, Beziehungen, Freunde, stabile Bindung. 12 Jahre – länger als alle anderen Orte bisher, war Linz Wohnort. Vieles, vielleicht alles verdanke ich beruflich einer Vaterfigur. Dauerhafte Freundschaften, feste Bindungen – also dominant positive Gefühle. Aber war ich dort zu Hause  ? In der Stadt, auf dem Bauernhof im Mühlviertel  ? Ich fahre nicht mehr »heim«, wenn ich heute nach Linz fahre. Die schmutzige, graue Stadt, die häßliche Universität, die riesige Wohnanlage, all das läßt mich kalt. Nicht aber die Menschen  : soviel Wärme gibt es für mich sonst nirgendwo. Graz

Graz  ? Soll das Endpunkt, Heimat werden  ? Kann man hier auf Dauer ankern  ? Ist dieser Lebensraum tatsächlich das Ziel  ? Der Klang der Sprache schreckt oder belustigt mich, aber mein Sohn nimmt ihn schon an. Wird diese Stadt zumindest für ihn Heimat  ? Daß ich mich hier wohlfühlen kann, steht außer Frage. Der sechste Heimatort an der Mitte des Lebens.

3. Heimat, strategisch Als politischer Begriff war »Heimat« historisch immer konservativ besetzt. Er war, da wissenschaftlich nie exakt definiert, mit Irrationalismen durchsetzt und vermittelte sich über das Gefühl, nicht über den Verstand.

Heimaten

Im Zeitalter der aufgeklärten Fortschrittsgläubigkeit, in dem Wissenschaftlichkeit, Exaktheit, Berechenbarkeit und Zukunftsglaube galten, schien ein dumpfer, emotionsgeladener Begriff keinen Platz zu haben. Liberalismus und Sozialismus, die beiden rationalen Planer der Weltgesellschaft, (des Welthandels bzw. des Internationalismus), glaubten an die großen Vereinheitlichungstendenzen durch die moderne Industriegesellschaft. Größer, schneller, stärker, umfassender, zentralistischer hießen die modernen Begriffe. Kleinräumigkeit, Geborgenheit, Überschaubarkeit, Föderalismus galten als konservativ, als Begriffe der Welt von gestern. Die Arbeiter lernten Esperanto und beschworen die internationale Solidarität, die Unternehmer glaubten an die umfassende Gültigkeit der Marktgesetze. Aber Liberalismus und Sozialismus waren als Vernunftideologien zu sehr ins Vertrauen auf die Rationalität des Menschen und der historischen Prozesse eingebunden, um zu erkennen, daß politisches Handeln aus rationalen und gefühlsmäßigen Quellen gespeist wird, daß neben dem Kopf auch der Bauch existiert. Und so sah man sich spätestens 1914 hilflos einer Welle der Begeisterung gegenüber, die ihre Kraft gerade aus der Ablehnung der Gleichheit der Menschen bezog und überwunden geglaubte Vorurteile abrufen konnte. Kaum war man durch diese historische Erfahrung durch, glaubte man, daß die Schatten der Vergangenheit den Weg zur Weltgesellschaft wohl nicht mehr belasten sollten. Aber schon wenig später bedienten andere das emotionale Klavier von Heimat und Fremde wieder mit solcher Virtuosität, daß die Dämme der Vernunft neuerlich barsten und man wieder glaubte, die Heimat offensiv verteidigen zu müssen, in tausenden Kilometern Entfernung. Rationalität war wieder irrationalen Scheinargumenten erlegen. Doch auch nach dem zweiten großen Krieg in unserem Jahrhundert wurde wieder dort angeknüpft, wo man vor der Welle der Zerstörung gestanden war. In den fünfziger Jahren, den »falschen Fuffzigern« begann die Weltherrschaft von Coca Cola und Blue Jeans, später von Mac Donalds und Pommes frittes nahtlos weitergeführt. Selbst die Studentenbewegung der späten sechziger Jahre stand in dieser Tradition, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Erst die Kritik an dieser falschen Globalität, an der langsam Realität werdenden Fiktion einer Orwellschen Zukunftsgesellschaft, kehrte diesen Trend um. Atomkraft und Polizeistaat begannen immer mehr Menschen Angst zu machen. Die Zerstörung von Städten und Landschaften ließen regionalen Widerstand, Kleingruppenidentitäten und Widerstände gegen Modernisierungsdruck nicht länger nur konservative Spielwiese bleiben. Die Suche nach »Heimat« erfaßte auch die Linke. Längst verschüttete Sprachen wurden wieder entdeckt, alte Häuser verteidigt, Kraftwerksbauten verhindert. In Geschichtswerkstätten suchte man nach einer historisch begründeten Kleingruppenidentität, belebte föderalistisches Gedankengut mit neuen Inhalten.

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Stadtteilinitiativen und Regionalprojekte entstanden. Natürlich ist in einer Zeit verstärkter Arbeitslosigkeit und geringerer Zukunftsperspektive dem Suchen nach »Heimat« eine konservative Grundtendenz nicht abzusprechen. Die gilt vor allem dann, wenn der eigene überschaubare Lebensraum als harmonisches Gegenbild zur konfliktreichen »Welt« erfahren werden soll. Wenn zudem Heimat wieder ausgrenzend verstanden und gegen die Konkurrenten am Arbeitsplatz eingesetzt wird und somit die Fremdenfeindlichkeit stärkt. Aber gerade deshalb wäre es gefährlich, zum Begriff auf Distanz zu gehen und wieder nur die »großen Fragen« im Auge zu haben. Zumindest zweimal in der jüngsten Geschichte hat die Überlassung des emotio­ nalen Bereiches, der über das Heimatgefühl vermittelt wird, an Kräfte, die damit Weltenbrände entfachten, größtes Unheil angerichtet. Der Versuch, mit Vernunft­ argumenten Gefühle zu bekämpfen, glich den Bemühungen eines Dorfes, Überschwemmungen dadurch zu verhindern, daß man Dämme auf der Landseite errichtet und sich dann wundert, daß die Flut dennoch kommt. Es muß also heute darum gehen, in der Heimat-Diskussion präsent zu sein und zu versuchen, einerseits die emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne andererseits auf die Gefahren zu vergessen. Der neue Heimatbegriff muß voluntaristisch verstanden werden, also Heimat muß wähl- und wechselbar sein. Er muß ferner konfliktorientiert sein, muß also die zentralen Konflikte im Kleinraum widerspiegeln, muß sie sogar hier verständlicher, anschaulicher machen können. Der Heimatbegriff darf nicht ausgrenzen, darf nicht zu Fremdenhaß führen. Und der neue Heimatbegriff darf Heimat nicht statisch, museal sehen, sondern muß auf die Dynamik, die Veränderung und die Veränderbarkeit abzielen. Aber das alles muß mit dem Bedürfnis nach Wärme und Gefühl vereinbar sein. Damit erübrigt sich die Eingangsfrage, wie groß denn Heimat ist oder sein soll. Es sollte wohl auch klar sein, daß mit dem angestrebten neuen Heimatbegriff jeder im Ennstal zu Wort kommen sollte – und sei es nur, um die Konflikte auch wirklich auszutragen. Und meine Heimat  ? Sie teilt sich auf mehrere Heimaten auf, deren Gewichtung und Bedeutung sich verschieben, wandeln, den Lebensumständen anpassen. So bin ich zumindest nicht heimatlos. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Heimaten, in  : Sterz. Unabhängige Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kultur­ politik 39 (1987), 18–19.

Arbeiterbewegung und bürgerliche Öffentlichkeit Kultur und nationale Frage in der Habsburgermonarchie (1994) Arbeitergeschichte wurde in Österreich viele Jahrzehnte lang außerhalb der engen Grenzen der historischen Profession geschrieben. Aus der ersten Garnitur der Funktionäre in Arbeiterparteien und Gewerkschaften rekrutierten sich die Autoren1 jener Geschichtswerke, die häufig für Schulungszwecke verfaßt worden waren und daher eher der organisationsinternen Verständigung und Festigung dienten als dem Streben nach Ausgewogenheit, obwohl einigen Texten hohe Qualität zugesprochen werden kann. Auch auf der Länderebene wiederholt sich dieses Phänomen.2 Die zweite Traditionslinie bilden die journalistischen Betrachtungen von außen, wobei vor allem aus dem Ausland jene Beobachter kamen, die ihren Arbeiten zur österreichischen Arbeitergeschichte einen guten Teil ihres späteren wissenschaftlichen Renommees verdankten.3 Aber auch aus der Feder österreichischer Journalisten stammen Gesamtdarstellungen.4 Erst spät konnte das Fach akademische Anerkennung und Verankerung gewinnen.5 Dann allerdings setzte ein Boom ein, der, gestützt auf das Wohlwollen des zuständigen Ministeriums, die Geschichtswissenschaft in Österreich nachhaltig beeinflußte. Für zumindest anderthalb Jahrzehnte, von 1970 bis in die Mitte der achtziger Jahre, kam der Teildisziplin eine führende Rolle zu. Allerdings mußte sie die Position des stärksten methodischen Innovators der Sozialgeschichte6 überlassen, wenn auch die Übergänge fließend waren. In den letzten Jahren hatte die Arbeitergeschichte nicht gerade Konjunktur. Die Umschichtung der weltpolitischen Situation, begleitet von einem gewissen Sättigungsgrad an den traditionellen organisations- und ideengeschichtlichen Themen sowie einem Generationswechsel im Fach werfen derzeit die 1 2 3 4

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Als Beispiel sei genannt  : Julius Deutsch, Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, 2 Bde., Wien 1929/1932. Etwa  : Josef Kaut, Der steinige Weg. Geschichte der sozialistischen Bewegung im Lande Salzburg, Salzburg 1961. Etwa  : Charles A. Gulick, Österreich von Habsburg zu Hitler, 5 Bde., Wien 1948. Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich. Idee und Geschichte einer Partei. Von 1889 bis zur Gegenwart, Wien u.a. 1978  ; Walter Pollak, Sozialismus in Österreich. Von der Donaumonarchie bis zur Ära Kreisky, Wien u.a. 1979. 1968 wurde Karl R. Stadler aus dem englischen Exil an die Universität Linz berufen. Neben dem Lehrstuhl für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte wurde von ihm auch das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung aufgebaut. Das gilt besonders für Michael Mitterauer, Josef Ehmer und Reinhard Sieder.

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Frage nach dem Bleibenden auf, und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits geht es um die wissenschaftsorganisatorische Frage nach den über die Arbeitergeschichte eingeführten Themen, Methoden und Theorien, andererseits geht es inhaltlich um die Herausarbeitung jener Bereiche, in denen die Arbeiterbewegung selbst, also das Objekt der Forschung, bleibende Prägungen für unsere Gesellschaft bewirkt hat. Und in beiden Bereichen wird man wohl auf einige österreichische Besonderheiten verweisen können. Die oben genannten institutionellen Rahmenbedingungen führten dazu, daß Arbeitergeschichte in Österreich weniger oppositionell als in Westeuropa war. Ein breites, gut abgesichertes Netz, in das die Mehrzahl der Lehrstuhlinhaber im Fach Zeitgeschichte eingebunden ist, ein großes Forschungsinstitut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, die Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung und anderes mehr haben das Fach in einer Weise etabliert, daß es kaum mehr als Speerspitze einer oppositionellen Forschung interpretiert werden kann. Vielmehr läuft eine jüngere Historikergeneration heute, sofern sie überhaupt inhaltliche Interessen an der Arbeitergeschichte entwickelt, gegen die methodischen Positionen und auch gegen die organisationsgeschichtlichen Schwerpunkte der mittleren Generation an. Schon das zweite Heft der 1990 gegründeten Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften,7 mit der sich die jüngere Forschergeneration ein bemerkenswertes Sprachrohr schuf, hatte als Themenschwerpunkt »Arbeiter/innen und Arbeitslose« gewählt. Und 1992 erschien ein Sammelband unter dem Titel Clios Rache,8 mit dem jene Generation, die es wegen der Erstarrung und der Undurchlässigkeit des universitären Betriebes nicht mehr geschafft hat, eine gesicherte wissenschaftliche Laufbahn zu betreten, inhaltlich und methodisch Position bezieht. (Ursprünglich hätte der Titel, als härter formulierte Kampfansage an die Vorgänger »Die Brücken abgebrochen  ?« heißen sollen). Von den im Band versammelten acht Beiträgen sind zwei ausdrücklich arbeitergeschichtlichen Themen gewidmet, einige andere nehmen indirekt Bezug. Dies verdeutlicht, wie sehr trotz aller genannten Einschränkungen die Arbeitergeschichte eines der Hauptbetätigungsfelder österreichischer Geschichtsschreibung geblieben ist. Die beiden erwähnten Beiträge thematisieren genau die derzeit aktuellsten Bereiche der Diskussion. Ingrid Bauer nennt ihren Artikel  : »›Wünscht gar vielleicht jetzt noch jemand das Wort …  ?‹ Feministische In-Frage-Stellungen an 7 8

Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1/2 (1990)  : Arbeiter/innen und Arbeitslose. Karl Kaser/Karl Stocker (Hg.), Clios Rache. Neue Aspekte strukturgeschichtlicher und theoriegeleiteter Geschichtsforschung in Österreich (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 22), Wien/Köln/ Weimar 1992.

Arbeiterbewegung und bürgerliche Öffentlichkeit

die Arbeiter(bewegungs)-Geschichte. Oder  : Einspruch im Namen des Abgedrängten.« Stefan Riesenfellner titelt »›Leuchtendes Rot über dem wallenden Körper der Masse‹. Zur kulturellen Selbstinszenierung der österreichischen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende«. Hinter den barocken Titeln verbergen sich bemerkenswerte fachliche Ansätze, wobei der frauenspezifische Zugang hier eher einen Trend, der aus einem anderen Diskussionszusammenhang kommt, kritisch auf die Arbeitergeschichte anwendet. Die Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung hat dies aufgegriffen und 1992 ausschließlich die Thematik »Geschlecht und Klasse«9 diskutiert. Der Beitrag zur Arbeiterkultur steht aber für die derzeit wohl fruchtbarste Richtung der österreichischen Arbeitergeschichtsschreibung, was man an einer Fülle von laufenden Projekten deutlich ablesen kann.10 Zeigt also der Trend deutlich eine Abkehr von den Fragestellungen der politischen Geschichte, der Geschichte der Ideen und Organisationen, so hat allerdings ein Teilgebiet dieser traditionelleren Zugangsweisen derzeit eine heftige Konjunktur – die Geschichte des Verhältnisses von Arbeiterbewegung und nationaler Frage.11 Dies ist die unmittelbare Konsequenz der aktuellen Ereignisse in Osteuropa und der Suche nach den historischen Wurzeln der dramatischen Steigerungen nationaler Emotionen. Bei dieser Thematik rückt die Leistung des Austromarxismus in der Entwicklung von Theorien zur nationalen Frage und von Bewältigungsstrategien für nationale Konflikte in multiethnischen Staaten in den Blickpunkt, wenn auch vor allem unter dem Aspekt einer verschütteten Alternative. Wenn man heute die wesentlichen Leistungen zu bilanzieren versucht, die die österreichischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts in die Gesamtentwicklung eingebracht hat, so wird sich das Augenmerk neben den beiden großen Gebieten der Demokratisierung des Staates und dem Aufbau eines sozialen Sicherheitsnetzes für die unterprivilegierten Teile der Gesellschaft wohl auf die beiden angesprochenen Fragen richten  : auf die Beiträge zur Lösung der nationalen Frage und auf die Erfolge auf dem breiten Feld der Kultur im Spannungsfeld von Modernisierung und Kampf um die Öffentlichkeit.

  9 28. Tagung der Internationalen Tagung der Historiker und Historikerinnen der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung, 14. bis 19. September 1993, Linz. 10 Der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung fördert derzeit das Projekt »Kulturgeschichte der Arbeit« an der Universität Graz und das Projekt »Regionale Leitkulturen in Mitteleuropa« an den Universitäten Linz und Graz. Ein Spezialforschungsbereich »Moderne« mit einem großen Arbeiterkulturteil ist genehmigt. 11 Helmut Konrad (Hg.), Arbeiterbewegung und Nationale Frage in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, Wien/Zürich 1993.

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Zur nationalen Frage. Die Habsburgermonarchie war in ihrem Industrialisierungsprozeß vor allem durch große regionale Unterschiede gekennzeichnet.12 Durch diese langsame und punktuelle Industrialisierung war die Arbeiterklasse inhomogen und voll von internen Widersprüchen. Die Regionen der (zumindest) dreizehn ethnischen Gruppen der Monarchie befanden sich in ganz unterschiedlichen Stadien der Industrialisierung. Einzig in Böhmen, Mähren, Niederösterreich, Oberösterreich und der Steiermark waren geschlossene Industriegegenden entstanden, die Arbeiterklasse hatte daher genau erkennbare ethnische Trennlinien. Den meisten Nationalitäten gelang es nur, in ganz spezifische Bereiche industrieller oder zumindest vorindustrieller Arbeit einzudringen. So war etwa der Eisenbahnbau eine eindeutige Domäne der Italiener, ebenso jene Ziegelfabriken, die nur in der wärmeren Jahreszeit produzierten.13 Der Bergbau in der Steiermark wies auch größere Gruppen von Slowenen auf.14 Industriearbeit im engeren Sinn war aber tschechischen und deutschsprachigen Arbeitern vorbehalten, und das Verhältnis dieser beiden Gruppen zueinander sollte auch für die organisierten Teile der Arbeiterbewegung zum Gradmesser für die Bewältigung nationaler Probleme werden. Dabei ist auffällig, wie lange der sogenannte »naive Kosmopolitismus«15 das Zusammenleben bestimmte. Sprachprobleme (und auf diese Ebene wurde die nationale Frage lange reduziert – sie wurde innerhalb der Arbeiterbewegung sogar oftmals »Sprachenfrage« genannt)16 wurden pragmatisch überbrückt, Protokolle von Konferenzen zweisprachig geführt, Flugblätter übersetzt etc. Die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende revolutionäre Gesellschaftsänderung ließ die Gegensätze gering erscheinen, und die zeitweilige Absenz des liberalen Bildungsbürgertums wirkte sich glücklicherweise hemmend auf die Ausbildung nationaler Lager innerhalb der organisierten Arbeiter aus. So war es gerade die Arbeiterbewegung, die in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie neben dem Herrscherhaus, der Bürokratie und dem Militär zum stärksten Kitt – als »k. und k. Sozialdemokratie« – des Vielvölkerstaates werden sollte. 12 Richard L. Rudolph, Quantitative Aspekte der Industrialisierung in Cisleithanien 1848–1914, in  : Alois Brusatti (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1, Wien 1973, 233. 13 Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981, 367–369. 14 Karin M. Schmidlechner, Die steirischen Arbeiter im 19. Jahrhundert (= Materialien zur Arbeiterbewegung 30), Wien 1983, 38. 15 Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, 304. 16 Kautsky sieht überhaupt nur das Merkmal Sprache, vgl. etwa den Brief Karl Kautskys an Victor Adler vom 5.8.1897, in  : Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky sowie Briefe von und an Ignaz Auer, Eduard Bernstein, Adolf Braun, Heinrich Dietz, Friedrich Ebert, Wilhelm Liebknecht, Hermann Müller und Paul Singer. Gesammelt und erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954, 236.

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»Und wenn heute ›Mitteleuropa‹ im wesentlichen ein Gebiet mit gleicher oder zumindest ähnlicher Herrschaftssymbolik beschreibt (gleiche barocke Kirchenbauten, gleiche Kasernen, gleiche Amtsgebäude etc.), aus der der heutige Besucher das Gefühl der Vertrautheit gewinnt, so war für die Arbeiter die Habsburgermonarchie mehr als das Leiden unter der identen Knute – der Staat war auch Lebens- und Wirtschaftsraum für eine unterprivilegierte Bevölkerungsgruppe, die unter diesen Rahmenbedingungen hoffen konnte, den Traum der künftigen, von nationalen Vorurteilen freien Gesellschaft gleichsam im Reagenzglas voraus zu verwirklichen.«17

Allerdings wäre es falsch, ein allzu idealistisches Bild zu zeichnen. Die »Kleine Internationale«18 zerfiel, der Streit innerhalb der Partei, der zur Ablösung der tschechischen Organisation führte, griff auch auf die Gewerkschaftsbewegung über und traf damit die Bewegung am Lebensnerv. Die erste Generation der Parteiführer, allen voraus Victor Adler, war wegen ihrer eigenen deutschnationalen Sozialisation in dieser Frage hilflos, auch Karl Kautsky hielt sich ans »Durchtauchen«, ein Ignorieren der nationalen Frage, die durch gemeinsame, einigende Ziele wie den Kampf um das allgemeine Wahlrecht, überlagert werden sollte.19 Erste theoretische Lösungsversuche für die nationale Problematik brachte der Brünner Parteitag von 1899. Allerdings scheiterte der damals vor allem von den Slowenen um Kristan entwickelte Plan, die nationale Frage auf der Grundlage des Personalitätsprinzips zu lösen, noch am Widerstand der alten Führung.20 So brachte Brünn wohl die offensichtliche »Aussöhnung der Arbeiterschaft mit der Reichsidee«,21 also die nunmehr auch programmatische Akzeptanz der existierenden Monarchie als politisches Handlungsfeld durch die Sozialdemokratie. Die Zerschlagung der Monarchie war aber schon länger nicht nur außerhalb des Möglichen, sondern auch des 17 Helmut Konrad, Sozialdemokratische und kommunistische Lösungsansätze zur nationalen Frage in Ost- und Mitteleuropa, in  : Helmut Konrad (Hg.), Arbeiterbewegung und Nationale Frage in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, Wien/Zürich 1993, 14. 18 Raimund Löw, Der Zerfall der »Kleinen Internationale«. Nationalitätenkonflikte in der Arbeiterbewegung des alten Österreich (1889–1914) (= Materialien zur Arbeiterbewegung 34), Wien 1984. 19 Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschösterreichs (Hg.), Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 1, Wien 1922, 5. 20 Franc Rozman, Etbin Kristan und seine Idee der Personalautonomie, in  : Helmut Konrad (Hg.), Arbeiterbewegung und Nationale Frage in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, Wien/ Zürich 1993, 95–107. 21 Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918 (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Ost 4), 2 Bde., 2. erweit. Auflage, Graz/Wien/Köln 1964, 162.

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Wünschenswerten für die Arbeiterbewegung, so daß in Brünn nur die Realität festgeschrieben wurde. Die Idee des Personalitätsprinzips, des Versuchs, die aus dem Bekenntnis zu einer Nationalität abgeleiteten Rechte und Möglichkeiten nicht an Territorien, sondern, ähnlich dem religiösen Bekenntnis, an Personen festzumachen, stand allerdings von nun an auf der Tagesordnung, auch wenn sie auf dem Parteitag eindeutig verworfen worden war. Die entscheidenden Impulse, die die Arbeiterbewegung Österreichs auch im internationalen Maßstab an die Spitze der Diskussion zur nationalen Frage setzten, wurden im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gegeben. Die beiden führenden Köpfe, die auch die Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich mitprägten, waren Karl Renner und Otto Bauer. Bauer ging es vor allem um den Versuch, den Nationsbegriff wissenschaftlich praktikabel zu machen, ihn also unter den Beobachtungsbedingungen des österreichischen Vielvölkerstaates zu definieren. Renner versuchte sich vor allem in Vorschlägen zur organisatorischen Umgestaltung der Monarchie, um die Sprengkraft des Nationalismus in der politischen Praxis zu entschärfen. Beide machten vor allem das Scheitern der Überlagerungs- und Verdrängungsversuche der älteren Führungsgeneration zur Grundlage ihrer Analyse. Der Kampf, das theoretische Organ der Sozialdemokratie ab 1907, erklärte in seinem Editorial zur ersten Nummer auch ganz dezidiert, daß die Analyse der nationalen Frage jener Aufgabenbereich sei, den in der internationalen Arbeitsteilung die Österreicher zu übernehmen hätten.22 Otto Bauers großes historisches Verdienst war die Aufbrechung der engen marxistischen Sicht auf die Nation. Vor allem Karl Kautskys Definition von »Sprachnation« wurde zu einer eigenen Kategorie weiterentwickelt, nicht mehr als reines Überbauphänomen betrachtet. »Nation ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zur Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen«,23 Nation ist »geronnene Geschichte«.24 Damit ist nicht nur Sprache das bestimmende Element, wohl aber wird Kommunikation, auch in den Formen von kommunikativem oder kulturellem Gedächtnis,25 zur zentralen Kategorie. Staatsgrenzen, Sprachgrenzen, Religionsscheidelinien sind nur noch wichtige, aber keinesfalls ausschließliche Bestimmungsmerkmale für historisches Erleben. Nationen würden daher auch nach einer Weltrevolution als »autonome nationale Gemeinwesen«,26 an deren Kultur dann auch 22 Der Kampf 1/1 (1907), 3. 23 Bauer, Nationalitätenfrage, 135. 24 Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien u.a. 1968, 253. 25 Bauer formuliert es natürlich nicht in diesen Worten. 26 Ernst Panzenböck, Ein deutscher Traum. Die Anschlussidee und Anschlusspolitik bei Karl Renner und Otto Bauer (= Materialien zur Arbeiterbewegung 37), Wien 1985, 28 f.

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alle bisher benachteiligten Gruppen teilhaben würden, weiterbestehen. Otto ­Bauers Theorie war allerdings weniger eine konkrete politische Handlungsanleitung als vielmehr Grundlage der meisten modernen Weiterentwicklungen der Theorien zur nationalen Frage. Vor allem K. W. Deutsch baut unmittelbar auf Bauers Ansatz auf.27 Renner ging es im Gegensatz zu Bauer darum, die Habsburgermonarchie als Wirtschaftsraum und politische Einheit zu erhalten, also weniger um die Theorie als um die politische Praxis. Renner setzte daher auch problemlos Nation mit Sprachnation gleich, er mußte für seinen pragmatischen Ansatz Kautskys Position nicht revidieren. Er suchte nach dem gerechtesten Staat unter den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen, was auch erklärt, warum der entschiedene Verteidiger der Habsburgermonarchie wenige Jahre später zum Staatskanzler der Republik werden konnte. Noch unter dem Pseudonym Rudolf Springer hatte Renner 1906 in Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreichisch-Ungarischen Monarchie seine Position festgelegt. »Überall erscheint das Staatsgebiet nach einem einfachen Schema geteilt in Provinzen, Bezirke, Gemeinden. Wir aber müssen das Land zweimal, nach verschiedenen Grundsätzen vermessen, ein doppeltes Netz in die Landkarte eintragen, ein ökonomisches und ein ethnisches, wir müssen einen Schnitt durch die Summe der Staatstragenden machen, nationale und politische Geschäfte scheiden, die Bevölkerung zweimal organisieren, einmal national, das andere Mal staatlich.«28

Die Trennung von staatlichen, d. h. territorialer Verwaltung, und den nationalen Ansprüchen von Individuen ist die Weiterführung der Gedanken Kristans, also des Personalitätsprinzips. Dieses ist natürlich nur dann in die Praxis umzusetzen, wenn die Nationszugehörigkeit eine rein kulturelle Kategorie ist. Nur dann ist die Trennung von Territorium und Staat, also historischen Kategorien, wirklich möglich. Bauer und Renner bewegten sich also in durchaus unterschiedliche Denkrichtungen. Die Widersprüche wurden aber kaum wahrgenommen. Vor allem Stalin, der 1913 in Wien die austromarxistischen Lösungsansätze zur nationalen Frage studierte und hier seinen wohl einzigen theoretisch relevanten Text verfaßte,29 nannte den 27 Hans Mommsen/Albrecht Martiny, Nationalismus, Nationalitätenfrage, in  : Claus D. Kernig (Hg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft  : Eine vergleichende Enzyklopädie, Bd. 4, Freiburg/ Basel/Wien 1971, 623–695. 28 Rudolf Springer [= Karl Renner], Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Wien 1906, 208. 29 Josef W. Stalin, Marxismus und nationale Frage, in  : Josef W. Stalin, Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Köln 1976, 35.

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Austromarxismus idealistisch und konservativ, kleinmütig in den Lösungsansätzen und nicht materialistisch in der Theorie. Für ihn war Nation »eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinsamkeit der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.«30 »Nation« ist in dieser Sichtweise eine ökonomische Kategorie, an Territorien gebunden und daher nicht personalistisch lösbar. Nur Territorien garantieren nach Stalin den Schutz von Nationalitäten. Die Konsequenz dieser Position ist in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nachzulesen. Migrationsminoritäten werden nicht erfaßt, »homelands« bilden keine Lösung und der in dieser Hinsicht stalinistische Titoismus hat letztendlich das Territorialprinzip ins gegenwärtige blutige Chaos am Balkan münden lassen. Natürlich ist das Scheitern der stalinistischen Konzeption in der nationalen Frage kein Beweis dafür, daß der alternative Widerpart, der Austromarxismus, erfolgreich gewesen wäre, hätte er eine historische Bewährungschance erhalten. Sicher ist aber, daß die Ablösung von territorialen Fragen Konflikte im Regelfall entschärft, denn Kämpfe finden normalerweise um Territorien statt, wie der Balkan derzeit zeigt, wo sogar in hoffnungslosen ethnisch-religiösen Gemengelagen nur nach territorialen Auswegen gesucht wird. Sozialdemokratische Gegenöffentlichkeit. Die Niederschlagung der Revolution von 1848 hemmte auf Jahrzehnte die Herausbildung einer liberalen Öffentlichkeit. Erst das Staatsgrundgesetz von 1867 machte mit dem folgenden ökonomischen Boom den Weg frei für ein politisches Milieu, das zumindest in den urbanen Ballungsräumen kulturelle Modernisierungsschübe erlaubte. Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum besetzten zeitweilig gleiche oder ähnliche Themen und orientierten sich an denselben Zielgruppen. Die Arbeiterbewegung sprach dann liberale Intellektuelle an, wenn die Organisationen des Bürgertums sich ideologisch verengten, und sie übernahm die Themenführung in jenen Bereichen, die das Bürgertum zeitweilig vernachlässigte. Ohne die regionalen Sonderentwicklungen, die oftmals erhebliche Abweichungen brachten, hier ausführen zu können, lassen sich im Verhältnis von Arbeiterbewegung und Bürgertum in der Habsburgermonarchie drei Epochen erkennen  : a) Bis 1880 war die Verbindung sehr eng. Liberale Geburtshelfer hatten an der Wiege der ersten Arbeiterbildungsvereine und der Genossenschaften gestanden. Der Kulturkampf war das wichtigste verbindende Element, in der Ablehnung des Katholizismus traf man sich in ersten gemeinsamen Massenaktionen. Diese enge Ver30 Ebd., 32.

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bindung hielt, je weiter die Distanz zur Metropole war desto länger an. Büchereien, Gesangvereine usw. waren Orte der Begegnung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Der (liberale) Lehrer fand in der Arbeiterbewegung den Bündnispartner gegen Pfarrer und Kirche und brachte dafür sein Bildungsgut in die Arbeiterorganisationen ein. Die Gewerkschaftsbewegung, 1870 nach der Erzwingung des Koalitionsrechts möglich geworden,31 war in diesen Jahren in der Form von dezentralen Fachvereinen praktisch eine reine Klassenbewegung. b) Um 1880 führten verschiedene Ursachen (die Auswirkungen der Großen Depression  ; die konservative Regierungspolitik Taaffes  ; die Identitätskrise des Liberalismus) zu einer Isolierung und damit verbunden zu einer Radikalisierung der Arbeiterorganisationen. Zahlenmäßig unbedeutend, intern mehrfach gespalten, mehr mit Fraktionskämpfen als mit gesellschaftlichen Fragen befaßt, bekam die Arbeiterbewegung, damals repräsentiert durch die Radikalen und durch deren anarchistischen Flügel, die Funktion des ordnungsbedrohenden Popanz. Behördlich überwacht, von Spitzeln und Provokateuren durchsetzt, die erst mühselig die »Staatsgefährdung«32 herbeiführten, um politische Maßnahmen zu rechtfertigen, war die Entfremdung zum Bürgertum natürlich vollkommen. Nie vorher und nie nachher war die Arbeiterbewegung so ausschließlich auf die Arbeiterschaft und ganz wenige ehemals bürgerliche »Aussteiger« wie Peukert oder Most reduziert.33 Der Liberalismus und sein »Wassersuppensozialismus« wichen in diesen Jahren völlig der »Propaganda der Tat«. c) Ab 1886/87, also ab jener Zeit, als das Bürgertum mit seinen politischen und kulturellen Organisationen die Wende hin zum extremen Nationalismus und zum Antisemitismus vollzog, wurde die sich konsolidierende Arbeiterbewegung zur politischen Heimat für viele Intellektuelle, die diese Wende nicht mitvollziehen konnten oder wollten. Diese neue Begegnung von Arbeiterbewegung und Liberalismus leitete eine Phase des Aufstiegs zur Massenorganisation für jene ein, während dieser in Österreich bis zur Gegenwart nicht mehr aus sich heraus organisationsstiftend werden konnte. Sein kulturelles Erbe wurde in der Arbeiterbewegung aufgehoben, 31 Fritz Klenner, Die österreichische Gewerkschaftsbewegung. Entstehung, Entwicklung, Zukunft, Wien 1987, 51 f. 32 Helmut Konrad, Behördliche Überwachung »staatsgefährdender« Gruppen. Zur Problematik einer Quellengattung, in  : Manfred Lechner/Peter Wilding (Hg.), »Andere« Biographien und ihre Quellen. Biographische Zugänge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Ein Tagungsbericht, Wien/Zürich 1992, 133–142. 33 Herbert Steiner, Die Arbeiterbewegung Österreichs. 1867–1889. Beiträge zu ihrer Geschichte von der Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereines bis zum Einigungsparteitag in Hainfeld (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 2), Wien 1964, 196 f.

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die ihrerseits nunmehr die Doppelrolle als Antithese und als Vollendung des bürgerlichen Staates zu spielen hatte. In der österreichischen Entwicklung wurde die Funktion als revolutionärer Überwinder des bürgerlichen Staates allerdings sehr rasch nur noch verbal transportiert, während das reale politische Verhalten seit der Jahrhundertwende anders aussah. Diese drei schematischen Entwicklungsschritte machen deutlich, wie sehr sich die mitteleuropäische Situation sowohl von Ost- als auch von Westeuropa unterschied. Die Arbeiterbewegung mußte, wie in Osteuropa, historische Aufgaben des Bürgertums wie die Demokratisierung des Staatswesens, den Kampf um Mobilität und soziale Durchlässigkeit in der Gesellschaft usw. übernehmen. Sie konnte dabei aber, wie im Westen Europas, auf zwar unterlegenen, aber doch vorhandenen Resten der bürgerlichen Revolution aufbauen und Bündnispartner gewinnen. Die liberalen Gruppen waren aber nicht mehr stark genug, um über begrenzte urbane Milieus hinaus Einfluß zu gewinnen und den Liberalismus als politische Kraft zu verankern. So fiel der Arbeiterbewegung die Aufgabe zu, trotz ihrer ursprünglich deutschnationalen Position den Gesamtstaat zu akzeptieren und die notwendigen Reformen zur Erreichung demokratischer Strukturen durchzusetzen. Sie konnte dies vor allem deshalb, weil es ihr gelang, der schwachen parlamentarischen Vertretung eine wirksame außerparlamentarische Opposition hinzuzufügen. »Belgisch reden«34 hieß das Zauberwort, mit dem man die politische Modernisierung beschleunigen konnte, obwohl die Drohung mit dem Generalstreik längst machtpolitisch nicht mehr hätte eingelöst werden können. Diese Technik wurde übrigens 1918, als die Arbeiterbewegung im kleinen geographischen Rest »ihren« Staat aufbaute, perfektioniert und gleichzeitig ad absurdum geführt. Die österreichische Rätebewegung war praktisch nichts anderes als der außerparlamentarische Ast der Regierungspartei, für die Wahl zum Arbeiterrat war ein Abonnement der Arbeiterzeitung Voraussetzung.35 Diese Strategie der Bedrohung durch sich selbst, also der starken Geste gegen den eigenen demokratischen Staat, erleichterte und beschleunigte den Modernisierungsprozeß, führte zur Abschaffung der Monarchie und zur Implantierung der vorbildlichen Sozialgesetze. Die Durchsetzungsstrategie mußte aber durch die häufige Verwendung unglaubwürdig werden. Sie mußte auch dazu führen, daß der bäuerlichen Bevölkerung und großen Teilen des Bürgertums die Identifizierung mit dem modernen Staat erschwert oder unmöglich gemacht wurde. Im Gegenzug gingen diese Gruppen später vielmehr daran, den »revolutionären Schutt«36 34 Dies war das Synonym für den Generalstreik als politische Waffe. 35 Hans Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924, Wien u.a. 1987. 36 Der Ausspruch stammt von Prälat Ignaz Seipel.

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zu beseitigen. Erst die Zweite Republik hat diese Konfliktlinien überwunden. Im Versuch, »Öffentlichkeit« zu erreichen, standen im 19. Jahrhundert die österreichische Arbeiterbewegung und das Bürgertum in einem Spannungsverhältnis, das dem oben angesprochenen Beziehungsgeflecht entsprach. In den Anfängen, der ersten der drei geschilderten Perioden, gab es eine klare Gewichtung  : das liberale Bürgertum brachte das gedruckte oder gesprochene Wort ein, die Arbeiterbewegung die inszenierte Massenaktion. In liberalen Blättern wie der Tages-Post37 standen Artikel für die politischen Rechte des vierten Standes  ; die Arbeiter wiederum gingen gegen den Bischof und für die liberalen Schulgesetze auf die Straße.38 In der dritten Periode war das Verhältnis komplizierter. Die Arbeiterbewegung setzte zwar weiter (und höchst erfolgreich) auf die Inszenierung der Massen. Es ist kein Zufall, daß es gerade die Österreicher waren, denen besonders viel an der Beibehaltung des 1. Mai nach dessen erster erfolgreicher Durchführung im Jahr 1890 gelegen war. Die Maidemonstrationen zeigen auch deutlich die zwei großen Bruchlinien zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung  : Einerseits tat sich die Kluft in der Frage von nationaler bürgerlicher Identität und proletarischem Internationalismus auf, so sehr dieser auch nur aufgesetzt gewesen sein mag. Anderseits widersprach die Massenhaftigkeit dieser Veranstaltungs- oder Kampfform dem Individualismus, der bereits Kennzeichnung des liberalen Bürgertums war. Diese neuen, vom Bürgertum daher weitgehend abgelösten Massenveranstaltungen hatten mehrere Funktionen, sie warfen aber auch Probleme auf  : a) Es ging vorerst um die Erkämpfung symbolischer Räume. So war etwa der Wiener Prater ursprünglich der Aristokratie im Rahmen des Wiener Frühlingsfestes vorbehalten. In der Gründerzeit bekam der Blumenkorso bürgerliche Züge und nunmehr wurden sowohl Datum als auch Ort von den Arbeitern besetzt, als das andere »ver sacrum«.39 Es ging um die optische Vorherrschaft im Stadtbild, um eine symbolische Herrschaftsform, die gerade Zeiten und Orte, die für die Selbstdarstellung des Gegners wesentlich waren, zu besetzen hatte. Während etwa in der »Provinz« wie in Graz der Umzug der Arbeiter am 1. Mai 1890 die bürgerlichen Bezirke und damit

37 Erschienen in Linz. 38 Die erste große Linzer Massenversammlung der Arbeiter galt dem Konkordat und dem Protest gegen den Bischof Rudigier. 39 Stefan Riesenfellner, »Leuchtendes Rot über dem wallenden Körper der Masse«. Zur kulturellen Selbstinszenierung der österreichischen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende. In  : Karl Kaser/Karl Stocker (Hg.), Clios Rache. Neue Aspekte strukturgeschichtlicher und theoriegeleiteter Geschichtsforschung in Österreich (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 22), Wien/Köln/Weimar 1992, 205.

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die Orte der Herrschaftsrepräsentation mied,40 um, sich nur auf sich selbst beziehend, der Herausforderung auszuweichen, besetzte die selbstbewußte Arbeiterbewegung Wiens eben gerade Ringstraße und Prater. b) Masseninszenierungen hatten aber auch die Aufgabe, eine Substituierung der Unterlegenheit in den kostspielig zu betreibenden Printmedien darzustellen. Wohl war die Arbeiterpresse schon um die Jahrhundertwende qualitativ in Österreich sehr hochstehend – die Arbeiterzeitung blieb lange ein führendes Organ und der ab 1907 erscheinende Kampf kann als die angesehenste theoretische Monatsschrift der Folgejahrzehnte gelten –, für breite Adressatengruppen waren aber zusätzliche Propagandaund Informationsformen notwendig. Dies galt verstärkt in der Multiethnizität Wiens. Symbolische Botschaften, bildhafte Umsetzungen, Farben und Lieder ersetzten teilweise die Lektüre und glichen Informationsdefizite aus. c) In dieser Kultur der Straße wurden neue Formen der Massenkunst, Inszenierungen für den Augenblick mit hohem künstlerischem Anspruch, versucht. Dies war Teil der Politik, die Kultur den breiten Massen zu öffnen. Die österreichische Sozialdemokratie verstand sich in ganz großem Ausmaß als Kulturbewegung, und zwar nicht nur in der Hervorbringung neuer, alternativer Formen von Kunst und Kultur, sondern durchaus auch in der Öffnung und Erschließung herkömmlicher Hochkultur für die bisherigen »Hintersassen der Nation«.41 Symbolisch stehen dafür die Arbeitersymphoniekonzerte, die Einbindung bedeutender Künstler wie Webern.42 Aber auch neue, durch die russische Entwicklung beeinflußte Kunstformen wie etwa Konzerte von Fabriksirenen, fanden nach 1918 ihren Platz.43 d) Stefan Riesenfellner hat die Problematik dieser neuen Form von Öffentlichkeit herausgearbeitet. Gerade die Maifeiern sind für ihn kulturelle Muster, »in ihren symbolischen Akten ist die Verbindung zwischen politisch-propagandistischen, psychologischen, ästhetischen, moralischen und religiösen Formen gegeben.«44 Dadurch fungiert der Maiaufmarsch auch als »symbolische Revolution, in einem Prozeß der Imagination wird die herbeigesehnte Befreiung schon in der Gegenwart gefeiert.«45

40 Eduard G. Staudinger, Demonstration und Fest. Zur Geschichte der Feiern zum 1. Mai in der Steiermark von 1890 bis 1907, in  : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 84 (1993), 9 ff. 41 Bauer, Nationalitätenfrage, 169. 42 Henriette Kotlan-Werner, Kunst und Volk. David Josef Bach. 1874–1947 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 6), Wien 1977, 170. 43 Reinhard Kannonier, Zwischen Beethoven und Eisler. Zur Arbeitermusikbewegung in Österreich (= Materialien zur Arbeiterbewegung 19), Wien 1981, 107, 116. 44 Riesenfellner, »Leuchtendes Rot«, 212. 45 Ebd., 218.

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Symbolik meint hier auch Ersatzhandlung, der »sozialistische Augenblick«46 ersetzt die Arbeit für politischen Wandel. »Der lange politische Weg ist plötzlich im idealen Ziel aufgehoben«,47 weitere Anstrengungen sind überflüssig. e) Die Form der Masseninszenierung war ein ausschließlich urbanes Phänomen. Wohl rekrutierte die österreichische Arbeiterbewegung einen Großteil ihrer Mitglieder aus dem Ballungsraum Wien (vor 1914 natürlich auch aus dem nordböhmischen Industriegebiet). Diese Form der Selbstdarstellung vergrößerte aber die Distanz zu den unterprivilegierten Gruppen der Bevölkerung auf dem flachen Land, es wurde eher Angst und Ablehnung als Zustimmung erzielt. So war auch diese kulturelle Ausdrucksform mit ein Baustein für die Herausbildung zumindest zweier unterschiedlicher Arbeitermilieus in Österreich mit unterschiedlichen kulturellen und politischen Grundmustern. Daß sich beide zum großen Teil in einer Partei fanden, ist eine Besonderheit Österreichs. Was bleibt? Da hier aus der Sicht der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts für den jeweiligen nationalen Rahmen Bilanz gezogen werden soll, erhebt sich die Frage nach dem Ausmaß der Prägung, das die heutige Gesellschaft durch die Arbeiterbewegung erfahren hat. In der nationalen Frage war diese Prägung relativ gering. Als Österreich 1918/19 im wesentlichen auf seine heutige Größe reduziert wurde, rückte dieser Problemkreis selbst bei jenen Männern aus dem Blickwinkel, die vor 1918 die entscheidenden Diskussionsbeiträge geleistet hatten. Selbst die Erkenntnis, daß österreichische Geschichte von der deutschen verschieden ist, führte lange nicht dazu, die Existenz einer österreichischen Nation zu akzeptieren. Anschlußträume beherrschten die deutschösterreichische Sozialdemokratie, und erst die Machtergreifung Hitlers in Deutschland bewog die Partei zur Streichung des Anschlußparagraphen aus dem Parteiprogramm.48 Und 1938 war der Verlust der Eigenstaatlichkeit für die illegale Bewegung das geringste Problem. Die nach 1945 allgemein akzeptierte Eigenständigkeit Österreichs wurde gleichfalls nicht mit der eigenen Theorie aus den Jahren der Monarchie untermauert und abgesichert. Erst der Zusammenbruch der sowje46 Roberto Cazzola, Die proletarischen Feste zwischen revolutionärer Propädeutik und ästhetischem Ritualismus, in  : Wiener Tagebuch 13/4 (1981), 19. 47 Riesenfellner, »Leuchtendes Rot«, 218. 48 Helene Maimann, Der März 1938 als Wendepunkt im sozialdemokratischen Anschlußdenken, in  : Helmut Konrad (Hg.), Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/München/ Zürich 1978, 63.

