Krisenkino: Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm [1. Aufl.] 9783839411353

Der Spielfilm - Leitmedium des 20. Jahrhunderts - hat sich in den vergangenen 100 Jahren immer wieder als Seismograph, K

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Krisenkino: Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm [1. Aufl.]
 9783839411353

Table of contents :
Inhalt
Krisenkino – Zur Einleitung
Die Femme fatale als Spiegel des Umbruchs: Pabsts Lulu-Interpretation
Fremde Normalität: Angestellte im Film um 1930
Genie und Jude: Normalität und Abweichung im Film des NS
Stehende Gewässer: Nullzeit und Normalzeit in Helmut Käutners Film Unter den Brücken
Attribute des Jüdischen im deutschen Nachkriegsfilm: Zur Etikettierung des Anderen nach dem Holocaust
Vom Expressionismus zum Trümmerfilm? Visueller Stil und Nachkriegskrise im Trümmerfilm
Überformte gesellschaftliche Wirklichkeit im deutschen Heimatfilm der 1950er Jahre: Verlorene Söhne, Wilderer und andere Außenseiter
Inzest im intimen Kollektiv? Deutscher Film der fünfziger Jahre und antipolitische Gemeinschaftsbildung
Die Reflexion des RAF-Terrors in fiktionalen Filmen der Bundesrepublik Deutschland
Der Baader Meinhof Komplex – ein filmisches Hybridprodukt in einer konvergenten Medienwelt
Migration in die Ungleichzeitigkeit: Fatih Akins Gegen die Wand und die Wende im deutsch-türkischen Film
Leben im anderen Deutschland: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im gegenwärtigen deutschen Wendefilm
Vor dem Gesetz – oder: Was ist ›richtig‹ und was ist ›falsch‹? Zur Diff erenz von Recht und Unrecht im deutschen Gegenwartsfilm
Normalität und Normalitätsbruch in Michael Hanekes Filmen Wolfzeit und Caché
Oscar figuriert Geschichte: Die deutschen Nominierungen in der Endausscheidung um den ›Oscar‹
Zu den Autoren

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Waltraud ›Wara‹ Wende, Lars Koch (Hg.) Krisenkino

2010-05-11 10-04-43 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a5241353681690|(S.

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Waltraud ›Wara‹ Wende, Lars Koch (Hg.) Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm

2010-05-11 10-04-43 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a5241353681690|(S.

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Der Druck dieser Publikation wurde gefördert durch: die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Den Haag, das Goethe-Institut in Amsterdam, den Nicolas Mulerius Fonds in Groningen und die Rijksuniversiteit Groningen.

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Inhalt Lars Koch und Waltraud ›Wara‹ Wende Krisenkino – Zur Einleitung 7

Susanne Mildner Die Femme fatale als Spiegel des Umbruchs: Pabsts Lulu-Interpretation 15

Sabine Biebl Fremde Normalität: Angestellte im Film um 1930 31

Niels Werber Genie und Jude: Normalität und Abweichung im Film des NS 55

Lorenz Engell Stehende Gewässer: Nullzeit und Normalzeit in Helmut Käutners Film Unter den Brücken 71

Ingo Loose Attribute des Jüdischen im deutschen Nachkriegsfi lm: Zur Etikettierung des Anderen nach dem Holocaust 91

Martina Möller Vom Expressionismus zum Trümmerfilm? Visueller Stil und Nachkriegskrise im Trümmerfi lm 111

Sören Philipps Überformte gesellschaftliche Wirklichkeit im deutschen Heimatfi lm der 1950er Jahre: Verlorene Söhne, Wilderer und andere Außenseiter 127

Jörn Ahrens Inzest im intimen Kollektiv? Deutscher Film der fünfziger Jahre und antipolitische Gemeinschaftsbildung 143

Knut Hickethier Die Reflexion des RAF-Terrors in fi ktionalen Filmen der Bundesrepublik Deutschland 167

Lothar Mikos Der Baader Meinhof Komplex – ein fi lmisches Hybridprodukt in einer konvergenten Medienwelt 209

Ortrud Gutjahr Migration in die Ungleichzeitigkeit: Fatih Akins Gegen die Wand und die Wende im deutsch-türkischen Film 225

Gerhard Jens Lüdeker Leben im anderen Deutschland: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im gegenwärtigen deutschen Wendefi lm 251

Waltraud ›Wara‹ Wende Vor dem Gesetz – oder: Was ist ›richtig‹ und was ist ›falsch‹? Zur Differenz von Recht und Unrecht im deutschen Gegenwartsfilm 271

Lars Koch Normalität und Normalitätsbruch in Michael Hanekes Filmen Wolfzeit und Caché 309

Hans Jörg Schmidt Oscar figuriert Geschichte: Die deutschen Nominierungen in der Endausscheidung um den ›Oscar‹ 329

Zu den Autoren 347

Kr isenkino – Zur Einleitung Lars Koch und Waltraud ›Wara‹ Wende

Das Thema ›Krise‹ ist – so hat es zumindest den Anschein – angesichts der derzeitigen Turbulenzen auf den globalen Finanzmärkten omnipräsent. Nachrichtensendungen, in denen die neuesten – und dass heißt immer schon veralteten – Schreckensmeldungen über den Niedergang der Weltwirtschaft und über das Taumeln des kapitalistischen Systems verkündet werden, haben einen festen Platz auf der Tagesordnung. Mit anderen Worten: Informationen aus der Finanzwelt stehen hoch im Kurs. Dabei wird, um die Brisanz und das Gefahrenpotenzial der gegenwärtigen Entwicklung anschaulich ins Bild zu setzen, immer wieder gern auf ein und dasselbe Datum, nämlich auf den 24. Oktober 1929, den Beginn der bis dato größten Weltwirtschaftskrise, verwiesen. Die Folgen der vor nunmehr achtzig Jahren beginnenden Weltwirtschaftskrise – eine weltweite millionenfache Arbeitslosigkeit, fundamentale gesellschaftliche Destabilisierungsprozesse und die katastrophenschwere Machtergreifung Hitlers – schweben geradezu wie ein Menetekel über dem Weg in die Moderne des 20. Jahrhunderts. Fragt man nach der kommunikativen Funktion des historischen Vergleichs, dann wird rasch deutlich, dass der diskursive Verweis auf die historisch vorausgegangene Krise in erster Linie nicht aus einer sachlichnüchternen Distanz heraus formuliert wird. Stattdessen ist augenfällig, dass die semantische Verknüpfung von aktueller und historischer Krise selbst als ein Element der gegenwärtigen Krisendynamik interpretiert werden muss. Krisen und krisenhafte Phänomene sind keine Geschehnisse an sich, sondern immer die Resultate von Beobachtungsleistungen und von Interpretationen, Wahrgenommenes wird narrativ bzw. medial zu einem Deutungsmuster verdichtet und mit historischer Plausibilität unterfüttert. ›Krise‹ ist – wie von Reinhard Koselleck schon 1954 in der Studie ›Kritik und Krise‹ betont – das Produkt einer temporalen Ordnungspraxis, bei der biografische, politische oder kulturelle Wandlungsprozesse auf einer Zeit7

Lars Koch und Waltraud ›Wara‹ Wende

achse verortet und in Überblendung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewertet werden. Krisenerzählungen etablieren normativ imprägnierte Zusammenhänge in der Zeit und restabilisieren qua Narration zunächst als instabil erlebte Situationen. Integrale Basisunterscheidung einer jeden Krisenkommunikation ist die Konstruktion von ›Normalität‹ und ›Abweichung‹. Ein Krisendiskurs kann sich in einer historisch letztlich kontingenten Situation nur dort erfolgreich in Szene setzen, wo er es im Hinblick auf seinen Adressatenkreis versteht, Vorstellungen über Normalität und daraus abgeleitete Normen in eine spannungsreiche Beziehung zu einer technischen, sozialen oder kulturellen Abweichung zu rücken. In gewisser Weise funktioniert der »kollektive Normalismus« (Jürgen Link) des Krisendiskurses so als eine topologische Praxis, die den Moment der Grenzziehung als Basis jeder sozialen und kulturellen Vergemeinschaftung in expliziter Weise herausstellt. All die kleineren und größeren Operationen des Ein- und Ausschlusses, die die Stabilität und Dynamik sozialer Kohäsion prozessieren, treten im Krisendiskurs, verstanden als kommunikative Reaktion auf fundamentale Störungen der gesellschaftlichen Systemzustände, in besonderer Schärfe hervor. Dieses temporäre Sichtbarwerden von gesellschaftlichen »Zonen der Unentschiedenheit« (Giorgio Agamben) kann – im glücklichen Falle – zur demokratischen Neuaushandlung des allgemeinverbindlichen Common Sense führen, oder es mündet – im schlechten Falle – in der dichotomischen Gegenüberstellung von »Freund und Feind« (Carl Schmitt). Blickt man auf das gegenwärtige Krisenszenario, so fällt auf, dass die aktuelle Rhetorik der Krise im Hinblick auf Ausstattung, Performanz und Inszenierung von Normalität und Abweichung starke Anleihen aus dem Genre des Katastrophenfi lms nimmt. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla, die diese Beobachtung im März 2009 in der ›Zeit‹ ausbuchstabiert hat, diagnostiziert im Kontext der semantischen Begleitung der Finanzkrise einen neoliberalen Entschuldungsdiskurs, der die Krise systemschützend naturalisiert (die Finanzkrise als Erdbeben) und gleichzeitig Hoffnungen auf ein Durchstehen der Erschütterungen und eine Rekonstitution des Status quo ante (die Rettung der bedrohten Gemeinschaft durch wenige aufrechte Helden) schürt.1 Noch einen Schritt weiter geht Peter Sloterdijk, der im Mai 2009 in einem Interview gar die These aufstellt, dass die Medien1 Vgl. Kathrin Röggla: »Worst Case Szenario«, in: Die Zeit, 5. März 2009. Noch vor Röggla hatte in einem im November 2008 veröffentlichten Text schon der französische Philosoph Alain Badiou den Vergleich von Katastrophenfilm und Finanzkrise herangezogen, um den »Kapital-Parlamentarismus« zu kritisieren. Vgl. Alain Badiou: »Das Reale dieses Krisenspektakels«, in: tageszeitung, 13. November 2008.

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Krisenkino – Zur Einleitung

gesellschaft dazu tendiere, katastrophale Geschehnisse generell als »Horrorgenre« zu ästhetisieren: »Die Katastrophe« – so das Fazit des Philosophen – »ist für uns vor allem ein ästhetisches Konzept.«2 Sind Rögglas und Sloterdijks Überlegungen im Kontext dieses medialisierten »Diktats der Plötzlichkeit«3 an sich schon sehr bedenkenswert, so interessiert uns im Hinblick auf die Programmatik des vorliegenden Sammelbandes ›Krisenkino‹ ein Detail, das die aktuellen Verdachtshermeneutiken quasi en passant formulieren: der (möglicherweise) genuine Zusammenhang zwischen Krisenkommunikation und Spielfilm. Plausibilität gewinnt diese These zunächst durch einige formale bzw. ästhetische Anmerkungen. Krisendiskurs wie Spielfilm bearbeiten ihr Material, indem sie es in eine narrative Form übersetzen. Für beide Weisen der Wirklichkeitspräsentation – die sinnhafte Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Krisendiskurs ebenso wie für die technische Kopplung von Bildern zu kontinuierlichen Abläufen im (Katastrophen-)Film – sind kategoriale Zuschreibungen wie ›Narrativität‹, ›Performativität‹ und ›Inszenierung‹ von zentraler Bedeutung. Der Spielfi lm bedient sich nicht nur, aber immer auch der Möglichkeiten des »Bewegungsbildes« (Gilles Deleuze) und organisiert aufgrund seiner audiovisuellen Möglichkeiten Ereignisfolgen in der Zeit. Ebenso wie der Krisendiskurs ist der Film auf Dynamik und Fortgang der um eine Zäsur oder Zuspitzung organisierten Handlung ausgelegt. Wie der Spielfilm, so arbeitet auch der Krisendiskurs mit Techniken der Immersion, die ein enormes Emotionalisierungspotenzial realisieren, Identifi kation initiieren und analytische Distanznahme erschweren. 4 Jenseits solcher an sich noch relativ unspezifischen Analogiebildung erfährt die Frage nach einem Zusammenhang von Krise und Kino durch einen Blick auf die Filmgeschichte selbst weitere Berechtigung. Das Medium Spielfi lm – das man mit einigem Recht als eines der Leitmedien des 20. Jahrhunderts begreifen kann5 – hat sich über die letzten rund 100 Jahre hinweg immer wieder als Seismograf, Katalysator und Reflexionsmedium von als krisenhaft erlebten Ausnahmezuständen und Zuspitzungen erwie2 Peter Sloterdijk: »Nur Verlierer kooperieren«, Interview in: tageszeitung, 05. Mai 2009. 3 Röggla: »Worst Case Szenario«, a.a.O. 4 Vgl. etwa Oliver Grau/Andreas Keil (Hg.): Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt a.M. 2005. 5 Vgl. hierzu höchst differenziert: Lorenz Engell: »Ausfahrt nach Babylon. Die Genese der Medienkultur aus Einheit und Vielheit«, in: Ders.: Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar 2000, S. 263305.

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sen. Als Massenmedium nimmt es dabei eine Mittlerfunktion zwischen gesellschaftlichen Ereignissen einerseits und ihren symbolischen Ausdeutungen anderseits war. Der Film ist nicht nur privilegierter »Speicher des Zeitgeistes« (Fritz Lang), sondern fungiert in seiner Eigenschaft als bedeutungsgenerierendes und massenwirksames politisches Phänomen zugleich auch als gewichtiger Beitrag zu einer komplexen Signifi kationsdynamik, die im Zuge einer Politik des Kulturellen die kommunikative Bewertung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse kollektiver Ausnahmezustände vorantreibt. Eine kulturwissenschaftliche Spielfi lm-Lektüre sieht im einzelnen Film, in einem spezifischen Genre oder einer größeren fi lmhistorischen Formation einen nicht unbedingt privilegierten, aber doch wichtigen kulturellen Ort der Produktion und Distribution solcher »visuellen Formen, in und mit denen sich eine Gesellschaft darstellt«6. Als »(popular-)kulturelle Ware und ästhetisches Artefakt«7 ist der Spielfi lm immer relational auf den diskursiven und dispositiven Ermöglichungszusammenhang der Zeit bezogen, in der er entstanden ist, und übersetzt politische oder soziale Ereignisse gemäß seinen formalen Möglichkeiten auf dem Wege direkter Bezugnahme oder über Techniken der Substitution, Überzeichnung oder Verstellung in seinen eigenen audiovisuellen Kosmos.8 Als Teil der Repräsentationsordnung einer Gesellschaft artikulieren sich in der filmischen Bildwelt – wie stark ästhetisch gebrochen auch immer – »aktuelle soziale Diskurse« und »gesellschaftliche Konflikte«9 . 6 Norman K. Denzin: »Reading Film – Filme und Videos als sozialwissenschaftliches Erfahrungsmaterial«, in: Uwe Flick (Hg.): Qualitative Forschung, Ein Handbuch, 2. Aufl ., Reinbek bei Hamburg 2003, S. 416-428, hier S. 417. 7 Siegfried Mattl/Elisabeth Timm/Birgit Wagner: »Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft – Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.): Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Jg. 2007/Heft 2: Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 7-10, hier S. 7. 8 Beispielhaft sei hier nur an das Genre des Zombiefilms erinnert, der in den letzten Jahren eine ganze Reihe kulturwissenschaftlicher Lektüren herausgefordert hat, die sich in ihren Argumentationen immer wieder auf die gesellschaftliche Zäsur des Vietnamkriegs beziehen. Vgl. etwa Michaela Wünsch: »Horror und Herrschaft. Regierungstechniken im Zombiefilm«, in: Linda Hentschel (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror: Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 93-117. 9 Manfred Mai/Rainer Winter: »Kino, Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Soziologie und Film«, in: Dies. (Hg.): Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, Köln 2006, S. 7-23, hier S. 10f.

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Krisenkino – Zur Einleitung

Konzediert man in diesem Sinne mit Siegfried Kracauer, dass Spielfilme einen prominenten Zugang zur unbewussten Positivität gesellschaftlicher Diskurse bieten 10, so ist der Ansatz des Bandes ›Krisenkino‹ gleichwohl bescheidener, als etwa jener des in den ›Cultural Studies‹ betriebenen Projekts der Medienanalyse. 11 Dort, wo die ›Cultural Studies‹ gemäß Stuart Halls »Encoding/Decoding-Modells« im Zuge der Beschreibung von »ausgehandelten Lesarten« immer auch konkrete Rezeptionssituationen und Rezipientengruppen berücksichtigen müssen 12 , fokussieren sich die hier versammelten Beiträge auf die Analyse jener Dramaturgien der symbolischen Grenzziehung bzw. Transgression, mit Hilfe derer das kollektive Imaginäre immer wieder aufs Neue aushandelt, welche kulturellen Praktiken und Lebensformen im Moment der Krise als normal und welche als abweichend bewertet werden. Der Band ›Krisenkino‹ fragt damit weniger nach konkreten – und d.h. auch empirisch überprüf baren – Rezeptionseffekten, als dass er vielmehr die Funktionspotenziale konkreter filmischer Texte im Hinblick auf die von ihnen betriebene »Sinnzirkulation«13 medienarchäologisch zu rekonstruieren sucht. Wichtig ist dabei, nicht von vornherein in den gleichen medienkritischen Duktus wie Sloterdijk und Röggla zu verfallen. Es ist sicher richtig, dass das Gros der jedes Jahr entstehenden Spielfi lme aufgrund ihrer ökonomisch-institutionellen Produktionsbedingungen tendenziell eine gewisse Affinität zur Reproduktion gesellschaftlich dominierender Diskurse aufweisen. Gleichwohl geht die im Anschluss an Althusser und Baundry formulierte, ideologiekritische Spielart der Filmtheorie in ihrer dezidierten Fokussierung auf den Aspekt der Reproduktion von Hegemonie unserer Ansicht nach zu weit. Im hochdifferenzierten Medienraum der Moderne, und hier insbesondere in dem der letzten dreißig Jahre, findet sich viel eher ein weitgestaffeltes Spektrum fi lmischer Imaginationen einer Welt in der Krise, die im Einzelfall dazu beitragen, hegemoniale Diskurse ebenso zu legitimieren wie zu irritieren oder im Ausnahmefall gar zu modifizieren. In diesem Sinne versucht der Band ›Krisenkino‹ in symptomatologi10 Siegfried Kracauer: Theorie des Films, Frankfurt a.M. 1993. 11 Andreas Hepp/Rainer Winter: »Cultural Studies in der Gegenwart«, in: Dies. (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, 3. Aufl ., Wiesbaden 2006. 12 Stuart Hall: »Kodieren/Decodieren«, in: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Hamburg 2004, S. 81-107. 13 Lorenz Engell: »Filmgeschichte als Geschichte der Sinnzirkulation«, in: Manfred Mai/Rainer Winter (Hg.): Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, Köln 2006, S. 4859.

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Lars Koch und Waltraud ›Wara‹ Wende

scher Sichtung ein Ensemble filmbezogener Krisenanalysen zusammenzustellen, die danach fragen, mit Hilfe welcher kultureller Codierungen Filme in verschiedenen historischen Settings Krisendiagnosen aufgreifen, (Re-)Normalisierungen forcieren oder Abweichungen bearbeiten. Die Ergebnisse und Argumentationen, zu denen die einzelnen VerfasserInnen dabei kommen, sind ganz unterschiedlich. Aber dies ist schließlich der akademische Normalfall. Der vorliegende Band ist die um einige Beiträge erweiterte Dokumentation eines Symposiums, dass im Herbst 2009 auf Einladung der beiden Herausgeber an der Reichsuniversität Groningen (Niederlande) stattgefunden hat. Das Symposium und die anschließende Drucklegung wurden ermöglicht durch: die ›Onderzoeksschool Geesteswetenschappen‹ der Reichsuniversität Groningen, die ›Deutsche Botschaft‹ in Den Haag, das Amsterdamer ›Goethe-Institut‹ und die ›Stichting Nicolaas Muleriusfonds‹ – all diesen Institutionen, ohne deren Unterstützung das Projekt nicht möglich gewesen wäre, sei an dieser Stelle noch einmal gedankt.

Literatur Badiou, Alain: »Das Reale dieses Krisenspektakels«, in: tageszeitung, 13. November 2008. Denzin, Norman K.: »Reading Film – Filme und Videos als sozialwissenschaftliches Erfahrungsmaterial«, in: Uwe Flick (Hg.): Qualitative Forschung, Ein Handbuch, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2003, S. 416428. Hall, Stuart: »Kodieren/Decodieren«, in: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Hamburg 2004, S. 81-107. Hepp, Andreas/Winter, Rainer: »Cultural Studies in der Gegenwart«, in: Dies. (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, 3. Aufl., Wiesbaden 2006. Engell, Lorenz: »Ausfahrt nach Babylon. Die Genese der Medienkultur aus Einheit und Vielheit«, in: Ders.: Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar 2000, S. 263-305. Engell, Lorenz: »Filmgeschichte als Geschichte der Sinnzirkulation«, in: Manfred Mai/Rainer Winter (Hg.): Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, Köln 2006, S. 48-59. Grau, Oliver/Keil, Andreas (Hg.): Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt a.M. 2005. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, Frankfurt a.M. 1993.

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Krisenkino – Zur Einleitung

Mai, Manfred/Winter, Rainer: »Kino, Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Soziologie und Film«, in: Dies. (Hg.): Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, Köln 2006, S. 7-23. Mattl, Siegfried/Timm, Elisabeth/Wagner, Birgit: »Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft – Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.): Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Jg. 2007/Heft 2: Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 7-10. Röggla, Kathrin: »Worst Case Szenario«, in: Die Zeit, 05. März 2009. Sloterdijk, Peter: »Nur Verlierer kooperieren«, Interview in: tageszeitung, 05. Mai 2009. Wünsch, Michaela: »Horror und Herrschaft. Regierungstechniken im Zombiefi lm«, in: Linda Hentschel (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror: Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 93-117.

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Die Femme fatale als Spiegel des Umbruchs : Pabsts Lulu-Interpretation Susanne Mildner

Georg Wilhelm Pabsts Filmographie ist durch starke Brüche geprägt. Er spielt – nicht nur mit vorgefertigten Typen, die er reizvoll »sprengt«, sondern mit Gegensätzen, wie sein Film Die Büchse der Pandora aus dem Jahr 1929 zeigt. Der Regisseur findet seine Femme fatale für die Adaption der Wedekind’schen ›Lulu‹1 (1904) schwer, denn »er sucht […] Lulu, den Erdgeist: nicht als Salonschlange und wüst geschminkte Dämonin, sondern als reizvolle, lebendige Frau«2 . Pabsts Wahl fällt auf die amerikanische Tänzerin und Schauspielerin Louise Brooks, womit er von dem als ›normal Empfundenen‹ abweicht, wie die Angriffe des Publikums, denen sich Pabst und Brooks nach der Premiere ausgesetzt sehen, belegen: Als wir das Theater verließen und er mich hastig durch die Menge feindseliger Kinogänger bugsierte, hörte ich ein junges Mädchen laut etwas Hässliches sagen: Im Taxi hämmerte ich mit den Fäusten auf seine Knie und bedrängte ihn: »Was hat sie gesagt? Was hat sie gesagt?« Schließlich übersetzte er: »Das ist die Amerikanerin, die unsere deutsche Lulu spielt.«3

1 Zitiert wird hauptsächlich aus den Druckvorlagen von Franz Wedekinds ›Erdgeist‹ von 1905 und ›Die Büchse der Pandora‹ von 1911. Beide Werke sind als Doppeltragödie in der Reclam-Ausgabe (1989) unter dem Titel ›Lulu‹ zusammengefasst. 2 Film-Kurier, Nr. 155, 30. Juni 1928, zitiert nach Wolfgang Jacobsen (Hg.): G.W. Pabst, Berlin 1997, S. 260. 3 Louise Brooks: Lulu in Berlin und Hollywood, Frankfurt a.M. 1986, S. 122.

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Susanne Mildner

Pabsts Femme fatale scheint mit der »Schlange«4 aus der Doppeltragödie ›Lulu‹ nichts gemeinsam zu haben. Der Regisseur nimmt fast alle Züge des um die Jahrhundertwende aktuellen Typus der Femme fatale zurück, entsprechend der soziokulturellen Veränderungen der Nachkriegszeit und der veränderten Stellung der Frauen in Beruf und Familie. Ein anderes Bild bietet sich beim Vergleich des Films mit Wedekinds Urfassung des Werkes, der ›Monstretragödie‹5 (1894), in dem der Leser das Ideal eines unverdorbenen, da ursprünglichen Wesens erlebt. Die toten Ehemänner liegen eher zufällig herum, Lulu ist vergnügt und erträumt ihren (Lust)mord.6 Mit der Überarbeitung reagiert Wedekind auf die Tendenzen seiner Zeit: »Lulu war raffiniert. […] Die Mode von 1904. Lulu war Salome. […] Etwas Bewussteres, Ausgeklügelteres als die Lulu von damals kann ich mir überhaupt gar nicht vorstellen.«7 Zeigt Pabst das unschuldige Kind, bevor es von der ›Mode Salome‹ vergiftet wird? Inwieweit hat sich das Bild der Femme fatale, die integraler Bestandteil des Fin de Siècle ist und in der sich männliche Identitätskrisen der Moderne ebenso wie die Angst vor weiblichen Emanzipationsbestrebungen und die Bedrohung der bürgerlichen Werte manifestieren, 1930 geändert? Pabst zeigt dem Publikum einen Typus der von der Weimarer Kultur kreierten Frau, der in seiner Zuspitzung (noch) nicht verstanden werden kann. Während die Zuschauer der Premiere getreu der Rezeptionsgeschichte eine erotische männermordende Femme fatale erwarten, geht es dem Regisseur darum, das Publikum einer unentrinnbaren Desillusionierung auszusetzen, äußerlich festzumachen an dem androgynen Erscheinungsbild Louise Brooks’. Die neuen politischen Rechte für die Frauen, wie die verfassungsrechtliche Gleichstellung und das Wahlrecht, verwischen die Grenzen zwischen den Geschlechtern.

4 Frank Wedekind: Lulu (Druckvorlage ›Erdgeist‹ von 1905, Druckvorlage ›Die Büchse der Pandora‹ von 1911), Ditzingen 1989, S. 9. 5 Vinçon bringt 1990 erstmals eine ›historisch-kritische‹ Ausgabe der ›Monstretragödie‹ heraus. Der Edition liegt die Handschrift mit sämtlichen Korrekturen zugrunde, die vor der Überarbeitung der ›Monstretragödie‹ zu ›Der Erdgeist‹ und ›Die Büchse der Pandora‹ vorgenommen wurden. 6 Frank Wedekind: Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie. Historisch-kritische Ausgabe der Urfassung von 1894, Darmstadt 1990, S. 60. 7 Frank Wedekind: »Was ich mir dabei dachte« (Vorrede zu Oaha), in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9, München 1924, S. 440.

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Die Femme fatale als Spiegel des Umbruchs

Wedekinds Femme fatale: zwischen Mythos und Groteske Die literarische Vorlage, Wedekinds ›Lulu‹, ist nicht nur eine der vielen Femme fatales des anbrechenden 20. Jahrhunderts, sondern eine bis ins Groteske gesteigerte Form dieses Weiblichkeitstypus, womit sie zugleich eine Art Gipfelpunkt dieser Entwicklung darstellt. Wie ein Chamäleon, das seine Farbe wechselt, verändert sie ihren Charakter und vereint die verschiedenen Imaginationen der Männer, Dr. Schön, Dr. Goll, Maler Schwarz, Alwa Schön, Rodrigo und Schigolch, in sich. Gerade deshalb geht eine Gefahr von ihr aus, denn Lulu ist all das, was die bürgerliche Frau in der Realität dieser Zeit nicht sein darf, ohne von der Gesellschaft verachtet zu werden oder zumindest zu polarisieren: die aufreizende Tänzerin, die sinnliche Geliebte, die Künstlermuse. Wedekind nimmt Motive aus Werken der Bildenden Kunst, der Literatur und des Dramas sowie aus Philosophie und Psychologie des Fin de siècle auf und knüpft an ältere Stereotype imaginierter Weiblichkeit wie die Femme fragile, die Hetäre, die Kurtisane und die Wasserfrauen Lorelei, Undine und Melusine an. »Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat, und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin« 8, sagt Lulu und bringt in diesen wenigen Worten die Widersprüchlichkeit des Wesens der Femme fatale zum Ausdruck, deren Sinnlichkeit nicht nur verführerisch, sondern gefährlich ist. Dr. Schön verfällt ihr in einem Ausmaß, das ihn seine ›besten Freunde‹ betrügen lässt und verkennt zugleich, dass er sich einer Illusion hingibt, wenn er glaubt, Lulu könne jemals ihm allein gehören. Der Chefredakteur muss erkennen, dass Lulu ihn genauso hintergeht, wie sie beide es zusammen mit ihren ersten beiden Ehemännern, Dr. Goll und Schwarz, und seiner Verlobten Marie, der Tochter des Regierungsrats, getan haben. »Der Machtmensch, der alle Möglichkeiten im Rahmen der Gesellschaft einzusetzen versucht und der ihre Spielregeln verachtet, indem er sie praktiziert, scheitert an diesem elementaren Widerspruch, den die Konfrontation mit Lulus Unbedingtheit evident macht.«9 Dr. Schön gelingt nicht, was er selbst zuvor vom Maler Schwarz verlangt hat: »Du bist nicht derjenige, um über sie Gericht zu sitzen. Bei einer Herkunft, wie sie [sie] hat, kannst Du unmöglich mit den Begriffen der bürgerlichen Gesellschaft rechnen.«10 Lulu kennt ihre Mutter nicht, ihre väterliche Bezugsperson ist der kriminelle Schigolch und Dr. Schön triff t sie während ihres zwölften Lebensjahres, 8 Frank Wedekind: Lulu, a.a.O., S. 90. 9 Günter Seehaus: Wedekind, hg. v. Wolfgang Müller, Hamburg 1974, S. 90. 10 Frank Wedekind: Lulu, a.a.O., S. 48.

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Susanne Mildner

als sie »Blumen vor dem Alhambra-Café [verkauft], jeden Abend zwischen zwölf und drei«11 . Ihre Herkunft ist dunkel und rätselhaft. Die Parallele zur Femme fatale, wie sie Schickedanz in seiner Geschichte zum Mythos dieses Frauentyps beschreibt, ist unübersehbar. Diese habe ihren Ursprung in den Erinnyen, die aus dem Wasser, genauer gesagt aus dem Sumpf kommen. 12 In den Sumpfpflanzen »zeigt sich die wilde Erdzeugung, die in dem Stoffe ihre Mutter und keinen erkennbaren Vater besitzt«13 . Lulu selbst beschreibt ihre Herkunft als etwas Unheimliches, wenn sie zu Schwarz sagt »Ich komme aus dem Wasser.« 14 Wie passt das zusammen? Kann eine Frau zugleich »Engelsgesicht« und »Allzerstörerin« 15 sein, wie Karl Kraus es 1905 in seiner Vorrede zur privaten Auff ührung der ›Büchse der Pandora‹ im Wiener Trianon-Theater auf den Punkt gebracht hat? Die Ambivalenz16 zwischen Schönheit und Dämonie ist ein Merkmal der Kunstfigur der Femme fatale und lässt sich zurückführen auf die Anschauungen über die Frau im Fin de siècle, eine Epoche, in der Frauenverehrung stark verknüpft ist mit Frauenverachtung. In Lulu spiegeln sich die Sehnsüchte und Ängste der Männer. Sie erzielt ihre Wirkung durch Erotik, Schönheit und kindliche Unbefangenheit. Letztere Eigenschaft ist ein wesenseigenes Merkmal der Wedekind’schen Femme fatale. Auf Lulus Kindlichkeit beruht ihre besondere Unwiderstehlichkeit. Nur scheinbar widerspricht diese der sexuellen Attraktivität; sie ist in Wirklichkeit ihr unentbehrliches Attribut und die Voraussetzung der von ihr ausgehenden Faszination. Der Tierbändiger im Prolog spricht von »des Lasters Kindereinfalt«17. Für den Medizinalrat Goll ist sie so sehr Kind, dass er seine Namenswahl ›Nelli‹ damit erklärt, dass er sonst keine

11 Ebd., S. 46f. 12 Vgl. Hans-Joachim Schickedanz: Femme fatale. Ein Mythos wird entblättert, Dortmund 1983, S. 7ff. 13 Ebd., S. 8. 14 Frank Wedekind: Lulu, a.a.O, S. 32. 15 Frank Wedekind: Lulu. Erläuterungen und Dokumente, Ditzingen 2005, S. 148ff. 16 Unter dem von Eugen Bleuler 1910 geprägten Begriff der ›Ambivalenz‹ wird in der Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und Psychoanalyse das Nebeneinander von gegenteiligen Gefühlen, Gedanken und Wünschen verstanden. Da es sich um ein Sowohl-als-auch von Einstellungen handelt, wird Ambivalenz oft auch als Doppelwertigkeit bezeichnet. Das Beispiel der Hassliebe belegt schon dadurch, dass es zusammengeschrieben wird, die Untrennbarkeit dieser doppelten Wertung. 17 Frank Wedekind: Lulu, a.a.O, S. 9.

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Kinder habe. 18 Gegenüber Dr. Schön betont Lulu mehrfach ihr Kindsein: »Sie haben mich bei der Hand genommen, mir zu essen gegeben, mich kleiden lassen, als ich Ihnen die Uhr stehlen wollte. […] Sie haben mich zur Schule geschickt und mich Lebensart lernen lassen.«19 Oder später: »Wenn du mir deinen Lebensabend zum Opfer bringst, so hast du meine ganze Jugend dafür gehabt.«20 In Lulus Wesen liegt etwas Ungebändigtes, das exotisch anrührt. Sie vermag es, verschiedene Rollen wie Mignon, Eva oder Nelli auszufüllen. Dabei ist eine Gemeinsamkeit immer vorhanden, die Schönheit. Sie wird von Lulu inszeniert, um ihre Träume zu realisieren. Dieser Weg muss scheitern, denn er ist vergänglich. Lulu reagiert »aufschreiend«, als sie im verwahrlosten Zustand in der Londoner Dachkammer mit ihrem Pierrotgemälde aus alten Zeiten konfrontiert wird: »Schaff t mir das Bild aus den Augen! Werft es zum Fenster hinaus!«21 Dass die von Lulu ausgehende verhängnisvolle Wirkung auf sie selbst zurückschlägt, liegt Hilmes zufolge darin begründet, dass die Macht dieses Weiblichkeitstyps »auf Sinnlichkeit reduziert ist und ihre Handlungsspielräume meist vorgegebene oder gar fremdbestimmte sind«22 . Ihre Attraktivität ist erwünscht und von bedrohlicher Qualität zugleich, denn sie wird von den männlichen Gegenspielern als Waffe empfunden, der man sich nicht anders erwehren kann als durch die endgültige Zerstörung. Die zunehmende Animalisierung der Frau um 1900 ist in diesem Zusammenhang nicht unwesentlich. Der Tierbändiger bringt auf den Punkt, was Wedekinds Lulu ausmacht: »Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier, […] He, Aujust! Bring mir unsre Schlange her!«23 – die animalischen Züge der Protagonistin. Die Betrachtung der Frau als Triebnatur, sprich Raubtier, setzt die Entleerung des weiblichen Geschlechts zu einem Kunstkörper voraus. »The Other is made Other«24: Diesen Diskurs trifft man überall, wo Unterschiede auszumachen sind. Im Zusammenhang mit der Beziehung von Mann und Frau lässt sich vermuten, »[that] the images of Otherness and subordination need to be understood as ways for men to explore and deal with their own identity and place in the world as sexual beings, as artists, as intellectuals, as imperial rulers, and as wielders of knowledge, skill 18 Ebd., S. 16. 19 Ebd., S. 43. 20 Ebd., S. 90. 21 Ebd., S. 167. 22 Carola Hilmes: Die Femme fatale, Stuttgart 1990, S. 225. 23 Frank Wedekind: Lulu, a.a.O, S. 8f. 24 Rebecca Stott: The Fabrication of the Late-Victorian Femme Fatale, London 1992, S. 41.

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and power«25 . Die Frau kann nur das Andere sein. Hinter dem sich auf das geschlechtsneutral Menschliche beziehenden philosophischen Diskurs verbirgt sich vorrangig die Perspektive des Mannes, der zwei Positionen für sich beansprucht: die des überlegenen Geschlechts und die des geschlechtsneutralen Menschen. In allen Grunddualismen wie Kultur und Natur, Geist und Körper, Vernunft und Gefühl ist die Geschlechterdifferenz latent mitgedacht. Was sich ergänzen sollte, bedeutet in der Realität Ungleichwertigkeit.26

Die neue Weiblichkeit in der Weimarer Republik Das Bild der männerbedrohenden Femme fatale gibt es, gerade der Fortschrittlichkeit wegen und damit der Modernität entgegen, auch 1930. Die aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten fühlen sich bedroht.27 Die Umschichtung der beruflichen Tätigkeitsbereiche im Ersten Weltkrieg führt dazu, dass Frauen vermehrt in das Berufsleben eindringen. Sie verrichten Arbeit, die ehemals nur Männern vorbehalten war. Die Frauenquote in den industriellen und Dienstleistungsarbeitsplätzen steigt in einigen Bereichen um mehr als das doppelte. Insgesamt weist die Berufszählung 1925 über 1,7 Millionen mehr vollzeiterwerbstätige Frauen aus als 1907.28 Zugleich steht außer Frage, dass der Beruf für Frauen eine Übergangsphase sein soll, ein Auf bewahrungsort bis zur Ehe. Fast alle weiblichen kaufmännischen Angestellten sind 1925 ledig, zwei Drittel jünger als 25 Jahre.29 Eine verheiratete Frau soll sich hauptsächlich um Mann, Kinder und Haushalt kümmern. Insofern klingen die Neuerungen zu enthusiastisch, aber es sind erste Errungenschaften für den Auf bruch in eine neue Zeit. In der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wird die Gleichberechtigung der Geschlechter als Grundrecht anerkannt. Zwar lässt Artikel 109 einschränkende Lesarten zu, indem er Männern und Frauen nur »grundsätzlich« dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten einräumt,

25 Ebd., S. 43. 26 Vgl. Hadumod Bußmann (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995. 27 Vgl. Elisabeth Bronfen: Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film, Frankfurt a.M. 2004. 28 Vgl. Ute Frevert: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 152ff. 29 Ebd., S. 174.

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aber die Frauenbewegung selber beharrt […] ja auf dem Standpunkt, dass Frauen und Männer prinzipiell andere Interessen und Bedürfnisse hätten und daher wenn auch gleichwertig, so doch nicht gleichartig seien. Folgerichtig dürf[]e die Gleichberechtigung nicht als starres Dogma missverstanden werden, sondern als Voraussetzung freier weiblicher Persönlichkeitsentfaltung, die […] anderen Gesetzen gehorch[]e als die männliche Kultur.30

Fortschritt und Modernität äußern sich im Typus der Neuen Frau, wie ihn die Weimarer Kultur kreiert. Zunehmend setzt sich das androgyne Erscheinungsbild durch, festzumachen an der Zigarette in der Hand und dem Bubikopf, dem das traditionell lange Haar weichen muss. Diese Frisur hat ihre Wurzeln in den Vereinigten Staaten und schwappt in den frühen Zwanzigern nach Europa, wo sie »zum Wahrzeichen der emanzipierten Frau in der Großstadt«31 wird. Louise Brooks trägt als Lulu in der Verfi lmung von Pabst jenen Bubikopf und unterscheidet sich damit bereits äußerlich von der literarischen Lulu, deren Haare lang sind.32 Neben den Haaren erfährt auch die Kleidung eine bedeutsame Wandlung. Einfache Mieder und Büstenhalter ersetzen Korsett und Schnürung, wobei letzteres als Einschnürung im doppelten Sinn zu interpretieren wäre. Es entwickelt sich eine Mode, die erstmals Ansprüche an die Funktionalität stellt und in der es nicht mehr nur um die Betonung der weiblichen Linien geht. Die ›Garçonne‹ wird zum Inbegriff dieses neuen, burschikosen, Frauentyps, der den Gleichberechtigungsgrundsatz der Weimarer Reichsverfassung ernst nimmt und seinen Platz in Beruf und Öffentlichkeit selbstbewusst ausfüllt. »Die mondäne und laszive Frau, die um die Jahrhundertwende 30 Ebd., S. 166. 31 Sabine Hake: »Im Spiegel der Mode«, in: Frauen in der Großstadt. Herausforderung der Moderne?, hg. v. Katharina von Ankum, Dortmund 1999, S. 195. 32 Interessant ist, welche Aufmerksamkeit Wedekind diesem Symbol der Weiblichkeit vor allem in der Urfassung schenkt. Die Haare sind mal eingedreht, mal gelockt. Immer wieder erwähnt er die Länge, sei es auch nur indirekt durch Bemerkungen wie »das Haar hochfrisiert« im vierten Aufzug der ›Monstretragödie‹. Daher ist der Leser fast schockiert, wenn er noch im selben Akt erfahren muss, dass Lulu, nachdem die Lage immer hoffnungsloser wird und sie den Erpressungen der anderen ausgesetzt ist, plötzlich »kurz geschnittenes Haar« trägt, während in der Londoner Dachkammer ihre Haare wieder halblang sind. Frank Wedekind: Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie, a.a.O., S. 73, 103, 105. Vgl. Susanne Mildner: »Inszenierungen einer Femme fatale: Die Haare der Lulu im Werk Wedekinds und Pabsts«, in: Birgit Haas (Hg.): Haare zwischen Fiktion und Realität. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Wahrnehmung der Haare. Münster/Hamburg/Berlin/Wien/London/Zürich 2008, S. 205ff.

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durch Literatur und Kunst geistert, emanzipiert sich von ihrem Image als Schreckensvision einer bedrohten bürgerlichen männlichen Identität und existiert fortan in modifizierter Form als junge dynamische Heldin der Großstadt.«33 Der Film Pabsts reiht sich in das Bild der berufstätigen Frau der 1920er Jahre ein. Das Aussehen der Schauspielerin Louise Brooks betont die veränderte weibliche Erscheinungsform, vom Bubikopf bis hin zur schlanken, sportlichen Figur. Im Gegensatz zu den von Wedekind beschriebenen privaten Tanzvorführungen für ihren Ehemann Goll übt Pabsts Protagonistin das Tanzen als Beruf aus. In der ersten Szene tanzt Lulu Schigolch vor, der sie für die Beteiligung an einem Varieté gewinnen will. Die Frage, ob sie immer noch tanze, kann sich nur auf ihre professionelle Karriere beziehen, da der Medizinalrat Goll in dem Film nicht vorkommt. Dementsprechend wird Lulu in der dritten Szene des Films als Star einer Revue Alwas gezeigt.

Pabsts Lulu-Interpretation In der Büchse der Pandora inszeniert Pabst die Distanz zwischen den Körpern, etwa in der Salonszene, wenn Lulu sich entspannt auf dem Sofa räkelt, während vor ihr Dr. Schön nervös zwischen Kamin und Schreibtisch hin- und herwandert. Kurze Zeit später erlebt der Zuschauer den Gegensatz, einen nahezu unerträglich wirkenden Moment körperlicher Nähe. Dr. Schön drängt Lulu gegen den Spiegel, drückt die Pistole in ihre Hand und befiehlt ihr, sich zu töten. Die Kamera steht dicht hinter ihm und blickt über seine breiten Schultern auf Lulus entsetztes, unschuldig wirkendes Gesicht. Sie, die Frau, soll als Besitzgegenstand dingfest gemacht werden. Allein darum geht es dem Mann, der seine Fassung und seine aufgesetzte Haltung gegenüber Lulu trotz größter Bemühungen niemals aufrechterhalten kann. Es wird die Todesszene Dr. Schöns. In ihr erreichen Pabst und sein Kameramann Günther Krampf eine Höchstleistung: Kortner küsst mit erlöschender Kraft seine Mörderin, wohl wissend, dass sein Sohn sein Schicksal teilen wird. Als er in dessen Armen stirbt, mag sich der Zuschauer an die Worte des Regisseurs erinnern: »Wozu soll eine romantische Behandlung noch gut sein? Das wirkliche Leben ist ja schon

33 Kordula Knaus: Gezähmte Lulu. Alban Bergs Wedekind-Vertonung im Spannungsfeld von literarischer Ambition, Opernkonvention und absoluter Musik, Freiburg i.Br. 2004, S. 158.

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romantisch, ja grausig genug.«34 Pabst wendet sich vom Expressionismus und so genannten Kammerspielfi lm ab, um sich einer psychologisch vertieften Kunst zuzuwenden. In Pabsts Modifizierung der Weiblichkeitsbilder des Fin de siècle offenbart sich die wandelnde Stellung der Frau. Sein Bild der Femme fatale kann als Konstrukt einer krisenhaften Situation verstanden werden. Pabsts Filme stellen Deutschland als eine Nation dar, die mit sich und der Moderne in einem Ausmaß im Unreinen war, das verheerende Konsequenzen für Europa haben sollte. Der Regisseur ist Teil eines Weimars, über das Peter Sloterdijk in seiner ›Kritik der zynischen Vernunft‹ meint, dass es »ein hochreflexives, nachdenkliches, phantasievolles und ausdrucksstarkes Zeitalter [war], durchpflügt […] von den vielfältigsten Selbstbetrachtungen und Selbstanalysen«35 . Kann man in Pabsts Büchse der Pandora etwas von der Umbruchstimmung der literarischen Vorlage Wedekinds und seiner Darstellung der Männlichkeit entdecken? Aufschluss dazu gibt Siegfried Kracauer. In seinem Werk ›Von Caligari zu Hitler‹ versucht er sich an einer metaphorische[n] Beschreibung eines vorherrschenden Persönlichkeitstyps mit folgenden Charaktermerkmalen: Er ist männlich, paranoid und masochistisch […]. Er erlebt Klassenschranken als unüberwindlich und die Mobilität nach oben als einen Zwang, der dem Vatermord gleichkommt und durch totalen gesellschaftlichen Ausstoß zu ahnden ist, ein Schicksal das ohnehin wie ein Damoklesschwert über seinem Haupt schwebt.36

Der deutsche Unterhaltungsfi lm in den 1930er Jahren ist von einer Verdrängung der Sexualität geprägt. Erotik, die sich nicht in die Bahnen der Ehe leiten lässt, wird als Katastrophe dargestellt. Diese Ängste werden geschürt durch die errungenen Siege der Frauen, die im Film selbstbewusster auftreten. Das Spiel mit den ›männlichen‹ Masken, diese Androgynität, bringt weitere Verunsicherung in das Rollenverhalten. Dabei tut es nichts zur Sache, dass Medien und Realität zwei unterschiedliche Dinge sind und die gesellschaftliche Funktion der Frau nach wie vor weitgehend auf Ehe und Mutterschaft beschränkt bleibt. Dennoch lässt sich das Weimarer Kino nicht vorbehaltlos auf die Republik selbst beziehungsweise das, was ihr folgt, beziehen. Eine diamet34 www.stummfilmmusiktage.de/german/Filme/Büchse%20Pandora.htm [20. Juli 2009]. 35 Zitiert nach Thomas Elsaesser: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig, Berlin 1999, S. 14f. 36 Zitiert nach ebd., S. 204f.

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ral entgegengesetzte Deutung bestünde darin, in den Filmen der frühen zwanziger Jahre die Verarbeitung ihrer Vorgeschichte zu lesen, denn vergleichbar mit der frühexpressionistischen Literatur vor 1914 reflektiert das Kino der jungen Republik den Epochenbruch, der sich im 19. Jahrhundert abzuzeichnen beginnt und mit aller Dramatik um die Jahrhundertwende offenbar wird: Kaiserreich und Weltkrieg, Industrialisierung und Bewaffnung der Welt – hier spannt sich der Bogen von Wedekind zu Pabst. Ersterer deutet an, was Letzterer erleben muss. Die Parallelen zwischen Film und Buch sind offensichtlich, beispielsweise im Umgang mit der Sexualität. Die aus Amerika kommende Brooks triff t auf ein Berlin, das »sich seiner Wirklichkeit verweigert […] Im Eden Hotel, wo [sie] wohnte, bevölkerten die Luxusflittchen die Café-Bar. Draußen vor der Tür gingen die Mädchen der preiswerteren Kategorie auf den Strich.«37 Das ist die Realität. Im Film sieht das anders, stilisierter aus. Gegenüber der verführerischen Femme fatale erkennen Männer wie Alwa ihr Verhängnis und reden sich frei – von ihrer Schuld, ihrem Versagen und ihrem Blick auf die Frau als ein Objekt des Begehrens. Pabst spielt mit diesem Mythos, wie es vor ihm Wedekind tut. »Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig-weißen strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns.«38 Zeichnet der Regisseur die vom Autor ursprünglich gedachte Lulu, fern von menschlichen Vorstellungen wie Gut und Böse?39 Dr. Goll und Schwarz werden mit keiner Silbe erwähnt. Lulu bewohnt bereits in der ersten Szene der ›Büchse der Pandora‹ ihr eigenes Appartement. Setzt man voraus, dass sie sowohl im Film als auch im Bühnenwerk aus dem ›Nichts‹ kommt (dafür würde Schigolch stehen), muss man sich fragen, woher das Geld für die Wohnung stammt. Pabst umgeht im Film jegliche Frage, die die Unschuld seiner Protagonistin trüben könnte. Der Zuschauer erfährt nicht einmal, ob wirklich sie es ist, die den für Dr. Schön tödlichen Schuss löst. Die Lulu in Wedekinds Doppeltragödie handelt berechnender: Sie feuert nicht nur einen, sondern fünf Schüsse aus der Pistole Schöns. Auch ihr Verhalten vor der Tat wirkt kaltblütiger40, wenn 37 Louise Brooks: Lulu in Berlin und Hollywood, a.a.O., S. 124f. 38 Frank Wedekind: Lulu, a.a.O.,S. 167. 39 Pabst enthält sich der Stigmatisierung der Figur und verweist in der filmischen Inszenierung dafür umso deutlicher auf das kritische Potential der »Monstretragödie«. Wedekind und Pabst befassen sich mit einer 1894 und auch 1929 noch heiklen Thematik: der Wahrnehmung des weiblichen Körpers. Vgl. Holger Dauer/Benedikt Descourvières/Peter Marx (Hg.): Unverdaute Fragezeichen. Literaturtheorie und textanalytische Praxis, St. Augustin 1998, S. 155. 40 Vgl. Regieanweisungen in Frank Wedekind: Lulu, a.a.O., S. 88ff.