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tischen Einflußsphäre in Osteuropa führte zu einer wissenschaftlichen Renaissance austromarxistischer Überlegungen zur nationalen Frage, ohne daß den damals entwickelten Konzepten allerdings heute irgendeine praktische Relevanz zugesprochen werden kann. Auch in den anderen Nachfolgestaaten der Monarchie ist diese Tradition verschüttet, nirgendwo wurden oder werden politische Lösungen auf dieser Grundlage gesucht. Die Diskussion darüber ist bis heute eine ausschließlich akademische. Hier aber wird sie auch im internationalen Maßstab mit großer Dichte geführt, vor allem im Vergleich des Zusammenbruchs multiethnischer Großreiche im Abstand von sieben Jahrzehnten.49 Anders stellt sich die Situation auf dem über die Fragen von Massenkultur und Öffentlichkeit angesprochenen Feld dar. Hier konnte die Arbeiterbewegung Österreich sehr wohl auf Dauer prägen. Zwar ist zu konzedieren, daß jene kulturellen Konzepte, die auf den Aufbau einer umfassenden Gegenkultur zielten und den »neuen Menschen«50 schaffen wollten, durch ihre Übersteigerung im Nationalismus gleichzeitig an ihren Endpunkt gelangt sind. Hier konnte und wollte nach 1945 die Arbeiterbewegung nicht mehr anknüpfen. Aber überall dort, wo sie in Auseinandersetzung mit den katholisch-konservativen Grundmustern den wesentlichen Beitrag zu einer Implantierung der österreichischen Moderne leistete, ist ihr Verdienst unübersehbar. Was als fast ausschließliches Wiener Phänomen begonnen hatte, wo die Sozialdemokratie zum Motor der Moderne wurde und sich in ihrer Symbolik und ihren Darstellungsformen der zeitgenössischen Kunst bediente, dieser damit aber auch Beachtung und Anerkennung verschaffte, ist heute im »Archiv der Moderne«51 des österreichischen Gesamtstaates. »Wien um 1900«52 ist ein mit Stolz präsentiertes historisches Bild, zu dem die Sozialdemokratie die wesentlichsten politischen Beiträge geleistet hat. Es ist daher nicht verwunderlich, daß in der praktisch von einer Spaltung verschont gebliebenen Arbeiterpartei fast alle bedeutenden Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft von der Psychoanalyse bis zum Wiener Kreis, von der Journalistik bis zur bildenden Kunst, von der Medizin bis zur Physik – das geistige Österreich – eine gemeinsame politische Heimat fanden. In einer »Kundgebung des geistigen Wien« für die Sozialdemokratie, in der von den großen sozialen und kulturellen 49 Vgl. Richard L. Rudolph/David F. Good (Hg.), Nationalism and Empire. The Habsburg Empire and the Soviet Union, New York 1992. 50 Josef Weidenholzer, Auf dem Weg zum »Neuen Menschen«. Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 12), Wien 1981. 51 Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/Wien 1992. Groys übernimmt den Begriff von Michel Foucault. 52 Das war der Titel einer international besuchten Großausstellung, die von Wien nach Paris wechselte.

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Leistungen der Arbeiterbewegung, die »den Strom der Kultur in die Tiefe leitet«,53 gesprochen wurde, fanden sich immerhin Alfred Adler, Wilhelm Börner, Karl Bühler, Sigmund Freud, Max Graf, Fritz Grünbaum, Anton Hanak, Albert Heine, Hans Kelsen, Ernst Lichtblau, Alma Maria Mahler. Georg Merkel, Robert Musil, Alfred Polgar, Oskar Strnad, Anton Webern, Egon Wellesz, Franz Werfel u.a. zusammen.54 »Das Ringen um eine höhere Menschlichkeit und der Kampf gegen Trägheit und Verödung wird uns immer bereit finden. Er findet uns auch jetzt bereit«,55 verkündete man 1927. Das Folgejahrzehnt aber brachte die Zertrümmerung dieses Anspruchs – die beiden Bruchlinien 1933/34 und 1938 ließen der Zweiten Republik nur wenige Anknüpfungspunkte. Dies ist auch eine ihrer großen Schwächen. Aber vieles, wofür man in den zwanziger Jahren zu streiten bereit war, was sich scharf gegen andere soziale, politische und kulturelle Wertmaßstäbe abgrenzen und behaupten mußte, ist heute stolze gesamtösterreichische Tradition. Und dieses historische Verdienst der österreichischen Arbeiterbewegung wird wohl von Dauer sein. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Arbeiterbewegung und bürgerliche Öffentlichkeit. Kultur und nationale Frage in der Habsburgermonarchie, in  : Geschichte und Gesellschaft 20/4 (1994), 506–518 (Vandenhoeck & Ruprecht).

53 Plakattext aus dem Wahlkampf von 1927. 54 Rundschreiben des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 2 (1993), 2. 55 Ebd.

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Alltagsobjekte und Krieg (2015)

1. Der Sammler Historikerinnen und Historiker sind in der Regel auch Sammler. Alte Fotos, Gebrauchsgegenstände früherer Generationen, Abzeichen, Auszeichnungen, Plakate, Briefe, Devotionalien, Büsten, Geschirr und vieles mehr ergänzen in unserer Zunft die Unzahl von Büchern, die unsere Arbeitszimmer und wohl auch die Wohnungen füllen. Ein Gang durch die Arbeitszimmer am Institut für Geschichte an der Universität Graz offenbart bei aller Gemeinsamkeit, die sich aus der Profession ergibt, doch auch markante individuelle Merkmale. Räume und Personen bilden Einheiten, wobei die Personen zwar die Räume gestalten und in gewisser Weise den Besuchern damit eine Inszenierung bieten, die Räume dann aber auch auf die Inhaber zurückwirken und Verhaltensmuster verstärken. Eine echte Besonderheit der Raumgestaltung findet sich in den Diensträumen von Dieter Binder. Junge Studierende sind bestimmt verstört, wenn sie die Räume betreten, tritt ihnen doch eine schwer decodierbare Flut an in sich widersprüchlichen, geheimnisvollen Symbolen entgegen. Die Gegenstände sind in den Räumen kunstvoll angeordnet und stehen in Dialogen miteinander. Freimaurerschurz und Burschenschafterausstattung, Habsburg-Devotionalien und sozialdemokratische Objekte, das späte 19. und das (frühe) 20. Jahrhundert in seiner kulturellen Bandbreite, ausgeschlossen die extrem nationale und natürlich die nationalsozialistische Position, ist hier objekthaft greifbar. Aufklärung, Liberalismus, Konservativismus, Sozialismus, Kaisertreue und (ein Hauch von) Revolution treten hier in meist sehr gediegenen, exquisiten Objekten in Erscheinung, sind Bühne, die Dieter Binder zu bespielen weiß, ist er doch selbst Teil dieser widersprüchlichen Welt. Auf der einen Seite korrekt, ja formvollendet, der Habitus des beinahe aristokratischen Bildungsbürgertums, auf der anderen Seite der Querdenker, der Freigeist, der Widerständige, der sich empören kann und dies durchaus auch tut, und zwar kompromisslos. In den geheimnisvollen Räumen findet sich mancher Schatz. Allein bei einem ersten kurzen Versuch, Ausstellungsgegenstände für eine regionale Schau im Universalmuseum Joanneum zum Ersten Weltkrieg abzurufen, ließen sich ein knappes Dutzend von eindrucksvollen Objekten (Teller, Becher, Orden etc.) finden, die jeder Ausstellung alle Ehre machen können. Hier arbeitet also Dieter Binder. Und die Besucher rätseln, welche Objekte sich wohl biographisch verdichten lassen, welche mit Augenzwinkern zu decodieren sind

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und welche einfach der Sammelleidenschaft geschuldet sind oder in ihrer Ästhetik nach der Meinung des Hausherren in den Raum passen. Ein Theaterfundus, in dem man sich als Monarchist, Freimaurer, Linker, Burschenschafter, Militär, Revolutionär u.ä. fühlen kann. Kennt man Dieter Binder näher, dann weiß man, dass hier nur wenig zufällig ist. Alles hat mit seinem Leben, mit seinen Forschungen, mit seinen Leidenschaften zu tun. Und es zeigt vor allem aber auch, dass Dieter Binder ein Forscher ist, dem es neben den Texten und schriftlichen Quellen auch um das emotionale, ja haptische Erfassen von Geschichte geht. Sinn über Sinnlichkeit erfassen, und zwar »erfassen« in der unmittelbaren Wortbedeutung. Es sollte also nicht falsch sein, in einem kleinen Beitrag für Dieter Binder ein »Objekt« zu stellen, das sich in seiner Sammlung durchaus gut machen könnte. Jedenfalls ist es in meiner, einer sehr viel bescheideneren Ansammlung von historischen Gegenständen, derzeit das Schmuckstück.

2. Das Objekt An der hochgeschätzten Yale-University in New Haven, Connecticut, USA, wo ich erstmals vor etwa drei Jahren ein Seminar gemeinsam mit Jay Winter abhalten konnte – das Thema war klarerweise der Erste Weltkrieg – haben Seminare eine besondere Struktur. Neben den 15 Studierenden dürfen etwa drei weitere Personen teilnehmen, die sich Verdienste um die Universität erworben haben. Dies sind meist Pensionistinnen oder Pensionisten, die durch freiwillige und unbezahlte Arbeit als Aufsichtspersonen in den Museen und Sammlungen jene »credits« verdient haben, die zum Besuch von ausgewählten Lehrveranstaltungen berechtigen. Im Seminar saßen somit drei Personen, die mit großem Interesse den Ausführungen der Studierenden und unseren Erläuterungen folgten. Am Ende des Seminars kam eine der Zuhörerinnen auf mich zu und fragte, ob sie mir etwas schenken dürfe. Sie gab mir einen Tischläufer aus Leinen, etwa zwei Meter lang und 40 cm breit, den sie von ihren Großeltern erhalten hat. Das Entstehungsdatum war leicht zu eruieren, denn es ist im Zentrum des Läufers eingestickt  : 1. Jänner 1916. Der Läufer zierte also beim Neujahrsdinner 1916 den Tisch der Großeltern an der amerikanischen Ostküste, vermutlich in Connecticut. Das Besondere an diesem Stück sind aber die Gestaltungen der Enden, jeweils etwa 40 mal 40 cm große gestickte nationale Symbole. Rechts drei symbolische Gestalten  : Germania mit Schild, Wappen, Schwert und Krone  ; in der Mitte eine bäuerliche Austria, ebenfalls mit Schild und Wappen  ; rechts davon ein Türke in traditioneller

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Kleidung mit Fez, das Schild mit dem Wappen. Über alle noch die Fahnen, ergänzt durch die bulgarische Flagge. Am anderen Tischende die Alliierten  : ein dicklicher, wohl kapitalistischer Engländer mit Zylinder, vor sich Schild mit Wappen  ; in der Mitte eine kesse Französin im kurzen Rock und mit Revolutionsmütze, ebenfalls mit Schild und Wappen. Rechts dann, sitzend, ein alter Russe mit langem weißen Bart, gestützt auf das Schild mit dem Wappen. Und darüber die Fahne, ergänzt durch die Fahnen der Verbündeten (ohne jene aus Ostasien).1 Keine Spur von Parteiergreifen  : Das Essen am 1. Januar 1916 war sichtlich getragen von absoluter Neutralität. Zu beiden Seiten die gleiche Nähe oder aber die gleiche Distanz. Wohl werden Klischees bedient  : der britische Kapitalist, Marianne, die revolutionäre Französin, das greise Väterchen Rußland, die Walküre Germania, der (auch ohne Pfeife) rauchende Türke. Nur zur Habsburgermonarchie war die Phantasie gering  : ein eher nichtssagendes Mädchen in einer untypischen Tracht, harmlos, vormodern, bäuerlich. Das Stück Stoff erzählt aber nicht nur vom fernen Krieg in Europa (Asien ist ausgeblendet). Es erzählt auch von der amerikanischen Innenpolitik am Jahreswechsel 1915/1916. Woodrow Wilson war im November 1912 zum Präsidenten gewählt worden. Der Südstaaten-Demokrat hielt zu Beginn des Ersten Weltkriegs einen Neutralitätskurs, der im Jahr 1916 mit dem Slogan »He kept us out of war« die Hauptaussage des Präsidentenwahlkampfs war. Der Tischläufer ist also auch ein innenpolitisches Statement  : Hier, am 1. Januar 1916, hat sich im Nordosten der USA eine Familie mit demokratischer politischer Tradition um den Festtisch eingefunden. Vielleicht sogar noch mehr  : hier startete ein lokales Komitee zur Wiederwahl des amtierenden Präsidenten der USA. Jedenfalls macht das Objekt deutlich  : man ist rund um den Tisch nicht Partei in diesem europäischen Ringen. Die Äquidistanz wird genau beachtet, ist in Zentimetern auszumessen. Mit einem leichten Hang zur Ironie werden zugeschriebene nationale Eigenschaften abgebildet. Wahrscheinlich hat die Tafelrunde Vorfahren aus den Ländern an beiden Tischenden. Jedenfalls scheint es seltsames, vormodernes Ringen zu sein, das sich jenseits des Atlantiks abspielt. Man lebt zum Glück in einer gänzlich anderen, aufgeklärten und durch und durch modernen Welt. Hinter dieser Fassade vollzog sich allerdings ein Wechsel. Schon am 7. Mai 1915 hatte ein deutsches U-Boot den Passagierdampfer Lusitania vor der Südküste Irlands versenkt. 1.200 Menschen waren an Bord dieses Linienschiffs von Liverpool nach New York, gut 10 Prozent davon amerikanische Staatsbürger. Der Protest der USA 1

Die Fotos [im Original] wurden von Alida Mirella Konrad-Hueller angefertigt.

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führte zwar zur Einstellung des sogenannten »uneingeschränkten U-Boot-Kriegs« durch Deutschland für fast 2 Jahre, aber Deutschland hatte seit damals nachhaltig das Image des Aggressors. Dass zudem die Entente nicht uneigennützig von den USA mit Kriegsmaterial und Konsumgütern unterstützt wurde, ließ die Präferenzen für eine Seite deutlich erkennen. Dennoch war die öffentliche Meinung noch nicht eindeutig festgelegt, nicht am Krieg teilzunehmen war zum Jahreswechsel 1915/16 sicher noch der mehrheitsfähige Wunsch. Deutschland, nicht Österreich-Ungarn, wurde 1916 zum Feind, da seit Februar 1916 deutsche U-Boote bewaffnete Handelsschiffe angriffen und somit kriegerische Akte gegen neutrale Staaten setzten. Aber noch waren dies nur militärische und ökonomische Gegnerschaft, nicht entscheidend ideologisch überhöht. Natürlich war auch die Frage der Neutralitätsverletzung in Belgien durch das Deutsche Reich in den Folgejahren ein Thema, das den Diskurs entscheidend prägte, auch 1915/16 Gegenstand von Diskussionen, die Deutschland als Aggressor sahen. Aber das Bild war noch nicht Schwarz-Weiß, war noch nicht Gut gegen Böse, Recht gegen Unrecht, Engel gegen Teufel. Wohl nicht nur am Speisetisch in Connecticut war annähernde Äquidistanz angesagt. Obwohl die öffentliche Meinung in den USA im Folgejahr noch stärker in R ­ ichtung der Unterstützung der Alliierten gegen Deutschland (die Habsburgermonarchie blieb weitgehend außerhalb des Blickfeldes) tendierte, versuchte Wilson nach seiner Wiederwahl einen Friedenskompromiss zu finden. Die kriegführenden Parteien sollten ihre Kriegsziele formulieren, um einen »Frieden ohne Sieg« erreichen zu können. Die Entente antwortete ausführlich, die deutsche Reichsregierung verband ihren Bericht im Jänner 1917 mit der Ankündigung, am 1. Februar den uneingeschränkten U-BootKrieg wieder aufnehmen zu wollen. Noch ein paar Wochen versuchte der amerikanische Präsident, einen Ausweg zu finden, ehe die USA am 2. April 1917 an der Seite der Entente in den Krieg eintrat. Innerhalb eines Jahres hat sich also die Einschätzung der kriegführenden Parteien grundlegend gewandelt. Aus der Äquidistanz war ein Partei­ ergreifen geworden, wenn auch (noch) weitgehend ohne moralische Kategorien. Erst die konkrete Kriegs­erfahrung machte das »Böse« schließlich dingfest, zumindest im Bild des preußischen Militarismus. Auch die Habsburgermonarchie hatte, nicht zuletzt durch das tschechische Exil in den USA, Sympathien eingebüßt. Dennoch  : die USA sahen die offenen Fragen pragmatisch, vielleicht auch, wie Wilsons 14 Punkte zeigen, idealistisch. Wilson konnte daher mit der scharfen Konturierung der Feindbilder, wie sie in Europa zumindest seit dem Kriegsausbruch gängige Praxis waren, wenig anfangen.2 2

Siehe dazu  : Helmut Konrad, Drafting the Peace, in  : Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, vol. 2  : The State, Cambridge 2014, 606–637.

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3. Die Traditionslinie Stickarbeiten als Tisch- oder Wandschmuck sind eine stark europäische Tradition, mit dem Ursprung in Deutschland. »Vom Deutschen Reich aus trat das Sticktuch gewissermaßen einen Siegeszug nach England, den Niederlanden, Schweden, Polen, Österreich-Ungarn bis in die Ukraine an.«3 Meist waren es Vorlagen, industriell vorgefertigt, die nur fertig bestickt werden mussten und die die Haushalte aller Schichten zierten. Ich habe konkrete Erinnerungen an die gestickten Arbeiten über dem Waschbecken im Arbeiterhaushalt meiner Großeltern, und in Bauernhäusern quer durch das Land sind sie wohl bis heute auffindbar. Sie hängen vor allem in Küchen (meist über dem Spülbecken), aber auch andere Plätze im Haus wurden damit geziert. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatten sie eine doppelte Zielrichtung, wie Heidrun Zettelbauer erläutert. Einerseits, und das wohl dominant, ging es um weibliche Tugenden, um das Zuschreiben von Geschlechterrollen, um die Trennung von außerhäuslicher Männerarbeit und innerhäuslicher Frauenarbeit. Da ging und geht es um Reinlichkeit (wohl auch Reinheit im übertragenen Sinn), um Sittlichkeit, um Haushaltsführung, um die Küche. »Schmeckt daheim der Schmaus, bleibt der Mann zuhaus.«4 Daneben aber ging es, vor allem in »national« (meint sprachnational) umkämpften Gebieten, um die Vermittlung nationaler Identität. Dies erfolgte entlang einer klaren Trennlinie von guten und schlechten Eigenschaften. Nationalspezifische Frauen­ tugenden sind Sauberkeit, Fleiß, sittlicher Lebenswandel, Sparsamkeit, Fürsorge. Zettelbauer verweist mit Recht auf die Gleichstellung von Wäscheschrank und Staat (oder eher »Volk«), auf die »Koppelung von ›Sauberkeit und Reinlichkeit‹ mit nationalen weiblichen Qualitäten«.5 Ein Beispiel, das Zettelbauer zitiert  : »So köstlich wie Geschmeide, so sorgsam aufbewahrt, ist Linnen weiß und zart / die schönste Augenweide der Frau von deutscher Art.«6 Wie auch das Liedgut, etwa in der vierten Strophe des Kärntner Heimatliedes (»Wo Mannesmut und Frauentreu die Heimat sich erstritt aufs Neu…«), wo klar ist, auf welcher Seite sich der Mut und die Treue befinden (auf der anderen Seite haben dann Feigheit und Liederlichkeit ihren Platz), schreiben die Stickarbeiten Grenzen fest. Innen und Außen haben Position bezogen, Freund und Feind sind definiert, 3 4 5 6

Heidrun Zettelbauer, »Die Liebe sei Euer Heldentum«. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt/New York 2005, 269. Ebd., 274. Ebd., 273. Ebd., 274.

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Abgrenzungen sind definiert, Machtansprüche und Territorien abgesteckt. Hell gegen Dunkel, Gut gegen Böse, Rein gegen Unrein  : es sind beantwortete Entscheidungsfragen, denen sich das (deutschsprachige) Stickwerk bedient. Sie dienen natürlich auch der Disziplinierung der Mädchen und Frauen, schreiben deren nachgeordnete Funktion in der Familienstruktur fest.7 Als pädagogische Maßnahme wurden diese Arbeiten die Stütze im Finden der eigenen Position in geschlechtsspezifischer, aber auch, und das interessiert hier besonders, in nationaler Hinsicht. Die Stickarbeiten boten Identität, stellten Werte und Hierarchien dar. Diese Art des Hausschmucks war daher gut dafür geeignet, dass Kriegsbegeisterung funktionieren konnte. Für die Männer galt es, das traute Heim vor dem Feind zu schützen, für Frauen war es Pflicht, das Linnen sauber zu halten, bis die Männer (als Sieger) zurückkehrten. In Bert Brechts »Lied von der verderbten Unschuld beim Wäschefalten« lauten ein paar Verszeilen, mit denen der revolutionäre Dichter diese Zusammenhänge verhöhnt  : »Mit Sparen und mit Fasten Erholt sich keine Frau. Liegt Linnen lang im Kasten Wird’s auch im Kasten grau… … Ich weiß, noch viel kann kommen Bis nichts mehr kommt am End. Nur wenn es nie getragen war Dann war das Linnen verschwendt.«8

Aber Brecht hatte ja schon mit seiner »Legende vom toten Soldaten« die Patrioten in Deutschland gegen sich aufgebracht.9 In diesen Zeilen hier schreibt er gegen die herrschende Norm in den Geschlechterbeziehungen an, indem er das Bild vom Linnen, dem beherrschenden Symbol für Sauberkeit und Sittlichkeit, ins Lächerliche zu ziehen versucht.

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Ebd., 273. Bertold Brecht, Lied der verderbten Unschuld beim Wäschefalten, in  : ders., Gesammelte Werke, Bd. 8  : Gedichte I, Zürich 1977, 196 ff. Bertold Brecht, Legende vom toten Soldaten, in  : ders., Gesammelte Werke, Bd. 8  : Gedichte I, Zürich 1977, 256 ff.

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4. Der Vergleich Selbstverständlich haben die Handarbeiten aus beiden Kontinenten eine vergleichbare Mission  : Sie sind politische Statements, der jeweiligen politischen Situation geschuldet und im engeren Sinn auch Instrumente der innenpolitischen Positionierung. Der Tischläufer ist wahrscheinlich weniger ein pazifistisches als ein demokratisches Statement, eine Aussage im beginnenden Präsidentenwahlkampf. Und die deutschnationalen Töne der zentraleuropäischen Küchenstickereien sind als Teil einer parteienübergreifenden (Sprach-)Nationalisierung der Gesellschaft in der Habsburgermonarchie zu lesen. Bauen die europäischen Objekte Feindbilder auf, definieren ein »Wir« und benennen das Innen und Außen, so ist das amerikanische Beispiel dem Beobachten eines damals als »europäisch« empfundenen Krieges geschuldet. Man schaut von der Ferne zu, man blickt auf einen Kontinent, aus dem die Vorfahren stammen und der den Schritt in eine aufgeklärte, gewaltfreie Welt noch nicht geschafft hat und daher in einen seltsamen Krieg versinkt. Es ist aber dennoch keine Überheblichkeit, kein Besserwissen zu erkennen, sondern man sieht eine nostalgische, verklärte Sichtweise auf etwas sonderbar gewordene Großeltern, die Werten verhaftet sind, die im modernen Amerika keinen Platz mehr haben sollen und können. Insofern wird also auch ein Gegensatz konstruiert  : das vormoderne, streitsüchtige alte Europa und die friedliche Neue Welt. Dennoch  : dem Ersten Weltkrieg in seiner (zumindest europäischen) Emotionalisierung von Berlin bis Rom, von Paris bis Wien, von St. Petersburg bis Istanbul entsprachen die Handarbeiten der europäischen Traditionslinie sehr viel besser. Der Krieg wurde im höchsten Ausmaß emotionalisiert, er brauchte die Feindbilder, das Verständnis von Recht und Unrecht, von Gut und Böse, um unter den neuen Rahmenbedingungen, unter denen ja auch die Heimatfront ganz entscheidend als Teil der Gesamtstrategie benötigt wurde, zu funktionieren. Den Amerikanern blieb das Staunen  : Sie fanden sich daher auch in den Pariser Vor­ orte-Verträgen nicht wieder (Jahre später sollte dieses Missverständnis im legendä­ren Film »Casablanca« aufgearbeitet werden  : »uns bleibt immer Paris …«). Der Weg in die Isolation war daher 1919 konsequent.

5. Wie werden Kriege interpretiert  ? Wohl alle Kriege in der Geschichte bis ins 21. Jahrhundert haben als Auslöser und als Motivator Feindbilder benötigt. Das jeweils »Andere« war barbarisch, gewalttätig, rück-

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ständig, schmutzig, rau, zügellos. Und es stellte eine Bedrohung der herrschenden Ordnung, der Religion, der Sitten und Gebräuche, des geregelten, berechenbaren Lebens dar. Kriege waren wohl selten nur ein Kräftemessen wie ein Turnier oder ein Fußball-Länderspiel, sie waren und sind nicht nur emotionale Ausnahmesituationen, sondern im Regelfall auch grundlegende weltanschauliche Konflikte. Die sogenannten »Türkenkriege« bestimmten etwa nicht nur Grenzen und Machtsphären, sondern auch die Über- oder Unterlegenheit von grundsätzlichen menschlichen Orientierungssystemen. Selbst die großen Napoleonischen Kriege am Beginn des 19. Jahrhunderts arbeiteten mit Feindbildern, mit Modernisierungshoffnungen oder -ängsten, mit Vorstellungen von Tugenden und Lastern, mit einem vorgeblichen Bedrohungspotential für die alten Ordnungssysteme. Allerdings  : nach dem finalen Sieg über Napoleon waren die Verhandlungen zur Neuordnung Europas von Begegnungen auf Augenhöhe gekennzeichnet  : »the losers sat as equals at the negotiating table«.10 Alle großen Neuordnungsversuche nach großen Kriegen, vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener Kongress, brachten nach den gewaltigen Schlachten die Konfliktparteien an einen Tisch. Emotionale Feindbilder hatten nach der Beendigung der Kampfhandlungen keine Funktion mehr. Es gab zwar Sieger und Besiegte, es ging aber eigentlich nur um die Durchsetzung (dynastischer) Interessen, und es gab Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien. Erst der Erste Weltkrieg stellte hier eine entscheidende Zäsur dar. Die Rahmenbedingungen für Kriege und für abschließende Friedensverträge hatten sich entscheidend gewandelt. All das lief im 20. Jahrhundert in einer anderen Welt ab. In dem Jahrhundert zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Ersten Weltkrieg hatte ein System, das 1815 noch top down angeordnet werden konnte, keine Chance auf eine neuerliche Realisierung auf einem Verhandlungswege. Es ging nicht mehr um dynastische Interessen, nun saßen in den einzelnen Ländern Parteien, die die Bevölkerung zumindest teilweise repräsentierten, und eine weitgehend unzensuriert arbeitende öffentliche Meinung mit am Tisch. Die Resultate mussten daher auch emotional der eigenen Bevölkerung verkaufbar sein. Diese Einbeziehung der Stimmungslage der breiten Öffentlichkeit war dem Prozess der Modernisierung zu verdanken, der neben der Industrialisierung, der Urba­ nisierung, der Säkularisierung, der Verwissenschaftlichung und der Normierung wohl auch der politischen Mitsprache zum Durchbruch verholfen hatte.11 Kriege bedurften daher zumindest teilweise der demokratischen Legitimation in Parlamenten. Nicht in Österreich, wo der Reichsrat sistiert war, wohl aber in Deutschland, wo 10 Konrad, Drafting, 606. 11 Helmut Konrad, Zeitgeschichte und Moderne, in  : Rudolf Haller (Hg.), nach kakanien. Annäherungen an die Moderne (= Studien zur Moderne 1), Wien/Köln/Weimar 1996, 23–29.

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die Frage der Zustimmung zu den Kriegskrediten die gesamte Folgegeschichte der deutschen Arbeiterbewegung präjudizierte. Die österreichische Linke hatte das Glück, zumindest formal nicht Stellung beziehen zu müssen, obwohl die Kriegsbegeisterung und Nationalisierung auch breite Kreise der Arbeiterschaft, zumindest in der veröffentlichten Meinung, erfasst hatte. In Europa war der Krieg tägliche Alltagsrealität, quer über den Kontinent. Das galt für die Schlachtfelder in Flandern oder das Isonzotal ganz besonders, und auch für Gegenden, über die der Bewegungskrieg hinwegfuhr. Aber es galt auch für das Hinterland. Da alles auf die Front hin ausgerichtet war, machten sich Hunger und Elend breit. Und es kamen erst die vielen Kriegsgefangenen, dann die Verwundeten oder die psychisch Zerstörten, die »Zitterer«, von der Front als zerstörte Existenzen nach Hause. Am Donaukanal in Wien standen Fettfischer, die großen Städte schafften die geregelte Ernährung der Bevölkerung längst nicht mehr. In den »letzten Tagen der Menschheit« ist die Frage der Lebensmittelrationierung eine der zentralen Fragen an der Sirk-Ecke.12 Nur der Glaube, auf der richtigen Seite zu stehen, für eine gerechte Sache einzutreten, für das Gute zu kämpfen, konnte die Zivilbevölkerung der Kriegsparteien bei der Stange halten. Dies vier Jahre lang und unter Opfern, die bis dahin unvorstellbar gewesen waren. Hatten Modernisierung und Globalisierung bereits zahllose Modernisierungsverlierer und Ängste, nicht zuletzt vor einer immer mobiler werdenden Bevölkerung, gebracht, was zur Hinwendung ins Vertraute, hin zur »Heimat«, hin zur Sprachnation, hin zu einer Identität, die sich über die Muttersprache definierte, geführt hatte, so waren im Krieg die Trennlinien zwischen »Uns« und den »Anderen« noch einmal scharf nachgezogen worden. Die vorangegangene Nationalisierung der Bevölkerung war dafür eine gute Basis. Es ist daher nur konsequent, wenn in den Friedensverhandlungen nach Kriegsende erstmals in der Geschichte der Terminus »Kriegsschuld«13 auftaucht, der den Verlierern allein gilt. Und ebenso konsequent geht die »Neue Welt« dazu auf Distanz. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Alltagsobjekte und Krieg, in  : Georg Kastner/Ursula Mindler-Steiner/Helmut Wohnout (Hg.), Auf der Suche nach Identität. Festschrift für Dieter Anton Binder (= Austria  : Forschung und Wissenschaft – Geschichte 13), Wien 2015, 585–596 (Lit-Verlag). 12 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, 11. Auflage, Frankfurt am Main 2008. 13 Helmut Konrad, Ein Frieden, der die Hoffnung auf Frieden begräbt  ? Die Neuordnung der Welt 1919–1922, in  : Alfred Ableitinger/Martin Moll (Hg.), Licence to Detect. Festschrift für Siegfried Beer zum 65. Geburtstag (= Schriftenreihe des Instituts für Geschichte 19), Graz 2013, 215.

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Zur österreichischen Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit (1986) In den letzten Jahren ist durch die Renaissance, die der Austromarxismus in Westeuropa zumindest kurzfristig erlebte, die Beschäftigung mit der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung international in Mode gekommen. Dies korrespondierte mit einer, in den siebziger Jahren besonders deutlichen Förderung dieses Teilgebietes der Geschichte in Österreich selbst. Selbst wenn gerade 1985 eine Trendwende bringen dürfte, nach der verstärkt auch Forschungsarbeiten zur Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg anlaufen sollten, kann die österreichische Arbeitergeschichte der Zwischenkriegszeit nunmehr als relativ gut aufgearbeiteter Forschungsbereich gelten. Die österreichische Arbeiterbewegung war, speziell in der Phase der Dominanz des Austromarxismus, vor allem eine Kulturbewegung.* Dies hat nicht nur, wie Lazarsfeld einmal bemerkte, damit zu tun, daß die Revolution von 1918/19 letztendlich scheiterte (oder richtiger  : auf der Stufe der bürgerlichen Revolution, die gegen das Bürgertum durchgeführt werden mußte, stehenblieb) und daher keine Ingenieure, sondern Psychologen benötigte, sondern auch mit dem prinzipiellen Politikverständnis der Bewegung und ihrer reformistischen Grundtendenz. Daher ist ein Gutteil der Austromarxismusforschung Arbeiterkulturforschung, Beschreibung der »Erhebung aus der geistigen Verkümmerung«, wie es schon im Hainfelder Programm formuliert wurde. Trotz eines umfangreichen Literaturangebots steht eine umfassende Darstellung der Kulturbewegung, die neben dem politischen Bereich auch den Arbeitsplatz und die Gewerkschaften einbezieht, noch aus. Dafür liegt eine Fülle von Detailarbeiten aus den letzten Jahren vor. Zudem ist durch die neue Arbeiteralltagsforschung ein Feld betreten, das im Einbringen subjektiver Erfahrungen einerseits die Arbeitsmöglichkeiten für den Historiker vervielfacht, andererseits aber auch plastischere Aussagen zum Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Realität der Kulturarbeit zuläßt.1 *

Etwas unscharf wird man unter »Austromarxismus« eine breite, durchaus nicht nur marxistische politische Richtung verstehen können, die sich ab 1907 um die theoretische Zeitschrift Der Kampf entwickelte und vor allem in der Zwischenkriegszeit mit der österreichischen Sozialdemokratie deckungsgleich gesetzt wird, obwohl dies inhaltlich nicht zu begründen ist. Als Endpunkt nimmt man allgemein die Niederlage der österreichischen Arbeiterbewegung in den Februarkämpfen von 1934 mit dem Verbot der Sozialdemokratie durch die zumindest tendenziell faschistische Regierung des Ständestaates an. – 1931 hat es über 40 Nebenorganisationen der österreichischen Sozialdemokratie mit kulturellen Zielsetzungen gegeben. In diesem Jahr wurden allein in Wien mehr als 6.000 Einzelvorträge abgehalten, daneben liefen Partei- und Gewerkschaftsschulen und die Arbeiterhochschule.

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Als 1981 ein Team junger Historiker unter der Leitung von Helene Maimann die Ausstellung »Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918–1934«1 gestaltete, die zum österreichischen Ausstellungshit jenes Jahres wurde, erwies sich die Faszination, die von einem im Idealtyp umfassenden Modell einer Gegenkultur auch heute noch für nicht geringe Teile der Öffentlichkeit ausgeht. Es war nicht nur Nostalgie, die Antriebsmotivation für den Besuch der Ausstellung lag für viele, vor allem für jüngere Besucher, im eigenen Wunsch nach einer anderen Form gesellschaftlicher Organisation. Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit als historischer Vorläufer alternativer Bewegungen von heute  ? Der Vergleich ist weit hergeholt, läßt einige prinzipielle Bereiche außerhalb des Blickfeldes, trifft aber auf der Ebene des Lebensgefühls doch wohl zu. Nicht zuletzt durch diese emotionale Nähe ist ein Teil des Forschungsbooms erklärbar, während ein anderer Teil seine Wurzeln in der traditionellen, der Arbeiterbewegung verpflichteten Parteien- und Gewerkschaftsgeschichtsschreibung hat. Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit, vor allem in ihren politischen Aspekten (eine speziell auf den Arbeitsplatz und die Gewerkschaften konzentrierte neuere Kulturgeschichte steht, wie Weidenholzer unlängst bemerkt hat2, noch immer aus), wurde von einer Studentengeneration, die in den späten sechziger Jahren ihre Abschlußarbeiten begann, als Folge der Studentenbewegung, die historische Wurzeln suchte, thematisiert. Stellvertretend für andere Arbeiten sei hier Wolfgang Neugebauers Geschichte der sozialistischen Jugendbewegung3 genannt, die 1975 in einer Publikationsreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung erschien. An diesem 1968 gegründeten Institut, das eine zentrale Forschungsund Publikationsstelle für alle einschlägigen Themen wurde, war es vor allem Josef Weidenholzer, der sich in seiner erst recht spät publizierten Dissertation4, aber auch im großen Sammelband »Bewegung und Klasse«5 und auf der Linzer Konferenz des 1

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Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918–1934. Eine Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Kulturpolitik und des Meidlinger Kulturkreises, Wien 1981 (Katalog zur Ausstellung). Josef Weidenholzer, Thesen zum Verhältnis von Partei und Gewerkschaft, in  : Erich Fröschl/Helge Zoitl (Hg.), Februar 1934. Ursachen, Fakten, Folgen (= Thema 2  : Zeitgeschichte), Wien 1984, 173. Wolfgang Neugebauer, Bauvolk der kommenden Welt. Geschichte der sozialistischen Jugendbewegung in Österreich (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien 1975. Josef Weidenholzer, Auf dem Weg zum »Neuen Menschen«. Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 12), Wien 1981. Josef Weidenholzer, Austromarxismus und Massenkultur. Bildungs- und Kulturarbeit der SDAP in der Ersten Republik, in  : Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien u.a. 1978.

Zur österreichischen Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit

Jahres 19776 der Kulturgeschichte des Austromarxismus zuwandte. Seine Aufarbeitung der Geschichte der sozialistischen Bildungszentrale ist für ihn berechtigt »weit mehr als bloß Geschichte der österreichischen Arbeiterbildung  : sie ist zu einem Gutteil auch Sozialgeschichte des Austromarxismus«.7 Wenn sich hier auch in sinnvoller Weise die Trennlinien zwischen Sozial- und Kulturgeschichte verwischen, so ist Weidenholzers Buch doch dominant Organisationsgeschichte einer Bildungseinrichtung. Ebenso ist die zweite bedeutende Arbeit zu dieser Thematik, die breit konzipiert ist, Dieter Langewiesches Buch »Zur Freizeit des Arbeiters«8 wohl in den theoretischen Abschnitten umfassend angelegt, empirisch aber auf die Bibliotheken und das Leseverhalten beschränkt. Eine umfassende Gesamtschau der österreichischen Arbeiterbewegung als Kulturbewegung liegt also immer noch nicht vor. Dabei nimmt die Zahl der Spezialuntersuchungen ständig zu. Arbeiten zur Arbeitermusik9, zum Arbeitersport10, zur Religion11, zur Schule und Schulpolitik12, zum Alltag13, zur Wohnsituation14, zum »Wiener  6 Josef Weidenholzer, Arbeiterkultur als Gegenkultur. Zur Kulturarbeit der Bildungszentrale der SDAP (1918–1932), in  : Brigitte Perfahl (Bearb.), Internationale Tagung der Historiker der Arbeiter­ bewegung (XIII. Linzer Konferenz, 1977)  : Arbeiterbewegung, koloniale Frage und Befreiungswerk bis zum Ende des 1. Weltkrieges. Arbeiterbildung unter den Bedingungen des Kapitalismus (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 12), Wien 1981.   7 Weidenholzer, Austromarxismus, 481.   8 Dieter Langewiesche, Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik, Stuttgart 1979.   9 Reinhard Kannonier, Zwischen Beethoven und Eisler. Zur Arbeitermusikbewegung in Österreich (= Materialien zur Arbeiterbewegung 19), Wien 1981. 10 Reinhard Krammer, Arbeitersport in Österreich. Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterkultur in Österreich bis 1938 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 17), Wien u.a. 1981. 11 Wolfgang Maderthaner, Kirche und Sozialdemokratie. Aspekte des Verhältnisses von politischem Klerikalismus und sozialistischer Arbeiterschaft bis zum Jahre 1938, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Neuere Studien zur Arbeitergeschichte. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. 3  : Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte, Wien 1984. 12 Hier liegen zahlreiche Arbeiten vor. Darunter  : Henriette Kotlan-Werner, Otto Felix Kanitz und der Schönbrunner Kreis. Die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher 1923–1934 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 21), Wien 1982  ; Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Entwicklung und Vorgeschichte (= Quellen und Studien zur österreichischen Geistesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert 3), Wien 1983  ; Friedrich Stadler, Vom Positivismus zur »wissenschaftlichen Weltauffassung«. Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich 1895 bis 1934 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Institutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 8/9), Wien/München 1982  ; Friedrich Stadler (Hg.), Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath – Gerd Arntz, Wien/München 1982  ; Herbert Dachs, Schule und Politik. Die politische Erziehung an den österreichischen Schulen 1918 bis 1938, Wien/München 1982. 13 Hier laufen zahlreiche Arbeiten im Oral History-Bereich, vor allem um Reinhard Sieder und Hans Safrian. 14 Michael John, Wohnungspolitische Auseinandersetzung in der Ersten Republik insbesondere au-

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Kreis«15 und zum Schutzbund16 liegen vor, zahlreiche regionale Untersuchungen17 ergänzen das Bild. Die Konturen werden bereits deutlich, die Bruchlinien, von Weidenholzer vor einem Jahrzehnt angedeutet, sind nun klar erkennbar. Die Oral History hat manche Idealisierung korrigieren können, und die 1984 besonders intensiv betriebene Ursachenforschung zum 12. Februar 1934, insbesondere die bei der Tagung im Dr. Karl-Renner-Institut18 vorgelegten Arbeiten, haben neue Erkenntnisse gebracht. Auf dieser Grundlage könnte eine breite Gesamtdarstellung heute schon aufbauen. Im Mittelpunkt der Bildungs- und Kulturarbeit der Arbeiterbewegung stand das Bemühen, »neue Menschen« zu formen, eine glücklichere, freiere, partnerschaftlichere neue Generation heranzubilden, jenseits bürgerlicher Doppelmoral und kleinbürgerlicher Zwänge, jenseits dörflich-katholischer Enge und städtisch-neureicher Scheinfreiheit. Von der Wiege bis zur Bahre, vom Wäschepaket für den Säugling bis zur Einäscherung, sollte eine umfassende Alternative zum geltenden Wert- und Normensystem entwickelt werden. Zumindest der Reproduktionsprozeß wurde voll abgedeckt  : kirchliche Feste wurden durch weltliche ersetzt, bis zu den Briefmarkensammlern, Bienenzüchtern und Schachspielern war die Freizeit in Arbeitervereinen möglich, der neue Wohnbau sollte neue Formen der Kommunikation ermöglichen, die alten Zöpfe wurden nicht nur im übertragenen Sinn abgeschnitten (die Mädchen trugen Bubikopf ). Man lernte als braver Internationalist Esperanto, hielt den Ersten Mai als höchsten Festtag. Dieses Bild, abgeleitet vom »Roten Wien« mit seinen tatsächlich beeindruckenden Erfolgen, ist aber nur ein Ausschnitt aus der Gesamtsituation der Arbeiterbewegung

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ßerhalb des Parlaments, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Neuere Studien zur Arbeitergeschichte. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Vereins für Geschichte der Arbeiter­ bewegung, Bd. 1  : Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wien 1984  ; Hans Hautmann/ Rudolf Hautmann, Die Gemeindebauten des Roten Wien 1919–1934, Wien 1980  ; Wohnen in Linz 1880–1942. Projektbericht unter der Leitung von Helmut Konrad, Graz 1985. Norbert Leser (Hg.), Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit. Ring-Vorlesung, 19. Mai – 20. Juni 1980 im Internationalen Kulturzentrum Wien 1., Annagasse 20, Wien 1981. Siehe auch Anm. 13. Karl R. Stadler, Opfer verlorener Zeiten. Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934, Wien 1974. Beispielhaft seien hier Arbeiten zur Steiermark angeführt, um nicht alle Bundesländer zu dokumentieren  : Robert Hinteregger/Karl Müller/Eduard Staudinger (Hg.), Auf dem Weg in die Freiheit. Anstöße zu einer steirischen Zeitgeschichte, Graz 1984  ; Für Freiheit, Arbeit und Recht. Die steirische Arbeiterbewegung zwischen Revolution und Faschismus (1918–1938). Wanderausstellung vom 13. Jänner bis 30. November 1984 in allen steirischen Bezirken, Graz 1984. Erich Fröschl/Helge Zoitl (Hg.), Februar 1934. Ursachen, Fakten, Folgen (= Thema 2  : Zeitgeschichte), Wien 1984.

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der Zwischenkriegszeit. Eine umfassende Sicht sollte nicht an den spektakulären zentralen Erscheinungsformen stehenbleiben, sondern auch die Bereiche jenseits der Bruchlinien einbeziehen. Diese laufen in den beiden von Weidenholzer genannten Bereichen (regionale Differenzierung  ; Verhältnis von Arbeiterpartei und Gewerkschaft), daneben aber sicherlich auch noch in nicht so deutlich erkennbaren Zonen. Dazu wären sicher die Themen  : Arbeiterkultur und Arbeiterfrau, Arbeiterkultur und »Moderne« in Musik, Theater, bildender Kunst und Wissenschaft sowie Arbeiterkultur im Generationswechsel (auch  : Arbeiter der ersten Generation und »geborener« Arbeiter) zu benennen. Für alle fünf Bereiche soll in ganz kurzen Zusammenfassungen der Versuch gemacht werden, Bildungsanspruch und tatsächliche Einlösung durch die Bewegung zu skizzieren.

1. Regionale Differenzierung Die entscheidende Bruchlinie ist sicherlich im Stadt-Land-Unterschied zu sehen. In einem nahezu unglaublichen Ausmaß konzentrierte sich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit auf Wien. Die Partei hatte in all diesen Jahren auch im gesamtösterreichischen Maßstab Massencharakter und organisierte in ihren Reihen etwa 10 % der österreichischen Gesamtbevölkerung, am Höhepunkt 1929 etwa 715.000 Menschen. Etwa jeder 2. Wähler war auch Mitglied der Partei. Während aber in Wien sich die Zahl der Mitglieder zwischen 1919 und 1929 verdoppelte, verzeichneten alle Bundesländer (mit Ausnahme des Sonderfalles Burgenland) deutliche Rückgänge. Es ist von einer »Verdichtung des sozialistischen Lagers«19 zu reden, in Wien lebte die Mehrheit der Parteimitglieder und dort gelang auch die Organisierung der Frauen am besten (38 % der Mitglieder waren in Wien Frauen). Im Gemeinderat saß eine 2/3 Mehrheit, über 60 % der Wiener entschieden sich in den Wahlen für die Sozialdemokratie. In diesem Milieu, in dem mit dem Steuerprogramm Breitners ein beispielloses (und skandalfreies) Wohnbauprogramm, ein Gesundheitswesen, ein Kindergarten- und Schulkonzept u.ä. möglich waren, konnte Arbeitersubkultur zur selbstbewußten Gegenkultur werden, die im eigenen Lebensraum und darüber hinaus so dominant war, daß ein Mitmachen und Einbindenlassen keine sozialen Risiken mit sich brachten. Man fühlte sich nicht als Außenseiter, der Gruppenrückhalt war stark genug, um sich selbst als »Bauvolk der kommenden Welt« zu begreifen, wie es im bekannten Lied heißt. Aber das war die Situation in Wien. In den Ländern, selbst in traditionellen industriel19 Weidenholzer, Weg, 25.

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len Ballungsräumen, war das Bild anders. Wohl sah das Organisationskonzept ähnlich aus. Eduard Staudinger beschreibt etwa die Existenz einer ganzen Reihe von Vereinen in der Steiermark, die den gleichen Anspruch erhoben, den ganzen Menschen zu erfassen.20 Die »Freie Schule-Kinderfreunde«-Bewegung war sogar von Graz ausgegangen. Hier gab es auch Freidenker, Naturfreunde, sozialistische Studenten, Angehörige der »Flamme«, Gesangs- und Musikvereine, Theater- und Kabarettvereine, Turn- und Sportorganisationen, Arbeiterradfahrer, den Arbeiter-Radiobund, die Abstinentenbewegung (eher schwach) und sogar Arbeiter-Jagd- und -Schützenvereine sowie einen Arbeiter-Alpine-Gebirgstrachtenerhaltungs- und Volkstänzerverein. Aber alles lief defensiver ab, man begab sich in trotzige Außenseiterrollen, das katholisch-konservative Grundmuster wurde durch das nationale Lager mindestens ebenso wirksam bedroht wie durch die sozialistischen Gesellschaftsalternativen. Welch kuriose Formen die Imitation der Wiener Gegenkultur unter diesen Umständen in der Provinz durch diese Rahmenbedingungen hervorbringen mußte, darauf hat Dieter Langewiesche in seinem Buch mit der Beschreibung von Programmabläufen bei Arbeiterfesten hingewiesen.21 Entscheidend für die Situation in den Ländern war aber nicht nur die geringe Quantität von organisierten Mitgliedern in Arbeiterorganisationen. Vielmehr wird auch beachtet werden müssen, daß diese Menschen in einer ganz anderen Traditions­ linie standen. Waren es in Wien Intellektuelle, die seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Kultur- und Bildungsarbeit der Bewegung prägten, seit das deutschnationale Lager seine liberalen Wurzeln und damit die Tradition von 1848 aufgab und mit einem rüden Antisemitismus nicht nur die Juden aus ihren Reihen vertrieb, sondern insgesamt geistige Enge dokumentierte, fehlten jene großbürgerlichen Intellektuellen in der Provinz weitgehend. Wenn man, etwas schematisch, drei Gruppen von geistigen Arbeitern in der österreichischen Sozialdemokratie ortet22, so sind die jüdischen Intellektuellen an erster Stelle zu nennen, die im politischen Spektrum eher links angesiedelt waren und aus deren Reihen sich die größte Zahl der austromarxistischen Theoretiker und Erzieher rekrutierte. Diese Gruppe war beinahe vollständig auf Wien beschränkt. Überall war hingegen die Aufsteiger-Intelligenz zu finden, meist aus ländlichem Raum stammend, 20 Eduard Staudinger, Die andere Seite des Arbeiteralltags, in  : Für Freiheit, Arbeit und Recht. Die steirische Arbeiterbewegung zwischen Revolution und Faschismus (1918–1938). Wanderausstellung vom 13. Jänner bis 30. November 1984 in allen steirischen Bezirken, Graz 1984, 133–185. 21 Langewiesche, Freizeit, 378. 22 Vgl. Helmut Konrad, Die Sozialdemokratie und die »geistigen Arbeiter«. Von den Anfängen bis nach dem Ersten Weltkrieg. in  : Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien u.a. 1978, 550 f.

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mit sozialem Gewissen ausgestattet und eher wenig marxistisch geschult. In den Ländern dominierte aber eine dritte Gruppe alter liberaler Tradition, Notare, Lehrer, Journalisten, ein Typ, der in den sechziger Jahren an der Wiege der Arbeiterbewegung gestanden war und vor allem die junge Bewegung in den Kulturkampf integriert hatte. Trotz der Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie, trotz offiziellem Sieg der marxistischen Ideologie, blieb im kleinstädtischen Milieu diese alte Allianz aufrecht. Eine Art »Lehrersozialismus« unter dem Dreigestirn sozial-nationalantiklerikal prägte die Kulturorganisationen der Arbeiterbewegung in den Bundesländern und ließ auch 1934 bzw. 1938 den Übergang zum Nationalsozialismus (und 1945 den Weg zurück) als gar nicht allzu einschneidenden Schritt empfinden. Diese Traditionslinie stand in schroffem Gegensatz zum »jüdischen Marxismus« der Metropole, was sich auch in den abweichenden Bildungs- und Kulturinhalten ausdrückte. Dazu kam, daß in den Ländern die Landesverfassungen die Bildung von Koalitionen vorschrieben oder begünstigten. Das verhinderte die klare Frontstellung Regierung-Opposition und führte zu einer stärkeren Einbindung der führenden Funktionäre in die regionalen Machtstrukturen. Eine Gegenkultur mit Breitenwirkung wurde auch dadurch verhindert. Zudem waren die Konzepte der Gegenkultur im großstädtischen Bereich entwickelt worden. Am flachen Land, in nur punktuell industrialisierten Gegenden war aber ein anderer Kontrahent zu bekämpfen als in Wien. In den Ländern war also der großbürgerlich-liberale Einfluß auf die Arbeiterbewegung nur durch einen kleinbürgerlichen abgelöst worden, der marxistisch geschulte Arbeiter blieb »außerhalb der industriellen Ballungszentren […] eine seltene Erscheinung«23. Verkürzend kann man sagen, daß es in der Provinz selten eine »revolutionäre« Phase der Geschichte gab. Die Theorie aber wurde in Wien entwickelt. Das Nichterkennen dieser Bruchlinie führte zu den seltsamsten Auswüchsen und rächte sich spätestens im Februar 1934 bitter, als sozialdemokratische Landespolitiker sich von den Kämpfen distanzierten und dem austrofaschistischen System ihre Loyalität bekundeten.

2. Partei – Gewerkschaft Sowohl Sozialdemokratie als auch Gewerkschaftsbewegung hatten schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg ihren Mitgliederstand aus der Vorkriegszeit verfünffacht. Die 23 Helmut Konrad, Die Rezeption bürgerlicher Kultur in der österreichischen Arbeiterbewegung, in  : Helmut P. Fielhauer/Olaf Bockhorn (Hg.), Die andere Kultur. Volkskunde, Sozialwissenschaften und Arbeiterkultur. Ein Tagungsbericht, Wien u.a. 1982, 57.

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Gewerkschaft hatte in der revolutionären Nachkriegsphase mit ihren großen sozialpolitischen Erfolgen die Millionengrenze an Mitgliedern überschritten24, jeder sechste Österreicher war Gewerkschaftsmitglied. Hatte damals die Gewerkschaft gut die doppelte Mitgliederzahl der Partei, so hatte acht Jahre später die Partei die Gewerkschaft überholt, da sie kontinuierlich weitergewachsen war, die Gewerkschaft jedoch, und zwar nicht nur in Krisenzeiten, Mitglieder verlor. »Hängt es nicht gar mit der Frage des Bildungswesens zusammen, daß in den letzten Jahren unter gleichen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen die Mitgliederzahlen der Partei mächtig aufwärts, die der Gewerkschaften abwärts gegangen sind  ? Ist es wirklich so etwas wie ein Naturgesetz, daß die Massen der Partei begeistert und der Gewerkschaft nur mit kühlem Herzen angehören  ?«25, fragte 1928 Richard Wagner, der führende Bildungsfunktionär der österreichischen Gewerkschaftsbewegung. Die Frage zielt in die richtige Richtung. Das Bild der »siamesischen Zwillinge«, von Victor Adler in einem Brief an Anton Hueber beschworen, das im europäischen Vergleich, wo ja das Verhältnis von Arbeiterpartei und Gewerkschaft ganz unterschiedlich aussah, nicht zuletzt durch den Zeitpunkt des Beginns der Industrialisierung, durchaus nicht unberechtigt war, kann einer internen Analyse kaum standhalten. Zu offensichtlich standen sich Pragmatiker und Ideologen gegenüber, zu deutlich zeigt sich, daß gerade in den Bildungsbestrebungen die Interessen auseinanderliefen. Wohl bestand in der Zwischenkriegszeit eine gemeinsame Bildungszentrale, aber die Gewerkschaften hielten weder ihre Zahlungsverpflichtungen ein noch nahmen sie das Bildungsangebot, z. B. über Vorträge, allzu häufig an. Während die Arbeiterkammern immerhin die bis heute bemerkenswerte sozialwissenschaftliche Studienbibliothek ins Leben riefen, hatte manche Fachgewerkschaft nicht einmal ein Bildungsbudget. Nur die Gewerkschaft der Bankangestellten tanzte hier deutlich aus der Reihe.26 Die Bildungsinteressen gingen tatsächlich weit auseinander. War die Partei um eine umfassende Bildung, um die Erziehung »Neuer Menschen« bemüht, konzentrierten sich die Gewerkschaften auf ein Studium der betrieblichen Mechanismen, um ihre Betriebsräte optimal auf die tägliche Auseinandersetzung (bzw. auf die mögliche einstige Übernahme der Entscheidungsgewalt) im Betrieb vorzubereiten. Nicht zuletzt deshalb wurde ab 1926 der Arbeiterhochschule der Partei eine Gewerkschaftsschule27 entgegengesetzt, die zwar für ganz Österreich konzipiert war, aber nur in Wien tat24 Weidenholzer, Weg, 21; allerdings in Richtigstellung der Legende zur Tabelle. 25 Richard Wagner, Unsere freigewerkschaftliche Bildungsarbeit. Bemerkungen anläßlich des österrei­ chischen Gewerkschaftskongresses, in  : Bildungsarbeit 15 (1928), 110. Zit. nach  : Weidenholzer, Weg, 239 f. 26 Weidenholzer, Weg, 222. 27 Ebd., 228 ff.

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sächlich anlief. Drei Jahre lang besuchten überwiegend junge Funktionäre (ca. 85 % waren unter 30) an zwei Abenden pro Woche diese Ausbildung für künftige Spitzenfunktionäre, in der prominente Vortragende wie Richard Wagner und Benedikt Kautsky mitwirkten und bei der man versuchte, die Kriterien eines modernen partizipatorischen Unterrichts nach den Ideen von Otto Glöckel wirksam werden zu lassen. Ist eine arbeitsteilige Bildungspolitik an sich einsichtig und vielleicht sogar günstig, so war dies für die österreichische Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit zumindest aus zwei Gründen problematisch. Einerseits dokumentiert sich darin ein Spannungsverhältnis, das der Gesamtstärke der Bewegung abträglich war, andererseits gelang es nicht, die Ideen des Austromarxismus in den Betrieben, im Produktionsbereich zu verankern. Damit waren auch alle Bemühungen, umfassende Wehrkonzepte der Arbeiterbewegung zu erstellen, in denen sich im Konfliktfall nicht alles nur auf den Republikanischen Schutzbund konzentrieren sollte, wie es Theodor Körner vorschlug, hinfällig. Die Rechnung wurde im Februar 1934 präsentiert.

3. Die Frauenfrage Da dieser Thematik ein eigener Beitrag in diesem Band gewidmet ist, sollten hier rudimentäre Bemerkungen ausreichen. Auf den relativ hohen Organisierungsgrad der Frauen in der Sozialdemokratie wurde schon hingewiesen. In der Gewerkschaft war der Frauenanteil geringer, betrug aber immerhin 20 %. Auch an den Bildungsveranstaltungen, sogar an der langen Gewerkschaftsschule, nahmen die Frauen etwa ihrem Mitgliederanteil entsprechend teil. Die Revolution von 1918/19 hatte die politische Gleichstellung der Frau gebracht, die wichtigsten Forderungen der bürgerlichen und der sozialistischen Frauenbewegung wurden erfüllt. »Das sozialdemokratische Ideal der ›proletarischen Weiblichkeit‹ war widersprüchlich  : Einerseits bezog man die Frau in die politische und gewerkschsaftliche Arbeit ein und propagierte die sporttreibende, gesundheitsbewußte Frau, die einen ›Bubikopf‹ trug und bequeme, kniefreie Kleider bevorzugte  ; andererseits wurden weiterhin ihre traditionellen Aufgaben als Hausfrau und Mutter hervorgehoben. Sauberkeit, Häuslichkeit und ›freundliches Benehmen‹, so hieß es oft in der Wochenzeitschrift Die Unzufriedene, würden den Mann vom Wirtshaus abhalten, mehr an die Familie binden und zum guten Kameraden der Frau machen.«28

28 Mit uns zieht die neue Zeit, 210.

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Je weiter an die »Basis« die Forschung gerade zu den Lebensverhältnissen der Arbeiterfrau vordringt, desto stärker wird erkennbar, daß der Traum vom »Neuen Menschen« dort wenig Entsprechung hatte. Pläne wie das Einküchenhaus blieben Einzelvorhaben, die Realität der Gemeinschaftswaschküchen in den Gemeindebauten Wiens war weit von dem damit verbundenen emanzipatorischen Grundgedanken entfernt.29 Und auch hier wirkte der Stadt-Land-Gegensatz  : die Möglichkeiten für emanzipatorische Ansätze waren in Wien doch deutlich größer. Unter dem kleinbürgerlichen »Lehrersozialismus« des flachen Landes blieb die Gleichstellung der Frau nicht einmal theoretische Forderung. Ziel der männlichen Arbeiter war es, eine Familie erhalten zu können. Die arbeitende und verdienende Frau schien kein wünschenswerter Zustand, die Möglichkeit, vorschulpflichtige Kinder außer Haus zu versorgen, war (und ist bis heute  : im Land Vorarlberg gibt es einen einzigen Ganztagskindergarten) entscheidend eingeengt. Unter der Devise »arm, aber sauber« wurde geschlechtsspezifisch erzogen, »Neue Menschen« wuchsen unter diesen Bedingungen wohl nicht heran. Und während in Wien 38 % der Parteimitglieder Frauen waren, blieb der Organisationsgrad am Land deutlich zurück.

4. Das Verhältnis zur »progressiven« Kunst und Wissenschaft Wenn progressive Künstler in Österreich in den Jahren zwischen den Weltkriegen überhaupt eine politische »Heimat« hatten, so war diese zweifellos, nicht zuletzt durch das Fehlen einer relevanten kommunistischen Bewegung, in der Wiener Sozialdemokratie. Literatur (von Karl Kraus bis Robert Musil), bildende Kunst (von Hanak bis Wotruba im Bereich der Plastik, bis zum Dadaismus in der Malerei), moderne Musik (Webern, Schönberg) standen in einem Nahverhältnis zur Arbeiterbewegung. Und als 1927 eine scharfe antimarxistische Propaganda vor den Wahlen gegen die Sozialdemokratie einsetzte, plakatierten 39 Intellektuelle, unter ihnen Sigmund Freud, Alfred Polgar, Hans Kelsen und Robert Musil eine »Kundgebung des geistigen Wien«30 für die Arbeiterpartei. Der »Wiener Kreis« versuchte wissenschaftliche Ergebnisse auch den Arbeitern nahezubringen, Otto Neurath entwickelte mit Gert Arntz dazu für sein Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum die Bildstatistik,

29 Gottfried Pirhofer/Reinhard Sieder, Zur Konstitution der Arbeiterfamilie im »Roten Wien«. Fami­ lienpolitik, Kulturreform, Alltag und Ästhetik, in  : Michael Mitterauer/Reinhard Sieder (Hg.), Historische Familienforschung, Frankfurt am Main 1982. 30 Mit uns zieht die neue Zeit, 160.

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die Sozialwissenschaften wurden, wie in der berühmten Marienthal-Studie31, direkt von den Fragestellungen der Arbeiterbewegung beeinflußt. Das Verhältnis von progressiver Kunst und Wissenschaft zur Arbeiterbewegung schien also problemlos zu sein. Dennoch zeigen sich bei näherer Betrachtung Widersprüche. So ging es den Bildungsfunktionären, etwa David Josef Bach32, in der Musik vor allem darum, den Arbeitern die Werte klassischer Musik näherzubringen. Neue Formen, wie sie etwa im revolutionären Rußland versucht wurden33, die Übereinstimmung neuer Texte mit neuen musikalischen Ausdrucksmitteln, konnte in Österreich nicht wirklich Fuß fassen, trotz einiger eindrucksvoller Weihefestspiele, etwa zur Arbeiterolympiade im Jahr 193134, oder dem Versuch, auf den Fabrikssirenen von Linz die Internationale zu intonieren. Gerade in der Musik war die Politik der Kulturverantwortlichen auf die Rezeption traditioneller Werte stärker fixiert als auf gegenkulturelle Eigenständigkeit. Widersprüche taten sich auch immer dann auf, wenn moderne Kunst den Vorstellungen sozialistischer Moral nicht voll entsprach. Ein treffendes Beispiel war das Verhalten der Wiener Sozialdemokratie beim sogenannten »Reigen-Skandal«, den Schnitzlers vielgespieltes Stück auslöste. »Sexualangst als politisches Syndrom der Ersten Republik«35 nennt Alfred Pfoser seine ausführliche Darstellung zu den Vorfällen. Wenn auch dabei in erster Linie das Bürgertum und seine Parteien ins Schußfeld der Kritik geraten, so zeigte sich dennoch die Sorge der Sozialdemokraten, sich einer Moraldebatte zu stellen. Bürgermeister Seitz schob Verfassungsfragen und Kompetenzkonflikte zwischen Bund und Stadt Wien vor36, die heißen Fragen, die im Protest gegen die Aufführungen laut wurden, wie der Konnex zwischen Judentum und sexueller Ausschweifung, wurden ausgespart. Dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil man auch um den latenten Antisemitismus in den eigenen Reihen wußte. So geriet die Verteidigung Schnitzlers eher weich und halbherzig, weil zwei Tabuzonen, Judentum und Sexualität, berührt waren. Aber all dies stellte außerhalb Wiens, wo die katholisch31 Maria Jahoda/Paul Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, Leipzig 1933 (Neuauflage Frankfurt am Main 1978). 32 Henriette Kotlan-Werner, Kunst und Volk. David Josef Bach. 1874–1947 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 6), Wien 1977. 33 Kannonier, Beethoven, 62–67. 34 Mit uns zieht die neue Zeit, 90. 35 Alfred Pfoser, Der Wiener »Reigen-Skandal« – Sexualangst als politisches Syndrom der Ersten Republik, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Neuere Studien zur Arbeitergeschichte. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. 3  : Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte, Wien 1984. 36 Ebd., 680.

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konservative Propaganda gegen den Sündenpfuhl Wien wetterte (den Nacktbadern in der Wiener Lobau stand etwa das Verbot in Tirol gegenüber, daß Männer und Frauen gleichzeitig ein Schwimmbad benützen), und wo die Sozialdemokratie aus Rücksicht auf die Grundhaltung ihrer eigenen Anhänger keine offensive Verteidigung dieser Zustände wagen konnte, noch krasser dar.

5. Arbeiterkultur im Generationswechsel In Wien war am Ende des Ersten Weltkriegs der Urbanisierungsprozeß längst abgeschlossen. Die Stadt hatte sogar ihren Höhepunkt an Einwohnern bereits überschritten. Der Umstand, daß 1919 schon jeder dritte Österreicher in Wien lebte, ließ ein weiteres Wachstum der Stadt nicht zu. Wohl pendelten Arbeiter tage- oder wochenweise ein  ; Anteil am gegenkulturellen Leben in der Stadt hatten sie aber kaum. Die Trägerschicht des »Roten Wien« waren also Arbeiter der zweiten oder dritten Generation, »geborenes Proletariat«, Menschen, deren Lebenserwartungen und Zukunftshoffnungen sich innerhalb der Klassengrenzen bewegten. Menschen, für die es selbstverständlich war, daß sozialer Aufstieg nur kollektiv zu erreichen war. Wohl waren auch diese Arbeiter Wiens eine heterogene Gruppe, da die Großindustrie nicht dominant war. Kleingewerbe überwog, unter den Frauen waren viele Hausgehilfinnen mit ihren speziellen geistigen Fluchtmechanismen aus dem Elend, etwa dem Kolportageroman.37 Aber insgesamt stellten sie nach außen hin die geschlossene Mehrheit der Stadt, und außerhalb der Nobelbezirke prägten ihr Lebensstil, ihre Architektur, ihre Gärten, Schulen und Bäder das Stadtbild. Ähnliche Geschlossenheit war in alten Industrieorten in den Ländern anzutreffen, manchmal mit sogar größerer innerer Homogenität. Die Arbeiter der Waffenfabrik bestimmten etwa seit einem halben Jahrhundert das Stadtbild in Steyr, Oberösterreich. Hier funktionierten auch regionale Gegenkulturen, sogar über große Krisen hinweg, und nicht zufällig sind diese Orte auch die wichtigsten Kampfzentren im Februar 1934. Ansonsten überwog in den Ländern aber der Arbeiter mit kleinbäuerlicher oder bäuerlicher Verwurzelung, oft Pendler, der am Abend oder am Wochenende weitab vom Arbeitermilieu lebte. Die Zukunftspläne dieser Menschen waren noch häufig, zumindest für die Kinder, auf eine Existenz außerhalb der Fabrik gerichtet. Die Religion bildete noch einen wichtigen Orientierungsfaktor im Leben. Obwohl Österreich 1918 bis 1933 keinesfalls eine Industrialisierungswelle erlebte, war dieser »Arbeiter 37 Vgl. etwa  : Marina Tichy, Alltag und Traum. Leben und Lektüre der Dienstmädchen im Wien der Jahrhundertwende (= Kulturstudien 3), Wien/Köln/Graz 1984.

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der ersten Generation« eine häufige Erscheinung. Oft ersetzte er auch den aus politischen Gründen entlassenen gewachsenen Arbeiter, etwa beim Großbetrieb der Alpine in der Steiermark. Für diese Menschen war die Kulturkonzeption des Austromarxismus eher bedrohend. Die Perspektive, »Neue Menschen« zu werden, hatte wenig an Reiz, vorindustrielle Ideale wirkten stärker. Und für diese Arbeiter, daneben aber auch für die große, sträflich vernachlässigte Gruppe der Landarbeiter, gab es keine Kultur- und Bildungsangebote, die auf deren Bewußtseinsstand aufgebaut hätten. In dieser Richtung war die Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit in Österreich elitär. Dies war mit ein Grund, daß der Sozialismus in diesen beiden Jahrzehnten trotz seiner eindrucksvollen Erfolge nie mehrheitsfähig wurde.

6. Die weitere Entwicklung Jede Betrachtung der Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit wird in die Überlegungen einbeziehen müssen, wie knapp bemessen der Zeitraum für die Herausbildung der Kulturformen und die Erziehung zu »Neuen Menschen« war. Besonders aus der heutigen Perspektive von mehr als vier Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte wirkt das knappe Jahrzehnt, das damals zur Verfügung stand, extrem kurz. Zu Beginn der zwanziger Jahre waren die Rahmenbedingungen festgelegt und die Theorie entwickelt. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 signalisierte schon das Ende. Formal kam in Österreich der Endpunkt legal organisierter sozialistischer Arbeiterkulturformen mit der Niederlage im Februar 1934. Das austrofaschistische System verbot die Organisationen, »säuberte« die Bibliotheken, errichtete Anhaltelager und trieb gute Teile der Führungsgarnitur ins Exil. Das Dollfuß-Schuschnigg-Regime von 1934 bis 1938 unterschied sich aber in entscheidenden Punkten vom nationalsozialistischen Herrschaftssystem in Deutschland. In Österreich gelang nicht einmal eine punktuelle ökonomische und soziale Befriedung der Arbeiterklasse. Die deflationistische Wirtschaftspolitik ließ einen Abbau der Arbeitslosigkeit nicht zu, und eine auch nur partielle Einbindung der ehemals sozialistischen Arbeiter ins System wurde dadurch unmöglich. Das Verhalten der österreichischen Arbeiter in den auf den Februar 1934 folgenden Monaten und Jahren war zu nicht geringen Teilen von den sub- und gegenkulturellen Erfahrungen des vorangegangenen Jahrzehnts geprägt. In Wien und in den industriellen Ballungsräumen des Landes gab es heftige Kritik am »Versagen« der Parteiführung, an ihrem Zögern und am zu späten, halbherzigen Kampf. Wenn aber Konsequenzen gezogen wurden, so ging der Weg nach links, zur seit 1933 illegalen

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Kommunistischen Partei Österreichs, die in den 12 Jahren ihrer Illegalität sogar in absoluten Zahlen stärker war als vor 1933 und nach 1945. Der größte Teil der Arbeiter blieb aber bei den zwei damals typischen Verhaltensmustern von Sozialdemokraten  : dem passiven Rückzug der »alten« Sozialdemokraten und dem aktiven Auftreten in der Illegalität der »Revolutionären Sozialisten«. Dem sogenannten »Ständestaat« gelang es nicht, die gegenkulturellen Bindungen zu zerschlagen und Zustimmung oder Unterstützung aus den Reihen der ehemaligen Sozialdemokratie zu gewinnen. Sogar die weiterexistierenden Arbeiterkammern konnten, trotz eines Austausches der entscheidenden Personen, partielle Anlaufstellen für linke Regimegegner bilden, und in den letzten Monaten der österreichischen Eigenstaatlichkeit mußte das Regime von sich aus das Gespräch mit der illegalen Arbeiterbewegung suchen, um der drohenden Gefahr einer Annexion Österreichs zumindest im Inneren des Staates eine mehrheitsfähige Ablehnungsfront entgegenstellen zu können, die allerdings durch den Druck der letzten Tage vor dem »Anschluß« nicht mehr wirksam werden konnte. Ganz anders lief es in den Bundesländern. Man wird heute wohl eingestehen müssen, daß der 1934 ebenfalls illegale Nationalsozialismus eine große Anziehungskraft auf Teile der Arbeiterbewegung ausübte, besonders durch seine aktivistische bis terroristische Arbeit gegen den Austrofaschismus. Zudem konnten die wirtschaftlichen Erfolge im Deutschen Reich propagandistisch umgesetzt werden. Nationalsozialisten und Sozialdemokraten saßen gemeinsam in Gefängnissen oder im Anhaltelager, waren gemeinsam antiklerikal und gegen den klerikalen Staat, waren deutschnational und, zumindest angeblich, auch sozial. Und so gab es zahlreiche Übertritte von Sozialdemokraten in die illegale NSDAP, besonders aus dem Kreis der jüngeren Aktivisten. Angeblich sollen geschlossene Schutzbundformationen übergewechselt sein. Dem Werben der Nationalsozialisten, vor allem nach dem Juliputsch 1934 (»Das Blut des Februar und das Blut des Juli«) widerstanden in der Provinz vor allem jene Sozialdemokraten, denen jede Form von Gewalt in der Politik suspekt war, und die von den nicht weniger als 1.530 Terrorakten38 der Nationalsozialisten in den Monaten Februar bis Juli 1934 abgeschreckt wurden. In den vier Jahren des sogenannten Ständestaates gingen 22 Attentate, Fememorde und Bombenanschläge auf das Konto der Nationalsozialisten, während alle linken Gruppierungen sich gänzlich von diesen extremsten Formen der politischen Gewalt fernhielten.39 Nach dem März 1938 aber konnten auch in Wien die Formen gegenkulturellen Handelns nicht mehr aufrechterhalten werden. Eine große Gruppe von Trägern ­dieser 38 Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche. Unruhen in Öster­reich 1918–1938, 2. Auflage, München 1983, 259. 39 Ebd., 277.

Zur österreichischen Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit

Kultur mußte ins Exil, viele wurden verhaftet, andere resignierten. Die Revolutionären Sozialisten, in deren Reihen sich die aktiven Sozialdemokraten nach 1934 gefunden hatten, vermieden ab sofort zusammenhängende Organisationsarbeit, nur die Kommunisten hielten unter ungeheuren Opfern eine illegale Parteistruktur aufrecht. In den Konzentrationslagern waren es aber die alten Solidaritätsformen, verbunden mit dem Glauben an die bessere Zukunft, die »Vernunft der Geschichte«, die manchmal das Überleben ermöglichten. Daß nach 1945 nicht mehr an die alten Formen der Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit angeknüpft wurde oder werden konnte, hat ein ganzes Bündel von Ursachen. Zum Teil decken sie sich mit denen, die Adelheid von Saldern in ihrem Beitrag zur deutschen Situation anspricht. In Österreich kommt aber zweifellos noch hinzu, daß es 1945 lebensnotwendig war, sich als Opferstaat des Nationalsozialismus zu präsentieren und innenpolitisch jede Konfrontation zu vermeiden, um das außenpolitische Ziel, Souveränität und ungeteiltes Staatsgebiet, erreichen zu können. Der oft beschworene »Geist der Lagerstraße«, der sich politisch in der Großen Koalition und im Wirtschaftsbereich in Vorformen der Sozialpartnerschaft niederschlug, ließ ein deutliches Aufzeigen der Interessenskonflikte nicht mehr zu. Zudem hatten die österreichischen Arbeiter wie auch die anderen Bevölkerungsgruppen genug von extrovertierten Formen der Politik, die den ganzen Menschen zu erfassen versuchten. Schließlich weist die österreichische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch zumindest eine Bruchlinie mehr auf als die deutsche. In weniger als 30 Jahren mußte man in fünf unterschiedlichen politischen Formen mit unterschiedlichen Wert- und Normensystemen leben, und dies zumindest in drei auch geographisch grundverschiedenen Staaten. Politische Brüche waren aber nur zu oft auch Brüche in den individuellen Biographien. Nur zu gerne wurde daher in Österreich die nach 1945 gebotene Möglichkeit einer Verdrängung von Geschichte und aktueller Politik durch Zukunftsorientierung, Aufstiegsideologie und Wachstumsgläubigkeit genutzt.40 In einer neobiedermeierlichen Privatheit verschwanden die Formen der Solidarität, die die Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit geprägt hatten. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Zur österreichischen Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit, in  : Friedhelm Boll (Hg.), Arbeiterkulturen zwischen Alltag und Politik. Beiträge zum europäischen Vergleich in der Zwischenkriegszeit (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, Linz), Wien/München/Zürich 1986, 89–100 (Europa Verlag). 40 Zu den Konsequenzen siehe  : Helmut Konrad, Zum österreichischen Geschichtsbewußtsein nach 1945, in  : Rudolf Altmüller u.a. (Hg.), Festschrift/Mélanges Felix Kreissler, Wien/München/Zürich 1985.

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Das Rote Wien Ein Konzept für eine moderne Großstadt  ? (2008)

Im 20. Jahrhundert war Wien zweimal exemplarisch für das Erscheinungsbild urbaner Räume in Europa. Da ist erstens Wien um 1900, jene Epoche, in der sich – vor allem im Zentrum – das kulturelle Wien als »Traum und Wirklichkeit«1 entfaltete. Und dann sind da die 20er-Jahre, als die Vorstädte zum Schauplatz jenes sozialen und kulturellen Experiments wurden, das man das »Rote Wien« nennt. Man könnte dies als Gegensatzpaar zeichnen  : Auf der einen Seite die Künstler, Intellektuellen, Großbürger und deren Kinder, die das Potenzial der brüchigen und multiplen Identitäten im Zentraleuropa der Jahrhundertwende exemplarisch verdichteten und die Kultur (in ihrem weitesten Sinn) in weltweit bewunderte Höhe führten. Und auf der anderen Seite die Masse der arbeitenden Menschen, die Sozialpolitiker, für die und mit denen die »kommende Welt«2 in den Gemeindebauten der Vorstädte ein Stück weit Realität werden konnte. Damals wie heute bilden Ringstraße und Gürtel zwei Linien, die die Stadt strukturieren, sie sozial segmentieren. Diese Linien könnten auch als Bruchlinien zwischen den unterschiedlichen Kulturen der Stadt gesehen werden. Diese beiden Geschichten sind jedoch keine schroffen Gegensätze, nicht einmal Parallelwelten, sondern auf vielfache Weise miteinander verwoben, einander bedingend. Nicht einmal die chronologische Trennung ist schlüssig. Zwar ist am Diagramm von Zeit und Ort das Wien des Fin de Siècle früher angesiedelt und auf das Zentrum fixiert  ; das Rote Wien folgt und bringt die Peripherie ein. Es gilt aber, die Überlappungen und die Kontinuitäten aufzuzeigen  : Das Rote Wien wäre ohne die kulturelle und intellektuelle Hochblüte der Jahrhundertwende undenkbar gewesen, es ist zu keinem geringen Teil auch Erbe jener großen Zeit. Gleichsam als notwendige andere Seite der Medaille hat es aber schon vor dem Ersten Weltkrieg zu wachsen begonnen.

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Das war der Titel einer eindrucksvollen Ausstellung (Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930), die 1985 in Wien zu sehen war und dann auf Welttournee ging. Wolfgang Neugebauer, Bauvolk der kommenden Welt. Geschichte der sozialistischen Jugendbewe­ gung in Österreich (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbei­ terbewegung), Wien 1975. Der Titel ist dem Wiener Arbeiterlied »Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt« entlehnt.

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Auf dem Weg zur modernen Metropole Die Geschichte Wiens als Zentrum eines Vielvölkerstaates ist eine lange. Unser Augenmerk gilt hier der Herausbildung der modernen Stadt, wie sie sich mit dramatischer Geschwindigkeit in den fünf Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg vollzog. Über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg hat sich die Einwohnerzahl Wiens versiebenfacht,3 allein in den drei letzten Jahrzehnten verdoppelt. Das bedeutete etwa 30.000 Zuwanderer pro Jahr  ; dem entsprechend hatten zwei Drittel der Bewohner von Wien anderswo ihr Heimatrecht. Nun wuchsen auch andere Städte in dieser Zeit dramatisch  ; Steyr etwa, bedingt durch die Industrieentwicklung, sogar noch eindrucksvoller.4 Aber in Wien waren die Migrationsgründe vielfältiger, die Herkunft differenzierter. Auf dieser Vielfalt und den damit verbundenen unterschiedlichsten Erwartungshaltungen und Ängsten, sowohl der Zuwanderer als auch der ansässigen Wohnbevölkerung, baute die Wiener Moderne mit ihrer Plurivalenz5 auf. Mit der wachsenden Zuwanderung ging allerdings nicht auch eine vergleichbare Vermehrung des Wohnraums einher. So wurde in diesen Jahrzehnten die Stadt doppelt aufgefaltet.6 Die Prachtbauten der Ringstraße, der »eloquenteste Ausdruck der bürgerlichen Macht«,7 konnten mit ihren vielfachen historischen Zitaten den konservativen Geschmack treffen  ; hier manifestierte sich die erste Faltung  : Innerhalb des Rings saßen der alte Adel und das neue Großbürgertum, außerhalb davon die Beamten, Kaufleute und andere Kleinbürger. Die äußeren Vorstädte, jenseits der zweiten Faltlinie, also des Gürtels, waren dominant proletarisch. Und das bedeutete meist auch  : nicht deutschsprachig. Hier wurde das flache Land überformt. 1904 wurde Floridsdorf eingemeindet, das traditionelle Auffangbecken der Stadt bildete jedoch Simmering.8 In diesen Vorstädten regierte einerseits das Chaos des industriellen Konkurrenzkampfes, anderseits lassen sich durchaus auch Ansätze einer modernen, gleichsam amerikanisierten Stadtplanung erkennen, die man bis heute von Karten ablesen oder auch real erwandern kann. 3

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Wolfgang Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in  : Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3  : Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2006, 177. Dies ist die derzeit umfassendste und fundierteste Darstellung der Epoche. Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981, 32. Zur Gesamtthematik der »Wiener Moderne« siehe die umfassende Literatur aus dem Spezialforschungsbereich »Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900«, Graz 1993 bis 2005. Maderthaner, Zeit, 180. Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München u.a. 1984, 30. Maderthaner, Zeit, 186.

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Speziell an den Randzonen herrschte das nackte Elend. Hier machte Victor Adler als Armenarzt jene Erfahrungen, die ihn politisch entscheidend prägten. Aber selbst wo Menschen nicht, wie von Adler beschrieben, in aufgelassenen Ziegelöfen hausten, herrschte extreme bauliche Enge. Die Mieten waren dennoch kaum leistbar. In diesen Widersprüchen von Arm und Reich, von Elend und Glanz entfaltete Wien seine politische und kulturelle Eigenart. Politisch erhielt Wien seine Prägung durch die bis 1894 dauernde liberale Ära. In der autonomen Stadt konnte der großbürgerliche und deutschnationale Liberalismus seine gestalterischen Prinzipien umsetzen. Deutschnational bedeutete damals noch keineswegs antisemitisch, im Gegenteil  : Das aufgeklärte und assimilationsbereite Wiener Judentum prägte die politische Richtung entscheidend mit. Die moderne Großstadt des Liberalismus fand allerdings keine Antwort auf das Elend der Vorstädte, mehr noch  : Das Problem wurde nicht wirklich ins Blickfeld gerückt. Zu funktionieren hatte die Wirtschaft. So regulierte man die Donau, baute die erste Hochquellwasserleitung, errichtete den Zentralfriedhof, sicherte die Versorgung der Stadt über Lagerhäuser und Zentralmärkte, erweiterte die Kanalisation, baute Straßen und errichtete Schulen. Vor allem aber inszenierte sich das Bürgertum innerhalb der Ringstraße und auch bei der Weltausstellung im Wiener Prater. Mit der Ausstellung entstanden die großen Luxushotels, die fürderhin die Prachtwohnungen in den Palais an der Ringstraße ergänzten. Repräsentation und Funktionalität waren jene Eckpfeiler, die das liberale Wien prägten. In der Phase der Entwicklung hin zur modernen Großstadt wirkten vor allem auch Künste und Wissenschaften. Hermann Bahr und Gustav Mahler stehen stellvertretend für die Kunst dieser Zeit, Johann Strauß personifiziert sie in gewisser Weise sogar  :9 Sein »Donauwalzer« von 1867 dient bis heute als eine Art Kennmelodie nicht nur der Epoche, sondern der Stadt als Ganzes. Mitten im Glanz der Epoche entfaltete sich nun, als eine Reaktion auf die als »Judenpartei« empfundene liberale Bewegung, die spezifische Form des Wiener Antisemitismus. Nur hier, wo er auch die katholische Antwort auf den Liberalismus war, speiste sich der Antisemitismus sowohl aus den traditionellen christlichen Wurzeln als auch aus der kulturellen Gegenaufklärung – einer Art Antimoderne. Zielgruppe war das Kleinbürgertum, waren Modernisierungsverlierer, die ihren Ressentiments gegen »die Juden« nun in einer populistischen Bewegung Luft machen konnten. 1891 formte Lueger aus diversen Strömungen die Christlichsoziale Partei, mit der er 1895 die Gemeinderatswahl gewann und – nach anfänglicher Verweigerung der kai9

Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass sein Leben durchaus nicht immer im Einklang mit der Stadt und der Zeit verlief.

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serlichen Zustimmung – 1897 schließlich auch den Bürgermeistersessel erklimmen konnte. Trotz seiner antisemitischen Grundposition ist Luegers Beitrag zur Geschichte ­Wiens nicht unerheblich. Er verband kulturell reaktionäre Positionen mit bedeutenden kommunalen Modernisierungen, die sogar als »Kommunalsozialismus«10 bezeichnet wurden. Lueger konzentrierte sich auf die zentralen Infrastrukturbereiche Strom, Gas und Verkehr, regte die Schaffung einer kommunalen Rentenversicherungsanstalt an, gründete die Zentralsparkasse und vergrößerte den Zentralfriedhof … Leistungen, die ebenso im Gedächtnis der Wiener verankert sind wie die Errichtung der zweiten Hochquellwasserleitung, der Bau von städtischem Gaswerk und Stadtbahn, die Elektrifizierung der Straßenbahnen. Auch das Versorgungsheim Lainz (heute Geriatriezentrum Am Wienerwald) geht auf diesen Abschnitt der Kommunalpolitik zurück. Populismus, Antisemitismus, das Ansprechen der »kleinen Leute« – das begründete den Zuspruch zur »Hausherrenpartei«, deckte sie damit doch jenes große Segment der städtischen Bevölkerung ab, dem der Liberalismus zu großbürgerlich, zu »verjudet« war und das gleichzeitig Ängste vor der die proletarischen Massen ansprechenden Sozialdemokratie hatte, die seit dem so genannten »ersten 1. Mai« 189011 im öffentlichen Raum deutlich sichtbar war. Dass die Christlichsoziale Partei trotz reaktionärer gesellschaftspolitischer und kultureller Positionen gleichzeitig so nachhaltig modernisierte, fand im Stadtbild bleibenden Niederschlag. Möglich machte die Modernisierung ein neu geschaffener Beamtenapparat, dessen Handlungen andererseits jedoch ganz deutlich Klientelpolitik erkennen ließen  : Unliebsame Personen, etwa sozialdemokratische Lehrer, wurden segmentiert.12 Karl Lueger dominierte Wien im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Neben seiner Politik und teilweise dagegen blühte das Wien des Fin de Siècle in Kunst und Wissenschaft auf. Exemplarisch verdichtete sich hier die Moderne. »Die Residenzstadt des autokratischen Habsburgerkaisers Franz Joseph beherbergte zur gleichen Zeit Sigmund Freud, Gustav Mahler, Leo Trotzki und Adolf Hitler.«13 Zentralen Schaltstellen gleich, inhalierten die Kaffeehäuser, etwa das Café Central, die Literatur der Kronländer. Robert Musil, Elias Canetti, Karl Kraus, Arthur Schnitzler und andere stehen heute für die Literatur der Metropole. Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein, Ernst Mach, Karl Popper, Karl Menger, Hans Kelsen seien exemplarisch für 10 Maderthaner, Zeit, 222. 11 Julius Braunthal, Victor Adler, in  : Norbert Leser (Hg.), Werk und Widerhall. Große Gestalten des österreichischen Sozialismus, Wien 1964, 19. 12 Markus Eckert, Otto Glöckel, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Graz 2007. 13 Maderthaner, Zeit, 231.

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die Wissenschaft genannt, Egon Schiele, Gustav Klimt oder Oskar Kokoschka für die Malerei. Ein guter Teil der Genannten und viele mehr, etwa Arnold Schönberg, Theodor Herzl, Otto Neurath, Otto Bauer, Billy Wilder, hatten einen assimilierten jüdischen Hintergrund und waren daher auch auf Distanz zu Karl Lueger. Teilweise sollten sie in die Nähe des Austromarxismus geraten, der schon vor dem Krieg bestimmend wurde. Lueger starb 1910, ab 1911 war die Sozialdemokratie stärkste politische Kraft der Stadt, wenn auch vorläufig »nur« bei Parlamentswahlen. Die Periode der Vorherrschaft christlichsozialer Politik war – so wurde nun deutlich – an ihr Ende gekommen. Die Sozialdemokratie der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg wird meist als zentralistische politische Bewegung wahrgenommen. Sie war jedoch voller Widersprüche. Nicht nur der Gegensatz Großstadt / flaches Land oder aber die nationalen Trennlinien14 segmentierten die linke Politik, auch die vielfältigen unterschiedlichen sozialen, politischen und kulturellen Segmentierungen der Stadt selbst drückten sich politisch aus. Allein in Wien lassen sich zumindest vier ganz unterschiedliche Gruppen erkennen. Da gab es erstens die Austromarxisten im engeren Sinn, jene dominant männlichen Theoretiker und Gelehrten, die sich um die Zeitschrift Der Kampf 15 gruppierten und die die österreichische Spielart des Marxismus – nicht ökonomistisch, sondern vielmehr stark kulturell und vor allem an der nationalen Frage interessiert – entwickelten. Die pragmatischen Gewerkschaften, national bereits gespalten,16 bildeten zweitens dank ihres hohen Organisationstalents das Rückgrat der Bewegung. Die dritte Gruppe bestand aus den lenkbaren Massen der Vorstädte, die dem begabten Volkstribunen und wohl auch Populisten Franz Schuhmeier folgten und ihn vergötterten.17 (Als er ermordet wurde, kam am 16. Februar 1913 eine halbe Million Menschen zu seinem Begräbnis. Da wurde »ein ungekrönter König, ein Herrscher zu Grabe getragen«.18) Und dann gab es – viertens – noch die echten Sozialrebellen, die eine Kultur der Widerborstigkeit, des Rebellentums, teilweise sogar der Gesetzlosigkeit lebten – wie etwa Johann Breitwieser  :19 Der österreichische »Robin Hood« schlug sich, die 14 Helmut Konrad, Nationalismus und Internationalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 4), Wien 1976. 15 Die Zeitschrift Der Kampf erschien ab 1907 in Wien und ist ein beeindruckendes Zeugnis von der Intellektualität der jungen politischen Bewegung. 16 Raimund Löw, Der Zerfall der »Kleinen Internationale«. Nationalitätenkonflikte in der Arbeiterbewegung des alten Österreich (1889–1914) (= Materialien zur Arbeiterbewegung 34), Wien 1984, 67 ff. 17 Maderthaner, Zeit, 251. 18 Ebd., 252. 19 Ebd., 303.