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man es mit dem Gesicht der Brooks im Film vergleicht, ihrem entsetzten, ängstlichen Blick. Interessant an Pabsts Film ist, dass Lulus Verkleidungen nicht mehr rein weiblich sind, wie es in Wedekinds Werk der Fall ist, sondern ein Spiel mit den Geschlechterrollen implizieren. Whether Lulu is, in fact, a femme fatale, a ›New Woman‹, or something else entirely, she does mirror the contemporary question of gender construction and societal constraints. As evidenced in the final scene – the ambivalence underlying not only Lulu’s fate, but the character of her killer as well – Pabst’s conceptualization of Lulu is crucially different from that of Wedekind.41

Letzterer gestaltet seine Lulu als natürliches, animalisches Urweib. Pabst schaff t diese Verbindung nicht. Seine Lulu ist zwar unschuldig (und in diesem Sinne tierisch), aber er bezieht es zu keiner Zeit auf die von Dichtern wie Baudelaire und Wedekind gefeierte ursprüngliche Sexualität. Der Regisseur definiert Weiblichkeit anders. »Lulus Wesen – oder das der sexuell betonten Weiblichkeit – ist nirgends intensiver, aber auch fiktiver als in [den] Momenten der Ambivalenz und Spaltung, in der Umkehrbarkeit des Rollenverhaltens.« 42 Pabsts Protagonistin durchkreuzt Klasse, Alter und Geschlecht. Sie ist nicht nur für Männer, sondern ebenso für Frauen begehrenswert, ohne sich dagegen zu sträuben wie in der literarischen Vorlage, als sie über die Gräfin kaum mehr als verächtliche Worte findet. Im Film wirkt Lulu besonders in der Tanzszene und während des Blickkontakts mit ihr erotisch. Ihre Androgynität, »her lithe – almost boyish – body is often emphasized by the camera, her association with the lesbian Geschwitz seems to call into question sexual identity, and her exchange of clothing with the sailor on the ship also suggests a certain bisexualiy« 43 . Patalas ordnet Louise Brooks als Lulu in seiner ›Sozialgeschichte der Stars‹ dem Flapper44 (engl.: Backfisch) zu: 41 Nancy Thuleen: »Lulu: Sexuality and Cynicism on the Stage and Screen« (1995), S. 1. Vgl. dazu www.nthuleen.com/papers/711FilmLulu.html [20. Juli 2009]. 42 Thomas Elsaesser: Das Weimarer Kino, a.a.O., S. 215. 43 Mary Ann Doane: Femmes Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis, New York and London 1991, S. 153. 44 Flapper bedeutet so viel wie »Göre« oder »junges Ding«. Geschaffen wird dieser Typus vor allem durch die Aufhebung der traditionellen Geschlechterrollen. Brooks androgyner Sexappeal und die rastlose Quirligkeit, mit der sie, scheinbar immer wieder überrascht von der eigenen Wirkung, ihre Umwelt in Aufregung versetzt, entsprechen der neuen Freiheit der zwanziger Jahre. Vgl. Gerald

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Der repräsentative weibliche Startyp der ausgehenden zwanziger Jahre, Inbegriff sowohl der männlichen Sehnsüchte als auch des Selbstverständnisses der modernen Mädchen, war ein hektisch temperamentvolles Geschöpf mit androgynen Zügen, mit knabenhafter Figur, knapp geschnittenem Bubikopf und forderndem Blick […], aufgeklärt, skeptisch und lebenshungrig, gleichberechtigt und aktiv: der Flapper.45

Außer acht gelassen werden darf bei dieser Definition nicht, dass das Motiv seinen Ursprung in Amerika hat und die Unterschiede zum Weimarer Kino erheblich sind. Man kann von einem deutschen Gegenbild sprechen, das, auf unterschiedliche Weise verkörpert, weitaus weniger auf die Realität bezogen ist als im amerikanischen Kino. Brooks, die ihre größten Triumphe in Europa feiert, stellt eine sehr eigentümliche Variante dieses Typs dar. Sie verkörpert sexuelle Destruktivität, zugleich aber auch jene Kindlichkeit, die die Situationen mitunter komisch wirken lässt. Eine Einordnung als Flapper ist insofern nicht unkompliziert. Lulu ist im Film von Männern umringt, die keinerlei sexuelles Interesse an ihr haben, sondern lediglich ihr Geld wollen. Dieser ökonomische Aspekt, den bereits Wedekind betont, wird von Pabst ausgeweitet, vor allem in der Szene auf dem Kasinoschiff. Dennoch enthält sich der Regisseur eines moralischen Urteils. Den Frauenmörder Jack zeichnet er als einen einsamen, kranken Mann. Auch Dr. Schön kann man, wenn man den Film gesehen hat, nicht mehr ausnahmslos verurteilen. Pabst lässt den Zuschauer an seinem Leben teilhaben, zeigt ihn in seinem Büro bei der Arbeit, in der Revue Alwas oder bei seiner eigenen Hochzeit: »Schön is no longer a mere stepping-stone in Lulu’s path, but a full-fledged figure with whom the audience can identify and even symphathize.« 46 Pabst lässt seine Figuren mit mehr Leerstellen zurück als Wedekind. Lulu ist wahrlich unschuldig. Ihre Gegenspieler können Wünsche und Ängste beliebig in sie hineinprojizieren. Bei Wedekind ist das in diesem Ausmaß nicht möglich. Die Protagonistin seiner überarbeiteten und damit geltenden Fassung 47 Koll: Pandoras Schätze. Erotikkonzeptionen in den Stummfilmen von G.W. Pabst, München 1998, S. 40. 45 Angelika Henschel: »Jungfrau, Nymphe, Femme fatale. Zum Wandel des Frauenbildes im Männerfilm«, in: Dies./Heike Schlottau (Hg.): Schaulust. Frauen betrachten Frauenbilder im Film, Bad Segeberg 1989, S. 27. 46 Ebd., S. 3. 47 Kutscher, dessen Biographie Wedekinds nach wie vor unentbehrlich ist, da in ihr Quellen gesichert sind, die inzwischen verloren gingen, ist mit seiner Einschätzung maßgeblich: »[…] vor Erörterung des Künstlerischen [wollen wir] das Bild zunächst […] durch Betrachtung des [neueren] Druckes ergänzen, weil

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hat berechnende, menschliche Züge, zum Beispiel als sie Dr. Schön den Abschiedsbrief für seine Verlobte diktiert. Diese Stelle ersetzt Pabst durch ein Missgeschick: die Begehrenden werden von der Betrogenen im Theater ertappt, die bevorstehende Heirat löst sich von selbst. Thuleen bringt diese Gegensätze zum Ausdruck, wenn sie schreibt, [that] in Wedekind […] the view of Lulu and of women in general was by no means purely positive. Lulu may be all natural, the »earth-spirit« whose behavior cannot be restrained, but she does bring destruction upon her victims. In addition, Wedekind imparts Lulu with a certain masochism, consistent with his views on women’s psychology […]. For Pabst, […] these elements are missing. […] Pabst retains and even strengthens the play’s commentary on social milieu: Lulu is seen to be a product of socialization, controlled and commodified by the men around her.48

Insofern gibt es für Pabst keinen Grund, ihren Tod so grausam zu interpretieren, wie es Wedekind tut. Im Film stirbt Lulu am Weihnachtsabend sanft unter den Händen Jacks. Die Kerzen brennen; das einzige, was der Zuschauer sieht, ist ihre sich entspannende Hand.

Schluss Wie die Femme fatale Wedekinds ist die Protagonistin Pabsts ein Konstrukt des Mannes, ja, sogar ein noch beliebiger füllbares. Lulu lächelt, ohne dass der Zuschauer weiß, warum oder in wessen Richtung. Im Gegensatz dazu ist bei den Männern wie Dr. Schön jede Bewegung, jeder Finger bedeutungsschwer. Pabst zeigt sie als schwere schwarze Masse und oft aus der Rückenansicht. Ihnen gegenüber erscheint Lulu, insbesondere in ihrem weißen, alles überstrahlenden Kleid ›leicht‹ und naiv. »The close-up of Lulu is in soft focus, seperating her from her surroundings in a scene which otherwise establishes depth of field and the manipulation of different planes as a strategy. Lulu’s face is softly lit […], she is pure image.« 49 Die Stilisierung des Gesichts der Brooks ist auff ällig bei Pabst. Er treibt ihre

wir in ihm die Form haben, in der Wedekind sein Werk der Öffentlichkeit übergab und also künstlerisch vertrat.« Artur Kutscher: Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke, Bd. 1, München 1922, S. 346ff. 48 Nancy Thuleen: »Lulu: Sexuality and Cynicism on the Stage and Screen«, a.a.O., S. 5. 49 Mary Ann Doane: Femmes Fatales, a.a.O., S. 150.

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makellosen Züge, ihren ästhetisch reinen Anblick50 ins Unendliche. Lulu »is outside of time. Her temporality is that of the moment – the glance, the smile that signifies no lasting commitment. It is also a femininity which is despatialized, a hallucinatory image […]. Its modernity, then, in a somewhat paradoxical manner, is constituted by its ahistoricity.«51 Die Schwierigkeit ist, diese Form von Weiblichkeit der Femme fatale zuzuordnen, die für die Spaltung der Frau in einen domestizierten Kultur- und einen sexualisierten wilden Naturbereich steht. Im ausgehenden 19. Jahrhundert fesseln die Randbereiche der Norm und das Nicht-Normale das Interesse. Pabsts Lulu wirkt demgegenüber unschuldig. »She clearly lacks the conscious intent of the femme fatale.«52 Alles, was um sie herum geschieht, sind Zufälle (wie in der Theaterszene) oder tragische Unglücksfälle (wie der Tod Dr. Schöns). Ihre Bedrohlichkeit liegt scheinbar einzig in ihrer Fähigkeit zur Bewegung. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass die Femme fatale ihre ›Blütezeit‹ im Film später als in der Literatur und Malerei hat.53 Der Zuschauer kann eine Darstellung wie zu Zeiten Wedekinds, »[who] at least [has] given [Lulu] a veneer of intellectuality, [because] she thinks, […] schemes and plots«54 , nicht mehr erwarten. Pabst triff t auf andere Voraussetzungen, belegt an den Beispielen der sich ändernden Situation der Frau und des historischen Umbruchs in der Weimarer Zeit. Dennoch nimmt der Regisseur einige wesentliche Aspekte der Wedekind’schen Femme fatale auf. Ich möchte mich Mary Ann Doane anschließen, die in dem Film einen Versuch sieht, sich mit der »unique function of the femme fatale within modernism« auseinanderzusetzen: »Here, the femme fatale incarnates the peculiar conzeptualizations of history, temporality and technology in modernity.«55 Louise Brooks füllt diese Rolle zweifelsohne aus.

50 Diese Stilisierung des Gesichts findet man auch in Jean Luc Godards Vivre sa vie aus dem Jahre 1962 (dt. Das Leben der Nana S.). Der Film ist in diesem Zusammenhang oft mit der Büchse der Pandora von Pabst verglichen worden. 51 Mary Ann Doane: Femmes Fatales, a.a.O., S. 156. 52 Nancy Thuleen: »Lulu: Sexuality and Cynicism on the Stage and Screen«, a.a.O., S. 7. 53 In der Medienwissenschaft wird allgemein davon ausgegangen, dass die »Femme fatale« als Kunstfigur die »Jungfrau« ablöst, die ihre Blüte in den wilden zwanziger Jahren hat. Vgl. Angelika Henschel: Jungfrau, Nymphe, Femme fatale, a.a.O., S. 23. 54 Mary Ann Doane: Femmes Fatales, a.a.O., S. 152. 55 Ebd., S. 142.

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Abb.: Louise Brooks

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Literatur Bronfen, Elisabeth: Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film, Frankfurt a.M. 2004. Brooks, Louise: Lulu in Berlin und Hollywood, Frankfurt a.M. 1986. Bußmann, Hadumod (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995. Dauer, Holger/Descourvières, Benedikt/Marx, Peter (Hg.): Unverdaute Fragezeichen. Literaturtheorie und textanalytische Praxis, St. Augustin 1998. Doane, Mary Ann: Femmes Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis, New York and London 1991. Elsaesser, Thomas: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig, Berlin 1999. Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986. Hake, Sabine: »Im Spiegel der Mode«, in: Frauen in der Großstadt. Herausforderung der Moderne?, hg. v. Katharina von Ankum, Dortmund 1999.

56 http://freespace.virgin.net/b.world/LouiseBrooks1.jpg [20. Juli 2009].

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Henschel, Angelika: »Jungfrau, Nymphe, Femme fatale. Zum Wandel des Frauenbildes im Männerfi lm«, in: Dies./Heike Schlottau (Hg.): Schaulust. Frauen betrachten Frauenbilder im Film, Bad Segeberg 1989. Hilmes, Carola: Die Femme fatale, Stuttgart 1990. Jacobsen, Wolfgang (Hg.): G.W. Pabst, Berlin 1997. Knaus, Kordula: Gezähmte Lulu. Alban Bergs Wedekind-Vertonung im Spannungsfeld von literarischer Ambition, Opernkonvention und absoluter Musik, Freiburg i.Br. 2004. Koll, Gerald: Pandoras Schätze. Erotikkonzeptionen in den Stummfi lmen von G.W. Pabst, München 1998. Kutscher, Artur: Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke, Bd 1, München 1922. Mildner, Susanne: »Inszenierungen einer Femme fatale. Die Haare der Lulu im Werk Wedekinds und Pabsts«, in: Birgit Haas (Hg.): Haare zwischen Fiktion und Realität. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Wahrnehmung der Haare, Münster/Hamburg/Berlin/Wien/London/ Zürich 2008. Schickedanz, Hans-Joachim: Femme fatale. Ein Mythos wird entblättert, Dortmund 1983. Seehaus, Günter: Wedekind, hg. v. Wolfgang Müller, Hamburg 1974. Stott, Rebecca: The Fabrication of the Late-Victorian Femme Fatale, London 1992. Thuleen, Nancy: Lulu: Sexuality and Cynicism on the Stage and Screen (1995), S. 1. Vgl. dazu www.nthuleen.com/papers/711FilmLulu.html [20. Juli 2009]. Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie. Historisch-kritische Ausgabe der Urfassung von 1894, Darmstadt 1990. Wedekind, Frank: Lulu (Druckvorlage ›Erdgeist‹ von 1905, Druckvorlage ›Die Büchse der Pandora‹ von 1911), Ditzingen 1989. Wedekind, Frank: Lulu. Erläuterungen und Dokumente, Ditzingen 2005. Wedekind, Frank: »Was ich mir dabei dachte (Vorrede zu Oaha)«, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, München 1924.

Film Die Büchse der Pandora (1929, D, R: Georg Wilhelm Papst) Vivre sa vie (1962, F, R: Jean Luc Godard)

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Fremde Normalität : Angestellte im Film um 1930 Sabine Biebl

»Wenn vom Kino und seinem Publikum die Rede ist«, dann stelle sich heute, so Knut Hickethier, unweigerlich das Bild der kleinen Angestellten ein, denen »das Kino zum Veranstalter ihrer ›Tagträume‹, ihrer Sehnsüchte und Wünsche wird«1 . Von Siegfried Kracauer 1927 erstmals an prominenter Stelle geäußert,2 war die These von der ideologisch vermittelten psychischen Affinität der Angestellten zu den Produkten der Kulturindustrie, allen voran zum Film, um 1930 bereits fester Bestandteil des ideologiekritischen Instrumentariums zum Verständnis des Films auf der einen und der deutschen Gesellschaft auf der anderen Seite. So heißt es in Carl Dreyfuss’ Monographie über ›Beruf und Ideologie der Angestellten‹ von 1933: Die Filmindustrie hat in den letzten Jahren einige Filme aus dem Angestelltenmilieu hergestellt, wohl nicht nur, weil die Angestellten ein erhebliches Kontingent der Filmbesucher bilden, sondern auch, weil der Angestellte recht dazu geeignet ist, die auch im Film beliebte Aufstiegsideologie zur Darstellung zu bringen. Filme sind klare Spiegel der gesellschaftlichen Situation und der in ihr mächtigen Ideologien.3 1 Knut Hickethier: »Tippmädchen, Chefsekretärinnen, Buchhalter. Angestellte im Film«, in: Burkhart Lauterbach (Hg.): Großstadtmenschen. Die Welt der Angestellten, Frankfurt a.M. 1995, S. 435-444, hier S. 435. 2 Vgl. Siegfried Kracauer: »Film und Gesellschaft« [Sonderdruck der Artikelserie »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino«, 1927], in: Ders.: Werke, Bd. 6.1: Kleine Schriften zum Film, hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl, Frankfurt a.M. 2004, S. 308-323, hier S. 309. 3 Carl Dreyfuss: Beruf und Ideologie der Angestellten, München/Leipzig 1933, S. 242.

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Die folgenden Ausführungen zur Darstellung der Angestellten im Film um 1930 versuchen einen diskurshistorischen Perspektivenwechsel. Sie stellen die fi lmischen Karrieren angestellter Protagonisten in den Kontext des zeitgenössischen Diskurses über die Angestellten und fragen nach deren spezifischer Rolle, die der ›Interdiskurs‹ Film innerhalb dieses Problemzusammenhangs spielt.

Aufstiegsmärchen und Sozialromantik Anders als es Dreifuss’ Darstellung nahelegt, hatten die Angestellten als neuer Sozialtypus bereits den Film der Zehner- und frühen Zwanzigerjahre erobert. Ihren Höhepunkt erlebte die mediale Konjunktur der ›angestellten kleinen Mitte‹ allerdings erst in den von Wirtschaftskrise und politischer Radikalisierung erschütterten letzten Jahren der Weimarer Republik. Im Vergleich zu den frühen Filmen gewann die Leinwandpräsenz der Angestellten um 1930 eine andere Qualität, und zwar in mehrfacher Hinsicht:4 Das filmische Spektrum der möglichen Narrative um angestellte Protagonisten war bis in die Mitte der Zwanzigerjahre weitestgehend auf den Handlungsraum Warenhaus und Konfektionsbranche beschränkt. Es umfasste den abenteuerlichen Kolportageroman oder tragischen Sensationsschlager um ein kleines Warenhausmädchen und die Aufstiegsgeschichte einer Verkäuferin oder eines Mannequins zur Gattin ihres Chefs oder eines reichen Kunden; in der männlichen Variante wurde gerne die Karriere eines gewieften Lehrlings als Konfektionsunternehmer vorgeführt.5 Diese Festlegung auf Handlungskontext und Genregesetze bedingte die 4 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Textmaterial zu über 70 Spielfilmen der Jahre 1913-1933; vgl. dazu Anhang I: »Angestellte im Film 19111933. Eine vorläufige Filmografie« der Dissertation der Verfasserin: Betriebsgeräusch Normalität. Angestelltendiskurs und Gesellschaft um 1930 (München, Univ., Diss. 2009, unveröffentlichtes Manuskript). Nur ein verschwindend geringer Teil der Filme ist noch erhalten und konnte im Deutschen Filminstitut, Frankfurt a.M., im Bundesarchiv/Filmarchiv, Berlin, bei der Friedrich-Wilhelm-MurnauStiftung, Wiesbaden, sowie im Filmmuseum im Münchener Stadtmuseum auch eingesehen werden: Arm wie eine Kirchenmaus (1931); Der brave Sünder (1931), Das hässliche Mädchen (1933); Der Herr Bürovorsteher (1931); Keine Angst vor Liebe (1933); Lohnbuchhalter Kremke (1930); Menschen am Sonntag (1929/30); Die Privatsekretärin (1930/31); Schuhpalast Pinkus (1916). 5 Vgl. u.a. Die Konfektioneuse (1912); Roman einer Kassiererin (1913); Das Warenhausmädchen. Der Lebensroman einer Verkäuferin (1913); Arme Maria. Eine Waren-

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überwiegend steilen Verlaufskurven der Geschichten. Erzählt wurden entweder abenteuerliche Aufstiege in gesellschaftliche Höhenregionen oder tragische Abstiege der überwiegend weiblichen Hauptfiguren, die gleichermaßen das Label des Sensationellen für sich veranschlagten.6 Im Vergleich dazu nehmen die meisten Film-Geschichten um angestellte Protagonisten Ende der Zwanziger- und Anfang der Dreißigerjahre keinen tragischen Verlauf und lassen ihre Heldinnen auch keine exotischen Abenteuer bestehen. Vielmehr geben die Filme vor, alltägliche Begebenheiten zu erzählen, die meistens wie von selbst ein gutes Ende finden. Als eigenes Thema nahm der sekundäre Diskurs der Filmkritik ›die Angestellten‹ allerdings erst ab der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre wahr, erst ab dieser Zeit wurde ihre fi lmische Repräsentation als Darstellung eines ›sozialen Milieus‹ verstanden.7 Um 1930 erreichte die Aufmerksamkeit ihren Höhepunkt, als nämlich die ›Angestelltenfilme‹ der oben angedeuteten Typologie zu Kassenschlagern avancierten. Das ›Genre‹ der von Optimismus übersättigten komödiantischen Aufstiegsgeschichte, in dem Angestellte am häufigsten auf der Leinwand zu sehen waren, entsprach, wie Helmut Korte in seiner rezeptionshistorischen Untersuchung des Kinoprogramms und der Filmproduktion dieser Jahre ermittelt hat, zugleich dem Zugpferd der deutschen Filmproduktion zwischen 1930 und 1933. So stellten die »betont optimistischen Filme« des Typus »Aufstiegsmärchen und Sozialromantik« »im Produktionsjahr 1932 fast die Hälfte aller erfolgreichen Filme. Ihr Anteil hatte sich im Vergleich zu 1931 fast verfünffacht« 8, und sie konnten sich mit 14 Prozent auch 1933 trotz der starken Abnahme noch behaupten. Dabei handelte es sich gerade nicht um LowBudget-Produktionen, sondern um Ton-Filme von vergleichsweise hoher Qualität, was den Aufwand in Ausstattung und Inszenierung, aber auch »das darstellerische und musikalische Niveau« anbetraf.9 Die gemeinsamen Charakteristika dieses ›Genre‹ umschreibt Korte folgendermaßen: haus-Geschichte (1915); Der Stolz der Firma. Die Geschichte eines Lehrlings (1914); Schuhpalast Pinkus (1916); Der Blusenkönig (1917). 6 Knut Hickethiers Befund, dass vor 1930 keine Aufstiegsgeschichten weiblicher Angestellter erzählt, sondern eher die »subalternen Verhaltensweisen von Kanzleischreibern ausgestellt [wurden], die oft tödlich enden«, ist deshalb entsprechend zu korrigieren. Siehe Knut Hickethier: »Tippmädchen«, a.a.O., S. 437. 7 Gleiches lässt sich für die Literaturkritik, aber auch die Illustrierte Presse und die Werbung beobachten; vgl. Sabine Biebl: Betriebsgeräusch Normalität, a.a.O. 8 Helmut Korte: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik, Göttingen 1998, S. 358f. 9 Ebd., S. 359.

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Fast 80% […] dieser Filme [sind] zeitlich und inhaltlich in der Alltagsrealität des zeitgenössischen Publikums angesiedelt, d.h., die Filme spielen in der Regel im Deutschland oder Österreich (Wien) der 20er und frühen 30er Jahre. […] Die Protagonisten sind bevorzugt die ›kleinen Leute‹ – Arbeiter, Sekretärinnen, Verkäuferinnen, Handwerker, kleine Angestellte –, die, obwohl arbeitslos, arm, ohne Wohnung oder in einer finanziell ausweglosen Lage, durch Mut, Optimismus, Selbstbewußtsein, besondere Fähigkeiten, Charme und Schönheit oder auch einfach nur Glück die Probleme erfolgreich meistern. […] Die Bezugnahme auf die Alltagserfahrungen des Publikums bleibt allerdings größtenteils rein formal, indem die handelnden Personen eben Arme oder Arbeitslose darstellen, sich aber ganz anders benehmen, als man aufgrund der jeweiligen Notlage annehmen müßte. Den aus dieser Situation in der Realität resultierenden psychischen Problemen der Betroffenen werden sprühende Lebensfreude und Aktivität, selbstbewußtes Auftreten und vor allem die Botschaft gegenübergestellt, daß sich die Situation fast von selbst zum Besseren wende, wenn man nur fleißig singt und tanzt, oder im Zweifelsfall die Liebe dem finanziellen oder beruflichen Erfolg vorzuziehen sei.10

Im Kontext des Angestelltendiskurses, der sich in Deutschland um die Jahrhundertwende auszuformen begann und ab der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre die ganze Breite des öffentlichen Interesses erreichte, gewinnt die veränderte fi lmische Repräsentation der Angestellten grundlegende Bedeutung. Sie lässt sich als Ausdruck jenes diskursiven Prozesses betrachten, im Zuge dessen um die Integration der neuen Schicht der Angestellten in das Sozialgefüge der deutschen Gesellschaft gerungen wurde. Als neuer Sozialtypus, der hinsichtlich seiner ökonomischen und sozialen Position weder eindeutig der bürgerlichen Schicht noch dem Proletariat zugeordnet werden konnte, drohten die Angestellten die gängigen Klassifizierungsschemata von Gesellschaft zu sprengen. Dementsprechend galten sie der Soziologie als »eigenartige Gestalten des sozialen Seins«11 und »Siedler auf gesellschaftlichem Neuland«12 . Doch handelte es sich bei dem Streit um die Definitionsmacht über diese neue soziale Schicht keineswegs nur um das soziologische Problem gesellschaftlicher Schichtung. Allein das enorme Anwachsen der Angestelltenschaft seit dem Ersten Weltkrieg machte deutlich, dass mit der Position der Angestellten im gesellschaftlichen Gefüge zugleich auch über das soziale und politische Kräfteverhält10 Ebd., S. 323. 11 Goetz Briefs: »Proletariat«, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 441-458, hier S. 458. 12 Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage; unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe von 1932, Stuttgart 1967, S. 135.

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nis, das die Gesellschaft der Weimarer Republik bestimmen sollte, entschieden wurde. 13 Die genannten Veränderungen, die für die Präsenz der Angestellten im Film um 1930 auf Produktions- und Rezeptionsebene zu beobachten sind, das Einpendeln der ›Erzählkurven‹ auf mittlerem Niveau, der Erfolgskurs des Angestellten-›Aufstiegsmärchens‹ zum publikumswirksamen Filmtypus und schließlich die Koppelung der dargestellten Wirklichkeit an die Erfahrungswirklichkeit der Zuschauer, deuten auf den ersten Blick für das Diskurssegment der Unterhaltungsmedien auf eine gelungene Integration der neuen sozialen Schicht der Angestellten in die deutsche Gesellschaft hin. So scheinen in ihrer fi lmischen Repräsentation die polaren Positionen des Diskurses zum Ausgleich zu gelangen: Nicht allein werden die Angestellten im Unterhaltungsfi lm um 1930 ›gesellschaftsfähig‹, er baut sie auch zu Repräsentanten einer virtuellen gesellschaftlichen Mitte auf, die sich als ›Schicksalsgemeinschaft‹ darstellt: In Gleichheit vor dem Schicksal ökonomischer Existenznot und im Glauben an das Glück des Tüchtigen (die Dummen ereilte es unverhoff t) fanden sich dort Proletarier neben Vertretern des alten und des ›neuen Mittelstands‹ zusammen. So sah ein Rezensent des ›Reichsfi lmblatts‹ in dem sozialkritischen Film Lohnbuchhalter Kremke (1930) eben jenes Milieu geschildert, »in dem der mittlere Deutsche« aufwachse. 14 Der ›Interdiskurs‹ Film fungiert jedoch nicht als bloßer Spiegel für gesellschaftliche Diskurse, sondern als ihr Verhandlungsraum und reflexives Experimentierfeld. Die Unterhaltungsfilme des Typs »Aufstiegsmärchen und Sozialromantik« führen dementsprechend die gesellschaftliche Integration der Angestellten als Problem vor, das sie in exemplarischen Fällen verdichten und ausagieren. Dabei verstricken die Lösungen, die die Filme

13 Zum Angestelltendiskurs in der Weimarer Republik vgl. u.a. Jürgen Kocka: Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850-1980, Göttingen 1981; Toni Pierenkemper: »Zum Begriff der Angestellten. Einige Überlegungen zu einer bedeutsamen Kategorie sozialhistorischer Forschung in Deutschland«, in: Scripta Mercaturae, Ausg. 20, Jg. 1986, S. 77-92; Michael Prinz: Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen. Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit, München 1986; Ders.: »›Ein Bilderbuch an Mäßigung‹? – Kritische Fragen zu den Angestellten in Weimar«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Ausg. 17, Jg. 1988, S. 83-106; Günther Schulz: Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert, München 2000; Sabine Biebl: Betriebsgeräusch Normalität, a.a.O. 14 Reichsfilmblatt, 20. September 1930, zitiert nach Helmut Korte: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik, a.a.O., S. 253.

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präsentieren, diese mitunter in Aporien, die sich allein in der ›histoire‹ nicht beheben lassen und nicht selten den Preis der Wirklichkeitsillusion kosten.

Durchschnitt und Alltäglichkeit Explizit aber bemühte sich gerade die brancheneigene Werbung, ihre Produktionen als realistische und wahrscheinliche Geschichten zu verkaufen. Kaum eine Filmankündigung verzichtete darauf, die Alltäglichkeit des Geschehens und die Durchschnittlichkeit der Protagonisten zu betonen. Dieses Einspielen einer historischen Zeitsignatur stand einerseits im Dienste der Legitimation des Gezeigten, jedoch nicht im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit den ökonomischen und politischen Verhältnissen, der angeblich abgebildete ›Alltag‹ der »kleinen Angestellten« mutierte vielmehr zum Freibrief für die Darstellung des gänzlich Unwahrscheinlichen. Andererseits rückte aber die Gegenwart als Argument die vorgeführten Geschichten in den Rang von ›Verhaltenslehren‹ in der Krise. 15 Weist im Falle des Films Es kommt alle Tage vor (1930) allein schon der Titel auf die Alltäglichkeit des Plots hin, so spezifiziert das Programmheft diese Qualität noch einmal als Verbindung von individueller Tragödie und Massenschicksal. Der Film handle von »Durchschnittsmenschen«, die das Schicksal aus ihrer Bahn geworfen hat. »Es kommt das alle Tage vor. Und finden sie nicht wieder zurück, so hat sich rasch eine jener kleinen Tragödien entwickelt, wie sie unaufhörlich die Gerichte beschäftigen und die Spalten der Zeitungen füllen.«16 Anstatt den Alltag zu skandalisieren, wird die Sensation des ›tragischen Schicksals‹ normalisiert. Effekt des Verweises auf die quantitative Relevanz des Geschehens ist die Nivellierung der dargestellten individuellen Not und gleichzeitig ihre Herauslösung aus jedem historischen und politischen Kontext: An die Stelle der historischen Situation rückt die schicksalhafte. Was den sozial-politisch ambitionierten Film von der konservativen Unterhaltungsware, die auf bloße Affekterregung setzt, unterscheidet, ist in dieser Hinsicht nur noch der explizite politische Appell, der Ersterem beigegeben ist. Die massenhafte Existenznot wird zum unveränderlichen Schicksal, das ›mutig und frohen Sinnes‹ gemeistert werden will. Dies stand als Musterinterpretation der Gegenwartssituation vielen Aufstiegsgeschichten voran und wurde gerne über eingängige Schlager

15 Vgl. zu diesem Begriff Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. 16 Programmheft Illustrierter Film-Kurier, 12. Jg. (1930).

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transportiert. So heißt es beispielsweise in dem ›Lied der Kirchenmaus‹17 aus Richard Oswalds Film Arm wie eine Kirchenmaus (1931): Alter Hut und dünnes Kleid/Durch die Schuhe pfeift die Zeit/Das ist leider, ohne Frage/Jetzt die Mode unsrer Tage!/Nirgends wird man eingestellt/Keine Arbeit und kein Geld/Und im kalten Zimmer/Ohne Hoffnungsschimmer/War bis heute meine Welt//Refrain: Arm wie eine Kirchenmaus/so arm, wie eine Kirchenmaus/ und trotzdem die Not von solchen Tagen/noch mit Humor getragen!/Alle drückt das gleiche Joch/den Riemen etwas fester noch,/Und nicht sich kränken,/immer denken:/Einmal wird es doch!18

Auch die sozialdemokratische Filmproduktion Lohnbuchhalter Kremke, 19 der am Beispiel eines arbeitslosen Buchhalters die massenhafte Existenznot explizit politisiert und den Machthabern die Handlungsverantwortung zuweist, gerät dennoch in der Moral, die er erzählerisch transportiert, in die Nähe einer solchen Sozialromantik der ›Helden des Alltags‹. In der Absicht, exemplarisch zu sein, »ein Schicksal [zu berichten], wie es sich so oder noch tragischer täglich abspielt« 20, rückt die Rahmung der Handlung durch die Anfangs- und Schlusseinstellungen die nachfolgende Geschichte in den Kontext der weltweiten Wirtschaftskrise um 1930: Werden zu Beginn die steigenden Arbeitslosenzahlen seit 1927 eingeblendet,21 so legt sich über die Wellen, die am Ende buchstäblich über dem Buchhalter 17 Text und Musik von Ralph Benatzky: »Lied der Kirchenmaus«, in: Filmwelt, Jg. 1931, Nr. 42. 18 Zitiert nach: Filmwelt – Berlin, Jg. 1931, Nr. 42. Vgl. auch das Eingangslied der Protagonistin aus Die Privatsekretärin (Liedtext von Robert Gilbert, Musik von Ludwig Lajtai): »Von der Arbeit meiner Hände/Wird der Koffer schwer bewegt,/Doch es findet sich am Ende/Irgendeiner, der ihn trägt./Ja, so ist es mal im Leben/Und ich schaff‘ es sicher noch./Andern glückt es zwar daneben,/Aber mir, mir glückt es doch!« (Zitiert nach dem Text der Zensurkarte [Prüf-Nr. 27945, 15.1.1931, Film-Prüfstelle Berlin], Bundesarchiv/Filmarchiv, Berlin.) 19 Lohnbuchhalter Kremke war die erste und einzige Regiearbeit von Marie Harder, der Leiterin des sozialdemokratischen Film- und Lichtbilddienstes; die SPD gewährte für die Produktion eine Verleihgarantie; vgl. Helmut Korte: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik, a.a.O., S. 244. 20 Zwischentitel, zitiert nach der Zensurkarte (Prüf-Nr. 26847, 12. September 1930, Film-Prüfstelle Berlin), Bundesarchiv/Filmarchiv, Berlin. 21 »1927: 1,4 Millionen – 1928: 1,6 Millionen – 1929: 1,9 Millionen – 1930: 3,1 Millionen – Arbeitslose in Deutschland« »Hungernde – Hoffnungslose – Verzweifelte – in Deutschland – England – Amerika – in der ganzen Welt!« (Zwischentitel, zitiert nach der Zensurkarte; so auch das folgende Zitat).

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zusammenschlagen, die Schlusseinstellung demonstrierender Massen vor dem Reichstagsgebäude, die schließlich mit der Forderung »Gebt Arbeit!« überblendet wird.22 Die ›Binnenhandlung‹ setzt ein mit einer Folge von Halbnahen, die Büroangestellte bei der Arbeit zeigen, gefolgt von einer Totalen des Büros, das zum beispielhaften Schauplatz der folgenden Handlung wird: Weil seine Aufgaben von den neu eingeführten Buchungsmaschinen übernommen wurden, erhält der alte Lohnbuchhalter Kremke (gespielt von Hermann Vallentin) seine Kündigung. Nach dem erfolglosen Versuch, sich als Vertreter für Damenunterwäsche durchzuschlagen, geht er stempeln, versucht aber seine neue Situation geheim zu halten. Aber die Schmach des sozialen Abstiegs verkraftet Kremke nicht. Als er sich schließlich wegen ihres proletarischen Verlobten mit seiner Tochter überwirft, ertränkt er sich im Kanal. Sieht man von dem Schlussappell des Films ab, so führt Lohnbuchhalter Kremke als Grund für das Scheitern des alten Angestellten dessen spießbürgerlichen Standesdünkel vor. Aus dieser Haltung resultiert einerseits die Unfähigkeit der Figur, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, andererseits führt sie zu Kremkes sozialer Isolation. So wendet er sich gegen den Verlobten seiner Tochter, einen Chauffeur, weil er diesen für unter ihrer sozialen Würde stehend hält, und drängt sie damit aus dem Haus. Es erscheint als ironisch-bittere Konsequenz dieses Standes-Denkens, dass Kremke am Ende selbst seiner Verurteilung unterliegt und zugrunde geht. Im Versuch einer kritischen Milieuschilderung und ihrer Einbettung in den Zeitzusammenhang sticht Lohnbuchhalter Kremke dennoch als nahezu singuläres Projekt aus dem Gros der ›Angestelltenfi lme‹ um 1930 hervor, darin waren sich die Rezensenten aller politischen Richtungen einig. Die sozialistische Filmkritik kritisierte den Film allerdings als »schlimmste kleinbürgerliche Ideologie«23, die sich »im Effekt nicht von den üblichen 22 Vgl. Helmut Korte: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik, a.a.O., S. 245; zur Gesamtinterpretation des Films siehe auch Helmut Korte: »Massenarbeitslosigkeit und soziales Elend – der Film zwischen Klassenkampf und optimistischer Verklärung: Lohnbuchhalter Kremke«, in: Werner Faulstisch/ Helmut Korte: Fischer Filmgeschichte, Bd. 2. Der Film als gesellschaftliche Kraft, 1925-1944, Frankfurt a.M. 1991, S. 130ff. 23 Ludwig Anton Kaufmann: »Lohnbuchhalter Kremke«, in: Arbeiterbühne und Film, Jg. 1930, Nr. 11, S. 8; wieder abgedruckt in: Gertraude Kühn/Karl Tümmler/Walter Wimmer (Hg.): Film und revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland 1918-1932. Dokumente und Materialien zur Entwicklung der Filmpolitik der revolutionären Arbeiterbewegung und zu den Anfängen einer sozialistischen Filmkunst in Deutschland, Berlin 1978, S. 241f., hier S. 242, so auch im Folgenden, S. 241.

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gehirnvernebelnden Erzeugnissen des Filmkapitals« unterscheide. In »psychologischer Kleinkrämerei«24 betreibe er »eine matte ›Armeleutemalerei‹«, anstelle »revolutionäre Gesellschaftskritik« zu bieten. Die ›bürgerlichen‹ Rezensenten dagegen lobten gerade die diskrete Darstellung des »tragischen Schicksals einer bürgerlichen Mittelschicht«25, mit der gerade keine politische »Aufhetzung«26 verbunden sei.

Ein ungleiches Paar: Der ›alte Buchhalter‹ und die junge Sekretärin erobern die Leinwand Vor dem Hintergrund der Entwicklung der fi lmischen Repräsentation der Angestellten und des gesellschaftlichen Diskurses über diese neue Schicht, der Ende der Zwanzigerjahre seinen Höhepunkt erreichte, kommt Lohnbuchhalter Kremke noch in anderer Hinsicht wesentliche Bedeutung zu. In ihm feiert nämlich ein Angestelltenvertreter sein filmisches Debüt, der um 1930 bereits auf eine literarische Karriere zurückblicken konnte: der ›alte Buchhalter‹. Seit sich die Literatur um die Jahrhundertwende den Angestellten als Protagonisten zuwandte,27 artikulierte sie über die Figur des ›alten Buchhalters‹ eine kulturkonservative Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und dem Betrieb, den diese als unmenschliche Maschinerie aus sich heraussetzte. Dargestellt wurde im Buchhalter ein an der modernen Zeit zwangsläufig scheiternder Typus, in dem psychische Disposition und entfremdender Zwang des Berufs sich unheilvoll ergänzen: unartikuliertes Begehren veräußert sich in einem ängstlichen Zwang zu Ordnung und Gehorsam, gelangt aber zuletzt doch in exzessiven Ausbrüchen der Figur zum Durchbruch.28 Bis zu ihrem ersten Erscheinen auf der Leinwand Anfang der Dreißigerjahre widersetzte sich diese Figur der Anpassung an die veränderten Umweltbedingungen und blieb als überständiger 24 Rote Fahne, 21. September 1930, zitiert nach Helmut Korte: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik, S. 255, so auch im Folgenden; zum gesamten Spektrum der Beurteilungen vgl. ebd., S. 253-255. 25 H. W–g. (d.i. Hans Wollenberg): »Lohnbuchhalter Kremke«, in: LichtbildBühne, Jg. 1930, Nr. 222. 26 Deutsche Filmzeitung, Jg. 1931, Nr. 16, zitiert nach Helmut Korte: Der Spielfilm, a.a.O., S. 253. 27 Vgl. Sabine Biebl: »Angestellte in der Literatur 1890-1933. Eine vorläufige Bibliografie«. Unter: www.angestellten.de/literatur.html [24. Feburar 2009]. 28 Vgl. u.a. Joseph Roth: Karriere (1920); Paul Gurk: Die Wege des teelschen Hans. Ein Roman (1922); Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929); Otto Roeld: Malenski auf Tour (1930).

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Rest einer vergangenen Zeit und Gesellschaft bestehen. Das ›moderne‹ Medium Film aber leitete das tragisch-düstere Potenzial, das dem Anachronismus der Figur innewohnte, ins Komische ab und stellte den alten Buchhalter dem anderen ›Extrem‹ des angestellten Figurenpersonals an die Seite, der attraktiven jungen Sekretärin.

Die Filmkarriere der Sekretärin Tatsächlich starteten beide Figuren nahezu zeitgleich ihre späte fi lmische Karriere und setzten sich in der Publikumsgunst gegen Verkäuferinnen, Mannequins und kleine Bankbeamte durch, die um 1930 ihr fi lmisches Glück machten. Beide verbindet eine strukturelle Eigenheit: die junge, adrette Sekretärin und der ›alte Buchhalter‹ nämlich lassen sich gleichermaßen als ›soziale Problemfälle‹ verstehen. Die Filme thematisieren sie nicht nur als solche, sondern führen in der Art und Weise, wie sie diese sozialen Typen auf Handlungs- und Darstellungsebene in die fiktionale Welt integrieren, Umgangsweisen mit ihnen vor. Insistierte im ›alten Buchhalter‹ die verlorene Vergangenheit, die ihm den Übergang in die moderne Welt des rationalisierten Betriebs und der Massenkultur verstellte, so schien der jungen Sekretärin die Anpassung an diese Umwelt zu gut zu gelingen. Zudem haftete ihr – im Gegensatz zu Verkäuferin und Mannequin – eine sozialhistorische Problemschwere an, die sie unter stärkeren Legitimationsdruck als ihre angestellten Kolleginnen setzt, waren es nach dem Krieg doch vor allem die zum Gelderwerb genötigten Töchter des depravierten mittleren Bürgertums, die auf Stellen dieses Typs drängten. In der Literatur war die Figur der Sekretärin deshalb von Anfang an mit dem Makel des sozialen Abstiegs gezeichnet, der argumentativ durch die Hervorhebung ihres ›Charakteradels‹ kompensiert werden musste und schließlich in der Karriere durch Heirat seine Aufhebung erfuhr. Der Film um 1930 dagegen ist bemüht, die soziale »Anomalie«29 der weiblichen Angestellten ihrer sozialen Dimension zu entheben, indem er sie abstrakt normativ als Einbruch des arbeitsfremden erotisch Schönen30 in die männlich besetzte rationale Welt der Arbeit fasst und die Berufstätigkeit als Denatu29 Stefan Hirschauer: »Arbeit, Liebe und Geschlechterdifferenz. Über die wechselseitige Konstitution von Tätigkeiten und Mitgliedschaften«, in: Sabine Biebl/Verena Mund/Heide Volkening (Hg.): Working Girls, a.a.O., S. 24-41, hier S. 40. 30 Vgl. Helmut Lethen: »Schreibkräfte am Männerhorizont«, in: Sabine Biebl/Verena Mund/Heide Volkening (Hg.): Working Girls, a.a.O., S. 42-54, hier S. 53.

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rierung der Frau interpretiert, sofern sich diese den Anforderungen der männlichen Arbeitswelt stellt und rational bestimmt handelt. Es erscheint zunächst folgerichtig, dass überwiegend der ›natürliche‹ Typus Frau dem künstlichen modernen den Rang abläuft. Zwischen dezidiert hässlich, aber authentisch, und schön, aber künstlich, kann der Zuschauer in den Filmen die Entstehung eines mittleren Frauentypus verfolgen, der seiner ›natürlichen‹ Bestimmung treu bleibt und gleichzeitig in die Arbeitswelt integrierbar ist – allerdings nur dann, wenn sich auch der Aufstieg auf angemessenem Niveau hält. So gehen die erfolgreichen Produktionen Arm wie eine Kirchenmaus und Das hässliche Mädchen (Henry Koster, 1933)31 beide von der gleichen Grundkonstellation aus: die Stelle einer Sekretärin soll dezidiert mit einer hässlichen Bewerberin besetzt werden, um zu vermeiden, dass die männlichen Kollegen oder Chefs durch weibliche Reize von der Arbeit abgelenkt werden. Beide »hässlichen« Protagonistinnen entpuppen sich im Laufe der Geschichte als eigentlich hübsche Vertreterinnen ihres Geschäfts. Für die eine hat das die Heirat mit dem Chef zur Folge, allerdings um den Preis ihrer Kündigung (Arm wie eine Kirchenmaus); für die andere nur die Liebesverbindung mit einem Kollegen, für die sie aber durch die neue Stellung als Privatsekretärin des Direktors entschädigt wird (Das hässliche Mädchen). Hinter diesen Kompromisslösungen verbirgt sich ein argumentatives Dilemma, in das der Film durch die Maßgaben der Figur und des Genres geriet. Die Arbeitswelt, aus der die Sekretärin am Ende idealerweise entkommen soll, stellt zugleich den modernen Raum ihrer charakterlich-moralischen Bewährung dar. Da die Schönheit als optischer Ausdruck des Charakteradels in Verruf geraten scheint, wird die Tüchtigkeit zum Auslesemerkmal der Protagonistin. In Arm wie eine Kirchenmaus ist es gerade die ins Groteske gesteigerte ›Arbeitswut‹ der neuen Sekretärin,32 die den erlahmten Betrieb wieder in Gang setzt und schließlich wesentlich zum erfolgreichen Abschluss des entscheidenden Vertrags beiträgt. Zugleich aber ist diese Tüchtigkeit, die in der Privatsekretärin in der Selbstbeschrei31 Der Leitartikel über Arm wie eine Kirchenmaus im Kinematograph (Berlin, Jg. 1931, Nr. 258) war übertitelt: »Beifall um die Kirchenmaus/Neuer D.L.S.Erfolg im Gloria-Palast«; über Das hässliche Mädchen schrieb der Rezensent R. in der Berliner Morgenpost vom 10. April 1933: »Eine ergötzliche und vergnügte Stunde, die man da mit dem ›häßlichen‹ Mädchen verlebt. […] Es gab viel Beifall und viele Hervorrufe«; ähnlich auch die Besprechungen in der Berliner Zeitung: v. d. D.: »Das häßliche Mädchen«, 9. September 1933 und im Kinematograph – Berlin: [Anonym]: »Das häßliche Mädchen«, Jg. 1933, Nr. 175. 32 Vgl. die am Drehbuch orientierte ausführliche Darstellung des Films bei Carl Dreyfuss: Beruf und Ideologie, a.a.O., S. 244-248.

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bung der Sekretärin als Maschine gipfelt,33 gerade Ausdruck ihrer Denaturiertheit. Sie wird zum starren Schutzpanzer, der verhindern soll, dass die Geschlechter ihrer Bestimmung folgen und zueinander finden. Diese Spannung konstituiert und trägt überhaupt erst die Handlung der Filme. Ihren bildlichen Ausdruck findet sie denn auch gerne in Variationen des ›Abendkleides mit Ärmelschonern‹, in dem sie als Zwitterwesen in der Entscheidungsszene vor dem geliebten Chef erscheint.34 Ein Beispiel für anders geartete ›Domestizierungsverfahren‹ der ›sozialen Anomalie‹ liefert der Kassenschlager Die Privatsekretärin (1930/31).35 Vorgeführt wird der Fall der Vilma Förster, die nach Berlin kommt, um hier eine Stellung als Sekretärin in einer großen Firma anzutreten. Die Plot-Konstruktion sieht vor, dass die Protagonistin eine Liebesverbindung 33 Vgl. ebd., S. 248. 34 Zum Beispiel wird Vilma Förster in der Privatsekretärin vom Direktor in seine Privatwohnung bestellt und tippt dort in der Abendrobe sein Diktat in die Schreibmaschine. In Arm wie eine Kirchenmaus wird das An- und Ablegen der Ärmelschoner auch auf Ebene der ›histoire‹ als symbolische Handlung inszeniert und reflektiert, die die jeweilige Tendenz des ambivalenten Verhältnisses zwischen Chef und Sekretärin anzeigt; vgl. folgenden Dialog zwischen dem Bankdirektor Baron Ullrich und seiner Sekretärin Susi Sachs. Die Szene spielt während einer Geschäftsreise in Paris, auf der Susi den Baron dienstlich begleitet; Susi will in Abendgarderobe gerade das Hotel verlassen, als der Baron sie bittet, noch einen Brief aufzunehmen: »[Baron:] ›Reizend – Sie schauen ja wirklich ganz entzückend aus.‹ […] ›Einen Moment bitte, ich möchte so gern mal – noch einen Brief diktieren.‹ [Susi:] ›Aber gern – ich ziehe nur die Ärmelschoner an.‹ [Baron:] ›Nein – nein – lassen Sie die Arme unbedeckt.‹ [Susi:] ›Der Herr Baron bemerken, daß ich Arme habe?‹ [Baron:] ›Herrn Generaldirektor Hugo Felix, Wien – Lieber – reizend – reizend – was Sie für eine hübsche Dekolltage haben.‹ […] [Susi:] ›Ich glaube – ich werde die Ärmelschoner doch anziehn.‹ [Baron:] ›Glauben Sie, daß sie wirken?‹« (Text nach der Zensurkarte [Prüf-Nr. 30399, 16. November 1931, Film-Prüfstelle Berlin], Bundesarchiv/Filmarchiv, Berlin). 35 Zum Publikumserfolg des Films vgl. u.a den anonym erschienenen Leitartikel »Lustspielerfolg rund um die Gedächtniskirche. Das Publikum freut sich über die ›Privatsekretärin‹« im Kinematograph, Jg. 1931, Nr. 14, S. [1]): »Das neue Jahr beginnt wenigstens achtzigprozentig für die deutsche Produktion mit vollwertigen Treffern. Die Greenbaum startete gestern vor begeistertem, enthusiasmiertem Publikum ihren ersten Thiele Film, ein Lustspiel, das von Franz Schulz verfasst ist, der damit nach langer Zeit wieder mit einer außerordentlich wirkungsvollen und treffsicheren Story vor das Publikum tritt.«; oder auch die Überschrift einer Werbeanzeige von 1931: »Die Privatsekretärin auch im Reich bei Publikum und Presse ein Erfolg ohnegleichen«.

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mit dem Direktor eingehen wird. Fräulein Förster aber erweist sich als ›neusachliche‹ Frau, für die Liebe sich mit materiellem Wohlstand verbinden muss, um sie von der Notwendigkeit des Erwerbs zu befreien. Sie weist also den Direktor, der sich vor ihr als angestellter Kollege ausgibt, zurück, wobei sie ihm ihre Gründe unverhohlen mitteilt: Jeder Mensch hat doch im Leben sein Ziel und weiß, was er erreichen will, und ich möchte sehr viel erreichen. […] Du warst sehr lieb zu mir, aber – aber – ich möchte nicht die Frau oder Freundin eines kleinen Bankbeamten sein. Ich will nicht den ganzen Tag hinter der Schreibmaschine sitzen und Sorgen haben. Ich will mein Leben ein bisschen genießen.36

Abb. 1: Bildcollage zu ›Die Privatsekretärin‹ (1931), in: LBB-Programmheft (1931), Titelblatt. Er zeigt Verständnis und bewundert ihre »Sachlichkeit«, mit der sie untypisch für ihr Geschlecht »ihr Herz dem Verstande« unterordne. In der folgenden Szene, nachts, allein in ihrem Zimmer, wird sie sozusagen refeminisiert. Die 36 Zwischentitel, zitiert nach dem Text der Zensurkarte; so auch die folgenden Zitate.

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Rivalität von Herz und Verstand, von moralisch einwandfreier Liebe und materiellem Kalkül, entscheidet sich zugunsten des Herzens und damit für den armen Kollegen, denn, so heißt es im Lied der Bekehrung: »Mein Herz hab’ ich gefragt,/Es hat schon lange ja gesagt,/Der Verstand wird es doch nie verstehn«. Die Liebe der Protagonistin muss allerdings erneut getestet werden, als sie von der wahren Identität des auserwählten Mannes erfährt. Als Prüfung bietet er ihr ein Geschäft an, das eine Verbindung auf rein freundschaftlicher Basis vorsieht, in der sie sexuelle Dienste leistet, die er ihr mit materiellen Gütern bezahlt. Sie schlägt diesen Handel voller moralischer Entrüstung aus und erbringt damit den Beweis für die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle. Eine Strategie des Films, der als ›exemplarischer Fall‹ für das Gros der thematisch verwandten Produktionen um 1930 zu sehen ist, besteht also darin, Glück und Liebe ihrer materiellen Gebundenheit ideell zu entheben, so dass es als moralisch vertretbar erscheint, wenn sie sich im konkreten Fall mit materiellem Wohlstand verbinden. Doch Die Privatsekretärin belegt vor allem auch Siegfried Kracauers These von der sozialen Entschuldungsfunktion, die die Aufstiegsgeschichten der kleinen Angestellten erfüllten. In seiner Analyse »Der heutige Film und sein Publikum« von 1928 schrieb er: ›Selig sind die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich‹ – nach diesem Wort der Bergpredigt verfährt ein großer Teil der unserer Zeit gewidmeten Filme. Sie halten mehr von der Prädestination als von den Gewerkschaften; jedenfalls wählen sie unter den Arbeitern und Angestellten, die sie sich durchweg als unorganisiert denken, stets nur den einen oder anderen vereinzelten Armen aus, den sie dann selig werden lassen. […] Auch Telephonistinnen, Ladenmädchen und Privatsekretärinnen können hoffen, ohne ihren Berufsverband in Anspruch nehmen zu müssen, denn nicht nur Lotte hat ihr Glück gemacht,37 Lotte, die eine einfache Maniküre war, sondern noch manche andere Kollegin, der es niemand an der Wiege gesungen hatte. Freilich, hübsch muß man sein. Das Himmelreich, in das diese dreimal gesiebten Personen befördert werden, ist die ›Gesellschaft‹. Sie erstrahlt in den herrschenden Filmen, so hell wie das Paradies auf mittelalterlichen Bildern. […] Ja, Lotte, die in sie einheiratet, hat wirklich ihr Glück gemacht. Nicht alle Filme treiben solche Theologie.38

37 Gemeint ist die deutsch-französische Produktion Der Sprung ins Glück (1927); Lotte hat ihr Glück gemacht lautete der deutsche Zensurtitel. 38 Siegfried Kracauer: »Der heutige Film und sein Publikum«, in: Ders.: Werke, Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film, hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl, Frankfurt a.M. 2004, S. 151-166, hier S. 153f.

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Als »Theologie« fasst Kracauer in polemischem Ton das Kalkül, die »geheimen Mechanismen der Gesellschaft«39, die sich hinter diesen Erzählungen verbergen, als ins Diesseits gewendeten religiösen Überbau über den ökonomischen Fakten gesellschaftlicher Ungleichheit. Paradoxerweise implizieren die Filme mit dem religiös konnotierten Repräsentationsprinzip, das ihnen innewohnt, einen Kollektivismus – zumindest unter den weiblichen Angestellten –, der politisch gerade unterbunden werden sollte. Die weiblichen Angestellten müssen sich als Gruppe begreifen, damit die Glückserfahrung, die stellvertretend durch eine einzelne auf der Leinwand vorgeführt wird, kollektiv erlebt wird. In der Privatsekretärin wird dieses Prinzip explizit reflektiert. An die Stelle eines illusionären Repräsentationsprinzips aber tritt eine Darstellungsform der Angestellten, die sowohl ihre soziale Identität als serielles Massenelement ins Bild setzt, als auch das Geschehen als idealtypischen Gang der ›Geschichte‹ markiert: Die angestellte Protagonistin ist als Kollektivwesen konzipiert, in dem Individuum und Gruppe eine komplizierte Relation unterhalten. Die Gruppe trägt erwartbar den Index der ›Gemeinschaft‹, ist sie doch auf Ebene der ›histoire‹ als die typische Ersatzfamilie der Pensions-Wohngemeinschaft umgesetzt. Als nun der schon erwähnten Vilma Förster die entscheidende Verabredung mit ihrem geliebten Chef in dessen Wohnung bevorsteht, stiftet jede der Mitbewohnerinnen das beste Teil ihrer Ausstattung: »Mein schönstes Kleid!/Meine neusten Schuhe!/Mein schönster Schmuck!/Mein schönster Mantel!/Meine feinsten Handschuhe!/Mein schönster Hut!«, 40 und so erscheint in der Wohnung des Chefs schließlich ein idealtypisches Hybridwesen aus Versatzstücken der sechs jungen Frauen. Die Schlusseinstellung löst jedoch jede individuelle Zuordnung auf: Nach dem finalen Kuss des Paares zeigt die folgende Einstellung die Köpfe der fünf Mitbewohnerinnen im Rahmen eines geöffneten Fensters. In den weiteren Einstellungen wiederholen sich die fünf in vertikaler und horizontaler Reihe mehrmals, bis zuletzt der Bildkader von Frauenköpfen überzuquellen scheint.

Die zweite Karriere des ›alten Buchhalters‹ Zwar hatte der ›alte Buchhalter‹ sein eigentliches Filmdebüt 1930 in Lohnbuchhalter Kremke absolviert, in seiner neuen Funktion als skurriler väterlicher Freund der jungen weiblichen Angestellten auf Karrierekurs tritt er jedoch erstmals in der Privatsekretärin auf. Der Abfolge dieser beiden Filmproduktionen eignet somit symbolisches Potenzial. Nicht nur wird in 39 Siegfried Kracauer: »Film und Gesellschaft«, a.a.O., S. 309. 40 Zwischentitel, zitiert nach der Zensurkarte.

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ihnen das Interpretationsspektrum der Figur in seinen Extremen Varianten vorgeführt, sondern zwischen den beiden Filmen entscheidet sich auch symbolisch das weitere ›Schicksal‹ der Figur: Der alte Buchhalter als überkommener Repräsentant einer alten Zeit, der sich gegen die Gegenwart stellt und schließlich vor ihr kapituliert, tritt ab, während er sich als sonderlicher Freund der jungen Kollegin und komische Figur in die moderne Betriebsnormalität hinüberrettet und überlebt, wenn auch als »ein altes, schäbiges, kleines Männchen mit Watschelgang« 41 , wie die Figur des Oberbuchhalters Schünzl im szenischen Vorspann von Arm wie eine Kirchenmaus charakterisiert wird. Was für die weibliche Angestellte zumindest innerhalb des im Film fi ktionalisierten gesellschaftlichen Moralsystems gelingt, die Reintegration der sozialen ›Anomalie‹ in die etablierte Ordnung, bleibt im Falle der Figur des Buchhalters ungelöst. Denn sie trägt unter der Maske der Komik den ›überständigen Rest‹, ihren Anachronismus in die Normalität hinein und behält ihre Exzentrik bei. Im Falle des Bürodieners Hasel aus dem Film Die Privatsekretärin steht die komische Exzentrik der Figur im Dienst der Geschichte, weshalb sie auf Handlungsebene resozialisiert erscheint. Der ulkige dürre ältere Mann, als den der bekannte Theaterkomiker Felix Bressart den Bürodiener verkörperte, 42 verhilft der stellungsuchenden Vilma durch einen Schwindel zu einem Gespräch mit dem Bürovorsteher, ist Mitwisser des Rollenspiels seines Chefs, setzt für Vilma die lästige alte Privatsekretärin außer Gefecht und vermittelt zwischen den streitenden Liebenden. Nicht nur seine physische wie geistige Tollpatschigkeit bricht immer wieder den angeblichen Ernst der Situation; die gesamte Figur bewegt sich zwischen discoures und histoire, ist mehr dramaturgisches Instrument, als handelnde Figur, so dass sie am Ende die Hauptdarstellerin gleichsam an das angestrebte Ziel des Plot erinnern kann: »Sei nicht so streng zu ihm, denk doch an’s happy end.«43 Die Figur wiederholt im Innern noch einmal den Bruch in der strengen Wirklichkeitsillusion, den der Film in seiner Nähe zur revuehaften Inszenierung 44 bereits in seiner äußeren Anlage voraussetzt. Auch 41 Zwischentitel, zitiert nach der Zensurkarte (Prüf-Nr. 30291, 2. November 1931, Film-Prüfstelle Berlin), Bundesarchiv/Filmarchiv, Berlin. – Anstelle eines Text-Vorspanns verlesen Paul Hörbiger und Fritz Grünbaum die »Credits« im Rahmen einer gestellten Szene, in der sich beide zufällig treffen und über den Film Arm wie eine Kirchenmaus plaudern, an dem sie mitwirken werden. 42 Bressart spielte auch die Titelrolle in Der Herr Bürovorsteher (1931). 43 Zwischentitel, zitiert nach der Zensurkarte. 44 Vgl. den leitmotivartigen Einsatz der zahlreichen Gesangseinlagen und die ausladend breit angelegte Szene in ›Webers Festsälen‹, die einen großen Auftritt von Hasel/Bressart als Dirigent und Komiker vorsieht.

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in diesem selbstreflexiven Zug ist Die Privatsekretärin ein repräsentatives Beispiel für eine Tendenz, die für ein großes Segment der deutschen Tonfi lmproduktion dieser Jahre gültig ist. 45 Dass es seine Komik ist, die für den Typus des ›alten Buchhalters‹ ›lebensrettend‹ ist, wird besonders deutlich auch an der Figur des Oberkassierers Leopold Pichler (gespielt von Max Pallenberg) aus Fritz Kortners Tonfi lm Der brave Sünder von 1931. In ihrer Anlage nämlich unterscheidet sich die Figur kaum von der gescheiterten Existenz des Lohnbuchhalters Kremke, auch Pichler wird wie dieser als Stereotyp eines peniblen, ängstlichen kleinbürgerlichen Spießers gezeichnet. Zu Hause mimt er zwar den Patriarchen, doch Frau und Kinder tanzen ihm, wie die Eingangsszene des Films am familiären Frühstückstisch demonstriert, auf der Nase herum. In lächerlichen verbalen Gewaltfantasien und einem übertrieben korrekten, autoritären Auftreten gegenüber seinen Untergebenen kompensiert er seine offensichtliche Hilflosigkeit; vor dem verhassten Chef aber macht Pichler den Bückling. Im Gegensatz zu jenem Lohnbuchhalter Kremke, der zur selben Zeit auf der Leinwand ins Wasser ging, gelingt dem Oberkassierer am Ende aber ein unerwarteter Aufstieg, denn er übernimmt den Posten des Filialleiters seiner Bank. Der Chef nämlich wurde abgesetzt, weil er die Zentrale um eine große Geldsumme betrogen hatte. Ausgerechnet Pichler und sein jüngerer Mitarbeiter Wittek (gespielt von dem jungen Heinz Rühmann) hatten sich, in Unkenntnis der betrügerischen Absichten ihres Chefs, auf dem Weg nach Wien gemacht, um diesem einen Teil des Geldes zu überbringen. In der Wiener ›Engel-Bar‹, in der die beiden vergeblich auf den Chef warten, geraten sie unweigerlich in die Fänge des modernen Unterhaltungsbetriebs und der kriminellen Profitgier seiner Betreiber. So ist das anvertraute Geld bald aufgebraucht. Aber Pichler bleibt der Oberkassierer auch in der Fremde und weist Wittek noch im Schlafzimmer einer Revuetänzerin, in dem sich die beiden am nächsten Morgen wiederfinden, an, Kasse zu machen: »Wo wir sind, ist Büro. Büro ist kein Lokal, Büro ist ein innerer Zustand, von acht bis eins und von zwo bis sieben«. Nach weiteren Abenteuern und einer Serie von Missverständnissen wendet sich doch alles zum Guten, so dass der noch ›kleinere‹ Bankbeamte Wittek es 45 Vgl. in diesem Zusammenhang die bereits erwähnten Filme Arm wie eine Kirchenmaus, Das hässliche Mädchen, Der Herr Bürovorsteher sowie Keine Angst vor Liebe. Vgl. zur medialen Selbstthematisierung und Selbstreflexivität in der Filmoperette der frühen Dreißigerjahre ausführlich Jörg Schweinitz: »›Wie im Kino!‹ Die autothematische Welle im frühen Tonfilm. Figurationen des Selbstreflexiven«, in: Thomas Koebner (Hg.): Diesseits der ›Dämonischen Leinwand‹. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino, München 2003, S. 373-392.

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am Ende sogar wagt, den gefürchteten Vorgesetzten Pichler um die Hand der Tochter zu bitten.

Abb. 2: Bürodiener Hasel in ›Die Privatsekretärin‹, Bildcollage, in: LBB-Programmheft (1931), S. [4].

Abb. 3: Oberkassierer Pichler in ›Der brave Sünder‹ (1931), in: Günther Dahlke/Günther Karl: Deutsche Spielfilme von den Anfängen bis 1933. Ein Filmführer, Berlin 1993, S. 273.

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Der brave Sünder führt seine Hauptfigur im Ausnahmezustand vor: Der Trubel am Frühstückstisch, bei dem der Schrecken des sparsamen Kleinbürgers Wirklichkeit wird – die Ehefrau wirft das Geld samt den Brotbröseln auf der Tischdecke zum Fenster hinaus – bleibt nicht ohne Folgen: Pichler kommt zu spät ins Büro, ist abgelenkt und zerstreut; Gedanken an das Private durchkreuzen die Berechnungen und formieren sich mit ihnen zu Sätzen, deren Aussage so eigenartig wie ihre Syntax ist. Die eigentliche Krise im inneren Ordnungssystem Pichlers aber löst die Rüge seines Chefs aus, dass auch auf Pichler »kein Verlass« mehr sei. Die Handlung ist letztlich getragen vom Pichler’schen Pathos des Pfl ichtbewusstseins, von seinem Streben, den beschädigten Ruf wieder herzustellen: »Auf Pichler ist Verlass!«. Dass der Ausnahmezustand der Figur aber struktureller Natur ist, in dem Anachronismus zu suchen ist, der ihr eingeschrieben ist, wird deutlich an einem unscheinbar wirkenden Detail, an dem sich das Verhältnis der Figur zur modernen Zeit offenbart. So beschäftigt Pichler nach dem Gespräch mit seinem Chef vor allem der Refrain eines Operettenschlagers, den jener geistesabwesend vor sich hin gesungen hatte: »Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht« 46. Was dem Lebemann ein harmloser Ohrwurm ist, das wird für Pichler zur ernsthaften Frage, die er in unmittelbaren Zusammenhang mit seinem eigenen Leben stellt, ihn von da ab leitmotivisch beschäftigt und sich unvermittelt in sein Sprechen drängt: »Warum geht die Chose ohne Weiber nicht?« Hier wirkt nicht die Zerstreuung, die von der Realität des Lebens ablenkt, auf einen Empfänger, der ihre Wirkungsweise zu nutzen weiß. Pichler wird des medialen Ansturms nicht einmal als solchem gewahr, da ihm jede Kategorie für diese Art von ›Daten‹ fehlt. Deshalb nimmt er sie ungefi ltert als Information auf, ohne ihren Realitätsstatus zu bewerten. Unbewusst aber trägt er die ›mediale Attacke‹47 über die Verwirrung seiner Sprache und die Unkoordiniertheit seiner Körperbewegungen aus. So formuliert der Schlager für Pichler eine gültige Aussage, mit der er die eigene Lebenssituation einer unglücklichen Ehe konfrontiert. In diese Welt dringt auch die gewaltsamste Konfrontation mit dem äußeren Leben nicht vor, so dass der Ort seines ›Falls‹, ›die Engel-Bar‹, Pichler lediglich als ein Büro mit erstaunlich langen Öff nungszeiten erscheint. 48 Auch der Besuch im Spielcasino setzt nicht etwa ein Begehren 46 Aus der Operette Die Csárdásfürstin (1915) von Emmerich Kálmán nach einem Libretto von Leo Stein und Béla Jenbach. 47 Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, a.a.O., S. 244. 48 In eine ähnliche Situation in einem Pariser Bordell gerät auch der Buchhalter Schünzl gemeinsam mit dem alten Kammerdiener des Bankdirektors in Arm wie eine Kirchenmaus.

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in ihm frei. Was ihn gewinnsüchtig macht, ist einzig das pflichtschuldige Bestreben, die anvertraute Summe wieder zu vervollständigen. In diesem fremden Umfeld wird der Oberkassierer zur lächerlichen Figur, die nicht einmal merkt, dass man über sie lacht. Er wird buchstäblich Teil des Amüsierprogramms, als er die Tasche mit dem Geld von der Tanzfläche holen will und dabei in die Darbietung der russischen Messerwerfer gerät. Pichler bedankt sich für das Gelächter: »Was für freundliche Menschen.« Der Film bezieht die Position dieses Publikums. Denn er erzählt weniger die Geschichte seiner Hauptfigur, als dass er diese als komische Figur in einzelnen Episoden vorführt: am Frühstückstisch, im Büro, betrunken in einer Bar, in der Badewanne … Zur autonomen Slapstickeinlage gerät gar die Szene, in der Pichler ungeschickt im strömenden Regen seinem davon rollenden Hut nachjagt. 49

Der Ernst der Komik Die Privatsekretärin firmierte als Komödie und folgte in der Konstellierung ihres Personals den traditionellen Vorgaben des Genres: während Fräulein Förster und Bankdirektor Arvai das hohe Personal des ernsten Konflikts stellen, ist Bankdiener Hasel den niederen Figuren zuzuordnen.50 Als Bankdiener steht Hasel auf der untersten Sprosse der Angestellten-Stufenleiter, weshalb das Spiel mit der Betriebshierarchie, das der Direktor im Dienste seines Verführungsplanes treibt, auch nicht gefährlich ist: Er bietet Hasel in der Weinstube das Du an, um seine Tarnung als Angestellter nicht auffliegen zu lassen, und erklärt ihm am anderen Tag die Trennung zwischen Privat- und Berufsleben. Wenn Hasel das Rollenspiel aus Versehen beinahe enttarnt, das Du des Direktors aus Zerstreutheit in den Geschäftskontakt überträgt, zieht er den Betrieb und seine Hierarchien zwar für einen Moment ins Komische hinüber. Aber der gerechte Ernst und die Macht über 49 In der Rezeption des Films trat die semantische Aufl adung der Figur des Oberkassierers häufig hinter der darstellerischen Präsentation zurück. Die Spielkunst Max Pallenbergs in dieser Rolle mag mit Recht gerühmt worden sein. Sie hatte aber den besondern Konnotationsraum, den die Figur mittlerweile ausgebildet hatte, zur Voraussetzung, den sie exemplarisch zur Darstellung brachte. 50 Auf seine Funktion als komisches Zerrbild seines Vorgesetzten deutet allein schon hin, dass er als Privatmann Dirigent und Vorstand eines Gesangsvereins ist. Ähnlich konzipiert ist auch die Figur des Bürovorstehers Joachim Reißnagel in Der Herr Bürovorsteher, der als Privatmann Vorsitzender des Radfahrvereins ›Deutsche Speiche‹ ist; nicht zuletzt ist auch der Buchhalter Kringelein aus Vicki Baums ›Menschen im Hotel‹ (1929) Vereinsvorsitzender.

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die komische Figur bleiben auf der Seite des Direktors, denn dieser entlässt seinen Bürodiener, um ihn allerdings kurz darauf wieder einzustellen. Die Warnung reicht aber zu Sicherung der hierarchischen Grenzen aus. Mit ihnen bleibt auch der Ernst der Gesellschaft gewahrt, in der die Fiktion angesiedelt ist: Der Direktor und seine künftige Gattin haben zwar Humor, aber ihre Angelegenheiten sind moralisch ernster Natur. Im braven Sünder dagegen steht der moralische Ernst der Gesellschaft in Frage, denn ernsthaft bleibt nichts von dieser übrig. Politik spielt keine Rolle, die Macht ist in den Händen der Reichen und Schönen, die sich als Betrüger erweisen, und die ›kleinen Leute‹ sind komische Figuren, die in der Gegenwart noch gar nicht angekommen sind. Nur unter diesen Bedingungen aber kann der ›alte Buchhalter‹ Karriere machen, die sich weniger positiv als Aufstieg, denn ex negativo als Abhandenkommen der Anordnungsmacht beschreiben lässt. So stellt seine ›Karriere‹ nicht eine gestörte soziale Ordnung wieder her, sondern ist Zeichen einer Welt im Chaos, in der mit der ›Apotheose‹ des ›alten Buchhalters‹ die Dienstbereitschaft zur Pflichterfüllung zum Selbstzweck erhoben wird. – Rudolf Arnheim urteilte 1931 in der ›Weltbühne‹ über den Braven Sünder: »Der Film ist nicht leicht, er ist schwer. Er hat einen unheimlichen, bösen Humor. Manchmal klingt Stroheim’sches Gelächter. Er ist sehr deutsch.«51

Literatur [Anonym]: »Lustspielerfolg rund um die Gedächtniskirche. Das Publikum freut sich über die ›Privatsekretärin‹«, in: Kinematograph, Jg. 1931, Nr. 1, S. [1]. [Anonym]: »Beifall um die Kirchenmaus. Neuer D.L.S.-Erfolg im GloriaPalast«, in: Kinematograph, Jg. 1931, Nr. 258, S. [1]. [Anonym]: »Das häßliche Mädchen«, in: Kinematograph, Jg. 1933, Nr. 175. Arnheim, Rudolf: »Teils teuer, teils gut«, in: Ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. von Helmut H. Diederichs, Frankfurt a.M. 1977, S. 244248. Benatzky, Ralph: »Lied der ›Kirchenmaus‹«, in: Filmwelt, Jg. 1931, Nr. 42, S. 12. Biebl, Sabine: Betriebsgeräusch Normalität. Angestelltendiskurs und Gesellschaft um 1930, München, Univ., Diss. 2009, unveröffentlichtes Manuskript. 51 Rudolf Arnheim: »Teils teuer, teils gut«, in: Ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. v. Helmut H. Diederichs, Frankfurt a.M. 1977, S. 244-248, zu Der brave Sünder, S. 246-248, hier S. 248.

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Biebl, Sabine: »Angestellte in der Literatur 1890-1933. Eine vorläufige Bibliografie«. Unter: www.angestellten.de/literatur.html [24. Februar 2009]. Biebl, Sabine/Mund, Verena/Volkening, Heide (Hg.): Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit, Berlin 2007. Briefs, Goetz: »Proletariat«, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 441-458. Dreyfuss, Carl: Beruf und Ideologie der Angestellten, München/Leipzig 1933. Faulstisch, Werner/Korte, Helmut: Fischer Filmgeschichte, Bd. 2: Der Film als gesellschaftliche Kraft, 1925-1944, Frankfurt a.M. 1991. Geiger, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1967. Hickethier, Knut: »Tippmädchen, Chefsekretärinnen, Buchhalter. Angestellte im Film«, in: Burkhart Lauterbach (Hg.): Großstadtmenschen. Die Welt der Angestellten, Frankfurt a.M. 1995, S. 435-444. Hirschauer, Stefan: »Arbeit, Liebe und Geschlechterdifferenz. Über die wechselseitige Konstitution von Tätigkeiten und Mitgliedschaften«, in: Sabine Biebl/Verena Mund/Heide Volkening (Hg.): Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit, Berlin, S. 24-41. Illustrierter Film-Kurier, Ausg. 12, Jg. 1930, Programmheft zu Es kommt alle Tage vor. Kaufmann, Ludwig Anton: »Lohnbuchhalter Kremke«, in: Arbeiterbühne und Film, Ausg. 18, Jg. 1930, Nr. 11, S. 28; wieder abgedruckt in: Gertraude Kühn/Karl Tümmler/Walter Wimmer (Hg.): Film und revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland 1918-1932. Dokumente und Materialien zur Entwicklung der Filmpolitik der revolutionären Arbeiterbewegung und zu den Anfängen einer sozialistischen Filmkunst in Deutschland, Berlin, S. 241f. Kocka, Jürgen: Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850-1980, Göttingen 1981. Korte, Helmut: Der Spielfi lm und das Ende der Weimarer Republik, Göttingen 1998. Kracauer, Siegfried: »Der heutige Film und sein Publikum« [1928], in: Ders.: Werke, Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film, hg. von Inka MülderBach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl, Frankfurt a.M. 2004, S. 151-166. Kracauer, Siegfried: »Film und Gesellschaft« [Sonderdruck der Artikelserie »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino«; 1927], in: Ders.: Werke, Bd. 6.1: Kleine Schriften zum Film, hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. Frankfurt a.M. 2004, S. 308-323. 52

Fremde Normalität

Kracauer, Siegfried: Kleine Schriften zum Film, hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. Frankfurt a.M. 2004, S. 521-803. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. Lethen, Helmut: »Schreibkräfte am Männerhorizont«, in: Sabine Biebl/ Verena Mund/Heide Volkening (Hg.): Working Girls, Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit, Berlin, S. 42-54. Pierenkemper, Toni: »Zum Begriff der Angestellten. Einige Überlegungen zu einer bedeutsamen Kategorie sozialhistorischer Forschung in Deutschland«, in: Scripta Mercaturae, Ausg. 20, Jg. 1986, S. 77-92. Prinz, Michael: Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen. Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit, München 1986. Prinz, Michael: »›Ein Bilderbuch an Mäßigung‹? – Kritische Fragen zu den Angestellten in Weimar«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Ausg. 17, Jg. 1988, S. 83-106. R.: »Das häßliche Mädchen«, in: Berliner Morgenpost, 10. April 1933. Schulz, Günther: Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert, München 2000. Schweinitz, Jörg: »›Wie im Kino!‹ Die autothematische Welle im frühen Tonfi lm. Figurationen des Selbstreflexiven«, in: Thomas Koebner (Hg.): Diesseits der ›Dämonischen Leinwand‹. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino, München 2003, S. 373-392. v. d. D.: »Das häßliche Mädchen«, in: Berliner Zeitung, 9. September 1933. Wollenberg, Hans (Kürzel: H. W–g.): »Lohnbuchhalter Kremke«, in: Lichtbild-Bühne, Ausg. 222, Jg. 1930.

Filme Arm wie eine Kirchenmaus (1931, D, R: Richard Oswald) Arme Maria. Eine Warenhaus-Geschichte (1915, D, R: Max Mack/ Willy Zeyn sen.) Das hässliche Mädchen (1933, D, R: Henry Koster) Der Blusenkönig (1917, D, R: Ernst Lubitsch) Der brave Sünder (1931, D, R: Fritz Kortner) Der Herr Bürovorsteher (1931, D, R: Hans Behrendt) Der Sprung ins Glück (1927, F/I/D, R: Augusto Genina) Der Stolz der Firma. Die Geschichte eines Lehrlings (1914, D, R: Carl Wilhelm) 53

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Die Privatsekretärin (1930/31, D, R: Wilhelm Thiele) Es kommt alle Tage vor (1930, D, R: Hans Nagte) Keine Angst vor Liebe (1933, D, R: Hans Steinhoff ) Lohnbuchhalter Kremke (1930, D, R: Marie Harder) Menschen am Sonntag (1929/30, D, R: Robert Siodmak/Rochus Gliese/ Edgar G. Ulmer/Billy Wilder) Schuhpalast Pinkus (1916, D, R: Ernst Lubitsch).

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Genie und Jude : Normalität und Abweichung im Film des NS Niels Werber

Genie und Jude im genetischen Dispositiv der 1930er und 40er Jahre Im August 1939 triff t sich die Elite der Genforschung in Edinburgh zu einem internationalen Kongress. Spätere Nobelpreisträger wie Hermann Joseph Muller und Max Delbrück halten genauso ihre Referate wie spätere Massenmörder wie Joseph Mengele, der junge Assistent jenes Erbbiologen, der in Giorgio Agambens Homo Sacer eine zentrale Rolle spielt 1 und in dessen Publikationen Agamben zu Recht die »Grundsätze einer neuen Biopolitik« ausmacht,2 die wissenschaftliche Kategorien und Befunde »unmittelbar [politisiert und] umgekehrt«3 . Mengeles Chef Otmar von Verschuer steht in der Scientific Community allerdings keineswegs alleine dar, noch ist er besonders »radikal« oder »rigoros« 4 . Die Weltspitze der Genetik kommt aus den USA, England, Skandinavien, Deutschland und Russland, an den Kaiser-Wilhelm-Instituten haben Amerikaner und Russen Hand in Hand mit ihren deutschen Kollegen geforscht, fi nanziert von Stipendien der Krupp-, Carnegie- und der Rockefeller-Stiftung. Die wissenschaftliche Revolution, die sie gemeinsam in Edinburgh einläuten,

1 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, S. 153-158. Mein Dank für die zündende Idee zu diesem Aufsatz geht an die Medienwissenschaftlerin Christina Bartz. 2 Ebd., S. 154. 3 Ebd., S. 157. 4 Ebd., S. 154, 156.

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hat globale Reichweite. Und sie ist für unseren Blick auf das Genie und den Juden im NS-Film von großer Bedeutung. Zwei Forschungsrichtungen treten 1939 in Edinburgh mit großem Selbstbewusstsein auf und kristallisieren sich in den frühen 40er Jahren als besonders erfolgreiche Paradigmen heraus – (1.) die Populationsgenetik, die vor allem mit statistischen und demographischen Methoden arbeitet und zumal von amerikanischen und englischen Forschern wie etwa Huxley und Wright betrieben wird; (2.) die deutsch-russisch dominierte Molekulargenetik, der bereits Ende 1940 der Nachweis gelingt, Chromosomenfunktionen auf ein aus DNS bestehendes Makromolekül zuzurechnen und erste genetische Eigenschaften bestimmten Sequenzen dieses Moleküls zuzuordnen. Die einen werten Tabellen aus, die anderen Röntgenaufnahmen und Blutproben, doch orientieren sich beide Forschungsrichtungen an dem Schema von Normalität und Abweichung. Die Molekulargenetik setzt auf Bestrahlung zur Stimulation abnormer Mutationen. All die vielen Superhelden, die ihre Kräfte dem Kontakt zur Radioaktivität verdanken, haben hier ihren Ursprung. Die Populationsgenetik erfasst die hereditären Abweichungen in der Bevölkerung und schließt aus den demographischen Genkarten auf die Gesetze der Evolution. Mengele etwa promoviert über die Frage der Vererbbarkeit der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, einer seiner Kollegen über die Verbreitung der Rotgrün-Blindheit – dies sind klassische Themen der Humangenetik. Normalität bedeutet in beiden Paradigmen eine Normalverteilung, abnormal ist also nicht das ganz Andere, sondern eine statistisch signifikante Abweichung von der Gaußkurve. Ausreißer aus den Bahnen der Standardabweichung sind aber für die Populationswie Molekulargenetiker nicht nur Träger von Defekten, sondern auch Träger von erstklassigem Erbmaterial, beispielsweise – um Feldforschungen aus dem ›Dritten Reich‹ anzuführen – »Asoziale« auf der einen, Hochbegabte auf der anderen Seite. »Systematische Intelligenzmessungen« und populationsgenetische Studien trennen gleichermaßen die Spreu vom Weizen: die erbgeschädigten Idioten und die rassebiologische Elite vom Bevölkerungsdurchschnitt. Die Genetiker formulieren in ihrem Manifest von Edinburgh die Forderung nach einer systematischen Zucht von Genies und zugleich nach einer biologisch angeleiteten Bevölkerungspolitik zur Bekämpfung von Erbkrankheiten. So soll die Weltbevölkerung effektiv genetisch verbessert werden, durch eine Kombination von positiver und negativer Selektion, durch »Zucht« und »Ausmerze«. Begleitet wird dieses wissenschaftliche Programm von einem gesellschaftspolitischen Alarmismus und Aktivismus: die genetische Qualität der Bevölkerungen sei in großer Gefahr, denn die zivilisatorischen Errungenschaften hätten den evolutionären Mechanismus der Selektion außer Kraft gesetzt – degenerative 56

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Abweichungen, die einst nicht überlebensfähig waren, vermehrten sich heutzutage unter dem Schutzschirm der Hochkultur völlig ungehindert und, schlimmer noch, nahezu unbemerkt. Quer durch die ›Community‹ geht die Sorge um »getarnte dominante Allelen«. Man ist sich einig: Der »Fitnesswert« ganzer Populationen gerate durch eine »unerkannte und unbehinderte« wie »schädliche Merkmalsausbreitung« in große Gefahr. Diese international vertretenen Positionen träfen allerdings im Dritten Reich auf ein politisches Umfeld, das mit der rücksichtslosesten Brutalität die Konsequenzen aus dem »Genetikermanifest« von Edinburgh ziehe und eine moderne Biopolitik der Zucht und Ausrottung auf den Weg bringe.5 Während die Genetiker im Berliner KWI unter Führung des sowjetrussischen Theoriestars Timoféeff-Ressovsky und des Biophysikers Delbrück sich mit nahezu unbegrenzten Ressourcen an die experimentelle Erforschung der Gene machen, zieht die populationsgenetisch informierte Erbpsychiatrie des Dritten Reichs aus der genetischen Lagebeschreibung die ersten bevölkerungspolitischen Konsequenzen. Um auch hier ein paar prominentere Namen zu nennen: All die Experten von Giese bis Hellpach, die Stefan Rieger in seiner Studie über ›Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen‹ anführt, ordnen ihre raffinierten psychotechnischen Experimente im Dritten Reich einem lebenswissenschaftlichen Paradigma unter. Rieger übersieht, dass die aus den Tests hervorgehenden Unterschiede der Anlagen und Eignungen zumindest in dieser Epoche letztlich auf genetische Faktizitäten zurückgeführt werden.6 Die Genetik führt die Menschheit in eine bessere Zukunft, schreibt 1939 ein amerikanischer Psychologe im ›Journal of Heridity‹: »The first 5 Ich fasse hier einen ausgezeichneten wie verständlichen Aufsatz von Karl Heinz Roth zusammen. Vgl. Karl Heinz Roth: »Schöner neuer Mensch. Der Paradigmenwechsel der klassischen Genetik und seine Auswirkungen auf die Bevölkerungsbiologie des ›Dritten Reichs‹«, in: Heidrun Kaupen-Haas (Hg.): Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Nördlingen 1986, S. 11-63. Modern auch mit Bezug auf alte Institutionen wie die Ehe, die Klasse oder Schicht etc. Die Genetik hebt alle alten Differenzierungen auf und erweist sich hiermit strukturell als utopisch. Vgl. auch Jörg Marx: »Der Wille zum Kind und der Streit um die physiologische Unfruchtbarkeit der Frau. Die Geburt der modernen Reproduktionsmedizin im Kriegsjahr 1942«, in: Martin Stingelin (Hg.): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M. 2003, S. 112159, hier S. 123. 6 Vgl. Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2001. In Riegers langer Liste der »Elemente«, aus denen den Psychotechnikern zufolge der »Mensch zusammengesetzt sein soll«, fehlen die Gene (S. 180f.).

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objective of eugenics is to build a better world.«7 Auch die Psychologie macht die biologistische Wende mit. Die unablässig erfassende, messende, testende NS-Psychologie stellt sich ausdrücklich auf »biologische« Grundlagen, möchte eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften schlagen8 und bezieht ihre Erfassung psychischer Fähigkeiten und Abweichungen auf genetische Potentiale. Die Möglichkeiten eines Individuums zur Ausprägung pathologischer wie genialer Fähigkeiten werden gleichermaßen auf seine Erbsubstanz zurückgeführt. In umfangreichen Tests für Arbeitsämter, Wehrmacht, SS, Luftwaffe, Napola, Gauleiterschulungen etc. werden die Fähigkeiten der Kandidaten erfasst, um entweder positive oder negative Auslese zu betreiben. Hier hilft es nicht, einen berühmten Vater zu haben; was allein zählt, ist die statistische Auswertung der Testresultate. Abweichung wird auch hier normalistisch verstanden in Relation zu den ermittelten Durchschnitten. Und wiederum gibt es Abweichungen auf beiden Seiten der Gaußkurve, als Degeneration und Pathologie einerseits und als Genialität und ›High Potential‹ andererseits. Auch in der Psychiatrie und Psychologie läuft die Handhabung des Schemas Abweichung/ Normalität auf eine zweifache Selektion heraus – auf Auslese, Motivation und Begabtenförderung einerseits und auf Auslese, Exklusion und Euthanasie andererseits.9 In beiden wissenschaftlichen Kontexten, der Genetik wie der Psychologie, werden Genialität und ihr Gegenteil normalistisch verstanden. Das genetische Genie soll gezüchtet und gefördert werden. Die genetische Bedrohung soll erkannt und ausgemerzt werden. Für die genetische Gefahr steht im nationalsozialistischen Deutschland vor allem der Jude, dessen exakte Identifizierung durch psychologische und genetische Tests die deutschen Lebenswissenschaften intensiv vorantreiben. In der genetisch informierten Biopolitik des Nationalsozialismus gilt der Jude nun nicht deshalb als Gefahr, weil er der Andere ist, sondern weil er unerkannt und unauff ällig seine Erbmerkmale verbreitet und so heimlich eine biologische Revolution vorbereitet. Frank Böckelmann hat auf die unter den Nazi-Eliten grassierende Paranoia hingewiesen, sie könnten womöglich jüdisches Erbmaterial in sich tragen. 10 Die blonden und blauäugigen Kinder mögen noch hochrassig aussehen, sie könnten aber bereits die »getarnten dominanten Allele« der jüdischen Gene in sich tragen.

7 Albert Edward Wiggam: »Giving Publicity to Eugenics«, in: Journal of Heredity, Vol. 6, Jg. 1939, Nr. 30, S. 279-282, hier S. 281f. 8 Siehe Ulrich Geuter: Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1988, S. 134. 9 Ebd., S. 143, S. 154, S. 205, S. 237, S. 426. 10 Frank Böckelmann: Deutsche Einfalt, München 1999, S. 117ff., S. 145.

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Diese Annahmen der Fachwissenschaften sind in den 1930er und 1940er Jahren überaus populär, und sie sind es deshalb, weil ihre komplexen Mendel’schen, Galton’schen oder Gauß’schen Rechnungen enorm vereinfacht in den Massenmedien kommuniziert worden sind, gefasst in Graphen und Symbole und übersetzt in Narrationen. 11 Die nationalsozialistische ›Volksaufklärung‹ verschreibt sich der Enthüllung der genetischen Verschwörung gegen das deutsche Volk. Für eine Popularisierung dieser ›Aufklärung‹ und die Implementierung der neuen biopolitischen Parameter der nationalsozialistischen Herrschaft sorgen auch die beiden Filme der Berliner Tobis Filmkunst und der Terra Film, auf die ich nun eingehen werde. Das revolutionär Neue, das diese Filme in sich tragen, tritt unauff ällig im Gewand des Alten auf: Die Kostümfi lme spielen im 18. Jahrhundert.

Von der klassischen Macht des Souveräns zur normalistischen Biopolitik Das Jahr 1773. In der ersten Szene von Herbert Maischs Film Friedrich Schiller – Triumph eines Genies aus dem Jahr 1940 sieht man eine lange Reihe von Männern, die zu Fuß ein Straße zu einer Festung hinauflaufen, die Hände gefesselt, jedes Seil führt zum Sattel eines uniformierten und bewaffneten Reiters. Die Schwadron Kavallerie führt frische, zwangsrekrutierte Truppen am Gängelband auf eine Festung, wo die Männer diszipliniert, gedrillt und dann ins Ausland verkauft werden. England kauft zu dieser Zeit jedes Regiment auf. In den 1770er Jahren werden es mehr als 3000 Württembergische Soldaten sein. Geschenke für Mätressen, Feste für den Adel, Aufwendungen für die barocke Repräsentation des Herrschers von Gottes Gnaden – alles wird in Landeskindern gerechnet. Sie finanzieren das galante Leben des württembergischen Herzogs. »800 Dukaten« kostet ein neues Kollier für seine Geliebte, die Reichsgräfin von Hohenheim. Das seien »80 Soldaten«, wagt ein General anzumerken; es würden ja »neue heranwachsen«, kommentiert zynisch der Herzog (30.24). Heinrich George gibt ihn. Man kennt ihn als Schauspieler eines weiteren Herzogs von Württemberg aus einem Film desselben Jahres. In Jud Süß (1940) spielt er Carl Alexander, Carl Eugens Vater. Die Handlung spielt vierzig Jahre früher, in den Jahren 1733-1737, doch sind Vater und Sohn kaum zu unterscheiden. Genau wie in Maischs Film ist auch dieser von George gespielte Herzog von Württemberg ein selbstherrlicher, von leiblichen Lüsten getriebener Typ, der jovial wie rücksichts11 Vgl. Christina Bartz/Marcus Krause (Hg.): Spektakel der Normalisierung, München 2007, S. 8.

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los seine Position nutzt, um auf alle Ressourcen eines Landes zuzugreifen, das er ausdrücklich ein gesegnetes, reiches und vor allem sein eigen nennt. Wenn das Publikum ins Kino strömt und George sieht, kennt es diesen Typ von Herzog schon samt seinen Schwächen und Vorlieben. 12 Beide Filme entfalten ein Tableau absoluter Macht, deren wichtigstes, souveränes Recht nach Foucault darin besteht, »sterben zu machen oder leben zu lassen« 13 . Typische Techniken dieses Regiments sind in beiden Filmen zu sehen, etwa in Szenen der Folter und Einsperrung, Drill und Exekution. Foucault spricht mit Blick auf diesen Machttypus von einem »alten Recht der Souveränität«, das er scharf von der modernen Bio-Macht der gouvernementalen Normalisierungsgesellschaft unterscheidet.14 Wir werden noch sehen, wie die beiden Filme dies tun. Zunächst aber zurück zur Inszenierung der »alten« Souveränität: Der Reichtum des Souveräns gründet unmittelbar in den Erträgen seines Reiches, und dazu zählt der Nachwuchs seiner Bevölkerung genauso wie der Weizen, der Wein oder die Herden seiner Bauern, Hirten und Winzer. Es ist primär der gottgegebene Reichtum des Landes, der den Wein stark, die Herde fett und das Korn voll werden lässt, nicht die Arbeit. Wir befinden uns im Zeitalter der Physiokraten und nicht in der Epoche des Karl Marx. Nicht Kapital, Produktionsmittel und Arbeit bringen »Güter und Reichtümer« hervor, sondern die »Natur« selbst, beschreibt Michel Foucault diese Epoche wirtschaftlichen Denkens, 15 und über die Natur verfügt als Stellvertreter Gottes auf Erden der Monarch. Während Carl Eugen 1773 Soldaten erntet, um seine Mätressen zu beschenken, erspart sich Carl Alexander 1733 diesen merkantilen Umweg und lässt seine Landestöchter unmittelbar im Schloss aufmarschieren und nach alten Matronen und »knuspriger Jugend« vorsortieren, um dann Letztere auszusondern und die eine oder andere reife Frucht selbst zu pflücken. Dem strengen Arrangement dieser Damen, auf dessen rationale ›Anordnung‹ im Dialog eigens hingewiesen wird, entspricht im SchillerFilm das Exerzierreglement und der allgegenwärtige Drill der Soldaten und Karlsschüler. Eugens Eleven, unter ihnen Schiller, wie auch die kleinen Anfängerinnen auf Alexanders Hof ball, sind diszipliniert und uniformiert, ein jeder und eine jede zu einem Zweck, der ihn oder sie zum Mittel 12 Premieren: Jud Süß, 24. September 1940 in Berlin; Schiller, 13. November 1940 in Stuttgart. 13 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France, Frankfurt a.M. 1999, S. 278. 14 Ebd., S. 278. 15 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt a.M. 1974, S. 245.

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des Souveräns macht. Die eine wird Mätresse, der andere Medikus, das Subjekt hat zu tun, was der Monarch befiehlt, vollkommen unabhängig von eventuellen Anlagen und eigenem Wollen. Schiller freilich wehrt sich gegen diesen Zugriff auf sein Leben, und wie ›einer von vielen‹ wohldisziplinierten Karlsschülern in Einheitstracht überhaupt als Genie triumphieren kann, behandelt Maisch als Frage der ›Abweichung‹. Und wie umgekehrt ein als Ghettojude gezeichneter Außenseiter in Stuttgart zum Finanzberater aufsteigen kann, behandelt Harlan als Frage der ›Anpassung‹. Am Ende des Anpassungsprozesses ist Süß Oppenheimer optisch und sprachlich kaum noch von seiner Umgebung zu unterscheiden. Das Genie Schiller dagegen hebt sich selbst in Uniform immer markanter von seiner Umwelt ab und wird überall auch in der Menge erkannt. Beide Filme stellen ihre Hauptprotagonisten, das Genie Schiller und den Juden Süß, in einen Rahmen, dessen Modernität das Württembergische 18. Jahrhundert weit hinter sich lässt.

Das Recht des Souveräns Die beiden George-Herzöge werden von Maisch und Harlan als Landesherren schrittweise delegitimiert, bis sie als Rechtsquelle und Rechtssprecher vollkommen ausfallen und sich als Machthaber schließlich außerhalb eines neuen legitimen Rechts und seiner Legalität wiederfinden. Der Schritt zur Revolution ist hier ganz nahe, und immerhin werden verbriefte Stellvertreter des Souveräns exekutiert und seine treuen Offiziere erschossen. Auf den ersten Blick mag man es kaum glauben, aber beide Filme beginnen mit einer deutlichen Kritik an einem regierenden Haupt und seinem opportunistischen Kabinett. In der Verfi lmung von Schillers Jugend dürfen erst der Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart und dann auch Schiller selbst eine überaus deutliche Sprache führen, die mit Stichworten der Aufklärung durchsetzt die Willkür des Herzogs anprangert und Freiheit einfordert. Schubart wird im Kerker einer Festung enden, Schiller aus Stuttgart fliehen müssen. Auch Veit Harlan lässt an dem Souverän Württembergs kein gutes Haar. Sein Jud Süß beginnt mit dem Schwur des eben inthronisierten Regenten, das Wohl seiner Untertanen zu mehren. Und gleich nach dieser Inszenierung einer inneren Einheit von Legalität und Legitimität in einem repräsentativen Ritual wird gezeigt, wie der Herzog als Sklave seiner Launen Württemberg einem immer despotischeren Regime unterwirft. Wieder vertreten zwei Stuttgarter Bürger eine kritische, aufklärerische, anti-absolutistische Position; der Landschaftskonsulent Sturm wird übrigens von Eugen Klöpfer gespielt, der bei Maisch 61

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den Schubart gibt. In beiden unter den Augen des Propagandaministers in Berlin entstandenen Filmen wird die Möglichkeit eines Tyrannenmordes ausdrücklich ventiliert, wenn auch nicht ausgeführt, und zwar nicht von Hochverrätern, sondern von sorgfältig aufgebauten Sympathieträgern. Ein Unterschied zwischen jener Herrschaftskritik, die der Film Friedrich Schiller – Eine Dichterjungend von Kurt Götz aus dem Jahr 1923 artikuliert, und der in Maischs Schiller-Verfi lmung ist kaum zu erkennen, und man kann erstaunt feststellen, dass zwei als Propagandawerke ersten Ranges geltende Filme unter der Regie erklärter Nationalsozialisten Willkürherrschaft und Verfassungsbruch anprangern und ausgerechnet jene Soldaten des Herzogs als Vorbild hinstellen, die ihm trotz ihres Treueeides im entscheidenden Moment den Gehorsam verweigern.16 Die Verwunderung legt sich wieder, wenn man in Betracht zieht, dass es ein alteuropäischer Machttypus ist, der hier der Kritik verfällt, ein Machttypus, der sich von den modernen, gouvernementalen und biopolitischen Machttechniken des Nationalsozialismus epochal unterscheidet. Die Modernität des Nationalsozialismus gestattet sich die Kritik an den Auswüchsen des alten Duodez-Absolutismus. Auch wenn diese Kritik Schlagwörter wie »Freiheit« und »Menschenwürde« anführt, wird sie aber nicht im Namen der Aufklärung, sondern im Namen einer Macht geführt, die Foucault Biomacht genannt und als Reflexion des »Biologischen im Politischen« bestimmt hat.17 An beiden NS-Filmen lassen sich hinter den Rokoko-Kostümen des Stuttgarter Hofes und der schwäbelnden Stammtischkritik an der Herrschaft der Württemberger die Probleme einer normalistischen Biopolitik entziffern. Sichtbar wird die Problematik dieser Macht gerade an der Frage nach dem Verhältnis von ›Normalität und Abweichung‹, das an die Stelle der Differenz von ›Gesetz und Übertretung‹ tritt. Diese »Grenzlinie« nämlich, die zwischen Norm und Übertretung, scheidet laut Foucault bis ins 18. Jahrhundert trennscharf »die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns«18 . Die berühmte Definition des Politischen als Fähigkeit des Souveräns, Freund und Feind zu unterscheiden, 19 gehört in diese Epoche des »klassischen Zeitalters« diskreter Grenzen. Der Machttypus dieser vergangenen Epoche wird in den Filmen aber nur zitiert, um ihn als 16 Bei der Ausreise Schillers aus Stuttgart (Schiller) und wiederum am Tor der Stadt beim Ausritt der Landschaft nach Ludwigsburg (Jud Süß). 17 Michel Foucault: Der Willen zum Wissen. Sexualität und Wahrheit (1977), Bd. 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 170. 18 Ebd., S. 172. 19 Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie (2. Aufl . 1934), Berlin 1996. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1932), 3. Aufl ., Berlin 1991.

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obsolet vorzuführen, denn die diskreten Grenzlinien zwischen der Norm und ihrer Übertretung sind längst von statistischen Feldern der Normalverteilung und Standardabweichung ersetzt worden. Die Aberration des Herzogs von der Verfassung spiegelt sich wider in der Störung im Gleichgewicht seiner Säfte und den Stockungen in der Zirkulation der Gelder und Waren. Als seine politische Herrschaft untergeht, ruft Carl Alexander nach einem Arzt. Beide Filme zitieren die politische Theologie der zwei Körper des Souveräns. Der ›body natural‹ des Herzogs von Gottes Gnaden gibt Auskunft über den ›body politic‹ und umgekehrt.20 Wie Ernst Kantorowicz in seiner klassischen Studie herausgearbeitet hat, ist nach der vormodernen Rechtsvorstellung ein Herrscher, der sich »nicht an das Gesetz hielte, […] überhaupt kein König, sondern ein Tyrann«21 . Die Abweichung wäre also nicht graduell und fließend wie in den Kurvenlandschaften der Normalisierungsgesellschaft, sondern diskret und absolut. Recht, so formuliert es Carl Eugen selbst, ist allein das »Recht des Untertanen«, das dieser durch Ungehorsam verletzt. Der Herzog droht seinem General mit der Kerkerhaft auf dem Hohen Asperg, wenn Schiller nach den Räubern noch eine einzige Zeile schriebe, und schon sehen wir in der folgenden Szene den »Rebellen« bei der Formulierung eines Briefes, in dem er darum bittet, den Räubern eine Vignette mit dem Motto »In tyrannos« beizugeben. Man sieht hier die »Grenzlinie« der alten politischen Theologie von Hobbes bis Schmitt: Entweder guter Untertan oder Staatsfeind. Und: Entweder Souverän oder Tyrann. Der Herzog ist nicht der wahre Souverän, also ist er ein Gewaltherrscher. Schiller ist kein »gehorsamer Untertan«, also ist er ein »Feind des Souveräns«, der wie Schubart in Festungshaft gehört.

Volkssouveränität Wenn der Herzog ausfällt, wer ist dann der legitime Herrscher, lautet die Frage, die beide Filme stellen. Es sind nicht die Erben der gleichermaßen degenerierten wie dekadenten Herzöge. Der wahre Souverän, den der Schiller-Film präsentiert, ist vielmehr, ich zitiere, das »Volk«. Es ist das Volk, das sich in dem »Genie« wiederfindet, dem es akklamiert, weil es selbst, das »Volk«, dieses Nationalgenie geboren hat und dieses Genie nur das ausspricht, was das Volk bislang nur fühlt. 20 Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters (1957), übers. von Walter Theimer, München 1990. 21 Ebd., S. 174.

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Daher erkennt das Volk seinen Nationaldichter sofort, wenn es ihn hört. Der »Triumph eines Genies« resultiert also nicht aus der glücklichen »Vereinigung« von »Einbildungskraft und Verstand«, wie Immanuel Kant meinte,22 sondern als Abweichung, die erbbiologisch zu dieser Zeit als Durchsetzung einer Kombination von Keimlinien besonders hoher genetischer Wertigkeit im Milieu eines erbbiologisch hochwertigen Volkes verstanden wird. »Genie« definiert Maischs Schiller im Disput mit seinem Herzog vor versammelter Mannschaft als »außergewöhnlichen Menschen«, gemessen am »Maßstab« seiner »Umwelt«, die seine Abweichung vom Durchschnitt erkennt und ihm diese Auff älligkeit als Genialität »zuweist«. Diese relativistische Definition hat er nicht bei Abel gelernt, der dem Disput beiwohnt. Das zum Genialischen nötige »Können«, das Potential, ist ein genetisches Erbe, das die Lebenswissenschaften im Dritten Reich gründlich testen. Was dann dazukommen muss, um genial zu handeln, ist die individuelle »Willensenergie«, wie es ein NS-Psychologe 1939 formuliert.23 Schiller schreit es 1940 heraus: »Ich muss! Ich will!«, und sein »Milieu« bestätigt ihn mit begeistertem Zuspruch. Strukturell entspricht diese Bestimmung des Genies der Position des Führers im nationalsozialistischen Volksstaat, und Genie und Führer markieren Positionen der Abweichung bzw. des »Außerordentlichen« in einem modernen, normalistischen Sinne, denn sie geraten nicht zum Gegensatz zu ihrer Umwelt, sie überschreiten nicht die von Foucault genannte »Grenzlinie« der klassischen Souveränität. Vielmehr sind sie gleichsam mehr und essentieller Volk als das Volk selbst, sie repräsentieren die glücklichste Kombination hochwertiger Genotypen. Diese Überlegungen können auf die sehr populären Ausführungen der Massenpsychologie zurückgreifen, etwa auf Le Bons Kapitel über »Die Führer der Massen«, die nur noch genetisch fundiert werden müssen.24 Im Film wird die Abweichung Schillers zwar auch von den alten Mächten erkannt, kann dort aber nur als Aufruhr gedeutet werden, seine Kameraden dagegen entdecken in ihm den geborenen Führer. Biogene22 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), in: Ders.: Werke in 12 Bänden, Bd. X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974, S. 253. 23 Ulrich Geuter: Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, a.a.O., S. 154. 24 Vgl. Gustave Le Bon: Psychologie der Massen (Psychologie des Foules, 1895), Stuttgart 1973, S. 83f. Le Bon geht davon aus, dass der Führer zuvor selbst ein Geführter, ein Teil der Masse gewesen sei, bevor er sich als Führer entdeckt bzw. von der Masse als Führer entdeckt wird. Voraussetzung dafür ist der »starke Wille«, eine Eigenschaft, die sich der Film-Schiller in besonderem Maße zuspricht.