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Ordnung verachtend, auf die Seite der Armen und verteilte um, auch mit illegalen Mitteln. Die Sozialrebellen fanden wohl nur teilweise in die Sozialdemokratie, die ja, wie die Massenkundgebungen bezeugen, eine Ordnungsmacht war. Disziplin war Voraussetzung. Aber die Übergänge waren fließend – und das sollte in den Tagen und Wochen der Revolution noch eine große Rolle spielen.

Die Stadt und der Krieg Die Massenbegeisterung, die Wien beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfasste, der patriotische Taumel, die großen Gefühle – all das ist nur erklärbar vor dem Hintergrund jener breiten Unsicherheit, die die städtische Gesellschaft erfahren hatte. Die zahlreichen Identitätsangebote der modernen Stadt, die Nervositäten des Lebens sollten durch eine neue Klarheit ersetzt werden. Man fühlte nun »deutsch«, sprach wieder von der »deutschen Nation« und hoffte auf eine in »Stahlgewittern«20 buchstäblich gestählte kommende Generation. Die Realität sollte sich als anders erweisen. Während noch viele kulturelle Größen ins Kriegspressequartier einrückten, teils um der Front zu entgehen, teils aber wohl auch aus echtem Patriotismus, machten sich schon die dramatischen Auswirkungen des Krieges bemerkbar  : Zurücknahme politischer Freiheiten, Zensur und – spätestens ab Herbst 1916 – Hunger und Versorgungsengpässe bei Gebrauchsgütern. »Die letzten Tage der Menschheit«,21 einer der Schlüsseltexte jener Zeit, machen die Realität deutlich. Dass Opposition weder organisatorisch noch parlamentarisch weiter lebbar war, führte zu eruptiven Protestformen. Während Karl Renner eine offizielle staatliche Funktion in der Lebensmittelversorgung übernahm, entschloss sich Friedrich Adler, der Sohn Victor Adlers, zum Fanal  :22 Am 21. Oktober 1916 erschoss er Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh. Auf den eigenen Lebensentwurf verzichtend, der eine steile Karriere in Wissenschaft und Politik vorsah, setzte der hoffnungsvolle junge Forscher und Freund Albert Einsteins diesen Akt als Zeichen gegen die Kriegspolitik. Die Botschaft wurde verstanden. Schon im November 1916 durfte, als ein Ventil für den aufgestauten Unmut, wieder ein Arbeitertag stattfinden. Die Versorgungslage 20 Ernst Jünger, In Stahlgewittern, Stuttgart 2001. (Erste Ausgabe des Buches im Jahr 1920). 21 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Bühnenfassung des Autors, Frankfurt am Main 2005. 22 Rudolf Ardelt, Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundertwende, Wien 1984. Ardelt erklärt allerdings nur die Vorgeschichte, also den Hintergrund der Entwicklung.

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besserte sich dadurch natürlich nicht. Mangelkrankheiten nahmen zu, die Sterblichkeitsrate stieg. In den kommenden Monaten verödete die Stadt. Fettfischer holten aus den Abwasserkanälen ihre Kalorien, der Schwarzmarkt blühte, gleichzeitig wurden die Kinos geschlossen, die Parks und der Wienerwald abgeholzt. Die Spanische Grippe brach aus und kostete tausende Menschen das Leben, unter ihnen auch Egon Schiele. Die in diesen Jahren weltweit »Wiener Krankheit« genannte Tuberkulose hatte natürlich unter anderem mit der Wohnsituation in den Vororten zu tun, mit dem Mangel an Licht und Luft  ; in den letzten Kriegsjahren, wo es zu einem Ansteigen der Tuberkulosefälle kam, auch mit Ernährungsmängeln. Die schlechte Versorgungslage traf ganz besonders die Kinder in der Großstadt … All das senkte die Bevölkerungszahl dramatisch  : Fast 70.000 ergaben sich als Minus alleine aus den Geburts- und Sterberegistern, die Kriegsopfer noch nicht mitgezählt. Insgesamt kann von 120.000 Menschen Bevölkerungsverlust ausgegangen werden.23 Um das Kriegsende ergoss sich dann völlig unkoordiniert eine Welle an Menschen über die Stadt  : Sie strömten von der Front zurück, hatten den Weg in die Hauptstadt irgendwie geschafft. Hier konnte man sie aber weder mit Wohnraum noch mit Kleidung oder Lebensmitteln versorgen. Die Stadt versank in Chaos und Elend. All das bildete den Nährboden für das, was man österreichische Revolution nennt. Vor allem in den Kasernen, aber auch – speziell seit dem Jännerstreik von 1918 – in den Fabriken der Stadt bildeten sich spontan neue Aktions- und Organisationsformen. Die Arbeiter- und Soldatenräte, teilweise orientiert an den in Russland gewonnenen Erfahrungen, versuchten ihre Forderungen mit Aktionismus durchzusetzen. Politik wurde wieder auf die Straße getragen, die disziplinierte, hoch organisierte und auf gremiale Arbeit fixierte Sozialdemokratie hatte die Kontrolle weitgehend verloren. Jenseits der Demokratie schienen sich neue Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung aufzutun. Es ist dies eine der bislang nur unzulänglich erforschten Besonderheiten der österreichischen Geschichte  : wie es gelang, dieses revolutionäre Potenzial in den Tagen des Zusammenbruchs der alten Ordnung so zu domestizieren,24 dass es einerseits Bedrohung genug blieb, um dem Bürgertum Reformen abzuringen, anderseits aber als außerparlamentarischer Arm der Sozialdemokratie instrumentalisierbar war. Außer Zweifel steht jedenfalls, dass die Existenz dieser Organisationsformen und deren Präsenz auf den Straßen vor allem Wiens die sozialpolitischen Erfolge im Parlament der unmittelbaren Nachkriegszeit ermöglichten.

23 Maderthaner, Zeit, 331. 24 Zu dieser Frage ist ein größeres Projekt des Autors in Arbeit. Resultate sollten 2010 vorliegen.

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Das Reformwerk Letztlich ließ sich die bürgerlich-parlamentarische Republik erst durch die Existenz der Arbeiter- und Soldatenräte durchsetzen. Gleichzeitig hatten sich diese damit der Realisierbarkeit ihrer gesellschaftlichen Organisationsmodelle beraubt. Alleine die Tatsache der massenhaften Mobilisierbarkeit von (ehemaligen) Soldaten und Arbeitern war allerdings ein Druckmittel, Reformen rasch durchbringen zu können. Bereits wenige Tage nach Kriegsende wurde in Wien eine provisorische Gemeinde­ vertretung etabliert, die sich an den Vorkriegsverhältnissen orientierte. Die stärkste Fraktion bildeten somit die Christlichsozialen, die mit 84 Mandaten zwar nicht die absolute Mehrheit, wohl aber um 24 Sitze mehr als die Sozialdemokraten innehatten. Die ersten Gemeinderatswahlen in der jungen Republik änderten das  : Am 4. Mai 1919 errang die Sozialdemokratie 54 Prozent der Stimmen und 100 Sitze,25 die Christlichsozialen hatten in Prozenten und Sitzen nur mehr die Hälfte dessen. Jakob Reumann wurde Bürgermeister, das Rote Wien war Realität geworden. Dies wog umso mehr, als 1920 die Koalition im Bund zerbrach und die Sozialdemokratie bei den Wahlen vom 1. Oktober auf die Oppositionsrolle zurückfiel. Fast zeitgleich hatten Niederösterreich und Wien die organisatorische Trennung vereinbart  : Weder wollte das agrarisch strukturierte Land sich von den urbanen Sozialdemokraten bestimmen lassen, noch wollten umgekehrt diese das konservative Umfeld als Hindernis ihrer Reformpolitik mitschleppen. Die Bundesverfassung vom November 1920 legte die Trennung fest, legistisch vollzogen wurde sie im Dezember 1921. Ab 1. Jänner 1922 war der Wiener Bürgermeister auch Landeshauptmann.26 Das wichtigste Element dieser Rechtsstellung als Bundesland war die weitgehende Steuerhoheit, ja das Steuerfindungsrecht des Landes. Dieser Gestaltungsspielraum machte die Realisierung des sozialen Experiments »Rotes Wien« überhaupt erst denkbar. Dabei waren die Finanzen zerrüttet. Die ungeheure Inflation der Nachkriegszeit hatte zwar auch einige Krisengewinner, in der Mehrzahl aber Verlierer hervorgebracht. Das Elend nahm riesige Ausmaße an.

Die Finanzpolitik Hugo Breitners Wien war nun also selbstständiges Bundesland. Die anderen Bundesländer sahen in der Stadt einen »Wasserkopf«, zu groß für Restösterreich, zu fordernd, zu dominant. 25 Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934, 2. voll. überarb. Auflage, Wien 2002, 23. 26 Maderthaner, Zeit, 348.

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Tatsächlich war Wien zwar geschrumpft und hatte durch die Abwanderung zahlreicher Bewohner in die Nachfolgestaaten der Monarchie einen Verlust an Pluralität erlitten  ; aus der Sicht des übrigen Österreich bildete Wien aber noch immer ein buntes, erschreckendes Gemisch, demgegenüber die Vorurteile wucherten. Die Kluft war enorm. So entwickelten sich die Konzepte des Roten Wien praktisch im Gegensatz zur Bundespolitik und natürlich auch im Gegensatz zur Politik der anderen Bundesländer. Das verstärkte manche Vorurteile, die bis heute spürbar sind. Zu den zentralen Vorhaben des Roten Wien gehörte – gleichsam als jene Basis, auf der dann die sozialen Experimente aufbauen konnten – die sozial differenzierte Beschaffung der finanziellen Mittel. Diese Aufgabe fiel dem seit Mai 1919 amtierenden Stadtrat für Finanzen und ehemaligen Direktor der Länderbank, Hugo Breitner, zu. Auffallend ist, dass – trotz einiger heftiger Attacken von Seiten des reichen Bürgertums, der Hausherren und Grundbesitzer, die ihrem Unmut über die Umverteilung in anti­ semitischen Schmähungen Luft machten – nicht Breitner zum absoluten Feindbild der Bürgerlichen wurde, sondern Otto Glöckel. Vielmehr gelang es Breitner, die alte Beamtenschaft Karl Luegers relativ gut in seine Vorhaben einzubinden. Das zeigte sich etwa an der Person des späteren Finanzministers des Ständestaates, Rudolf Neumayer  : Er gestaltete an Breitners Seite die Finanzpolitik des Roten Wien, um 1934 in die Stadtregierung und 1936 in die Bundesregierung unter Schuschnigg einzutreten. Die Kooperation mit Neumayer ist auch ein Beleg dafür, dass man in der Steuerpolitik relativ pragmatisch vorging. Auf der einen Seite trat Hugo Breitner strikt gegen eine kommunale Verschuldung auf und legte unter anderem fest, dass die kommunalen Betriebe zuschussfrei funktionieren und sogar ihre Investitionen selbst finanzieren sollten. Kredite würden nach Breitners Ansicht marktabhängig machen und zur Erpressbarkeit führen. Er zog daher Sparprogramme durch. Auf der anderen Seite wurden durch die Einführung direkter Steuern mit sehr starker Progression die Reichen überproportional besteuert. Da die Inflation etwa den Wert der Grundstücke ansteigen ließ, wurde Grundeigentum hoch versteuert und Spekulation somit erschwert. Schon die christlichsoziale Vorläuferregierung hatte im Krieg eine Wertzuwachsabgabe für Grundstücke eingeführt  ; auf ihr konnte Breitner aufbauen. Luxusgüter unterlagen – mit Kraftfahrzeugsteuer, Klaviersteuer, einer Billardsteuer und der Steuer auf Luxushunde oder Glühlampen – einer besonders hohen Besteuerung. Von zentraler Bedeutung für das Rote Wien war allerdings die 1923 eingeführte Wohnbausteuer,27 eine Kombination aus direkter Steuer und Luxussteuer. Sie finan­ 27 Felix Czeike, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gemeinde Wien. In der Ersten Republik (1919– 1934), Wien 1959, 257 ff.

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zierte zumindest wesentliche Teile des ambitionierten Bauprogramms – welche Dring­lichkeit diesem zukam, verdeutlicht die Tatsache, dass es praktisch keinen privaten Wohnbau mehr gab, da sich infolge des Mieterschutzes Objekte nicht mehr als Geldanlage verwenden ließen. Nun war Wien zwar an Einwohnern geschrumpft  ; die Sozialdemokratie hatte es aber zum Programm erhoben, menschenwürdige Wohnungen auch für die Unterprivilegierten zu schaffen.

Der soziale Wohnbau Jede Beschreibung Wiens, jede Äußerung über Architektur und die damit verbundenen Lebensformen führt unweigerlich zum kommunalen Wohnbau. Wie keine andere Stadt Europas erhielt Wien seine Prägung im Jahrzehnt des Wohnbaus – einer Epoche, die gut 60.000 Wohnungen schuf und damit etwa 250.000 Menschen ein Leben unter erträglichen Bedingungen ermöglichte.28 Erschließt man österreichische Städte über die Wachstumsschübe in ihrem Stadtbild, so offenbart der Befund weit mehr als reine Architekturgeschichte  : In Linz nennt man die in der NS-Zeit entstandenen Wohnsiedlungen, die das Stadtbild prägen, bis heute »Hitler-Bauten«. Wien hingegen verfügt – mit Ausnahme der Flaktürme – über keine prägende Architektur aus diesen Jahren. Dieser Unterschied macht deutlich  : Während es in Linz um einen Industrialisierungs- und Modernisierungsschub ging, konnte man in Wien infolge der Vertreibung und Vernichtung des jüdischen Bevölkerungsteils an die 70.000 Wohnungen zum arisierenden Einrücken bieten. Ohne Zweifel ist der Wohnbau »das eigentliche symbolische wie reale Kernstück des Wiener munizipalen Sozialismus«.29 Der Karl-Marx-Hof, gleichsam eine Ikone des Roten Wien, kann tatsächlich bis heute als exemplarisch gelten  : Weniger als 20 Prozent seiner Gesamtfläche sind verbaut, und doch bietet er Raum für 1.400 Wohnungen,30 die zwar (zu) klein sind, aber jeweils etwa vier Personen beherbergen. Gut einen Kilometer lang, verfügt der Karl-Marx-Hof über Grünflächen, »Konsum«-Geschäfte, zwei Zentralwäschereien mit 62 Waschplätzen, eine Bibliothek, ein Zahnambulatorium, zwei Kindergärten und sogar ein eigenes Postamt. Vor allem der Mittelspange, die den nördlichen und den südlichen Block verbindet, kommt bis heute der höchste Symbolwert zu. Sie wurde rasch ikonografisch als »Bild des Roten Wien« 28 Hans Hautmann/Rudolf Hautmann, Die Gemeindebauten des Roten Wien 1919–1934, Wien 1980, 181 ff. 29 Maderthaner, Zeit, 381. 30 Ebd., 382.

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überhöht. Die Kämpfe um den Karl-Marx-Hof im Februar 1934 haben diesen Wert noch zusätzlich gesteigert. Dieser Teil des Gebäudekomplexes ist heute ein zentraler Gedächtnisort für die geschlagene Seite im österreichischen Bürgerkrieg. Beim Wohnbau vollbrachte das Rote Wien tatsächlich eine beachtliche Leistung. Und er hatte zusätzliche positive Effekte  : Durch den Bau von gut 5.000 Wohnungen jährlich sank die Zahl der Arbeitslosen auf ein Viertel  ; das wurde auch dadurch erreicht, dass man wenig maschinenintensiv arbeitete. Die Vergabe der Aufträge an Architekten und Firmen erfolgte ohne politische Präferenz. Darüber hinaus entwickelten die Verantwortlichen ein gerechtes System für die Wohnungsvergabe, das den Zustand der bisherigen Wohnung mit einbezog. Dass man die Verbauungsdichte von 85 Prozent, wie bei den Grundstücken mit alten Zinshäusern, auf 30 Prozent senkte, machte die Wohnungen heller, gesünder und lebenswerter. Zudem gab es nun Wasser und WC im Innenbereich der Wohnungen. Gas und Strom waren eingeleitet, Vorräume obligat. Die Ablöse der Bassena-Wohnungen durch diese neuen Strukturen bedeutete einen gewaltigen Fortschritt. Aber es gab auch problematische Aspekte. Die Architektur war wenig modern, sie entsprach den kleinbürgerlichen Erwartungshaltungen der Bewohner. Ähnlich auch die Wohnungsgröße  : Zwar hatte man sechzig Quadratmeter angestrebt, diese wurden aber – zumindest in den großen Bauten – deutlich unterschritten. Die Wohnungen in den Gemeindebauten waren also zu klein  ; und bedienten so das auf die Kernfamilie reduzierte Ideal der kleinbürgerlichen Familie. Versuche, etwa mit dem Einküchenhaus, gewisse familiäre Funktionen zu sozialisieren, blieben die Ausnahme. In den Gemeinschaftswaschküchen herrschten autoritäre Strukturen, der alte Bassenastreit lebte also fröhlich weiter. Der Vorwurf, die Gemeindebauten seien Festungen, Bastionen auch der paramilitärischen Macht der Arbeiterbewegung gewesen, gehen aber ins Leere. Manche Bauten, wie etwa der Sandleitenhof, vermitteln zwar Abgeschlossenheit – dies aber vor allem, um die Inszenierung einer umfassenden Gegenkultur zu ermöglichen. Gerade die das Stadtbild bis heute prägenden rund 400 Gemeindebauten zeigen die Ambivalenz des Roten Wien  : Soziales Engagement auf der einen Seite – und auf der anderen Seite Verharren auf halbem Weg zum Ziel, der Realisierung gegenkultureller Lebenswelten. Dass diese Bauten für Befürworter und Gegner dennoch eine symbolisch stark überhöhte Bedeutungszuschreibung erfahren konnten, hat viel mit der Selbstinszenierung der Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit zu tun. Andere Städte ahmten im kleineren Maßstab nach  ; prägend und im kulturellen Gedächtnis verankert sind aber fast nur die Bauten in Wien.

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Eine Freie Schule Schon 1905 hatten Lehrer, die in der Lueger-Zeit aus politischen Gründen keinen Platz in Schulen fanden oder diesen räumen mussten, den Verein »Freie Schule« gegründet, der später mit den drei Jahre jüngeren »Kinderfreunden« fusionierte. An einem der Vereinsgründer, Otto Glöckel,31 entzündeten sich die heftigsten Kontroversen rund um das Experiment eines Roten Wien. Otto Glöckel war ab 1907 Abgeordneter zum Reichsrat. In den revolutionären Tagen des November 1918 spielte er als Staatssekretär im Innenministerium eine zentrale Rolle bei der Kalmierung der Soldatenräte, die sich in der Herrengasse zum Sturm auf das Parlament vorbereiteten.32 Die junge Republik betraute ihn mit der Funktion des Unterstaatssekretärs für Unterricht (was dem heutigen Unterrichtsminister entspricht). Zu Glöckels Verdiensten zählt unter anderem der seit 1919 gesetzlich geregelte freie Zugang von Frauen an die Universitäten. Signifikantester Ausdruck des Kulturkampfes jener Jahre war allerdings der so genannte »Glöckel-Erlass«, der den Zwang zur Teilnahme an den religiösen Übungen der Schule aufhob, konsequenterweise aber nur in Wien umgesetzt wurde. Auch wenn Glöckel in der Tradition des liberalen Reichsvolksschulgesetzes von 1869 stand, sorgte er mit dem Erlass für das emotionalste Thema dieser Zeit – was auch eine zeitgenössische Karikatur veranschaulicht  : Darin wird Glöckel vorgeworfen, das Kreuz aus den Klassenzimmern zu entfernen und den Kindern damit den lieben Gott wegzunehmen.33 Nach dem Bürgermeister zweiter Präsident des Landesschulrates, reformierte Otto Glöckel vom Palais Epstein aus die Schulen der Stadt. Allen Schülern alle Unterrichtsmittel kostenlos zur Verfügung zu stellen bedeutete Chancengleichheit, fiel doch die demütigende Feststellung der Bedürftigkeit weg. Schulausspeisung, Schulbäder und Kleideraktionen trugen weiter dazu bei. Horte wurden geschaffen, um fehlende elter­ liche Betreuung auszugleichen. Die Klassenschülerhöchstzahl wurde mit 29 fixiert. Besonders wichtig war aber die an den Bedürfnissen des Kindes orientierte Reformpädagogik. Gesamt- und Arbeitsunterricht lösten die frontalen Einheiten ab. Einige Streitpunkte aus dieser Zeit sind das gesamte 20. Jahrhundert hindurch zentrale Fragen der politischen Bildungsdiskussion geblieben. Glöckel hatte 1920 die »einheitliche Mittelschule mit Differenzierung« verordnet, die alle Schülerinnen und Schüler von elf bis 14 Jahren erfassen sollte. Einige Schulen in Wien starteten zwar damit, in Österreich war dies aber nicht durchzusetzen. An die Stelle der Gesamt31 Zu Glöckel siehe  : Eckert, Otto Glöckel. 32 Ebd., 50 ff. 33 Ebd., 86 ff.

Das Rote Wien

schule trat die vierklassige Hauptschule, unentgeltlich und obligatorisch. Katholische Kirche und Bürgertum hatten sich durchgesetzt und »ihr« Gymnasium gerettet. Glöckel brachte auch die Stadt Wien und die Universität in exemplarischer Weise zusammen. Karl und Charlotte Bühler leiteten das Psychologische Institut,34 in dem nicht nur Forschung, sondern auch pädagogische Ausbildung erfolgte. Hier wurde Psychologie anwendungsorientiert praktiziert und im eigentlichen Wortsinn Schule gebildet. Die Schule als Ort der Reproduzierung der gesellschaftlichen Positionen der Eltern, wie sie später im Ständestaat wieder die Regel wurde  : Das war für Glöckel, für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gegner. Durchlässigkeiten erzielen, alle Begabungen fördern, soziale Diskriminierung und Stigmatisierung vermeiden – all das wurde damals angedacht und zum Teil auch umgesetzt.

Die Überwindung der Wiener Krankheit In den Jahren des Weltkrieges war der Anatom Julius Tandler an der medizinischen Fakultät der Universität Wien Dekan gewesen. Tandler, aus einer assimilierten jüdischen Familie stammend, war ein hervorragender Wissenschaftler, aber auch ein Kind seiner Zeit. So stand er durchaus in der Tradition des Sozialdarwinismus, manche seiner Äußerungen sind äußerst problematisch. In seiner Funktion im Gesundheitswesen sah sich Tandler etwa einer »Bevölkerungspolitik« verpflichtet, deren Aufgabe es sei, die Vermehrung von »gesellschaftlich Tüchtigen« zu fördern und so in der »Verwaltung des organischen Kapitals«35 positiv zu bilanzieren. In seiner Funktion als amtsführender Stadtrat für Wohlfahrtswesen war Julius Tandler allerdings eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, die das Rote Wien mitprägte. Sein Hauptaugenmerk legte er, bedingt durch die katastrophale gesundheitliche Lage in der Stadt nach Kriegsende, auf die Prävention. Damit folgte er den bürgerlichen Mustern der Sozialreform, mit der man etwa in England den schlimmsten Auswirkungen der industriellen Revolution entgegentrat. Um den Kindern ein gesundes Heranwachsen zu ermöglichen, war Familienfürsorge das zentrale Anliegen. Tandler entwickelte das »Wiener System«  : Eheberatung, Mütterberatungsstellen, Kindergärten, Sanatorien, Fürsorgewesen waren bald flächendeckend aufgebaut. Jährlich wurden mehr als 100.000 Kinder prophylaktisch 34 Maderthaner, Zeit, 371. 35 Julius Tandler, Gefahren der Minderwertigkeit, in  : Jahrbuch des Wiener Jugendhilfswerks, Wien 1928, 1. Zit. nach  : Klaus Hödl, Julius Tandler und das »Rote Wien«, in  : Albrecht Scholz/Caris-Petra Heidel (Hg), Sozialpolitik und Judentum (= Medizin und Judentum 5), Dresden 2000, 117.

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untersucht und, falls notwendig, auf Erholung geschickt. Die Gemeinde Wien stattete alle jungen Mütter mit Säuglingspaketen aus und führte Ernährungsberatungen durch. Die Erfolge stellten sich in überzeugender Weise ein  : Die Säuglingssterblichkeit war bald nur mehr halb so hoch wie vor dem Krieg, die Tuberkulose wurde entscheidend eingedämmt. Es gab Kinderübernahmestellen in den Gemeindebauten, die gesamte Stadt wurde hygienisiert. Man errichtete Stadien und Sportplätze, um (in der Diktion der Zeit) »die Körper ertüchtigen« zu können. Diese »körperliche Ertüchtigung« wurde einerseits, wie bei der Arbeiterolympiade, demokratisch angedacht und ausgeführt. Anderseits zielte sie auf Spitzenleistungen ab, etwa beim Fußball, der eine Blütezeit erlebte und damals tatsächlich als beinahe ausschließlich urbaner Sport galt.36 Am Ende des Lebensweges stand schließlich das – unter Julius Tandler errichtete – Krematorium als säkularer Schlusspunkt. Von der Wiege bis zur Bahre war die Wiener Bevölkerung so in ein paternalistisches Fürsorgekonzept der Stadt eingebunden. In dieser Hinsicht stand Julius Tandler vollständig in der Tradition der aufgeklärten angelsächsischen Sozialreformer. Dem Individuum wurde wenig vertraut  ; das System ordnete die Menschen einem Ganzen unter, das sich durchaus auch als »gesunder Stadtorganismus« bezeichnen ließe. Der Ansatz ist effektvoll, aber relativ wenig demokratisch. Nicht zu Unrecht ist daher bei allen signifikanten Erfolgen, die die Gesundheits- und Fürsorgepolitik der Gemeinde Wien erzielte, bis heute auch Kritik an den Grundlagen des Systems zu hören.

»Neue Menschen«  ? Das Konzept des Roten Wien war ein umfassendes. Einerseits folgte es dem L ­ eben im Längsschnitt, indem es auf die Einbindung des Menschen in den Lebenszyklus gerichtet war, auf die lebensdeckende Betreuung vom Säuglingspaket der Gemeinde Wien bis hin zur Verabschiedung im Krematorium. Anderseits galt das Augenmerk den Alterskohorten im Querschnitt. Hier reicht die Bandbreite von der medizinischen Prophylaxe für Kinder, von Kindergärten, Horten, neuen Schulen und Schultypen über Wohnungen, »Konsum«, Stadien, Frei- und Strandbäder bis hin 36 Matthias Marschik, »Wir spielen nicht zum Vergnügen«. Arbeiterfußball in der Ersten Republik (= Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 3), Wien 1994. Vgl. auch  : Roman Horak/Wolfgang Maderthaner, Mehr als ein Spiel. Fußball und populäre Kulturen im Wien der Moderne, Wien 1997.

Das Rote Wien

zur Erwachsenenbildung in Volkshochschule und Urania und allen Bereichen der Kultur.37 Anders als bei anderen Konzeptionen zum »Neuen Menschen« im 20. Jahrhundert, etwa im ostasiatischen Raum, ging es im Bereich der Kultur hier um die Aneignung gewachsener Kulturtechniken und um ein positives Aufgreifen des Erbes. Nicht die Zerstörung und der Neubeginn, sondern die Demokratisierung der Kunst war das Anliegen. David Josef Bach organisierte Arbeitersymphoniekonzerte  ;38 die Menschen sollten an die Literatur herangeführt werden, so genannte »Groschenromane« waren verpönt. Die Urania kooperierte mit der Universität, das geistige Wien trat in populären Vorträgen in Erscheinung. Man wollte, dass die Arbeiter Wiens stolz seien auf die Prachtbauten der Stadt, auf die Museen und die Theater. Der gebildete, gesunde Mensch, begeisterungsfähig, gut beraten in der ­Partnerwahl, asketisch, vorurteilsfrei – er sollte mittelfristig die Welt verändern. Die erste Generation des Roten Wien bildete somit das »Bauvolk der kommenden Welt«.39 All das waren Top-down-Konzepte. Sie standen in einer guten österreichischen Tradition, die man als »josefinistisch« bezeichnen könnte. Aber wie viel ist wirklich angekommen  ? Gab es in dieser kurzen Zeitspanne, die dem Experiment zur Verfügung stand, zumindest Ansätze dieses »Neuen Menschen«  ? Es ist davon auszugehen, dass sich die Wiener Sozialdemokratie tatsächlich weit in die Lebensentwürfe der Menschen hinein begab. Sie entsprach – auch international gesehen – am meisten dem Typus der im »Lied der Arbeit« besungenen »stärksten der Parteien«  : Mehr als 400.000 Menschen, also praktisch fast jeder Dritte war in Wien Parteimitglied. Auch der Frauenanteil unter den Organisierten lag mit 38 Prozent für die damalige Zeit exemplarisch hoch. Zwei Drittel, in manchen Bezirken mehr als 70 Prozent der Wählerstimmen unterstreichen diese Dominanz.40 Dazu kamen die zahlreichen Vorfeldorganisationen im Sport-, Kultur- und Jugendbereich. Das Netz war dicht gewoben. Wo man Schach spielte, wo man Bücher entlehnte, ja sogar, wo und mit wem man angelte oder Rad fuhr, all das waren zumindest symbolisch auch politische Handlungen in den Neben- und Vorfeldorganisationen der Sozialdemokratie. Man hatte sein Konto bei der »Arbeiterbank«, einer Gründung Karl Renners, und selbstverständlich kaufte man im »Konsum« ein. Gerade Letzterer war – als täglicher 37 Josef Weidenholzer, Auf dem Weg zum »Neuen Menschen«. Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 12), Wien 1981, 87 ff. 38 Henriette Kotlan-Werner, Kunst und Volk. David Josef Bach. 1874–1947 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 6), Wien 1977, 42. 39 Neugebauer, Bauvolk. 40 Maderthaner, Zeit, 391.

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Nahversorger in einem flächendeckenden System von günstigen und qualitativ sicheren Angeboten – wirklich nah an den Menschen. Er gab ihnen zudem das Gefühl, Miteigentümer zu sein und so die Schrecken der Versorgungssituation der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihrem Wucher, dem Schwarzmarkt und den Kriegsgewinnern tatsächlich in einer kollektiven Aktion überwunden zu haben. Dieser Ansatz griff selbst in der Zweiten Republik noch für einige Jahrzehnte. Man hatte also tatsächlich das Konzept einer umfassenden Gegenkultur entwickelt.41 Wenn wir unter Subkulturen42 jene alternativen Lebensäußerungen verstehen, die an bestimmte Alterskohorten oder bestimmte soziale Segmente gebunden sind, so ist eine Gegenkultur die Gesamtalternative zur hegemonialen, meist bürgerlichen Kultur und durchaus bereit, in eine Auseinandersetzung um die Hegemonie einzutreten. Aber was dachten und fühlten die Menschen im Roten Wien  ? Wie lebten sie konkret  ? Sahen sie sich selbst als »Neue Menschen«  ? Welche Aspekte des gegenkulturellen Konzepts waren tatsächlich Bestandteile der Alltagspraxis geworden  ? Was war Fassade – bei den Aufmärschen am Ersten Mai etwa –, was nur Parole, was gelebter Alltag  ? Hier gilt es mehrere Einschränkungen zu machen. Selbstverständlich lebten in Wien auch anders denkende und anders handelnde Menschen. Es gab das Großbürgertum, es gab die Beamten der zentralen Verwaltung Österreichs. Und es gab noch die Hausmeister. Die Kirchen wurden besucht, die Inseln isolierter Hochkultur durchaus erfolgreich verteidigt. Und es gab, am anderen Ende dieser Skala, wenig integrierte Zuwanderer, nicht nur auf der Mazzesinsel.43 Vielfach lebte das Dorf in der Stadt weiter, und mit ihm blieben Subsistenzwirtschaft und alte Bezüge zum ländlichen Umfeld bestehen. Es gab soziale Randgruppen, Kneipen und Spelunken, Dirnen und Kriminelle. Selbst dort, wo das Rote Wien das Leben prägte, etwa in den Gemeindebauten, kam es in den Waschküchen zu lautstarken und handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Frauen, sodass Ordnungssysteme geschaffen werden mussten. Und Kinder prügelten sich wie überall sonst auch, spielten auf den Straßen und sangen nicht nur Arbeiterlieder in den Horten. Das Rote Wien hatte die Themenführerschaft, es war aber keine Diktatur, die die Menschen zur Teilnahme am Konzept zwangsverpflichtete. 41 Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur, 4. Auflage, Hamburg 1993. Der hier verwendete Terminus der Gegenkultur meint – etwas außerhalb von Schwendters Konzept – einen umfassenden Ansatz, der soziale Grenzen und Altersgrenzen überschreitet. 42 Ebd., 19. 43 Ruth Beckermann, Die Mazzesinsel. Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918–1938, Wien 1984.

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Und dennoch gab es durchaus auch die »Neuen Menschen«. Speziell in den Jugendorganisationen hatte sich eine reichlich elitäre Haltung herausgebildet, die davon ausging, Vorbild für die breiten Massen sein zu können. Wenn der VSM, der Verband Sozialistischer Mittelschüler, nach Attnang-Puchheim ins Sommerlager fuhr, so wollte er dort die Konzepte leben  : Kameradschaft statt Sex, Puritanismus statt Alkohol (da drohte schon einmal eine Freundschaft über einem mit Rum gefüllten Bonbon zu zerbrechen), Bildung und politische Diskussion. Jura Soyfer, Karl und Gina Stadler, Ilona Duczynska und andere lebten die Modelle vor  ; sie bildeten eine verschworene Gruppe, die letztlich bereits im Ständestaat der Verfolgung, dann aber der Vertreibung oder der Vernichtung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war.44 Diese Experimente einer kleinen und sehr homogenen Gruppe von jungen Künstlern und Intellektuellen lassen sich jedoch keinesfalls auf die Allgemeinheit umlegen. Da das Rote Wien gleichzeitig für ein umfassendes gegenkulturelles Gesamtkonzept und für Demokratie stand, mussten in den weniger als eineinhalb Jahrzehnten die Defizite stärker sichtbar sein als die tatsächlichen Prägungen. Aber gerade das verblüfft  : Im kulturellen Gedächtnis der Stadt sind die Erfolge der Epoche tief verwurzelt. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass sich das »geistige Wien«, also die Gruppe der Literaten, der Musiker, der Maler und der Wissenschaftler, um das Experiment scharte, um es gegen Vorwürfe und Angriffe der konservativ-katholischen Gegenbewegung zu schützen. Obwohl selbstverständlich nicht alle mit allem einverstanden waren und obwohl eine erkennbare Furcht vor den Massen in Bewegung bestand  : Diese Menschen sahen im Roten Wien ein soziales und demokratisches Projekt, also jedenfalls eine Weiterführung von Aufklärung und Moderne.

Schlussfolgerungen Das Rote Wien ist keine Episode in der Geschichte der Stadt. Es steht vielmehr in einer langen Traditionslinie, die von Josefinismus und Aufklärung über Modernisierung und Moderne bis hin zu den sozialen Utopien reicht. Diese Linien verdichteten sich im späten 19. Jahrhundert zu Trägerelementen, auf denen das Rote Wien im 20. Jahrhundert aufbauen konnte. Die zügige Umsetzung der Vorhaben wäre undenkbar 44 Besonders tragisch ist das oft dargestellte Schicksal Jura Soyfers. Zu Karl und Gina Stadler siehe  : Helmut Konrad, Karl R. Stadler, in  : Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Internationales Symposion 19.–23. Oktober 1987 in Wien, Wien/München 1988, 509–514.

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gewesen ohne ihre Säulen  : die liberale Modernisierung der Stadt mit ihrer Toleranz und Offenheit in Fragen der Kultur und Kunst  ; die christlichsoziale, paternalistische Kommunalpolitik mit ihren sozialen Komponenten  ; die austromarxistische Theorie mit ihrer Vorwegnahme der Theorie Antonio Gramscis von der kulturellen Hegemonie  ; die hoch entwickelte Organisationsstruktur von Gewerkschaft und Sozialdemokratischer Partei in der Stadt. Dazu kam, dass der Erste Weltkrieg eine soziale Situation hinterlassen hatte, die rasches Handeln erforderlich, ja unbedingt notwendig machte, um das Überleben sichern zu können. Der politische Widerstand war also gering. Die Trennung von Niederösterreich hatte zudem eine Inselsituation geschaffen, in der klare Mehrheiten herrschten und die rasche Entscheidungen ermöglichte. Dies hatte natürlich zur Konsequenz, dass sich Wien in der kulturellen Alltagspraxis und in den kulturpolitischen Symbolhandlungen ganz stark vom übrigen Österreich entfernte und zu einer eigenen Welt entwickelte. Der Bubikopf auf der einen, der Zopf auf der anderen Seite  ; oder aber der Erste Mai mit Massenaufmarsch versus Fronleichnamsprozession. Spätestens im Februar 1934, in einigen Teilen schon früher, wurde die Hegemonie der Arbeiterbewegung in Wien gebrochen, das Experiment mit Gewalt zerstört. Für das gegenkulturelle Modell war kein Platz mehr in der Welt der 30er- und 40er-Jahre. Wohl griff vor allem der Nationalsozialismus einige Elemente der Formensprache des Roten Wien auf und füllte sie mit seinen menschenverachtenden Inhalten. Die Träger des Roten Wien hingegen fanden sich bereits im Ständestaat in der Illegalität wieder, um dann ab 1938 vertrieben zu werden oder in den Konzentrationslagern zu landen. Die Verluste jener Jahre machten es unmöglich, nach dem Zweiten Weltkrieg neuerlich bei den Strukturen der 20er-Jahre anzusetzen. Nur in Einzelteilen wurde das Erbe aufgegriffen. Aber bis heute hat das Rote Wien seinen herausragenden Platz im kulturellen Gedächtnis des Landes. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Das Rote Wien. Ein Konzept für eine moderne Großstadt  ?, in  : Helmut Konrad/ Wolfgang Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Bd. I, Wien 2008, 223–240 (Carl Gerold´s Sohn Verlagsbuchhandlung).

State and University – The Austrian Example (1995)

Abstract In the last decades the Austrian universities became regional higher education institutions with masses of students. The new organisation law will bring more autonomy and the chance to have differentiated profiles and higher quality. To reach these goals, the Austrian universities have to define the preconditions  : overall budget, a better background for successful fund raising, more international exchange at each level, mobility between the Austrian universities for staff and students, central planning, data networks and evaluation. The universities should not act defensively. There is the new challenge of the polytechnics, starting in the autumn of 1994  ; but research will remain mainly at the university  ; and only excellent research, with a recognised position in the international competition, can be the basis for quality also in teaching. There is now a good chance for new achievements in the next years and decades. In Austria, as in other countries, the relationship between university and state is giving rise to discussion. A process of change is beginning to come into effect. This is due in part to Austria participating in the process of European integration, however, it can also be seen as the result of long-term internal developments. In the last three decades, our 12 universities and six arts colleges have had to cope with becoming mass universities. The university organisation law dating from 1975 laid the legal foundations for this development. This law was an expression of several principal tendencies  : in the wake of the students movement there were efforts to make university life more democratic i.e. all groups were to be given an equal say in the running of the university. Externally, however, dependence on the Federal Ministry of Science remained complete. The universities continued to be working departments subordinate to the Federal Ministry  ; this actually means that they are directly subordinate to the Ministry in decision making which means, in turn, that they are not self-administrative. The libraries were in a similar situation. Lecturing was subject to strict regulations on four different legal levels. Regional particularities would be accounted for only on the lowest of these four. Thus, the mass universities became regional higher education institutes with almost identical curricula throughout Austria. Only in research was a certain amount of space allowed. Here, the universities were successful in acquiring other sources of funding, not least owing to the fact that

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since they did not have additional infrastructural costs, they had little opposition in competing for offers. However, the flow-back from research into lecturing remained comparatively weak since post-graduate studies were rarely offered and, moreover, the curricula for achieving a doctorate were not very highly developed. The new university organisation law (UOG), passed in 1993 and implemented in 1994 in at least three phases, has brought about several drastic changes. One novelty is that the State will withdraw from the management of universities thus permitting them more autonomy. According to the new law, the overall budgets shall be allotted to the individual universities, while the latter themselves shall decide on a further internal distribution of funds (including the clinical medical departments at the universities of Vienna, Graz and Innsbruck). In order to achieve this aim, management levels have been tightened, while co-determination has been reduced and the executive power strongly reinforced. The autonomy of the universities shall be preserved even in decisive matters, such as the structuring of a faculty, or the appointment of university professors. Seen in this light, a future university rector will act according to a model comparable, if you want, to the presidential system of the United States. He or she will be elected for four years (up to now a rector’s term of office has been two years), and does not necessarily have to be recruited from the university itself, but can come from a professional management background. This is, however, more likely to be the exception than the rule. In this time of radical change in the relation between State and university, it is of utmost importance that all objectives be clearly defined. Reform cannot be a purpose in itself, but rather must create the basis for an optimum functioning of the university under the given circumstances. Therefore, clear-cut definitions need to be formulated of what the university should be like in future.

First Aim  : Differentiated Profiles It is not only out of financial consideration that Austrian universities have to move away from the idea of fully standardised educational programmes for regional markets throughout Austria  ; strengths should be expanded, made more attractive and advertised internationally. Weak parts of universities should not be kept alive artificially. Internationally speaking, universities could be identified by their best courses which would mean that a gradually more mobile student body – at least in the more advanced years of their studies – would follow the reputation of the individual courses offered by that particular university. The starting point will clearly be research, and only from there will it make its way to lecturing. Long-term focuses of research (in Austria, for instance, these could be the newly started four special fields of research)

State and University – The Austrian Example

create synergy effects. These, in their turn, will, in a medium-term context, have an impact on lecturing through theses and dissertations. In this context, favourable locations (e.g. mixed linguistic areas), regional particularities, etc., are very welcome, to contribute. However, the policy for appointing professors, the need for universities to set the right priorities are more important.

Second Aim  : Quality In Austria, free access to the universities is provided by law (a principle worth defending). This means, however, that any steering prior to university courses is not possible. For this reason, it is even more important that there should be a qualitative selection during the period of studies itself. At the moment, there is a high drop-out rate  ; its causes, however, are unclear. Improving the possibility of following individual courses of study should not lead to sacrificing quality for background conditions, but rather should be reliably implemented. Thus, a steering system that would balance our social, regional and gender disadvantages would be feasible – by means of scholarships, for instance – but with, at the same time, a well-functioning system of performance monitoring.

Third Aim  : Corporate Identity Corporate identity is easy to achieve for the staff of a university that enjoys a high reputation both nationally and internationally. As far as the students and university leavers are concerned, this is a somewhat more complex issue unless they are tied to the university through special research projects. Here, help must come in the form of university graduate associations modelled after the American alumni organisations. Festivities, events, media- based performances of what has been done and achieved, together with arts activities on the campus, sports and many other things should be encouraged. This is the only way whereby a social network in which the university is embedded can start to evolve, and which is more than just the umbilical cord that connects the university to the state at present

First Precondition  : Overall Budget When the state grants independence to the universities, this also includes indepen­ dence on budgetary matters. As a starting point, determining overall budgets will be

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oriented along the overall expenses encountered by that particular university up to now. The state must ensure that the universities, upon gaining fiscal independence, are not left with a negative balance of funds, and that thus the most fundamental requirements of university life will be covered by guaranteed subsidies from the public sector. One open issue in this context is the budgets of the clinical departments of medical faculties. In this case, central funding would probably be more desirable than internal university disputes over finances. This is so not only due to their immense costs, but also to the power of the arguments brought forward vis-à-vis the Arts and Humanities or basic subjects. Another term that needs mentioning in this context is that of building projects in the universities. The relevant administrative tasks and expenditures ought to be kept separate from the overall budget, too. In fact, new ways have already been pioneered and put into practise in order to cover such costs.

Second Precondition  : Background Conditions for Successful Fund Raising If subsidies from the state do not grow, the universities will increasingly have to find private sources of funding. Up to now, Austria has been successful in this almost exclusively in the field of research. In the future, however, funds will be needed which can be used in a strategic and central way  : for instance, for establishing new priorities, offering new subjects, art in public areas, improvements in infrastructure, supporting the libraries, a university-owned publishing house, etc. Presently Austria lacks at least two prerequisites for successful fundraising  ; there is no cultural tradition of public altruism and tax incentives are totally missing. As far as the latter is concerned, the state could actually bring about swift changes. For the State this would mean less income at first, but this situation would be followed by large-scale indirect pay-offs. Trying to influence entrenched attitudes is a time-consuming process. Nevertheless, it will not be done in vain, as first positive results already show.