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tik und Erbpsychiatrie im Nationalsozialismus drängen darauf, derartige Abweichungen systematisch positiv zu selektieren und zu verstärken. In Maischs Film übernimmt diese Rolle der Selektion das Volk per Akklamation in Massenszenen, als Avantgarde fungiert die Gruppe der Eleven, die zuerst unter den ihren den Außergewöhnlichen ausmachen und fördern. Auch in Veit Harlans Film wird die Schwelle zwischen alter Souveränität und neuer Biomacht als Differenz von Untertanen und Volk in Anschlag gebracht. Anfangs jubeln ihm seine Subjekte noch zu, sobald jedoch die Unterscheidung Untertan/Volk greift und das Volk sich als Volk erkennt, entzieht es dem Herzog die Macht. Weil er glaubt, er habe es mit »Untertanen« zu tun, entgleitet ihm sein »Volk«, das viel besser als Carl Alexander weiß, warum es sich Sorgen machen muss, nämlich um sein »Blut«, dessen Verunreinigung durch die freizügige Ausbreitung der Juden in Württemberg akut droht. Das Volk von Württemberg empört sich nicht nur über den von Joseph Oppenheimer im Austausch gegen die Finanzierung der herzoglichen Kapricen erwirkten Einzug der Juden in Stuttgart und ihre ökonomischen Privilegien, es denkt eugenisch. Das »Blut« künftiger Generationen müsse rein gehalten werden. Das genetische Erbe gehöre »uns« nicht, erklärt ein Landrat, sondern »unseren Kindern und Kindeskindern«. Seit Francis Galtons Studien über den ›Hereditary Genius‹ (1869) glaubt man zu wissen, dass in Familien mit hoher Begabungsdichte bereits ein Tropfen unreines Blut die Wahrscheinlichkeit auf genialen Nachwuchs deutlich senke. Harlan gestaltet dieses Verbrechen gegen das reine Blut drastischer als Galton, der nur an eine Fehlheirat des männlichen Begabungsträgers denkt. Es ist bei Harlan die Schändung einer deutschen Frau durch den Juden Süß Oppenheimer, die das Volk endgültig in den Aufstand gegen ihren Fürsten treibt. Der Film inszeniert sozusagen eine rassebiologische Revolution als Alternative zur französischen von 1789. Die empörte Auflaufmasse vor dem Stuttgarter Schloss fordert weder Brot noch Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit, sondern die Vertreibung und Vernichtung der Juden. »Schlagt den Juden tot! Der Jude muss weg!«, schreit der Mob und stürmt dann das Schloss. Auch Harlan präsentiert in Jud Süß eine Herrschaftsalternative zum Alkoholiker und Triebtäter Carl Alexander, der Württemberg in sein Privatbordell verwandelt hat. Im Verlauf des Films konstituiert sich diesseits des Herzogs in den Landständen ein zweites Machtzentrum, das sich – anders als der im Nationalsozialismus entschieden abgelehnte Parlamentarismus25 – auch in Massenszenen durch Einstimmigkeit auszeichnet. Das Plebiszit einer blutsverwandten Gemeinschaft führt schneller und eindeutiger zu 25 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (2. Aufl . 1926), Berlin 1985.

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einem Ergebnis als der Streit der Parteieninteressen und Lobbies. Dieses Bild entspricht dem Ideal einer Gemeinschaft von Volksgenossen, deren instinktmäßiges kollektives Wollen der Führer nur aussprechen muss, um es den Massen bewusst werden zu lassen. Diese Einheit von Volk und Führer haben wir in Maischs Film bereits als Einheit von Volk und Genie kennengelernt. Bei Maisch ist besonders gut zu beobachten, wie das Genie einerseits als Abweichung von der Norm verstanden wird, andererseits aber diese Abweichung als Verstärkung, als graduelle Verdichtung verstanden werden muss und nicht als Negation oder Gegensatz. Im Film wird diese Abweichung in eine Sequenz überführt und so als Geschichte der Differenzierung von Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem erzählbar. Die Kritik Harlans und Maischs an den Herzögen von Württemberg darf nicht als Machtkritik schlechthin oder als Anprangerung autoritärer Führung missverstanden werden, noch sollte man die Versammlungsszenen der Bevölkerung, die auf den Straßen und Plätzen ihren politischen Willen bilden, als Hinweise auf parlamentarisch-republikanische Alternativen zum Nationalsozialismus missverstehen.26 Die öffentlichen Akklamationen stehen vielmehr für die völkische Führerdemokratie, und das Problem der Herzöge besteht nicht in ihrem autoritären Herrschaftsstil, sondern umgekehrt in ihrem Autoritätsverlust, der eintritt, als sie die biopolitische Herausforderung der Zeit nicht verstehen und sie ihre Bevölkerung sozusagen genetisch verraten. Dass Carl Eugen keine Erben zeugt, passt ins Bild, und dass derselbe Carl Eugen den in Stuttgart immer noch in einem eisernen Käfig auf bewahrten Leichnam des 1738 öffentlich gehängten Joseph Oppenheimer, den Finanzberater seines Vaters und Vorgängers Carl Alexander, abhängen lässt, ebenfalls. Die vom Volk von Württemberg am Ende von Jud Süß geforderte langfristige Abschreckung wird vom Sohn eben des Herrschers aufgehoben, der Oppenheimer nach Stuttgart geholt hat. Das Ende von Süß Oppenheimer am Galgen markiert zugleich das Ende der souveränen Macht Carl Alexanders. Das Gericht erkennt den »Freibrief« des Herzogs für Oppenheimer nicht an, obwohl er dem Gericht vorliegt und auch seine Authentizität zweifelsfrei erwiesen ist. Der letzte Befehl des sterbenden Herzogs hat schließlich nicht gelautet, Jud Süß zu hängen, sondern seine Landstände. »Ich lasse alle hängen, alle«, brüllt er seine letzten Worte. Sein Befehl wird genauso ignoriert wie sein Freibrief, dieses typisch absolutistische Rechtsmittel, dessen Pendant die ›lettre de cachet‹ darstellt. Das neue Recht, das statt dessen gesprochen wird, ist ein biopoli26 Vgl. Carl Schmitt: »Wesen und Werden des faschistischen Staates« (1929), in: Ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Berlin 1988, S. 124-130, hier S. 126.

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tisches Recht, dessen höchster Grundsatz das Lebensrecht des Volkes ist. Den Herzog hatte man bereits vor die Alternative gestellt: er solle »wählen: Jude oder Volk?«. Er stirbt, die Entscheidung fällt der Volksgerichtshof, und das Urteil lautet, Oppenheimer sei Jude und müsse daher, als Jude, gehängt werden. Es gelte das Blut künftiger Generationen zu schützen. Die Landstände agieren in »Verteidigung der Gesellschaft« gegen »innere und äußere, offene oder versteckte, gegenwärtige und künftige Feinde« 27, könnte man Foucaults Worte zu einer neuen Biopolitik anführen. 1934, ein Jahr nach der Machtergreifung, hat Carl Schmitt für dieses gouvernementale, biopolitische Recht folgende Formulierung gefunden: Das Richtertum des Führers entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht des Volkes entspringt. […] Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur so viel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt.28

Das Leben des Volkes liegt in seinem Blut. Es rein zu erhalten, ist die höchste Pflicht von Volk und Führer. Maisch und Harlan inszenieren beide Fronten des Kampfes, den der Führer für sein Volk um sein Blut führt – es geht um die Abwehr von Degenerationen und um die Aufzucht von Hochbegabungen, es geht um, wie Jürgen Link formuliert, um Abweichungen von der Normalerwartung auf beiden Seiten in Richtung positiver »Supernormalität« und negativer »Subnormalität«29 . Was diese human- und populationsgenetischen Befunde im Dritten Reich bedeuten, machen beide Filme überaus deutlich: Schiller wird Nationaldichter, Oppenheimer wird gehenkt.

27 Carl Schmitt: »Der Führer schützt das Recht« (1934), in: Ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, a.a.O., Berlin 1994, S. 227-232, hier S. 230. 28 Ebd., S. 229. 29 Jürgen Link: »Normativität versus Normalität. Kulturelle Aspekte des guten Gewissens im Streit um die Gentechnik«, in: Martin Stingelin (Hg.): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M. 2003, S. 184-205, hier S. 191.

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Genie und Jude

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Filme Friedrich Schiller – Triumph eines Genies (1940, D, R: Herbert Maisch) Friedrich Schiller – Eine Dichterjugend (1923, D, R: Kurt Götz) Jud Süß (1940, D, R: Veit Harlan)

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Stehende Gewässer: Nullzeit und Normalzeit in Helmut Käutners Film Unter den Brücken Lorenz Engell

Kanäle sind, anders als man vielleicht zunächst meinen könnte, wenn man nicht aus Holland kommt, keine fließenden Gewässer, sondern stehende Gewässer.1 In ihnen fließt das Wasser also nicht, es steht. Sie sind keine künstlichen Flüsse, sondern langgestreckte künstliche Seen. Zur Bewältigung von Höhenunterschieden benötigen sie deshalb Schleusen. Anders als Flüsse, aber genau wie Straßen oder Schienen, können sie daher selbst auch nichts befördern. Sie benötigen dazu vielmehr die Kopplung mit einem eigentlichen Transportmittel zu einem Transport-Dispositiv: mit dem Binnenschiff. Das spielt nicht nur in und für Holland eine große Rolle. Auch der Fluss Havel, der westlich an Berlin vorbeizieht, und auf dem und an dem Helmut Käutners Film Unter den Brücken zu großen Teilen spielt, ist eigentlich kein Fluss, sondern eine Kette von Seen, die hier und da, um die Strömung zugunsten der Schiff fahrt zu regulieren, und das heißt: herauszunehmen, mit Schleusen untereinander verbunden und so kanalisiert sind. Manchmal suchen sich bestimmte Konzeptionen, bestimmte Denkansätze und Interessen des Films je eigene bildnerische Motive, binden sich an sie und bringen darin regelrecht figurative Denk-Bilder hervor. Gilles

1 Tobias Nanz: »Das Meer von Versailles«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/ Joseph Vogl (Hg.): Stadt, Land, Fluß – Medienlandschaften (=Archiv für Mediengeschichte, Bd. 7), Weimar 2007, S. 75-82; vgl. a. Butis Butis (Hg.): Stehende Gewässer. Medien der Stagnation, Berlin 2007.

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Deleuze hat das z.B. am Bild des Schiffes gezeigt.2 Es ist deshalb ganz bestimmt kein Zufall, dass Helmut Käutners Film Unter den Brücken ausgerechnet, jedenfalls in der Hauptsache, auf den Havelseen und den Kanälen in und um Berlin spielt und diesen Schauplatz ausführlich visualisiert und inszeniert. Denn es geht diesem Film um nichts Anderes als um das Stillstellen eines Flusses, um die Möglichkeit eines Nicht-Fließens, und das heißt auch, und besonders im Film: eines Nichtvergehens von Zeit. Das Nicht-Vergehen, die Nullstellung von Zeit können wir unter anderem daran erkennen, dass Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr nacheinander, sondern nebeneinander angeordnet werden. Dafür ist Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad das wohl einschlägigste Filmbeispiel. Helmut Käutner geht, und viel früher als Resnais, einen anderen Weg. Bei ihm sind es nicht Gegenwart und Vergangenheit, sondern Gegenwart und Zukunft, die nebeneinander, einander gegenwärtig angeordnet werden und so eine Nullstellung produzieren. Kein Erinnerungsbild, keine Vergangenheitsschichten, sondern Zukunftsschichten und ein Erwartungs-, ja sogar Hoffnungsbild prägen den Film. Und diese Nullstellung der Linearzeit geschieht auch nicht, wie bei Resnais, über die Wiederholung der Bilder und über die Verhältnisse zwischen Sprache und Bild. Sie geschieht vielmehr im Bild selbst durch das, was Panofsky die »Verräumlichung der Zeit« genannt hat, durch eine Projektion des Zukünftigen in den gegenwärtigen Bildraum hinein.3 Dieses nahezu singuläre Konzept fi lmisch stillstehender Zeit weist Käutners Film einen besonderen Platz sowohl in der Filmentwicklung als auch in der Zeitgeschichte (im doppelten Sinne: Geschichte des 20. Jahrhunderts und Geschichte der Zeit) zu. Er versucht, sich, bei aller Betulichkeit und Unauff älligkeit, die diesen Film vielleicht andererseits auch kennzeichnen mag, einer – in jeder Hinsicht unnormalen – Normalisierung entgegenzustellen. Er stellt sich gegen die Zeit und damit auch gegen seine Gegenwart. Dies genauer zu entfalten benötige ich einen etwas ausführlicheren Vorlauf zum Thema der normierten Temporalität, der Normzeit, und ihrer Beziehung zu Film und Kino. Danach erst, im zweiten Teil, kann ich auf Käutners Film zurückkommen. Zu den wichtigsten und wirksamsten und wohl auch notwendigsten Normalisierungen gehört das Regime der Zeit. Wir können uns unter der Zeit nicht einfach vorstellen, was wir wollen, und wir können mit ihr nicht umgehen, wie wir wollen. Die Zeit ist eine zentrale Steuerungsgröße und 2 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild (=Kino, Bd. 2), Frankfurt a.M. 1991, S. 101f. 3 Erwin Panofsky: »Stil und Medium im Film« (1947), in: Ders.: Stil und Medium im Film und die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Frankfurt a.M. 1999, S. 19-58, hier S. 25ff.

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muss deshalb selbst gesteuert werden. Die Erzeugung und Verbreitung einer einheitlichen Zeiteinteilung und Zeitordnung in einem bestimmten Raum ist für alle Koordinationen technischer, wirtschaftlicher, kommunikativer, gesellschaftlicher und sogar ästhetischer und bewusstseinsmäßiger Prozesse völlig unabdingbar. Und es ist auch evident, dass diese Normalisierung der Zeit, die Herstellung und Durchsetzung einer Normalzeit, in ihrem Kern eine Medienoperation ist. 4 Sie hat ihren Ursprung vermutlich in der Überlagerung des Technischen mit dem Heiligen und dem Politischen, sie zieht sich von den Sonnenobservatorien der Stein- und der Bronzezeit über die Kirchturmglocken und Muezzine bis – in der säkularen Moderne – zur Atomuhr, zum Gongschlag der Fernsehnachrichten, zur Taktsequenz in digitalen Netzwerken und der Weltzeituhr als Bildschirmschoner. Ganz wichtig ist dabei, dass die Zeit im Verlauf ihrer Mediengeschichte mehrfach den Aggregatzustand wechselt. Horizontale und zyklische Zeit, Zeit im Verhältnis zur Ewigkeit, messbare, gleichförmig verrinnende Zeit, Beschleunigungszeit, relative Zeit, relativistische Raumzeit und Synchronität des Ungleichzeitigen, schließlich die Flexibilisierung und Pluralisierung der Zeitordnungen selbst als Koordinationsleistung zweiter Ordnung sind derlei Aggregatzustände.5 Besonders interessant sind die Phasenwechsel, also die Übergänge von einer Zeitordnung zur anderen. Auch derlei Transformationen müssen und können nur durch Medien bewerkstelligt werden. Und sie werden keineswegs nur – und noch nicht einmal besonders wirksam da – geleistet, wo ausdrücklich und oberflächenrelevant von Zeitmessung und Zeitgebung gesprochen wird. Normalisierungen der Zeit werden, insbesondere im 2o. Jahrhundert, natürlich vor allem durch die Massenmedien geleistet, ohne die eine Durchsetzung etwa der für eine temporalisierte Ereignisgesellschaft verbindliche Vorstellung von Aktualität und Jetztzeitpunkt nicht möglich wäre und die auch für die Beschleunigung des Informations- und des Warenumlaufs von erheblicher Bedeutung sind.6 Eine besondere Rolle kommt dabei für das 20. Jahrhundert neben der Zeitung und dem Radio dem Kino und mit dem Kino dem Film als temporalisierte Form des Bildes zu, als Taktgeber der Normzeit. Der Film ist die Urform eines Bildes, das nicht nur im Raum, durch seinen Rand und Rahmen nämlich, sondern grundlegend in der Zeit, durch Anfang und En4 Norbert Elias: Über die Zeit, Frankfurt a.M. 1984, S. XXIff. 5 Ebd., S. 69f. 6 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 997-1016, hier insbes. S. 1007ff.; Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 41-48.

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de in der linear verstandenen Zeit, definiert und zudem binnengegliedert ist. Es ist damit ein ungemein mächtiger Agent der Normalisierung eben dieser verbindlichen und vom Film im Kino verbildlichten Zeitvorstellung geworden, die wir zunächst als die gleichförmige, fließende, messbare Zeit kennen, in der Vorher und Nachher ebenso unterscheidbar sind wie das Gleichzeitige und das Ungleichzeitige. Und der Film wirkt an den Phasenwechseln der Normalzeit im 20. Jahrhundert an vorderster Stelle mit. Verdichtung und Beschleunigung der Zeit im Aktionsbild des klassischen Films, Aussetzung der linearen Ursache- und Wirkungsketten in der Krise des Aktionsbildes, Ausbildung einer Horizontalzeit der Ungleichzeitigkeiten und der Wiederholungen im modernen Film, schließlich die noch immer laufende Pluralisierung, die lineare und nichtlineare Zeit integriert, sind wesentliche Momente dieses Prozesses.7 Sie geben nicht nur verschiedene Aggregatzustände der jeweils normalisierten Zeit an, sondern eröffnen auch stets zugleich die Spielräume für ein Überschreiten des Normstatus und für temporale Experimente. Beide Seiten, Normalisierung und Normverletzung der Zeiterfahrung durch Kino und Film, bedingen einander; und in diesem Wechselspiel verweisen und wirken sie über das Kino hinaus in jeweilige gesellschaftliche, technische und ästhetische, kurz: mediale Gesamtkonfigurationen. Was die Jahrhundertmitte des 20. Jahrhunderts angeht, insbesondere in Deutschland, so nahm die Durchsetzung einer Normalzeit hier eine gesteigerte Wichtigkeit an. Die Eintaktung und Synchronisierung der Zeit nicht nur im Kalender- und Tagesrhythmus, sondern im zunächst stunden-, dann minuten- und schließlich sekundengenauen Bereich hatte sich aus den Erfordernissen der Industrieproduktion heraus mit ihrem Zeittakt, mit dem System der Arbeitsteilung und der Schichtarbeit ergeben. Neben Dampfpfeife und Steckuhr waren öffentliche Uhren und schließlich die Verbreitung individueller Taschen- und später Armbanduhren dabei hilfreich.8 Das Aufkommen des Films als einer weiteren Möglichkeit der Sichtbarmachung von Zeit und der Zeiterfahrung steht auch in diesem Zusammenhang. Schon der ganz frühe Film kennt nicht nur das Problem des möglichst normiert gleichförmigen Zeitablaufs – des Gleichmaßes und der Gleichförmigkeit der Kurbelbewegungen des Operateurs nämlich. Er spielt auch mit seiner eigenen Zeitbasiertheit und Zeitgebung, etwa mit der Punktualisierung von Zeit und der Umkehr des Zeitpfeils bei den Lumières, mit Beschleunigung und Zeitachsenmanipulationen bei Méliès. 7 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild (=Kino, Bd. 1), Frankfurt a.M. 1989; Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a.a.O. 8 Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur, Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980, S. 427-430; S. 541ff.

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Der nächste Schub der Zeitnormung – nämlich die Ausdehnung des Geltungsbereichs einer verhängten und operablen Normzeit im Raum, über den engeren Einzugsbereich etwa der Fabrik hinaus – wurde mit dem Aus- und Umbau des Transportsystems und namentlich der Eisenbahn notwendig. Zur Koordination der Transporte bedurfte es eines Nachrichtenmittels, das schneller war als das schnellste Transportmittel. Dies war die Telegraphie, später die Telephonie. Mit der Intensivierung des Verkehrsgeschehens wurden die Anforderungen an die Fahrplangenauigkeit der Eisenbahn immer größer und betrafen auch immer weitere Teile der Bevölkerung. Deshalb breiteten sich seit den 1920er Jahren sogenannte Normalzeitsysteme aus, Uhren, die von einer zentralen Einheit aus über Telegraphenkabel miteinander synchronisiert wurden. Sie wurden zunächst von den Firmen angeboten, die große Telephonanlagen erstellten, und fanden Abnehmer in den großen Wirtschaftsunternehmen, die eine interne Zeittaktung benötigten. Später dann eroberten sie, und zwar ausgehend von den Bahnhöfen, wo sie bis heute zu sehen sind, den öffentlichen Raum.9 Und parallel genau dazu ist die enorme Ausbreitung fester Lichtspielhäuser und die Ausbildung einer mehr oder weniger verbindlichen kinematographischen Zeitordnung zu sehen, die festlegt, wie fi lmisch Zeit und Raum in Ergänzungs- und wechselseitige Ersetzungsverhältnisse einzurücken sind und die ein unmerkliches, selbstverständliches Normerleben fi lmischer Zeit durchsetzt. 10 Die Vorbereitung und Führung des Zweiten Weltkriegs durch Nazideutschland jedoch verlangte nach einer deutlichen Effizienzsteigerung nicht nur der Industrieproduktion, sondern der militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtlogistik. Der berüchtigte Autobahnbau steht dafür, aber nicht weniger die schreckliche Logistik der Deportation, eisenbahngestützt und in einem riesigen geographischen Raum operierend. Und zum Transportsystem kam zunehmend der Nachrichtenverkehr hinzu, der aus militärischen, aber nicht weniger aus machttechnischen Gründen verschärfte Zeitnormung sowohl benötigte wie realisierte. Es ist daher völlig folgerichtig, dass ausgerechnet die Frankfurter Firma »Telefonbau und Normalzeit« zu den ersten Firmen gehörte, die schon ab 1933 durch massive Boykottmaßnahmen der staatlichen Auftraggeber unter Druck gesetzt wurden. Die antisemitische Steuergesetzgebung gab der Finanzverwaltung schließlich die Möglichkeit, die jüdischen Eigentümer entschädigungslos aus dem Unternehmen zu drängen und »Telefonbau und Normalzeit« schließlich 1938 abschließend zu »arisieren«. Nach Übernahme durch Thyssen errichtete sie dann das reichsweite öffentliche Netz 9 Ebd., S. 430ff. 10 Ebd., S. 438f.

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von Normalzeituhren, 11 das wir im Prinzip heute noch kennen. Genauso wichtig war die Einsetzung des Radios als Synchronisierungsmedium der Kriegsgesellschaft, das die temporale Punktgenauigkeit und ihre instantane Ausbreitung in immer weiteren Räumen, deren seine Wirkung bedurfte, selber durch Zeitsignale, Programmschema und Nachrichtentakt erst erzeugte. Aber das Zeitregime des Krieges fungierte nicht nur im Mikrobereich der Zeitsignale über öffentliche Uhren und über das Radio. Auch im Makrobereich und in der Zeitsemantik generierte es eigene Formen. Dies beginnt – um nur kursorisch zu bleiben – mit der Rede von der ›neuen‹ im Gegensatz zur ›alten‹ Zeit. Es setzt sich fort mit dem Motiv der Beschleunigung, der Intensivierung, der Anspannung. Hitlers nahezu unausgesetzter Wahlkampf seit Mitte der 1920er Jahre etwa war durch ein ausgeklügeltes Zeitmanagement gekennzeichnet, das ungeheure Beschleunigung voraussetzte. Hitler benutzte als erster und lange Zeit einziger Politiker das Flugzeug, mit dessen Hilfe er innerhalb kürzester Zeitabstände Reden an weit auseinanderliegenden Orten halten konnte, so dass er im Horizont der Zeit den Eindruck der Ubiquität hervorrief. 12 Zugleich beherrschte sein Apparat aber die Manipulationstechniken der Zeitdehnung, des Wartenlassens, des Wiederholens, des rituellen Stillstellens linearer Zeit. Leni Riefenstahls Parteitagsfilm legt über beides erschöpfend Zeugnis ab. Kompression und Dilatation, Beschleunigung und Entschleunigung der bzw. in der linearen Zeit gehörten dann verstärkt in den Kriegsjahren zu den Machttechniken der Nazis. Weiter wäre die Ideologie von Schicksal und Auftrag und der Beendigung der Geschichte im ›Tausendjährigen Reich‹ zu nennen. Der Krieg selbst – im von Ludendorff ererbten Konzept des ›Totalen Krieges‹ als Sinnhorizont der Gesellschaft gefasst 13 – beruht auf einer Zeitparadoxie, nämlich derjenigen des einerseits zeitlich in seiner Ereignis- und Geschehensdichte komprimierten und zudem wiederum in der Zeit begrenzten Ausnahmezustands als – andererseits – dennoch andauerndem Normalzustand kriegerischer Kollektivexistenz. Dies 11 Susanne Meinl/Jutta Zwilling: Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen, Frankfurt a.M. 2004, S. 103-106. 12 Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a.M. u.a. 1973, S. 444f., S. 542. 13 Erich Ludendorff: »Das Wesen des totalen Krieges«, in: Ders.: Der totale Krieg, München 1937; Hans Ulrich Wehler: »›Absoluter‹ und ›Totaler‹ Krieg. Von Clausewitz zu Ludendorff«, in: Günter Dill (Hg.): Clausewitz in Perspektive. Materialien zu Carl v. Clausewitz ›Vom Kriege‹, München u.a. 1980, S. 474-510; s.a. Lorenz Engell: Der gedachte Krieg, München 1989, S. 23f.

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konnte funktionieren, so lange die daraus erwachsende Paradoxie in den Raum hinein projiziert werden konnte, nämlich in die Expansionsbewegung des Eroberungskrieges, und wurde entsprechend mit dessen Scheitern problematisch. Die – vermutlich fingierte – Weihnachtssendung 1942 mit dem grausigen Soldatenchor von allen Fronten ist nicht nur eine Synchronisationspropaganda, die Simulation eines einheitlichen Zeit-Raums riesigen Ausmaßes, sondern zugleich das Dokument der Stagnation, das die Normalisierung des Ausnahmezustands erstmals mit einem Zeitindex versieht und als ihrerseits vorübergehend erkennen lässt. All diese Elemente, die Synchronisierung des Zeiterlebens im öffentlichen Raum, die Kompression und Dilatation, Beschleunigung und Verlangsamung, die Herausnahme aus der linearen Zeit, die Parallelführung des räumlich Verschiedenen, verweist auf Zeitgebungstechniken, wie sie, im Film realisiert, im Kino des Bewegungs- und des Aktionsbildes erlebbar waren (und auch heute noch sind). Damit ist natürlich überhaupt nicht gesagt, dass, wie aus den Arbeiten Virilios oder Kittlers vielleicht forsch zu extrapolieren wäre, 14 aus der Zeitstruktur des klassischen Films das Zeitregime der Naziherrschaft und des Totalen Krieges in irgendeiner Weise ableitbar wären, schon gar nicht zwingend. Es zeigt nur, dass das Kino Möglichkeiten bereitstellte und zu einer normalisierten Zeitkonzeption gefunden hatte, derer sich, auf seine Weise, auch das Zeitregime des Krieges und der Vernichtung bedienen und vor deren Hintergrund es sich entfalten konnte. Dazu gehörte etwa auch, sehr konkret, die in allen klassischen Filmkulturen übliche, heute aber nicht mehr praktizierte Trennung in Wochenschau und Hauptfi lm, in der die Synchronisierungsleistung nach außen, die Herstellung von Aktualität, die Verdichtung, die Beschleunigung und der Ausnahmezustand von der Wochenschau, die Dilatation dagegen, die Synchronisierung nach innen, die Herausnahme aus der Außenzeit, die Normalisierung und vorübergehende Sistierung der Ausnahme als Ausnahme vom Ausnahmezustand vom Hauptfi lm geleistet werden konnten. Eine genauere Analyse der Zeitstrukturen in Nazispielfi lmen ist mir nicht bekannt, aber es scheint bezeichnend, dass die ja sehr umfangreiche Normalproduktion an Spielfi lmen insbesondere der Ufa sich keineswegs durch ein bemerkenswertes oder raffiniertes oder innovatives Zeitspiel auszeichnete, sondern, ganz im Gegenteil, eine unauff ällige fi lmischklassische Normalität und damit den unausdrücklichen Fonds, gleichsam den Rohstoff der forcierten Temporalisierung der Kriegs- und Gewaltherrschaft, in aller Ruhe reproduzierte. Und genau mit diesem Fonds temporaler Normalität wird sich dann 14 Paul Virilio: Krieg und Kino. Die Logistik der Wahrnehmung, München 1986; Friedrich Kittler: Film Grammophon Typewriter, Berlin 1985.

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nach dem Krieg der moderne europäische Autorenfilm, beginnend mit dem italienischen Neorealismus, auseinandersetzen; genauer: er wird ihn auseinandernehmen. Film wird sich dann als mögliche temporale Erfahrungsform und namentlich als Raum zeitlicher Reflexion jenseits der Normalzeit und im Gegensatz zu ihr ausprägen und anbieten. Und noch später, im Film seit den 1990er Jahren, wird wiederum dieser andauernde Gegensatz zwischen einem fortgeführten filmischen Normalzeitregime und einem modernen Zeitbildverständnis zurücktreten und der Möglichkeit eines neuen Konzepts jenseits der Differenz zwischen der Normform des klassischen Bewegungsbildes und dem Aufbruch des modernen Zeitbildes Platz machen.15 Diese Überschreitungs- und Komplexionsbewegung des Gegenwartsfilms und seines Temporalregimes ist hier aber nicht unser Thema. Denn der Film, um den es hier geht, Helmut Käutners Unter den Brücken von 1944/45, steht nicht für die Operation der Reflexion, wie der moderne Film des Zeitbildes, oder gar der Komplexion, wie das Kino der 1990er Jahre. Er überschreitet nicht und paradoxiert nicht das Normalschema der kinematographischen Zeitgebung. Dennoch entzieht er sich der Geltung dieses Schemas, und zwar, indem er es unterschreitet oder unterläuft, indem er zurückgeht auf ein Nullniveau der Zeitlichkeit, eine Nullstellung des Zeitregimes. Auch dieser Film verweigert sich also dem Gegensatz des Klassischen, Normzeitlichen und des Modernen, Normzeitverletzenden oder Normzeiterweiternden im Film, aber er leistet dies eben durch die Herstellung einer Nicht-Zeit oder Nullzeit. Er ist darin ein bemerkenswertes und nicht zu unterschätzendes Dokument von seltener Zeitlosigkeit. Schon in seiner Produktions- und Rezeptionsgeschichte beginnt das Herausfallen dieses Films aus der Zeit, zunächst also einmal: der äußeren Zeit. Anders als für andere Filme der Zeit wurden die Dreharbeiten nicht in tatsächlich oder vermeintlich sicheres Gebiet verlegt, etwa nach Prag. Die Arbeiten begannen, Zufall, genau am 8. Mai 1944, also exakt ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und zogen sich bis Ende Oktober hin. 16 Erst im März 1945 war die Montagefassung fertig, wurde der Zensurbehörde vorgelegt und von ihr genehmigt. Zur Auff ührung gelangte der Film aber nicht mehr. Im Zuge der sowjetischen Machtübernahme wurden die schon gezogenen Kopien sowie das Originalnegativ vernichtet. Die einzige bekannte Kopie, die erhalten blieb, fand sich nach dem Krieg 15 Oliver Fahle: Bilder der Zweiten Moderne, Weimar 2005 (=serie moderner film, Bd. 3); vgl. a. Lorenz Engell: Bilder der Endlichkeit, Weimar 2005 (=serie moderner film, Bd. 5), S. 174-182. 16 Hans-Jürgen Tast: Helmut Käutner »Unter den Brücken«, Schellerten 2007 (=visuelle kommunikation, 13), S. 13f., S. 24f.

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in Schweden wieder, ohne dass genau geklärt werden konnte, wie sie dort hingelangt war. Von ihr wurden dann Vorführkopien, sogenannte ›Lavendelkopien‹, gezogen. Am 1. September 1946 dann erlebte der Film seine Urauff ührung auf dem Festival von Locarno, wo er Aufsehen erregte, aber keinen Preis gewann. Auf die Kinoleinwand schließlich kam er erst nach erneutem, längerem Wartestand, am 15. Mai 1950 wurde er in Göttingen erneut uraufgeführt und blieb in Westdeutschland ein bescheidener Erfolg. Das Publikum, für das er gemacht wurde, gab es nicht mehr. Genauer, der Film wendet sich an ein Publikum, das es nie gab, das 1945 noch nicht und 1950 nicht mehr da war. Eine Propaganda- und Indoktrinationsabsicht hängt ihm ohnehin in keiner Weise an, was im Vergleich zu anderen Spätproduktionen des ›Dritten Reiches‹, namentlich mit Veit Harlans etwa zeitgleich gedrehten Film Kolberg, deutlich wird. Es handelt sich aber, darin ist Knut Hickethier Recht zu geben, auch nicht um eine Ablenkungs- und Evasionsintention. 17 Insofern er nichts glauben machen will, wendet sich unser Film überhaupt nicht an Zuschauer. Käutner propagiert nichts und verdeckt nichts. Vielmehr stellt er etwas Anderes neben das, was es ohnehin schon gibt. Unter den Brücken spielt in der Situation des tiefsten Friedens, nichts, aber auch gar nichts lässt auf den Krieg schließen. Dennoch handelt es sich keineswegs um einen vorgetäuschten, illusorischen oder imaginären Frieden, sondern vielmehr um einen virtuellen und insofern realen Frieden. Es handelt sich hier zweifellos um den ersten Nachkriegsfi lm, nicht obwohl, sondern weil er als Nachkriegsfi lm noch mitten im Krieg gemacht wird. Er zeigt den Frieden von, sagen wir, 1950, als zukünftigen Zustand des Jahres 1944 und zurückprojiziert auf dieses Jahr, also in genau der Form, die er, um ein Wort Alexander Kluges abzuwandeln, im Jahre 1944 als virtueller Frieden besaß. 18 Erneut kann ein Vergleich mit Kolberg Aufschluss über diese zirkuläre Zeitstruktur geben. Harlans Durchhaltefi lm, der die Belagerung von Kolberg im napoleonischen Krieg zum Anlass nimmt, den Widerstandswillen einer kämpfenden Bevölkerung zu feiern, wurde in Berlin und in der damals umkämpften Festung La Rochelle uraufgeführt. Aber es ist zu spät. Der Durchhalteappell ist schon wieder veraltet, denn der Krieg ist virtuell längst vorbei, obwohl er noch aktuell andauert. Kolberg ignoriert das und hält also am Krieg noch jenseits des Krieges fest. Genau umgekehrt verhält es sich hier: Der Film zeigt die virtuelle Realität der Nachkriegszeit, jedenfalls aber in einem historischen Niemandsland, das 17 Knut Hickethier: »Unter den Brücken«, in: Reclams Film Klassiker, Bd. 1, Stuttgart 1995, S. 522-526, hier S. 523. 18 Alexander Kluge/Oskar Negt: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M. 1981.

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zwischen aktuellem Krieg und virtuellem Frieden aufgespannt ist. Er entwickelt auch, anders als der werdende italienische Neorealismus, durchaus kein ästhetisches Programm für den kommenden Friedensfi lm, keine Handlungsanleitung zu seiner Erstellung. Es handelt sich nicht um einen Film für den Frieden oder über den Frieden, sondern um Film als Frieden. 1944 war dieser Film-Frieden vollkommen kontrafaktisch; er kann die Realität des Krieges keinesfalls löschen und nicht einmal ausblenden. Er steht vielmehr daneben, und bezieht aus diesem Daneben seine gesamte Charakteristik. Und 1950 dann, als er in die Kinos kam, war der Frieden zwar Fakt, aber gerade deshalb nicht mehr die virtuelle, sondern die aktuelle Wirklichkeit seiner Zeit; und deshalb sah dieser Frieden auch ganz anders aus als das, was wir hier sehen. Filmhistorisch gesehen erzählt Unter den Brücken nicht die Geschichte von Anna, Henrik und Willy, sondern er verhandelt anhand dieser Geschichte die Möglichkeit eines Nachkriegsfilms. So ist er als ein von seinen Produktions- und Rezeptionsbedingungen zwar alles andere als unabhängiger, aber sehr weitgehend abgelöster Film zu betrachten. Man könnte sogar sagen, dass der ganze Film als eine reine fi lmische Situation zu werten ist, 19 in einem Moment, wo reguläre Produktion und Rezeption von Filmen, wo Wahrnehmungs- und Reaktionsschemata auch im Sinne von Film als Ursache – wie beim Propagandafilm – und Film als Wirkung – wie beim realistischen Film – aussetzen. Insofern kann man hier von einem sehr frühen Beispiel eines autonomen Films sprechen. Was aber berechtigt uns, Unter den Brücken in dieser Weise von den Evasions- und Illusionsfilmen der Zeit abzuheben und ihm den Status als »virtuelle Realität« zuzusprechen? Unser Film zeigt ein abweichendes Zeitverhalten und praktiziert eine abweichende Zeitgebung insofern, als er sich gegen die Annahme wendet, dass die Zukunft etwas sei, was nach der Gegenwart eintrete. Wohlgemerkt, bei vollem Erhalt einer streng linearzeitlichen Erzählweise, freilich stark verlangsamt, an einer einzigen Stelle durch eine Rückblende unterbrochen, breitet er trotzdem beständig die Zukunft in der Gegenwart aus. Ein erster Hinweis darauf fi ndet sich schon, ganz makroskopisch, in der Dramaturgie des Films. Nach der etwa 15-minütigen Exposition beginnt die Haupthandlung mit einer Abmachung der beiden Helden: derjenige, der die Frau, Anna, für sich gewinnt, soll zum Ausgleich den bislang gemeinsam betriebenen Schleppkahn verlassen. Der Einlösung dieser Abmachung widmet sich nun der Rest des Films, aber die Lösung besteht eben nicht darin, die Entscheidungssituation aufzulösen, sondern sie auf Dauer zu stellen: schließlich fahren, fast wie bei Lubitsch, alle drei auf dem Kahn davon, und wechselnde Liaisons 19 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a.a.O., S. 12ff.

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sind nicht ausgeschlossen. Die Ausnahme wird Normalität. Die Zukunft, auf die hin die Gegenwart sich orientiert und bezieht, ist am Schluss die andauernde Gegenwart. Der Ausschluss der Alternativen wird durch ein Zugleich des Verschiedenen eingeholt. Und genau dieses Prinzip, das Verschiedene nicht mehr im Nacheinander, sondern im Zugleich anzuordnen und damit die lineare Normzeit und Normerwartung auszusetzen, findet sich auch in der mikroskopischen Struktur des Films wieder. Sie vor allem ist es, die uns berechtigt, hier von einem ganz eigenen Zeitregime zu sprechen. Sie leistet dies, indem sie die Linearzeit in die Bilder, in die Bild- und Lichträume, hineinholt und hier flächig nebeneinander in einer gemeinsamen Bildgegenwart anordnet. Während sie als bewegte Bilder verfließen, stellen zahlreiche Einstellungen dieses Films dennoch die Zeit auf Null. Und insofern Gleichzeitigkeit stets im Raum fungiert, ja der Raum im Sinne Leibniz’ als »ordo coexistendi«, als Form der Ordnung und Anordnung des Gleichzeitigen angesprochen werden kann, entfaltet Käutner die nullstellende Gleichzeitigkeit des Gegenwärtigen und des Zukünftigen als Ordnung im fi lmischen Bildraum. Wie ist das Raumregime von Unter den Brücken beschaffen, und inwiefern ist das im Raum Angeordnete hier als Zeit, nämlich als Zukunft in der Gegenwart, zu fassen? Der Film beginnt mit einer Fahrt auf dem Kanal unter mehreren Brücken hindurch. Während der Unterquerung wird die Leinwand jedes Mal dunkel, und die Buchstaben des Vorspanntitels sind zu sehen; wenn die Brücke wieder aus dem Bild gerät, verschwinden die Buchstaben wieder gegen den hellen Himmel. Der den Film begründende Gegensatz von Licht/kein Licht (oder von Hell und Dunkel) wird als Eigenrealität des Films thematisiert. Hell und Dunkel sind dabei aufeinanderfolgende, zeitlich im Nacheinander angeordnete Phasen, anders als etwa im Schlagschatten oder im Jalousienbild. Auf das Dunkel folgt das Hell und umgekehrt. Im weiteren Verlauf, in den Anfangsteilen des Films, folgen immer wieder diese Unterquerungen. Aber die Abfolge von Hell und Dunkel wird dabei zunehmend unterlaufen. Das Wasser reflektiert dann nämlich, anders als im Vorspann, das Himmels- und Sonnenlicht und projiziert es auf die Unterseite der unterquerten steinernen Brücke. So wird die zeitliche Abfolge von Hell und Dunkel in ein Hineinspiegeln des jeweils Späteren ins Frühere oder umgekehrt, des Früheren ins Spätere verwandelt. In weiteren Einstellungen wird dann auf die Verifi kation, gleichsam auf den Gegenschuss, ganz verzichtet: wir sehen nicht mehr den Himmel nach dem Dunkel der Durchfahrt, auch das reflektierende Wasser nicht, sondern nur die Projektion auf der Unterseite der Brücke, ohne Vorher und Nachher. Es geht aber nicht nur um Hell und Dunkel. Mit der gewählten Grundanordnung verbindet sich mehr, etwa die ganz basale räumliche Ordnung 81

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von Oben und Unten sowie von Innen und Außen. Das Schiff der beiden Helden schwimmt auf dem Wasser. Oben auf den Brücken stehen die Frauen, und über diesen wiederum wölbt sich ein weiter Himmel, der als Wolkenlandschaft immer wieder in einem Gegensatz zur Wasserlandschaft ins Bild gesetzt wird und überdies – ganz ähnlich wie nahezu zeitgleich beim frühen Kurosawa, aber auch bei Stayajit Ray anzutreffen – in narrativ ganz funktionslosen und unverknüpft eingefügten Einstellungen gezeigt wird. Dass sich mit dem Licht und dem Himmel die Vorstellung von Zukunft verbindet, wurzelt nicht nur in der Tiefe der europäischen Metapherngeschichte. Es wird bei Käutner auch ganz einfach narrativ aufgeführt. Die beiden Schiffer, Henrik und Willy, halten nach den Frauen Ausschau, besprechen dabei Zukunftspläne und deren Aussichten. Der Blick hinauf ins Licht wird als Blick in eine mögliche oder eben unmögliche Beziehungszukunft eingeführt. Und hinzu kommt die Fahrtrichtung des Schiffes, die die Blickrichtung der Schiffer bestimmt als vorausgerichtet. Das wird verstärkt durch den Bootsring, durch den die Kamera den Blick nach oben wie durch ein Zielfernrohr lenkt. Zu den Frauen wird nicht nur auf-, sondern eben signifi kant vorausgeschaut, nur gelegentlich und um eine Episode einzubinden aber geht der Blick zurück. Noch in der berühmten Lockenszene im späteren Verlauf des Films wird wie in einer Miniatur des Gesamtbilds der Blick hinauf ins Gesicht der Frau inszeniert und mit gleichsam angehaltener Zukunft aufgeladen: Hendrik, dem die Hände gebunden sind, muss dem Drang widerstehen, Annas ins Gesicht hängende Locke ›wegzupusten‹. Das Schema wird dann angereichert durch die Wiederaufnahme des Hell-Dunkel wiederum als Zeitschema, nämlich der alternierenden Tagund Nachtsequenzen, sowie durch die Unterscheidung von Szenen an Bord des Schiffes und Szenen an Land. Diese Strukturstücke lassen sich zunächst, in der Exposition des Films, relativ leicht sortieren. Auf der einen Seite wird die Zukunft aufgeführt als Licht, Himmel, Tag und Oben; und besetzt mit der Figur der Frau. Auf der anderen Seite fungiert die Gegenwart mit Dunkel, Wasser, Nacht und Unten, besetzt mit der Figur des Mannes. Schiff und Brücke bilden die Zwischen- und Verbindungsglieder, die das Schema zusammenhalten. Zunächst, in den Anfangsteilen des Films, erscheint das in der zeitlichen Abfolge der fi lmischen Einstellungen gerade nicht Sichtbare als das Folgende, Andere; das Sichtbare aber als das Gegenwärtige, Eine. Insofern bleibt die zeitliche Ordnung intakt, aber sie wird bereits hier in eine eigenartige Schwebe gebracht, denn Früheres und Späteres können die Plätze tauschen: Der Blick in die Wolken kann demjenigen hinunter auf das Deck des Schiffes vorausgehen oder aber nachfolgen. Himmel und Wasser markieren die Horizonte; Schiff und Frau die Zonen der Handlung oder der Realität und die Brücke die Differenz zwischen 82

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ihnen. So wird zweierlei Realität konstruiert: Die Welt der Draufsicht, des Überblicks, der klar erkennbaren Handlung, der Konturen und Umrisse, in der es z.B. Wege und Ziele gibt; und die Welt der Untersicht, die dem Einzelding gilt, den Zuständen, den Reflexen und Lauten (sinnliche Primärdaten), man könnte auch sagen: die Welt als Szene (für Handlung) und die Welt als Bühnenmaschinerie (für Illusionen). In diese klare Ordnung hinein werden nun im folgenden Verlauf Komplikationen gelegt, das genau ist die Handlung des Films: Ausgehend von der Durchbrechung einzelner Differenzen des Raumschemas, setzen sich die Verkehrungen und neuen Spaltungen fort; und jedes Mal kehrt genau das, was ausgeschlossen wurde, das jeweilige Andere, in dem Einen wieder, so dass sich die raumgebende Grunddifferenz im Bild wiederholt. Ein Beispiel dafür geben erneut die Brücken. Wie wir schon gesehen haben, erscheinen sie in der Untersicht als Reflex des Himmelslichts. Im weiteren Verlauf des Films sehen wir immer häufiger Brücken, die, in der Draufsicht von oben gefi lmt, vor allem als Tragwerke, als Konstruktionen, auch als visuelle Muster und Raster sichtbar gemacht werden. Hier also wird der Blick von unten, der normalerweise die verborgene, detailreiche und technische Seite der Dinge zu Tage fördert, die Maschinerie also, ganz im Gegenteil dazu als Blick auf die Weite des Lichtraums eingeführt, der Blick von oben jedoch, normalerweise als Ordnungs- und Überblicksschema geführt, gehört dem verwirrenden, ebenso technischen wie ornamentalen Detail. Die Ankunft der Frau auf dem Schiff und damit der Zukunft in der Gegenwart ist das plakativere Beispiel, sie wird von der Brücke, ihrem systematischen Ort, bei Nacht auf das Schiff geholt. Nun wiederholen, vervielfachen und brechen sich die Ausgangsdifferenzen. Es kommt etwa der Gegensatz von Schiffsdeck und Schiffsinnerem hinzu, die Verdoppelung des Oben-Unten- und Hell-Dunkel-Schemas. Das geht mit Umkehrungen einher: in der langen Sequenz kommt das Licht nun von unten, aus der Schiffskajüte. Es kommt die sehr wichtige Differenz zwischen dem Hörbaren und dem Sichtbaren hinzu, die Thematisierung des Geräuschs. Anna kann nachts wegen der seltsamen Geräusche auf dem Kahn nicht schlafen. Während der Blick in den Anfangssequenzen stets voraus geht und von dem handelt, was auf uns zu kommt, in Fahrtrichtung, geht der Hörsinn, der sich hier präzise im Dunkeln durchsetzt, richtungslos in den gesamten Umraum und handelt von der synchronen Präsenz dessen, was wir vielleicht im Dunkeln gar nicht oder doch nur im Nacheinander – im Umschnitt nämlich – sehen können. Die Zuordnung des Lichts zur Sichtbarkeit und zur Zukunft wird durch diese Gegenüberstellung mit dem Akustischen also weiter verstärkt. Gleichzeitig wird im Zugleich der Verschiedenheit von Ton und Bild das Nebeneinanderbestehen der Gegenwart 83

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und der Zukunft ausgeführt. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Eisenbahngeräusche: Die Eisenbahnen fahren stets oben über die Brücken, ihr Geräusch dringt bis tief in die Schiffskajüte und artikuliert hier das Oben und Außen, speziell in einer Einstellung, in der zugleich aus der Untersicht heraus das Glasdach der Kajüte zu sehen ist, das durchscheinend ist, aber nicht durchsichtig. In Annas Wohnung in Berlin setzt sich das fort, die Eisenbahngeräusche bringen das Außen ins Innere. Auch die mit romantischen Absichten verknüpfte Kahnpartie auf dem See im Park verdoppelt später, gleichsam als Miniaturausgabe, als Replikation der Filmkonstruktion im Ganzen, noch einmal die Grunddichotomien von Unten und Oben, Wasser und Land, Hellen und Dunklen. Wie für ein Spiegelbild verbindlich sind aber hier die Seiten dann vertauscht: die Überblendungen bringen hier Rückblicke und legen Vergangenheit und nicht Zukunft in die Gegenwart hinein. Mit dem Eintreffen Annas an Bord verschiebt sich auch der Gegensatz zwischen Wasser und Land, den ja schon das Schiff, aber auch die Brücke überbrücken: Das vom Wasser unterschiedene ›Land‹ nämlich zerfällt jetzt noch einmal in den Gegensatz von Land und Stadt. Dabei wird die Stadt hier konsequent in einer bemerkenswerten Sequenz eingeführt als reine Bildkonstruktion. In einer Kette kurzer Überblendungen wird der – wie zufällig aufgenommene – Schiffsname ›Berlin‹ unter kurze Einstellungen von Berliner Brücken, Kaianlagen, Kränen und Industrieszenen gelegt. Kommt dem Land also eine kohärente – auch im hier für uns wichtigen temporalen Sinne kontinuierliche – Wirklichkeit zu, tritt die Stadt nur als diskrete und wie sich bald zeigt, auch im zeitlichen Sinne unterbrechende und unterbrochene Bildkonstruktion auf. Man mag hier einen Reflex darauf sehen, dass im Sommer 1944 die Havellandschaft noch einigermaßen intakt und vorhanden war, Berlin dagegen schon nicht mehr. Zugleich haben wir es aber erneut mit einer Anknüpfung an tradierte Zuschreibungen zu tun. Traditionell wird der Gegensatz von Land und Stadt oft begriffen als derjenige von Natur und Kultur; vom Gewordenen und Gemachten, vom Ursprünglichen und vom Abgeleiteten, vom Naiven und Raffi nierten. Und mit der Stadt wird normalerweise – also in der Normzeit – auch die Zukunft, mit dem Land hingegen die Zukunftslosigkeit, bestenfalls die Zeitlosigkeit, assoziiert. Diese Normansicht gilt natürlich zunächst auch hier, denn Anna, Henrik und Willy werden als Fremde vom Land in der Stadt platziert. Alsbald aber zerfällt wiederum die Stadt in zwei Aspekte Es werden zwei Realitäten der Stadt gezeigt: nämlich die Industrie einerseits und die Kultur andererseits; die Ankunft des Schiffes und seiner Besatzung artikuliert und produziert diesen neuen Gegensatz. Dabei erscheint die Kultur, und zwar präzise in der Form der Malerei, die in die Erzählung 84

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eingeführt wird, als ein Versuch der Schaff ung von Übersicht, als Produktion eines Übersichtblicks, mit klaren, ordnenden Konturen, mit Umrissen und dramatischen Gesten, wozu insbesondere die seltsam geordneten, leerräumlichen Interieurs des Museums und des Malerateliers beitragen. Dabei erlaubt sich der Film eine sehr deutliche Kritik an dieser Malerei, die ohne Umschweife als Kritik an der Nazi-Ästhetik gelesen werden kann. Dementgegen erscheint die Industrie, der Bereich der Häfen und Kräne, der Hinter- und Wirtschaftshöfe in seiner Detailliertheit und graphischen Ornamentik erneut als Sphäre der Untersicht, die die Bedingungen erst schaff t, auf denen die Formen der Kultur dann aufruhen. Und innerhalb der Stadt – weitere Differenzierung – tauchen dann plötzlich imaginär aufgeladene und doch ganz reale Außenräume auf, unsichtbar bleibend, nur im Dialog genannt, nämlich Schlesien einerseits und Rotterdam andererseits. Sie werden als Orte in der Zeit platziert, denn das Eine steht für die Herkunft, das Andere für die Zukunft, beide werden als ›absolutes Außen‹ zur Präsenz aufgerufen. Ein besonders seltsamer Ort scheint die ebenfalls namentlich bezeichnete Glienicker Brücke zu sein. Als präzise topographierter und photographierter Ort fungiert sie dennoch in einer eher zeitlich bestimmten Topologie: einerseits eine ganze Tagesreise zu Schiff von der Stadt entfernt, andererseits aber offenbar rasch von der Stadt aus zu Lande zu erreichen. Zeit und Raum des Schiffes sind andere als Zeit und Raum des Landes; beide Ordnungen liegen nebeneinander in ein- und derselben Realität, so wie hier eben auch die Ordnung des virtuellen Friedens denselben Raum benutzt wie diejenige des aktuellen Krieges. Fassen wir zusammen: Das Dispositiv von Brücke und Schiff strukturiert die Welt von Unter den Brücken als ein System einfacher Dichotomien wie Oben und Unten, Innen und Außen usw., die sich überwiegend im Raum befinden, die aber die Zeit artikulieren. Oben und Außen werden mit Zukunft, Unten und Innen mit Gegenwart aufgeladen. Der jeweils ausgeschlossene Pol eines Bildes zieht aber im Wege des Reflexes in dieses Bild selber ein, so dass sich eine Logik der Beiordnung und der Gegenwärtigkeit von Gegenwart und Zukunft ausbildet. Jeder Gegensatzpol ist zudem Produkt eines speziellen Blickes, der Obersicht und der Untersicht. Die Obersicht generiert einerseits Übersicht, andererseits aber Figuren und Handlungen und gehört deshalb der linearzeitlichen, in die Zukunft hineinlaufenden Ordnung an, die Untersicht dagegen generiert Wahrnehmungen, Bedingungen und Zustände und gehört deshalb einer präsentischen, zuständlichen Zeitordnung an, die den Ablauf stillstellt. Wiederum liegen beide in ein- und demselben Bild nebeneinander. Fortschreitend bilden sich aus diesem Raumregime durch Iteration und Reflexion weitere Differenzpaare. Die dem Himmel entgegengestellte Erde zerfällt in Was85

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ser und Land, das Land in Land und Stadt, die Stadt in Kulturraum und Industrieraum. Die Brücke selbst und auch das Schiff haben Ober- und Unterseite, Oberdeck und Unterdeck. Hinzu kommen filmspezifische Dichotomien wie Hell und Dunkel oder Ton und Bild, die diesem System eingefügt werden. Sie werden ebenfalls temporalisiert, wenn Hell und Dunkel als lineare Aufeinanderfolge, Ton und Bild als präsentische und lineare Zeit eingeführt werden. Seinen Horizont findet dieser Zergliederungsprozess im Verweis auf ein »absolutes Außen«. Das Nebeneinander zweier Zeiten in ein- und derselben Gegenwart, die dann einmal als virtuelle, einmal als aktuelle gilt, ist bekanntlich für Gilles Deleuze eines der Kennzeichen des modernen Films, und zwar besonders für den Typus des »Kristallbilds«.20 Für ihn kommt dabei allerdings der Relation verschiedener Vergangenheiten zueinander das Hauptaugenmerk zu. Hier dagegen, bei Käutner, geht es um die Zukunft. Für Deleuze ist eine der wichtigsten visuellen Figuren, also eines der Bildmotive, die der Film als Kristallbild bevorzugt durcharbeitet, neben dem Spiegel das Bild des Schiffs. Anhand des Schiffs zeigt der Film, so etwa bei Fellini, demzufolge das Zugleich des Aktuellen und des Virtuellen. Etwa gibt es beim Schiff Oberdeck und Unterdeck, beide benötigen einander, sind gleichermaßen real, aber jeweils füreinander virtuell. Das Schiff unterscheidet, so weiter Deleuze, auch zwischen dem »Reinen« oder »Klaren« und dem »Opaken«. Es hat eine helle, durchsichtige, klare Seite, die meist oben und außen liegt, und eine dunkle, schwer sichtbare Innen- und Unterwelt. Die Außenwelt ist dramatisch, sozial und psychologisch, die Innenwelt dagegen technisch, eine Hervorbringungsmaschinerie, die das Schiff erst funktionstüchtig macht.21 Schließlich hat das Schiff, so Deleuze in einer seiner berüchtigten dunklen Passagen, die Funktion des »Keims« inne.22 Es bewegt sich durch eine weitgehend amorphe, in einem Heider’schen Sinne medienförmige Umwelt 23 – das Wasser des offenen Meeres – und generiert darin Unterscheidungen und mit ihnen und durch sie Perspektiven und Handlungen, die sich dann, so könnte man mit Deleuze zuspitzen, in den weiteren Bildern des Films »auskristallisieren«. Das Schiff wird für Deleuze zum Bild dafür, wie ein Kristallbild entsteht, sich dann vervielfältigt und damit produktiv wird. Und vergessen wir nicht, dass für Deleuze das Kristallbild im Gegensatz steht zum »organischen« Bild. Das »organische« Bild ist stets Abbild einer Außenwirklichkeit, das Kristallbild dagegen nicht, es gehorcht einer reinen Immanenzlogik. Und genau 20 Ebd. S. 95-130. 21 Ebd., S. 102ff. 22 Ebd., S. 105, S. 120-124. 23 Fritz Heider: Ding und Medium (1926), Berlin 2005.