Third Precondition  : Internationality Universities profit from the permeability of systems. Austria has indeed done a lot in order to facilitate the first steps of the universities towards European integration. An increase in the number of exchange students from and to Western Europe over the last few years has been the most significant change in the university scene. At the same time, however, educational development aid, which was once taken very

State and University – The Austrian Example

seriously, is being neglected. Here, barriers are on the increase, and the chances for all those who wish to study at an Austrian university are on the decrease. Internationality, however, cannot only be measured along considerations of what is of use and what is not. Therefore, exempting universities from the refugee legislation is an indispensable condition for the internationality of universities. In international relations, too, the state should be able to rely on an autonomous solution of problems on the part of the university.

Fourth Precondition  : Mobility The present legal situation treats an Austrian university lecturer as a civil servant who enjoys the privilege of not being able to be made redundant or even being asked to work in a different place. In a positive sense, however, mobility should be encouraged, both nationally and internationally. Habilitation scholarships (in Austria, habilitation is a prerequisite in gaining a professorship) ought to be increased in number. Furthermore, the exchange of scientists must be made more attractive, materially speaking. Student mobility which is working very well in the case of scholarships abroad must also be supported within Austria. The more explicitly universities develop their own profiles to attract students to their institutions, the lower the financial obstacles should be. Student homes, mobility-encouraging schemes through scholarship awards, university graduate colleges and the like should help bring this about.

Fifth Precondition  : Central Planning and Data Networks There are areas where the involvement of the State must be strengthened despite the universities’ growing independence. This is particularly true of areas undergoing cost explosions due to decentralisation, and where data networks would be extremely advantageous. The libraries with their new technological possibilities, for instance, are a good example. In spite of the earlier mentioned main focuses and development of individual profiles of specific universities, a certain central steering will be inevitable in order to avoid duplicated attempts in the same direction or blind spots in the research scene, respectively. However, it is of great importance that such steering processes take place in the form of a dialogue, rather than being imposed from above.

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Sixth Precondition  : Legal Reliability The new university organisation law – passed by Parliament, but not yet introduced to the universities at the time of writing – calls for some modifications before its application. A reform of the university courses is very urgent. Also, the conditions of employment of university lecturers is not up to date any more and needs altering. All these facts show us that years of great change lie ahead of us. In any case, in the near future we should strive for a safe legal state of affairs, otherwise the discussion process will consume a lot of time and energy that would be better used for the proper purpose of the university. Even more so since a general discussion concerning higher education is taking place at the moment. For example, the polytechnic is to be inaugurated in late 1994 and may ease the burden of large numbers for the universities. All in all, the years between 1994 and approximately 1997 will be the years where all the major changes will occur. Following that, our universities will have deserved a break. Let us hope that for the next decades to come they will be in a position to enjoy the new achievements without any great disturbances from outside. Zitiert nach  : Helmut Konrad, State and University – The Austrian Example, in  : Higher Education Management, vol. 7, issue 2 (1995), 165–170 (Organisation for Economic Co-operation and Development).

Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung (1988) 1. Geschichtsbewußtsein Gerade in den letzten Monaten ist der Umgang der Österreicher mit ihrer Geschichte ins Gerede gekommen. Die Zeithistoriker des Inlandes nehmen fassungslos, die des Auslandes zumindest erstaunt wahr, daß die Mehrheit der Österreicher anscheinend keine Bereitschaft zeigt, ihre Sicht auf die Vergangenheit einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Dies legt die Frage nahe, wie es dann mit dem Geschichtsbewußtsein in unserem Land bestellt ist. Diese Frage in einer Festschrift für Max Lotteraner zu stellen, ist nicht zuletzt deshalb legitim, weil Max Lotteraner bereits vor mehr als anderthalb Jahrzehnten die politische Erwachsenenbildung, zu der ja ganz entscheidend die Geschichte gehört, in Oberösterreich auf ein bis dahin in der Zweiten Republik noch nicht gekanntes Niveau gehoben hat. Der Verfasser hatte damals das Glück, in einem Teilbereich an den Bemühungen mitarbeiten zu können. Geschichtsbewußtsein beruht auf einem im emotionalen Bereich wurzelnden gemeinsamen Verständnis der Vergangenheit, wobei vor allem bildhaft die vermeintliche Gleichheit der Erfahrungen angesprochen wird. So bedarf Geschichtsbewußtsein nicht unbedingt der wissenschaftlichen Erhärtung. Normalerweise läuft aber, zumindest seit der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten, die der Geschichtswissenschaft offiziell zugewiesene Legitimationsfunktion und das allgemeine Verständnis von Geschichte parallel. In demokratisch verfaßten Staaten mit politisch und sozial heterogener Bevölkerung gab und gibt es selbstverständlich für gesellschaftliche Subsysteme eigene, anderen Subsystemen oder dem Gesamtstaat manchmal widersprechende Formen des Geschichtsbewußtseins und der wissenschaftlichen Legitimation. Gerade Österreich hat hier mit seiner beachtlichen Tradition einer Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung ein gutes Beispiel für das Geschichtsbewußtsein eines Subsystems, das erstaunlich gut den Zusammenfall von Wissenschaft und Allgemeinverständnis belegen kann.

2. Die historischen Brüche Aber die Arbeiterbewegung ist nur ein Sektor in der politischen Landschaft Österreichs. Ihr Geschichtsbewußtsein ist nicht typisch für das Gesamtbild. Eher wird

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man wohl konstatieren müssen, daß der Umgang mit Geschichte, so er überhaupt erfolgt, in der Regel entweder verkrampft ist oder in den vermeintlich »harmlosen« Nischen erfolgt. Darunter ist vor allem der stark museale Umgang mit Geschichte zu verstehen. In Massen strömen die Österreicher in historische Großausstellungen, um statische Geschichtsbilder zu konsumieren, von denen keinerlei Bedrohung für die biedermeierliche Gegenwart ausgeht. Nostalgisch verklärte Vergangenheit, möglichst noch durch Kitsch überhöht, ist Liebkind im Bereich einer Allgemeinbildung, die Geschichte als Kulturgut in die Vitrine stellt, statt sie als prägenden Teil gegenwärtigen Lebens zu akzeptieren. Dieses Verhalten verwundert weniger, wenn man bedenkt, wie das Leben der Österreicher im 20. Jahrhundert verlaufen ist. In Anlehnung an den großartigen Film »1900« sei hier ein fiktiver Lebenslauf eines sozialen Aufsteigers in Österreich konstruiert, eines »Jahrgangs 1900«  : Herr Karl wird 1900 als unehelicher Sohn der Kuhmagd Rosa auf einem Bauernhof im Mühlviertel geboren. 1907, mit der Demokratisierung der Monarchie, geht er, gern aber zwangsläufig unregelmäßig, zur Schule. Dem Lehrer fällt seine Begabung auf, der Erste Weltkrieg und der Wechsel hin zur Kriegsdiktatur, die Karl in die Rüstungsindustrie zwingt, verhindern die weitere Bildung. Bei Kriegsende ist Karl in Wien, begeistert sich für die Versuche, eine Räterepublik zu errichten und holt im »Roten Wien« die höhere Bildung nach. Er wird Lehrer und Sozialist. 1934 wird er, nach der Niederlage der Sozialdemokratie im Bürgerkrieg und der Errichtung des faschistischen Ständestaats, entlassen. Seiner Familie zuliebe tritt er wieder in die Kirche ein, die er ein Jahrzehnt zuvor verlassen hatte und kommt, nunmehr »vaterländisch«, wieder in den Schuldienst, um 1938 erneut entlassen zu werden. Persönlich im politischen Anspruch bereits resigniert, tritt er der Berufsorganisation der Nazis bei, um 1945 erneut aus dem Schuldienst entlassen zu werden, in den er, der »Minderbelastete«, 1948 wieder zurückkehrt. In weniger als 40 Jahren konnte bzw. mußte Herr Karl in acht verschiedenen politischen Systemen leben, sieben historische Bruchlinien überwinden, von denen zumindest vier (1918, 1934, 1938, 1945) nicht nur einen Wechsel der Staatsform, sondern auch der gesamten Wert- und Normensysteme brachten. Herr Karl lebte, ohne Österreich je verlassen zu haben, auch in drei geographisch ganz unterschiedlichen Staatsgebilden, der Habsburgermonarchie, der Republik Österreich und dem Deutschen Reich. Einmal galt er daher in Czernowitz als Einheimischer, dann wieder in Bremen. Im Gegensatz etwa zu einem Schweden konnte daher für Herrn Karl und die meisten Österreicher seiner Generation Geschichtsbewußtsein mit Nationalbewußtsein nicht zusammenfallen. Die häufigen Wechsel machten das offizielle Geschichtsbild

Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung

unglaubwürdig, und Lehrer dieser Generation brachen ihre Darstellung der historischen Entwicklung nur zu gerne bei 1918 ab, um den Fragen nach dem persönlichen Verhalten in den unterschiedlichen Systemen ausweichen zu können. Obwohl es seit den Anfängen der Geschichtsschreibung üblich war, in der Darstellung bis unmittelbar zur Gegenwart zu gehen, schien es in der Zweiten Republik lange opportun zu sein, mit der Forschung und Vermittlung von Geschichte bei 1918 aufzuhören. Das Geschichtsbewußtsein kann und soll zwar nicht auf den Teilbereich der Zeitgeschichte reduziert werden, wenn diese aber wegfällt, fehlt das Verbindungsglied zur Gegenwart, Geschichte wird in ihrer handlungsanleitenden Relevanz redu­ziert. Im Bemühen um Harmonie zwischen den großen politischen Lagern, erst im antifaschistischen, später im antikommunistischen Grundkonsens, konnten jene Brüche, die die Entscheidungsträger am eigenen Leib erlebt oder erlitten hatten, nicht thematisiert werden  : einerseits zur Wahrung des Gesprächsklimas zwischen den Bürgerkriegsgegnern von einst, anderseits, in einer zweiten Stufe, zum leichteren Integrieren der »Ehemaligen«. So wurde 1945 kein neuer Anfang für das Fach. Wohl gab es personelle Wechsel, aber die Berührungsangst bei Fragen der neuesten Geschichte saß ebenso tief wie die Furcht vor zu engagierten, wertenden Zugängen zur Geschichte überhaupt. Ein theoretisch unreflektierter Historismus war die Folge, der sich auf eine Aneinanderreihung von Fakten beschränkte und das Fach Geschichte schon in den Schulen zum wenig geliebten reinen Lernfach degenerieren ließ. Es dauerte beinahe zwei Jahrzehnte bis zur ersten zaghaften institutionellen Verankerung der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts im Ausland. Die Öffentlichkeit nahm davon kaum Notiz, und tatsächlich halfen Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Zukunftsgläubigkeit in diesen Jahren über das Fehlen einer historischen Legitimierung für die Zweite Republik hinweg. Das Nationalbewußtsein wuchs aus der praktischen Abgrenzung zum »häßlichen Deutschen«, nicht aus einer Beschäftigung mit der Geschichte. Die wirklich beachtlichen Verbesserungen im Fach in den beiden letzten Jahrzehnten können allerdings nicht bestritten werden. Österreichs Zeitgeschichte ist heute nicht nur an allen Universitäten formal installiert, sondern auch in die internationale Theorie- und Methodendiskussion gut integriert. Bis zu einem Durchschlagen der in den zahlreichen Habilitationen, Dissertationen, Diplomarbeiten, Projekten und sonstigen Forschungsarbeiten in den Schulunterricht und damit längerfristig ins Bewußtsein der Öffentlichkeit ist allerdings noch ein weiter Weg. Zu groß sind die Versäumnisse aus den Jahren der sogenannten »Koalitionsgeschichtsschreibung«. In einem gewissen Sinn waren also die ersten beiden Jahrzehnte der Zweiten Republik »geschichtslos«. Die Fragen der jüngeren Generation über das Verhalten der Eltern über die historischen Bruchlinien hinweg und vor allem in den Jahren der

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nationalsozialistischen Herrschaft konnten erst dann konfliktorientiert und damit fruchtbar gestellt werden, als jene Menschen, die die Zeit vor 1945 nicht mehr bewußt erlebt hatten, die Lebensform der Eltern insgesamt in Frage zu stellen begannen. Daß 1968 auch an unseren Universitäten vieles aufbrach, worunter die veränderten Umgangsweisen mit Geschichte, speziell mit Zeitgeschichte, einen zentralen Platz einnahmen, ist gewiß kein Zufall. Und es ist ein großes Glück, daß diese Generation dann auf Menschen stoßen konnte, zu denen neben Karl R. Stadler, Erika Weinzierl, Herbert Steiner und anderen auch Max Lotteraner gehörte. Sie alle standen für das »andere Österreich«, für die positiven Traditionen, an die angeknüpft werden konnte. Sie boten die Identifikationsmöglichkeiten, die die Elterngeneration so oft vermissen ließ.

3. Zwischen Hagiographie und Selbstkritik Man wird für die Arbeiterbewegung konstatieren können, daß sie stärker als die anderen politischen Lager Geschichte als Teil ihres Selbstverständnisses akzeptiert hat. In ihrer politischen Bildung kam und kommt der Geschichte nicht zuletzt dadurch ein hoher Stellenwert zu, weil sie die Arbeiterbewegung leicht als die positive Kraft der österreichischen Entwicklung darstellen kann. Sie hatte das Allgemeine Wahlrecht erstritten, sie war die Triebfeder hin zur Demokratie und die Verteidigerin eben dieser Demokratie gegen die autoritären und faschistischen Tendenzen. Sie hatte sich als erste relevante Gruppe in Europa gegen den Faschismus zur Wehr gesetzt und hatte die entscheidende Last im Widerstand getragen. Während das konservative Lager noch immer die harte Nuß der Einstellung zum Ständestaat zu knacken hat, ergibt sich für die politische Linke die klare Grundtendenz, an allen historischen Weichenstellungen für die Demokratie eingetreten zu sein. Nur zu leicht verführte diese Erkenntnis aber dazu, Geschichte der Arbeiterbewegung als eine Art Götter- und Heldensage zu schreiben und ein teleologisches Bild des historischen Prozesses zu entwickeln. Tatsächlich zeichnete man den »Weg aus dem Dunkel« nach, ließ die Bewegung »Im Sturm eines Jahrhunderts« ihre Bewäh­ rungsproben bestehen, und wenn es auch vorkam, daß »Ein Held stirbt«, so trat man doch konsequent als »Bauvolk der kommenden Welt« »Für Arbeit, Freiheit und Recht« ein. Dieser selbstbewußte Umgang mit Geschichte war eine wesentliche Entwicklungsetappe. Denn im Gegensatz zu den anderen politischen Gruppierungen hat damit die Arbeiterbewegung die Phase der Hagiographien bereits hinter sich. In einem zweiten Schritt, dem »Denkmalsturz«, konnte daher mit viel Selbstkritik an die Betrachtung

Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung

der Geschichte herangegangen werden. Von den persönlichen Schwächen der Führer bis zur Verdrängung oppositioneller Gruppen, von den nationalen Tönen in den eigenen Reihen bis zur partiellen Offenheit zum Nationalsozialismus, von der Integration der »Ehemaligen« bis zur Rolle bei der Errichtung der neuen Partei des »Dritten Lagers«, all das wird längst nicht mehr von außen der Arbeiterbewegung vorgehalten, sondern von innen her aufgezeigt, oft sogar mit masochistischem Vergnügen. In der Verknüpfung der beiden Richtungen verfügt heute die Arbeiterbewegung als einzige der relevanten politischen Gruppen über ein differenziertes Geschichtsbild mit starker immanenter Kritik. Die vollkommene Unfähigkeit, mit der Vergangenheit umgehen zu können, die derzeit für Österreich so typisch zu sein scheint, trifft für die Arbeiterbewegung daher ohne Zweifel weniger zu als für die anderen politischen Gruppierungen.

4. Neue Wege in der Vermittlung von Geschichte Nicht nur in der politischen Erwachsenenbildung erwies sich aber in den letzten Jahren die Vermittlung von Geschichte als »Geschichte von oben«, als Schilderung der großen Ereignisse, der führenden Personen, der Theorie etc. als nicht mehr ausreichend. Wieder war die oberösterreichische Erwachsenenbildung der Trendsetter für Österreich. Hier setzte sich zuerst die Erkenntnis durch, daß vor allem die Geschichte der Arbeiterbewegung, die ja in Linz ihr entscheidendes Forschungszentrum hat, zur Arbeitergeschichte erweitert werden müsse. Die Menschen sollten sich in der Geschichte wiederfinden, Geschichte sollte vor allem unter dem Aspekt der Veränderbarkeit und der Machbarkeit auch durch jene, die normalerweise in den Geschichtsbüchern nicht vorkommen, aufgearbeitet werden. Und diese neue »Geschichte von unten« sollte nicht nur die Perspektive ändern, sondern auch in ihrer Erarbeitung die Kluft zwischen Forschern und den Objekten dieser neuen Geschichtsschreibung möglichst gering halten, wenn nicht gar Subjekt und Objekt zusammenfallen lassen. Ein entscheidender Weg war die Regionalisierung. Die große Geschichte sollte sich in der Region konkretisieren, sollte hier begreifbare Dimensionen annehmen, nachvollziehbarer werden. Die nächste Weichenstellung ging sodann hin zu einer Alltagsgeschichte, die jene Menschen vor allem mit den Methoden der mündlichen Geschichte ins Blickfeld rückte, die bisher in der Geschichtsschreibung nicht oder nur als statistische Größe vorkamen. Höhepunkt und letzte Konsequenz dieser Entwicklung war schließlich die Übernahme des schwedischen Modells in der »Grabe wo du stehst«-Bewegung. Hier erforschen Laien ihre eigene Geschichte, machen ihre Lebensgeschichte (entweder

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in der Gesamtheit oder in Teilbereichen, wie etwa der Arbeitsplatzgeschichte) zum Gegenstand historischer Selbsterforschung. Mit Euphorie ging man, wiederum ganz besonders in Oberösterreich, ans Werk, wo die Erwachsenenbildungsorganisationen in der Arbeiterkammer und im Gewerkschaftsbund starken Rückhalt bei diesen Bemühungen erhielten, versprach man sich doch durch diesen neuen Umgang mit Geschichte auch längerfristige positive Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Arbeitnehmer.

5. Das Problem mit der »Sinnstiftung« Tatsächlich war das Echo groß. Allerdings wird man heute, mit der Arbeit von einigen Jahren als Erfahrungshintergrund, doch auch auf ein paar Probleme hinweisen müssen. Der Erfolg von Alltagsgeschichte, Regionalgeschichte, Geschichte von unten etc. beruht nicht zuletzt auch darauf, daß für viele Menschen damit eine Ablehnung von großen, umfassenden Erklärungsansätzen und Theorien verbunden ist. Dabei werden die großen historischen Theorien sicher nicht zu Unrecht kritisiert. Denn die heute gängigen Großtheorien, vom Marxismus bis zur Modernisierungstheorie, sind alle in Zeiten entstanden, in denen »Fortschritt« eine klare Kategorie war und die Industriegesellschaft, immer größere Räume, immer stärkere Vereinheitlichungstendenzen als positiv empfunden wurden. Diese Theorien zeichnen große Entwicklungslinien mit heilsgeschichtlichen Fortschreibungen in der Zukunft. Es ist ein unbestreitbarer Verdienst der bunten neuen sozialen Bewegungen der beiden letzten Jahrzehnte, hier Kritik angemeldet zu haben. Neue Regionalbewegungen, die sich gegen das vom Marxismus postulierte notwendige »Knicken manch zarten Nationsblümchens« im Interesse des Fortschritts wenden, die Studentenbewegungen, Umweltschutzorganisationen und ganz besonders die Frauenbewegung, sie alle haben ihre Wurzeln nicht zuletzt in der gemeinsamen Ablehnung einer allgemein anerkannten Richtlinie, einer falschen Globalität à la 1984. Für alle diese Bewegungen erhält die Beschäftigung mit der Geschichte des Alltags kleiner Leute die Funktion eines kleinräumigen, individuellen, harmonischen Gegenmodells zu den großen Theorien mit umfassendem Erklärungsanspruch, wird »grüne« Geschichtsschreibung. Hier liegen Chancen und Gefahren. Eine der Gefahren liegt in irrationalen Antworten auf eine durchrationalisierte Gesellschaft. Nicht zufällig ist heute unter jungen Menschen, aber auch unter Historikern ein gewisser Hang zum Irrationalismus zu bemerken. Und es fällt auch schwer, sich dem Reiz dieser Positionen zu entziehen. Geschichte sollte sich aber doch als

Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung

Fach in der Tradition der Aufklärung sehen, mit der Aufgabe der Überwindung von Vorurteilen und Stereotypen. Daher kann sie sich als Wissenschaft diesen Irrationalismen nicht öffnen, wenn sie diese auch als wichtige Triebfeder menschlichen Handelns akzeptieren und verstehen sollte. Doch das ist nur eine Gefahr. Noch größer ist zweifellos jene der Entpolitisierung von Geschichte. Dies klingt vorerst verwunderlich, sind doch die genannten neuen sozialen Gruppierungen, die den Alltagsgeschichteboom entscheidend mittragen, im Selbst- und Fremdverständnis Gruppen mit politischen Zielsetzungen. Aber die Betrachtung von »kleinen Leuten« oder Kleinregionen, die ethnologischen Entdeckungsfahrten im eigenen Land, vernachlässigen nur zu leicht die wichtigste (und politischste) Kategorie der Geschichtswissenschaft, nämlich die des Wandels. Ein musealer Zugang zur Geschichte, der auf das nostalgisch verklärte Individuum oder auf die Kleinregion blickt, wird sehr leicht zwei Trugschlüssen aufsitzen. Erstens kann das Bild einer harmonischen Kleinwelt entstehen, die dann mit den Konflikten der »großen« Welt kontrastiert wird  : Harmonische Heimat, die nur friedliche Innenbeziehungen kennt, aber in zerstörerischer Weise von außen bedroht wird. Und zweitens kann das Bild statisch werden, denn Harmonie, festgeschriebenes soziales Bindungsgeflecht und Konfliktfreiheit machen Wandel nicht erforderlich. Und mit dieser vorgeblichen Entpolitisierung hat die Geschichtswissenschaft schon öfter ihren Teil dazu beigetragen, daß die Rationalität von Gefühlsargumenten überrollt wurde. Als 1914 klischeehafte Feindbilder stärker waren als die Argumente aus den Reihen jener, die für Verständigung und Internationalismus eintraten, und als in den faschistischen Bewegungen unter Einschluß des Nationalsozialismus kurze Zeit später erneut die Heimat gegen die Bedrohung von außen gestellt wurde, war die Geschichtswissenschaft nicht in der Lage, ihre aufklärerische Funktion auszuüben. Ganz im Gegenteil – der Grad, in dem sie sich instrumentalisieren ließ, stand anderen Wissenschaftsdisziplinen in keiner Weise nach. Das dritte Problem liegt aber, wie in der letzten Zeit erkennbar war, in einem grundsätzlichen Bereich. Alle genannten neuen Zugänge zur Geschichte gehen davon aus, daß sich die Menschen in der Geschichte wiederfinden sollen, daß über Geschichte Identität vermittelt werden kann. Nun, wo im deutschen Historikerstreit die Frage um die »Sinnstiftung« von Geschichte entbrannt ist, wird die große Gefahr sichtbar. Die Angst vor einer neuen nationalen Identität, die sich, um in der Gegenwart Selbstbewußtsein vermitteln zu können, ihre Version der Geschichte zimmert, ist unverkennbar, und auch der Verfasser teilt sie. Gibt es also »gute« und »verwerfliche« Sinnstiftungen  ? Oder muß man den Anspruch, über Geschichte Identität zu vermitteln, nicht im neuen Licht gründlich hinterfragen  ?

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6. Wie weiter  ? Die Entwicklung der letzten Monate hat nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch die Vermittlung von Geschichte in eine Krise geführt. War 1985 noch euphorisch das »Jahr der Zeitgeschichte« begangen worden, so ist es 1988 doch so, daß die Konjunktur, in der sich die Zeitgeschichte befindet, eine unfreiwillige ist. Sie macht die Defizite deutlich, sie bestätigt aber vor allem, daß die populärwissenschaftliche Vermittlung der Resultate der Zeitgeschichtsforschung in einer »geschlossenen Gesellschaft« erfolgt ist, wo sich immer wieder ein stets deckungsgleiches Segment der österreichischen Bevölkerung moralische Aufrüstung holen konnte und wo dieses Segment von den Zeithistorikern für einen repräsentativen Ausschnitt aus der Gesamt­bevölkerung gehalten wurde. Aber Krisen sind dazu da, um produktiv genützt zu werden. Für die politische Erwachsenenbildung bedeutet dies, ihren Standort zu überprüfen. Einerseits m ­ üssen weiterhin (und verstärkt) Mittel und Wege gesucht werden, um Geschichte als handlungsanleitende Orientierungshilfe für die Gegenwart nutzen zu können. Das bedeutet, daß auch in Zukunft die Initiativen der Alltags- und Regionalgeschichte, vor allem aber die »Grabe wo du stehst«-Bewegung, weitergetrieben werden sollten. Anderseits muß aber ganz deutlich unterstrichen werden, daß dies nicht das neue Universalheilmittel der Geschichtsvermittlung sein kann. Daneben müssen auf jeden Fall wieder verstärkt Gesamtsichten, Theorien und Strukturen vermittelt werden. Individuelle historische Standortbestimmung ist schließlich noch nicht Geschichtsbewußtsein. Und dieses gilt es aber zu erreichen  : denn nur über ein überindividuelles Verständnis von Geschichte, über Einsichten in historische Prozesse und in die Möglichkeiten, diese im kollektiven Wollen zu beeinflussen, kann Geschichte politisch tatsächlich wirksam werden. Nur so bleiben die »Grabe wo du stehst«-Initiative und die vergleichbaren Ansätze nicht im kuscheligen Bett der neuen Harmonie und Sinnstiftung liegen. Die Verknüpfung der beiden Ansätze, auch in bewußter Konfrontation, das muß die Leitschnur der zukünftigen Geschichtsvermittlung sein. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung, in  : Walter Blumberger/ Josef Weidenholzer (Hg.), Ist Wissen Macht  ? Macht Bildung frei  ? Max Lotteraner zum 60. Geburts­ tag (= Gesellschafts- und sozialpolitische Texte 7), Linz 1988, 58–65 (Sozialwissenschaftliche Ver­ einigung).

Das »Gedächtnis« von Universitäten Das Beispiel Graz (2006)

»… Das ist ein ewiger Menschenstrom, wo eine Semesterwelle die andere fortdrängt, nur die alten Professoren bleiben stehen in dieser allgemeinen Bewegung, unerschütterlich fest, gleich den Pyramiden Ägyptens – nur dass in diesen Universitätspyramiden keine Weisheit verborgen ist.«1

So spottet Heinrich Heine über die Universität Göttingen, teilweise aus verletztem Stolz, teilweise aber wohl auch mit scharfem, analytischem Blick. Die große Mehrheit jener Menschen, die die Universitäten damals wie heute bevölkern, hält sich dort nur vorübergehend auf. Sie kommen und gehen, verbringen einen wohl zu kurzen Lebensabschnitt in den Universitäten, um Teil des kulturellen Gedächtnisses der Institution zu werden. In den USA ist der Versuch, lebenslange Bindungen an die Ausbildungsstätte zu erzeugen, allerdings deutlich erfolgreicher als in Europa. In Alumni­organisationen bleiben viele Absolventinnen und Absolventen eingebunden und tragen auch zum ökonomischen Erfolg der jeweiligen Universität bei. In Europa bilden personell die Professorinnen und Professoren den Kontinuitätsfaktor. Aber selbst bei diesen war und ist Mobilität gefragt. Sogenannte »Hausrufe«, also Ernennungen von Personen aus dem eigenen Institutsbereich, gelten meist als problematisch. Lebensläufe der Spitzenforscher sind in der Regel durch nationale und internationale Stationen gekennzeichnet. Erst die volle Professur, im klassischen Sprachstil das »Ordinariat«, führt zu Ortsverbundenheit, obwohl selbst von hier aus noch Angebote weglocken können. Mehr als drei Jahrzehnte an einer Institution verbracht zu haben, ist daher selten und gilt eher nicht als Qualitätsnachweis. Universitäten haben es also schwer, ein »kommunikatives Gedächtnis«2 zu entwickeln. Der neue Typ des Rektors, der sich in Österreich auch von außen bewerben kann, kennt die gewachsenen Strukturen kaum und erkennt bei Begegnungen viele seiner Vorgänger im Amt nicht mehr. Am ehesten entwickeln noch Institute, also die Organisationsformen innerhalb einer Fakultät, kommunikative Gedächtnismuster, 1 2

Heinrich Heine, Die Harzreise, in  : Heines sämtliche Werke (= Tempel-Klassiker), Leipzig [oJ.], 675. Jan Assmann, Körper und Schrift als Gedächtnisspeicher. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, in  : Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Bd. 1  : Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit, Kompensation von Geschichtsverlust, Wien 2000, 199.

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rund um den traditionellen Mittelbau. Die zentrale Verwaltung führt zwar ein Archiv, aber die Verwaltung steht heute viel stärker für Problemlösung als für Tradition. Der Ruf einer Universität kommt aber zu einem guten Teil aus ihrer Geschichte  : Wer heute jedes beliebige Ranking betrachtet (von denen etliche natürlich nicht seriös sind), der kann erkennen, daß es Jahrzehnte dauert, um über die internationale Wahrnehmungsschwelle als Institution zu kommen und daß Tradition eine ganz wichtige Rolle spielt. Viele führende Universitäten, darunter auch Bologna oder Wien, selbstverständlich aber auch Graz, hatten Zeiten der Schwäche. Doch ist Alter ohne Zweifel ein wesentliches Kriterium der Anerkennung. Daher werden Traditionen auch hochgehalten  : ehrwürdige Gebäude, Talare und Zeremonien sind nicht nur verstaubte Relikte mit dem »Muff von tausend Jahren«3, sondern ganz bewußt eingesetzte Elemente der Bedeutungsaufladung, also der Anhäufung von symbolischem Kapital. Noch eine Besonderheit zeichnet die Universität aus  : Sie ist eine Institution, die in ihren Mauern jene Fächer beherbergt, die die Grundlagen für kulturelle Gedächtnisse liefern. Darunter ist nicht nur die Geschichte zu nennen, sondern auch jene Disziplinen, aus denen die herausragenden Theorieleistungen kommen  : die Soziologie, die Anthropologie, die Philosophie, die Kulturwissenschaften. Daher ist das Maß der Selbstreflexion höher. Die Universität schreibt sich ihre Geschichte selbst, und zwar nicht nur im Sinn von Wissenschaftsgeschichte, sondern auch im Sinn der Gesamtrepräsentation. Sie sollte also der Ort sein, an dem die Überlegungen und Reflexionen zum kulturellen Gedächtnis besonders stark ausgeprägt sind. Allerdings sollte auch hier sorgsam zwischen Geschichte und Gedächtnis unterschieden werden. Wird, Pierre Nora folgend, Gedächtnis zur Geschichte, so wird sie »willentlich und bewußt, als Pflicht erlebt und nicht mehr spontan, psychologisch, individuell und subjektiv, nicht mehr sozial, kollektiv, alle und alles umfassend«4. Aber das reicht hier zur Erklärung nicht aus. Jan Assmann, der innerhalb des kollektiven Gedächtnisses ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis5 unterscheidet, ist für unseren Ansatz hilfreicher. Das kommunikative Gedächtnis wird durch »Alltagskommunikation erworben«6, während das kulturelle Gedächtnis immer »seine speziellen Träger«7 hat. An anderer Stelle nennt Assmann diese Unterscheidung auch 3 4 5 6 7

»Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren«, so lautete ein Spottvers der Studentenbewegung von 1968, an Verstaubtheit aber auch an des »Tausendjährige Reich« erinnernd. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, 21. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2000, 53. Ebd., 54.

Das »Gedächtnis« von Universitäten

Bindungsgedächtnis, versus Bildungsgedächtnis8, und das trifft hier natürlich voll zu. Bei geringer Alltagskommunikation sind die spezifischen Träger des kulturellen Gedächtnisses an Universitäten sehr ausgeprägt, und ein Bildungsgedächtnis ist geradezu das Kennzeichen einer Bildungsorganisation. Universitäten sind zudem stark segmentierte Kollektive. Sie umfassen unterschiedliche Alterskohorten und entwickeln gruppenspezifisch oft gegensätzliche Interessen. Wer sich an seine eigene Studienzeit erinnert, wird die geringe Wahrnehmung des Abstraktums »Universität« wohl bestätigen. Da gibt es den Studienort und die Wohnsituation, die Kolleginnen und Kollegen, einzelne Lehrende, die Vorbilder oder Reibebäume waren, vielleicht noch das Institut. Aber die Universität in ihrer Gesamtheit erscheint eigentlich nur bei der Immatrikulation und dann wieder bei der Promotion. In dieser Feier wird dann die Institution beschworen, der man, so die Grazer Sponsions- und Promotionsformel, »in Treue verbunden zu bleiben« hat, was man durch ein Gelöbnis verspricht. Dieser Treueschwur ist aber eigentlich die Verheiratung mit einer unbekannten Braut, die durch das Ritual auch nicht vertrauter wird. Daneben ist die Universität auch ganz normale Arbeitsstätte. Viele Menschen gehen praktisch täglich hier acht Stunden ihrer Arbeit nach. Sie entwickeln Identitäten und Kommunikationsstrukturen in den Sekretariaten, den Labors und den Einrichtungen der zentralen Verwaltung. Mag sein, daß die Universität als angenehmer, ja privilegierter Arbeitsplatz empfunden wird, aber das wäre das Finanzamt wohl ebenfalls. Die jüngere Wissenschaftlergeneration steht vor der Aufgabe, sich im Fach zu profilieren  ; es ist also ihre zwingendste Aufgabe, über die eigene Universität hinauszublicken, mobil zu sein und sich kompetitiv zu verhalten. Das ist keine optimale Voraussetzung für kommunikative Gedächtniskulturen in den Fächern. Ältere Lehrerinnen und Lehrer an den Universitäten sind hier stärker anzusprechen, wenn auch zu sagen ist, daß ihr Blick meist nostalgisch und ihre Einstellung systemkonservativ ist. Und die Professorinnen und Professoren beschwören oft die paradiesischen Zustände an ihren Herkunftsuniversitäten. All das führt dazu, daß wir bei Universitäten nicht wirklich vom kulturellen Gedächtnis sprechen sollten, das ja ein Surrogat des kommunikativen Gedächtnisses ist. Universitäten imaginieren ihre Gemeinsamkeiten wie andere Gruppen auch, aber sie sind organisierter im Prozeß, den man »Invention of Tradition« nennt, da dies eine ihrer Kernkompetenzen ist. Sie entwickeln und konstruieren ihr Gedächtnis als eine Aufgabe der Institution, treten damit nach außen auf und werben damit um Anerkennung. Jedes Vorlesungsverzeichnis wird so auch »Ausdruck der Identität unseres

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Assmann, Körper, 199.

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Hauses, des Gemeinschaftsgefühls«9, wie es etwa im Vorwort des Grazer Bulletins von 1996 heißt. Wir sprechen also besser vom institutionellen Gedächtnis. Universitäten prägen aber auch ganze Städte. Ihre Architektur ist, je nach Epoche, Herrschaftsarchitektur und setzt städtebauliche Akzente. Graz etwa kennt drei derartige architektonische Wellen  : in zeitlicher Hinsicht die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, die letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und das Ende des 20. Jahrhunderts. In diesen Zeiten hat die Universität die Stadt verändert, diese als Universitätsstadt profiliert und die Trends zur Stadtgestaltung gesetzt. Das ist manifeste Geschichte, Stein gewordene Tradition. Jeder, der amerikanische Universitäten besucht, kann in der dominanten Campusarchitektur die Übernahme dieser europäischen Tradition erkennen. Hier wird durch Architektur auch Geschichte gebaut, ein institutionelles Gedächtnis erzeugt, das oft weiter zurückreicht als die tatsächliche Geschichte. Aber auch die österreichischen Universitätsbauten des späten 19. Jahrhunderts zitieren die Renaissance. Selbstverständlich kommt auch Denkmälern oder Straßennamen die Bedeutung zu, das institutionelle Gedächtnis der Universität zu repräsentieren. Allerdings  : »Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler«10, hat schon Österreichs wohl berühmtester Schriftsteller Robert Musil festgestellt.

Die wichtigsten Fakten Graz ist heute eine Stadt mit vier Universitäten (Karl-Franzens-Universität, Medizinische Universität, Technische Universität, Universität für Musik und Darstellende Kunst), einem neuen Fachhochschulcampus und großen Forschungseinrichtungen (Joanneum Research). Weit über 50.000 Menschen studieren, lehren oder arbeiten in diesen Bildungseinrichtungen, zumindest jede fünfte Person in Graz ist also direkt mit den Universitäten verbunden. Unter allen Städten in Österreich trifft also auf Graz die Bezeichnung »Universitätsstadt« am deutlichsten zu. Unter den Bildungseinrichtungen ist die Karl-Franzens-Universität, auf die wir uns hier konzentrieren wollen, die älteste. Sie nennt als offizielles Gründungsdatum den 1. Januar 158511. Erzherzog Karl II. von Innerösterreich hatte ursprünglich eine   9 Vorwort des Rektors, in  : Karl-Franzens-Universität Graz (Hg.), Bulletin. Wintersemester 1996/97, Graz 1996, I/11. 10 Robert Musil, Denkmale, in  : ders., Gesammelte Werke, Bd. 2  : Prosa und Stücke, Reinbek bei Hamburg 1978, 506. 11 Walter Höflechner, Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Von den Anfängen bis in das Jahr 2005 (= Allgemeine wissenschaftliche Reihe 1), Graz 2006, 4.

Das »Gedächtnis« von Universitäten

»große Universität mittelalterlichen Zuschnitts, wie sie etwa in Bologna und in Wien eingerichtet war«12, im Auge  ; die Jesuiten, die die Universität führen sollten, sahen sie aber viel zweckgerichteter. Für sie reichten die Theologie und eine »Artistenfakultät«, die Vorläuferin der Philosophischen Fakultät im umfassenden Sinn, also mit den Naturwissenschaften. Es fehlten also eine juridische und eine medizinische Fakultät, um vollinhaltlich dem Modell der großen Universitäten zu entsprechen. Dennoch war die junge Universität ein Aushängeschild einer katholischen Bildungseinrichtung, mit Lehrern wie dem Mathematiker Paul Guldin13, der als einer der ganz Großen seiner Zeit bezeichnet werden kann. Die Universität war Bollwerk  : nach außen, um die Abwehr gegen das Osmanische Reich auch geistig zu begründen  ; nach innen, um die Gegenreformation voranzutreiben und eine katholische Elite zu schaffen. Bis 1773 gab es nur wenige organisatorische Neuerungen. In diesem Jahr wurde der Jesuitenorden aufgehoben14. Die Universität, die schon unter Maria Theresia stärker unter die Kontrolle der staatlichen Behörden gestellt worden war, wurde unter Josef II. im Jahr 1782 in ein Lyzeum zurückgestuft, obwohl ihr wenige Jahre vorher erst eine juridische Fakultät hinzugefügt worden war. Diese formelle Rückstufung von Graz machte die Universität in Wien zur zentralen Bildungseinrichtung für den deutschsprachigen Teil der Monarchie. Allerdings behielten in Graz die Theologen und auch die Philosophen das Promotionsrecht, und eine medizinisch-chirurgische Lehranstalt wurde der Hohen Schule angegliedert, so daß die eigentlich über alle Fakultäten verfügte, wenn auch mit eingeschränktem Promotionsrecht. Erst Kaiser Franz I. hob 1827, also nach 45 Jahren der Rückstufung, das Haus wieder in den Status einer Universität. Durch diese zweite »Gründung« trägt die Universität den Doppelnamen Carolo-Franciscea. Juristen konnten nun im Haus promovieren, aber erst die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte den großen Aufschwung, der den Ruf der Universität weltweit begründete. Als 1863 Medizin als vierte Fakultät vollwertig gegründet wurde, platzte die Universität im Stadtzentrum aus allen Nähten. So wurde ein »Campus«15 gegründet, der bis heute den Stadtteil Geidorf prägt und der 1895 mit dem feierlichen Setzen des Schlußsteins in der Aula durch Kaiser Franz Josef vollendet wurde. Dem schloß sich der Bau des modernen und damals größten Krankenhauses Kontinentaleuropas an. 12 Ebd., 3. 13 Ebd., 17. 14 Dies geschah unter weitreichenden Auswirkungen nicht nur auf das Bildungssystem. Für Josef II. war dies ein Schritt zur Verweltlichung und Rationalisierung der Monarchie. 15 Alois Kernbauer (Hg.), Der Grazer »Campus«. Universitätsarchitektur aus vier Jahrhunderten, Graz 1995.

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Unter den großen Lehrerpersönlichkeiten aus den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nennt das Bulletin16 unter anderem die Namen Hans Gross, Josef Schumpeter, Ludwig Gumplowicz, Richard Krafft-Ebing, Julius Wagner-Jauregg, Alexius von Meinong, Franz von Krones, Hugo Schuchardt, Ernst Mach und vor allem Ludwig Boltzmann. Graz war also für die Elite der deutschsprachigen Wissenschaft ein attraktiver Ort. Das »Pensionopolis« der Monarchie versprach ein beschauliches Leben, viel Grün, geringere Lebenshaltungskosten als etwa in Wien, weniger Schmutz und weniger Hektik. Diese Gelehrteninsel galt daher auch von einer Professur in Berlin oder Wien aus noch immer durchaus als Aufstieg. Berufungen nach Graz wurden daher sehr gerne angenommen. Obwohl der Erste Weltkrieg ein dramatischer Einschnitt war, behielt die Universität ihren ausgezeichneten Ruf. Ökonomischen Notlagen zum Trotz fanden noch Persönlichkeiten wie Alfred Wegener und nicht weniger wie vier Nobelpreisträger ihren Weg an die Universität Graz, die auf insgesamt sechs Nobelpreisträger stolz sein kann. Allerdings erhielten nicht alle den Preis in der Phase ihrer Grazer Dienstzeit. Dies war nur bei Fritz Pregl und Otto Loewi der Fall. Julius Wagner-Jauregg war nur in seinen professoralen Anfangsjahren in Graz, ebenso Karl von Frisch. Erwin Schrödinger nahm vier Jahre nach seinem Nobelpreis den Ruf nach Graz an. Victor Hess, der zwei Lebensabschnitte in Graz verbrachte, bekam den Nobelpreis genau dazwischen, aber auch er ging als Nobelpreisträger nochmals an die Universität Graz17. Das Jahr 1938 änderte alles. Graz war die »Stadt der Volkserhebung«, und schon in den Jahrzehnten davor war gerade die Universität ein Hort nationalistischer und antisemitischer Töne. Die drei 1938 noch an der Universität lehrenden Nobelpreisträger Hess, Loewi und Schrödinger wurden ins Exil getrieben. Der Professor für Semitische Philologie und Rabbiner David Herzog war schlimmsten Demütigungen ausgesetzt und sah in der sogenannten »Reichskristallnacht« noch seine Synagoge brennen, ehe er nach London fliehen konnte. Der Antrag, die Karl-Franzens-Universität in »Adolf Hitler Universität«18 umzubenennen, den der Rektor im Senat stellte, wurde glücklicherweise vertagt. So kam es hierüber nicht zur Abstimmung. Etwa 20% aller Lehrenden wurde entlassen19, unter den Professoren der Juridischen Fakultät waren es fast 40%. Und die Theologie, die an der Wiege des Hauses gestanden hatte, wurde aus dem Verband der Universität ausgeschlossen. 16 Aus der Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, in  : Karl-Franzens-Universität Graz (Hg.), Bulletin. Wintersemester 1996/97, Graz 1996, I/30. 17 Ebd., I/29. 18 Höflechner, Geschichte, 184. 19 Ebd., 188.

Das »Gedächtnis« von Universitäten

1945 mußte ein ganz neuer Anfang gesetzt werden. Wohl war die Universität in ihrer Bausubstanz nicht wirklich zerstört. Eine Bombe hatte das Physikgebäude getroffen und war dort gerade in das ehemalige Arbeitszimmer von Ludwig Boltzmann gefallen. Das hat Symbolkraft, denn von allen genannten großen Persönlichkeiten war Ludwig Boltzmann der Universität wohl am stärksten verbunden, unter anderem auch als Rektor. Die materielle Situation war schrecklich, die geistige ebenfalls, und über die Entnazifizierung der Universität wurde bereits viel geschrieben. Walter Höflechner hat die wichtigsten Forschungsergebnisse zusammengefaßt. Jedenfalls mußten von den 68 Professoren, die 1945 tätig waren, 47 entlassen werden, also 70%20. Dabei gab es durch den Krieg einen Rückstau bei den Studierenden, so daß fast 5.000 junge Menschen in die Hörsäle drängten. Erst im Studienjahr 1953/54 war die Zahl der Studierenden wieder auf unter 2.000 gesunken21. Die Universität brauchte lange, bis sie wieder die Größe der Zeit von 1914 erreichte. An ihre ehemalige Bedeutung konnte sie allerdings nie mehr wirklich anschließen. In den sechziger Jahren wurde auch sie von den politischen und kulturellen Neuerungen durch die weltweite Studentenbewegung erfaßt, wenn auch nur abgeschwächt und am Rande berührt von der Aufbruchstimmung, die in Graz vor allem vom »Forum Stadtpark« und vom »Steirischen Herbst« ausgingen. In jene Zeit und in die siebziger Jahre fiel dann die große Ausweitung durch die Öffnung der Universitäten, die schließlich in Studierendenzahlen jenseits der 30.000er-Marke gipfelten. Das machte große Raumbeschaffungsaktionen notwendig, erst in Anmietungen und später in zumindest teilweise spektakulären Neubauten. Das Universitätsorganisationsgesetz von 1975 demokratisierte die österreichische Universitätslandschaft und führte auch in Graz zu neuen Strukturen, die vor allem dem akademischen Mittelbau und den Studierenden ein großes Maß an Mitsprache gewährten. Und ab den achtziger Jahren stellte sich die Universität auch den dunklen Seiten ihrer Geschichte und setzte gerade in den Fragen des institutionellen Gedächtnisses etliche bemerkenswerte Schritte. Ihr Beitrag auch zur Neupositionierung von Graz als Menschenrechtsstadt ist unverkennbar. Der Fall des Eisernen Vorhangs ermöglichte schließlich eine Neupositionierung des Hauses im Konzert der europäischen Universitäten. Sie ist heute eine gute, in manchen Disziplinen sogar sehr gute Massenuniversität, eine Drehscheibe in wissenschaftlichen und in humanitären Fragen für das südöstliche Europa und eine national und international angesehene und akzeptierte Institution. Die gesetzliche Abspaltung der Medizinischen Fakultät durch das Universitätsgesetz 2002, eine Änderung, die 20 Ebd., 212. 21 Ebd., 217.

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alle drei österreichischen Volluniversitäten betraf, hat allerdings das Ringen um diese Anerkennung nicht leichter gemacht.

Die Erinnerung an die Gründungsphase Mitten im Herzen der Stadt Graz, auf der sogenannten »Stadtkrone«, also in unmittelbarer Nähe zu Burg und Dom, hatten die Jesuiten 1585 die Universität eröffnet. Der katholischen Stadtkrone stand die protestantische Altstadt gegenüber, in der die Landstände ihre Kinder in die protestantischen Bildungseinrichtungen schickten. In den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts wurde der Universität die prächtige Aula, heute »Alte Aula« genannt, hinzugefügt. Mit diesem Prunkbau wurde nicht nur der Universität ein Fest- und Theatersaal geschaffen, sondern auch ganz bewußt das protestantische Kulturleben der Stadt, das um jene Zeit hoch entwickelt war, konterkariert. Das protestantische städtische Bürgertum hatte für ihre Kinder im 16. Jahrhundert solide Ausbildungsstätten im Geist der Reformation geschaffen. Johannes Kepler unterrichtete hier. Das katholische Bildungswesen lag hingegen im argen, und selbst das katholische Gymnasium konnte seine Schüler nur von außerhalb der Stadt rekrutieren. Protestantische Bibliotheken und Theater waren Brennpunkte eines reichen Kulturlebens, gegen das die Gegenreformation vorerst einen schweren Stand hatte. Erst mit Gewalt, so etwa sogar durch Bücherverbrennungen am Paulustor, und durch die Vertreibung von protestantischen Gelehrten wurde Graz wieder rekatholisiert. Die Universität der Jesuiten setzte sich also mit der gar nicht zimperlichen Unterstützung von oben durch. Schon in der Gründungsurkunde vom 1. Januar 1585 betonte Erzherzog Karl II. von Innerösterreich, daß er eine Universität gründe, »weil er die Bildung seiner Untertanen fördern und vor allem die katholische Religion erhalten und, wo sie erschüttert sei, wiederherstellen wolle«22. Die Anfänge der Universität tragen also unverkennbar Spuren der Gewalt  : nach außen jene der zumindest imaginierten Türkenabwehr durch geistig-moralische Aufrüstung im Lande und durch den Einsatz der entwickeltesten naturwissenschaftlichen Forschung  ; nach innen jene der erzwungenen Rekatholisierung eines modernen, weltoffenen, ständisch-protestantischen städtischen Bürgertums. Die Universität war also in ihrer Anfangsphase Bollwerk, nicht Brücke. Von hoher Qualität, von architektonischer Schönheit, aber auch von Intoleranz und von geistiger Enge gekennzeichnet. 22 Horst Schweigert, Die »erste« Alma Mater Graecensis. Ein Baudenkmal aus der Gegenreformation und wissenschaftlicher Spiritualität, in  : Alois Kernbauer (Hg.), Der Grazer »Campus«. Universitätsarchitektur aus vier Jahrhunderten, Graz 1995, 17.

Das »Gedächtnis« von Universitäten

Wenn Graz heute stolz auf Johannes Kepler ist, verdrängt die Stadt die Tatsache, daß es für ihn als Protestanten hier in der Stadt keinen Platz gab und er daher nach Linz ausweichen mußte. Und spricht die Universität heute von ihrer Rolle als Drehscheibe nach Südosteuropa, so negiert sie ihren Gründungsauftrag, der da lautete, dem Islam und seinem Vordringen nach Europa geistig Einhalt zu gebieten. Die Universität hatte in ihren Anfangszeiten ein ganz ausgeprägtes Profil  : hohe inhaltliche Qualität und gleichzeitig enge weltanschauliche Grenzen. Sie sollte zeigen, daß nicht nur die protestantischen Universitäten des europäischen Nordens Qualität haben, sondern daß der Katholizismus mit seinen Bildungseinrichtungen ebenbürtig, ja sogar überlegen ist. Ab- und Ausgrenzung waren wichtiger als Öffnung. Wenn heute die Alte Aula ein Repräsentationsraum des Landes ist, so hat sich die Universität doch sehr lange um die Reintegration dieses Symbolortes in den Verbund der Universität bemüht. Die Idee war, die gesamten gut 400 Jahre der Geschichte in einem Ensemble auch der Gebäude zu verbinden. Aber vielleicht macht es ja gerade auf die nunmehr gefundene Weise Sinn  : Die Alte Aula war ja keine Stätte der universitären Diskussion, sie war ein Symbol des politischen Willens der Landesherren. Und nun kann die derzeitige Regierung des Landes ihren politischen Willen auf der Bühne dieses alten und wunderschönen Baus eindrucksvoll inszenieren.

Das Studentenhaus Das Studentenhaus ist ein relativ häßliches, kastenförmiges Gebäude auf dem Campus der Karl-Franzens-Universität. Es ist architektonisch so unbedeutend, daß es im umfassenden Buch über die Bauten am Campus23 mit keiner Zeile erwähnt wird. Dabei liegt es ganz zentral, unmittelbar hinter der Mensa. In der NS-Zeit fiel der Studentenschaft aber eine ganze Reihe von Aufgaben zu, die für das damalige System von Bedeutung waren. Das Reichsstudentenwerk24 hatte beispielsweise sogar die Zulassungsfragen in seiner Kompetenz, dazu auch die Fernbetreuung der im Kriegsdienst stehenden Studierenden25. Daher waren räumliche Ausweitungen unumgänglich. So kam die Schuchardt’sche Villa Malvine an das Studentenwerk, und das erwähnte Studentenhaus wurde aufgestockt, das heißt, es wurde eine dritte Ebene hinzugefügt. Im Stiegenhaus zu diesem neuen Stockwerk durfte sich ein damals und auch später sehr gefragter Künstler betätigen. Es war dies der 23 Kernbauer, Grazer »Campus«. 24 Höflechner, Geschichte, 194. 25 Ebd.

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Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsdebatten in Österreich

Maler Franz Köck, eine Person, die nahtlos in allen politischen Systemen Aufträge erhalten und kulturpolitische Funktionen bekleiden konnte, ohne daß seine politischen Positionen Gegenstand von Kontroversen waren. Für einige Jahre prangten also zwei monumentale Fresken, geschmückt mit zahlreichen Symbolen der nationalsozialistischen Herrschaft, im Stiegenaufgang des Studentenhauses. Nach dem Krieg dürften sie in aller Eile übertüncht worden sein. Jedenfalls waren sie in Vergessenheit geraten, und kein Buch der Kunstgeschichte oder Studien zur Geschichte des steirischen Nationalsozialismus erwähnten diese Gemälde. Anläßlich der Renovierung des Hauses im Studienjahr 1996/97 wurden die Bilder plötzlich entdeckt. Für mich als den damaligen Rektor war dies ein Schock. Gerade im Gebäude der Österreichischen Hochschülerschaft, der ersten Anlaufstelle für die zahlreichen ausländischen Studierenden, die damals bereits aus 98 verschiedenen Staaten der Welt zu uns kamen, waren die NS-Symbole (Hakenkreuzfahnen, Studierende, die mit dem Hitlergruß den Fahnen ihre Reverenz erwiesen) mit besonderer Dramatik versehen. In dieses Haus gehen auch die Studienanfänger, hier läuft für sie und die Interessierten die alljährliche Studienberatung. Die erste Reaktion war die des »Bildersturms«, also das Entfernen der Fresken. Ihr künstlerischer Wert schien nicht allzu hoch zu sein, so daß die vollständige Vernichtung durchaus eine Option zu sein schien. Dann aber kam die Einsicht, daß die Universität ihre Vergangenheit nicht einfach entsorgen kann. So entstand aus der Verlegenheit ein Kunstprojekt. Richard Kriesche, Medienkünstler, hatte die Idee, die Bilder von Franz Köck mit einer Glasplatte abzudecken und darauf mit einem Sandstrahl, also nicht allzu deutlich, einen Text zu schreiben, in Handschrift, um damit die angestrebte Perfektion des Nationalsozialismus durch Unvollkommenes zu »übermalen«. Der Text erscheint, wenn die Glasplatten von einem Scheinwerfer angestrahlt werden, als Schatten auf den Bildern. Ein Text war in Deutsch verfaßt, ein anderer in Englisch  : »Orte des Vordenkens sind oft ambivalent. Vorgedacht wurde an dieser Universität sowohl in Richtung von Nobelpreisen als auch in Richtung von Legitimierung und Durchsetzung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Hier, am ehemaligen Sitz des NS-Studentenbundes, sei die akademische Jugend zu Kritik und Selbstkritik, zu Toleranz und Offenheit aufgerufen. Die Jahre der Vertreibung und Vernichtung bleiben im Gedächtnis als Mahnung und Warnung, die Bilder dienen als Menetekel.«26

26 Offsite Graz. Projekt zur Malerei von Franz Köck, Universität, ÖH, Schubertstraße 6. Malerei. Franz Köck 1938, Text  : Helmut Konrad 1997, Konzeption  : Richard Kriesche 1997.

Das »Gedächtnis« von Universitäten

Die SS-Akademie für Ärzte Bis heute ist die Geschichte der SS-Akademie für Ärzte nicht wirklich aufgearbeitet. Selbst Walter Höflechner, der profundeste Kenner der Geschichte der Karl-FranzensUniversität, der sehr viel dazu beigetragen hat, daß auch die dunklen Seiten der Geschichte ihre Darstellung finden, schreibt dazu  : »Nicht Teil der Universität, wohl aber der Medizinischen Fakultät wesentlich verbunden war die SS-ärztliche Akademie, die ursprünglich in Berlin eingerichtet war, im Herbst 1940 aber aus offenbar noch nicht eruierten Gründen nach Graz verlegt und in der Landestaubstummenanstalt am Rosenberggürtel 12 untergebracht wurde.«27 Die angehenden SS-Ärzte, also jene Ärzte, deren Betätigungsfeld die Konzentrationslager des Dritten Reiches waren, wurden also in Graz ausgebildet, saßen im Zivil in den Vorlesungen der Medizinischen Fakultät, hatten aber darüber hinaus noch ihre gesonderte Zusatzausbildung in weltanschaulichen Fragen und in der körperlichen Ertüchtigung. Immerhin fast 20 dieser Studierenden schlossen ihr Studium in den Jahren bis Kriegsende ab, 200 Studierende waren immatrikuliert. Die Praktika wurden in Konzentrationslagern abgehalten, wo praktisch beliebig Versuchsoperationen auch an gesunden Menschen durchgeführt werden und medizinische Fehler aus der Sicht des Regimes vernachlässigbar sein konnten. Graz wäre nicht als einziger Standort im Dritten Reich für diese Ausbildung ausgewählt worden, hätte die nationalsozialistische Führung nicht volles Vertrauen in die Regimetreue der Universität und der Medizinischen Fakultät besessen. Walter Höflechner weist noch zusätzlich darauf hin, daß »in Zusammenhang mit der SSärztlichen Akademie […] die Verleihung einer Honorarprofessur der Medizinischen Fakultät an den Reichsarzt-SS Ernst Grawitz, zuletzt SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS zu sehen [ist], der für die Menschenversuche in den KZs verantwortlich war und am 24. April 1945 Selbstmord begangen hat.«28 Noch heute kann man, wenn man in der Universitätsbibliothek medizinhistorische Bücher ausborgt, auf den Stempel der SS-Akademie stoßen, der sorgsam durchgestrichen ist und neben dem nunmehr die Stampiglie der Universitätsbibliothek prangt. Und noch Jahrzehnte nach Kriegsende sollen im Haus Rosenberggürtel 12 Veteranentreffen der SS-Akademie stattgefunden haben. Ganz ohne Kenntnis innerhalb der Medizinischen Fakultät dürfte dies wohl nicht zu organisieren gewesen sein.

27 Höflechner, Geschichte, 199. 28 Ebd., 200.

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Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsdebatten in Österreich

Hier wartet noch ein sehr dramatisches Kapitel der Universitätsgeschichte auf die gründliche Aufarbeitung durch die nächste Generation.

David Herzog Die achtziger Jahre waren an der Universität eine Zeit der ganz bewußten Reflexion der Bruchlinien der eigenen Geschichte. Gab es 1984 noch »eine nachgerade unglaubliche Diskussion um den Text auf einer Gedenktafel, die heute noch den Vorraum der Aula ziert und für die mühselig um Kompromisse gerungen werden mußte«29, so verschafften sich ab der Mitte der achtziger Jahre die kritischeren Stimmen langsam Gehör. Der damalige Rektor Christian Brünner schlug 1988 eine Veranstaltungsreihe vor, die »Universität und 1938«30 hieß und die auch als Buch erscheinen sollte. In das Jahr 1988 fiel auch die Mitarbeit von Universitätsangehörigen beim Freilegen der Grundmauern der zerstörten Synagoge. Heute steht auf diesem Platz die neue Synagoge, in Umfang und Architektur die alten Strukturen aufgreifend. Sie ist durchaus ein Symbol für das gewandelte Klima in der Stadt Graz. Entscheidend und nachhaltig war aber die Gründung des David-Herzog-Fonds in diesem Jahr. David Herzog war von 1908 bis 1938 Landesrabbiner für Steiermark und außerordentlicher Professor für Semitische Philologie an der Universität. Nur sechs Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde ihm die Lehrbefugnis und auch die Ehrenbürgerschaft der Stadt Graz aberkannt31. David Herzog blieb in Graz, bis im November seine Synagoge, unter Beteiligung von Angehörigen der Universität, in Flammen aufging und er selbst, versteckt im Gebüsch am Murufer, knapp überlebte. Er ging, immerhin schon 69 Jahre alt, nach London, wo er als alter Mann, verbittert über sein Schicksal und unversöhnt mit Graz, starb und seine Lebenserinnerungen hinterließ. »Durch die Ereignisse des Jahres 1938 sind die jüdischen Mitglieder der Universität Graz vertrieben worden. In Erinnerung daran und in der Absicht, einen bleibenden Beitrag zur Förderung von Toleranz und Verstehen zu leisten, hat die Universität Graz mit Beschluß 29 Helmut Konrad, Laudatio durch den Rektor O. Univ.-Prof. Dr. Helmut Konrad, in  : Verleihung des Menschenrechtspreises der Karl Franzens Universität Graz an Herrn Dipl. Ing. Dr. h .c. mult. Simon Wiesenthal (= Grazer Universitätsreden 54), Graz 1994, 23. 30 Christian Brünner/Helmut Konrad (Hg.), Die Universität und 1938 (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 11), Wien/Köln 1989. 31 Andreas Schweiger, David Herzog. Erinnerungen eines Rabbiners. 1932–1940 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 32), Graz 1995.

Das »Gedächtnis« von Universitäten

des Akademischen Senates vom 11. März 1988 den David-Herzog-Fonds errichtet. Ziel der David-Herzog-Fonds Stipendien ist es, das interkulturelle Verstehen und Lernen – speziell in Bezug auf die jüdische Kultur – zu fördern und zu unterstützen.«32

Dieser David-Herzog-Fonds ist ein ganz deutlich sichtbares Zeichen des veränderten Denkens. Die Universitätsangehörigen haben ihn gemeinsam mit der öffentlichen Hand finanziert, und es kommen und gehen jährlich etliche Stipendiaten nach Graz oder an israelische beziehungsweise amerikanische Universitäten. Ein Zentrum für Jüdische Studien hat sich etabliert, und eine Gastprofessur erweitert das einschlägige Lehrangebot. Heute gehören alle steirischen Universitäten dem Fonds an, der sich also auch zu einem regionalen Bindeglied entwickelt hat. Und ein eigenes joint degree-Programm mit einer deutschen und einer schweizerischen Universität zu jüdischen Studien ist gerade in Ausarbeitung. 1988 war also ein Wendepunkt. Wenige Jahre darauf wurde erstmals der Menschen­ rechtspreis verliehen, und zwar an Jon Sobrino, Professor für Systematische Theologie an der Universität von San Salvador, für seinen kompromißlosen Einsatz für die Menschenrechte und die Menschenwürde in Lateinamerika. 1994 wurde dieser Preis in einer Feier von hoher Symbolkraft an Simon Wiesenthal vergeben.

Schlußbemerkungen Die Karl-Franzens-Universität Graz hat ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrer eige­ nen Geschichte. Sie weiß, daß sie historisch mehr als einmal für Intoleranz und Ausgrenzung gestanden hat und daß manche ihrer Mitglieder wohl bis heute vergangenen Denkmustern nachtrauern. Aber sie hat, wenigstens in den letzten beiden Jahrzehnten, den internen und den externen Diskurs thematisch besetzt und mit ihrem institutionellen, offiziellen Gedächtnis die Definitionsmacht an sich gezogen. Heute ist das Bild der toleranten, weltoffenen Universität, die sich ohne jede Scheu auch den belasteten Teilen ihrer Vergangenheit stellt, das hegemoniale Bild nach außen und innen. So ist es etwa auch möglich, daß in der Aula neben mehreren anderen Büsten wieder jenige von Otto Loewi steht. Und daß die Familie dieses 1938 vertriebenen Nobelpreisträgers (der den Nationalsozialisten den Geldbetrag des Preises als »Fluchtsteuer« abzuliefern hatte) heute gerne in das Haus zurückkehrt, wo auch sie einen Teil 32 Text der Homepage des David-Herzog-Fonds der steirischen Universitäten. Zu finden auf der Home­page der Karl-Franzens-Universität Graz. Zugriff am 17. Juli 2006.

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Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsdebatten in Österreich

ihrer Jugend verbracht hat. Was hier für Loewi gesagt wird, gilt ebenfalls für einen Teil der anderen vertriebenen Personen.

Résumé Comme d’autres institutions politiques, économiques ou culturelles, les universités disposent également d’une mémoire institutionnelle. Celle-ci, et c’est normal, n’est pas une mémoire collective, mais une mémoire culturelle, car la plupart des membres de l’université, les étudiants changent rapidement suite au renouvellement des générations. Pour les universités cette mémoire culturelle est particulièrement importante  : elle exerce une influence sur l’image nationale et internationale, elle établit la réputation d’une université. Ainsi, au-delà du classement et des décisions politiques, la situation matérielle des universités est influencée. C’est pourquoi certaines universités ont un intérêt tout particulier à effacer leur propre histoire et à en exclure les côtés sombres. Par exemple, l’histoire de l’Université Karl Franzens de Graz peut être élucidée en ses différentes époques  : a) en tant qu’université jésuite, elle a d’abord évincé les protestants, puis écarté les institutions formatrices de ces derniers et un savant et chercheur de pointe comme Johannes Kepler  ; b) comme « forteresse à la frontière de la science allemande », beaucoup a été fait ici pour la préparation d’une pensée favorable au national-socialisme. En 1938, l’université a chassé ses prix Nobel et s’est voulue bastion contre le SudEst. Dans la culture de la mémoire, on se réfère uniquement encore, et pour longtemps, aux six lauréats du prix Nobel et à d’autres éminents personnages comme Boltzmann, Wegener ou Gross. C’est seulement en 1988, un demi-siècle après le rattachement de l’Autriche au Troisième Reich que l’université accepte l’intégralité de son histoire. Elle a entrepris des actions remarquables, mais elle éprouve encore du mal à assumer en bloc sa mémoire institutionnelle alors qu’elle comporte encore des lignes de fracture.

Summary Like other political, economic, or cultural arrangements, universities also possess an institutional memory. This is ordinarily not a collective but a cultural memory, because most of university members – namely the students – quickly change generations. For universities this cultural memory is especially important. It influences

Das »Gedächtnis« von Universitäten

national and international perceptions, thereby establishing the reputation of a university. Thus, besides rankings and political decisions, the material conditions of universities are also influenced. Universities therefore have a special interest in polishing their own history and obfuscating the dark sides of it. This can be illustrated by the various epochs in the history of the Karl Franzens University of Graz  : A) As a Jesuit university it began by persecuting Protestants and their educational institutions (including renowned researchers like Johannes Kepler). B) As a “bulwark of German science” it provided space for the conception of National Socialism. The university chased its Nobel prize winners in 1938 and boasted of being a fortress against the Southeast. Yet in retrospect there has been reference for a long time only to the six Nobel laureates and other prominent figures like Boltzmann, Wegener, and Gross. Not until the year 1988, a half century after the integration of Austria into the German Reich, did the university confess its history. It has undertaken noteworthy actions but still has a difficult time in understanding the broader implications of its institutional memory so that the fissures in it are integrated. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Das »Gedächtnis« von Universitäten. Das Beispiel Graz, in  : Andreas Sohn (Hg.), Memoria  : Kultur – Stadt – Museum. Mémoire  : Culture – Ville – Musée (= Herausforderungen 18), Bochum 2006, 135–149 (Verlag Dr. Dieter Winkler).

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Zur Positionierung der Zeitgeschichte Das Grazer Beispiel (1995) Trotz der Überschaubarkeit des österreichischen Wissenschaftsbetriebes haben die universitären Institutionen, die sich mit Zeitgeschichte befassen, an den einzelnen Standorten ganz unterschiedliche Profile, die einerseits von den jeweiligen Rahmenbedingungen, anderseits aber durchaus auch von sehr stark variierenden Grundauffassungen darüber, was Zeitgeschichte sein soll, herrühren. Graz hat dabei in beiden Bereichen eine recht ausgeprägte Sondersituation. Institutionell wurde ein Lehrstuhl für Zeitgeschichte erst 1984, damit als letzter an allen österreichischen Universitäten, besetzt. Zudem ist die Bezeichnung des Lehrstuhls »Allgemeine Zeitgeschichte mit Berücksichtigung außereuropäischer Länder und Kulturen« ein eindeutiger Hinweis darauf, daß nicht an einen zusätzlichen Schwerpunkt zur österreichischen Zeitgeschichte gedacht war. Konsequent läuft daher etwa der Einsatz der Bibliotheksmittel in nur zwei Bereiche, in die außereuropäische Geschichte und in die Frauengeschichte. Hier sind Spezialsammlungen entstanden, die ohne Zweifel schon überregionale Bedeutung haben. Die glückliche institutionelle Verbindung mit der Universität Linz über das gemeinsame Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung hat dazu geführt, daß mit einer großen Schenkung ein einzigartiger Schwerpunkt »Kulturgeschichte der Arbeit« geschaffen werden konnte. Auch die Lehre setzt Schwerpunkte in ähnlichen Bereichen und greift ständig über Europa hinaus, und die Forschung bemüht sich zumindest, in den Projekten international anzusetzen. Die beiden bevorstehenden Habilitationen betreffen ein Amerika- und ein Frauenthema, was das Profil der Grazer Zeitgeschichte noch verstärken sollte. Der späten Gründung der »Zeitgeschichte« ist es wohl zuzuschreiben, daß sich schon länger, neben außeruniversitären Institutionen, die sich mit zeitgeschicht­ lichen Fragen befassen, an vier der sechs Fakultäten Institute gebildet haben, die sich ­direkt oder indirekt mit Zeitgeschichte befassen. An der Theologischen Fakultät ist die kirchliche Zeitgeschichte installiert (und zeitgeschichtliche Forschung betreibt erfolgreich auch das Institut für Kirchenrecht)  ; an der Juridischen Fakultät arbeiten alle rechtshistorischen Institute auch zeitgeschichtlich, wovon eines sogar das zeithistorische Periodikum Geschichte und Gegenwart herausgibt  ; an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät ist das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nachdrücklich zeithistorisch orientiert  ; an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät reicht die Palette von einzelnen Abteilungen des Instituts für Geschichte

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Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsdebatten in Österreich

(Neuzeit, Österreichische Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte) bis zur Philosophie, der Kunstgeschichte und den Literaturfächern. Institutionell ist die Grazer Zeitgeschichte als »Allgemeine Zeitgeschichte« eine Abteilung des Instituts für Geschichte. Dies erlaubt, relativ kostengünstig arbeitsteilig zu wirtschaften. Durch die Fachbereichsbibliothek kann die Zeitgeschichte das Feld »Österreich« praktisch völlig ausklammem. Europa wird großteils von der Neuzeit abgedeckt. Auch die Lehre ist ohne enge Grenzen der wechselseitigen Anrechenbarkeit angelegt, zeitgeschichtliche Lehrveranstaltungen werden von wesentlich mehr Personen außerhalb der Abteilung angeboten als von Mitgliedern des engeren Teams. Dafür aber kommen aus der Zeitgeschichte Längsschnittangebote (gemeinsam mit der Alten Geschichte und dem Mittelalter), Fachdidaktik, Sozialkunde, Neuzeit und Österreichische Geschichte, Frauenforschung, Ringvorlesungsteile u.a. Dieser institutionelle Rahmen bedingt auch ein ganz spezifisches Fachverständnis der Grazer Zeitgeschichte. Sie geht nicht davon aus, daß dem eigenen Fach eine deutlich mehr außengeleitete, politikbezogene Position zukommt als den anderen Teildisziplinen des Fachs. Gegenwartsrelevanz, bedingt durch den geringen historischen Abstand zu den analysierten Ereignissen und Strukturen, bedeutet aber wohl nicht viel mehr als die Möglichkeit, im Rahmen des Fachs mit anderen Quellen und daher auch mit anderen Methoden zu arbeiten als in der frühen Neuzeit. Natürlich muß die Zeitgeschichte manchmal auf konkrete Herausforderungen reagieren, wie etwa auf die derzeitigen Migrationsströme in Europa und deren politische Auswirkungen. Sie macht das aber dann aus der staatsbürgerlichen Verantwortung für Beiträge zur politischen Bildung, ihr eigentlicher Inhalt ist damit nicht beschrieben. Das engagierte politische Auftreten basiert doch nur auf geringfügig höherer Sachkompetenz als jener aus anderen Disziplinen, und ganz sicher ist mit einer zweitrangigen Politikwissenschaft das Fach nicht definiert. In unserem Bezugssystem versuchen wir, Zeitgeschichte als wesentlichen Bestandteil der Geisteswissenschaften zu definieren. Dabei ist klar, daß Geisteswissenschaft ein unklarer Begriff ist, daß die durch das Universitätsorganisationsgesetz (UOG) vollzogene Fakultätstrennung von den Naturwissenschaften manch willkürliche Komponente hat. In Graz ist der Sport Geisteswissenschaft, die Psychologie Naturwissenschaft. Das hat in den siebziger Jahren vielleicht unter bestimmten personellen Konstellationen Sinn gemacht, läßt aber nicht gerade auf ein durchdachtes Konzept schließen. Aber Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften verstanden, bilden durchaus ein Bündel von Fächern, die starke Binnenbezüge aufweisen. Eine Zeitgeschichte wie die Grazer ist daher bewußt Teil des Instituts für Geschichte als eine historische Disziplin. Und über den engeren Fächerkanon hinaus, der Zeitgeschichte vertikal als Teildisziplin in die historischen Fächer einbindet, kommt die horizontale

Zur Positionierung der Zeitgeschichte

Vernetzung mit den anderen gegenwartsbezogenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen dazu. Natürlich ist auch der Begriff der Kulturwissenschaften nicht gerade ein Modellfall für begriffliche Trennschärfe. Ohne Zweifel gehören all jene Fächer dazu, die sich mit Hochkultur im engeren Sinn befassen (Musikwissenschaft, Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Archäologie). Neben diese treten die an der Alltagskultur interessierten Disziplinen wie Volkskunde, Geschichte und Soziologie. Die Philosophie als Kern- und Metafach ist natürlich unverzichtbar. Aus einem Großteil jener Fächer ist der bislang einzige geisteswissenschaftliche Spezialforschungsbereich, der es geschafft hat, ein umfassendes Konzept zu erstellen und die ersten Begutachtungshürden zu nehmen, konzipiert. Die Jahre 1994 bis 2003 werden in der geisteswissenschaftlichen Grazer Forschungslandschaft vom Spezialforschungsbereich »Moderne« geprägt werden. Derzeit sind es sechs Disziplinen (Philosophie, Zeitgeschichte, Österreichische Geschichte, Germanistik, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte), die zusammenarbeiten werden, um sowohl in 17 Spezialuntersuchungen die fachspezifische Vertiefung der Erkenntnisse voranzutreiben, als auch in einem dichten Gewebe gemeinsamer Aktionen das Verbindende und vielleicht eine Gesamttheorie, sicher aber eine Gesamtschau herauszuarbeiten. Mehrere Gastprofessuren sind schon jetzt in das Konzept eingebettet, das Land Steiermark und die Stadt Graz sind großzügige langfristige Verpflichtungen eingegangen. Dies bedeutet, daß für ein Jahrzehnt mindestens zwei Drittel des Teams der Grazer Zeitgeschichte voll an einem fachübergreifenden Projekt arbeiten werden. Somit kann Zeitgeschichte hier nicht auf die Errichtung von Schranken zu den anderen Disziplinen setzen, sondern nur auf wechselseitige Durchdringung und auf den Versuch, unser Fach, dessen Gesamtentwicklung in den letzten Jahren relativ stark auf ein sozialwissenschaftliches Eigenprofil abgestellt hat, in den Rahmen der Geisteswissenschaft oder der Kulturwissenschaft zurückzuholen. Dabei ist durchaus klar, daß es heute kein einheitliches Konzept für die österreichische Zeitgeschichte mehr geben kann. Es wäre völlig unsinnig, dieses hier vorgestellte Modell auf alle Universitätsstädte zu übertragen. Die Aufgaben des Faches sind zu vielfältig, um sie mit einer einzigen Perspektive abdecken zu wollen. Aber ebenso würde es keinen Sinn machen, alle Institute auf eine politische Geschichte zu verpflichten oder Zeitgeschichte exakt periodisieren zu wollen. Die Qualität der österreichischen Zeitgeschichtsforschung ist heute so hochstehend, daß sie keine Schrebergartenzäune zur Absicherung ihrer Territorien errichten muß. Es steht weder die Notwendigkeit nach einer Definition des Fachs noch nach einem verbindlichen Kanon auf der Tagesordnung. Zeitgeschichte heute über die Methoden zu definieren, müßte Sozialhistoriker, Soziologen und Kunsthistoriker vergrämen. Sie über eine Epochenfestschreibung

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abzugrenzen, ruft alle kulturhistorischen Disziplinen auf den Plan. Und sie über einen gesellschaftspolitischen Anspruch zu definieren, läßt wohl politik- und sozialwissenschaftliche Forscher nur müde lächeln. Und daß »österreichische Zeitgeschichte« nicht nur »Zeitgeschichte Österreichs« sein kann und soll (obwohl dies natürlich primäres Forschungsfeld ist), wird ohnedies niemand behaupten wollen. Warum also nicht die Vielfalt und Offenheit zum Programm erheben  ? Warum sich also angesprochen fühlen, wenn Politiker meinen, Zeitgeschichte habe in ganz bestimmten Bereichen »versagt«  ? Aus welcher Machtfülle werden uns hier Aufgaben zugeteilt, nach deren Bewältigung wir benotet werden  ? Das gilt es scharf zurückzuweisen. Zeitgeschichte ist allemal und zuerst eine wissenschaftliche Disziplin. Als solche unterliegt sie wissenschaftsimmanenten Kontroll- und Bewertungskriterien. Hier hat sie sich zu behaupten, hier hat sie sich der nationalen und internationalen Konkurrenz zu stellen. Das ist die Aufgabe unseres Faches, die wohl wirklich groß genug ist. Zitiert nach  : Helmut Konrad, Zur Positionierung der Zeitgeschichte. Das Grazer Beispiel, in  : Ingrid Böhler/ Rolf Steininger (Hg.), Österreichischer Zeitgeschichtetag 1993. 24. bis 27. Mai 1993 in Innsbruck, Innsbruck/Wien 1995, 37–40 (Österreichischer Studienverlag).

Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsbewußtsein (2008)* Franz Waich, Bergarbeiter, Jahrgang 1889, wurde 1938 Nationalsozialist. Er war nicht mehr jung, knapp fünfzig, war politisch gebildet und nicht einfach durch schöne Worte oder politischen Aktivismus zu beeindrucken. 1934 hatte er, der aus Kärnten in das Köflacher Kohlerevier gezogen war, im Zuge der Februarkämpfe seine Arbeit verloren. Bis 1938 blieb er arbeitslos. Seine zwei Kinder, Jahrgang 1922 bzw. 1924, erlebten diese Jahre als tristesten Abschnitt ihrer Jugend. 1938 erhielt Frau Waich Arbeit, die Kinder fuhren ins Ferienlager, er selbst reiste durch das Deutsche Reich, seine Frau konnte mittags endlich die Teller füllen. 1945 wurde Franz Waich wieder Sozialdemokrat. Er war kein Antisemit, kein Deutschnationaler, Heimat bezog sich für ihn auf die bekannte Umgebung, den Arbeiter-Gesangsverein, das örtliche Wirtshaus. Als er starb, war er Träger der Auszeichnung für fünfzigjährige Mitgliedschaft in der SPÖ, am Grab sprach neben dem Parteiobmann auch der Obmann des Kameradschaftsbundes. Den Wechsel vom Sozialisten zum Nationalsozialisten und zurück empfand Franz Waich nie als Bruch oder als opportunistische Handlung. Er war ja stets sozial und antiklerikal eingestellt, hatte ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein als Arbeiter und konnte diese persönlichen Orientierungen tatsächlich bruchlos über die historischen Scheidelinien transportieren. Die politische Wendemarke war in seinem Selbstverständnis immer 1934, nicht 1938.1 Biographien wie diese sind in Österreich in beliebiger Menge auffindbar. Franz Waich steht für eine große Gruppe von Menschen, die, wenn auch regional unterschiedlich verteilt, einen ganz bestimmten Ausschnitt nationalsozialistischer Herrschaft erlebt hatten, der manche, für das Verständnis des Systems aus der Sicht der Geschichtswissenschaft konstitutive Teile ausgeblendet ließ. Zeitgeschichte als Geschichte der Zeitgenossen muß sich, vor allem dann, wenn sie sich bemüht, über Regional- und Alltagsgeschichte die subjektiven Wahrnehmun­gen der sogenannten »kleinen Leute« in ihr Gesamtverständnis zu integrieren, bewußt sein, daß sie von Ereignissen handelt, die die Menschen persönlich erlebt und von denen sie ein »Bild« im Kopf haben. Wohl niemandem würde es einfallen, einem Althistoriker die Fachkompetenz abzusprechen, weil er persönlich den Peloponne*

In einigen Passagen folgt dieser Text  : Helmut Konrad, 50 Jahre nach 1938  : Möglichkeiten und Grenzen der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19  : Graz 1938, 2. Auflage, Graz 1988, 11–23.

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sischen Krieg nicht erlebt hat. Der Zeithistoriker wird aber ständig mit Menschen konfrontiert, die am beschriebenen Geschehen teilgenommen haben und somit für sich die angeblich höhere Sachkompetenz der eigenen Erinnerung beanspruchen. Dahinter steckt ein echtes Problem, das spätestens dann realisiert wird, wenn wichtige Erfahrungs- und Lernzeiten des eigenen Lebens zum Gegenstand der Forschung der nächsten Generation werden. Und zweifellos ist darin auch eine der Wurzeln des Unbehagens der Öffentlichkeit an dem Fach zu sehen  : Wissenschaftliche Erkenntnis hat notwendigerweise ein höheres Abstraktionsniveau als die historische Quelle (und als solche kann die Einzelperson mit der konkreten Erfahrung betrachtet werden – zumindest im Prozeß zeithistorischen Arbeitens), und selbst die Summe der Teilerkenntnisse ist nicht die Gesamtgeschichte, wenn man überhaupt von einer solchen sprechen kann. Ernst Hanisch hat unlängst mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß zur Zeit des Nationalsozialismus individuell die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht werden konnten. Zwischen einem jüdischen Emigranten und einer BDMFührerin lagen Welten, die Wahrnehmungshorizonte überschnitten sich nicht. Aber »sie alle neigten dazu, ihre individuellen Erlebnisse als die Wirklichkeit des Dritten Reiches auszugeben.«1 Dabei ist es erstaunlich, in welch geringem Ausmaß es in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, in Österreich das allgemeine Wissen über den Nationalsozialismus zu vergrößern. Obwohl dies auch wissenschaftsimmanente Ursachen hat, wäre es zweifellos falsch, daraus eine Krise der Zeitgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin abzuleiten. Der Zeithistoriker kann und muß allerdings erkennen, daß es zur Frage der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich eine erschreckende Diskrepanz zwischen dem institutionalisierten, von Fachwissenschaft und Staat abgesicherten Wissen und einer »grauen«, d.h. privaten und völlig unkontrollierten Vermittlung von Geschichte gibt. Dies hat zumindest zwei Ursachen  : einerseits gibt es Spezifika im »offiziellen« Geschichtsbild, durch die die Rezeption nicht gerade gefördert wird, andererseits nützt die »graue« Geschichte mit ihren Teilwahrheiten (die aber in Summe zu entsetzlichen Verzerrungen führen) die Chance, emotionelle Bereiche ganz ohne Konkurrenz zu besetzen. Dieses Auseinanderklaffen hängt auf der Seite der Wissenschaft vor allem an der Geschichte der Forschung zu diesen Jahren, wie sie nach 1945 ablief. Im Mittelpunkt des Interesses standen nämlich vor allem Arbeiten zum Widerstand. Es ging dabei um die politisch wenig kontroversielle Aufarbeitung der Geschichte des »anderen Österreich«, eine Aufgabe, die auch ihre außenpolitische Relevanz hatte. Die ersten 1

Ernst Hanisch, Ein Versuch, den Nationalsozialismus zu »verstehen«, in  : Anton Pelinka/Erika Weinzierl (Hg.), Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 1987, 154.

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­ rbeiten dazu stammten von Karl R. Stadler2, Ludwig Jedlička3, Erika Weinzierl4 und A Herbert Steiner5, und von diesem Personenkreis wurde eine ganze Studentengeneration geprägt, die in diesem »anderen Österreich« nach einer für sie positiv besetzten Tradition suchte. Aber außerhalb des Blickfeldes verblieb die Geschichte der Mehrheit, der kleinen Opportunisten, der Mitläufer (und anfänglich auch die der Täter). Diese Mehrheit wurde nunmehr über die Forschung mit den Möglichkeiten, sich zu widersetzen, und gleichzeitig mit den Gräueln der NS-Herrschaft konfrontiert. Die Abwehrreaktion gegen diese Informationen bestand überwiegend in einem Abschieben unter dem Titel »Siegergeschichtsschreibung« und im Festhalten an der persönlichen, oft positiven Erfahrung aus diesen Jahren. Lagerromantik bei HJ und BDM, Arbeitsplätze, Selbstbewußtsein, Kameradschaft etc., all dies wurde unter der Behauptung, aus eigener Anschauung zu wissen, »wie es eigentlich gewesen ist«, privat und halböffentlich tradiert.6 Da lange Zeit kaum Zeitgeschichte an den Schulen vertreten war (und sinnvoll auch erst nach einer universitären Verankerung und damit einer Ausbildung der Lehrer betrieben werden konnte), dominierte dieses »graue« Geschichtsbild nur allzu leicht über die Wissenschaft. Für Franz Waich und tausende Menschen in Österreich, die einer ähnlichen sozialen Gruppe angehören, lassen sich die Elemente dieser »grauen« Tradierung sehr leicht umschreiben. Sie setzen sich zumindest aus folgenden Punkten zusammen  : a) der Ständestaat sei die arbeiterfeindlichere Form der Diktatur gewesen, denn erst im Nationalsozialismus sei etwas für die kleinen Leute getan worden  ; b) der Nationalsozialismus hätte die Standesunterschiede nivelliert, er wäre sozial durchlässiger gewesen  ; c) der Nationalsozialismus hätte die Macht der Kirche reduziert und somit eine »Revanche« für 1934 geboten  ; d) im Nationalsozialismus hätte es ein festes Wertsystem, Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung gegeben.

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Karl R. Stadler, Österreich 1938–1945 im Spiegel der NS-Akten (= Das einsame Gewissen. Beiträge zur Geschichte Österreichs 1938 bis 1945 3), Wien/München 1966. Ludwig Jedlička, Der 20. Juli 1944 in Österreich (= Das einsame Gewissen. Beiträge zur Geschichte Österreichs 1938 bis 1945 2), Wien/München 1965. Erika Weinzierl, Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938–1945, Graz/Wien 1969. Herbert Steiner, Zum Tode verurteilt. Österreicher gegen Hitler. Eine Dokumentation, Wien u.a. 1964. Beinahe jeder aus meiner Generation kennt den Typ des Lehrers, der seine Stunden mit Erzählungen aus dem Krieg füllte.

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Alle Punkte laufen darauf hinaus, im Nationalsozialismus eine Spielart der Arbeiterbewegung zu sehen. Sie haben dabei die besondere Tradition der südösterreichischen Arbeiterbewegung als Hintergrund, die bei Franz Waich besonders in einer nur formalen Mitgliedschaft zur katholischen Kirche zum Ausdruck kam. In den regionalen Bezugslandschaften (steirisches Industriegebiet, Lavanttal in Kärnten) waren die Bürgerkriege des Jahres 1934 besonders heftig geführt worden, im Februar in der Steiermark, im Juli in Kärnten. Natürlich verfügt die Geschichtswissenschaft nicht erst seit gestern über Analysen der Anziehungskraft des Nationalsozialismus7, die von Untersuchungen zur Sozialstruktur der Bewegung ergänzt werden. Das Propagandamaterial ist bekannt, die Presse ist durchgearbeitet. Die Rahmenbedingungen sind geklärt, die ideologischen Traditionen (etwa die »Anschlußtradition« der Arbeiterbewegung8, der Antisemitismus9 etc.) sind in den wesentlichen Bereichen der Fachwissenschaft bekannt. Trotzdem überlebte und überlebt jener Bodensatz an Einschätzungen und Werthaltungen, wie er für ein bestimmtes Bevölkerungssegment oben skizziert wurde, weil er an einem konkreten Ausschnitt des Gesamtbildes, der subjektiven Erfahrung, anknüpfen kann. Er ist nicht von vornherein falsch, gewichtet aber schief. Während die Wissenschaft heute übereinstimmend zur Auffassung gelangt, daß die Arbeiter im Nationalsozialismus unterrepräsentiert waren, konnte die konkrete persönliche Erfahrung zum gegenteiligen Schluß führen, der dann die politische Entscheidung 1938 und die Verarbeitung dieses Schrittes in den Folgejahrzehnten entscheidend beeinflußte. Während die konkrete Entscheidung von 1938 erklärbar ist, so ist hingegen das spätere Verharren auf einer Position, die diese Entscheidung rechtfertigen kann, schon schwerer verständlich. Es kann nicht die ausschließliche, wahrscheinlich nicht einmal die primäre Aufgabe der Wissenschaftsdisziplin Zeitgeschichte sein, »Einstellungen in der Gegenwart«10   7 Die Frage der Anziehungskraft des Nationalsozialismus ist am besten aufgearbeitet bei  : Gerhard Botz, The Changing Patterns of Social Support for Austrian National Socalism (1918–1945), in  : Stein U. Larsen/Bernt Hagtvet/Jan Petter Myklebust (Hg.), Who Were the Fascists  ? Social Roots of European Fascism, Bergen/Oslo/Troms 1980.   8 Helmut Konrad (Hg.), Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts, Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/München/ Zürich 1978.   9 John Bunzl/Bernd Marin, Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien (= Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 3), Innsbruck 1983. 10 Lothar Höbelt, »Moralische Anstalt  ?« Gerhard Botz und die Zeitgeschichte in der Waldheim-Ära, in  : Die Presse, 23./24. Mai 1987.