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das scheint hier zuzutreffen, denn Käutners Film reflektiert eben nicht die Außenrealität des Jahres 1944, auch nicht in der Form der Ablenkung von ihr. Besonders in Hinsicht auf die Zeitstruktur entzieht er sich der normzeitlichen Alternative von beschleunigter, intensivierter Kriegszeit und gedehnter, unauff älliger Fiktionszeit sowie der Paradoxie ihrer wechselseitig einander gewährten Ausnahmestellung. Seine Nullstellung der Zeit ergibt sich allein aus den Bild- und Erzählordnungen, seine Realität kommt aus einer anderen Zeit in den Film hinein. Käutners Film unterscheidet sich von der deleuzianischen Konzeption des Kristallbildes dennoch in mindestens dreierlei Hinsicht. Zum Ersten kommt er für das deleuzianische Evolutionsschema des Films viel zu früh. Er gehorcht diesem ja seinerseits durchaus normalisierenden Evolutionsschema nicht und kann auch, mangels nachhaltiger Wirkung, nicht als Vorgängerfi lm einer Schule, vergleichbar etwa Viscontis Ossessione eingestuft werden. Das könnte Anlass geben, überhaupt noch einmal neu und kritisch über Deleuzes ja recht gut rezipierte Zweiteilung der Filmgeschichte in die klassische und die moderne Phase nachzudenken. Zum Zweiten, das haben wir schon versucht deutlich zu machen, geht es hier nicht um die synchrone Anordnung von Vergangenheiten und Gegenwarten und auch nicht um ein »konjunktivisches Erzählen«, das mehrere kompossible Wirklichkeiten zur Auswahl stellt 24 . Vielmehr sind es hier Gegenwart und Zukunft, die einander in einem, soweit ich sehe, in seiner Zeit singulären Verfahren beigestellt werden. Und zum Dritten ist es kein Zufall, dass Käutner seinen Film Unter den Brücken nennt und nicht »auf den Schiffen«. Denn da, wo Deleuze mit dem Bild des Schiffs operiert, zieht Käutner eben die Brücke heran. Die Brücke ist es erstens, die, wie wir anhand der räumlichen Basisordnung gesehen haben, Bereiche voneinander scheidet, die dann jeweils füreinander das Virtuelle sind, und zwar im Sinne des einander Bevorstehenden, Zukünftigen; jedes Bild ist die Zukunft des anderen Bildes. Die Brücke trennt zweitens das Helle vom Dunklen und das Undurchlässige vom Transparenten. Sie erscheint einmal als durchsichtige und durchlässige Gitterkonstruktion, insbesondere dem Blick von unten nach oben, unter die Röcke der Frauen und auf die Unterseite der Eisenbahnen, aber auch der Handreichung hinauf, wenn die Handtasche durch das Gitterwerk nach oben gereicht wird. Ein anderes Mal erscheint sie aber als undurchsichtig, als geschlossene Projektionsfläche für die Wasserreflexe. Sie dient dabei jeweils als Medium, das etwas Anderes erscheinen lässt, einmal im Wege 24 Kay Kirchmann: »Philosophie der Möglichkeiten. Fernsehen als konjunktivisches Erzählmedium«, in: Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hg.): Philosophie des Fernsehens, München 2005, S. 157-172.

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der Durchsichtigkeit, einmal im Wege der Undurchlässigkeit. Schließlich ist es hier die Brücke, die als Keim der Vervielfältigung der Differenzen eingesetzt wird. Sie fungiert in einer eigenen Zone in einer zunächst amorphen Umwelt, aus der sie Himmel und Wasser heraustrennt, dann auch Wasser und Land und verschiedenerlei Land. Deleuzes Schiff, ob bei Fellini, bei Herzog oder als »Titanic«, geht schließlich regelmäßig unter. Das ist die fi lmisch normale Abweichung von der Normalität des Schiffes. Die beiden Seiten, die einander immer wieder entsprechen und brechen, explodieren oder versinken, und zurück bleibt das Amorphe, das Meer, der Wasserfall bei Herzog und allenfalls das riesige Nashorn bei Fellini. Ganz anders und doch vergleichbar ist es hier: Auch hier siegt mit den abschließenden – wenngleich nur kurz aufscheinenden – weiten Landschaftsaufnahmen vom Himmel mit den Wolken und der Erde mit den Wasserflächen die offene Landschaft der Elemente, also das Amorphe, Ungegliederte. Die Durchfahrten unter Brücken aus dem Vorspann wiederholen sich nicht. Ein normgerecht abnormer Untergang aber findet im Film eben nicht statt, weil er ja zeitgleich in der Realität außerhalb des Films stattfindet. Mitten im realen Untergang bleibt hier aber der Bezug auf ein immer schon anwesendes Außen und Anderswo erhalten, auf ein Offenhalten der Situation, auf eine Zukunft als virtuelle Realität in der aktuellen Wirklichkeit. Es gibt keinen Untergang, aber auch kein Entweichen, kein Entrinnen, sondern ein Innewerden der Zukunft.

Literatur Butis Butis (Hg.): Stehende Gewässer. Medien der Stagnation, Berlin 2007. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild (=Kino, Bd. 1), Frankfurt a.M. 1989. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild (=Kino, Bd. 2), Frankfurt a.M. 1991. Elias, Norbert: Über die Zeit, Frankfurt a.M. 1984. Engell, Lorenz: Der gedachte Krieg, München 1989. Engell, Lorenz: Bilder der Endlichkeit, Weimar 2005 (=serie moderner fi lm, Bd. 5). Fahle, Oliver: Bilder der Zweiten Moderne, Weimar 2005 (=serie moderner fi lm, Bd. 3). Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a.M. u.a. 1973. Heider, Fritz: Ding und Medium (1926), Berlin 2005. Hickethier, Knut: »Unter den Brücken«, in: Reclams Film Klassiker, Bd. 1, Stuttgart 1995, S. 522-526.

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Kirchmann, Kay: »Philosophie der Möglichkeiten. Fernsehen als konjunktivisches Erzählmedium«, in: Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hg.): Philosophie des Fernsehens, München 2005, S. 157-172. Kittler, Friedrich: Film Grammophon Typewriter, Berlin 1985. Kluge, Alexander/Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M. 1981. Ludendorff, Erich: »Das Wesen des totalen Krieges«, in: Ders.: Der totale Krieg, München 1937. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998. Meinl, Susanne/Zwilling, Jutta: Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen, Frankfurt a.M. 2004. Nanz, Tobias: »Das Meer von Versailles«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Stadt, Land, Fluß – Medienlandschaften (=Archiv für Mediengeschichte, Bd. 7), Weimar 2007, S. 75-82. Panofsky, Erwin: »Stil und Medium im Film« (1947), in: Ders.: Stil und Medium im Film und die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Frankfurt a.M. 1999, S. 19-58. Tast, Hans-Jürgen: Helmut Käutner »Unter den Brücken«, Schellerten 2007 (=visuelle kommunikation, 13). Wehler, Hans Ulrich: »›Absoluter‹ und ›Totaler‹ Krieg. Von Clausewitz zu Ludendorff«, in: Günter Dill (Hg.): Clausewitz in Perspektive. Materialien zu Carl v. Clausewitz ›Vom Kriege‹, München u.a. 1980. Virilio, Paul: Krieg und Kino. Die Logistik der Wahrnehmung, München 1986. Wendorff, Rudolf: Zeit und Kultur, Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980.

Filme Kolben (1945, D, R: Veit Harlan) Unter den Brücken (1944/1945, D, R: Helmut Käutner) Ossesione (1943, J, R: Luchino Visconti)

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Attr ibute des Jüdischen im deutschen Nachkr iegsfilm : Zur Etikettierung des Anderen nach dem Holocaust Ingo Loose

In der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und der Shoah hat der Nachkriegsfi lm in beiden deutschen Teilstaaten verschiedene Phasen durchlaufen, in denen Filme die gesellschaftliche Debatte das eine Mal mitgetragen oder gar initiiert haben, das andere Mal jedoch das Fehlen von Filmproduktionen Ausdruck der Verdrängung der NS-Thematik war. Von dieser Ambivalenz künstlerischer Freiheit und Marktkonformität waren und sind nicht zuletzt auch die praktischen Mittel und Möglichkeiten abhängig, sich mit im weitesten Sinne des Worts Tabuthemen auseinanderzusetzen, wozu die Shoah und allgemein der Antisemitismus – ungeachtet ihrer medialen Präsenz insbesondere in den letzten Jahren – zweifellos zu zählen sind. In der französischen Komödie Die Abenteuer des Rabbi Jacob (1973) spielt Louis de Funès einen rassistischen Industriellen, der gleich zu Beginn des Films mit seinem Chauffeur Salomon den folgenden Dialog führt: »… katholisch wie alle Welt.« »Nicht wie alle Welt, Monsieur. Wissen Sie, beispielsweise ich, ich bin Jude.« »Was denn, Sie sind Jude? Salomon, wirklich, waschechter Jude? Ich habe einen jüdischen Chauffeur!« Stöhnt. »Und mein Onkel, der jetzt aus New York kommt, der ist Rabbiner.« »Ja, aber doch kein Jude!?« »Doch, Monsieur!« Stöhnt. »Ja aber die ganze Familie doch nicht?« »Doch, doch!« Stöhnt. »Na also macht nichts, ich behalt ’ Sie trotzdem.«

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Schon dieser kurze Ausschnitt mit Louis de Funès verdeutlicht das Problem, ob man bürgerlichen Rassismus und Antisemitismus in Deutschland zu Beginn der 1970er Jahre in dieser Weise fi lmisch hätte thematisieren und zu allem Überfluss sogar in eine Komödie kleiden können, ja ob man sich überhaupt den Charakter eines jüdischen Chauffeurs in einem Film hätte vorstellen können. Der folgende Beitrag möchte der Frage nachgehen, ob und vor allem wie Juden im deutschen Nachkriegsspielfi lm dargestellt werden, wie sie (optisch, charakterlich etc.) attribuiert oder gar etikettiert sind und welchen thematischen Spezifi ka ihre jeweilige Personnage folgt. Können nach der Shoah Juden im Film ›normal‹ dargestellt werden, und was könnte Normalität in diesem Zusammenhang überhaupt bedeuten? Was sind die Faktoren, die jüdische Charaktere im Film außerhalb dieser Normalität stellen, und wird dabei möglicherweise auf ältere Darstellungstraditionen zurückgegriffen?1 Die Kernhypothese lautet hierbei, dass Juden wenn überhaupt, dann in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle eine sehr spezifische Funktion als Opfer (in erster Linie natürlich während der NS-Herrschaft), als moralische Instanz bzw. allgemein als passive tragische Figur auszufüllen hatten und haben, und dass sich diese Viktimisierung erst in den letzten Jahren etwa durch die Kategorie der Komödie zu erweitern begonnen hat. Diese Rollenzuschreibung bzw. -festschreibung ist jedoch nicht nur durch den Hinweis auf die Shoah zu erklären, sondern muss näher untersucht werden, wobei die Frage der genannten Marktkonformität sowie von Autozensur ein weiteres Mal gestellt ist. Man wird daher schwerlich einen Krimi finden, in dem der Bösewicht zufällig ein Jude ist. Auch wenn die Mörder der – plakativ formuliert – vorangegangenen 100 Krimifolgen Katholiken, Protestanten, Griechen, Italiener, Deutsche, Russen oder Buddhisten gewesen sind – ein Jude als Täter verstieße nach wie vor gegen alle Regeln der ›political correctness‹.

1 Cilly Kugelmann/Fritz Backhaus (Hg.): Jüdische Figuren in Film und Karikatur. Die Rothschilds und Joseph Süß Oppenheimer, Sigmaringen 1996 (= Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt a.M., Bd. 2); Eric Rentschler: The Ministry of Illusion. Nazi Cinema and Its Afterlife, Cambridge (Mass.)/London 1996.

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Attribute des Jüdischen im deutschen Nachkriegsfilm

Damit verbunden ist zugleich, dass alle fi ktionalen und dokumentarischen Produktionen einen Authentizitätsanspruch besitzen, bei dem jüdische Themen gleich welcher Art plausibel, politisch und historisch korrekt präsentiert werden müssen, das heißt Regeln zu entsprechen haben, von denen der jeweilige Gedenk- und historische Diskurs in der Gesellschaft geprägt ist. Was darf also ein Spielfi lm und was darf er nicht? Ob man dies nun als Evidenz- oder Plausibilitätskonstruktion begreift, ist weniger entscheidend, aber verständlich wird, dass hierin ein wichtiger Faktor liegt, weshalb Komödien wie Dani Levys Mein Führer (2007) ebenso wie Mel Brookes’ Film The Producers (1968, besser bekannt unter dem Titel Springtime for Hitler) so stark als Tabubruch empfunden wurden. Der Beitrag möchte daher diese thematischen und fi lmischen Besonderheiten an einigen Filmen exemplarisch präsentieren und dabei zum Schluss kontrastiv auch auf eine ausländische Produktion zurückgreifen, die in Deutschland ausgesprochen erfolgreich war und sich dem vorliegenden thematischen Kontext zuordnen lässt. Bekanntlich ist die Attribuierung von Personen im fi lmischen Medium immer ein größeres Problem als etwa in der Literatur, weil die visuellen Möglichkeiten begrenzter sind als die sprachlichen und im Übrigen auch eher Gefahr laufen, entweder Stereotype zu bedienen oder solche erst zu schaffen. Im Film müssen ›Juden‹ irgendwie sichtbar gemacht werden, um sie als Juden präsentieren bzw. thematisieren zu können.2 Dies aber ist eine Aporie, weil diese ›Sichtbarkeit‹ stets Gefahr läuft, die visuellen Stereotypen der vergangenen Zeiten zu wiederholen und auf diese Weise zu aktualisieren. Erschwerend kommt hinzu, dass ältere visuelle Diskurse über das Jüdische heute schwer nachvollziehbar geschweige denn verwendbar sind. Die Historiker etwa tun sich sehr schwer mit den Überlebendenberichten zahlreicher Shoah-Überlebender insbesondere aus Osteuropa, in denen das eigene ›jüdische Aussehen‹, die ›semitische Nase‹ bei anderen etc. regelmäßig thematisiert wird, zumeist im Kontext mit der Gefahr, entdeckt zu werden oder aber auf der ›arischen Seite‹, das heißt außerhalb der Ghettos oder Konzentrationslager, untertauchen zu können. Im Folgenden sollen die genannten Thesen in fünf chronologisch aufeinander auf bauenden Abschnitten näher dargestellt und mit Filmbeispielen illustriert werden: nämlich erstens die nach 1945 einsetzende Debatte um die Schuld der Deutschen am Nationalsozialismus und am Holocaust, zweitens die gesellschaftliche Ausgrenzung der deutschen Juden nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ und das Andenken an das libe2 Jüdische Schauspieler, die keine jüdischen Rollen spielen und ergo vom Publikum nicht als solche erkannt werden, bleiben hierbei außerhalb der Betrachtung.

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rale deutsche Judentum vor dem Holocaust, drittens den Holocaust und seine fi lmische Darstellung im engeren Sinne, viertens die Komödie und schließlich fünftens das Format der Dokumentation bzw. des ›Docutainments‹. Das ›Jüdische‹ oszilliert in allen diesen Bereichen zwischen dem ›jüdischen Aussehen‹, dem ›jüdischen‹ Namen, dem Selbstbekenntnis einschließlich der Religiosität und nicht zuletzt der Fremddefi nition, wie sie vor allem für die Zeit des Nationalsozialismus typisch war.

Die Schulddebatte in Deutschland nach 1945 Die Jahre unmittelbar nach der Befreiung vom Nationalsozialismus zeitigten innerhalb der politisch nicht kompromittierten, künstlerischen Elite Deutschlands eine erstaunlich komplexe Debatte über die Schuld der Deutschen am Nationalsozialismus. Über Mitläufer, Terror und den Holocaust wurde vorübergehend offener diskutiert, als in den darauf folgenden fünfzehn Jahren, und es entstanden so anspruchsvolle Filme wie Die Mörder sind unter uns (1946) oder Morituri (1948), mit dem namentlich Artur Brauner seine Karriere begann. Die Geschichte des Nationalsozialismus nur wenige Jahre nach Kriegsende fi lmisch aufzugreifen, bedeutete immer auch, Stellung zu nehmen zu der Frage nach den Ursachen der »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke). Gleichsam mit der Vorgeschichte des Nationalsozialismus, das heißt mit seinem Nährboden im Antisemitismus der Weimarer Republik, befasst sich der ebenfalls 1948 entstandene Film Die Affaire Blum, dem der authentische sog. ›Magdeburger Justizskandal‹ aus dem Jahre 1925/1926 zugrunde liegt. Besondere Aufmerksamkeit jedoch verdient in diesem Zusammenhang Kurt Maetzigs Film Ehe im Schatten (1947), der eine – auch aus heutiger Sicht – ebenso beeindruckende wie souveräne Thematisierung einer so genannten jüdisch-›arischen‹ ›Mischehe‹ im Nationalsozialismus darstellt.3 Authentizität und Realitätsbezug erhält der Film einerseits durch die zeitliche Nähe zum Nationalsozialismus – der Antifaschismus war »noch völlig frisch, lebendig, ehrlich und überzeugend«, so Maetzig selbst 4 –, andererseits durch das Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk, der sich gemeinsam mit seiner jüdischen Frau Meta und seinem achtjährigen Sohn Michael am 6. November 1941 das Leben nahm und den 3 Deutscher Filmverlag (Hg.): Auf neuen Wegen. 5 Jahre fortschrittlicher deutscher Film, Berlin 1951; Kurt Maetzig: Filmarbeit. Gespräche, Reden, Schriften, Berlin 1987. 4 Vgl. Ingrid Poss/Peter Warnecke (Hg.): Spur der Filme. Zeitzeugen über die DEFA, Berlin 2006, S. 46.

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Maetzig zur Grundlage des Gottschalk gewidmeten Films machte, wenn auch in freier Gestaltung.5 Antisemitismus präsentierte Maetzig als eine Mischung aus Neid und Karrieresucht, was mit dem politisch verordneten Antisemitismus korrespondierte und den Antisemiten Vorteile und dem NS-Regime eine treue Anhängerschaft einbrachte, die auf diese Weise ihr eigenes Schicksal wissentlich, aber unumkehrbar dem Gedeih und Verderb des Regimes auslieferten. Mit dem Verweis auf eine Theaterinszenierung von Schillers Kabale und Liebe zu Beginn des Films wird nicht nur der Reigen intertextueller Bezüge eröffnet, sondern zugleich auch eine Klammer geschaffen, denn wie Ferdinand und Luise bei Schiller nehmen auch Hans und Elisabeth in Ehe im Schatten Gift: Sterbend deklamiert Elisabeth dann die Schlussworte der Johanna in Schillers Die Jungfrau von Orleans: »Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!« Das im Jahre 1947 wahrlich nicht geringe Problem, Jüdischkeit als normal und Antisemitismus als Abnormität filmisch zu präsentieren, löste Maetzig mit einem bemerkenswerten Kunstgriff. In einer Szene verbringt eine Gruppe befreundeter Schauspieler einige Tage im Februar 1933 – noch vor dem Reichstagsbrand – auf Hiddensee. Diese kurze Passage präsentiert zwei Varianten der Wahrnehmung bzw. Nichtwahrnehmung von Jüdischkeit, nämlich einerseits die Unschuld des kleinen Mädchens, das den Namen des jüdischen Schauspielers Kurt Bernsteins nur mit einem Bernstein – zumal an der Ostsee – assoziiert, dem also der gedankliche Konnex ›Bernstein = jüdischer Name‹ fehlt. Die zweite Variante ist ein politisch desinteressierter Fischer als Repräsentant derer, die vom nationalsozialistischen Antisemitismus noch nicht affiziert sind: »Als ob es unter den Juden nicht genau so gute gäbe wie unter den Christenmenschen auch.« Beide Ebenen geben zu Beginn des Filmes dann die Kontrastfolie zu den vielfältigen Formen des Antisemitismus ab, die changieren zwischen Karrierismus, Charakterlosigkeit und echter nazistischer Anhängerschaft. Es lässt sich in der Rückschau nur vermuten, wie viele Zuschauer 1947 sich selbst dabei ertappten, beim Wort ›Bernstein‹ zuerst einen Juden und dann die Ostsee assoziiert zu haben, aber es ist sicherlich kein Zufall, dass das Motiv des Bernsteins sich leitmotivisch, wenn auch äußerst subtil durch den Film hindurchzieht. 5 Anna Fischer: Erzwungener Freitod. Spuren und Zeugnisse in den Freitod getriebener Juden der Jahre 1938-1945 in Berlin, Berlin 2007, S. 180-182. Die Familie Gottschalk war evangelischer Konfession und Meta Gottschalk, geb. Wolff, galt nur entsprechend den rassistischen Kategorien der Nationalsozialisten als ›Jüdin‹.

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Abb. 1: Ehe im Schatten (D 1947) © Arte Bei alledem hielt Maetzig das Konzept ›Jude‹ unscharf. Es bleibt unklar, ob die Protagonisten eine eigene jüdische Identität besitzen, oder erst von den Nürnberger Gesetzen 1935, die bezeichnenderweise im Film überhaupt keine Erwähnung finden und 1947 noch als bekannt vorausgesetzt werden konnten, zu ›Juden‹ im Sinne der nationalsozialistischen Rassentheorie gemacht wurden. Für den Handlungsstrang des Films war ein Selbstbekenntnis der Protagonisten gar nicht erforderlich, es reichte der antisemitische Theaterkollege für eine jüdische Etikettierung. Geschuldet war diese Unschärfe womöglich dem Vorbild Joachim Gottschalks, dessen Frau evangelischer Konfession war und ergo zur Gruppe der – in der Forschung erst seit einigen Jahren stärker beachteten – ›nichtarischen Christen‹ gehörte. Für eine Schulddebatte war jedoch die ›Mischehen‹-Problematik insgesamt nachgerade ideal, weil diese Opfergruppe zu gleichen Teilen aus Juden und Nichtjuden bestand und daher nicht so ohne weiteres als ›die Anderen‹ externalisiert werden konnte. Hinzu kam, dass die Mehrheit der in Deutschland am Leben gebliebenen Juden eben solchen ›Mischehen‹ entstammte, das heißt, dass die ›Mischehen-Problematik‹ für nicht wenige Juden im Nachkriegsdeutschland eine sehr konkrete Bedeutung besaß. Dass jüdisches Schicksal filmisch zu reflektieren jedoch sehr bald nicht mehr opportun war oder bestenfalls zum Gestus politischer Vollständigkeit wurde, Antisemitismus dementsprechend zu einem untergeordneten Aspekt des Nationalsozialismus, lässt sich – nach der deutsch-deutschen Teilung – mit dem Fehlen von Filmen vergleichbaren Anspruchs in der Bundesrepublik der 1950er Jahre, aber auch an Filmen aus der DDR zeigen. Zwar lässt sich eine Reihe von Filmen nennen, die sich in der DDR der Zeit des Nationalsozialismus annahmen, aber im Zuge der Herausdrängung 96

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jüdischer Holocaustüberlebender aus dem politischen Konzept der ›Opfer des Faschismus‹ in der DDR der 1950er Jahre wurde die Singularität des nationalsozialistischen Judenmordes zumindest bis zu Konrad Wolfs Sterne (1959) – das heißt noch deutlich vor der Verfilmung von Jurek Beckers Jakob der Lügner (1974) – praktisch nicht oder nur indirekt über die Täter (wie in Der Rat der Götter, 1950) thematisiert.6 So wurde beispielsweise bei der Verfi lmung von Das Beil von Wandsbek (1951) massiv von Arnold Zweigs Buchvorlage abgewichen, in dessen Ergebnis einer der im Film zum Tode verurteilten Kommunisten sich der regimekritischen Gerichtsärztin zwar als Jude zu erkennen gibt, dies aber im Gegensatz zur Buchfassung völlig unmotiviert bleibt und einen schalen Eindruck hinterlässt, als sei bestenfalls noch das Epitheton aus Gründen politischer Opportunität beibehalten worden – am Vorabend des Slánský-Prozesses ging eine ganze Welle des als Antizionismus nur notdürftig verbrämten Antisemitismus durch die Ostblockstaaten.7 Wer die starken Bezüge zum Judentum und zum Antisemitismus in Arnold Zweigs Werk kennt – das Beil von Wandsbek schrieb und publizierte er während seines fünfzehnjährigen Exils in Haifa –, wird die Diskrepanz zwischen Buchvorlage und Film an dieser Stelle für besonders eklatant halten. 8

Liberales deutsches Judentum im Nationalsozialismus 1933-1941 Einen inhaltlichen wie genretechnischen Wandel brachten dann die 1960er Jahre. Was sich mit dem berühmten Film Das Haus in der Karpfengasse (1965, nach dem Roman von M. Y. Ben-Gavriêl) Mitte der 1960er Jahre bereits angedeutet hatte, nämlich die fi lmische Umsetzung ganzer Familiengeschichten in der literarischen Tradition der Buddenbrooks, erfuhr dann vor allem seit Ende der 1970er Jahre eine starke Ausweitung. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Verfi lmung von Lion Feuchtwangers Roman Die Geschwister Oppermann (1981) durch Egon Monk, die das Schicksal der Familie Oppermann kurz vor und nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ multiperspektivisch in den Blick nimmt.

6 Vgl. Dagmar Schittly: Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA-Produktionen, Berlin 2002. 7 Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.): Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004. 8 Vgl. Arnold Zweig: Das Beil von Wandsbek, Weimar 1951, bes. S. 261ff. (viertes Buch: Die Bücher des toten Herrn Mengers).

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Auch wenn gerade dies bei Literaturverfi lmungen immer problematisch ist – seinen wesentlichen Authentizitätsanspruch schöpft auch Egon Monks Film aus der literarischen Vorlage. Dies wird allerdings dort schwierig, wo ein 1933 publizierter Roman auf allgemein Bekanntes rekurriert, was Anfang der 1980er Jahre nicht mehr Teil des Allgemeinwissens oder auch der politischen Ansichten ist. Der Film muss sehr viel mehr ›erklären‹ als der Roman, beispielsweise die Erfolge der NSDAP bei den Reichstagswahlen seit 1928, also enzyklopädisches Wissen, das Feuchtwanger damals als bekannt voraussetzen durfte. Dies ist auch der Grund, weshalb der gesprochene Text im Film sich ungeachtet der ohnehin notwendigen Kürzungen stark von der Buchfassung abhebt. Zweitens spiegelt der Film von 1981 eine gewisse ›political correctness‹, wenn etwa der jüdische Prokurist Brieger bei Feuchtwanger sich wie folgt äußert: Wie wollte man feststellen, wer Jude war, wer nicht? »Mich können sie natürlich herauskennen«, sagte behaglich Herr Brieger, auf seine große Nase weisend. »Aber hat sich nicht die Mehrzahl der deutschen Juden so assimiliert, daß es wirklich nur von ihnen abhängt, ob sie sich für Juden erklären oder nicht?«9

Es überrascht nicht, dass die Passage im Film etwas anders lautet. Würde man Literaturverfi lmungen über den Nationalsozialismus mit den jeweiligen Buchvorlagen systematisch vergleichen, so könnte man an den Abweichungen eine Topografie des jeweils Sagbaren bzw. Unsagbaren entlang schreiben. Was der Jude Feuchtwanger 1933 schreiben durfte, hielt man in der Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre nur teilweise für sagbar, ob nun von jüdischen oder nichtjüdischen Schauspielern, entweder weil der Diskurs von Juden sich gewandelt hatte oder – im Gegenteil – sich gerade wenig gewandelt hatte und man daher Angst hatte, ihn zu bedienen! Zudem gibt es keine innerfi lmischen Mittel, um zweifelsfrei kenntlich zu machen, dass beispielsweise die berühmte ›semitische Nase‹ der Buchvorlage entnommen war und nicht etwa vom Autor des Drehbuchs zur Dramatisierung verwendet wurde. Hinzu kommt, dass Filme wegen ihrer hohen suggestiven Wirkung politisch in der Regel als delikater empfunden werden als Publikationen. Was im Falle Feuchtwangers stehen bleiben durfte, waren vermeintlich jüdische Namen, das gleichsam einzige Kriterium, das nicht von vornherein unter das Generalverdikt antisemitischer Kolportage gestellt wurde und sich dementsprechend häufig zur Identifizierung einer jüdischen Personnage in Filmen finden lässt – oft genug aber auch mit einem antisemitischen Assoziationsfeld. Vor allem 9 Lion Feuchtwanger: Die Geschwister Oppermann, 6. Aufl., Berlin 2007, S. 43.

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Dietz Berings Forschungen haben gezeigt, dass gerade die empfundene Harmlosigkeit ›jüdische‹ Namen zu einem zentralen Instrument des modernen Antisemitismus gemacht haben. 10

Abb. 2: Die Geschwister Oppermann (BRD 1981) © ZDF Die ausgehenden 1970er und die 1980er Jahre waren, so scheint es, eine Zeit, in der Filmemacher sich vor allem – wenn auch immer mit Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus – auf das liberale jüdische Bürgertum und seine unwiederbringliche Zerstörung konzentrierten, auf ein Judentum also, das zumindest mit visuellen Stereotypen des Jüdischen nicht so ohne weiteres etikettiert wurde bzw. etikettiert werden konnte. So konnte Egon Monk beispielsweise wenige Jahre nach seinem Erfolg mit der Feuchtwanger-Verfi lmung mit der Umsetzung des gleichnamigen Romans ›Die Bertinis‹ von Ralph Giordano (1988) einen weiteren großen Fernseherfolg realisieren. Überblickt man die erwähnenswerten wichtigen Produktionen von Ehe im Schatten bis zu Geschwister Oppermann und den Bertinis, so lassen diese Filme ein Verständnis von jüdischem bürgerlichem Widerstand bzw. Resistenz und Selbstbehauptung erkennen, das seit den 1980er Jahren zunehmend im Schwinden begriffen war und seitdem in ganz überwiegendem Maße nur in Bezug auf die Ghettos, Konzentrationslager und den Holocaust anschlussfähig ist. 10 Vgl. Dietz Bering: »Der ›jüdische‹ Name«, in: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, Frankfurt a.M. 1997, S. 153-166.

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Der Holocaust im Film Der Wandel in der Themenwahl beschleunigte sich noch mit der Überwindung der Ost-West-Konfrontation und den Wandlungen in der Holocaust-Rezeption und fokussierte seinen Schwerpunkt zunehmend auf Osteuropa und die ›Ostjuden‹. Einen wichtigen Hintergrund für diesen Wandel bildete auch das Erscheinen zahlreicher Erinnerungen, Tagebücher etc. von Holocaust-Überlebenden, die in stärkerem Maße das Leben und Leiden der Juden in Osteuropa während der Shoah thematisierten. Das liberale deutsche Judentum der Oppermanns und Bertinis und mit ihm der Fokus auf die Jahre zwischen 1933 und 1939 wurde gleichsam ersetzt durch Projekte, die sich mit der fi lmischen Präsentation jüdischen Schicksals in den nationalsozialistischen Lagern und Ghettos im besetzten Ostmitteleuropa befassten. Wie aber ließ und lässt sich die monströseste Form des Antisemitismus, der nationalsozialistische Judenmord, im Film angemessen darstellen? Da seit der US-amerikanischen vierteiligen Serie Holocaust (1978) praktisch keine Gesamtdarstellungen des nationalsozialistischen Judenmords im Film mehr realisiert wurden, hatten die Filmemacher einerseits mehr Freiheiten, sich auf Einzelaspekte konzentrieren zu können, andererseits aber wuchsen auch die Schwierigkeiten, bei der Reduktion der thematischen Komplexität die Plausibilität und historische Anschlussfähigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Aber wie reduziert man Komplexität – moralische wie historische –, ohne dass das Ergebnis Gefahr läuft, als inadäquat oder gar falsch rezipiert zu werden? Als ein Beispiel unter vielen sei die Filmadaption von Joshua Sobols Erfolgsstück Ghetto von 1984 herausgegriffen, das als deutsch-litauische Koproduktion und mit Heino Ferch in der Hauptrolle 2006 in die Kinos kam, und zwar mit dem Untertitel »Eine wahre Geschichte«11 , was in zahlreichen Rezensionen ebenso gerne wie unreflektiert übernommen wurde. Sobols Stück handelt von der Duldung eines Theaters im Ghetto Wilna und seiner Bedeutung für das Leben und Überleben der jüdischen Zwangsgemeinschaft – im Kino-Trailer heißt es dagegen: »Ihr Überleben verdanken sie einzig der Kunst« – bis zur Liquidation des Ghettos im Sommer 1943, ferner von der Auseinandersetzung zweier Personen und ihrer jeweiligen Fraktionen (Judenrat vs. linke Untergrundbewegung) im Ghetto. Das groteske Theater, als das Sobol sein Stück, im engeren Sinne ein Musical, ver11 Joshua Sobol: Ghetto. Schauspiel in drei Akten. Mit Dokumenten und Beiträgen, hg. v. Harro Schweizer, Berlin 1984. Sobols Stück Ghetto (1984) inszenierte Peter Zadek an der Berliner Volksbühne mit großem Erfolg als Musical. Vgl. Joshua Sobol: Ghetto. Programmheft des Theaters der Freien Volksbühne, Berlin 1984.

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standen hat, ist hier nicht Gegenstand der Beurteilung. Wenn jedoch die fi lmische Adaption eines Musicals mit einem ostentativen Authentizitätsanspruch daherkommt, dann muss sich der Film auch an diesem Maßstab messen lassen. Kontextbedingt müssen Juden in diesem Film nicht besonders attribuiert oder sonstwie mit Eigenschaften zur Identifizierung ausgestattet werden, obwohl dies – historisch korrekt – mit den ›Judensternen‹ an der Kleidung sehr wohl der Fall ist. Hinzu kommen die wenigen Deutschen in SS-Uniformen, so dass eigentlich alle Personen im Film eindeutig kategorisiert sind. Das Bild, das von dem Ghetto und seinen Bewohnern gezeichnet wird, ist dennoch ebenso falsch wie gleichsam kanonisiert: Die jüdischen Insassen allesamt in zerlumpter Kleidung, der Leiter der Ghettopolizei bzw. sein Stellvertreter ein willenloser Kollaborateur, die sozialistische Untergrundbewegung und eine moderne Esther, deren Schönheit die Hoff nung auf Rettung aufrechterhält. 12 Es würde hier zu weit führen, auf die erstaunliche Stereotypendichte in diesem Film näher einzugehen. Es reicht vollkommen aus, sich das zwanzigminütige Interview mit der Überlebenden Schoschana Rabinovici im Bonusmaterial der Kauf-DVD anzusehen bzw. ihre Erinnerungen zu lesen 13, deren Erzählung falsche Bilder im Film gleich in Reihe konterkariert. Besonders hervorstechend ist das sattsam bekannte Bild der ›Geld- bzw. Schacherjuden‹, das im Film gleich zweimal thematisiert wird, einmal als ›reale‹ Szene mit jüdischen Schmugglern, das zweite Mal in einer grotesken, der allerletzten Inszenierung des jüdischen Theaters im Ghetto. Die erste Szene, in der sich ein jüdischer Schmuggler noch im Sterben krampf haft an seine Geldscheine krallt, könnte einem Film aus der NS-Zeit entnommen worden sein. Indem der Konnex ›Juden und Geld‹ einmal als reale Szene, das zweite Mal als Stereotyp präsentiert wird, wird der Profit gleichsam zu einem verdeckten Leitmotiv, bei dem die Juden sogar dort ihren Reibach machen, an anderer Stelle des Films sogar Orgien zu feiern verstehen, wo man sie systematisch entrechtet und ermordet – mit einer Gewalt überdies, wie sie im Film nur äußerst sparsam angedeutet wird.

12 Vgl. Elvira Grözinger: Die schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur, Berlin 2003. 13 Schoschana Rabinovici: Dank meiner Mutter. Ein Bericht vom Überleben der Wenigen im Ghetto, Frankfurt a.M. 2002; Yitzhak Arad: Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, New York 1982.

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Abb. 3: Ghetto (D/LIT 2006), © Sony Pictures Home Entertainment Es hat überdies nicht nur bei diesem Film den Anschein, als würde der nationalsozialistische, exterminatorische oder auch Erlösungsantisemitismus mittlerweile nicht mehr gebraucht. Die Monstrosität, die Unfassbarkeit und Maßstabslosigkeit des Verbrechens wird zunehmend mit Personen wie dem SS-Mann Kittel, das heißt mit intelligenten, letztlich ideologiefreien Sadisten verbunden, bei denen es schon keine Rolle mehr spielt, ob sie Antisemiten sind oder nicht. Der Antisemitismus wird für Erklärungsversuche des Holocaust daher immer seltener herangezogen. Was aber bedeutet das für unser Verständnis vom Holocaust und vom Antisemitismus und seiner Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten? Indem die ganze Thematik mehr und mehr auf die Ebene des ›Gut gegen Böse‹ transzendiert wird, werden die Opfer letztlich austauschbar (die jüdischen Charaktere in Ghetto bleiben dementsprechend blass), und es ist leicht zu erkennen, wie sehr diese Entwicklung – die nicht mit einer Normalisierung zu verwechseln ist – mit den bundesdeutschen Gedenk- und Aufarbeitungsmechanismen der letzten Jahre korrespondiert, wo der Holocaust zusammen mit den deutschen Bombenopfern und den Vertreibungen nach 1945 mittlerweile als beliebige Beispiele menschlicher Abgründe firmieren.

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Komödie In Deutschland hat man sich mit der Kombination von Juden und Spaß bzw. Humor über Jahrzehnte hinweg – wen wundert es – sehr schwer getan. Undenkbar etwa, dass in Deutschland der nach wie vor latent vorhandene, damit gleichsam ›normale‹ Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung etwa in der Weise hätte thematisiert werden können, wie man dies etwa in Frankreich bereits Anfang der 1970er tun konnte, wo de Funès als ein reicher, antisemitischer und rassistischer Fabrikbesitzer nolens volens in die Rolle eines Rabbiners schlüpft. Wesentliches Handicap im deutschen Film war die lange wirksame Barriere, Juden und jüdisches Leben auch außerhalb historischer Zusammenhänge – und das hieß immer auch im Zusammenhang mit dem Holocaust – in Filmen darzustellen. Gänzlich ohne die Thematisierung von Antisemitismus und Holocaust kommt dagegen die Komödie Alles auf Zucker (2004) aus, dessen Bruch mit den bis dato tradierten Darstellungskonventionen jüdischer Themen so markant war, dass Regisseur Dani Levy anfänglich erhebliche Schwierigkeiten hatte, Fernsehsender für die Realisierung zu gewinnen. 14 Der Film wurde nicht nur ein Kinoerfolg, sondern zudem mit Preisen überhäuft, und den Rezensionen war zwischen den Zeilen mitunter eine Art ›es geht also doch‹ zu entnehmen. Freilich kommt auch Alles auf Zucker nicht ohne eine dechiff rierbare Attribuierung der jüdischen Personen im Film aus. Genau hierbei allerdings kann das Genre der Komödie seine Stärken ausspielen, indem es der Gefahr einer Fortschreibung (anti-)jüdischer Stereotype dadurch ausweicht, indem es diese Stereotype übertreibt oder aber ihre Sinnlosigkeit karikiert. Jakob Zuckermann (genannt Jaecki Zucker) und sein Bruder Samuel sind beide Juden, aber zugleich denkbar verschieden – der eine, aus der DDR und zugleich Verlierer der Wende, verbindet mit seinem Judentum nichts, der andere führt ein streng religiöses Leben in Frankfurt a.M. Beide müssen, um den letzten Willen ihrer verstorbenen Mutter antreten und das Geld erben zu dürfen, sich einander annähern, und die daraus sich ergebenden Verwicklungen geben Levy vielfachen Anlass, mit zahlreichen Facetten jüdischen Lebens ebenso spielerisch umzugehen wie mit jüdischen Attributen. Der Eifer, mit dem Jaeckis nichtjüdische Frau sich in jüdische Sitten und Gebräuche einarbeitet, um dem Schwager Samuel ein intaktes jüdisches Leben vorspielen zu können, steht dabei gleichsam paradigmatisch für den Nachholbedarf, jüdische Kultur als solche fi lmisch darzustellen. Die Abkoppelung jüdischen Lebens von der deutsch-jüdischen 14 Ursprünglich sollte Alles auf Zucker als Film für das Fernsehen produziert werden.

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Geschichte der Vergangenheit war für Levy selbst ein zentrales Movens seines Films: Das nichtjüdische Publikum dagegen muss sich sehr wohl daran gewöhnen, Juden heute in einem völlig anderen Kontext zu sehen – tut dies aber mit großem Spaß und großer Erleichterung. Wann sieht man schon mal das Gebet einer jüdischen Familie nach dem Essen – nicht das Gebet vor der Gaskammer, sondern ein völlig normales Gebet, ein Stück Alltag im jüdischen Leben?15

Zwar gab es sehr wohl auch Stimmen, die diese ›Erleichterung‹ mit Sorge als Nährboden für einen ›Schlussstrich‹ betrachteten, aber selbst in politischer Hinsicht wurde dem Film attestiert, »Juden wie Nichtjuden in Deutschland« – so seinerzeit Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland –, »auf einen Weg der Normalität zu bringen«16.

Dokumentation Wenn dem Film Ghetto schon – wenn auch völlig zu Unrecht – von einer gut meinenden Öffentlichkeit seinerzeit attestiert wurde, »um größtmögliche Authentizität bemüht« zu sein (TV Movie)17, dann sollte man erst recht von Dokumentationen über den Nationalsozialismus eine ausreichende Verlässlichkeit erwarten können. Aber was bedeuten Authentizität und historische Korrektheit konkret für die fi lmische Darstellung von Juden in Dokumentationen bzw. ›Docutainments‹? Durch deren flächendeckende Ausstrahlung seit den 1990er Jahren – vor allem aus der ZDF-Werkstatt Guido Knopps – ist eine imaginierte Physiognomie ›des Juden‹ auch heute noch bestens bekannt. 18 Die antisemitische Ikonographie der Nationalsozialisten kennen wir heute nicht aus den Erzählungen der Generation, die buchstäblich dabei gewesen ist, sondern aus Dokumentationen, die nur sehr selten reflektieren,

15 www.arte.tv/de/Interviews/770748,CmC=977728.html [28. Dezember 2009]. 16 www.filmstarts.de/kritiken/39083-Alles-auf-Zucker.html [28. Dezember 2009]. 17 www.tv-movie.de/Ghetto.83.0.html?detail=5269568 [26. Mai 2008]. 18 Vgl. Wulf Kansteiner: »Die Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter seiner kommerziellen Reproduktion: Hitler und das ›Dritte Reich‹ in den Fernsehdokumentationen von Guido Knopp«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 2003, Nr. 7, S. 626-648; vgl. Ders.: In pursuit of German memory: History, television, and politics after Auschwitz, Athens/Ohio 2006.

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wie sehr sie zur Perpetuierung von Bildern – unerheblich, ob man diese gutheißt oder nicht – beitragen.19 Neben dem kontinuierlichen Fortschreiben einer Viktimisierung von Juden als Opfer, die von den genannten Komödien der letzten Jahre unbeeinflusst geblieben ist, erscheint in vielen Dokumentationen zweierlei auffällig, und zwar eine Art ›Ostjuden-Romantik‹ und die Gleichberechtigung der Täter und Opfer bzw. ihrer Aussagen. Letzteres kann ausführlich in Guido Knopps sechsteiliger Serie Holokaust aus dem Jahre 2000 studiert werden, in deren dritter Folge Ghetto man den Regisseur und Reichsfi lmintendanten Fritz Hippler seinen eigenen vulgärantisemitischen Propagandafi lm Der ewige Jude (1941) kommentieren lässt.20 Dies hat bei Knopp System, wobei Antisemitismus nachgerade zu einer Meinung degeneriert, bei der der Nationalsozialismus durch die Parallelisierung von Tätern und Opfern als ein Pro und Contra inszeniert wird. Als abstraktes Opferkollektiv sind Juden als Holocaustopfer für Knopp gleichsam die Ratio der Serie, als individuelle Zeitzeugen werden sie mit den Tätern auf eine Stufe gestellt – nach dem Motto: ›die Zeiten waren eben schwierig‹. Der zweite Aspekt ist die (mittlerweile) weit verbreitete Vorstellung, die jüdische Welt sei in Osteuropa vor 1939 gleichsam noch in Ordnung gewesen und als habe der Alltag nur aus Beigel und Klezmer-Musik bestanden. Der ursprünglich antisemitisch motivierte Fokus auf die ›Ostjuden‹ hat sich bis heute als erstaunlich langlebig erwiesen. Streng genommen waren Juden – wenige prominente Juden einmal ausgenommen – schon vor der Shoah in Deutschland so gut wie unsichtbar gewesen. Die Sichtbarkeit des Jüdischen war bereits in der Weimarer Republik in erster Linie auf die so genannten ›Ostjuden‹ beschränkt gewesen, deren Kleidung, Äußeres, sozialer Status bzw. auch deren Wohnschwerpunkte in den Großstädten Anschauungsmaterial bot, das im Nationalsozialismus, aber mit bestimmten Einschränkungen und Brechungen auch nach 1945 als die Insignien des erkennbar Jüdischen galt. Besonders deutlich wird dies in den nationalsozialistischen Propagandafilmen wie 19 Vgl. Dirk Rupnow: »Die nationalsozialistische Konservierung des Jüdischen und unsere Erinnerungskultur«, in: Klaus Hödl (Hg.): Der ›virtuelle Jude‹. Konstruktionen des Jüdischen, Innsbruck/Wien/Bozen 2005 (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 7), S. 13-22. 20 Vgl. Terry Charman: »Fritz Hippler’s The Eternal Jew«, in: Toby Haggith/ Joanna Newman (Hg.): Holocaust and the Moving Image. Representations in Film and Television Since 1933, London/New York 2005, S. 85-92; Fritz Hippler: Die Verstrickung. Einstellungen und Rückblenden. Auch ein Filmbuch, Düsseldorf 1981. Zu den Aufnahmen im besetzten Łódź im Oktober 1939, die Hippler persönlich vor Ort begleitete, vgl. ebd., S. 187, S. 189.

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Der Ewige Jude (1941) oder Jud Süß (1941), deren antisemitisches Zerrbild heutzutage von Dokumentationen tradiert wird. Dass Darstellungen der Geschichte des Holocaust in der Forschung üblicherweise mit dem Jahr 1933 (oder früher), mitnichten aber erst mit dem Zweiten Weltkrieg einsetzen, ist im Dokumentarfi lm schon lange kein Thema mehr: Während – wie gezeigt – die großen Spielfi lmproduktionen der 1970er und 1980er Jahre – Geschwister Oppermann, aber auch Holocaust und andere – den deutschen Antisemitismus der 1930er Jahre thematisierten, reicht dies heute schon lange nicht mehr aus; greift man also heute auf Material aus der Zeit des Weltkrieges zurück, dann liegt für das Altreich so gut wie gar nichts vor, sondern nur Filmaufnahmen aus den Ghettos, den ›killing fields‹ etc. bis hin zu gleichsam pornografisch anmutenden Einblicken in die Gaskammern wie beispielsweise in The Grey Zone (2001).

Abb. 4: Szene aus Der ewige Jude (D 1941), in: Holokaust © ZDF Was heute in Deutschland als ›jüdisches Leben in Deutschland‹ einen hohen Aufmerksamkeitswert besitzt, ist das zahlenmäßig völlig unerhebliche orthodoxe Judentum. Die Anwesenheit der wenigen Ultraorthodoxen wird somit zu einem Schibboleth bzw. Qualitätsetikett für die ›Normalität‹ bzw. ›Normalisierung‹ jüdischen Lebens in Deutschland gemacht, wie man etwa die Trappistenklöster in Deutschland als Ausweis für die Qualität katholischen Lebens nehmen wollte. Dies ist aber nichts anderes als ein Diskurs der Sichtbarkeit, der mit den Realitäten des deutschen Judentums vor dem Holocaust wenig bis gar nichts zu tun hatte und ebenso wenig mit der heutigen Realität jüdischen Lebens in Deutschland.21 Dies ist genau zu 21 Vgl. hierzu paradigmatisch Hörzu Nr. 10 vom 8.-14. März 2008, S. 6-9:

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beachten, wenn man nach der Normalität bzw. auch nach der Sichtbarkeit von Juden im deutschen Film fragt.