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zu prägen. Aber zu meinen, ein so sensibles Fach könne sich in den Elfenbeinturm zurückziehen und auf die wissenschaftsimmanenten Antriebe vertrauen, geht doch deutlich an der Realität vorbei. Allein die Tatsachen, daß man heute zeithistorische Kontroversen auch über die Medien austragen kann und daß die Öffentlichkeit verstärkt ihr Interesse signalisiert (und sei es nur in der Konsumhaltung, die Geschichte ausschließlich als Teil der Allgemeinbildung betrachtet), zeigen doch, daß von außen Anforderungen an das Fach herangetragen werden. Die Zeitgeschichte steht im Spannungsfeld von wissenschaftsimmanentem Antrieb und politischem Anspruch, und dies wird umso deutlicher, je stärker sich das Fach selbst als im Grenzbereich zwischen Geistes- und Gesellschaftswissenschaft angesiedelt begreift. Der Forscher hat das wohl zu akzeptieren. Es gibt Spielregeln und Erwartungshaltungen, in denen er der Zunft der Historikerkollegen verpflichtet ist, es gibt aber auch von außen herangetragene Fragestellungen, Aufgaben und Forderungen, die die tägliche Arbeit im Fach prägen. Vorträge in Schulen, vor politischen Organisationen, in der Erwachsenenbildung, die universitäre Lehre selbst, die politische Tagespolemik, all das bindet nicht nur persönliche Ressourcen, sondern bedeutet auch Prägung. Das heißt aber nicht, Wissenschaft »zu Agitprop-Arbeit zu degradieren.«11 Wohl wird man sehr scharf beachten müssen, daß öffentliche politische Willensäußerungen von Zeithistorikern sehr sensibel sind. Nur zu leicht ist man versucht, hinter eine politische Meinungsäußerung, zu der man das gleiche Recht wie andere Staatsbürger hat, das Gewicht einer angeblichen Sachkompetenz zu setzen. Tut man es selbst nicht, versuchen es Vereinnahmer oder die Medien. Gerade in den letzten Monaten ist man nur zu leicht von beiden Seiten dieser Versuchung erlegen. Aber selbstverständlich werden die Fragestellungen für die Zeitgeschichtsforschung nicht nur aus einem wissenschaftsinternen Diskurs gewonnen. Neben unmittelbaren, persönlichen Verflechtungen gibt es so viele indirekte Verbindungen von Gesellschaft und Wissenschaft, daß man wohl akzeptieren muß, wenn Fragen von außen an das Fach herangetragen werden. Daß es aber dann um seriöse Arbeiten nach allen Gesetzen der Wissenschaft geht, steht sicher außer Frage. Die Verwertung der Ereignisse muß aber auch vom Historiker mitgedacht werden. Um ein Beispiel zu nennen  : Wohl niemand wird bestreiten, daß die Motivation, sich mit der Geschichte des österreichischen Antisemitismus zu beschäftigen, aus der gegenwärtigen politischen Situation kommen kann. Die seriöse Analyse vorausgesetzt, darf der Historiker doch auch ein Interesse daran haben, mit seiner Arbeit emanzipatorisch im Sinn von Vorurteilsreduzierung zu wirken. Wenn die differenzierte und alle methodischen Regeln beachtende, sich der Kritik und Kontrolle stellende Arbeit 11 Ebd.

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(im Sinne von »Begründungsobjektivität«12) nicht ausreicht, um Wissenschaft zu konstituieren, wird man sich wohl zum »Agitprop« bekennen müssen. Aber jenseits dieses Streits wird sich die österreichische Zeitgeschichte seriös der Frage zuwenden müssen, wie denn der Paradigmawechsel von einer Politik- und Organisationsgeschichte hin zu einer Alltags- und Kulturgeschichte theoretisch und methodisch verarbeitet werden und was dies für das Geschichtsverständnis von Leuten wie Franz Waich bedeuten kann. Denn in der Kritik an der »Koalitionsgeschichtsschreibung« kam doch auch zum Ausdruck, daß eine auf Haupt- und Staatsaktionen beschränkte Geschichtsschreibung in ihren handlungsanleitenden Funktionen für die Gegenwart zu kurz greift. Nun, wo im deutschen Historikerstreit Geschichte plötzlich »sinnstiftend« zu werden droht, erweckt dies gerade bei jenen Ängste (und ich zähle mich durchaus dazu), die bisher das zu geringe Ausmaß einer Sinnstiftung durch das Fach beklagt haben. War es nicht die Haupttriebfeder für die Erweiterung des Fachs »Geschichte der Arbeiterbewegung« hin zu einer Arbeitergeschichte, daß das Erfassen historischer Prozesse für die Bewältigung der Gegenwart unmittelbarer nutzbar sein sollte  ? Wurden nicht lokale Geschichtswerkstätten, »Grabe-wo-du-stehst«-Initiativen, Frauengeschichtegruppen etc. gerade unter dem Aspekt der Identitätsfindung, also der Sinnstiftung, begrüßt  ? Gibt es also »gute« und »verwerfliche« Sinnstiftungen  ? Oder sollte eine Wissenschaft, die der Aufklärung verpflichtet ist, den Anspruch auf Vermittlung von historischen Identitäten überhaupt aufgeben  ? Aber was bleibt  ? Keinesfalls soll das Kind mit dem Bad ausgeschüttet werden. Die Geschichtsschreibung kann sich nicht wieder zurückziehen und auf die Positionen des Historismus verpflichten lassen. Sie wird aber vorsichtig agieren müssen und die Änderung des Blickwinkels (»Geschichte von unten«13) als nur eine von mehreren Möglichkeiten des Umgangs mit Geschichte, keinesfalls als das allgemein und umfassend erklärende, die anderen Sichtweisen ausschließende Heilmittel betrachten lernen. Man kann und soll durchaus »Zugehen auf die Menschen des Jahres 1938«14, eine historische Aufarbeitung darf aber nicht auf Regional- und Alltagsgeschichte beschränkt bleiben. Franz Waich war kein KZ-Aufseher, in Maria Lankowitz mußte die NSDAP nicht der bedrückende Apparat sein, sogar am Holocaust konnte man vorbeileben. Politische Konflikte wurden und werden in der Kleinregion nur zu leicht in persönliche aufgelöst, die aus der Gesamtschau gewonnene Erkenntnis wirkt im 12 Jörn Rusen, Objektivität, in  : Klaus Bergmann u.a. (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 3. völlig überarb. u. bed. erweit. Auflage, Düsseldorf 1985, 154. 13 Hubert Christian Ehalt (Hg.), Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags (= Kulturstudien 1), Wien/Graz/Köln 1984. 14 Hanisch, Versuch, 155.

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Brennglas der Nahbetrachtung überdimensioniert, verzerrt. Franz Waich konnte nur begrenzte Erfahrungen aus diesen Jahren sammeln. Sie waren, aus seiner Sicht, zumindest nicht nur negativ. Aufgabe der Geschichtswissenschaft sollte es sein, die Zusammenhänge zwischen der möglichen positiven Erfahrung (z. B. der Chance, Arbeit zu erhalten) und der absoluten negativen Konsequenz, also dem Krieg, herauszuarbeiten und so nicht »graue Geschichte« gegen »offizielles Geschichtsbild« stehen zu lassen, sondern beide miteinander zu verknüpfen, um nicht durch die zwangsläufige Dominanz der privaten bzw. halböffentlichen Tradierung letztendlich jede kritische Aufarbeitung der »eigenen« Geschichte von Menschen wie Franz Waich zu verhindern. In der inzwischen sehr präzise geäußerten Kritik an der Alltagsgeschichtsschreibung15 wurde deutlich gemacht, daß das Bemühen, die beiden angesprochenen Formen historischer Tradierung zusammenzuführen, ein hoffnungsloses Unterfangen wäre. Ein sehr privates, persönliches, der Orientierung im Leben dienendes Geschichtsbild und eine rationale, aufgeklärte, methodisch anspruchsvolle Wissenschaft hätten unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen. »Historisches Fachwissen, die Einsicht in historische Strukturen und Prozesse und deren Vermittlung sind noch nicht Aufklärung. Historisches Gedächtnis ist noch nicht Bewußtsein.«16 Aber Fachwissen und kollektives bzw. individuelles Gedächtnis nebeneinander, ohne wechselseitige Beeinflussung stehen zu lassen, kann doch nicht befriedigen. Das historische Gedächtnis müßte zumindest mentalitätsgeschichtlich interessieren, und jenseits der Informationsbeschaffung durch mündliche Quellen hat sich durch die Befassung mit lebensgeschichtlichen Fragestellungen17 ein Forschungszweig etabliert, dessen erste Erfolge unbestritten sind. Die Zeitgeschichtsforschung wird hier weiterdenken müssen. Wohl wird sie sich auch anderen Problemfeldern zu nähern haben, um manche ihrer Kinderkrankheiten, wie etwa die starke Zentriertheit auf die österreichische Geschichte (und innerhalb dieser auf ausgewählte Fragestellungen), ablegen zu können. Aber im oben ausgeführten Problemfeld steht sie derzeit am stärksten unter Druck. Hier spricht man von der »Krise der österreichischen Zeitgeschichte«, hier sind in den letzten Monaten die Probleme virulent geworden. Für konkrete Lösungsvorschläge ist es aber sicherlich noch zu früh. 15 Zuletzt bei  : Hans-Ulrich Wehler, Den rationalen Argumenten standhalten, in  : Das Parlament 36/20–21 (1986), 2. 16 Eduard Staudinger, Gedanken zum Umgang mit Geschichte, Manuskript, Graz 1987, 5. 17 Helmut Konrad/Michael Mitterauer (Hg.), »… und i sitz’ jetzt allein«. Geschichte mit und von alten Menschen (= Kulturstudien 9), Wien/Graz/Köln 1987.

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Zitiert nach  : Helmut Konrad, Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsbewußtsein, in  : Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 13), 2. erw. Auflage, Frankfurt/New York 2008, 169–176 (Campus Verlag).

Schriftenverzeichnis Helmut Konrad Stand 31.12.2015

Bearbeitet von Nicole-Melanie Goll, Ursula Mindler-Steiner, Werner Suppanz und Heidrun Zettelbauer. Das Schriftenverzeichnis enthält die Publikationen von Helmut Konrad in den unten angeführten Kategorien. Nicht berücksichtigt sind Zeitungsartikel bzw. -interviews, Vorworte/Editorials und Texte in Websites bzw. digitalisierte Fassungen gedruckter Texte. Innerhalb der Gruppen sind die Schriften chronologisch in aufsteigender Reihenfolge geordnet.

I. Selbstständige Publikationen Monographien KPÖ und KSČ zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, phil. Diss., Universität Wien 1972. (mit Gerhard Botz/Hans Hautmann) Austrian Social Democrats on Great Power Politics and Secret Diplomacy (= Spheres of Influence in the Age of Imperialism. Bertrand Russell Centenary Symposium, Doc. No. 38), Linz 1972. Nationalismus und Internationalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 4), Wien 1976. (mit Karl Lenz) Geschichte der Arbeiterbewegung im Geschichtsunterricht, Linz o.J. [1977]. Widerstand an Donau und Moldau. KPÖ und KSČ zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, Wien/München/Zürich 1978. Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981. (mit Manfred Lechner) »Millionenverwechslung«. Franz Olah – die Kronenzeitung – Geheimdienste, Wien/Köln/Weimar 1992. (mit Anton Pelinka) Die politischen Parteien im neuen Europa und im historischen Überblick (= Wiener Vorlesungen im Rathaus 31), Wien 1994. Meine Gedanken zur Zeit. Hg. von Elisabeth Fiorioli und Wolfgang Muchitsch, Graz 2008. (mit Nicole-Melanie Goll) Die Steiermark und der »Große Krieg«. Museum im Palais, Universalmuseum Joanneum, Graz 2014.

Redaktion Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (»IX. Linzer Konferenz« 1973)  : Die Ausbreitung des Marxismus um die Jahrhundertwende 1890–1905. Die Möglichkeiten der EDV

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für die Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 7), Wien 1975. Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (»XII. Linzer Konferenz 1976«)  : Arbeiterbewegung und Gewerkschaften vor 1917. Methodologische Probleme der Gewerkschaftsgeschichtsschreibung (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 11), Wien 1979. Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (16. Linzer Konferenz 1980)  : Die internationale Gewerkschaftsbewegung zwischen den beiden Weltkriegen. Soziale Prozesse der Entwicklung der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert (Bibliographie, Historiographie, Methodologie) (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 15), Wien 1981. Geschichte als demokratischer Auftrag. Karl R. Stadler zum 70. Geburtstag (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/München/Zürich 1983. Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (21. Linzer Konferenz 1985)  : Politische und soziale Probleme der Arbeiterklasse am Ende des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Methodologische Probleme der Erforschung von Arbeiterbewußtsein und Klassenbewußtsein unter Berücksichtigung von Oral History, Memoiren, Tagebüchern u.ä. (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 22), Wien 1986.

Reihenherausgabe (mit Hubert Christian Ehalt) Kulturstudien bei Böhlau. Band 1–33 (1984–2003). (mit Rudolf G. Ardelt) Materialien zur Arbeiterbewegung. Band 46–65 (1987–1993). Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek. Band 8–38 (1988–2001). (mit Moritz Csáky u.a.) Studien zur Moderne. Band 1–24 (1996–2008). (mit Heinrich Berger u.a.) Veröffentlichungen des Cluster Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. Bisher 2 Bände (2009–).

Sammelbände (mit Gerhard Botz/Hans Hautmann) Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, Wien 1974. Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts, Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/München/Zürich 1978. (mit Gerhard Botz/Hans Hautmann/Josef Weidenholzer) Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/München/Zürich 1978. Der alte Mensch in der Geschichte (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 11), Wien 1982. Die deutsche und die österreichische Arbeiterbewegung zur Zeit der Zweiten Internationale. Protokoll des bilateralen Symposiums DDR-Österreich vom 30. 9. – 3. 10. 1981 in Linz (= Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung. Materialien zur Arbeiterbewegung 24), Wien 1982. (mit Wolfgang Neugebauer) Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewußtsein. Festschrift zum 20jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und

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zum 60. Geburtstag von Herbert Steiner (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/München/Zürich 1983. (mit Hubert Christian Ehalt/Ursula Knittler-Lux) Geschichtswerkstatt, Stadtteilarbeit, Aktionsforschung. Perspektiven emanzipatorischer Bildungs- und Kulturarbeit (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 20), Wien 1984. (mit Wolfgang Maderthaner) Neuere Studien zur Arbeitergeschichte. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, 3 Bände (= Materialien zur Arbeiter­ bewegung 35), Wien 1984. (mit Rudolf Altmüller u.a.) Festschrift/Mélanges Felix Kreissler (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/München/Zürich 1985. Imperialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. Protokoll des 4. bilateralen Symposiums DDR-Österreich vom 3. bis 7. Juni 1985 in Graz (= Materialien zur Arbeiterbewegung 41), Wien 1985. (mit Michael Mitterauer) »… und i sitz’ jetzt allein«. Geschichte mit und von alten Menschen (= Kulturstudien 9), Wien/Graz/Köln 1987. (mit Anton Pelinka) Austriaca. Cahiers Universitaires d’Information sur l’Autriche 24 (1987)  : Le Fédéralisme. Le concept de »Heimat«  ; fédéralisme et centralisme, parlementarisme, socialdémo­cratie et centralisme. Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung. 24. Linzer Konferenz 1988  : Probleme der Herausbildung und politischen Formierung der Arbeiterklasse (= Materialien zur Arbeiterbewegung 52  ; ITH-Tagungsberichte 25), Wien/Zürich 1989. (mit Christian Brünner) Die Universität und 1938 (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 11), Wien/Köln 1989. (mit Arne Andersen) Ökologie, technischer Wandel und Arbeiterbewegung (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 26), Wien/Zürich 1990. »Daß unsre Greise nicht mehr betteln gehn  !« Sozialdemokratie und Sozialpolitik im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn von 1880 bis 1914 (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/Zürich 1991. (mit Karin Schmidlechner) Revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkriegs. Die Rolle von Strukturen, Konjunkturen und Massenbewegungen (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 16), Wien/Köln 1991. (mit Margarete Erber-Groiß/Severin Heinisch/Hubert Christian Ehalt) Kult und Kultur des Ausstellens. Beiträge zur Praxis, Theorie und Didaktik des Museums, Wien 1992. Arbeiterbewegung in einer veränderten Welt. 27. Internationale Tagung der Historikerinnen und Historiker der Arbeiterbewegung (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 28),Wien/Zürich 1992. Arbeiterbewegung und Nationale Frage in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung in Zusammenarbeit mit dem Verein Dr. Karl Renner-Gedenkstätte), Wien/Zürich 1993. (mit Franz-Josef Lackinger) »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will« (= Sozialistische Bibliothek. Abteilung 3  : Die sozialdemokratische Bewegung 5), Wien 1995. (mit Wolfgang Muchitsch/Peter Schachner-Blazizek) Staat = fad. Demokratie heute. Markierungen für eine offene Gesellschaft, Graz 1995. (mit Reinhard Kannonier) Urbane Leitkulturen 1890–1914. Leipzig – Ljubljana – Linz – Bologna

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(= Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 6. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien 1995. (mit Christian Gerbel u.a.) Urbane und kultureller Wandel. Bologna – Linz – Leipzig – Ljubljana (= Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 9), Wien 1996. (mit Alfred Stingl) Stadtfinden. Grazer Wege in die Zukunft, Graz 1996. (mit Richard Kriesche) Kunst – Wissenschaft – Kommunikation. comm.gr2000az, 3 Bände (Chips), Wien/New York 2000. (mit Manfred Lechner) Am Ende der Gegenwart. Gedanken über globale Trends und regionale Auswirkungen, Graz 2000. Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne (= Studien zur Moderne 10), Wien 2000. (mit Wolfgang Maderthaner) … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, 2 Bände, Wien 2008. (mit Siegfried Mattl/Gerhard Botz/Stefan Karner) Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft (= Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft 1), Wien/ Köln/Weimar 2009. (mit Stefan Benedik) Mapping Contemporary History II. Exemplarische Forschungsfelder aus 25 Jahren Zeitgeschichte an der Universität Graz, Wien/Köln/Weimar 2010. (mit Monika Stromberger) Die Welt im 20. Jahrhundert nach 1945 (= Globalgeschichte der Welt 1000–2000), Wien 2010. Masoa Nishikawa. Socialists and International Actions for Peace 1914–1923. Translated by Masaki Watanabe. Coordinators  : Hiroko Mizuno, Stefan Benedik (= Politikwissenschaft 4), Berlin 2010. (mit Dieter A. Binder/Eduard G. Staudinger) Die Erzählung der Landschaft (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 34), Wien/Köln/Weimar 2011. (mit Gerhard Botz/Stefan Karner/Siegfried Mattl) Terror und Geschichte (= Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft 2), Wien/Köln/Weimar 2012. (mit Wolfgang Maderthaner) Routes into the Abyss. Coping with Crises in the 1930s (= International Studies in Social History 21), New York/Oxford 2013.

II. Beiträge in Sammelwerken, Lexika und Zeitschriften Die Tätigkeit der KSČ und der KPÖ in der Illegalität im Jahre 1939, in  : Metoděj Zemek (Hg.), Jižní Morava 1871 – 1921 – 1971. III. Mikulovské Symposium, Mikulov 1971, 227–235. Ferdinand Hanusch in Partei und Gewerkschaft, in  : Otto Staininger (Hg.), Ferdinand Hanusch. Ein Leben für den sozialen Aufstieg (1866–1923) (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 3), Wien 1973, 43–73. Der Einfluß des Hitler-Stalin-Paktes auf die Kommunistischen Parteien Europas, in  : zeitgeschichte 1/4 (1974), 82–85. (mit Gerhard Botz) Die Stellungnahmen Otto Bauers und anderer österreichischer Sozialdemokraten zum Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg, in  : Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (»XIII. Linzer Konferenz« 1972)  : Die Stellung der Internationalen Arbeiterbewegung zum Militarismus und Imperialismus zwischen den Kongressen von Stuttgart

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und Basel, 1907 bis 1912 (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 6), Wien 1974, 46–56. (mit Gerhard Botz) Austromarxismus und Imperialismus, in  : Die Zukunft. Sozialistische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 13/14 (1974), 15–19. Richard Bernaschek, in  : Bildungskurier 25/1 (1974), 6–8. Der Schutzbund, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Wien 1934–1945. Eine Dokumentation, Band 1  : 1934–1938, Wien 1975, 486–512. 2. Auflage  : Wien 1984, 486–512. Eine Chance für den amerikanischen Sozialismus  ?, in  : Die Zukunft. Sozialistische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 11 (1975), 1–5. Wirtschaftliche Überlegungen eines amerikanischen Sozialisten, in  : Die Zukunft. Sozialistische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 13/14 (1976), 17–18. Die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in Saint-Germain, in  : Erich Zöllner (Hg.), Diplomatie und Außenpolitik Österreichs. Elf Beiträge zu ihrer Geschichte (= Schriften des Institutes für Österreichkunde 30), Wien 1977, 140–151. Die Metropolen in der Zwischenkriegszeit, in  : Alfred Bergmiller/Peter Feldbauer (Hg.), Kolonialismus, Imperialismus, Dritte Welt, Band 1 (= Geschichte und Sozialkunde 2/1, Reihe »Lehrbehelfe«), Salzburg 1977, 138–174. Die österreichische Arbeiterbewegung und das Nationalitätenproblem am Beginn des 20. Jahrhunderts, in  : Bericht über den 13. Österreichischen Historikertag in Klagenfurt, 1976 (= Veröffentlichungen des Verbandes österreichischer Geschichtsvereine [VVÖGV] 21), Wien 1977, 65–73. Die österreichische Emigration in die CSR von 1934 bis 1945, in  : Helene Maimann (Red.), Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Protokoll des internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945, Wien 1977, 15–26. Nationale Frage und Arbeiterbewegung in Österreich um die Jahrhundertwende, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) 6/2 (1977), 193–203. Recht, Justiz und Arbeiterbewegung bis zum Ersten Weltkrieg, in  : Erika Weinzierl/Karl R. Stadler (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte 1 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften), Wien 1977, 43–74. Reprint  : Erika Weinzierl u.a. (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976–1993, Band 1, Wien 1995, 37–56. Das Familienbild bei den Theoretikern der Arbeiterbewegung, in  : Erika Weinzierl/Karl R. Stadler (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte 3  : Familiengesetzgebung in Österreich, Wien o. J. [1977], 104–120. Reprint  : Das Familienbild bei den Theoretikern der Arbeiterbewegung, in  : Erika Weinzierl u.a. (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976–1993, Band 1, Wien 1995, 259–272. Kein Putsch. Legendenauskehr zum Oktoberstreik 1950, in  : Neues Forum. Internationale Zeitschrift links von der Mitte Wien 24/286 (1977), 40–46. Geschichte der Arbeiterbewegung in Lehre und Forschung, in  : Karl R. Stadler (Hg.), Rückblick und Ausschau. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung (= Materialien zur Arbeiterbewegung 12), Wien 1978, 61–66. Das Unbehagen mit der jüngsten Vergangenheit, in  : Die Zukunft. Sozialistische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 3 (1978), 20–24. Die Sozialdemokratie und die »geistigen Arbeiter«. Von den Anfängen bis nach dem Ersten Weltkrieg. in  : Gerhard Botz u.a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbei-

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tergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien/ München/Zürich 1978, 545–560. Wurzeln deutschnationalen Denkens in der österreichischen Arbeiterbewegung, in  : Helmut Konrad (Hg.), Sozialdemokratie und »Anschluß«. Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen. Eine Tagung des Dr.-Karl-Renner-Instituts Wien, 1. März 1978 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 9), Wien/München/ Zürich 1978, 19–30. Der Linkssozialismus – eine eigenständige Position  ?, in  : Peretz Merchav (Hg.), Linkssozialismus in Europa zwischen den Weltkriegen (= Materialien zur Arbeiterbewegung 14), Wien 1979, XI– XXVI. (mit Mirella Hueller) Die Frau in der österreichischen Arbeiterbewegung 1900–1918, in  : Die Frau in der Arbeiterbewegung 1900–1939, Band 1 (= Geschichte der Arbeiterbewegung 13/1), Wien 1980, 283–296. Die Krankenkassen als Formen der Selbsthilfe der jungen Arbeiterbewegung, in  : Oswin Martinek/ Josef Cerny/Josef Weidenholzer (Hg.), Arbeitswelt und Sozialstaat. Festschrift für Gerhard Weissenberg, Wien/München/Zürich 1980, 103–117. Der Nationalismus. Eine »bürgerliche« Ideologie  ?, in  : Anton Pelinka (Hg.), Ideologien im Bezugsfeld von Geschichte und Gesellschaft (= Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 2), Innsbruck 1981, 217–232. Zurück zum Rechtsstaat (Am Beispiel des Strafrechts), in  : Bundesministerium für Justiz/Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), 25 Jahre Staatsvertrag. Protokolle des wissenschaftlichen Symposions »Justiz und Zeitgeschichte«, 24. und 25. Oktober 1980  : Die österreichische Justiz – die Justiz in Österreich 1933 bis 1955 (= 25 Jahre Staatsvertrag), Wien 1981, 67–78. Reprint  : Zurück zum Rechtsstaat (Am Beispiel des Strafrecht), in  : Erika Weinzierl u.a. (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976–1993, Band 1, Wien 1995, 344–359. Einkaufen vor 100 Jahren, in  : Aufrisse. Zeitschrift für politische Bildung 2/1 (1981)  : Konsumenten – Produzenten, 34–36. Religiöser und sozialer Protest. Die frühe österreichische Arbeiterbewegung und die Religionsgemeinschaften, in  : Isabella Ackerl/Waltraud Hummelberger/Hans Mommsen (Hg.), Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag, Band 1, Wien 1981, 195–213. Deutschnationale Wurzeln in der österreichischen Arbeiterbewegung, in  : Numéro commun de Revue d‘Allemagne et des pays de langue allemande 13/4 (1981) et Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche. Numéro spécial hors abonnement (Octobre-Décembre 1981)  : Les relations Germano-Autrichiennes de 1918 à nos jours, 714–727. Otto Bauer und die nationale Frage, in  : Wiener Tagebuch 10 (1981), 19. Das Eindringen des Marxismus in die österreichische Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, in  : Jutta Seidel (Red.), Internationale Stellung und internationale Beziehungen der deutschen Sozialdemokratie. 1871–1900. Unter besonderer Berücksichtigung ihrer Zusammenarbeit mit der österreichischen Arbeiterbewegung. Protokoll des 1. Bilateralen Symposiums von Historikern der DDR und der Republik Österreich veranstaltet von der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, 28./29. Mai 1980, Leipzig 1981, 22–30. Die Rezeption bürgerlicher Kultur in der österreichischen Arbeiterbewegung, in  : Helmut P. Fiel-

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hauer/Olaf Bockhorn (Hg.), Die andere Kultur. Volkskunde, Sozialwissenschaften und Arbeiterkultur. Ein Tagungsbericht, Wien/München/Zürich 1982, 51–74. Die organisatorische Entwicklung der österreichischen Arbeiterbewegung bis zum Hainfelder Parteitag, in  : Brigitte Perfahl (Hg.), Marx oder Lassalle  ? Zur ideologischen Position der österreichischen Arbeiterbewegung 1869–1889 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 22), Wien 1982, 1–20. Die Herausbildung des Austromarxismus und das Verhältnis zu Deutschland, in  : Helmut Konrad (Hg.), Die deutsche und die österreichische Arbeiterbewegung zur Zeit der Zweiten Internationale. Protokoll des bilateralen Symposiums DDR-Österreich vom 30. 9. – 3. 10. 1981 in Linz (= Materialien zur Arbeiterbewegung 24), Wien 1982, 25–46. Die Arbeiterbewegung Oberösterreichs in der Illegalität 1938–1945, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich 1934–1945. Eine Dokumentation, Band 1, Wien 1982, 183–225. Austromarxismus und nationale Frage 1889–1945, in  : Austriaca. Cahiers Universitaires d’Information sur l’Autriche. Numéro Spécial  : L’Austromarxisme – Nostalgie et/ou Renaissance  ? Actes du colloque de Paris 1982 (Mars 1983), 27–43. Die Arbeiterbewegung und die österreichische Nation, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewußtsein. Festschrift zum 20jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und zum 60. Geburtstag von Herbert Steiner, Wien/München/Zürich 1983, 367–389. Arbeitergeschichte und Raum, in  : Helmut Konrad (Red.), Geschichte als demokratischer Auftrag. Karl R. Stadler zum 70. Geburtstag, Wien/München/Zürich 1983, 37–75. Die neue Regionalgeschichtsschreibung und Harald Walsers »Die illegale NSDAP in Tirol und Vorarlberg«, in  : Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 35/4 (1983), 341–343. Deutsch-Österreich  : Gebremste Klassenbildung und importierte Arbeiterbewegung im Vielvölkerstaat, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Deutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1983, 106–128. Zur Regionalgeschichtsschreibung der Arbeiterbewegung in Österreich, in  : Reinhard Kannonier (Red.), Arbeiterkultur und kulturelle Arbeiterorganisationen bis zum Zweiten Weltkrieg. Regionale und lokale Arbeiterbewegung vorwiegend bis zum Zweiten Weltkrieg als Forschungsgegenstand (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 16 [recte 17]  : XVII. Linzer Konferenz 1981), Wien 1983, 417–429. Ungleichzeitigkeiten bei der Herausbildung von Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung in Österreich, in  : Jutta Seidel (Red.), Der Konstituierungsprozeß der sozialistischen Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. Referate des 3. bilateralen Seminars von Historikern der DDR und der Republik Österreich. Veranstaltet von der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, 21.–24. Juni 1983, Leipzig 1984, 4–19. Zur Kritik der Geschichtsschreibung  : Die Vorgeschichte des Februar 1934, in  : Aufrisse. Zeitschrift für politische Bildung 5/1 (1984)  : Februar 1934  : Fakten – Thesen – Berichte, 4–6. Neue Wege in Forschung und Vermittlung von Geschichte, in  : Hubert Christian Ehalt (Hg.), Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags (= Kulturstudien 1), Wien/Köln/Graz 1984, 41–58. Parteiengeschichte/Parteiliche Geschichte, in  : historicum 2/1984  : Parteiengeschichte, 12.

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12. Februar 1934. Jubiläumsgeschichtsschreibung oder neue Forschungsansätze  ?, in  : Informationen für Geschichtslehrer zur postuniversitären Fortbildung 4 (1984), Graz 1984, 58–70. Zeitgeschichte an der Volkshochschule, in  : Mitteilungen der Volkshochschule Wien-Nord Floridsdorf – Donaustadt 32/3–4 (1984)  : Österreichische Zeitgeschichte an der VHS, 5–6. (mit Hubert Hummer/Helmut Retzl) Partei, Kultur und Alltag – Erlebte Geschichte, in  : Hubert Christian Ehalt/Ursula Knittler-Lux/Helmut Konrad (Hg.), Geschichtswerkstatt, Stadtteilarbeit, Aktionsforschung. Perspektiven emanzipatorischer Bildungs- und Kulturarbeit (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 20), Wien 1984, 105–113. Zur Geographie der Februarkämpfe, in  : Erich Fröschl/Helge Zoitl (Hg.), Februar 1934. Ursachen, Fakten, Folgen (= Thema 2  : Zeitgeschichte), Wien 1984, 333–340. Regionale Arbeitergeschichte in Österreich  : Oberösterreichs Entwicklung und die Metallarbeiter Niederösterreichs als Beispiel, in  : Wolfgang Maderthaner (Red.), Feuer – nicht Asche. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Vereines für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien [1984], 79–92. Zum Stand der Zeitgeschichtsschreibung in Österreich, Forschungsbericht, in  : Archiv für Sozialgeschichte XXV (1985), 508–536. Zum österreichischen Geschichtsbewußtsein nach 1945, in  : Rudolf Altmüller u.a. (Hg.), Festschrift/­ Mélanges Felix Kreissler, Wien/München/Zürich 1985, 125–138. Alltagsgeschichte und Geschichtstheorie. Anmerkungen zur laufenden Diskussion, in  : Zeitschrift für Wissenschaftsforschung 3/2 (1985), 55–62. Zur Anwendung der »Oral History« in der Schule, in  : Informationen für Geschichtslehrer zur postuniversitären Weiterbildung 6 (1985), Graz 1985, 60–65. Otto Bauer und die Nationalitätenfrage, in  : Erich Fröschl/Helge Zoitl (Hg.), Otto Bauer (1881– 1938). Theorie und Praxis, Wien 1985, 103–112. Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Sozialdemokraten, in  : Péter Sipos (Red.), Die Arbeiterbewegung im Donauraum 1918–1925. Symposium »Die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und nationalen Rahmenbedingungen für die Tätigkeit der Arbeiterbewegung in den neugegründeten Nationalstaaten (1918–1925), 7./8. Mai 1985, Budapest o. J. [1985], 37–42. Zur politischen Kultur der Zweiten Republik am Beispiel des »Falles Olah«, in  : Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung 5/1 (1986), 31–53. Kontinuitäten und Brüche in der politischen Kultur, in  : Johann Götschl/Christoph Klauser unter Mitarbeit von Herbert Nichols (Hg.), Herausforderungen an der Jahrtausendwende. Gesellschaft im Wandel von Wirtschaft und Wissenschaft, Wien 1986, 21–31. Die Sozialistenprozesse 1874 und 1875 in Graz um Dr. Hippolyt Tauschinski, in  : Karl R. Stadler (Hg.), Sozialistenprozesse. Politische Justiz in Österreich 1870–1936, Wien/München/Zürich 1986, 53–70. Nationalismus und Internationalismus in der österreichischen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, in  : Christoph von Hartungen/Werner Hanni (Hg.), Arbeiterbewegung und Sozialismus in Tirol. Gaismair-Tage 1983, Bozen – Innsbruck, Bozen/Innsbruck 1986, 21–39. Zur politischen Kultur in Österreich, in  : Walter Schwarz (Hg.), Wohin führt der österreichische Weg  ? Veranstaltungsreihe des Grazer Cartellverbandes im Studienjahr 1985/86 (= Academia Son­dernummer 6A), Graz 1986, 45–48.

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Thomas Meyer u.a. (Hg.), Lexikon des Sozialismus, Köln 1986. Schlagworte  : Adler, Friedrich (10)  ; Adler, Max (10–11)  ; Adler, Victor (11)  ; Renner, Karl (525–526)  ; Republikanischer Schutzbund (526–527). Zur österreichischen Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit, in  : Friedhelm Boll (Hg.), Arbeiterkulturen zwischen Alltag und Politik. Beiträge zum europäischen Vergleich in der Zwischenkriegszeit (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, Linz), Wien/München/Zürich 1986, 89–100. Die Arbeiterbewegung in der österreichischen Reichshälfte, in  : Wolfgang Maderthaner (Hg.), Arbeiterbewegung in Österreich und Ungarn bis 1914 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 45), Wien 1986, 124–139. Gliederungsprinzipien der österreichischen Nachkriegsgeschichte, in  : Stefan Karner/Rudolf Kropf (Hg.), Reflexionen zu 1945. Symposium im Rahmen der »Schlaininger Gespräche« 1985 (= Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 74), Eisenstadt 1986, 21–32. Fédéralisme et centralisme dans l’historiographie autrichienne du temps présent, in  : Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche 24 (1987), 39–46. Spontane Protestformen im Zeitalter der Industrialisierung am Beispiel Oberösterreich, in  : Herwig Ebner u.a. (Hg.), Festschrift Othmar Pickl zum 60. Geburtstag, Graz/Wien 1987, 341–348. Zur Theorie und Methodik der Alltagsgeschichtsschreibung, in  : Reinhard Härtel (Hg.), Geschichte und ihre Quellen. Festschrift für Rudolf Hausmann zum 70. Geburtstag, Graz 1987, 591–599. Die Ausnahmegesetzgebung gegen die frühe österreichische Arbeiterbewegung, in  : Erika Weinzierl/ Karl R. Stadler (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte VI. Symposion  : Zur Geschichte der richterlichen Unabhängigkeit in Österreich am 24. und 25. Oktober 1986 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften), Wien/Salzburg 1987, 81–103. Reprint  : Die Ausnahmegesetzgebung gegen die frühe österreichische Arbeiterbewegung, in  : Erika Weinzierl u.a. (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976– 1993, Band 2, Wien 1995, 41–50. Heimaten, in  : Sterz. Unabhängige Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kulturpolitik 39 (1987), 18–19. Die frühe österreichische Arbeiterbewegung, in  : Rudolf Kropf (Hg.), Arbeit, Mensch, Maschine. Der Weg in die Industriegesellschaft. Oberösterreichische Landesausstellung 1987, Linz 1987, 243–250. Nachruf auf Karl R. Stadler, in  : Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 23/4 (1987), 451–452. 50 Jahre nach 1938  : Möglichkeiten und Grenzen der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19  : Graz 1938, 2. Auflage, Graz 1988, 11–23. Die NSDAP und ihre Gliederung in Österreich, in  : Siegwald Ganglmair (Red.), Wien 1938. Historisches Museum der Stadt Wien, 110. Sonderausstellung, Wien 1988, 56–71. Föderalismus und Zentralismus in der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung, in  : Herwig Ebner (Hg.), Forschungen zur Landes- und Kirchengeschichte. Festschrift für Helmut J. Mezler-Andelberg zum 65. Geburtstag, Graz 1988, 291–296. Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung, in  : Walter Blumberger/Josef Weidenholzer (Hg.), Ist Wissen Macht  ? Macht Bildung frei  ? Max Lotteraner zum 60. Geburtstag (= Gesellschafts- und sozialpolitische Texte 7), Linz 1988, 58–65.

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Die österreichische Geschichtswissenschaft nach 1945, in  : Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft (Hg.), Was wird zählen  ? Ein Rechenschaftsbericht über die 2. Republik, Wien 1988, 129–131. Pazifismus und Widerstand in der Ersten Republik und in der NS-Zeit, in  : Karl A. Kumpfmüller (Hg.), Stein in der Hand, Taube auf dem Dach. Zum Verhältnis von Pazifismus und Widerstand, Wien 1988, 144–122. Die ungeliebten Brüder. Anarchisten und Sozialdemokratie, in  : Helene Maimann (Hg.), Die ersten 100 Jahre. Österreichische Sozialdemokratie 1888–1988, Wien 1988, 184–185. KZ-Häftling, Innenminister, Strafgefangener. Der Fall Olah, in  : Helene Maimann (Hg.), Die ersten 100 Jahre. Österreichische Sozialdemokratie 1888–1988, Wien 1988, 253–255. Österreichische Arbeiterbewegung und nationale Frage im 19. Jahrhundert, in  : Wolfgang Maderthaner (Hg.), Sozialdemokratie und Habsburgerstaat (= Sozialistische Bibliothek 1/1), Wien 1988, 119–130. Karl R. Stadler, in  : Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Internationales Symposion 19.–23. Oktober 1987 in Wien, Wien/München 1988, 509–514. Unveränderte Neuauflage Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940 (= Emigration – Exil – Kontinuität 2), Münster 2004, 509–514. Die Olah-Krise. Eine Krise der Sozialdemokratie, in  : Peter Pelinka/Gerhard Steger (Hg.), Auf dem Weg zur Staatspartei. Zur Geschichte und Politik der SPÖ seit 1945, Wien 1988, 47–56. Österreichs Süden, in  : Hubert Christian Ehalt/Manfred Chobot/Rolf Schwendter (Hg.) Essen und Trinken (= Kulturjahrbuch. Wiener Beiträge zur Kulturwissenschaft und Kulturpolitik 7), Wien 1988, 205–208. Bedenkjahr ’88  : Produktiv-Contraproduktiv-Verpufft  ?, in  : Politicum. Josef Krainer Haus Schriften 8/40 (1988)  : 38–88 oder Über ein Bedenkjahr, 32–33. La social-démocratie et l‘»Anschluss«, in  : Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche 26 (1988)  : L’Autriche  : Mars 1938 – Mars 1988, 39–48. Democracy’s Drift toward Nazism before 1938, in  : Fred Parkinson (Hg.), Conquering the Past. Austrian Nazism Yesterday and Today, Detroit 1989, 110–124. Zeitgeschichte in der politischen Bildung, in  : Politische Bildung 11/1 (1989), 2–7. Regionalgeschichte, in  : Veronika Ratzenböck/Elisabeth Morawek/Sirikit M. Amann (Hg.), Die zwei Wahrheiten. Eine Dokumentation von Projekten an Schulen zur Zeitgeschichte im Jahr 1988, Wien 1989, 117–120. Das Jahr 1938 in den Medien des Jahres 1988, in  : Christian Brünner/Helmut Konrad (Hg.), Die Universität und 1938 (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 11), Wien/Köln 1989, 167–180. Probleme bei der Konstituierung von Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung, in  : Helmut Konrad (Hg.), Probleme der Herausbildung und politischen Formierung der Arbeiterklasse (= Materialien zur Arbeiterbewegung 52 = ITH-Tagungsberichte 25  : 24. Linzer Konferenz 1988), Wien/ Zürich 1989, 20–34. Zur Februar-Geschichtsschreibung in Österreich, in  : Hans Hautmann (Red.), Koloniale Frage und Arbeiterbewegung 1917–1939. Österreich und Frankreich im Februar 1934 und die internationale Arbeiterbewegung (Stand und Probleme der Forschung) (= Geschichte der Arbeiterbewegung. ITH-Tagungsberichte 21  : XX. Linzer Konferenz 1984), Wien 1989, 483–492. Arbeiterbewegung und Sozialismus in Cisleithanien, in  : Gábor Erdődy (Hg.), Das Parteienwesen

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Österreich-Ungarns (= Beiträge der wissenschaftlichen Tagung der Ungarisch-Österreichischen Historikerkommission 3), Budapest 1989, 95–124. Die Verankerung von Ständestaat und Nationalsozialismus in den sozial schwächeren Gruppen 1934–1938, in  : Félix Kreissler (Hg.), Fünfzig Jahre danach – der »Anschluß« von innen und außen gesehen, Wien/Zürich 1989, 159–173. Die Anfänge der österreichischen Arbeiterbewegung, in  : Walter Posch (Hg.), 100 Jahre Sozialdemokratie. Eine Broschüre des Dr.-Karl-Renner-Institutes, Klagenfurt 1989, 10–26. Zu Geschichte und Politik der SPÖ seit 1945. Die Olah-Krise – eine Krise der Sozialdemokratie  ?, in  : Walter Posch (Hg.), 100 Jahre Sozialdemokratie. Eine Broschüre des Dr.-Karl-Renner-Institutes, Klagenfurt 1989, 92–104. Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Sozialdemokraten, in  : Anna M. Drabek/Richard G. Plaschka/Helmut Rumpler (Hg.), Das Parteienwesen Österreichs und Ungarns in der Zwischenkriegszeit (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 15  : Mitteleuropa-Gespräche), Wien 1990, 107–125. (mit Gero Fischer u.a.) Die »Lorenzener Erklärung« – ein Produkt aus der ideologischen Kaderschmiede der FPÖ, in  : Gero Fischer/Peter Gstettner (Hg.), »Am Kärntner Wesen könnte diese Republik genesen«. An den rechten Rand Europas  : Jörg Haiders »Erneuerungspolitik«, Klagenfurt 1990, 16–34 (Dokumentenanhang 42). Nachruf auf Karl R. Stadler, in  : Rudolf Ardelt/Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/Zürich 1990, 11–18. Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938, in  : Rudolf G. Ardelt/Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. In memoriam Karl R. Stadler, Wien/Zürich 1990, 73–89. Die 25. Linzer Konferenz der Internationalen Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (ITH), in  : Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), 26/1 (1990), 65–69. Belebung durch die Provinz. Wohin geht die Arbeitergeschichtsforschung  ?, in  : Mitbestimmung. Zeitschrift für Demokratisierung der Arbeitswelt 5 (1990), o. S. Die Arbeiterbewegung im Vielvölkerstaat – Sozialdemokratie und nationale Frage, in  : Erich Fröschl/Maria Mesner/Helge Zoitl (Hg.), Die Bewegung. Hundert Jahre Sozialdemokratie in Österreich, Wien 1990, 193–203. Anmerkungen zum »Fall Olah« und zum politischen Stil der Zweiten Republik, in  : Wirtschaftsund sozialpolitische Zeitschrift des Instituts für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich (WISO) 13/2 (1990), 47–63. Die Kronen-Zeitung im österreichischen Wahlkampf von 1966, in  : Herwig Ebner/Horst Haselsteiner/Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Hg.), Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 1990, 329–337. Druga republika. Napomene uz poslijeratnu povijest Austrije i radničku kulturu, in  : Časopis za suvremenu povijest 22/1–2 (1990), 157–168. Support for the Corporate State and National Socialism in the Socially Weaker Groups 1934–1938,

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in  : Kenneth Segar/John Warren (Hg.), Austria in the Thirties  : Culture and Politics (= Studies in Austrian literature, culture and thought), Riverside, CA 1991, 48–66. Politische Positionen der österreichischen Arbeiterbewegung 1889, in  : Helmut Konrad (Hg.), »Daß unsre Greise nicht mehr betteln gehn  !« Sozialdemokratie und Sozialpolitik im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn von 1880 bis 1914 (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/Zürich 1991, 17–28. Einleitung, in  : Helmut Konrad/Karin M. Schmidlechner (Hg.), Revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Rolle von Strukturen, Konjunkturen und Massenbewegungen (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 16), Wien/Köln 1991, 7–8. Das Scheitern der DDR im Nationsbildungsprozeß und die Funktion der Geschichtswissenschaft, in  : Österreichische Osthefte 33/2 (1991), 384–396. Forwards – back to Social Democracy, in  : Austria Today. Quarterly Review of Trends and Events 4 (1991), 17–22. Die österreichische Delegation in Saint-Germain und das Reparationssystem, in  : Anton E. Rauter (Hg.), Ideen für Verbraucher. 90 Jahre Konsumverband  : Rückblick und Ausblick. Dr. Karl-Renner-Festvorträge der Jahre 1989 und 1990, Wien 1991, 94–103. Die Umbrüche in Osteuropa und die Linzer Konferenz der ITH, in  : Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 27/4 (1991), 489– 492. Zur regionalen Arbeitergeschichtsschreibung in Österreich, in  : Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 18 (1991/92), 23–30. An Organization of Voters or a Party with a Philosophy  ? The Political Conflict within the SPÖ in the 1960s, in  : Austrian History Yearbook XXIII (1992), 120–134. Behördliche Überwachung »staatsgefährdender« Gruppen – Zur Problematik einer Quellengattung, in  : Manfred Lechner/Peter Wilding (Hg.), »Andere« Biographien und ihre Quellen. Biographische Zugänge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Ein Tagungsbericht (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/Zürich 1992, 133–142. Arbeitergeschichte in der Zeit politischer Umbrüche, in  : Helmut Konrad (Hg.), Arbeiterbewegung in einer veränderten Welt. 27. Internationale Tagung der Historikerinnen und Historiker der Arbeiterbewegung. (= ITH-Tagungsbericht, Band 28, Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/Zürich 1992, 9–13. Zur regionalen Arbeitergeschichte – Forschungstraditionen und Fallbeispiele, in  : Rudolf G. Ardelt/ Erika Thurner (Hg.), Bewegte Provinz. Arbeiterbewegung in mitteleuropäischen Regionen vor dem Ersten Weltkrieg (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien/Zürich 1992, 23–36. Historical Perspectives on Ethnic Conflict in Central Europe, in  : The History Teacher 25/4 (1992), 443–450. Politische Weichenstellungen in den sechziger Jahren. Zwischen Weltanschauung und Populismus, in  : Wolfgang Maderthaner (Hg.), Auf dem Weg zur Macht. Integration in den Staat, Sozialpartnerschaft und Regierungspartei (= Sozialistische Bibliothek. Abteilung 1  : Die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie 1), Wien 1992, 133–146, Anm. 173–175. Between »Little International« and Great Power Politics. Austro-Marxism and Stalinism on the Na-

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tional Question, in  : Richard L. Rudolph/David F. Good (Hg.), Nationalism and Empire. The Habsburg Empire and the Soviet Union, New York 1992, 269–291. Die Linzer Konferenz der ITH diskutierte über Geschlecht und Klasse, in  : Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 28/4 (1992), 533–537. Sozialdemokratische und kommunistische Lösungsansätze zur nationalen Frage in Ost- und Mitteleuropa, in  : Helmut Konrad (Hg.), Arbeiterbewegung und Nationale Frage in den Nachfolge­ staaten der Habsburgermonarchie (= Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung in Zusammenarbeit mit dem Verein Dr. Karl Renner-Gedenkstätte), Wien/Zürich 1993, 13–34. Langbein und der spanische Bürgerkrieg, in  : Anton Pelinka/Erika Weinzierl (Hg.), Hermann Langbein – Zum 80. Geburtstag. Festschrift, Wien 1993, 13–20. Keine Mauern hochziehen, in  : Denken+Glauben. Zeitschrift der Katholischen Hochschulgemeinde für die Grazer Universitäten und Hochschulen 67 (1993), 3–7. Arbeiterbewegung und bürgerliche Öffentlichkeit. Kultur und nationale Frage in der Habsburgermonarchie, in  : Geschichte und Gesellschaft 20/4 (1994)  : Arbeiterbewegung im Vergleich, 506–518. Parallelen zu den 30ern  ? Gespräch mit Helmut Konrad, in  : Ost-West-Gegeninformationen 6/3 (1994)  : Der unaufhaltsame Aufstieg der Schirinowskis, 3–6. Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsbewußtsein, in  : Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft 13), Frankfurt/New York 1994, 169–176. Die Krise überwunden. Die Linzer Konferenzen der ITH gehen ins vierte Jahrzehnt, in  : Internatio­ nale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 30/4 (1994), 575–578. Antrittsrede des Rektors o. Univ.-Prof. Dr. Helmut Konrad, in  : Inauguration des Rektors Dr. Helmut Konrad, Ordentlicher Universitätsprofessor für Allgemeine Zeitgeschichte, Graz 1994, 38–54. Laudatio durch den Rektor O. Univ.-Prof. Dr. Helmut Konrad, in  : Verleihung des Menschenrechts­ preises der Karl Franzens Universität Graz an Herrn Dipl. Ing. Dr. h .c. mult. Simon Wiesenthal (= Grazer Universitätsreden 54), Graz 1994, 15–26. Laudatio durch den Rektor der Karl-Franzens-Universität o. Univ.-Prof. Dr. Helmut Konrad, in  : Feierliche Verleihung des Titels Ehrensenator an seine Exzellenz Herrn Bischof von Graz-Seckau Dr. h. c. Johann Weber (= Grazer Universitätsreden 52), Graz 1994, 9–19. Arbeiterbewegung und bürgerliche Öffentlichkeit. Kultur und nationale Frage in der Habsburgermonarchie, in  : Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaften 20/4 (1994), 506–518. Austria on the Path to Western Europe  : The Political Culture of the Second Republic. Robert A. Kann Memorial Lecture (1993), in  : Austrian History Yearbook XXVI (1995), 1–15. Orientierung, nicht Anleitung, in  : Peter Lachnit (Hg.), Alles vergessen  ? Nachdenken über den Februar 1934, Graz 1995, 44–47. Die repräsentative Demokratie und ihre Gegner, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Muchitsch/Peter Schachner-Blazizek (Hg.), Staat = fad  : Demokratie heute. Markierungen für eine offene Gesellschaft, Graz 1995, 23–28.