Zusammenfassung Juden haben nach wie vor ein vergleichsweise kleines Betätigungsfeld im deutschen Film – als Opfer, als moralische Instanz, als das »schlechte Gewissen Europas« (nota bene Europas!), aber in erster Linie als Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Bis auf einige wenige Komödien der letzten Jahre, vor allem Alles auf Zucker und Zores (2006), wird man schwerlich einen Film finden, der Lustiges mit Jüdischem verbindet; aber auch die Darstellung jüdischen Lebens, jüdischer Bräuche und Religion, so sie nicht der Präsentation des Vergangenen oder des Zerstörten dient, ist eine ausgesprochene Seltenheit. »Für die überwiegende Mehrheit in unserem Lande und nicht nur für die Antisemiten ist der Jude ein Fremder – ein Überbleibsel des tausendjährigen Reiches.«22 Insgesamt besehen ist die Formensprache zur Darstellung von Juden – Namen, Physiognomien, Stereotype – seit dem Nationalsozialismus praktisch unverändert geblieben. Dieser Befund sollte nachdenklich stimmen; festzuhalten bleibt in jedem Falle, dass ältere Filmproduktionen mit diesem Problem nicht unbedingt weniger reflektiert umgegangen sind als moderne Filme – schaut man sich die Produktionen der 1970er und 1980er Jahre an, scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Das Problem der Darstellung ist dabei natürlich nicht auf den deutschen Film beschränkt, sondern ein durchaus universales. Namentlich für die USA ist allerdings hervorzuheben, dass hier jüdische Themen jenseits von Holocaust und Antisemitismus im Film und Fernsehen ungleich präsenter sind als in Deutschland.23 Ob nun aus einer größeren Erfahrung oder Selbstverständlichkeit heraus – die Attribuierung des Jüdischen ist in US-amerikanischen Filmen mitunter sehr viel reflektierter und wird mitunter äußerst originell gelöst, etwa durch eine intelligente und einmalige Umsetzung des jüdischen Bilderverbots. Besonders gut ist das in Cabaret (1971) zu erkennen, namentlich beim Tanz von M.C. mit einem Gorilla in dem Lied »If you could see her through my eyes«. Der Zuschauer wird erst »Schalom, Deutschland. Hebräische Kindergesänge, neue Kultursalons, koschere Restaurants – nach siebzig Jahren kehrt das jüdische Leben zurück.« 22 Ignatz Bubis: Ich bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Ein autobiographisches Gespräch mit Edith Kohn, 4. Aufl., Köln 1997, S. 115. 23 Jonathan Pearl/Judith Pearl: The Chosen Image. Television’s Portrayal of Jewish Themes and Characters, Jefferson(NC)/London 1999.

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im letzten Satz überhaupt darüber aufgeklärt, was es mit der Metaphorik des Affen auf sich hat: »… she wouldn’t look Jewish at all«. Es liegt also in der Intention des Films, Juden nicht visuell als Juden zu attribuieren, ohne letztlich auf jüdische Charaktere verzichten zu können. Durch die Überspannung mit dem Affen wird auch die NS-Rassenideologie ad absurdum geführt, das heißt die Verweigerung einer äußeren Etikettierung führt im Gegenzug zu einer Übertreibung dieser Etikettierung.

Abb. 5: Cabaret (USA/D 1972) © ABC Pictures Corp. Es bleibt abschließend die Frage, was Normalität in Bezug auf die Darstellung von Juden, jüdischen Charakteren oder auch jüdischem Leben im Film bedeuten mag. Am leichtesten dürfte eine Antwort ›ex negativo‹ fallen, dass von keiner Normalität, noch nicht einmal von einer Normalisierung gesprochen werden kann, so lange Juden und jüdisches Leben einzig oder ganz überwiegend auf den Holocaust reduziert werden. Über die Dauer dieses Wandels, der mit den Komödien der letzten Jahren einen wichtigen Impuls erhalten hat, lässt sich schwerlich spekulieren. Gesteht man zu, dass Filme viel eher den gesellschaftlichen Diskursen folgen als sie anzuführen, und betrachtet man zugleich die Entwicklung jüdischer Charaktere im deutschen Film von den späten 1940er Jahren bis heute, schließlich auch die stabile Latenz des Antisemitismus in Deutschland, dann wird wohl noch viel Geduld vonnöten sein. Eine Normalität erscheint mithin erst dann erreicht, wenn man keinen Anlass mehr dazu hat, zweifelnd danach zu fragen, ob sie denn schon erreicht sei.

Literatur Arad, Yitzhak: Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, New York 1982.

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Attribute des Jüdischen im deutschen Nachkriegsfilm

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Ingo Loose

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Vom Expressionismus zum Trümmer film? Visueller Stil und Nachkr iegskr ise im Trümmer film Martina Möller

Kaum eine andere deutsche Filmbewegung ist so sehr von zu kurz greifenden Vorurteilen und Simplifizierungen überschattet wie der deutsche Trümmerfi lm der Nachkriegsjahre 1946 bis 1949. Robert Shandley beurteilt den Trümmerfi lm als »a narrative to reaffirm the spectator’s image of him or herself as privately resisting a public injustice«1 , wohingegen Brandlmeier auf seine Wahrnehmung als »Mißgeburt«2 aus fi lmischer und historischer Perspektive verweist. Die Vermeintlichkeit dieser Beurteilungen zeigt sich jedoch schon daran, dass der Begriff ›Trümmerfi lm‹ ein Sammelsurium von Filmen umfasst, die in Qualität und in Genrezuordnung oder -bezogenheit starke Differenzen aufweisen: Es finden sich Melodramen, Aufklärungsfi lme, Komödien, ernste Dramen, Episoden-, Kriminal-, Detektiv- und Gangsterfilme. Homogenität zeigt sich nur in ihrer Thematik, denn die meisten Filme greifen das Thema der Kriegsheimkehr auf und illustrieren daran die problematische Situation der deutschen Bevölkerung3 nach der Kapitulation 1945. Das verbindende Element dieser 1 Robert R. Shandly: Rubble Films: German Cinema in the Shadow of the Third Reich, Philadelphia 2001, S. 62. 2 Thomas Brandlmeier: »Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfilme«, in: Hilmar Hoffmann/Walter Schrobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen – Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M. 1989, S. 35. 3 Das Schicksal der Opfer des Holocausts erscheint in den Filmen meist nur in marginalisierter Form. Wenige Filme, wie z.B. Morituri (1948) von Eugen York, widmeten sich explizit dieser Thematik, was jedoch nicht unbedingt dem Wunsch nach leichter und seichter Unterhaltung des deutschen Publikums entgegenkam.

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Martina Möller

fi lmischen Bewegung ist also die, wie auch immer gestaltete, Auseinandersetzung mit den Problemen der NS-Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf die Nachkriegsgegenwart. Da das Thema der Vergangenheitsbewältigung im Trümmerfi lm schon weitläufig diskutiert wurde, fokussiert dieser Artikel einen bisher unbeachteten Aspekt des Trümmerfilms: Welche Funktion erfüllt der visuelle Stil im Trümmerfi lm? Denn, wie hier gezeigt werden soll, die zentralen visuellen Elemente im Trümmerfi lm verweisen nicht nur auf die frühromantische Bild-Ästhetik eines Caspar David Friedrich, sondern auch auf die kunst- und literaturtheoretischen Betrachtungen von Friedrich Schlegel. Kann vielleicht sogar ob dieser intermedialen Herkunftsbezüge des stilistischen Repertoires und des Nachkriegskontexts von einer Ästhetik der Krise gesprochen werden? Vorab soll der Begriff des ›visuellen Stils‹ wie auch die Auswahlkriterien für das gewählte Filmbeispiel kurz erläutert werden. Unter dem Begriff visual style fassen David Bordwell und Kristin Thompson einen ›unified, developed, and significant use of particular technical choices‹ 4 zusammen, denn der signifi kante Einsatz von Techniken kreiert das ›formal system‹ eines jeden Films. Ein Regisseur evoziert also ein bestimmtes formal-stilistisches System durch die bewusste Auswahl von fi lmischen Techniken wie z.B. Mise-en-Scène, Kamera, Schnitt, Montage, Ton usw. Das visuelle System eines Spielfilms interagiert normalerweise als untergeordnetes Element5 mit seinem narrativen System. Das Zusammenspiel beider Systeme in einem Film definieren Bordwell/Thompson als ›overall form‹. Ausgehend von dieser Definition, gilt es zu zeigen, dass eine Auswahl von Trümmerfi lmen sich durch ihre visuelle Stilistik vom NS-Unterhaltungsfilm abgrenzt, denn diese Filme evozieren einen Bruch mit dem naturalistischen, jedoch ideologisch missbrauchten Darstellungsstil des NS-Films. Als zentraler Untersuchungsgegenstand drängt sich der Film Die Mörder sind unter uns von Wolfgang Staudte (1946) geradezu auf, da dieser Film als erster Trümmerfilm maßgebend die visuelle Stilistik späterer Filme prägte. Staudtes Film beruht auf einem komplexen, intermedialen Bezugssystem von visuellen Elementen, Motiven und Techniken, das sowohl auf die Literatur und Malerei der Frühromantik und des Expressionismus als auch auf das Weimarer Kino, den expressionistischen Film, den Film Noir Vgl. Peter Pleyer: Deutscher Nachkriegsfilm 1946-1948. Studien zur Publizistik, Münster 1965, S. 160. 4 David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art: An Introduction, 7. erweiterte Ausgabe, New York 2003, S. 175. 5 Nach Bordwell erfüllt visueller Stil nur in reinen Kunstfilmen eine dem narrativen System übergeordnete Funktion. Vgl.: David Bordwell: Narration in the Fiction Film, Madison 1985, S. 275.

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und den italienischen Neorealismus Bezug nimmt. Entgegen bisheriger Annahmen gilt es zu zeigen, dass die zentralen visuellen Elemente des Trümmerfi lms auf eine aus der deutschen (Früh-)Romantik stammende Ästhetik verweisen, die Friedrich Schlegel6 als den künstlerischen Ausdruck einer Krise im zeithistorischen Kontext definiert.

Frühromantik oder Expressionismus? In einer zeitgenössischen Besprechung schreibt Kurt Maetzig über Staudtes Film Die Mörder sind unter uns, »die Erneuerung der deutschen Filmkunst [sei] vom Inhalt her deutlich zu erkennen« und bezüglich des visuellen Stils: Es ist kein Zufall, daß er [Staudte] bei der Suche nach den geeigneten Formen auf expressionistische Formen zurückgriff, daß die gestürzte und gekippte Perspektive, die eigenwilligen Kameraeinstellungen und expressionistische Lichtführung zum Beispiel die unnaturalistische Ausleuchtung der nächtlichen Ruinen zum Teil sogar die Schauspielführung direkt bei der expressionistischen künstlerisch hochentwickelten deutschen Stummfilmschule anknüpften, denn die akademische Glätte der vorangegangenen Filmperiode entsprach nicht dem aufwühlenden Appel, der von seinen Filmen ausging.7

Maetzig definiert also Staudtes expressiven Filmstil als Bruch mit der visuellen Ästhetik des NS-Unterhaltungsfi lms und benennt den expressionistischen Film als zentrale visuelle Referenz. Auch im Ausland sah man das kaum anders: Chris Marker erklärt in der französischen Filmzeitschrift ›Positif‹: »Es war normal, dass der deutsche Film 1945 beim Expressionismus wiederanknüpfte. Das bewies nur die sterilisierende Wirkung der Hitlerzeit, und irgendwo musste ja wieder angefangen werden.« 8 Beide Zitate offenbaren eine undifferenzierte Verwendung des Begriffs ›fi lmischer Expressionismus‹, welche für die intermediale Stilanalyse des Trümmerfi lms von tragender Bedeutung ist: Alle möglichen Arten von diff user Hell-

6 Friedrich Schlegel: »Über das Studium der griechischen Poesie«, in: Ders.: Schriften zur Literatur, München 1972, S. 184. 7 Kurt Maetzig: »Der Film als Kunstwerk«, in: Neue Filmwelt, Nr. 5. Berlin/ DDR 1950. In: www.filmportal.de/df/c6/ArtikelEB7211F956A554FFE03053D50 375CAF. [29. Oktober 2009] 8 Chris Maker: »Allemagne. Adieu au cinéma allemand«, in: Positif, Nr. 12, Jg. 1954, S. 66-70, hier S. 66.

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Dunkel-Beleuchtung, die Lotte H. Eisner als »chiaroscuro« 9 definiert, von schrägen Kameraeinstellungen oder sogar das Dekor der Ruinen werden als expressionistischer Stil gelesen und tragen so zu einer simplifizierenden stilistischen Einordnung des Trümmerfi lms als alleiniges Derivat des fi lmischen Expressionismus bei. Zur Widerlegung dieser Fehleinschätzung sollen nun die visuellen Elemente des expressionistischen Films anhand des bekanntesten Beispiels, Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) von Robert Wiene, erläutern werden. Die Bestimmung expressionistischer Elemente erlaubt zugleich einen Blick auf das visuelle Erbe der Frühromantik im Trümmerfi lm und auf seine Bedeutung für die Definition eines visuellen Stils der Krise. Die spezielle visuelle Ästhetik in Staudtes Film entsteht, wie auch schon Kurt Maetzig beschrieb, gerade durch den betonten Einsatz extravaganter Filmtechnik – wie Kameraeinstellungen der extremen Untersicht, die dramatische Lichtführung, die Kulisse der Ruinen 10 und dem (tatsächlich) teilweise expressionistischen Schauspielstil der Akteure. Wie verhält sich die Auswahl von Filmtechnik, die ja nach der Definition von Bordwell/Thompson visuellen Stil erzeugt, also zu Das Cabinet des Dr. Caligari? Was fi lmische Techniken wie Einstellungen, Winkel, und Bewegungen der Kamera, Montage und Lichtdesign betriff t, basiert Wienes Film auf sehr konventionellen 11 Mustern. Dies formuliert schon einen ersten Gegensatz zu dem stilistisch 9 Lotte H. Eisner: The Haunted Screen. Expressionism in the German Cinema and the Influence of Max Reinhardt, Berkeley/Los Angeles 1965, S. 8. 10 Vgl. Peter Pleyer zählt in seiner Studie über den Nachkriegsfilm circa 50 Trümmerfilme, von denen viele, aber nicht alle, das Ruinen-Mise-en-Scène der zerstörten Städte als spektakuläre und zeitgenössische Kulisse nutzten. Es lässt sich demnach festhalten, dass die Ruine das zentrale visuelle Element des Trümmerfilms darstellt. Peter Pleyer: Deutscher Nachkriegsfilm 1946-1948, a.a.O. 11 Frieda Grafe schreibt, das einzige revolutionäre Element in Caligari, das einen Bruch mit vorherigen filmischen Traditionen darstellt, sei das expressionistische Dekor. Frieda Grafe: »Doktor Caligari gegen Doktor Kracauer oder die Errettung der ästhetischen Realität«, in: Frieda Grafe/Enno Patalas (Hg.): Im Off. Filmartikel, München 1974, S. 163. Dietrich Scheuemann hingegen zeigt, dass andere Filme der Epoche, wie z.B. Nosferatu von F.W. Murnau auf der Ebene spezifischer filmischer Techniken, wie Kamera, Schnitt und Beleuchtung, einen viel stärkeren Einfluss auf die weitere Entwicklung der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums Film ausübten. Für ihn leistet Caligari nur deshalb einen bahnbrechenden Beitrag, weil er entscheidend zur Anerkennung des Mediums Film als Kunst beitrug. Dietrich Scheunemann: »Expressionist Film and Early Weimar Cinema«, in: Ders.: (Hg.): Expressionist Film. New Perspectives, Rochester USA 2003, S. 19.

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anspruchsvollen Trümmerfi lm Die Mörder sind unter uns. In Caligari entstehen visuelle Effekte vielmehr durch die kubistisch-gemalte Kulisse, das Dekor, das expressionistische Spiel der Schauspieler und durch ihre Kostüme, wohingegen Kameratechnik, Montage und Lichtdesign (die meisten Lichteffekte wurden ebenfalls auf die Kulissen gemalt) nur in untergeordneter Weise den visuellen Stil mitgestalten. Extreme Kamerawinkel und assoziative Montage wie in Die Mörder sind unter uns finden sich eher in anderen Filmen aus der Zeit der Weimarer Republik. Barry Salt zeigte schon in seiner Dissertation, dass die kleine Gruppe von genuin expressionistischen Filmen einen geringfügigen Einfluss auf spätere filmische Stile hatte: for it was mostly the other famous German films of the early twenties which used the looming shadows and extreme camera angles which are usually thought of as ›Expressionist‹. For instance, Die Strasse (1923) and Schatten, which respectively feature extreme angles and looming shadows, both have perfectly conventional sets, and the acting in the first of these films is quite normal for the place and time it was made.12

Weiterhin verweist Salt darauf, dass »extreme angles had already appeared in Danish and American films before 1920, and they continued to appear in fi lms which had no connection with the genuinely Expressionist fi lms«13 und schlägt die Nutzung des Begriffs »expressivist«14 für nicht naturalistische Verzerrungen vor, die durch Kameratechnik und Lichtführung entstehen. Was lässt sich also dann noch unter dem Begriff »expressionistisch« fassen? Bezüglich des visuellen Stils bleibt da die kubistische, auf Pappe gemalte Kulisse, welche die Umwelt als verzerrte und abstrahierte Vision spiegelt. Die Darstellung äußerer Wirklichkeit als abstrakte Vision eines Künstlers triff t sowohl Herwart Waldens Definition des Expressionismus’ als eine Art von Weltanschauung (in ›Die neue Malerei‹, 1919), als auch Kasimir Edmschmidts Variante, welche die expressionistische Kunst und Literatur als die Darstellung einer inneren Vision der äußeren Welt begreift. In beiden Fällen geht es, und das ist entscheidend, um den Transfer innerer Eindrücke in abstrahierende und deformierende Formen. Diese Deformation naturalistischer Formen dient als Ausdruck der subjektiven Gefühlswelt des Künstlers und illustriert zugleich kollektive Ängste die12 Barry Salt: Film Style and Technology: History and Analysis, London 1983, S. 199. 13 Ebd. 14 Ebd.

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ser Epoche. Die Verwendung verzerrender und deformierender Formen bezeichnet einerseits einen Bruch mit dem klassischen, naturalistischen Kunstideal, andererseits lenken diese den Blick des Betrachters auf das Dysfunktionale in der sozialen Umwelt und formulieren somit eine profunde Kritik an den zeitgenössischen Zuständen. Den Transfer einer subjektiven Vision der äußeren Wirklichkeit in eine abstrahierende Ästhetik beruht natürlich nicht auf einer alleinigen Erfindung der Expressionisten. Ein solcher subjektiver Ausdruck der Emotionen eines Künstlers findet sich schon als naturalistische Abstraktion z.B. in der Malerei der Romantik bei Caspar David Friedrich. In Die Mörder sind unter uns ist ein solcher abstrahierender Transfer innerer Eindrücke der äußeren Welt in visuelle Ästhetik ein zentrales Element des Stils. Staudte nutzt zu diesem Zweck die Filmtechnik auf komplexe Weise. Die zentralen Elemente seines visuellen Stils präsentieren sich schon gleich in der ersten Film-Einstellung: Der Betrachter sieht den traumatisierten Kriegsheimkehrer Mertens (Ernst W. Borchert) inmitten der signifi kanten Ruinen-Kulisse aus einer extremen Untersicht. Die Szene ist mit einer das Bild auf zynisch-ironische Weise kontrastierenden fröhlichen Musik unterlegt. Auch Barry Salt verweist auf Staudtes extreme Untersichten, sogenannte »dutch tilts or off-angles – shots with the sides of the frame skew to the vertical«15 . Die Nutzung der off-angles beschreibt Salt weiterhin als eng gebunden an die dramatischen Begebenheiten in den Ruinen des Nachkriegsdeutschlands, wobei dieser kurzlebige Trend wahrscheinlich durch Staudtes Die Mörder sind unter uns auftrat und vor allem im Trümmerfi lm Anwendung fand. Diese extremen Einstellungen gemeinsam mit der Ruinenkulisse und der expressiven Beleuchtung sind also sicherlich die dominantesten Elemente des visuellen Stils in Staudtes Film. Die off-angles-Perspektive auf die Ruinenkulisse erfüllt gleich mehrere Funktionen, die an das Abstrahieren der Romantik und des Expressionismus anknüpfen. Der Blickwinkel der extremen Untersicht auf das Dekor der Nachkriegsruinen formuliert eine subjektive Aussage des Regisseurs, die, obgleich in ihrer Wirkung verzerrend und abstrahierend, den naturalistisch-realistischen Darstellungsmodus nicht verlässt – ganz im Gegensatz zur Malerei des Expressionismus. Somit steht sie der abstrahierenden, jedoch auf einem naturalistischen Darstellungsmodus beruhenden, Ästhetik Caspar David Friedrichs näher.

15 Ebd., S. 298.

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Abb. 1: Caspar David Friedrich, Friedhof im Schnee, ca. 1827.

Abb. 2: Caspar David Friedrich, Winter – Klosterruine Eldena, 1808. Werner Busch zeigt, »daß Friedrich allen seinen Bildern bestimmte abstrakte Figuren zugrunde legt, bestimmten Strukturprinzipien folgt, die eine entscheidene Rolle bei der Sinngenerierung spielen«16. Dies bezieht sich z.B. auf die fehlende (klassische) mittige Bildperspektivik. Friedrichs Bilder unterliegen der Anordnung des goldenen Schnitts, der, im Sinne eines Kreuzes, das Zentrum eines Bildes in die obere Bildhälfte verschiebt. 17 Des Weiteren vermittelt oftmals das Fehlen einer ästhetischen Ordnung18 16 Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, S. 7. 17 Das Bild ›Friedhof im Schnee‹ ist hierfür ein gutes Beispiel. Die beiden Bäume im Vordergrund bilden somit den Stamm des Kreuzes, das als Ordnungsprinzip fungiert und der sich öffnende Himmel am oberen Teil der Kirchenfensterruine bezeichnet den Querbalken des Kreuzes. 18 »Dabei kann die Hoffnungsverweigerung durch das Fehlen einer ästhetischen Ordnung veranschaulicht werden. Die ›Abtei im Eichwald‹ ist achsensymmetrisch aufgebaut, die senkrechte Mittelachse geht genau durch den Scheitel

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eine Atmosphäre der Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit. Die ästhetische Unordnung bei Friedrich entsteht durch die wirre, dezentrale Anordnung von Kreuzen, Eichen und Figuren. In Staudtes Bildkonstruktionen findet sich ebenfalls eine solche ästhetische, jedoch durch die zentralen Filmtechniken evozierte Unordnung: es sind die extremen Untersichten, die den Bildraum fragmentierende Beleuchtung, die Kulisse sowie das Dekor des Ruinen- und Trümmerchaos. Zwischen den Gemälden von Friedrich und Staudtes Bildästhetik bestehen aber noch weitere Parallelen. In Friedrichs Bildern findet sich ein häufiger Einsatz von Chiaroscuro-Beleuchtung, von langen und verzerrten Schatten der Ruinen, Kreuzen und Figuren sowie des Symbols des Kreuzes. ›Friedhof im Schnee‹ (ca. 1827) und ›Winter – Klosterruine Eldena‹ (1808) geben ein gutes Beispiel für eine solche Licht-, Schatten- und Symbolchoreographie (siehe Abb. 1 und 2): Viele von Friedrichs zentralen Bildelementen erscheinen bei Staudte in etwas modifizierter Form. Zuerst eine den Bildraum rahmende Chiaroscuro-Beleuchtung, welche sich langsam zum oberen Bildrand hin erhellt. Diese Bildkomposition kann durchaus mit der der Filmphotos (Abb. 3 und 4) verglichen werden, denn auch hier erhellt sich das rahmende, teilweise Chiaroscuro-Dunkel über den Köpfen der beiden Darsteller. Vor allem in Abbildung 3 wird die Bildkomposition hier jedoch stärker von der Ruinenkulisse bestimmt als von der Beleuchtung. Betrachtet man Abbildungen 3 und 4 genauer, so fällt auf, dass ihr Bildauf bau ebenfalls dem goldenen Schnitt unterliegt. Der Blick des Betrachters wird nicht auf die genaue Mitte des Bildes gelenkt, sondern verschiebt sich in die Mitte des oberen Bildabschnitts. In Abb. 3 markiert dies die ausgeleuchteten und somit betonten Köpfe der Akteure, die zugleich vor auslaufenden, in den Himmel ragenden Ruinen platziert sind. Die Ruinen selbst erscheinen vor allem durch die Beleuchtung und die Bildperspektive (leichte Untersicht) ebenso fi ligran und brüchig nach oben zu verweisen wie die Bäume und die gotischen Ruinen in Friedrichs Bildern. 19 Während Friedrich seine gotides hohen Lanzettfensters der steilen Kirchwand. Die zentrale Ruine ist von je vier Eichen gerahmt, die ihr kahles und wirres Geäst gen Himmel strecken.« Zitiert aus: Werner Busch: Caspar David Friedrich, a.a.O., S. 77. 19 Des Weiteren findet sich bei Friedrich die Kombination von Jahreszeit und Naturelementen wie den abstrahiert dargestellten Baumruinen. Bei Staudte evoziert vor allem die Ruinenkulisse die Symbolik des Verfalls und Untergangs. Natur, Jahreszeit und Wetter kommen erst verstärkt in späteren Trümmerfilmen hinzu. Die gotische Ruine bei Friedrich verweist auf religiöse Konotationen, auf welche Staudte auch in seiner Schluss-Sequenz zurückgreift, obgleich er sonst vorrangig Häuser-Ruinen zeigt. Somit ruft Staudtes Film Bedeutung ebenfalls mittels religiöser Symbolik hervor.

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schen Ruinen innerhalb des goldenen Schnitts anordnet, werden sie bei Staudte ein das Bild gänzlich rahmendes Element. D.h. die Ruinenkulisse erscheint somit als omnipräsent, wohingegen sie bei Friedrich fast nur in der relativen Bildmitte des goldenen Schnitts erscheint. Die Figurenanordnung zeigt vor allem in Abb. 4 Ähnlichkeit. Wie auch in Abb. 2 liegt der Akzent der Bildkomposition nicht auf den dargestellten menschlichen Figuren, sondern auf der (Ruinen-)Landschaft. Friedrich situiert den kleinen Mönch noch innerhalb des goldenen Schnitts jedoch schon sehr weit rechts in der Komposition, bei Staudte hingegen wiederholt sich diese Anordnung spiegelverkehrt, d.h. die beiden kleinen Figuren der Hauptdarsteller sind links, noch im goldenen Schnitt, aber eher im unteren Bildabschnitt zu sehen. In beiden Filmphotos fungiert die Landschaftsdarstellung als Ausdruck der inneren Landschaft, d.h. der Gefühlswelt der Protagonisten. Die Ruinenlandschaft erzielt den Eindruck von Übermächtigkeit und Omnipräsenz durch ihre Gegensätzlichkeit zu den kleinen, im Bild fast marginalisierten Figuren. Friedrichs romantische Bildästhetik gilt als Bruch mit der naturalistisch-idealistischen Klassik, denn bei Friedrich erscheint Landschaft als subjektive Vision und Ausdruck der Emotionen des Malers. Zentrale Elemente dieses Bruches sind der Verlust einer ästhetischen Ordnung und einer fi xen, bildmittigen Perspektive. Sie evozieren zusammen mit den schon beschriebenen Bildelementen – Chiaroscuro-Beleuchtung, Ruinen, Kreuze – einen Ausdruck von Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit, der auch später bei Staudte wiederkehrt. Anhand des Gemäldes ›Mönch am Meer‹ definiert Friedrich seine Ästhetik der Verlorenheit und Hoff nungslosigkeit als Kritik an menschlicher Eitelkeit, welche die Geheimnisse Gottes zu enträtseln20 sucht. Dies lässt sich auch auf eine Menschheit beziehen, die sich selbst an Gottes Stelle erhebt. Somit kann man Staudtes Rekurrieren auf eine solche Bildästhetik ebenfalls als Kritik an der Eitelkeit und Vermessenheit des NS-Regimes lesen.

20 Eine solche Interpretation gab Friedrich in Bezug auf ›Mönch am Meer‹ (1808-1810): »Und sännest du auch vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zur sinkenden Mitternacht; dennoch würdest du nicht ersinnen, nicht ergründen, das unerforschliche Jenseits! Mit übermütigem Dünkel, erwägst du der Nachwelt ein Licht zu werden, zu enträtseln der Zukunft Dunkelheit! Was heilige Ahnung nur ist, nur im Glauben gesehen und erkannt; endlich klar zu wissen und zu verstehen!« Der Ausdruck ›übermütigem Dünkel‹ stellt eine metaphorische Referenz zum Alten Testament dar und zielt auf menschliche Eitelkeit ab, zitiert aus: Caspar David Friedrich: »Da hier einmal von Beschreibungen die Rede ist«, in: Herbert Uerlings (Hg.): Theorie der Romantik, Stuttgart 2000, S. 282.

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Abb. 3: Die Mörder sind unter uns, Wolfgang Staudte, 1946

Abb. 4: Die Mörder sind unter uns, Wolfgang Staudte, 1946

Religiöse Ästhetik als Strukturprinzip Caspar David Friedrichs visuelle Ästhetik verweist auf religiöse Inhalte und Symbole, wie z.B. die häufig verwendeten Kreuze, die Kreuzform des goldenen Schnitts als geometrisches Ordnungsprinzip der Bildkomposition und natürlich die gotischen Kirchenruinen zeigen. Wie schon im letzten Abschnitt gezeigt wurde, unterliegt auch Staudtes Bildkomposition dem Strukturprinzip des goldenen Schnitts, welches der geometrischen Form des Kreuzes unterliegt. In Staudtes Filmbildern finden sich aber auch andere Elemente einer explizit religiösen (christlichen) Ästhetik, wie Kreuzsymbole und die Ruinen einer gotischen Kirche. In der Schlusssequenz des Films erscheint eine gotische Kirchenruine, die als Verweis auf eine höhere Gerechtigkeit dient und somit visuell die ethische Basis für die finale Konfrontation zwischen Mertens (hier als Stellvertreter der Ankläger, d.h. der Opfer des Krieges und des Holocausts) und seinem Gegenspieler Brückner (hier als stellvertretender Verantwortlicher für das NS-Regime, Holocaust und Krieg) bereitstellt. An anderen Stellen im Film fungiert eine zumeist nur angedeutete Schattenkreuz-Symbolik als metaphorischer Ausdruck von Leid und Schmerz. Das folgende Filmbild (Abb. 5) aus Die Mörder sind unter uns zeigt dies gleich in doppelter Weise: Einerseits findet sich dezent im Bildhintergrund (gleich links neben Hildegard Knef, die hier die Rolle der Susanne Wallner spielt) ein angedeutetes 120

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Abb. 5: Die Mörder sind unter uns, Wolfgang Staudte, 1946 Schattenkreuz und andererseits im Vordergrund, als vordergründige Bildstruktur, die Fensterkreuze, durch welche beide Akteure in die vom Zuschauer nur imaginierbare Trümmerwelt sehen. Der Mittelbalken der Fensterkreuze (fast über Knefs Kopf und inmitten von Borcherts Gesicht) verbindet sich mit der Beleuchtung (die wie ein von Licht gemalter Querbalken die Gesichter beider Akteure ausleuchtet) und mit den drei zentralen Längsbalken der Fensterkreuze zu einer Kreuzmotivik. Noch dazu ist das Bild nach dem Strukturprinzip des goldenen Schnitts aufgebaut, das ebenfalls der geometrischen Form des Kreuzes entspricht. Das nächste Filmbild gibt ein Beispiel für die dezent-andeutende Verwendung des Kreuzes als Schattenmotiv (Abb. 6).

Abb. 6: Die Mörder sind unter uns, Wolfgang Staudte, 1946

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Stilistische Abstraktion als filmisches Mittel der Distanzierung Die Analyse von Caspar David Friedrichs Bildästhetik bekundet also einen Wechsel vom klassischen, naturalistisch-idealen Representationsstil von Wirklichkeit zu einem subjektiven, abstrahierenden Darstellungsmodus. Ein solcher subjektiver und abstrahierender Stil kennzeichnet nicht nur spätere Kunstbewegungen wie den Expressionismus (Literatur, Film und Malerei), sondern prägt als zentrales Element fi lmische Bewegungen wie das ›Weimarer Kino‹, den ›Film Noir‹ und die stilistisch anspruchsvolleren Trümmerfi lme. Wilhelm Worringers Differenzierung zwischen ›Naturalismus‹ und ›Stil‹ definiert naturalistische Darstellungsformen in der bildenden Kunst als »Annäherung an das Organisch-Lebenswahre«, die auf der Hervorrufung der »Illusion des Lebendigen«21 beruht. ›Stil‹ begreift Worringer jedoch als »etwas, das die Nachbildung des Naturvorbildes in eine höhere Sphäre hebt, also jene Zurechtstutzung, die das Vorbild sich gefallen lassen muss, um in die Sprache der Kunst versetzt zu werden«22 . Somit ergeben sich hier für Worringer zwei diesen künstlerischen Ausdrucksmodi zugrunde liegende Prinzipien: Einfühlung (Naturalismus) und Abstraktion (Stil). Einfühlung zielt also auf das Hervorrufen der Illusion des Lebendigen, um Worringers Vokabular zu nutzen, und dies erklärt auch, warum der naturalistische Darstellungsmodus des klassischen Kinos dem NS-Unterhaltungs- und Propagandafi lm so entschieden als Träger von ideologischen Inhalten diente; denn eine extrem stilisierte, die Narration teilweise zurückdrängende, visuelle Ästhetik definiert Karsten Witte am Beispiel von Helmut Käutners Film Romanze in Moll (1942) als »ästhetische Opposition«. Die aufdringliche, visuelle Abstraktion steht dem scheinbar unsichtbaren, auf Einfühlung und Identifizierung beruhenden traditionellen visuellen Stil des klassischen Kinos entgegen und wirkt somit distanzierend und künstlich.23 21 Wilhelm Worringer: Problematik der Gegenwartskunst, München 1948, S. 39. 22 Ebd., S. 45. 23 Lowry schreibt: »Kamerabewegungen und Montage stellen aktive Bedeutungen und Verbindungen her, und verstecken diese Erzählfunktion weniger als normal. Auch ›unrealistische‹, ›unmögliche‹ Kameraperspektiven (z.B. aus der ›Sicht‹ der Perlenkette, die im Schaufenster liegt, oder durch ein Glas Konfekt im Laden), auffällige Bewegungen der Kamera sowie die Montage (manchmal nimmt die Kamera Figuren oder Objekte wahr, die keine narrative Funktion haben; plötzliche Detailaufnahmen stellen Objekte in den Vordergrund; oft ›springt‹ die Kamera auf einen neuen Schauplatz) verleihen der Erzählung eine ungewohnte

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Von der Krise des Übergangs zur Nachkriegskrise Friedrich Schlegel beobachtete am Beispiel der romantischen Literatur einen ebensolchen Wandel von einer klassischen, auf naturalistischen Darstellungsprinzipien beruhenden Kunstauffassung zu einer subjektiven Ästhetik 24 und definierte diesen Prozess als »Krise des Übergangs«25 . Dies entspricht also dem Wandel vom klassischen Stil zur subjektiven Ausdrucksweise eines Künstlers wie Caspar David Friedrich. Schlegel begreift diese Entwicklung (der vor allem frühromantischen Literatur und Kunst) zum subjektiven und fragmentalen Charakter als symptomatischen, künstlerischen Ausdruck der kontextuellen historischen Situation: dies zielt vor allem auf einen erhöhten Kulturtransfer26 der europäischen Literaturen, welcher einen geschlossenen, nationalen Charakter der Literaturen vermied, auf dramatische politische, soziale Veränderungen und wissenschaftliche Neuerungen. Im 216. Athenäum-Fragment schreibt Schlegel: »Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.«27 Herbert Uerlings interpretiert dieses »Tendenz-Fragment« als eine »für die Frühromantik charakteristische Zusammenstellung von Denken, Politik und Dichtung«, die »signalisiert, dass die eigene Zeit als Beginn von etwas Neuem erkannt wird, das sich in den drei Phänomenen schon ankündigt – und im Fragment selbst […] im Ansatz realisiert wird«28 . Somit wird das Fragment also zur metaphorischen Darstellung der ›Krise des Übergangs‹ von etwas Altem zum Neuen und findet seine allegorische Entsprechung im Bild der Ruine, das sowohl in der frühromantischen Malerei und Literatur als auch im Trümmerfi lm ein zentrales Element darstellt. Verbindet man nun Marx’ und Engels’ These vom engen, reziproken Zusammenspiel zwiKünstlichkeit«. Stephen Lowry: Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilmen des Nationalsozialismus, Tübingen 1991, S. 218. 24 Schlegel beschrieb die klassischen literarischen Formen in der zeitgenössischen Poesie als »ein Chaos aus dürftigen Fragmenten« der »verunglückten Nachahmungen mißverstandener Vorbilder« der Antike. Dem entgegen hält er literarische Tendenzen, die »Ansprüche auf Objektivität« vermeiden, denn »ihr Ideal ist das Interessante, d.h. [die] subjektive ästhetische Kraft« (ebd.). Friedrich Schlegel: »Über das Studium der griechischen Poesie«, a.a.O., S. 119, S. 86. 25 Ebd., S. 184. 26 Ebd., S. 96. 27 Ebd., S. 80. 28 Herbert Uerlings: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.): Theorie der Romantik, a.a.O., S. 19.

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schen der Basis (der materiellen Grundlage der Existenz) und dem Überbau (in diesem Falle der Teilbereich der Kunst und Literaturproduktion), dann ermöglicht dies, die frühromantische Ästhetik des Fragments als künstlerischen Ausdruck des krisenhaften Zustands der zeitgenössischen Gesellschaft zu definieren. Schlegels ›Krise des Übergangs‹ kann also nur in fragmentalen und subjektiv-abstrahierenden künstlerischen Formen Ausdruck finden, da der klassisch-geschlossene, auf illusionistisch-idealistischer Objektivität beruhende naturalistische Darstellungsmodus diesem nicht gerecht wird. Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich definiert Kunststile und künstlerische Ausdrucksformen als »expression of the age«29 . Auf den visuellen Stil im Medium Film bezogen bedeutet dies, dass die gewählte künstlerische Form den historischen Kontext30 spiegelt. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky sieht im Kunstwerk »ein ›Symptom‹ oder eine charakterliche Manifestation einer kulturhistorischen Situation, die sich sowohl in der Stoffauswahl als auch im künstlerischen Stil zeigt«31 . Verbindet man dies nun mit Schlegels Ausführungen, so werden die stilistischen Elemente einer fragmentarischen, subjektiven und abstrahierenden Ästhetik, welche Schlegel als künstlerische Form der Krise des Übergangs bezeichnet, zum künstlerischen, symptomatischen Ausdruck eines von tiefgreifenden Wandlungen und Veränderungen erschütterten historischen Kontextes. Genannt seien nur die auf kommenden Nachwirkungen der französischen Revolution, die gescheiterte Revolution von 1848 (in Deutschland), die aufkommende industrielle Revolution und die hiermit einhergehenden ökonomischen Veränderungen. All dies bewirkt die Auflösung traditioneller Sinnzusammenhänge und Gesellschaftsformen und ruft als hochdramatische Umbruchszeit eine Krise des Übergangs hervor, die nämlich als Übergang zu den Zivilisationsformen der Moderne zu sehen ist. Betrachtet man nun die Nähe der visuellen Ästhetik von Staudtes erstem und stilistisch maßgebendem Trümmerfi lm Die Mörder sind unter uns zu den hier aufgezeigten konzeptuellen und visuellen Mustern der Frühromantik, dann stellt sich die Frage, warum gerade zu dieser Zeit ein solches Rekurrieren stattfindet. Wie auch die frühromantische Kunst und Literatur entsteht der Trümmerfi lm als fi lmische Bewegung im zeitgenössischen Kontext einer historischen Krisensituation, die sich im Untergang 29 Gombrich, Ernst H.: The Story of Art, London 2006, S. 477. 30 Bordwell und Thompson unterstreichen ebenso den eingrenzenden Einfluss historischer Umstände auf die Auswahl filmischer Techniken durch den Regisseur eines Films. David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art, a.a.O., S. 390. 31 Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Begriffe, Stuttgart 1998, S. 411.

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des NS-Regimes und im Neuanfang unter den alliierten Mächten darstellt. Staudtes fragmentale und extrem stilisierte visuelle Ästhetik spiegelt also, wie schon in der Frühromantik, ebenfalls eine Krise des Übergangs. Am deutlichsten wird dies vielleicht an der Ikone der Ruinen, die bei Staudte wie auch bei Friedrich als zentrale Allegorie der Krise des Übergangs fungiert, denn in ihr verbindet sich die Vergangenheit mit der Zukunft über die Gegenwart.

Literatur Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Madison 1985. Bordwell, David/Thompson, Kristin: Film Art: An Introduction, 7. erweiterte Ausgabe, New York 2003. Busch, Werner: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003. Brandlmeier, Thomas: »Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfi lme«, in: Hilmar Hoffmann/Walter Schrobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen – Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M. 1989, S. 33-59. Eisner, Lotte H.: The Haunted Screen. Expressionism in the German Cinema and the Influence of Max Reinhardt, Berkeley/Los Angeles 1965. Friedrich, Caspar David: »Da hier einmal von Beschreibungen die Rede ist«, in: Herbert Uerlings (Hg.): Theorie der Romantik, Stuttgart 2000, S. 282-283. Gombrich, Ernst H.: The Story of Art, London 2006. Grafe, Frieda: »Doktor Caligari gegen Doktor Kracauer oder die Errettung der ästhetischen Realität«, in: Frieda Grafe/Enno Patalas (Hg.): Im Off. Filmartikel, München 1974, S. 159-162. Lowry, Stephen: Pathos und Politik. Ideologie in Spielfi lmen des Nationalsozialismus, Tübingen 1991. Maetzig, Kurt: »Der Film als Kunstwerk«, in: Neue Filmwelt, Nr. 5. Berlin/ DDR 1950. [www.fi lmportal.de/df/c6/ArtikelEB7211F956A554FFE0305 3D50B375CAF.html; 29. Oktober 2009] Marker, Chris: »Allemagne. Adieu au cinéma allemand«, in: Positif, Nr. 12, Jg. 1954, S. 66-70. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Bd. 3, hg. v. Institut für MarxismusLeninismus im ZK der SED, Berlin 1968. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Begriffe, Stuttgart 1998. Pleyer, Peter: Deutscher Nachkriegsfi lm 1946-1948. Studien zur Publizistik, Münster 1965. 125

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Über formte gesellschaftliche Wirklichkeit im deutschen Heimatfilm der 1950er Jahre : Verlorene Söhne, Wilderer und andere Außenseiter Sören Philipps

Heimat, Heimatfilm und Zeitgeschichte In München ereignete sich im Dezember 2007 ein Fall gefährlicher Körperverletzung, begangen von zwei griechisch- bzw. türkischstämmigen Jugendlichen an einem Rentner. Dieser Vorfall hatte eine bundesweit geführte Debatte in Politik und Öffentlichkeit über den Umgang mit derartigen Gewalttaten zur Folge, die auch zu einem Wahlkampfthema im Vor feld der Landtagswahl in Hessen (27. Januar 2008) sowie der Kommunalwahl in Bayern (02. März 2008) wurde. Noch nach der Verurteilung der Täter zu hohen Haftstrafen im Juli 2008 dachte der bayerische Ministerpräsident Günter Beckstein öffentlich über die Möglichkeit einer Abschiebung der beiden Täter nach, die »in Deutschland nichts zu suchen hätten«, und der bayerische Innenminister Joachim Herrmann wurde mit den Worten zitiert, dass die Täter nach Verbüßung zumindest eines Teils ihrer Strafen nach Griechenland und in die Türkei, in ihre »Heimatländer«, abgeschoben werden sollten. 1 Wie dieses Beispiel zeigt, ist ›Heimat‹ bis in aktuelle politische Diskussionen hinein ein durchaus problematischer Bezugspunkt, denn, wie Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung damals kommentierte, ist das

1 Kommentar Thomas Steinfeld: »Unheimliche Heimat«, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Juli 2008.

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mit dem Heimatland […] so eine Sache. Denn der eine Täter ist zwar türkischer Staatsbürger. Aber er ist in Deutschland geboren und aufgewachsen […]. Und sein Gefährte hat zwar die ersten elf Lebensjahre in Griechenland verbracht, lebt aber seit sieben Jahren in München. Weder der eine noch der andere besitzt auch nur entfernt so etwas wie eine Heimat in dem Land, zu dem er nun nach Auffassung Becksteins und Herrmanns gehören soll.2 In der Konsequenz, so Steinfeld weiter, laufe dies auf die Auffassung hinaus, dass »diese Art von Gewalt […] nicht deutsche, sondern ausländische Züge [trägt], solche Verbrechen sollen nicht zu ›uns‹ gehören.«

Dieser Vorgang illustriert, dass ›Heimat‹ keine unschuldig-naive Denkfigur, sondern im Gegenteil ein normatives und durchaus voraussetzungsvolles Konzept darstellt, das für Haltungen und Einstellungen gegenüber Personen und Sachverhalten mitverantwortlich ist. Mit der Kategorie ›Heimat‹ verbinden sich offenbar Kriterien des ›Dazugehörens‹, die zugleich implizite Aussagen über abweichendes Verhalten oder ›Andersartigkeit‹ beinhalten. Durch die Bezugnahme auf – tatsächliche, gewünschte oder bloß behauptete – ›Normalität‹ erfolgt so ex negativo auch eine Konstruktion des ›Andersseins‹, der Abweichung oder des Nicht-Dazugehörens. Mit anderen Worten: Dort, wo eine Gemeinschaft sich definiert, sind zugleich Hinweise auf Merkmale der Abweichung von diesen gemeinschaftskonstituierenden Normen zu finden. Da in modernen Gesellschaften derartige Selbstverständigungs- und Aushandlungsprozesse unter maßgeblichem Einfluss von Medien ablaufen, müssten sich in ihren Erzeugnissen Spuren der stetigen Aktualisierung und Anpassung gesellschaftlicher Leitbilder an sich ändernde Zeitumstände nachweisen lassen. Für eine Analyse bundesrepublikanischer Wirk lichkeit in den 50er Jahren bietet sich daher der Heimatfi lm geradezu an, insbesondere unter dem Aspekt von Exklusion und Inklusion, von Normalität und Abweichung. Bilder allerdings – das verneinte schon Johann Gustav Droysen für alle historische Überlieferung – bilden gesellschaftliche Wirklichkeit oder Teile von ihr nicht real ab. Vielmehr lassen sich vergangene ›Anschauungen‹ von Welt bzw. ihrer Teile in Bildern finden und können auf dem Weg der Kontextanalyse aus ihnen wieder gewonnen werden.3 Dieser Befund gilt auch für die bewegten Bilder des Kinos. Allerdings, so schon Siegfried Kracauer, übersetzen sich äußere Bilder trotz der Intention der Bilderproduzenten nicht einfach in innere. Vielmehr besteht ein komplexes Wechselverhältnis 2 Ebd. 3 Irmgard Wilharm: »Geschichte, Bilder und die Bilder im Kopf«, in: Dies.: Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film, Hannover 2006, S. 171-190, hier S. 178.

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zwischen Film, Zuschauer und der beide umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit: »Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten.« 4 Adorno hat dies in seinem berühmten Satz zusammengefasst, dass »wenn ein von Massen konsumiertes Medium eine in sich einstimmige, fest zusammengebackene Ideologie übermittelt, diese Ideologie vermutlich ebenso den Bedürfnissen der Kunden sich anpasst, wie sie diese umgekehrt zunehmend modelt«5 . Das historische Nachvollziehen und Verstehen vergangener gesellschaftlicher Wirk lichkeit ist daher auf eine ganzheitliche Analyse der Quellenart Film angewiesen, die sowohl die Filmbilder selbst als auch den Kontext ihrer Produktion und Rezeption nebst dem Hintergrund der Zeit in die Analyse miteinbezieht. Es gilt mit Kracauer »jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen«. Filme können so »Schlüssel zu verborgenen geistigen Prozessen«6 liefern.

Der Heimatfilm Filmhistorisch ordnet sich das Genre des Heimtfilms ein zwischen die als ›Trümmerfi lme‹ bekanntgewordenen Produktionen der Jahre 19461949,7 welche oft vor dem Hintergrund von Ruinen Alltagssituationen und -probleme im Nachkriegsdeutschland zum Inhalt hatten, und den späteren, sozialkritischen Autorenfilm der 60er und 70er Jahre. Heimatfi lme repräsentieren das einzige originale Genre, das der deutsche Film hervorgebracht hat. Es waren deutsche Produktionen, die sich an ein deutsches Massenpublikum richteten und nicht für den Export ins Ausland 4 Siegfried Kracauer: »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino«, in: Ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 2009, S. 279-294, hier S. 280. 5 Theodor W. Adorno: »Der wunderliche Realist« (1965), in: Ders.: Noten zur Literatur III, Frankfurt a.M. 1981, S. 388-408, hier S. 397. 6 Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947), Frankfurt a.M. 2009, S. 13. 7 Wolfgang Staudtes Die Mörder sind unter uns (1946) stellt den bekanntesten Vertreter dieses Genres dar. Vgl. zu den Trümmerfilmen allgemein Thomas Brandmeier: »Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfilme«, in: Hilmar Hoffmann/ Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M. 1989, S. 22-61.

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bestimmt waren, in dem sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht denselben Zuspruch erfahren hätten. »Der Heimatfi lm war mit 24% der westdeutschen Gesamtproduktion zwischen 1949 und 1964 das erfolgreichste Genre (Kriegsfi lme 7%)« 8, im Rekordjahr 1956 waren es sogar 36,3 Prozent aller uraufgeführten Filme.9 Viele Heimatfi lme waren Remakes alter UFA-Produktionen, z.T. auch Verfi lmungen von Operetten oder anderer bekannter Stoffe aus dem Gebiet der leichten Unterhaltung. Filme wie Schwarzwaldmädel (1950, Erstfassung 1933), Grün ist die Heide (1951, Erstfassung 1932), Im weissen Rössl (1952, Erstfassung 1935), Johannisfeuer (1954, Erstfassung 1939), Die Geierwally (1956, Erstfassung 1940) oder Das Mädchen vom Moorhof (1958, Erstfassung 1935) bauten auf dem Publikum bekannten Geschichten auf, ohne i.d.R. große Änderungen an Plot und Personal vorzunehmen. Über die signifi kanten Unterschiede zwischen Erstfassung und Remake wird noch zu sprechen sein. Die ästhetischen Vorformen des Heimatfi lms (hinsichtlich Kameraeinstellungen und Motiven) sind in den Bergfi lmen der 20er Jahre zu sehen. Neben Hochgebirgslandschaften, die anders als in den Bergfi lmen nicht als bedrohliche Kulisse für den heroischen Kampf mit der Naturgewalt dienten (was für den NS-Film Riefenstahl’scher Prägung charakteristisch war), bildeten Heide- und Moorlandschaften, das Alpenvorland, Bodensee und Schwarzwald eine heile Kulisse, die geschichtslos und der Zeit enthoben zu sein scheint 10: »Ist hier [beim Bergfilm] die Natur so großartig, daß die Begegnung mit ihr zu nichts anderem als Metaphysik führen kann, so ist sie im Heimatfi lm längst sozial überwunden.« 11 Der oft als Vergleich

8 Irmgard Wilharm: »Heimatfilm in Niedersachsen«, in: Dies.: Bewegte Spuren, a.a.O., S. 191-202, hier S. 193. In ähnlicher Weise Heide Fehrenbach: Cinema in democratizing Germany. Reconstructing national identity after Hitler, Chapel Hill/London 1995, S. 8f. 9 Vgl. Willi Höfig: Der deutsche Heimatfilm, Stuttgart 1973, S. 166. Gegen die durch die Dominanz des Heimatfilms und anderer wenig anspruchsvoller Genres und Produktionen in der Wahrnehmung hervorgerufene, simplifizierende Fehlwahrnehmung, es habe keine Ansätze zum neuen deutschen Film in den 50er Jahren gegeben, wendet sich Frank Stern: »Film in the 1950s Passing images of guilt and responsibility«, in: Hannah Schissler (Hg.): The miracle years. A cultural history of West Germany, 1945-1968, Princeton 2001, 266-280, hier S. 267. 10 Vgl. Willi Höfig: Der deutsche Heimatfilm, a.a.O., S. 392f. 11 Georg Seeßlen: »Durch die Heimat und so weiter. Heimatfilme, Schlagerfilme und Ferienfilme der fünfziger Jahre«, in: Hilmar Hoffmann/Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen, a.a.O., S. 159.

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zum Heimatfi lm herangezogene Western US-amerikanischer Produktion lebt in den Worten Irmgard Wilharms zwar von eindrucksvollen Landschaftsbildern, aber ihre Funktion hat nichts mit dem deutschen Heimatfilm gemeinsam. Während im Western […] es letztlich um Bewegung und Veränderung geht (Eisenbahnbau), ist Heimat im Film der fünfziger Jahre zeitlos, statisch, gerade gegen Veränderungen gerichtet, kleinräumig, auf scheinbar unveränderbare Natur bezogen.12

Die enge Verbindung von Natur und »Heimat« als Topos in der populären Unterhaltungskultur (vor allem im Trivialroman) besaß in der Heimatbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich gegen die Hochindustrialisierung richtete, einen historischen Vorläufer. Die klassischen Romane und Erzählungen u.a. Adalbert Stifters, Gottfried Kellers und Wilhelm Raabes beschrieben oft minutiös den heimatlichen Landschaftsraum und das Dorf. 13 Auch im Heimatfi lm wurde in den Worten Heide Fehrenbachs das Lokale, Alltägliche, Banale, Häusliche gefeiert. »Heimat« bezieht sich auf den geografischen Geburtsort, aber ebenso auf eine bestimmte Landschaft, auf Dialekt und Traditionen der jeweiligen Örtlichkeit. Als solche besitzt sie eine starke emotionale Komponente, da sie eingebettet liegt in die eigene Kindheit mit all ihrem sentimentalen Gehalt.14

Einen Gedanken des Historikers Alon Confinos aufnehmend geht Fehrenbach einen Schritt weiter und betont den spezifischen Charakter dieser Identitätskonstruktion: »Während das ›Vaterland‹ oder ›die Nation‹ in den Krieg ziehen konnten, ist dies der ›Heimat‹ nicht möglich. Heimat ist etwas, für das man kämpft, was aber seinerseits nicht am Kampf teilnimmt.«15 Heimat konnte also die gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen, selbst militärische Niederlagen unbeschadet und von diesen undiskreditiert überstehen. 16 Auf diese Weise war es den Filmproduzenten

12 Irmgard Wilharm: »Heimatfilm in Niedersachsen«, a.a.O., S. 199. 13 Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter: »Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen«, in: Dies. (Hg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 18ff. 14 Heide Fehrenbach: Cinema in democratizing Germany, a.a.O., S. 150 (eigene Übersetzung). 15 Ebd. 16 Vgl. Alon Confino: Germany as a culture of remembrance. Promises and limits of writing history, North Carolina 2006, S. 82.

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möglich, ein positives Identifikationsangebot 17 für ihr Publikum zu schaffen, das gleichzeitig psychologisch entlastend wirkte, dadurch dass es die Auseinandersetzung mit konkreten moralischen und politischen Fragen, die durch das Ende des Zweiten Weltkriegs aufgeworfen wurden, implizit für entbehrlich erklär te. 18 Sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kontrastiert die Lüneburger Heide mit dem Städte-Schutt, das Braun-Grün dieser Landschaft mit dem Grau der Trümmer; und der blaue Himmel ist frei von den dröhnenden Maschinen, vor deren Bomben-Ladungen sich die Deutschen in den Bunkern verkrochen hatten.19

Diesem eigentümlich geschichtslosen Charakter der Kulisse entsprach auch das Personal dieser Filme. Den melodramatischen, oft kitschigen Plot bedienten Personen, deren Probleme und persönliches Schicksal zwar in irgendeiner Weise von der Vergangenheit beeinflusst sind, über deren tiefere Ursachen aber selbst dann nichts zu erfahren ist, wenn es sich um ein sensibles Thema wie Flucht und Vertreibung handelt. Selbst dort, wo wir Waisen begegnen wie der Tochter im Film Grün ist die Heide, die zusammen mit ihrem Vater unter Aufgabe der alten Heimat in die Heide geflüchtet ist, erscheinen diese Vorgänge quasi als Naturkatastrophe und nicht als konkrete Folgen eines sehr konkreten Krieges. Ursache und Umstände der Flucht bleiben im Dunkeln und werden auch in anderen Filmen nicht thematisiert. Diese allgemeinen Bemerkungen möchte ich nun am Beispiel eines der bekanntesten Ver treter des Genres, dem schon genannten Film »Grün ist die Heide« näher ausführen und dabei vor allem auf die durch ihn vermittelten Identifizierungsangebote und Identitätskonstruk tionen eingehen, die den Hintergrund für abweichendes Verhalten bilden, das sich ebenfalls in den Heimatfi lmen widerspiegelt.

17 Vgl. Anton Kaes: From Hitler to Heimat. The return of history as film, Cambridge [Mass.] 1992, S. 15. 18 Vgl. Alon Confino, Germany as a Culture of remembrance, a.a.O., S. 91: »The Heimat idea […] was a concept made in heaven: It allowed one to link to a selective personal and collective experience of the Third Reich, while sidestepping moral questions.« 19 Gerhard Bliersbach: So grün war die Heide. Die gar nicht so heile Welt im Nachkriegsfilm, Weinheim 1989, S. 72f.

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Grün ist die Heide Wie erwähnt ist dieser Film das Remake des gleichnamigen Films von 1932. Das Drehbuch sah wenige, aber aufschlussreiche Abwandlungen der ansonsten unveränderten Story vor. So wurde aus der Hauptfigur im Originalfi lm, dem verarmten Gutsbesitzer Lüder Lüdersen, ein heimatvertriebener schlesischer Gutsbesitzer, der eben gerade nicht aufgrund eigenen Verschuldens in jene Schwierigkeiten gerät, die die Handlung des Films vorantreiben. Das Weitere ist schnell erzählt: Der ehemalige schlesische Gutsbesitzer, der seinen Besitz, vor allem seine Jagd verloren hat, zieht mit seiner Tochter Helga zu seinem Vetter in die Heide. Lüder Lüdersen vermisst seine Jagd schmerzlich und wird zum Wilderer. Dies bringt ihn in Konflikt mit dem jungen Förster, der den Wilderer verfolgt, ohne ihn jedoch erkennen oder stellen zu können. In dem Haus, in das sich Lüder Lüdersen flüchtet und das er mit seiner Tochter bewohnt, begegnen sich Helga und der junge Förster, eine Romanze bahnt sich an, die jedoch durch das Problem des wildernden Vaters belastet ist. Aus Angst vor Entdeckung und der unvermeidlichen Strafe bewegt Helga ihren Vater, mit ihr – entgegen eigenen Wünschen – in die Stadt zu ziehen.20 Anschließend gerät ihr Vater noch unter Mordverdacht durch den Mord an einem Polizisten, der aber von einem zweiten Wilderer begangen wurde, welcher als Tierwärter in einem durchfahrenden Zirkus arbeitet. Lüder Lüdersen selbst wird in einer Begegnung mit diesem Wilderer von diesem aus Angst vor Entdeckung schwer verwundet, überlebt aber. Am Ende löst sich alles glücklich auf: Der zweite Wilderer Pistek wird gefasst und bestraft, es erfolgt der Ausschluss aus der Gemeinschaft qua Gesetz, alle anderen bleiben unter sich und gehen einem Happy End entgegen. Im Zuge der Geschehnisse treten im Mikrokosmos des Dorfes, das den zentralen Ort der Handlung bildet, noch eine schlesische Trachtengruppe sowie wiederholt drei durchfahrende Vagabunden auf, die »mit Gitarre durch die Landschaft

20 Auf das traditionelle konservative, kultur- und modernisierungskritische Topos des Stadt-Land-Gegensatzes, wie er sich schon im Bergfilm der 20er und 30er Jahre ausdrückt, sei hier nur am Rande verwiesen; vgl. Sabine Hake: German national cinema, London 2002, S. 43. Speziell zur medialen Präsentation der Nachkriegssituation deutscher Städte vgl. Götz Grossklaus: »Das zerstörte Gesicht der Städte. ›Konkurrierende Gedächtnisse‹ im Nachkriegsdeutschland (West) 1945-1960«, in: Andreas Böhn/Christine Mielke (Hg.): Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity, Bielefeld 2007, S. 101-124.

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[ziehen] und zu passenden und unpassenden Gelegenheiten Lönslieder [singen]«21 . Welche Informationen über Normalität und Abweichung können aus einem solchen Setting gewonnen werden? Gerade der letzte Punkt scheint darauf hinzudeuten, dass soziale Abstufungen drei Jahre nach der Währungsreform schon wieder selbstverständlich sind – entgegen den egalitären Träumen, wie sie sich in der Romanze zwischen einem Kranführer (Hans Albers) und einer Lehrerin in einem der ersten Trümmerfi lme ausdrückt (Und über uns der Himmel, 1947).22 Konnte dort die männliche Hauptperson in Bezug auf seine angestrebte Beziehung zur Lehrerin noch sagen »Heute passt vieles zusammen, was früher nicht zusammengehörte«, so ist dergleichen angesichts der ausgeprägten Hierarchie, der wir im Dorf begegnen, schon wieder vorbei. Zu den ›Etablierten‹ gehören die Gastfamilie, der einheimische Gutsbesitzer, zu dem die Lüdersens ziehen, sowie die Dorfhonoratioren, der alte Förster, der Apotheker und der Amtsrichter. Der junge Förster nimmt eine Zwischenstellung ein, der zugereiste Lüdersen wird zwar am Stammtisch akzeptiert, bleibt aber durch seine Wilderertätigkeit ebenfalls ein wenig Außenseiter. Helga Lüdersen erscheint bestrebt, sich in die neue Ordnung zu integrieren, was für die durchfahrenden Vagabunden Hannes, Nachtigall und Tünn und insbesondere die Zirkusleute nicht gilt. Auf mehreren Ebenen wird so die Thematik Durchreisender oder Dazugezogener, die die ursprüngliche Harmonie der Dorfgemeinschaft stören, thematisiert. Lüdersens Wildern »ist das Verletzen einer Ordnung, die [er] nicht akzeptiert«, »der Wilderer stört die Ordnung, und der junge Förster hat bei seiner Bemühung um Wiederherstellung der Ordnung alle Sympathie auf seiner Seite«23 . Dabei ist die unterschiedliche Darstellung von Lüdersens Tun und dem Treiben des Tierwärters Pistek aus dem Zirkus im Hinblick auf die Motive aufschlussreich: Während wir über die tieferen Beweggründe des Tier wärters, der noch dazu einen Mord begangen hat, nichts erfahren, außer dass sein Wildern durch die Beschaff ung von billigem Futter für die Zirkustiere motiviert ist, obwohl er für den Futterkauf Geld vom Zirkusdirektor erhalten hat, erhält Lüdersen im Dialog mit seiner Tochter, die ihn zu Rede stellt, Gelegenheit zur Darstellung seiner Motive: Helga Lüdersen: »Vater, warum tust du das?« Lüder Lüdersen: »Ach, das verstehst du nicht.« Helga Lüdersen: »Lass dich doch zur Jagd einladen.« 21 Irmgard Wilharm: »Heimatfilm in Niedersachsen«, a.a.O., S. 199. 22 Ebd., S. 197f. 23 Ebd., S. 198.

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Lüder Lüdersen: »Einladen? Und dann mal einen kümmerlichen Bock schiessen dürfen? Vielleicht einmal im Jahr!« Helga Lüdersen: »Vater, bedenke doch, wir sind hier nur zu Gast. Es geht uns doch gut. Wenn das rauskommt!« Lüder Lüdersen: »Gut geht es uns hier? Geduldet sind wir gerade, als Flüchtlinge, ohne Heimat, ohne Recht. Wie ein Sklave komme ich mir vor.« Helga Lüdersen: »Aber Onkel und Tante tun doch, was sie können.« Lüder Lüdersen: »Natürlich tun sie, was sie können. Warum darf man kein Mensch mehr sein, nur weil man alles verloren hat. Nur wenn ich draußen bin im Wald, in der Natur, dann vergesse ich wenigstens das Elend. Dann habe ich das Gefühl, es ist mein Wald, es sind meine Tiere. Es ist nicht nur das Jagdfieber, glaube mir Helga, aber – ach, das verstehst du nicht!« Helga Lüdersen: »Doch Vater, ich verstehe schon. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man im eigenen Wald jagt oder im fremden. Willst du denn ins Gefängnis, Vater? Das wäre das Ende!«

In diesem Dialog wird deutlich, dass es nicht die materiellen, sondern die immateriellen Verluste sind, die Lüdersen zum Wildern treiben. Zwar erkennt er (wenn auch widerwillig) die Aufnahmebereitschaft und das Bemühen seiner Verwandten um Einbeziehung in die Gemeinschaft an, aber die materielle Situation kann den emotionalen Verlust nicht kompensieren. Sein Wildern ist eine Suche nach Trost. So erscheint Lüdersen »– stellvertretend für andere Flüchtlinge – [als] leidendes Opfer, der leidende Sprachduktus und die unterlegte Musik lassen daran keinen Zweifel. […] Lüdersen bleibt Opfer, ohne daß Voraussetzungen des Verlustes klar werden«24 . Gleiches gilt für Helgas Verlust der Mutter. Helga wiederum erscheint – auch dies ein durchgängiges Stereotyp der Filme, in dem sich gesellschaftliche Realität mit fi lmischen Mitteln überformt abbildet – als Hüterin der Ordnung und als diejenige, die die Integration in die neue Gemeinschaft durch Akzeptanz der gesellschaft lichen Regeln vorantreibt. Gesetzestreue wird als Eintrittsbedingung in die Gemeinschaft gerade gegenüber ihren neuen Mitgliedern eingefordert. Vorbei sind die Zeiten des einzig das Überleben sichernden, aus materieller Not geborenen und dadurch nötigenfalls legitimierbaren Gesetzesübertritts, für den das »Fringsen«25 als Grauzone in der Alltagser fahrung der unmittelbaren Nachkriegszeit exemplarisch steht. Die materielle Not ist mit dem Beginn 24 Ebd., S. 200. Vgl. auch Alon Confino: Germany as a Culture remembrance, a.a.O., S. 84: »Indeed, Heimat was used […] as an idiom that combined removal with victimhood.« 25 Joseph Kardinal Frings äußerte in seiner Silvesterpredigt 1946/47 als Erzbischof von Köln Verständnis für entsprechendes Verhalten der Bevölkerung.

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der Entwicklung zur Wohlstandsgesellschaft kein akzeptierter Grund für von Gesetzesnormen abweichendes Verhalten mehr. Dass dagegen der Verlust von Sicherheit, Besitz, Herkunft und sozialem Status in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit zu einer Stärkung der Familien führte, kann als durch sozialwissenschaftliche Untersuchungen belegt gelten.26 Ebenfalls kein Zufall ist die Übernahme dieser Aufgabe durch weibliche Akteure. Helga Lüdersen übernimmt stellvertretend die Anpassungsleistung der Familien und steht für das Bemühen um Integration in eine neue Ordnung, nachdem die alte untergegangen ist. Dabei ist sie durch ihre Bereitschaft, mit ihrem Vater in die Stadt zu ziehen und ihn dadurch von der Versuchung des Wilderns fernzuhalten, zu eigenen Opfern, nämlich ihrer Beziehung zum jungen Förster, durchaus bereit, auch wenn sie dieses Opfer für den Zusammenhalt der Familie letztlich nicht mehr erbringen muss. Auch der junge Förster, der ebenso als Vertreter einer jungen, mit der Auf bauleistung betrauten Generation gelten kann, bemüht sich um das Einhalten der Gesetze, gerät lediglich durch seine Gefühle für Helga in Gewissenskonflikte, die sich durch das filmische Ende allerdings im allgemeinen Happy End auflösen. Hier wie in anderen Produktionen begegnen wir zerrissenen und schwachen männlichen Figuren der Vätergeneration, stellvertretend für den Bedeutungsverlust, die psychologische Belastung und empfundene Demütigung durch die soziale und moralische Deklassierung infolge von Niederlage, Gefangenschaft und individueller Verstrickung in das Unrechtsregime des Dritten Reiches. Anders jedoch als in Liebe 47 (1948), der auf einem Text Wolfgang Borcherts basiert, ist Lüdersen aber gerade nicht »einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein zu Hause mehr da ist. Und ihr zu Hause ist dann draußen vor der Tür«27. Sondern er triff t auf eine neue Gemeinschaft, die als solche immer schon Bestand gehabt zu haben scheint, dadurch von der Vergangenheit unbelastet ist, in welcher Harmonie herrscht und in der der Krieg und seine direkt auf ihn verweisenden Folgen nicht existieren – und die schließlich den Dazukommenden die Türe weit öffnet. Die Motive für das Verhalten eines halben Außenseiters wie Lüder Lüdersen werden im Laufe des Films für das Publikum nachvollziehbar. Anders als der wildernde Tierpfleger wird er als von seinen Wünschen und Bedürfnissen irregeleitet dargestellt, und die Filmhandlung entlastet ihn sogar am Ende durch die Verwundung, die er in der Begegnung mit dem 26 Vgl. Dietrich Hilger: »Die mobilisierte Gesellschaft«, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 108. 27 Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür (Erstfassung 1947).

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einzig Bösen, dem zweiten Wilderer und Tierwärter des Zirkus, davonträgt – man könnte die entsprechende Szene dahingehend interpretieren, dass Lüdersen nun gegenüber Pistek als dem eigentlich Bösen auf Durchsetzung derjenigen Ordnung besteht, welche er zu Beginn des Films selbst übertritt, wodurch er endgültig seine Integration in die Gemeinschaft vollzieht.28 Im Gegensatz zum von Luis Trenker verkörperten ›Verlorenen Sohn‹ im gleichnamigen Spielfi lm von 1934 ist die Eingliederung von Lüder Lüdersen an eine spezifische Anpassungsleistung, die Aufgabe des Wilderns, gebunden. Der ›Verlorene Sohn‹, der in den USA vergeblich sein Glück gesucht hat und in die Gemeinschaft seines Dorfes in den Dolomiten zurückkehrt, findet diese unverändert vor und wird problemlos, ja sogar im Rahmen eines Festes wieder in die Gemeinschaft integriert; eine Anpassungsleistung als Vorbedingung einer Re-Integration ist nicht erforderlich. Nicht so in Grün ist die Heide, bei der die von Lüdersen empfundene Entwurzelung, die ja auch den Hintergrund seines Wilderns bildet, anfangs gegen einen unproblematischen Übergang in die neue »Heimat« spricht. Der Tierwärter und Wilderer Pistek steht eindeutig außerhalb des Gesetzes, wird geschnappt und erhält die gerechte Strafe, wodurch sich die rechtlichen Strukturen einer intakten Gesellschaft und diese zugleich quasi selbst bestätigen. Ebenfalls außerhalb der normalen Dorfgemeinschaft und damit der Gesellschaft befinden sich die übrigen Zirkusleute. Diese sind Staffage und Dekoration, die auch innerhalb der Filmhandlung am Rande stehen. Sie erscheinen durch mangelnde Bodenständigkeit zwiespältig,29 woran auch ein Nebenerzählstrang, der die Romanze zwischen der Artistin Nora und dem Amtsrichter beschreibt, nicht viel ändert, mündet diese doch am Ende in eine Hochzeit und damit in die Bestätigung alter Hierarchiestrukturen, zumal es sich bei der Artistin ebenfalls um eine vertriebene Adlige handelt, die Helga aus ihrer Schulzeit kennt. Die drei Vagabunden werden als gutgenährte und stets gutgelaunte Kuriositäten dargestellt, die das unstete Leben freiwillig gewählt zu haben scheinen. In den entsprechenden Szenen wird allerdings die vordergründige Freundlichkeit und Unvoreingenommenheit, mit denen die Dörfler den Dreien bei ihrer Suche nach Essen und Tabak begegnen und die sich in der höflich-formellen Anrede äußert, durch Körpersprache und Gesten (Hand auf die Schulter legen) wieder konterkariert. In keinem Moment erscheinen die Drei als den Dorfmitgliedern gleichrangige Personen, sie bleiben als 28 Vgl. Johannes von Moltke: No place like home. Locations of Heimat in German cinema, Berkeley 2005, S. 81. 29 Vgl. Bärbel Westermann: Nationale Identität im Spielfilm der fünfziger Jahre, Frankfurt a.M. 1990, S. 199f.

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Nichtsesshafte außerhalb der Gemeinschaft. Auf Vater und Tochter Lüdersen hingegen triff t zu, was Gerhard Bliersbach in seiner ›Psychogeschichte des deutschen Nachkriegsfilms‹ schon in Bezug auf die Tramps feststellen zu können meinte: »Der Film belebt die tröstliche Phantasie einer solidarischen Gemeinschaft in der Lüneburger Heide: das Wunsch-Bild einer humanen Republik.«30 Unter dem Stichwort Normalität und Abweichung ergibt sich so ein komplexes Bild: Wir begegnen einer idealisierten Filmnormalität sowie Figuren, die im Rahmen des Plots von dieser abweichen, verfolgen also als Zuschauer personale Beziehungen zu einer intakten und harmonischen Gemeinschaft in der fi lmischen Darstellung, wobei die Abweichung als Ausnahme, die vorgeführte Normalität im Wortsinn als nor mativ, als Regel des Gewünschten erscheint bzw. dargestellt wird. Dadurch positioniert sich der Film in mancherlei Hinsicht selbst als Abweichung von der empirischen Normalität, nämlich der gesellschaftlichen Realität der Nachkriegszeit, wenngleich er Elemente dieser Realität aufnimmt und verarbeitet. Er tut dies aber spielerisch und unter Berücksichtigung der medien- und genrespezifischen Gesetzmäßigkeiten sowie der mentalen Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums. Insgesamt führt Grün ist die Heide exemplarisch eine erfolgreiche Integration durch die Nachkriegsgesellschaft vor, die auf Gesetzestreue und dem »Blick nach vorn« basiert,31 in dem die kritische (individuelle oder kollektive) Selbstreflexion und Rückbesinnung auf Ursachen gegenwärtiger Probleme allerdings keinen Platz haben.32 »Die Integration der Flüchtlinge vollzieht sich über die Kindergeneration«33 – auch darin spiegelt sich gesellschaft liche Wirk lichkeit im Subtext des Films. Das allgemeine 30 Gerhard Bliersbach, So grün war die Heide, a.a.O., S. 76. 31 »[…] by recasting gender and generational dynamics, their [Heimatfilm] narratives oriented their audiences to the future by thematizing, if obliquely, the contemporary transition to a new political era: first, by taming or destroying the criminal past, embodied in the form of an aging, unacceptable masculinity and psychologized through the inability to master memories and adjust to the present; and second, by constructing new models of moral masculinity and femininity that reformulated what it meant to be German after 1945«. Heide Fehrenbach: »Persistent myths of Americanization: German reconstruction and the renationalization of postwar cinema, 1945-1965«, in: Dies./Uta G. Poiger (Hg.): Transactions, transgressions, transformations. American culture in Western Europe and Japan, New York 2000, S. 81-108, hier S. 95. 32 Vgl. Jürgen Trimborn: Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre. Motive, Symbole und Handlungsmuster, Köln 1998, S. 15f. 33 Irmgard Wilharm: »Heimatfilm in Niedersachsen«, a.a.O., S. 195.

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Integrationsangebot an alle Heimat ver triebenen und Flüchtlinge wird in der Schlussszene des Films deutlich, in der die Kamera über die Landsmannschaften in ihren Trachten fährt, die das Riesengebirgslied (»Deutsches Gebirge, meine liebe Heimat du«) anstimmen. »Wenn man sich die deutschen Filme jener Zeit wieder ansieht, so hat man das Gefühl, als seien nicht Millionen Menschen, sondern Millionen Mitglieder von Gesangvereinen aus ihrer Heimat vertrieben worden.«34 Derartige Reminiszenzen jedoch, etwa auch die visuelle Inklusion von ›Heimat‹ durch Bilder, die nicht immer in direkter Verbindung zum Filmplot stehen und vielmehr ein Wiedererkennungs- und Erinnerungsangebot an das Publikum darstellen35, sind ebenso wie die Verwendung von Dialekten ein zentrales Element des Genres, welches die Notwendigkeit unterstreicht, die Analyse des Phänomens Heimat fi lm nicht auf seine narrativen Strukturen allein zu beschränken.36 Der Schwenk in den Himmel deutet die unerfüllte Sehnsucht nach der alten Heimat an, was jedoch von Lüdersens Rede zuvor aufgefangen und dadurch relativiert wird, dass er die Heide als seine ›zweite Heimat‹ bezeichnet. Die anfänglichen Probleme Lüder Lüdersens, das Misstrauen gegenüber ›fahrenden Gesellen‹, Flüchtlingen, Zugereisten und Störern der Ordnung deuten noch in der idealisier ten Filmwirklichkeit auf die tatsächlichen Schwierigkeiten – in den Worten Claudia Beindorfs, auf den »Terror des Idylls«37 – im Umgang mit gesellschaftlichen Problemen in den 50er Jahren hin.38 Dass diese sich unter Wiederherstellung, Akzeptanz und Übernahme der alten neuen Ordnung und dem Vergessen der Ursachen für die aktuellen Probleme in Harmonie auflösen würden, war eine Botschaft im Subtext des Films, an die nur allzu gern geglaubt wurde, 34 Curt Riess: Das gibt’s nur einmal. Der deutsche Film nach 1945, Hamburg 1958, S. 266, zit. n. Klaus Kreimeier: »Der westdeutsche Film in den fünfziger Jahren«, in: Dieter Bänsch (Hg.): Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur, Tübingen 1985, S. 283-305, hier S. 298. 35 Im gleichen Sinn spricht auch Thomas Kleinspehn (Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek 1989, S. 268) von »inneren Bildern, die nur insofern etwas mit der äußeren Realität zu tun haben, als deren Spuren im Inneren weitere Bilder erzeugt: ein Rückzug in die Innenwelt, die sich gegenüber der äußeren Welt verschlossen und gleichsam tot zeigt – jedenfalls nicht veränderbar. Nur so kann sich das Ich gegenüber dem drohenden Zerfall schützen«. 36 Vgl. Johannes von Moltke: No place like home, a.a.O., S. 83f. 37 Claudia Beindorf: Terror des Idylls. Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Heimatfilm und im Landsbygdsfilm 1930-1960, Baden-Baden 2001. 38 Vgl. Johannes von Moltke: No place like home, a.a.O., S. 82.

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selbst – oder gerade weil – die Wirklichkeit oft anders aussah. Die intakte ›Heimat‹ im Film war so in den Worten Siegfried Kracauers tatsächlich der Tagtraum einer vom Flücht lingsproblem und dem Zusammenbruch der alten Ordnung gekennzeichneten Gesellschaft, die allerdings mit der Fixierung auf den familiären Zusammenhalt, traditionelle Geschlechterrollen39 sowie auf die Achtung von sozialer Hierarchie und Gesetzesvorschriften recht deutliche Vorstellungen über Inklusionsbedingungen besaß sowie gleichzeitig den Willen zur Sanktionierung abweichenden Verhaltens dokumentierte.

Literatur Adorno, Theodor W.: »Der wunderliche Realist« (1965), in: Ders.: Noten zur Literatur III, Frankfurt a.M. 1981 , S. 388-408. Beindorf, Claudia: Terror des Idylls. Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Heimatfi lm und im Landsbygdsfilm 1930-1960, Baden-Baden 2001. Binz, Vera: Schwarzwaldmädels. Klischee, Ideal und Realität der Frauenrolle im Heimatfi lm und in der Gesellschaft der fünfziger Jahre, Saarbrücken 2007. Bliersbach, Gerhard: So grün war die Heide. Die gar nicht so heile Welt im Nachkriegsfi lm, Weinheim 1989. Brandmeier, Thomas: »Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfilme«, in: Hilmar Hoffmann/Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M. 1989, S. 22-61. Confino, Alon: Germany as a culture of remembrance. Promises and limits of writing history, North Carolina 2006. Fehrenbach, Heide: »Persistent myths of Americanization: German reconstruction and the renationalization of postwar cinema, 1945-1965«, in: Dies./Uta G. Poiger (Hg.): Transactions, transgressions, transformations. American culture in Western Europe and Japan, New York 2000, S. 81-108. Fehrenbach, Heide: Cinema in democratizing Germany. Reconstructing national identity after Hitler, Chapel Hill & London 1995.

39 Vera Binz: Schwarzwaldmädels. Klischee, Ideal und Realität der Frauenrolle im Heimatfilm und in der Gesellschaft der fünfziger Jahre, Saarbrücken 2007.

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Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007. Grossklaus, Götz: »Das zerstörte Gesicht der Städte. ›Konkurrierende Gedächtnisse‹ im Nachkriegsdeutschland (West) 1945-1960«, in: Andreas Böhn/Christine Mielke (Hg.): Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity, Bielefeld 2007, S. 101124. Hake, Sabine: German national cinema, London 2002. Hilger, Dietrich: »Die mobilisierte Gesellschaft«, in: Richard Löwenthal/ Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974. Höfig, Willi: Der deutsche Heimatfi lm, Stuttgart 1973. Kaes, Anton: From Hitler to Heimat. The return of history as film. Cambridge [Mass.] 1992. Kleinspehn, Thomas: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek bei Hamburg 1989. Kracauer, Siegfried: »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino«, in: Ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 2009, S. 279-294. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947), Frankfurt a.M. 2009. Kreimeier, Klaus: »Der westdeutsche Film in den fünfziger Jahren«, in: Dieter Bänsch (Hg.): Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur, Tübingen 1985, S. 283-305. Moltke, Johannes von: No place like home. Locations of Heimat in German cinema, Berkeley 2005. Seeßlen, Georg: »Durch die Heimat und so weiter. Heimatfi lme, Schlagerfi lme und Ferienfi lme der fünfziger Jahre«, in: Hilmar Hoff mann/ Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Deutscher Nachkriegsfi lm 1946-1962, Frankfurt a.M. 1998, S. 136-161. Steinfeld, Thomas: »Unheimliche Heimat«, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Juli 2008. Stern, Frank: »Film in the 1950s. Passing images of guilt and responsibility«, in: Hannah Schissler (Hg.): The miracle years. A cultural history of West Germany, 1945-1968, Princeton 2001, S. 266-280. Trimborn, Jürgen: Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre. Motive, Symbole und Handlungsmuster, Köln 1998. Westermann, Bärbel: Nationale Identität im Spielfi lm der fünfziger Jahre, Frankfurt a.M. 1990. Wilharm, Irmgard: »Geschichte, Bilder und die Bilder im Kopf«, in: Dies.: Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film, Hannover 2006, S. 171-190.

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Wilharm, Irmgard: »Heimatfi lm in Niedersachsen«, in: Dies.: Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film, Hannover 2006, S. 191202.

Filme Das Mädchen vom Moorhof (1958, D, R: Gustav Ucicky) Das Mädchen vom Moorhof (1935, D, R: Detlef Sierck) Der verlorene Sohn (1934, D, R: Luis Trenker) Die Geier wally (1956, D, R: Franz Cap) Die Geierwally (1940, D, R: Hans Steinhoff ) Grün ist die Heide (1951, D, R: Hans Deppe) Grün ist die Heide (1932, D, R: Hans Behrendt Im weissen Rössl (1952, D, R: Willi Forst) Im weissen Rössl (1935, D, R: Carl Lamac Johannisfeuer (1954, D, R: Wolfgang Liebeneiner) Johannisfeuer (1939, D, R: Arthur Maria Rabenalt Liebe 47 (1948, D, R: Wolfgang Liebeneiner) Schwarzwaldmädel (1950, D, R: Hans Deppe) Schwarzwaldmädel (1933, D, R: Georg Zoch) Und über uns der Himmel (1947, D, R: Josef von Baky)

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Inzest im intimen Kollektiv? Deutscher Film der fünfziger Jahre und antipolitische Gemeinschaftsbildung Jörn Ahrens

Für den deutschen Nachkriegsfi lm ist das Motiv der Familie von besonderer Bedeutung. Wieder und wieder werden Familienkonstellationen präsentiert, die sich, trotz aller Differenzen in den Narrativen, als die immer gleiche Nachkriegsfamilie erweisen – diese Familie ist zum einen unvollständig, oft auch ohne inneren Zusammenhalt und entweder auf der Suche nach Erlösung oder bereits geheilt von der Unbill sozialer Entfremdung. 1 Vor diesem Hintergrund liegt die Hypothese nahe, anhand dieses Familienmodells würden die Konfliktlinien und Tragödien der deutschen Nachkriegsgesellschaft auf bereitet. Die uniforme Inszenierung der Familie lässt sich als Hinweis auf eine massiv artikulierte Sehnsucht nach einer ›long durée‹ sozialer Kontinuität interpretieren, die nicht heimgesucht wäre von der Unruhe und dem Unfrieden der Politik und ihrer Institutionen. Die deutlich pejorative Zeichnung aller Zusammenhänge von Politik und politischen Institutionen (Parteien, Staat, Exekutive) ist hier markant, wobei sich der Pejorativ nicht zwingend aus der Charakterisierung etwa der Träger der Exekutive ergibt, sondern aus deren Antipodenhaltung gegenüber dem Einzelnen. Ein solches Verlangen nach einer Implementierung nicht-politischer Gemeinschaften ließe sich medial hervorragend über den zeitgenössischen Film und dessen symbolische Repräsentation kultureller Bedürfnisse kommunizieren.2 Aus dieser Perspektive wäre es auch alles 1 Vgl. Bärbel Westermann: Nationale Identität im Spielfilm der fünfziger Jahre, Frankfurt a.M. 1990, S. 96. 2 Vgl. Jennifer Fay: Theaters of Occupation: Hollywood and the Reeducation of Postwar Germany, Minneapolis/London 2008.

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andere als zufällig, dass gerade diese Familienkonstellation zum medialen Kristallisationspunkt sozialer Praktiken und kultureller Repräsentationen wird. Thema dieses Aufsatzes ist, inwieweit diese zentrale gesellschaftliche wie kulturelle Bedeutung der Familie im Westdeutschland der fünfziger Jahre im Film diskursiviert und thematisch repräsentiert wird und inwiefern sich gerade über an das Familienthema geheftete Motive der Übersteigerung, wie den Inzest, Aufschlüsse über gesellschaftliche Haltungen erzielen lassen. Als Material dient hierfür der zeitgenössische Spielfi lm, der für die Fünfziger, also unmittelbar vor dem Durchbruch des Fernsehens, noch ohne Abstriche als gesellschaftliches Leitmedium gewertet werden kann. In der symbolischen Form des Films, als Narration und über dessen formale, ästhetische Elemente, verdichten sich kulturelle Diskurse der Zeit, die teils in allegorische Bildebenen migrieren, die jedoch entschlüsselbar sind. Die Bedeutung der zumeist unterschwellig anwesenden InzestThematik ist dabei deshalb von besonderem Interesse, weil es sich beim Inzest bekanntlich um eine weitgehend geächtete Praxis handelt, deren gehäuftes Auftreten in kultur- und gesellschaftsanalytischer Perspektive ein um so größeres Interesse wecken muss. Anstatt jedoch, wie sonst üblich, derartige diskursive Vernetzungen am Beispiel von Filmen zu exemplifizieren, die stilistisch ohnehin über ein ausgeprägtes Reflexionsniveau verfügen, also im weitesten Sinne cineastischer Qualität sind, werden im Mittelpunkt dieser Analyse Werke stehen, die dem absoluten Mainstream entnommen sind. Dabei handelt es sich um Komödien, die mit Sicherheit weder beabsichtigten, kulturell signifikante Symbolisierungen zu transportieren noch in irgendeiner Weise thematisch Stellung zu beziehen. Es sind formal uninteressante Filme, die nur dadurch interessant werden, dass sie auf symptomatische Weise Diskurse in Bilder übersetzen, die extrem zeitgebunden sind. Der Mainstreamfilm leistet dies rückblickend freilich weit besser als der ›Problemfilm‹ oder der Kunstfi lm der fünfziger Jahre, die beide bereits um Absetzbewegungen vom gängigen kulturellen Diskurs bemüht sind. Insofern gilt es gerade in der sogenannten und oft gemiedenen Durchschnittsware ein Material zu entdecken, das sich kulturtheoretisch als höchst aufschlussreich erweisen kann. Im Folgenden wird kurz die Genese der Familie als soziale Institution sowie die Familiendarstellung in zwei exemplarischen Filmen thematisiert. Dabei steht im Vordergrund die Charakterisierung der Familie als intimes Kollektiv sozialer Bindungen (1.). Daran schließt das Thema des Inzestmotivs an, das im westdeutschen Film der fünfziger Jahre eine signifi kante Häufung erfährt (2.) und das im Kontext einer anti-politischen Gemeinschaftsbildung gedeutet wird (3.).

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Familie als intimes Kollektiv Historisch hat die Familie entscheidenden Anteil an der Formung moderner Gesellschaften. Die soziale Institution der Kernfamilie ist in den westlichen Gesellschaften noch relativ jung und bildet sich vor allem im 18. und 19. Jahrhundert heraus. Im Laufe des 18. Jahrhunderts und mit der Etablierung neuer sozialer Bindungskräfte wurde der familiäre Haushalt genötigt, sich gegenüber der ungleich größeren und wirkmächtigeren Institution Gesellschaft zu öffnen.3 »Die Produktion wurde aus dem Haushaltsverband ausgegliedert. Die Familie wurde zum Privatbereich.«4 Einerseits ließ sich auf diesem Wege das Ideal einer bürgerlichen Familie realisieren, einschließlich des Heiratsmodells, des Systems der Kernfamilie und daran angehefteter Individualisierungsprozesse; andererseits konstatiert der Historiker Antoine Prost, die »Eroberung des häuslichen Raums« als einer Etablierung des Privaten habe sich bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts gezogen.5 Jedoch förderte dieser Prozess, trotz wachsender familiärer Privatheit, auch eine Zunahme der Kontrolle des Einzelnen durch die Familienmitglieder. Aufgrund der oftmals rigiden Organisationsstrukturen und der beengten Lebensverhältnisse im Einzugsbereich der Familie waren die meisten Individuen strikten Regulierungen unterworfen, die dem Einzelnen eine Privatsphäre geradezu unmöglich machten. Historisch diente die Implementierung eines familiären Raums – als Antipode zu den weiter gefassten Grenzen der Gesellschaft – nicht nur der Emanzipation von einer scheinbar hegemonial organisierten Gesellschaft. Sie verstärkte zudem die Ausbildung extrem geschlossener Strukturen, die in der Regel auf eine durch Verwandtschaftsbeziehungen verbundene, klar limitierte Gruppe fokussieren, in der Regime der Kontrolle, Disziplinierung und Repression vorherrschen. Dennoch bildet sich in der Konsequenz die Familie als ein intimes Kollektiv aus, das im Weiteren individuelle Identität, Sentiments der Zugehörigkeit sowie emotionale Solidarität ermöglicht. Auch wenn daher Gesellschaft und Familie als komplementäre Entitäten innerhalb der sozialen Struktur erscheinen,

3 Bärbel Westermann: Nationale Identität im Spielfilm der fünfziger Jahre, a.a.O., S. 53f. 4 Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1996, S. 476. 5 Antoine Prost: »Grenzen und Zonen des Privaten«, in: Philippe Ariès/ Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 5: Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart, Augsburg 1999, S. 64.

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sind sie doch auch Opponenten mit Blick auf ihre Positionierung bei der Errichtung hegemonialer Sozialstrukturen. Die starke historische Akzentuierung der Familie als dem primär wichtigen Raum sozialen Lebens fügt sich zu ihrer massiven zeitgenössischen medialen Präsenz. In ihrer Studie über die deutsche Familie in den fünfziger Jahren hebt Merith Niehuss hervor, der »Familienverband« sei von besonderer Bedeutung gewesen, indem er an der Lösung einer doppelt konnotierten Problemlage beteiligt gewesen sei: »der Lösung der materiellen und der psychischen Probleme von Vergangenheit und Zukunft«6. Überraschenderweise führte die Krise des sozialen und kulturellen Umfelds nach dem Zweiten Weltkrieg gerade nicht zum Niedergang der sozialen Institution Familie. Vielmehr erwies diese sich als erstaunlich resistent gegenüber allen Herausforderungen der Zeit. Hingegen stärkten die ökonomische und die soziale Misere der Nachkriegsjahre wie auch die psychische Belastung, die auf den Einzelnen wie auch auf der Gesellschaft lastete, die Familie als Institution. Mehr noch, führte dies schlussendlich sogar zu einer Restauration des traditionalen Familienbildes. Die Filme der fünfziger Jahre begleiten diesen Prozess kontinuierlich, indem sie sowohl auf die Krise der Nachkriegsfamilie rekurrieren als auch deren Idealisierung betreiben. Es gibt nicht nur zwei Varianten, die entweder auf der Problemebene die Verwerfungen der Familienzerrüttung illustrieren oder aber ein wiederzubelebendes Idyll anschmachten, sondern noch in der illusionslosesten Darstellung der Familie scheint in dieser Zeit die Sehnsucht nach der Wiederherstellung familiärer Ganzheit auf. Die Tragik der Familie als kollektiver Einheit, wie sie in den Filmen der fünfziger Jahre repräsentiert wird, liegt darin, dass sie ganz offensichtlich gebrochen und krisengeschüttelt ist – in der Regel verursacht durch den Krieg, manchmal auch durch die Diktatur. Dieses Motiv etabliert sich bereits im Trümmerfilm der vierziger Jahre.7 Die Kinder scheinen oft verwildert; die Väter sind abwesend oder durch Krieg und Gefangenschaft moralisch gebrochen; die Mütter müssen zur Ernährung der Familie beitragen und sind daher nicht in der Lage, ihrer Fürsorge-Aufgabe nachzukommen. In dieser Situation werden im Rahmen ihrer medialen Repräsentation im Mainstream-Film die familiären Verwandtschaftsbande als starke Alternative zur eigentlich primären Organisationsform, dem politi-

6 Merith Niehuss: »Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren«, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998, S. 316. 7 Vgl. Robert R. Shandley: Rubble Films: German Cinema in the Shadow of the Third Reich, Philadelphia 2001.

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schen Kollektiv ›Staat‹, etabliert. 8 Entgegen eines Primats des Politischen soll hier die Familie als vorrangige soziale Struktur dienen und Bindungen jenseits der Politik definieren.9 Zu diesem Zweck ist es notwendig, die elementare Bedeutung der Familie als intimes Kollektiv von zentraler persönlicher und sozialer Bedeutung zu betonen. Dieser Huldigung der Familie widmen sich auff ällig viele Filme des Jahrzehnts. Insgesamt zeichnen sie einen Alternativentwurf zur Institution des Staates, der kollektiv orientiert ist und offensichtlich in der deutschen Tradition einer Aufwertung der Gemeinschaft gegenüber der Gesellschaft wurzelt, wie sie wohl am prominentesten 1887 Ferdinand Tönnies in seiner Studie ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹ dargelegt hat. 10 Tönnies zufolge definiert sich Gemeinschaft als Verbindung zwischen Individuen, verstanden als »reales und organisches Leben«, wohingegen Gesellschaft als »ideelle und mechanische Bildung« gesehen wird. 11 Insofern repräsentiert die Familie (besonders aber die Mutter) einen Zustand menschlicher Einigkeit vor dem Aufkommen gesellschaftlicher Institutionen.12 Gerade deren Errichtung verursacht die »empirische Trennung« der Individuen und verlässt den Naturzustand des Menschen, welcher in eine heteronome Organisation der Gesellschaft hineintransformiert wird. 13 Hingegen ist Max Weber zufolge gerade die nüchterne und rationale Organisation von Gesellschaft eine wesentliche Bedingung für soziale Gleichheit und Pluralität. 14 Diese sozialtheoretische Antipodensituation prägt die Situation in Deutschland bis in die Gegenwart hinein und weicht erst langsam synthetischeren Ansätzen. Entsprechend einer allgemeinen Tendenz innerhalb der westdeutschen Nachkriegskultur und -gesellschaft der fünfziger Jahre, historische, politische wie auch biographische Fakten und Zusammenhänge der jüngsten Geschichte zu neutralisieren und mo8 Vgl. Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007. 9 Westermann zufolge war die Familie eine der wenigen sozialen Institutionen, die ihre Notwendigkeit und Stabilität in den Nachkriegsjahren bewahren konnten (vgl. Bärbel Westermann: Nationale Identität im Spielfilm der 50er Jahre, a.a.O., S. 97). 10 Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 1926. 11 Ebd., S. 3. 12 Vgl. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht, Frankfurt a.M. 1997. 13 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 8. 14 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980.

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ralisch zu immunisieren, ist die Ära bis zum Ende der Dekade von starken anti-politischen Haltungen gekennzeichnet. In diesem Sinne dient die Idee einer über die Familie getragenen sozialen Gemeinschaftsbildung offenbar als Modell für eine Form der sozialen Organisation jenseits der Politik und jenseits des Staates. Während diese Institutionen belastet und mithin kontaminiert sind mit einer Schuld gegenüber den Individuen, die sich ihnen anvertraut hatten, erscheint die Familie als davon abgelöste soziale Institution der individuellen Beschirmung. So wirkt die Kernfamilie als Zentrum des sozialen Lebens schlechthin, und zwar nicht nur als Metapher für eine sozial harmonische und politisch unschuldige Form der Vergesellschaftung, sondern sie bewährt sich auch als Modell zur Herstellung sozial gültiger Realität. Es ist gewiss kein Zufall, dass der deutsche Film der Zeit übervoll ist mit Repräsentationen der Familie – sowohl der durch Konflikte erschütterten Nachkriegsfamilie, als auch der gesunden Familie, die ihre Individuen von den Qualen der Vergangenheit heilen wird. Entsprechend wird im Film die immer gleiche Familienkonstellation wieder und wieder inszeniert – entweder indem sie sich auf der Suche nach Erlösung befindet oder bereits geheilt ist von sozialer Entfremdung. Diese Familiensituation bildet auch die Ausgangssituation von Willi Forsts Die Sünderin aus dem Jahr 1951, worin das Mädchen Marina (Hildegard Knef) nur aufgrund der Zerstörung der Familie in Zeiten des Krieges und der Diktatur zur Prostituierten wird. Marina wächst als Tochter aus erster Ehe ihrer Mutter in einer wohlhabenden Familie auf. Der Stiefvater erweist sich als integer und kollaboriert nicht mit den Nazis, was zur Verarmung der Familie, zur Verbitterung und Lähmung des Stiefvaters führt, der schließlich von der Gestapo verhaftet wird. Die Mutter hält sich ganz offen mit Liebhabern schadlos, hält so halbwegs ihren Lebensstandard, ignoriert aber komplett den sozialen und ethischen Wert der Familie. Der Stief bruder aus erster Ehe des Vaters verführt Marina schließlich gegen Entgelt zum Sex, macht sie, die völlig gedankenlos ist, zur Prostituierten. Der Vater entdeckt das Verhältnis, verprügelt den Sohn – möglicherweise zu Tode – und wirft Marina aus der Wohnung, die bei einer Freundin einzieht. Gemeinsam verdingen sich beide als Edelprostituierte; das Kriegsende nehmen sie nur daran wahr, dass sich die Uniformen ihrer Freier ändern. Nüchtern aus dem Off erzählt, ziehen die Szenen des Films wie Traumlandschaften am Zuschauer vorbei; es ist gewiss kein Zufall, dass häufig indirekte Einstellungen über Spiegel gewählt werden. Später jedoch wird Marina moralische Wiedergutmachung an dem erblindenden Maler Alexander leisten, dessen sie sich intuitiv annimmt. Die ganz unschuldige Liebe zu ihm reinigt sie von ihrer Vergangenheit. Der Maler wiederum lässt sich als Allegorie auf das zerstörte Deutschland interpretieren. Als Organismus erkrankt er und verfällt, und nur die helfende Hand einer 148

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Frau kann ihn wieder aufrichten, so wie die Trümmerfrauen die Ruinenlandschaften des deutschen Gesellschaftskörpers gesäubert und gepflegt hatten und ganz ebenso in hohem Maße Opferbereitschaft gezeigt haben. In dieser Perspektive wäre Die Sünderin der letzte der Trümmerfi lme. Forsts Film verursachte seinerzeit einen der größten Skandale im deutschen Nachkriegsfilm, behandelt er doch Themen wie Inzest und Prostitution und beinhaltet obendrein eine sekundenlange Nacktszene. Ähnlich wie im Trümmerfi lm der vierziger Jahre ist es Marinas Aufgabe, etwas komplett Zerstörtes wieder aufzubauen – statt der zerbombten Städte ist es hier der gefallene Künstler Alexander, um den herum sich eine Geschichte von Schuld und Loyalität entfaltet. Die Sünderin lässt sich daher auch als Allegorie auf das Vertrauen lesen, das in den nationalen Wiederauf bau gesetzt werden muss. Indem der Film zudem das Motiv der Familie fokussiert, schließt er an ein wesentliches Motiv des deutschen Nachkriegsfi lms an. Gemeinsames Thema dieser Filme ist das Verlangen nach einer erfolgreichen Wiederherstellung der Familie als Institution oder, sofern dies nicht gelingt, die Darstellung dessen, inwiefern die zerstörte Familie Verlust und Leiden verursacht. Die Omnipräsenz und permanente Iteration der immer gleichen Familienkonstellation trägt daher zur Reetablierung gültiger kultureller Institutionen und Moral bei – und zwar unabhängig von einem politisch nachhaltig entwerteten Staatswesen. Das Motiv des Inzests unterstreicht diesen Ansatz in Die Sünderin noch, indem es die sozialen Bindungen der Intimität jenseits des Staates hervorhebt, diese bleiben aber deutlich ambivalent, indem sie auch soziale Gewalt und antipluralistisches Sentiment kommunizieren. Eine etwas andere Lesart gibt Heide Fehrenbach diesem Film, wenn sie meint, der Film habe provozierend gewirkt, weil er zeige, dass die traditionellen Sozialideologien und Geschlechterbeziehungen, die im Nationalsozialismus noch propagiert wurden, nachhaltig unterbrochen, vielleicht sogar zerstört seien; außerdem betone der Film die Fähigkeit der Massenkultur, derartige Phänomene zu verbreiten. 15 Im zweiten Punkt stimmen Fehrenbach und der vorliegende Text überein; das Faszinierende am Film der Zeit ist seine Fähigkeit, zentral in der Organisation kultureller Selbstverständigungsdiskurse zu wirken. Hingegen bleibt bezüglich des Ersteren ein Dissens, da hier ja gerade eine Kontinuität traditioneller Sozialbeziehungen auch in Die Sünderin argumentiert wird. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts sind es dann vor allem Komödien, in deren Vordergrund der Schauspieler Heinz Erhardt steht, die der Bebilderung und der Propagierung einer mit der Mittelklasse identifizier15 Vgl. Heide Fehrenbach: Cinema in democratizing Germany: reconstructing national identity after Hitler, Chapel Hill/London 1995, S. 94.

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ten, scheinbar ursprünglichen familiären Harmonie dienen. Diese Filme beinhalten scheinbar keinerlei Hinweise mehr auf die Krise oder Ambivalenz der Nachkriegsfamilie, wie sie im Nachkriegsfi lm sonst üblich ist. Stattdessen präsentieren sie eine Situation, in der das Problem gelöst und die Familie als Institution von ihrem drohenden Kollaps genesen ist. Vor dieser Folie vermitteln die Erhardt-Filme das perfekte Bild eines harmonischen Familienlebens, das als zentraler Bezugspunkt für alle Familienmitglieder fungiert. Der einzige Hinweis auf die vormals durchlittene Krise der Familie findet sich in dem Umstand, dass Erhardt in den meisten Filmen zwar einer großen und fröhlichen, aber unvollständigen Familie vorsteht und als Witwer seine Kinder allein aufzieht. Dies erscheint wie eine Travestie der Tatsache, dass die Situation im Nachkriegsdeutschland in der Tat durch Ein-Eltern-Familien geprägt war; dieser Elternteil ist aber in aller Regel die Mutter gewesen. Wenn Erhardt daher als Witwer auftritt, dann spiegelt sich darin das Schicksal vieler Familien in den vierziger und fünfziger Jahren. Hier aber ist es der Vater, der noch am Leben ist und die Kinder aufzieht, während in Wirklichkeit die Väter im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft waren. 16 Die Ursache für den Tod der Ehefrau bleibt in der Regel unklar; nichts im Alltag des Haushalts erinnert an die Alltagsrealität der Nachkriegsgesellschaft – weder Zerstörung, noch Armut, noch Besatzungsmächte sind sichtbar. Mit dieser Strategie wird das Publikum über den Tod der Frau des Hauptprotagonisten im Dunkeln gelassen: Sie könnte bei einem Bombenangriff getötet, an einer Krankheit verstorben oder Opfer eines Unfalls, eines Überfalls geworden sein. Zudem ist die Erhardt-Familie zwar eindeutig als deutsch konnotiert, zugleich aber könnte sie sich an jedem x-beliebigen Ort befinden, so unspezifisch, so sehr historisch und politisch dissoziiert erscheint sie. Wenn all dies gleichermaßen möglich ist, ist eine konkrete Erinnerung weder möglich noch notwendig. Auf diese Weise partizipieren die Erhardt-Komödien stark an zeitgenössischen Tendenzen zu einer historischen und sozialen Dekontextualisierung der Nachkriegssituation. 17 Auch wenn verstärkt vertraute Themen der Zeit aufgenommen werden, sind sie doch in einer Weise neu inszeniert, welche populärkulturelle Repräsentationen konsequent von ihren Ursachen in der sozialen Realität ablöst. Allgemein geht die Bewegung dahin, die notwen16 Die letzten deutschen Kriegsgefangenen wurden 1955 aus der Sowjetunion entlassen. 17 Tendenzen wie diese geben kulturelle Verdrängungsbewegungen wieder, die zur Entlastung des kulturellen Gedächtnisses beitragen, indem bestimmte Ereignisse bereits dem kommunikativen Gedächtnis entzogen werden (vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 48-66).