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Neuer Nationalismus, in  : Friedensforum. Hefte zur Friedensarbeit. Österr. Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung 9/1–2 (1995), 14–15. Neuer Nationalismus  ? in  : Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.), Europa. Wenn Gewalt zum Alltag wird (= Agenda Frieden 17  ; Dialog. Beiträge zur Friedensforschung 27/3–4 [1994]), Münster 1995, 121–124. »Die kleine Gruppe ist am sichersten in einer großen Organisation«. Föderalismus und Zentralismus im Österreichischen Gewerkschaftsbund, in  : Arbeit & Wirtschaft 49/9 (1995), 32–38. Linksgerichteter Widerstand und Mitteleuropa 1939–1945, in  : Richard G. Plaschka u.a. (Hg.), Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (= Zentraleuropa-Studien 1), Wien 1995, 359–368. Zur Positionierung der Zeitgeschichte. Das Grazer Beispiel, in  : Ingrid Böhler/Rolf Steininger (Hg.), Österreichischer Zeitgeschichtetag 1993. 24. bis 27. Mafi 1993 in Innsbruck, Innsbruck/Wien 1995, 37–40. State and University – The Austrian Example, in  : Higher Education Management 7/2 (1995), 165–170. Urbane Identität in Zentraleuropa. Überlegungen zu einer vergleichenden Studie, in  : Österreichische Osthefte. Zeitschrift für Mittel-, Ost- und Südosteuropaforschung 37/1 (1995)  : Nationalitäten und Identitäten in Ostmitteleuropa. Festschrift aus Anlaß des 70. Geburtstages von Richard Georg Plaschka, hrsg. von Walter Lukan und Arnold Suppan, 13–23. Fünf Fragen an Historiker. Helmut Konrad, Karl-Franzens-Universität, Graz, in  : Karl Anderwald/ Hellwig Valentin (Hg.), Kärntner Jahrbuch für Politik, Klagenfurt 1995, 88–90. »Die kleine Gruppe ist am sichersten in einer großen Organisation«. Föderalismus und Zentralismus im Gewerkschaftsbund, in  : Helmut Konrad/Franz Josef Lackinger (Hg.), »Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will.« (= Sozialistische Bibliothek. Abteilung 3  : Die sozialdemokratische Bewegung 5), Wien 1995, 85–92. (mit Reinhard Kannonier) Einleitung, in  : Reinhard Kannonier/Helmut Konrad (Hg.), Urbane Leitkulturen 1890–1914. Leipzig – Ljubljana – Linz – Bologna (= Studien zur Gesellschaftsund Kulturgeschichte 6. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien 1995, 7–16. Geschichtswerkstätten, in  : Kurt Aufderklamm u.a. (Hg.), Demokratische Bildung. Realität und Anspruch (= Schriftenreihe des Verbandes Österreichischer Volkshochschulen 10. Edition Forschung), Wien 1996, 57–62. 1945  : Neuanfang und Kontinuitäten in Europa, Österreich und Linz, in  : Archiv der Stadt Linz (Hg.), 50 Jahre Zweite Republik in Linz. Reden und Vorträge, Linz 1996, 32–38. Zweite Republik. Die repräsentative Demokratie als österreichische Notwendigkeit, in  : Arbeit & Wirtschaft 50/5 (1996), 36–41. Zeitgeschichte und Moderne, in  : Rudolf Haller (Hg.), nach kakanien. Annäherung an die Moderne (= Studien zur Moderne 1), Wien/Köln/Weimar 1996, 23–57. Universitätsstadt Graz, in  : Alfred Stingl/Helmut Konrad (Hg.), Stadtfinden. Grazer Wege in die Zukunft, Graz 1996, 230–241. Anmerkungen zum Millennium, in  : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 87 (1996), 7–14. (mit Reinhard Kannonier) Eliten, Konflikte und Symbole, in  : Christian Gerbel u.a. (Hg.), Urbane Eliten und kultureller Wandel. Bologna – Linz – Leipzig – Ljubljana (= Studien zur Gesellschafts-

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und Kulturgeschichte 9. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), Wien 1997, 7–16. Erwachsenenbildung und Universität am Ende des 20. Jahrhunderts, in  : AK Steiermark (Hg.), 50 Jahre Volkshochschule 1947–1997, Graz 1997, 57–62. Gibt es einen österreichischen Fußball  ? Ein dem Thema angepaßt seriös geführtes Gespräch von Helmut Konrad, Eduard Staudinger und Manfred Lechner, in  : Ursula Prutsch/Manfred Lechner (Hg.), Das ist Österreich. Innensichten und Außensichten (= Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 11. Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts für Gesellschafts- und Kulturgeschichte), Wien 1997, 243–259. Begrüßungsrede und Bericht des Prorektors O. Univ.-Prof. Dr. h.c. Dr. Helmut Konrad, in  : Inauguration des Rektors Mag. Dr. Wolf Rauch, Ordentlicher Universitätsprofessor für Betriebswirtschaftliche Datenverarbeitung und Informationswissenschaft, Graz 1997, 3–15. Tausend Jahre  ? Der Umgang mit Geschichte in der Zweiten Republik, in  : Brigitte Kepplinger/ Reinhard Kannonier (Hg.), Irritationen. Die Wehrmachtsausstellung in Linz, Grünbach 1997, 93–104. Regionale Modernisierung. Die zentraleuropäischen Modelle und die Stadt Graz, in  : Herwig Ebner/Othmar Pickl/Alfred Ableitinger (Hg.), Forschungen zur Geschichte des Alpen-Adria-Raumes. Festgabe für em.o. Univ.-Prof. Dr. Othmar Pickl zum 70. Geburtstag (= Schriftenreihe des Instituts für Geschichte 9), Graz 1997, 275–280. Mille ans  ? La Seconde République et l’histoire, in  : Georg Jankovic/Gerald Stieg (Hg.), Identité et Résistance. Mélanges pour Felix Kreissler (= Annales de l’Institut Culturel Autrichien 2), Paris 1998, 114–126. Laudatio zur Verleihung des Menschenrechtspreises durch den Prorektor O. Univ.-Prof. Dr. h.c. Dr. Helmut Konrad, in  : Verleihung des Menschenrechtspreises der Karl-Franzens-Universität Graz an die Ombudsleute der Föderation Bosnien und Herzegowina Frau Vera Jovanović, Herrn Esad Muhibić, Frau Branka Raguz (= Grazer Universitätsreden 65), Graz 1998, 8–17. Arbeiterschaft, in  : Günter Cerwinka/Reinhold Reimann (Hg.), »Die Stunde des Lichts ist gekommen«. Referate und Diskussion einer Veranstaltung an der Universität Graz im Jahre 1988 zur 140. Wiederkehr der Revolution von 1848 (= Schriftenreihe des Steirischen Studentenhistoriker-­ Vereines 24 ), Graz 1998, 30–34. Der Zeithintergrund  : 1848 bis zur Jahrhundertwende, in  : Wilhelm Filla/Elke Gruber/Jurij Jug (Hg.), Erwachsenenbildung von 1848 bis 1900 (= VÖV-Publikationen 14), Innsbruck/Wien 1998, 9–17. (mit Andrea Strutz) Graz – »Stadt der Volkserhebung«, in  : Bundesministerium für Inneres/Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (Hg.), 1938 – NS-Herrschaft in Österreich. Texte und Bilder aus der gleichnamigen Ausstellung, Wien 1998, 111. Festvortrag anläßlich der Jahresversammlung des DÖW im Alten Rathaus, Wien, 11. März 1997, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Jahrbuch 1998, Wien 1998, 5–11. Laudatio für die Preisträger Moritz Csáky und Klaus Hödl, in  : Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich Jahrgang 2/1998, Wien/Köln/Weimar 1998, 275–280. Österreich – Die Generationen der Freiheit, in  : Władysław Bartoszewski/Heinrich Schnuderl/Kurt Wimmer (Hg.), Die Freiheit beim Wort nehmen. Verantwortung und Verständigung in pluralistischen Verhältnissen. Fritz Csoklich zum 70. Geburtstag, Graz 1999, 79–87.

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Europäische Evaluierungsmodelle und deren Anwendbarkeit für Österreich, in  : Rudolf Strasser (Hg.), Untersuchungen zum Organisations- und Studienrecht (= Beiträge zum Universitätsrecht 21), Wien 1999, 27–36. Positionen auf dem Podium. Zusammenfassung der öffentlichen Podiumsdiskussion, in  : Josef Thonhauser/Jean-Luc Patry (Hg.), Evaluation im Bildungsbereich. Wissenschaft und Praxis im Dialog (= Studien zur Bildungsforschung & Bildungspolitik 22), Innsbruck/Wien 1999, 189– 203, Beitrag Helmut Konrad 194–196. Ordnung/Unordnung  : Was meint dies 1848 in der Habsburgermonarchie  ?, in  : Gabriella Hauch/ Maria Mesner (Hg.), Vom »Reich der Freiheit …«. Liberalismus – Republik – Demokratie 1848–1989 (= Passagen Gesellschaft), Wien 1999, 47–51. Laudatio durch Seine Magnifizenz Rektor O. Univ.-Prof. Dr. h. c. Dr. Helmut Konrad, in  : Feierliche Verleihung des Titels Ehrenbürger an den Britischen Honorarkonsul Herrn Komm.-Rat Kurt David Brühl (= Grazer Universitätsreden 71), Graz 1999, 8–17. Globalisierung & Nationalstaat. Impulsreferat, in  : Peter Schachner-Blazizek (Hg.), Globale Herausforderungen. Diskussionen zur Globalisierung, Graz 1999, 166–173. Krise unter dem Doppeladler – Nationale Fragen in der Donaumonarchie, in  : Brockhaus – Die Bibliothek. Die Weltgeschichte, Band 5  : Aufbruch der Massen – Schrecken der Kriege (1850– 1945), Leipzig/Mannheim 1999, 120–129. Zwischen Austromarxismus und Heimwehren – Österreich zur Zeit der Ersten Republik, in  : Brockhaus – Die Bibliothek. Die Weltgeschichte, Band 5  : Aufbruch der Massen – Schrecken der Kriege (1850–1945), Leipzig/Mannheim 1999, 538–542. Die Universität der Zukunft, in  : Helmut Konrad/Manfred Lechner (Hg.), Am Ende der Gegenwart. Gedanken über globale Trends und regionale Auswirkungen, Graz 2000, 63–71. Die gesamteuropäische Verantwortung  : Vorbild außerhalb Europas, in  : Klaus Anderbrügge/Arbeitskreis Fortbildung im Sprecherkreis der deutschen Universitätskanzler (Hg.), Unterwegs zu einer europäischen Universität  ? Die Herausforderung für die Hochschulverwaltung. 9. bis 12. September 1999, Loveno di Menaggio (= Materialien/Fortbildungsprogramm für die Wissenschaftsverwaltung 76), Weimar 2001, 31–38. Am Ende der Gegenwart – Was bleibt von den Gesellschaftsentwürfen des 20. Jahrhunderts  ?, in  : Christian Muckenhuber  : Soll & Haben – Eine Bildungsbilanz. Dokumentation der 43. »Salzburger Gespräche für Leiterinnen und Leiter in der Erwachsenenbildung« vom 8. bis 13. Juli 2000 in Eugendorf bei Salzburg, Wien 2001, 5–11. Laudatio durch den Altrektor Herrn Univ.-Prof. Dr. h. c. Helmut Konrad, in  : Feierliche Überreichung der Pro-Meritis-Medaille in Gold an Herrn Hofrat Dr. Michael Suppanz, Universitätsdirektor (= Grazer Universitätsreden 76), Graz 2001, 16–22. 100 Jahre Umgang mit der nationalen Frage. Vom Brünner Programm bis zu den Lösungsvorschlägen am Balkan von heute/Stó let národostních problémů. Od Brněnského narodnostího pro­ gramu k návrhům řešení současné balkánské problematiky, in  : Jan Šabata (Hg.), Střední Evropa internacionálně. Sborník příspěvků z mezinárodní vědecké konference ke stému výročí Národnostního programu, přijatého na 7. Sjezdu Rakouské Sociálně Demokratické strany v r. 1899 v Brně. Téma  : Aktuální význam středoevropské internacionální myšlenky./Mitteleuropa international. Internationale wissenschaftliche Konferenz zum hundertsten Jubiläum des Nationalitätenprogramms, angenommen auf dem 7. Parteitag der Österreichischen Sozialdemokratischen

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Partei 1899 in Brünn. Thema der Konferenz  : Die aktuelle Bedeutung der mitteleuropäischen internationalistischen Idee, Brno 2001, 36–56. Identität durch Negation. Kanada und Österreich im Vergleich, in  : Lutz Musner/Gotthart Wunberg/Eva Cescutti (Hg.)  : Gestörte Identitäten  ? Eine Zwischenbilanz der Zweiten Republik. Ein Symposion zum 65. Geburtstag von Moritz Csáky, Innsbruck u.a. 2002, 35–43. Laudatio, in  : Festakt aus Anlass der Emeritierung von O. Univ.-Prof. Dr. Maximilian Liebmann (= Publikation des Vereines zur Förderung der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz 1/3, 2002), 5–9. Über Herbert Steiner (1922–2001). Gedenkrede am 13.09.2001 in Linz, in  : Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 1 (2002), 69–73. Graz als Brücke und Drehscheibe, in  : Herwig Hösele u.a. (Hg.), Steirisches Jahrbuch für Politik 2001, Graz 2002, 95–98. Auf dem Weg zu Landesuniversitäten  ?, in  : Harald Eitner u.a. (Hg.), Res Publica. Festschrift für Peter Schachner-Blazizek zum 60. Geburtstag, Graz 2002, 331–342. Anmerkungen zu Österreichs nationaler Identität, in  : Siegfried Beer u.a. (Hg.), Focus Austria. Vom Vielvölkerreich zum EU-Staat. Festschrift für Alfred Ableitinger zum 65. Geburtstag (= Schriftenreihe des Instituts für Geschichte 15), Graz 2003, 197–208. Das IFK innerhalb der österreichischen Forschungslandschaft, in  : 3.775. Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien 2003, 15–16. Die 68er Generation der österreichischen ZeithistorikerInnen – eine Perspektive auf generationsspezifische Sozialisationsmerkmale und Karriereverläufe, in  : zeitgeschichte 30/6 (2003), 315–319. Die Zweite Republik am »Dritten Weg«, in  : Hedwig Kopetz/Joseph Marko/Klaus Poier (Hg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation. Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Band 2  : Historisch-politische Entwicklung, europäische Integration, Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft, Religion und Kirchen, Kulturwissenschaften, Kunst (= Studien zu Politik und Verwaltung 90,2), Graz 2004, 843–856. Akkreditierung in Österreich, in  : Wolfgang Benz/Jürgen Kohler/Klaus Landfried (Hg.), Handbuch Qualität in Studium und Lehre. Evaluation nutzen – Akkreditierung sichern – Profil schärfen. F 1.2 (Erg.Lfg. 1), Berlin 2004, 1–20. Der 12. Februar 1934 in Österreich, in  : Günther Schefbeck (Hg.), Österreich 1934. Vorgeschichte – Ereignisse – Wirkungen (Österreich-Archiv. Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), Wien/München 2004, 91–98. Der Februar 1934 im historischen Gedächtnis, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Themen der Zeitgeschichte und der Gegenwart. Arbeiterbewegung – NS-Herrschaft – Rechtsextremismus. Ein Resümee aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Neugebauer (= Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten 4), Wien 2004, 12–26. Universitäten in Bewegung. Zur Dynamisierung des Bildungssystems, in  : Walter Schuster/Maximilian Schimböck/Anneliese Schweiger (Hg.), Stadtarchiv und Stadtgeschichte. Forschungen und Innovationen. Festschrift für Fritz Mayrhofer (= Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2003/2004), Linz 2004, 253–264. Das 20. Jahrhundert in einer familiengeschichtlichen Perspektive, in  : Karl-Franzens-Universität Graz (Hg.), Nachhaltige Bildung für Alle. Beiträge von Vortragenden der Montagsakademie 2003/04 und 2004/05 (= Reihe Mo-ak 1), Graz 2005, 89–95.

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Wien – Technik – Kultur. Beziehungen und Bedeutungen, in  : Peter Skalicky (Hg.), Wien – Technik – Kultur. Erkundungen zum Verhältnis von Technik, Kunst und Kultur in Wien anlässlich der Verleihung des Titels Ehrensenator der Technischen Universität Wien an Universitätsprofessor Dr. Hubert Christian Ehalt, Wien 2005, 65–68. Die Anfänge des Spezialforschungsbereichs »Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900« an der Universität Graz, in  : Johannes Feichtinger u.a. (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Moritz Csáky zum 70. Geburtstag gewidmet (= Gedächtnis – Erinnerung – Identität 7), Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 437–442. Der Blick in die Vergangenheit der Zukunft, in  : Asset One Immobilienentwicklungs AG (Hg.), Konzeptionen des Wünschenswerten. Was Städte über die Zukunft wissen sollten (= Ein Buch aus der Asset-folio-Reihe), Wien 2006, 188–191. Maria Cäsar als Zeitzeugin, in  : Heimo Halbrainer (Hg.), »Ich bin immer schon eine politische Frau gewesen«. Maria Cäsar. Widerstandskämpferin und Zeitzeugin. Eine Würdigung aus Anlass ihres 86. Geburtstages. Graz 2006, 109–117. Krise unter dem Doppeladler  : Die Donaumonarchie  ; Das Ende des Habsburgerreichs, in  : DIE ZEIT – Welt- und Kulturgeschichte. Epochen, Fakten, Hintergründe in 20 Bänden. Mit dem Besten aus der ZEIT, Band 12  : Zeitalter des Nationalismus, Hamburg 2006, 100–119. Zwischen Austromarxismus und Heimwehren  : Österreich, in  : DIE ZEIT – Welt- und Kulturgeschichte. Epochen, Fakten, Hintergründe in 20 Bänden. Mit dem Besten aus der ZEIT, Band 13  : Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit, Hamburg 2006, 281–291. Das »Gedächtnis« von Universitäten. Das Beispiel Graz, in  : Andreas Sohn (Hg.), Memoria  : Kultur – Stadt – Museum. Mémoire – Culture – Ville – Musée (= Herausforderungen 18), Bochum 2006, 135–149. Zentrum, Peripherie und Geschichtswissenschaft, in  : Campus Spezial. Das Magazin für Universitäten, FH und Forschungseinrichtungen 59/4 (2007)  : Sondernummer aus Anlass des 65. Geburtstages von Peter Schachner-Blazizek, 12. (mit Elisabeth Fiorioli) Die Struktur der österreichischen Qualitätssicherung, in  : Handbuch Qualität in Studium und Lehre, Akkreditierung und andere Formen der Qualitätszertifizierung, F1A.1 (Erg.-Lfg. 15), 2007. Zur Positionierung der Geisteswissenschaften, in  : Forum – Freunde und AbsolventInnen der Kunstuniversität Linz (Hg.), k60 Kunstuniversität Linz, Linz 2007, 98–105. Kann man akademische Qualität messen  ?, in  : Anni Koubek u.a. (Hg.), Bene meritus. Festschrift für Peter Schachner-Blazizek zum 65. Geburtstag (= Edition FH Joanneum), Graz 2007, 397–410. A Look into the Past of the Future, in  : Asset One Immobilienentwicklungs AG (Hg.), Conceptions of the Desirable  : What Cities Ought to Know about the Future. English translation  : Mark J. Webber, Wien/New York 2007, 190–193. Arbeiterschaft und Sozialdemokratie 1918, in  : Politicum. Schriften des Steirischen Instituts für Politik und Zeitgeschichte 102 (2007)  : 1918 – Der Beginn der Republik, 15–16. Zum Volksgarten/On the Volksgarten, in  : Adam Budak/Peter Pakesch/Katia Schurl (Hg.), Volksgarten. Die Politik der Zugehörigkeit. Katalog der Ausstellung »Volksgarten. Die Politik der Zugehörigkeit« vom 23.09.2007–13.01.2008 im Kunsthaus Graz am Landesmuseum Joanneum, Köln 2007, 62–71. Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsbewußtsein, in  : Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität,

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Waldheim und die Historiker (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 13), 2. erw. Auflage, Frankfurt/New York 2008, 169–176. Der 12. März 1938 im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in  : Franz Schausberger (Hg.), Geschichte und Identität. Festschrift für Robert Kriechbaumer zum 60. Geburtstag (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 35), Wien/Köln/Weimar 2008, 271–280. Heine und die Studentenbewegung 1968, in  : Dietmar Goltschnigg/Charlotte Grollegg-Edler/ Peter Revers (Hg.), Harry…Heinrich…Henri…Heine. Deutscher, Jude, Europäer. Grazer Humboldt-Kolleg, 6.–11. Juni 2006 (= Philologische Studien und Quellen 208), Berlin 2008, 361–365. Das Rote Wien. Ein Konzept für eine moderne Großstadt  ?, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Mader­ thaner (Hg.), …der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Band I, Wien 2008, 223–240. Das sozialdemokratische »Lager«, in  : Stefan Karner, Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik, Beitragsband der Ausstellung im Parlament, in  : Stefan Karner/Lorenz Mikoletzky (Hg), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck/ Wien/Bozen 2008, 63–70. Die »Achterjahre«, in  : Gerfried Sperl/Michael Steiner (Hg.), 8ung (= Was für Zeiten 10), Graz 2008, 38–46. Der Ärger mit der »Acht«, in  : Friedrich Bouvier/Nikolaus Reisinger (Red.), Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 38/39 (2009)  : »Achter-Jahre«, Graz 2009, 15–25. Felix Kreissler und der österreichische Widerstand, in  : Austriaca 33–34/67–68 (2008/09)  : Hommage à Félix Kreissler (1917–2004), 97–107. Österreich und der Erste Weltkrieg, in  : Siegfried Mattl u.a. (Hg.), Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft (=Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft 1), Wien/Köln/Weimar 2009, 13–23. Von welcher Bildung reden wir  ?, in  : Hubert Christian Ehalt/Wilhelm Hopf/Konrad Paul Liessmann (Hg.), Kritik & Utopie, Positionen & Perspektiven (= Austria  : Forschung und Wissenschaft – Interdisziplinär 1), Wien/Berlin 2009, 165–168. Idee und Genese der österreichischen Privatuniversitäten im internationalen Vergleich, in  : Wolfgang Mantl, Phänomenologie des europäischen Wissenschaftssystems (= EUR.AC research  : Minderheiten und Autonomien 18), Baden-Baden 2010, 277–285. Wien-Graz (und retour), in  : Andrea Schnöller/Ilja Steffelbauer/Bernd Hausberger (Hg.), Von der Lust an der Grenzüberschreitung und vom Reiz der Verweigerung (= Edition ad fontes agricolae), Wien 2010, 122–125. Die »Grazer Zeitgeschichte«. Eine sehr persönliche Annäherung, in  : Helmut Konrad/Stefan Benedik (Hg.), Mapping Contemporary History II. Exemplarische Forschungsfelder aus 25 Jahren Zeitgeschichte an der Universität Graz, Wien/Köln/Weimar 2010, 9–21. (mit Monika Stromberger) Der kurze Traum von Selbständigkeit. Zwischeneuropa, in  : Walther L. Bernecker/Hans Werner Tobler (Hg.), Die Welt im 20. Jahrhundert bis 1945 (= Globalgeschichte der Welt 1000–2000), Wien 2010, 54–79. (mit Monika Stromberger) Die Welt seit 1945. Einleitende Bemerkungen, in  : Helmut Konrad/ Monika Stromberger (Hg.), Die Welt im 20. Jahrhundert nach 1945 (= Globalgeschichte der Welt 1000–2000), Wien 2010, 13–28.

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Schriftenverzeichnis Helmut Konrad

(mit Monika Stromberger) »In der Mitte am Rand«. Zwischeneuropa, in  : Helmut Konrad/Monika Stromberger (Hg.), Die Welt im 20. Jahrhundert nach 1945 (= Globalgeschichte der Welt 1000–2000), Wien 2010, 196–219. Von Linz aus. Die Formierung der österreichischen Zeitgeschichte, in  : Heinrich Berger u.a. (Hg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien/Köln/Weimar 2011, 47–57. Zeit – Geschichte, in  : Dietmar Goltschnigg (Hg.), Phänomen Zeit. Dimensionen und Strukturen in Kultur und Wissenschaft. Grazer Humboldt-Kolleg, 10.–14. November 2009, Tübingen 2011, 123–125. Die Weinberge der Steiermark, in  : Dieter A. Binder/Helmut Konrad/Eduard G. Staudinger (Hg.), Die Erzählung der Landschaft (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 34), Wien/Köln/Weimar 2011, 105–119. Österreichische Geschichtspolitik in den 1970er und 1980er Jahren  : Historiographische Anmerkungen und persönliche Beobachtungen, in  : Jürgen Mittag/Berthold Unfried unter Mitarbeit von Eva Himmelstoss (Hg.), Arbeiter- und soziale Bewegungen in der öffentlichen Erinnerung. Eine globale Perspektive. 46. Linzer Konferenz der International Conference of Labour and Social History, 09.–12. September 2010 (= ITH-Tagungsberichte 45), Leipzig 2011, 111–119. Town and Gown, in  : Klaus Luger/Johann Mayr (Hg.), Stadtgesellschaft – Werte und Positionen. Bürgermeister Franz Dobusch zum 60. Geburtstag gewidmet, Linz 2011, 367–375. Einleitung. Ein Jahrhundert des Terrors, in  : Helmut Konrad u.a. (Hg.), Terror und Geschichte (= Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft 2), Wien/ Köln/Weimar 2012, 7–11. Der Weg in den Abgrund. Die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen, in  : Heimo Halbrainer/ Gerald Lamprecht/Ursula Mindler (Hg.), NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse, Wien/Köln/Weimar 2012, 31–41. Grenzen und Durchlässigkeiten im Hochschulwesen, in  : Gerald Lamprecht/Ursula Mindler/Heidrun Zettelbauer (Hg.), Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne (= Edition Kulturwissenschaft 18), Bielefeld 2012, 287–294. Politik, Wissenschaft und Kunst, in  : Werner Hauser/Wolfgang Muchitsch/Albert Trattner (Hg.), Peter Schachner-Blazizek. Ein weises, gutes Leben, Wien 2012, 100–102. Gernot Kocher und die Geisteswissenschaften, in  : Otto Fraydenegg-Monzello/Anneliese Legat (Hg.), Kleine Festgabe für Gernot Kocher zum 70. Geburtstag (= Grazer hochschul- und wissenschaftspolitische Schriften, Sonderband 1), Graz 2012, 23–26. Begegnungen mit Wolf Rauch, in  : Otto Petrovic/Gerhard Reichmann/Christian Schlögl (Hg.), Informationswissenschaft. Begegnungen mit Wolf Rauch, Wien/Köln/Weimar 2012, 35–38. Die Bruchlinie 1934 und die Notwendigkeit einer theoretisch fundierten Geschichtswissenschaft, in  : Gerald Schöpfer/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Wirtschaft. Macht. Geschichte. Brüche und Kontinuitäten im 20. Jahrhundert. Festschrift Stefan Karner (= Unserer Zeit Geschichte 9/ Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz – Wien – Klagenfurt 23), Graz 2012, 47–56. Vergangenheit, überschrieben, in  : Richard Kriesche, Die Kunst mit der Kunst des Nationalsozialismus (Die Publikation erscheint im Rahmen der Ausstellung »die Kunst mit der Kunst des

Schriftenverzeichnis Helmut Konrad

Nationalsozialismus« Künstlerhaus Wien, Karlsplatz 5, 1010 Wien. Dezember 2012 bis Jänner 2013), Wien 2012, 50. Walter Höflechner als Dekan, in  : Alois Kernbauer (Hg.), Vivere est in litteras incumbere. Walter Höflechner zur Vollendung seines 70. Lebensjahres, Graz 2013, 83–88. Ursula Schneider und die Universität Graz, in  : Fritz Hendrich (Hg.), Ethik und/oder Management. Zum 60. Geburtstag von Ursula Hendrich-Schneider (1953–2009), Graz/Wien 2013, 147–158. Ein Frieden, der die Hoffnung auf Frieden begräbt  ? Die Neuordnung der Welt 1919–1922, in  : Alfred Ableitinger/Martin Moll (Hg.), Licence to Detect. Festschrift für Siegfried Beer zum 65. Geburtstag (= Schriftenreihe des Instituts für Geschichte 19), Graz 2013, 212–233. Sozialutopien und Gewerkschaften, in  : Brigitte Pellar (Red.), Wissenschaft über Gewerkschaft. Analysen und Perspektiven, Wien 2013, 351–369. (mit Wolfgang Maderthaner) Introduction, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Routes into the Abyss. Coping with Crises in the 1930s (= International Studies in Social History 21), New York/Oxford 2013, 1–11. The Significance of February 1934 in Austria in both National and International Context, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Routes into the Abyss. Coping with Crises in the 1930s (= International Studies in Social History 21), New York/Oxford 2013, 20–32. Claudia Gigler/Kleine Zeitung Akademie (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Die große Erschütterung und der Keim des Neuen. 12 Vorlesungen Helmut Konrad Christa Hämmerle Manfried Rauchensteiner, Graz 2013. Beiträge  : Der Nationalismus als Motor, 13–27  ; Der Krieg, die Fronterfahrung und die Medien, 61–75  ; Die Schuldfrage, 183–199  ; Die Veränderung der Welt, 201–217. Über die Kriegsschuld, in  : Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. Kulturpolitische Sektion (Hg.), 1914, 2014. Gedenken 1. Weltkrieg. Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, Wien 2014, 9–10. Reflections on the question of war guilt, in  : Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. Kulturpolitische Sektion (Hg.), 1914, 2014 – World War I Centenary. Summary Report Prepared by Austrian Researchers on the Occasion of the Outbreak of World War I, Wien 2014, 13–14. Sur la responsibilité pour la guerre, in  : Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. Kulturpolitische Sektion (Hg.), 1914, 2014 – Centenaire. Document de base de chercheuses et de chercheurs autrichiens à l’occasion de la commémoration du déclenchement de la Première Guerre Mondiale il y a 100 ans, Wien 2014, 13–14. Fronterfahrung, in  : Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. Kulturpolitische Sektion (Hg.), 1914, 2014 – Gedenken 1. Weltkrieg. Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, Wien 2014, 20–21. Front Experience, in  : Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. Kulturpolitische Sektion (Hg.), 1914, 2014 – World War I Centenary. Summary Report Prepared by Austrian Researchers on the occasion of the Outbreak of World War I, Wien 2014, 23–24. Le vécu sur le front, in  : Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. Kulturpolitische Sektion (Hg.), 1914, 2014 – Centenaire. Document de base de chercheuses et de chercheurs autrichiens à l’occasion de la commémoration du déclenchement de la Première Guerre Mondiale il y a 100 ans, Wien 2014, 23–24.

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Drafting the peace, in  : Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, Vol. 2  : The State, Cambridge 2014, 606–637. Bibliographical Essays  : Drafting the Peace, in  : Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, Vol. 2  : The State, Cambridge 2014, 715–716. Bâtir la Paix, in  : Jay Winter (Hg.), La Première Guerre Mondiale, Tome 2  : États, Paris 2014, 647– 678. Essais Bibliographiques  : Bâtir la paix, in  : Jay Winter (Hg.), La Première Guerre Mondiale, Tome 2  : États, Paris 2014, 860–861. Kleine Zeitung (Hg.), Der Erste Weltkrieg 1914–1918 (= Kleine Zeitung Spezial), Graz 2014. Beiträge  : Als die alte Zeit noch (fast) gut war, 6–7  ; Für Frieden, Brot und Land, 88–90  ; Der Revolutionär aus bürgerlicher Familie, 90–91  ; Europa lernt die USA kennen, 92–94  ; Der zerrissene Präsident, 94–95  ; Und der Rest war Österreich, 96–98  ; Ein Mann für jede Jahreszeit, 98–99  ; Das neue Antlitz Europas, 102–103  ; Die vertane Chance, 104–105  ; Die Opfer des Krieges, 106–107  ; Die Saat, die das Böse nährte, 116–118  ; Die Rache des Gefreiten, 118–119. Welche Nationen  ? Welche Staaten  ? Zur politischen Umsetzung der sogenannten »nationalen Einigungen« im 19. Jahrhundert, in  : Florika Griessner/Adriana Vignazia unter Mitwirkung von Fausto de Michele (Hg.), 150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen, Wien 2014, 43–51. 1933/34 in der Geschichtswissenschaft, in  : Werner Anzenberger/Heimo Halbrainer (Hg.), Unrecht im Sinne des Rechtsstaates. Die Steiermark im Austrofaschismus, Graz 2014, 37–46. Messbar und bewertbar  ?, in  : Lukas Meyer/Barbara Reiter (Hg,), Wem gehört das Denken  ? Werkstattgespräche hinter dem Grazer Glockenspiel (= Grazer Universitätsverlag. Allgemeine wissenschaftliche Reihe 37), Graz 2014, 105–119. Alltagsobjekte und Krieg, in  : Georg Kastner/Ursula Mindler-Steiner/Helmut Wohnout (Hg.), Auf der Suche nach Identität. Festschrift für Dieter Anton Binder (= Austria  : Forschung und Wissenschaft – Geschichte 13), Wien 2015, 585–596. Vielschichtige, veränderbare »Heimaten«, in  : Katharina Scherke (Hg.), Spannungsfeld »Gesellschaft­ liche Vielfalt«. Begegnungen zwischen Wissenschaft und Praxis (= Gesellschaft der Unterschiede), Bielefeld 2015, 213–222. Heimat(en)/Domovina(-e), in  : Jürgen Pirker (Hg.), Kärnten und Slowenien  : Getrennte Wege – Gemeinsame Zukunft. Jugend zwischen Heimat, Nation und Europa/Koroška in Slovenija  : Ločene poti – skupna prihodnost. Mladi o domovini, narodu in Evropi (= EUR.AC research  : Minderheiten und Autonomien 29), Baden-Baden/Wien 2015, 139–149. Jubiläumsjahr 2014 – neue Erkenntnisse  ?, in  : Beatrix Karl u.a. (Hg.), Steirisches Jahrbuch für Politik 2014, Wien 2015, 85–88. Graz und der »Memory Boom«, in  : Friedrich Bouvier/Nikolaus Reisinger (Red.), Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 44 (2014/15)  : Graz 1914 – 1934 – 1944… und darüber hinaus…, Graz 2015, 17–27. Kleine Zeitung (Hg.), 1945. Vom Dritten Reich zur Zweiten Republik (= Kleine Zeitung Spezial), Graz 2015. Beiträge  : Verführer und Tyrann, 10–13  ; Die Entrechtung der Juden, 18–21  ; Als Österreich zur Ostmark wurde, 32–35  ; Der falsche Friede, 36–37  ; Die Faust Italiens, 38–39  ; Die Industrie des Todes, 62–67  ; Die atomare Apokalypse, 118–123  ; Die Gründung der Zweiten Republik, 128–131  ; Das Leben danach, 136–137.

SIEGFRIED MATTL, GERHARD BOTZ, STEFAN KARNER, HELMUT KONRAD (HG.)

KRIEG. ERINNERUNG. GESCHICHTSWISSENSCHAFT VERÖFFENTLICHUNGEN DES CLUSTER GESCHICHTE DER LUDWIG BOLTZMANN GESELLSCHAFT, BAND 1

Gewalt, Krieg, Vertreibung und Vernichtung sind am Beginn des 21. Jahrhunderts zu dominanten Gegenständen historiografischer, erinnerungspolitischer und populärkultureller Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geworden. Gegenüber der militärhistorischen und diplomatiegeschichtlichen Perspektive gewinnen dabei Fragen nach den Erfahrungen von Opfern organisierter Gewalt und die Auseinandersetzung mit den kulturellen Kontexten, in denen Kriege und kriegsförmige Akte stattfinden und legitimiert werden, an Bedeutung. Die Beiträge in diesem Band spannen einen weiten Bogen: vom Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg zu NS-Vernichtungslagern und Massenvertreibungen während des jüngsten Balkankrieges; von medialen Strategien im Ersten und Zweiten Weltkrieg über massive, gewaltförmige Bevölkerungsverschiebungen nach 1945 bis zu aktuellen Formen der ritualisierten und gedächtnispolitischen Erinnerung an diese Ereignisse. 2009. 378 S. 5 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78193-6

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com

HELMUT KONRAD, GERHARD BOTZ, STEFAN KARNER, SIEGFRIED MATTL (HG.)

TERROR UND GESCHICHTE VERÖFFENTLICHUNGEN DES CLUSTER GESCHICHTE DER LUDWIG BOLTZMANN GESELLSCHAFT, BAND 2

Krieg und Gewalt prägten die Entwicklung Europas und der Welt im 20. Jahrhundert ganz wesentlich. Einen zentralen Stellenwert nimmt dabei der Umgang mit dem Erlebten und Erzählten ein, stellen Traumatisierungen von einzelnen Personen und ganzen Gruppen Gesellschaften doch immer wieder vor Herausforderungen – in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart. In diesem Band präsentieren nicht nur HistorikerInnen, sondern auch PolitikwissenschafterInnen, PsychologInnen und VertreterInnen anderer Fächer Ergebnisse aktueller Forschungen. Darin werden nicht nur Gewalt- und Terrorerfahrungen thematisiert, die durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts verursacht wurden, sondern viele unterschiedliche Formen des Terrors, etwa im Umfeld der Revolution in Ungarn 1919, in NS-Konzentrationslagern, in der Sowjetunion oder im Kambodscha der Roten Khmer. 2012. 265 S. 40 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78559-0

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LUCILE DREIDEMY, RICHARD HUFSCHMIED, AGNES MEISINGER, BERTHOLD MOLDEN, EUGEN PFISTER, KATHARINA PRAGER, ELISABETH RÖHRLICH, FLORIAN WENNINGER, MARIA WIRTH (HG.)

BANANEN, COLA, ZEITGESCHICHTE: OLIVER RATHKOLB UND DAS LANGE 20. JAHRHUNDERT

Bananen, Cola, Zeitgeschichte: das Erfolgsrezept Oliver Rathkolbs, eines der renommiertesten und unermüdlichsten österreichischen Zeithistoriker. Anlässlich seines 60. Geburtstags widmen ihm neun SchülerInnen eine Festschrift, die wissenschaftliche Beiträge österreichischer und internationaler KollegInnen ebenso enthält wie persönliche Reflexionen von WeggefährtInnen aus Wissenschaft und Politik. Entsprechend den breiten Arbeits- und Interessenschwerpunkten Oliver Rathkolbs reichen deren Themen von der Geschichte der »paradoxen Republik« Österreich über den Kalten Krieg, den Nationalsozialismus und seine Rezeption sowie andere Aspekte der historischen Diktatur- und Transformationsforschung bis hin zu Reflexionen über Kunst, Kultur, Geschichtspolitik und das Fach Zeitgeschichte selbst. 2015. 1208 S. GB. 2 BÄNDE IM SCHUBER. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-20091-8

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HELMUT KONR AD UND STEFAN BENEDIK (HG.)

MAPPING CONTEMPOR ARY HISTORY II 25 JAHRE ZEITGESCHICHTE AN DER UNIVERSITÄT GR AZ

Die Bandbreite des Faches „Zeitgeschichte“ wird hier dokumentiert, wobei internationale Spitzenvertreter aus Lehre und Forschung zu Wort kommen. Frank Bajohr zum Nationalsozialismus, Steven Beller zum Antisemitismus, Elizabeth Harvey zu Gender History, Leo Lucassen zu Migration, Otto Luthar zu Gedächtnis, Wolfgang Sachs zu Außereuropa, Marcel van der Linden zur Arbeitergeschichte und Jay Winter zum Ersten Weltkrieg bringen ihre internationalen Perspektiven ein und zeigen die breite Vernetzung, auf die die Grazer Zeitgeschichte bauen kann. Diese Beiträge stecken auch das Feld ab, in dem sich heute die Zeitgeschichteforschung bewegt. 2010. 390 S. GB. MIT SU. 16 S/W-ABB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78518-7

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