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digen Repräsentationen der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart von ihren politischen, historischen und sozialen Kontexten abzulösen und einen deutschen Gemütszustand zu kreieren, der scheinbar nicht berührt ist von irgendwelchen Verbindungen zur Zeit des Nationalsozialismus, zu dessen Ideologie, Praktiken und Politik. Indem die Erhardt-Familie als Familie gezeigt wird, die zwar rührend ist, aber wesentlich durch den Vater regiert wird, wird das Bild von der zerstörten Familie doch erneut aufgenommen und neu definiert. Wenn hier der Vater von seinen Kindern verehrt und geliebt wird, dann wird genau die Autorität und das Ansehen des Vaters reetabliert, die in der Nachkriegszeit (wie die Trümmerfi lme zeigen) unter Druck geraten waren. Auf diese Weise bleibt über die Repräsentation des Witwers Heinz Erhardt selbst noch die geschwächte Familie auf den Vater bezogen. 18 Die Familie bietet ein Umfeld, das ihre Mitglieder gleichermaßen vor der Vergangenheit wie vor der Zukunft schützt, da sie die Sicherheit eines zeitlos konnotierten sozialen Raumes bietet. Unabhängig von der Metastruktur Gesellschaft etabliert sich das Familienkollektiv als intimes Kollektiv sozialen Lebens, das soziale Grenzziehungen vornimmt, die unabhängig sind von der als entfremdet erfahrenen Sozialwelt und den dort an das Individuum gerichteten Forderungen. Auf diese Weise stellt die Familie – als das primäre und wichtigste soziale Kollektiv mit großer Bindekraft – eine soziale Welt her, die nach eigenen Regeln und mittels einer eigenen sozialen und häuslichen Topographie inmitten der existierenden Gesellschaft funktioniert. Als scheinbare Alternative zur größeren, bedrohlich erscheinenden Gesellschaft ähnelt die Familie auff ällig stark Jean-Luc Nancys Modell einer »undarstellbaren Gemeinschaft«. Nancy zufolge öffnet sich das, was nicht vollständig ein Selbst ist, zugleich einer Gemeinschaft: »Die Gemeinschaft webt nicht zwischen den Subjekten das Band eines höheren Lebens, […] sondern sie ist grundlegend, sofern es sich hier um eine ›Gründung‹ handelt, auf den Tod derer verwiesen, die man vielleicht fälschlicherweise ihre ›Glieder‹ nennt.« 19 Natürlich ist die undarstellbare Gemeinschaft die wahre Gemeinschaft, die ihren Einfluss auf ihre Mitglieder sozusagen transzendent entfaltet und enorme, aber immaterielle Bindungen zwischen den einzelnen entfaltet. Als solche – und obwohl Nancy extra betont, es handele sich nicht um eine organische Ge18 Mit Albrecht Koschorke ließe sich sagen, dass damit die Rolle des Vaters als ›Hausvater‹, die durch den Exodus der Väter im Gefolge des Krieges in Frage gestellt war, in der Nachkriegsgesellschaft reinstalliert wurde (vgl. Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen, Frankfurt a.M. 2000). 19 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 37.

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meinschaft 20 – kommt sie Tönnies’ Beschreibung einer über Blutsbande geteilten Gemeinschaft sehr nahe. Bei diesem heißt es, die Gemeinschaft des Blutes als Einheit des Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, die im Zusammenwohnen ihren unmittelbaren Ausdruck hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als dem bloßen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleiche Sinne.21

Als kulturelle und soziale Einheit erweist sich die Gemeinschaft daher nicht nur als primäre Quelle von Identität, sondern auch von individueller und kollektiver Stabilität, obwohl (oder gerade weil) ihre Bindekräfte gänzlich immateriell und transzendent bleiben. Befunde wie diesen unterstreicht Franz Baermann Steiner, wenn er die soziale Bedeutung der Familie nicht hoch genug einschätzen mag. So urteilt er, die Familie liefere »das formale Element für die gesellschaftliche Realität«. Da eindeutig »Verwandtschaft der Kern des sozialen Phänomens« sei, werde Familie notwendig auch »als soziale Institution zu etwas überaus Wichtigem« und müsse als solche unbedingt anerkannt werden.22 Die Versuchungen der Moderne – Sinnlichkeit, materielle Güter und Mobilität – nicht weniger als die Bedrohungen durch die Vergangenheit – Krieg, Verlust und Schuld – definieren die sozialen und kulturellen Bedrohungen, denen die Individuen während der Nachkriegsjahre ausgesetzt sind. Gegen die Zukunft genauso wie gegen die Vergangenheit wird die Familie als gemeinschaftlich geteilte Erlösungsinstitution in Stellung gebracht. In der Konsequenz unterliegt die Familie als soziale Institution, über welche Zugehörigkeit und Sinnproduktion definiert wird, einer starken Idealisierung. Als intimes Kollektiv erschaff t sie einen eigenständigen sozialen Raum, worin soziale und verwandtschaftliche Bindungen zu einer enorm starken Gemeinschaftsstruktur verschmelzen, die sich dem Individuum ganz über dessen Bejahung der Peer Group erschließt. Indem der Wert der Familie betont wird, wird das vormals streng herrschende, abstrakte politische Kollektiv durch das denkbar intimste Kollektiv ersetzt. Diese Substituierung verweist deutlich auf die Ermüdung der Politik in der Nachkriegszeit sowie, parallel dazu, auf die Favorisierung des privaten Lebens, das von den Belangen der Politik unberührt bleibt.

20 Vgl. ebd., S. 159f. 21 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 14. 22 Franz Baermann Steiner: Zivilisation und Gefahr. Wissenschaftliche Schriften, Göttingen 2008, S. 220.

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Inzest und Intimität Eine Steigerung erfährt die mannigfaltige Präsenz des Familienmotivs im westdeutschen Film der fünfziger Jahre in der Häufung inzestuöser Konstellationen.23 Das Phänomen markiert eine radikalisierte Variante familiärer Intimität, worin diese sich als disharmonisch und gewalttätig erweist. Das reicht von einer Sexualisierung von Gesten, welche Zuneigung zu Kindern ausdrücken, bis zu ausdrücklichen Thematisierungen. Eine solche Häufung scheint zunächst erstaunlich, ist doch Claude Lévi-Strauss zufolge das Inzesttabu eine der ältesten und effektivsten Institutionen bei der Organisation von Gesellschaft und familiärer Angelegenheiten. LéviStrauss meint schließlich sogar, im Inzestverbot die absolute Norm sozialer Organisation gefunden zu haben, da von allen denkbaren sozialen Normen nur diese Universalität für sich beanspruchen könne.24 Jede Gesellschaft müsse den Inzest überwinden, wenn sie den Stand organisierter Kultur erreicht habe und, mehr noch, wenn sie soziale Institutionen ausbildet. Mit der Negation des Inzest, also der Negation sozialer Verhältnisse, die auf konkreten Verwandtschaftsbeziehungen beruhen, wird die Basis für allgemeine soziale Bindungen geschaffen: Das Inzestverbot ist das Verfahren, mit dem die Natur sich selbst überwindet; es ist der Funke, der eine neue und komplexere Struktur entstehen läßt, welche die

23 Freilich findet sich die Häufung dieses Motivs vor allem im notorischen Heimatfilm der Zeit (vgl. Elizabeth Boa/Rachel Palfreyman: Heimat: A German Dream. Regional Loyalties and National Identity in German Culture 1890-1990, Oxford/New York 2000; Johannes von Moltke: No Place Like Home: Locations of Heimat in German Cinema, Berkeley et al. 2005); jedoch soll hier von diesen allzu offensichtlichen Beispielen gerade abgesehen und gezeigt werden, dass just diese Motivlage auch an ganz anderer Stelle auffindbar ist. 24 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a.M. 1993; ähnlich betont 1913 auch Freud die Bedeutung des Inzesttabus für die Gesellschaftsbildung, der davon spricht, fast überall wo der Totem gelte, bestehe »auch das Gesetz, daß Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zueinander treten, also auch einander nicht heiraten dürfen« (Sigmund Freud: Totem und Tabu, in: Ders.: Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a.M. 1974, S. 297). Diese Verunmöglichung der Vereinigung des Mannes »mit allen Frauen seiner eigenen Sippe« leite dann über in die Implementierung sozialer Strukturen jenseits der Blutsverwandtschaft (vgl. ebd., S. 299). Das artikulierte Inzestverlangen hingegen (gegenüber den Eltern) erachtet Freud als den »Kernkomplex der Neurose« (ebd., S. 310).

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einfacheren Strukturen des psychischen Lebens überlagert und integriert […]. Es zeitigt und ist selbst die Heraufkunft einer neuen Ordnung.25

Lévi-Strauss zielt hier auf den Zusammenhang zwischen einer Ablösung der Familie als primärer sozialer Struktur und der erfolgreichen Implementierung allgemeingültiger, definierter sozialer Beziehungen als Basis von Kultur und Gesellschaft. Für ihn markiert das Inzest-Verbot den Übergang von Konsanguinität zu kultureller Allianz.26 Beide, Kultur und Gesellschaft, basierten auf abstrakten Verbindungen zwischen Individuen; verglichen damit erscheint die Betonung von Verwandtschaftsbeziehungen (wie immer diese auch definiert sind) als zu konkret und als unfähig, eine größere Population zu integrieren. Gesellschaft und ihre Bindungskräfte müssen, wie zahlreiche Kulturtheorien hervorheben, durch die Einführung verschiedenster Verbote bestätigt werden. Eines davon ist ganz offensichtlich das Inzestverbot, das in modernen Gesellschaften zumeist im Sinne einer unmittelbaren Verwandtschaft definiert ist – es deckt damit sämtliche Familienbeziehungen ab, von Verbindungen innerhalb der Kernfamilie bis hin zu solchen zwischen Verwandten dritten oder vierten Grades. Vor diesem Hintergrund erscheint es einleuchtend, dass das Thema des Inzests kulturell niemals unproblematisch gewesen ist, obwohl es immer wieder in Kunst, Literatur und Medien aufgegriffen wurde. In ihrer umfangreichen Studie zum Inzestmotiv in der modernen Literatur und im Film schreibt Dagmar von Hoff, man könne versucht sein, den Inzest – mit Lévi-Strauss – als universelle Thematik zu verstehen; so als handele es sich um eine Konstante, die unverändert durch die Jahrhunderte wandert. Aber diese Annahme ist unzutreffend. Der Begriff Inzest wird different gehandhabt und steht von unterschiedlichen politischen und kulturellen Anliegen – bleibt aber dennoch ein kommunikationsfähiges und in alle Kulturen übersetzbares Phänomen.27

Bezeichnenderweise diagnostiziert Hoff für die deutsche Kultur der Nachkriegszeit einen Anstieg inzestuöser Motive, und zwar insbesondere für die Literatur. Bezogen auf das Zeitfenster nach 1945, meint sie, lasse sich der Inzest als angebunden an Imaginationen einer erotisierten Aggression 25 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, a.a.O., S. 74. 26 Ebd., S. 78. 27 Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart, Köln 2003, S. 70.

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interpretieren.28 Hoff bemerkt, der Inzest sei in den zeitgenössischen Kulturprodukten als »verworfener Bereich«29 gekennzeichnet. Nach wie vor sei keine positive Möglichkeit des Inzests vorstellbar gewesen. Zudem gelangt Hoff zu dem Schluss, zur Besonderheit des Gegenstands gehöre es, dass derartige ›unerträgliche Vorstellungswelten‹ gerade durch die Familie befördert würden. Funktion eines solchen familiären Horrors sei es, den Inzest wie die Verkleidung einer Unterdrückung erscheinen zu lassen; als Abwehr eines Schreckens, der nicht mehr vorgestellt werden kann.30 Diese These könnte zur Klärung zumindest einer Bedeutungsvariante des Inzests in der Kultur Nachkriegsdeutschlands beitragen, indem sie darauf verweist, dass deren Gegenwart nach wie vor durch den Nationalsozialismus überschattet gewesen wäre.

Abb. 1: Marina und der Stief bruder Wie bereits erwähnt, betont Forsts Die Sünderin die Thematik inzestuösen Verhaltens nur wenig kaschiert, was unter anderem zu dem Skandal beitrug, den der Film auslöste. Hier wird der offene Inzest nur durch den Umstand verdeckt, dass Marina und ihr Stief bruder keine biologischen Geschwister sind und Marina außerdem wie eine Prostituierte entlohnt, der Inzest also neu kontextualisiert wird. Wie Lévi-Strauss jedoch gezeigt hat, ist die Definition des Inzests nicht an biologische Verwandtschaftsverhältnisse gebunden. Darüber hinaus existiert eine Form der intimen Verwandtschaft, die sich auf strukturelle oder phänomenologische familiäre Bindungen bezieht, weshalb der Film auch völlig zu Recht und nur kon28 Ebd., S. 146. 29 Ebd. 30 Ebd.

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sequent mit der Inzestproblematik in Verbindung gebracht wurde. Zwar wird der Inzestakt niemals direkt gezeigt, doch gibt es eine Reihe symbolischer Einstellungen, die die sexuelle Verstrickung betonen – so etwa die im Close-up gefi lmte Übergabe einer Schmuckkette des Stief bruders an Marina zu deren Entlohnung, woraufhin er sie an der Hand nimmt und mit sich zieht. (Abb. 1) Als der Vater das Treiben der Geschwister entdeckt, wählt Forst jedoch eine mise-en-scène, die unmissverständlich klarmacht, dass der Beischlaf soeben vollzogen wurde; Marina liegt noch im zerwühlten Bett und bedeckt sich schamhaft. Hier bleibt der Inzest eindeutig negativ codiert, führt zum finalen Auseinanderbrechen der Familie und deckt sich mit Hoffs Beobachtung, er thematisiere symbolisch die Schrecken der Nazi-Zeit. Verglichen mit diesem Film stellen die Erhardt-Filme schlechterdings eine Eskalationsstufe dar, deren Narrative viel unschuldiger erscheinen, indem sie auf amüsante Weise die Probleme der durchschnittlichen Mittelklasse-Familie aufnehmen. Erstaunlicherweise beinhalten auff ällig viele der Erhardt-Filme inzestuöse Motive, die überwiegend in deren Subtext kommuniziert werden. Zweifellos am heftigsten erfolgt dies 1959 in Natürlich die Autofahrer (R: Erich Engels) worin Heinz Erhardt den Verkehrspolizisten Eberhard Dobermann spielt. Wie üblich ein Witwer, hat dieser zwei Kinder, den etwa 12-jährigen Felix (Arne Madin) und die 19-jährige Karin (Maria Perschy). Die Handlung präsentiert in einzigartiger Vollständigkeit sämtliche Motive, die für die westdeutsche Wirtschaftswundergesellschaft der späten fünfziger Jahre von Bedeutung sind – der Urlaub auf Mallorca, das neu erbaute Eigenheim, der Kauf des ersten Autos, der Erwerb eines Fernsehers. Aber nicht dies ist verblüffend an diesem Film, oder doch nur ornamental. Vor allem nämlich imaginiert Vater Dobermann ganz offensichtlich ein libidinöses, eheähnliches Verhältnis zu seiner Tochter Karin. Da diese enorm gehorsam ist, macht es ihr der daraus resultierende Loyalitätskonflikt ungeheuer schwer, sich für eine unabhängige Beziehung mit ihrem Freund Walter zu entscheiden. Als würde der Film diese Konstellation nicht schon deutlich genug herausstellen, ist nach ungefähr 10 Minuten Filmlaufzeit eine Szene eingefügt, die Dobermanns sexuelle Aufdringlichkeiten pointiert. Schon während des Tages hatte er von seiner Nachbarin Jutta Schmalbach (Ruth Stephan) erfahren, Karin könne möglicherweise von ihm unabhängiger werden wollen, und dies nicht zuletzt im Hinblick auf Beziehungen zu Männern. Jetzt ist es später Abend; Dobermann, der bereits im Pyjama ist und in seinem Bett liegt, ruft Karin herbei. Aufgenommen als Halbtotale erscheint Karin und setzt sich zu ihm auf das Bett. Sie hat immer noch das hübsche Kleid an, das sie tagsüber auf dem Einweihungsfest des gerade bezogenen Eigenheims der Familie trug. Dobermann fragt seine Tochter einigermaßen suggestiv, ob ihr das neue »Häuschen« 156

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denn gefalle, was diese bejaht und meint, es sei wunderbar. Darauf hin entspinnt sich folgende Unterhaltung: Dobermann: Kannst du dir auch was Schöneres vorstellen, als unser Häuschen?/ Karin: Nein, Vati, aber warum fragst du denn so komisch?/Dobermann (insistierend): Auch keinen jungen Mann?/Karin (unsicher): Wieso? Wie kommst du denn darauf?/Dobermann (fordernd): Würdest du jemals unser Häuschen gegen einen jungen Mann eintauschen?

In dieser Szene nötigt Dobermann seine Tochter geradezu, ihre eigenen Bedürfnisse zu verleugnen und stattdessen die seinen anzunehmen. In der 80 Sekunden langen Sequenz ergreift er zunächst Karins linke Hand, die dann mit ihrer rechten die seine festhält. Am Ende hat Dobermann damit Erfolg, Karin dazu zu bringen, eine Art Bekenntnis abzulegen: »Karin: Aber ich lass dich doch nicht allein./Dobermann: Nein?/Karin: Nein./ Dobermann: Ganz bestimmt nicht?/Karin: Bestimmt nicht.« In dem Moment, da Karin ihrem Vater verspricht, ihn niemals zu verlassen, lehnt sie sich vor, legt ihren Kopf auf seine Schulter und umarmt ihn. (Abb. 2) Ikonographisch ist diese Szene eindeutig als Liebesszene inszeniert. Sie ist so angelegt, als würden die beiden sich einander ganz im Geiste der romantischen Liebe versprechen, deren eines Kennzeichen die Unterordnung der Frau im Haushalt ist – so wie auch Karin den Haushalt keinesfalls soll verlassen dürfen.31

Abb. 2: Eberhard Dobermann mit seiner Tochter Karin

31 Vgl. Anthony Giddens: Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1993, S. 54.

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Als handele es sich um die Travestie eines Melodrams, verspricht die Tochter ihrem Vater lebenslange Loyalität, ganz so, als sei dieser ihr Verlobter. Der Witwer hat seine Tochter zu seiner Frau gemacht; die Szene präsentiert beide als Liebespaar, selbst wenn man berücksichtigt, dass die Braut sich hier nur gezwungen in ihre Rolle findet. Nur kurz zuvor, während des Einweihungsfestes, hatte Dobermann eine Unterhaltung mit seiner ihn wiederum umwerbenden Nachbarin Jutta Schmalbach geführt, die ihn veranlasste, das Gespräch mit seiner Tochter zu suchen. Jutta hatte zunächst angedacht, die Kinder könnten sein Haus eines Tages verlassen. Dobermann entgegnet: »Warum ziehen die Kinder aus? Dieses Haus habe ich ja für meine Kinder erbaut./Jutta: Ja, ich dachte nur, wenn sie mal heiraten./Dobermann (erstaunt): Heiraten? Also, warum sollten die denn heiraten? Besser als bei ihrem Vati können sie es ja nirgends haben.« Zuletzt behauptet Dobermann von seiner Tochter: »Und ich bin überzeugt davon, dass sie mir eines Tages sagen wird: Vati, ich verlass dich nie – (zu Jutta:) verlass dich drauf!« Das ist exakt das Bekenntnis, das er nur wenig später von Karin erzwingen wird. Eberhard Dobermann imaginiert ein eheliches Verhältnis zu seiner Tochter und er ist schon jetzt eifersüchtig auf jeden nur möglichen Rivalen – denn von Walter ahnt er noch gar nichts. Mehr noch betrachtet er die zu seiner Frau gemachte Tochter als seinen Besitz, den er niemals an irgendjemanden weggeben würde. Die Szene, in der sich Karin ihm verspricht, während sie zu seinen Füßen auf seinem Bett sitzt, ist klar sexualisiert. In diesem Film ist die inzestuöse Sphäre kein zufälliges Detail, sondern definiert den Ausgangspunkt des gesamten Handlungsverlaufs. Natürlich kann Dobermann schließlich überzeugt werden, sein inzestuöses Verhalten aufzugeben, seine Tochter freizugeben und Jutta Schmalbach zu heiraten. Dennoch bleibt bemerkenswert, dass der Held des Films, mit dem das Publikum sich am ehesten identifiziert, fast bis ganz zum Schluss auf dieser Praxis insistiert. Erhardts Filme weisen eine auff ällige Präsenz inzestuöser Motive auf. So beinhaltet bspw. Vater, Mutter und neun Kinder (R: Erich Engels) aus dem Jahr 1958 eine Szene, die den Vater zeigt, wie er inmitten der Schar seiner halbwüchsigen, nur spärlich bekleideten Töchter posiert. Grob gefasst geht es in diesem Film um die Turbulenzen einer Großfamilie im niedersächsichen Einbeck. Der Bäckermeister Friedrich Schiller (Heinz Erhardt) und seine Frau Martha (Camilla Spira) nennen stolze neun Kinder ihr Eigen und stehen kurz vor der Silberhochzeit. In dieser Situation jedoch wird ausgerechnet der biedere Schiller Opfer einer amourösen Attacke einer zweifelhaften Dame, deren Aktivitäten ausgerechnet seine als Journalistin arbeitende Tochter recherchiert. Bis dahin leben die Eheleute Schiller zufrieden ihr so harmloses wie harmonisches Provinzdasein, das sich, wie auch sonst, primär auf die Familie fokussiert. Die akute Bedrohung dieser Familienkonstellation wird erst von außen an sie herangetragen, in Form einer Versu158

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chung durch die moderne Gesellschaft. Kurz vor seiner Silberhochzeit gerät Schiller in eine delikate Situation, als er den Abend mit einer ihm unbekannten, aber verführerischen Dame verbringt. Diese ist die Frau eines reichen Mannes aus der Region, stammt aber selbst aus der Stadt und hat eine ganz offenkundig fragwürdige Vergangenheit. Nun verführt sie die Männer aus der Gegend reihenweise und führt darüber akribisch Buch. Obwohl in jener Nacht überhaupt nichts Ernstes passiert ist, tut Schiller seinerseits freilich alles, um sein Geheimnis vor seiner Familie zu wahren. Die mise-en-scène der besagten Szene zitiert nun den Stil zeitgenössischer Revuefilme. Eine der prominentesten Choreographien dabei ist die Figur des Fächers, zu dem sich der Chor hinter dem Sänger auffaltet, diesen zart berührend und anhimmelnd. Diese Filme waren ausgesprochen erfolgreich; es kann davon ausgegangen werden, dass diese Formensprache dem Nachkriegspublikum allzu vertraut war. In diesem Fall betritt der Vater einen Raum, worin seine vier älteren Töchter sich gerade umziehen und lediglich mit Unterwäsche bekleidet sind. Als der Vater eintritt, bedeckt sich eines der Mädchen zuerst schamhaft, da es erschrickt. Dann aber sind sie plötzlich alle um ihn herum, umarmen ihren Vater und geben ihm Küsse. (Abb. 3) Eines der Mädchen witzelt, der Vater habe doch nicht hereinkommen dürfen, da er sie alle habe beschämen können, worauf dieser antwortet: »Stellt euch mal nicht so an! Früher, als ich euch auf den Topf gesetzt habe, habt ihr überhaupt nichts angehabt.« Dann wendet er sich stolz zu seiner Frau und ruft: »Na, Mutter, was sagst du nun?! Meine Töchter!« Freilich ließe sich behaupten, diese Szene zeige lediglich, wie ungezwungen ein Vater im Umgang mit seinen adoleszenten Töchtern sein kann. Und mehr noch könnte man argumentieren, ein Verhalten wie das des Bäckermeisters Schiller spiegele den normalen und tendenziell gelassenen Umgang der Zeit mit Kindern und Teenagern.

Abb. 3: Friedrich Schiller und seine hübschen Töchter

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Allerdings betritt Schiller den Raum einigermaßen aufdringlich. De facto kümmert er sich nicht um die Gefühle und Bedürfnisse seiner Töchter; er stört sich nicht im Geringsten daran, ob er willkommen ist oder nicht. Schließlich protestieren seine Töchter zunächst über sein Eindringen und wechseln in ihrem Verhalten ihm gegenüber erst dann zu zärtlichen Gesten, als sie mit ihrem Protest nicht durchdringen und der Vater sich schlichtweg weigert, wieder zu gehen. Gerade wenn man die ästhetische Reminiszenz an den Musical-Film in Betracht zieht, die aufscheint, indem all die mäßig bekleideten Mädchen sich um ihren voluminösen Vater gruppieren, der das eindeutig genießt und schließlich noch bei seiner Frau damit angibt, fällt es schwer, die darin enthaltene sexuelle Symbolisierung zu übersehen. Überhaupt ist Schillers Verhalten, der die Privatsphäre seiner Töchter konsequent ignoriert, ziemlich aufdringlich. Indem er sie mit den Kleinkindern vergleicht, die er dereinst auf den Topf gesetzt hat, kommuniziert er ganz offen, dass er ihren im Zuge von Pubertät und Adoleszenz vollzogenen Statuswechsel gewollt negiert. Schiller erkennt seine Töchter nicht als eigenständige Persönlichkeiten an; ein Problem, das dem Verhalten Dobermanns in Natürlich die Autofahrer stark ähnelt. Für Schiller handelt es sich schlicht noch um Kinder, die keine Privatsphäre für sich einfordern können. Dass seine Töchter erwachsen werden, will er ganz offensichtlich nicht akzeptieren. Sein Verhalten ist daher alles andere als nicht prüde; vielmehr erweist er sich als der Spießer, der unumschränkt über seine Familie herrschen möchte. Gegenüber der Außenwelt definiert als intimes Kollektiv, entfaltet die Familie eine strikte Vermeidung des Privaten im Innern. Unter der familiären Harmonie des intimen Kollektivs verbirgt sich ein enormes Potential an autoritärer Herrschaft, dem sich dessen Mitglieder ausgesetzt sehen. Die ganze Gewaltsamkeit des Politischen und des Sozialen, die durch die Emigration in den familiären Raum gerade umgangen werden sollte, fließt in die Familie als soziale Struktur wiederum ein; und gerade weil es sich um eine so intime und geschlossene Institution handelt, erscheint die Gewaltsamkeit, die sich innerhalb der Familie entfaltet, nur um so intensiver. In Vater, Mutter und neun Kinder erinnert nichts daran, dass noch bis vor kurzem in diesem Landstrich der Nationalsozialismus und der Krieg geherrscht hatten – der Film platziert sich in einer Landschaft, die explizit dekontextualisiert und in ihrer Unversehrtheit wie aus der Zeit genommen wirkt. Die idyllische Fachwerkstadt Einbeck, in der der Film spielt, hat den Krieg unzerstört überstanden; die Landschaft bietet sich hübsch und unschuldig dar, wenn junge Leute sie in einem offenen Pritschenwagen durchqueren und auf der Ladefläche sitzend fröhliche Lieder singen. Nichtsdestotrotz wird der Film an einer Stelle doch noch von den wirklichen Zerstörungen der Vergangenheit eingeholt, und zwar in Gestalt des 160

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Inzestproblems und seiner Auflösung. Zwei der Schiller-Kinder verlieben sich nämlich ineinander und werden deshalb auch sofort von heftigen Schuldgefühlen verfolgt, bis sie sich endlich der Mutter anvertrauen. Diese jedoch kann sie beruhigen, indem sie ihnen eröffnet, in Wirklichkeit seien sie gar keine Geschwister. Vielmehr sei der Junge von den Schillers adoptiert worden, nachdem seine Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sei. Für einen Augenblick gelingt es hier den Grausamkeiten des Krieges, in das friedvolle Setting einzudringen. Jedoch wird gerade dieses Eindringen der Kriegsrealität positiv gewendet, indem es exakt den Hintergrund abgibt, vor dem die Liebenden, die eben noch Geschwister waren, legitimerweise ein Liebespaar sein dürfen. Die Pointe der Situation liegt darin, dass gerade der Umstand der Entdeckung, dass der Junge gar nicht wirklich, also biologisch, zur Familie gehöre, ihm den weiteren Verbleib als Mitglied der Familie Schiller ermöglicht.32 Auf diese Weise demonstriert die Familie ein weiteres Mal machtvoll ihre Fähigkeit, sich die Individuen zu integrieren und harmonische Identitäten und Lebensbedingungen für jene herzustellen, die in die Angelegenheiten dieses intimen Kollektivs involviert sind – und dies alles, ohne die externen Institutionen der Gesellschaft auch nur zu tangieren. Mit diesem Ansatz, wie er in Vater, Mutter und neun Kinder ausgeführt wird, wird die von außen, aus dem sozialen Raum an das Familienkollektiv herangetragene Bedrohung noch einmal in beide Richtungen unterstrichen: Durch die Zukunft wie auch die Vergangenheit einer deutschen Gegenwart, die ansonsten ortlos gemacht scheint.

Anti-Politik Vor diesem Hintergrund lässt sich das in den Erhardt-Filmen enthaltene Inzestmotiv als Radikalisierung der symbolischen Funktion der Familie als intimes Kollektiv verstehen. Genau genommen wird in diesen Filmen das Inzestverbot in sein Gegenteil verkehrt: in die Aufforderung zu inzestuösem Verhalten. Nicht das Verbot, sondern der praktizierte Inzest schaff t hier jenes soziale Kollektiv, das sich auf Aspekte familiärer Intimi32 Damit stellt der Film auch ganz eindeutig eine Antipodensituation zum Umgang mit und zur Inszenierung von Inzest in Die Sünderin her. Ist der Inzest in Die Sünderin noch das Ferment der sozialen und individuellen Dekomposition, so wird er hier im Augenblick seiner Verhinderung zur Enthüllung der Wahrheit über die soziale Identität. Freilich bleibt es im Erhardt-Film beim bloßen, nur irrigerweise inzestuösen Begehren, während im Falle von Die Sünderin der Akt, obschon nur im Rahmen sozialer Verwandtschaftsverhältnisse, sichtbar vollzogen wird.

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tät bezieht. Diese Form der Intimität repräsentiert die denkbar stärksten sozialen Bindungen. Indem das gesellschaftliche Inzestverbot in ein Inzestgebot verkehrt wird, wird auch eine neue Form der Gesellschaftlichkeit hergestellt, die sich von jedem sozialen Raum im weiteren Sinne abgrenzt und isoliert und strikt auf die enge Bindung durch Verwandtschaft setzt. Sozialität wird ersetzt durch Intimität. Im Inzest wird daher eine Abweichung von der Gesellschaft als primärem Feld der Institutionalisierungen des Sozialen und des Alltagslebens repräsentiert. Stattdessen schließt sich das intime Familienkollektiv durch den Inzest von der sozialen Außenwelt ab. Die Erfindung der Kultur, sagt Lévi-Strauss, sei essentiell, um »die Existenz der Gruppe als Gruppe zu sichern und folglich […] den Zufall durch Organisation zu ersetzen.«33 Das Inzesttabu ist Teil dieser Substituierung. In der Konsequenz wird ein System sozialer Macht entfaltet, durch das die Individuen – und auch die Familie – ihrer Fähigkeit zur autonomen sozialen Organisation und Regulation enteignet werden. Diese wird an den abstrakten Bereich der Gesellschaft und ihrer Normierungen delegiert. Einer Beobachtung Foucaults zufolge trägt die Familie zur Verbreitung einer Form von Sexualität bei, welche sie in Wirklichkeit reflektiere und schließlich sogar überwinde.34 Zumal in den Erhardt-Filmen funktioniert Sexualität ganz offensichtlich als Signifi kant für Sozialität und gesellschaftliche Allianzbildung. Auch gegenüber dem üblichen Duktus der Zeit wird hier eine spezielle Ausschließlichkeit sozialer Funktionalität des Sexuellen verfolgt, die keine zwecklose Beziehung zulässt. Inzestuöse Sexualität würde diese Aspekte dann gerade nicht transportieren, sondern wäre ihnen symbolisch gleichgestellt. Indem auf diese Weise die Familie den sozialen Fokus ganz auf sich selbst verlagert, tendiert sie als Gemeinschaft dazu, eine absolute Form auszubilden, die dann auch einen Hang zur Gewaltsamkeit entwickelt – auch wenn dieser subtil verdeckt bleibt. In symbolischer Hinsicht bedeutet dies eine massive libidinöse Signatur der eigenen Gemeinschaftsstruktur, die sich in einem erotischen Begehren widerspiegelt, das sich auf das soziale Innen konzentriert. Der Sinn des Inzesttabus ist es ja in erster Linie, die Frauen in ihren eigenen Familien sexuell zu isolieren, und deren Verteilung unter den Mitgliedern und unter der Kontrolle einer größeren sozialen Gruppe zu vereinfachen. »Kurz, das Inzestverbot besagt, daß Frauen ihren gesellschaftlichen Nutzen nicht auf der Basis ihrer natür-

33 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, a.a.O., S. 81. 34 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1991, S. 134.

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lichen Verteilung erhalten dürfen.«35 Vielmehr müssen Zirkulation und Verteilung, als soziale Instrumente, selbst sozialisiert werden. Die Betonung des Inzests bedeutet daher die Ablehnung dezidierter und abstrakter sozialer Institutionen sowie die Protektion einer anti-sozialen Struktur im Sinne einer Vergemeinschaftungspraxis, die durch das intime Kollektiv repräsentiert wird, wie es die Familie darstellt. Auch Hoff hebt hervor, dass der Inzest – als das Familiengeheimnis schlechthin – eine politische Komponente beinhalte, indem er die verdrängte jüngste deutsche Vergangenheit repräsentiere.36 Jedoch zielt das Inzestmotiv in der Kultur Nachkriegsdeutschlands nicht nur auf die Verdrängung der Vergangenheit ab, deren Beunruhigungspotential allzu groß wäre. Ganz ebenso bezieht es sich auf ein Unbehagen vor einer sozialen Zukunft, die durchaus zweifelhaft erscheint. Der zeitgenössische Film triff t somit eine Aussage über das Ausmaß der sozialen und politischen Zerrüttung und Entfremdung, Zustandsbeschreibungen also, denen nachdrücklich ein sowohl anti-gesellschaftliches als auch anti-politisches, intimes Kollektiv entgegengesetzt werden soll, das ausdrücklich innerhalb des strikt liminalen Rahmens der Familie und ihrer Strukturen realisiert werden soll. Im Grunde wird damit nur konsequent verwirklicht, was nach Foucault die Aufgabe der Familie ist – als »Umschlagplatz zwischen Sexualität und Allianz« zu dienen.37 Indem Sexualität und soziale Allianz hier zusammenfallen und identisch werden, repräsentieren sie gleichermaßen Normativität und Begehren. Diese ausgeprägte Identität führt aber eben auch zur Exklusion von Dissens. Im intimen, auf soziale Harmonie gegründeten Kollektiv ist Pluralität unmöglich.38 Die grundsätzlich individualisierte Sozialeinheit Familie negiert im Innern jede Form von Individualität und forciert eine Uniformität, die den politisch-institutionellen Anforderungen der Zeit strikt zuwiderläuft. Ob als bergendes Nest, worin ihre Leute vor der Unbill der sozialen Welt beschirmt werden, wie in den Erhardt-Filmen, oder als gescheiterter Lebenszusammenhang wie in Die Sünderin, der seine Individuen desillusioniert in eine kalte Lebenswelt entlässt, die Familie selbst scheint immer zeitlos zu sein und sich trotz aller Schwierigkeiten beständig zu perpetuieren als 35 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, a.a.O., S. 97. 36 Vgl. Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse, a.a.O., S. 157. 37 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, a.a.O., S. 131. 38 Im Gegensatz dazu spricht etwa Giddens davon, die Möglichkeit von Intimität bedeute »das Versprechen auf Demokratie« (Anthony Giddens: Wandel der Intimität, a.a.O., S. 203), insofern die private Sphäre demokratisiert werden solle.

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der einzige Raum, worin Menschlichkeit möglich wäre. Auch in der familiären Dystopie in Die Sünderin scheint immer noch die Möglichkeit auf, es hätte sich im Rahmen einer funktionierenden Familie, arm aber wohlbehalten, die Diktatur überdauern lassen. Keinen Zweifel lässt jedoch der gutmütige Erhardt’sche Spießer daran, dass die Humanität dieser Familie sich zum einen bedingungslos dem Familiensouverän beugen muss und außerdem in ihrer dezidierten Abgrenzung von Gesellschaft letztlich antihuman wirkt, da sie jede Möglichkeit eines sozialen Zwischenraums, also auch des gemeinsamen Handelns per se unterbindet. Während Die Sünderin 1951 noch davon auszugehen scheint, die Familie werde durch äußere Einflüsse zerstört, die sich symbolisch im Inzest manifestieren, hält am Ende der Dekade bei Heinz Erhardt gerade der Inzest die Familie beisammen und generiert eine intim gefasste soziale Gemeinschaft. Im Bild der um das Inzestmotiv herum gruppierten Familiengemeinschaft, das sowohl den größeren, abstrakten Kontext der Gesellschaft als auch die politische Organisation ersetzt, wird eine im Westdeutschland der fünfziger Jahre einflussreiche, depolitisierende Tendenz zum Ausdruck gebracht. Die darin aufgerufene soziale Harmonisierung wird, auch wenn dies symbolisch getarnt bleibt, als politisches Statement gegen den Einfluss staatlicher Institutionen kommuniziert. In dieser Figuration offenbart sich dann auch eine Idiosynkrasie gegen eine plurale Organisation der Strukturen des sozialen Lebens, die damit zugleich auf ein profundes Misstrauen, zumindest ein Desinteresse, gegenüber der noch nicht abschließend etablierten Demokratie als Regierungsform verweist.

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Filme Die Sünderin (1951, D, R: Willi Forst) Natürlich die Autofahrer (1959, D, R: Erich Engels) Vater, Mutter und neun Kinder (1958, D, R: Erich Engels) 165

Die Reflexion des RAF-Terrors in fiktionalen Filmen der Bundesrepublik Deutschland Knut Hickethier

Beim Verhältnis von Normalität und Abweichung im bundesdeutschen Film stellt sich die Frage nach »Ausnahmezuständen«, die als »Momente großer gesellschaftlicher Intensität« erfahren werden und »die der kollektiven Kommentierung und der erinnerungskulturellen Einordnung bedürfen«1 . Schaut man sich daraufhin die Themenbereiche an, die in den Medien der Bundesrepublik wiederholt als solche besonderen Momente der Geschichte thematisiert werden, dann sind es vor allem folgende: Nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg als vorvergangene, aber die Bundesrepublik noch bestimmende Themenbereiche beschäftigen die deutsche Teilung und Wiedervereinigung als miterlebte und zeitgenössisch reflektierte Momente deutscher Geschichte viele Autoren und Regisseure des deutschen Films nach 1945. Danach aber nimmt die Beschäftigung mit der RAF, der linksextremistischen Terrororganisation ›Rote Armee Fraktion‹, so ihr selbstgewählter Begriff, einen auch – in der öffentlichen Wahrnehmung – quantitativ gewichtigen Raum ein. Sie steht für den Umschlag einer Utopie von friedlicher gesellschaftlicher Veränderung in Gewalt und verkörpert diesen Zusammenhang symbolträchtig und stellvertretend auch für die anderen gewaltradikalen Gruppierungen. Ihre Thematisierung kehrt als etwas scheinbar Verdrängtes und öffentlich Thematisiertes »zyklisch« immer wieder, »sie ist wie ein Trauma, das nicht im Versteck arbeitet, sondern größte Sichtbarkeit genießt«2 . Anders 1 Flyer zum Symposium ›Szenenwechsel‹, Groningen, 25. September 2008. 2 Christina Nord: »Filmstart ›Baader Meinhof Komplex‹. Der Spuk geht weiter«, in: die tageszeitung, 20. September 2008, S. 31.

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als andere Terrororganisationen, die weltweit auf Anonymität setzten, waren hier ihre Protagonisten von Beginn an bekannt, auch wenn die ihnen nachfolgenden ›Generationen‹ der RAF dann wiederum oft anonym blieben. Ob es z.B. eine ›vierte Generation‹ in den 1990er Jahren gegeben hat, ist zweifelhaft. Die ›zyklische‹ Wiederkehr macht das letztlich Unerledigte des Themas deutlich, und dass dies wiederholt spektakulär in Medienproduktionen geschieht, steht für die fortwirkende Brisanz der Frage, wie sich die deutsche Gesellschaft definiert. Dabei spielt immer wieder das AußerNormale eine Rolle, weil nur über dessen Diskussion auch Normalität definiert werden kann. Die Diskussion versucht im Engeren zu klären, wie eine ›richtige‹, eine ›korrekte‹ Darstellung des Konflikts zwischen Staat und Terrorismus auszusehen hat und wie diese große innere Bewährungsprobe, die die Bundesrepublik in den 1970er Jahren zu bestehen hatte, stattfand.

Die RAF und andere Terrorgruppen Am 2. Juni 1967 erschoss bei einer Demonstration ein Polizeibeamter den Studenten Benno Ohnesorg in Berlin.3 In der Folge kam es zu einer breiten Solidarisierung der Studenten und anderer politisch Interessierter mit den Oppositionsbewegungen: Der Staatsapparat galt als Gegner, weil in ihm die NS-Vergangenheit noch nicht völlig beseitigt war und er seine Autorität notfalls mit Gewalt durchzusetzen schien, so die Einschätzung vieler linker Gruppen. Mit dem Konzept einer ›Spaßguerilla‹ sahen sich einige aus der Studentenbewegung Kommende in der Tradition von Che Guevara, Mao und anderen linken Protagonisten. Ziel war die Veränderung der Gesellschaft, auch wenn die Zielvorstellung dabei diff us blieb. Inwieweit dabei Gewalt eingesetzt werden durfte, wurde unterschiedlich beantwortet und spaltete bald die außerparlamentarische Oppositionsbewegung, wobei die RAF die radikalste Abspaltung darstellte. Sie als Reaktion »auf den bewältigten Nationalsozialismus des öffentlichen Deutschlands«4 zu deuten, wie es Thomas Elsaesser vorgeschlagen hat, scheint jedoch den terroristischen Charakter der RAF zu stark in einen Rechtfertigungszusammenhang zu bringen. 1968 wurden Baader, Ensslin und andere durch Brandstiftungen in Frankfurter Kaufhäusern bekannt, entsprechende Flugblätter, Bekennerschreiben etc. wurden mit ›Rote Armee Fraktion‹ unterschrieben. Von 3 Vgl. ausführlich Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985. 4 Thomas Elsaesser: Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD, Berlin 2006/2007, S. 18.

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1970 bis 1998 wurde die RAF als mehr oder weniger existent angesehen. Als ihr Beginn wird die Baader-Befreiung bei einem Besuch der FU-Bibliothek durch Ulrike Meinhof angesehen. Es folgten Banküberfälle und Autodiebstähle. Mit programmatischen Texten trat die RAF mehrfach hervor; es ging ihr in den Schriften um die Veränderung des politischen Systems, vor allem um die Abschaff ung des autoritären Staates und des kapitalistischen Systems. Als »erste Generation« gelten vor allem Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe, Meins und einige andere; dieser Generationsbegriff wurde jedoch erst später eingeführt. Sehr früh wurde gerade der RAF die gewalttätige Konfrontation mit dem System zum Ziel ihres Handelns. Schon 1971 kam es zu ersten massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei, mit Toten auf beiden Seiten. 1972 beging die Gruppe fünf Anschläge auf US-Einrichtungen und staatliche Institutionen, danach wurden die wichtigsten Protagonisten verhaftet, sie traten in einen 145 Tage dauernden Hungerstreik, in dessen Folge Holger Meins trotz Zwangsernährung starb. 1975 kam es zum Prozess in Stuttgart-Stammheim, bei dem die RAF-Mitglieder zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Es entstand eine ›zweite Generation‹, die die Gefangenen freipressen wollte. Schon lange war nicht mehr die Veränderung der Gesellschaft das Ziel, sondern nur noch der Kampf gegen sie, nur noch die Befreiung der Gefangenen mit allen Mitteln. Im Februar 1975 wurde der Spitzenkandidat der Berliner CDU, Peter Lorenz, entführt, die Bundesregierung ließ einige inhaftierte RAF-Mitglieder frei und in den Jemen ausfliegen, im Gegenzug kam Lorenz frei. Im April 1975 wurde die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm besetzt, es gab mehrere Tote. Die Bundesregierung war nun und in der Folge auch bei anderen Anschlägen nicht mehr bereit, sich auf die Bedingungen der RAF einzulassen und Gefangene freizulassen. Das Jahr 1977 gilt als Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit der RAF, ihr Synonym ›Deutscher Herbst‹ wurde zum Filmtitel. In diesem Jahr wurden der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und der Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto ermordet, der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wurde zunächst entführt und dann ebenfalls ermordet. Zusätzlich kamen zahlreiche Begleiter zu Tode. Um die RAF-Gefangenen freizupressen, entführten palästinensische Terroristen eine Lufthansa-Maschine nach Mogadischu, deren Insassen jedoch von einem speziellen bundesdeutschen Einsatzkommando, der GSG 9, befreit wurden. Daraufhin begingen Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim Selbstmord, Ulrike Meinhof hatte schon ein Jahr zuvor in ihrer Zelle in Stammheim den Suizid gewählt. Es gab weitere Anschläge, u.a. auf den Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Alexander Haig, der aber misslang. Zwischen 1985 und 1993 fanden 169

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weitere Morde statt: auf den Diplomaten im Auswärtigen Amt, Gerold von Braunmühl, den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, den Treuhand-Präsidenten, Detlev Karsten Rohwedder sowie auf weitere Personen. 1993 kam es in Bad Kleinen zu einer Schießerei zwischen der GSG 9 und Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld, bei der Grams zu Tode kam und Hogefeld fliehen konnte. 1998 schließlich ging bei der Nachrichtenagentur Reuters ein Schreiben ein, mit dem sich die RAF als aufgelöst erklärte. Insgesamt haben 60 Menschen ihr Leben lassen müssen, davon 26 von der RAF und 34 andere. Zahlreiche weitere Menschen wurden verletzt und Sachschäden in Millionenhöhe verursacht. Wie kaum eine andere Gruppe hat die RAF die Bundesrepublik verändert. Sie hat dazu geführt, dass der Staat seine Gesetzgebung verschärfte, die GSG 9 als Einsatztruppe schuf, das Bundeskriminalamt (BKA) umund ausbaute, die Computertechnologie für die Aufklärung einsetzte, und damit u.a. die Rasterfahndung einführte und ein komplexes System der Datenspeicherung auf baute, das nicht nur die konkret Beschuldigten erfasste, sondern auch zahlreiche andere. Nach einem Klima der Öff nung und des Auf bruchs in eine liberalere und freiere Bundesrepublik Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre führte die Auseinandersetzung mit der RAF dazu, dass der Staat aufrüstete und sich selbst wehrhaft machte. Die 1970er Jahre gelten deshalb auch als »Jahrzehnt der Inneren Sicherheit«, wie es Klaus Weinhauer in seinem instruktiven Forschungsbericht über den Terrorismus in den 1970er Jahren dargestellt hat.5 Um kaum eine andere gewalttätige Gruppe hat es seit Beginn der 1970er Jahre einen derart heftigen und erbitterten Streit in der Öffentlichkeit gegeben. Dieser Streit führte zu manifesten Lagerbildungen, die bis in die Gegenwart reichen. Es ging – und es geht heute immer noch – um die grundsätzliche Frage, ob das Handeln der RAF aus der Zeit und dem Verhalten des Staates zu erklären – und letztlich zu verstehen – sei, oder ob der Staat und seine Vertreter richtig gehandelt haben, mit der RAF also eine massive Bedrohung des bundesdeutschen Gemeinwesens abgewehrt werden konnte. Die einen sahen die immer noch junge bundesdeutsche Demokratie in Gefahr, die durch die Terroristen und durch diejenigen entstand, die eine verbale Kritik am Staat für berechtigt hielten und deshalb als ›Sympathisanten‹ bezeichnet und oft auch denunziert wurden (Prototyp des ›Sympathisanten‹ war in den Medien, insbesondere der Springer-Presse, lange Zeit Heinrich Böll). Die anderen sahen, dass die RAF für den Staat 5 Klaus Weinhauer: »Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebziger Jahre«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 44. Ausg., Jg. 2004, S. 219-242.

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und einen Teil der Medien zum Anlass oder sogar zum Vorwand wurde, den Staat mit mehr Macht und mehr Rechten auszustatten – zulasten der Freiheit seiner Bürger. Sie befürchteten, dass nicht nur die bürgerlichen Rechte eingeschränkt werden könnten, sondern dass auch der Staat selbst nicht rechtsstaatlich operieren würde. Den Höhepunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bildeten vor allem die Jahre zwischen 1975 und 1979, in deren Zentrum der »Deutsche Herbst« von 1977 steht, in dem die Bundesregierung unter Helmut Schmidt und unter Einbeziehung der parlamentarischen Opposition unter Helmut Kohl nach dem Mord an Buback, Ponto sowie den Entführungen von Schleyer und der Lufthansa-Maschine nach Mogadischu eine Art von Ausnahmezustand erzeugte, um einen entschlossenen und handlungsstarken Staat zu präsentieren und den Terrorismus zu bekämpfen. Neben den polizeilichen Aktionen wurden die Auseinandersetzungen – in einer teilweise hysterischen Grundstimmung – in den Medien und damit in der Öffentlichkeit ausgetragen. So oder so, es handelte sich um eine Phase äußerster Anspannung, in der sich Staat und Gesellschaft befanden und die für das weitere Verständnis der Bundesrepublik von Bedeutung war. Auch die heutigen Diskussionen um die Abwehr und Bekämpfung des Terrorismus und die Bewahrung bürgerlicher Freiheitsrechte sind immer noch vor dem Hintergrund dieser Debatten der 1970er Jahre zu sehen. Dabei verschieben sich die Fronten immer wieder. Schon Ende der 1970er wurden staatliche Zugriffsrechte auf die bürgerliche Privatsphäre wieder eingeschränkt, nahm sich der Staat selbst in seinen Ausspäh-Aktionen von sogenannten ›Sympathisanten‹ und anderen Unbeteiligten wieder zurück.

Die RAF im bundesdeutschen Film Die Thematisierung der RAF hat im bundesdeutschen Film (ebenso wie in der Literatur)6 einen entsprechenden Niederschlag gefunden. Der Film wird dabei als ein Mittel verstanden, durch dessen besondere Möglichkeiten der Veranschaulichung und der Erlebnisgestaltung in der Debatte Positionen versteh- und nachvollziehbar gemacht werden können. Die kulturelle Thematisierung ermöglicht es, am öffentlichen Streit teilzunehmen, liefert Einsichten und Anschauungen, erzeugt Bilder, die sich nachhaltig einprägen, Teil einer kulturellen Ikonografie werden und damit längerfristig ein Deutungsbild liefern, das die Gesellschaft in ihrem Handeln weiter 6 Vgl. dazu Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF, Köln/ Weimar/Wien 2008.

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prägt. Jörn Ahrens ist der Auffassung, dass dies nicht gelungen sei,7 auch Georg Seeßlen meint, zu einem »Genre« sei es noch nicht geworden, 8 weil die Darstellungen zu »zersplittert« seien, als dass sich eine deutungsmächtige einheitliche Darstellung, also mit anderen Worten ein ›master narrative‹, herausgebildet hätte. Gleichwohl gibt es jedoch einige fotografische Abbildungen, die nicht zuletzt durch ihre wiederholte Verwendung stereotypisiert und mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen und damit ikonisiert wurden. Nun stellt die Formulierung eines ›Mythos RAF‹ die Geschichte des Terrors in einen Kontext anderer Mythen, drängt vielleicht sogar Lesarten auf, die kritisch nachzufragen sind. Thomas Elsaesser hat z.B. in seiner Beschäftigung mit den Filmen über die RAF den antiken Antigone-Mythos als »hermeneutischen Schlüssel« für den »heißen Herbst« von 1977 gesehen, weil Antigones Missachtung des Gebots des Königs, den toten Bruder nicht bestatten zu dürfen, letztlich in die Katastrophe führt. Antigone wird von Elsaesser als »Schlüsselmythologie von 1977« verstanden.9 Es geht nach Elsaesser denn auch, selbst wenn man den Bezug auf Antigone verallgemeinert, um das Verhältnis von Staat und Individuum, von der Machtanmaßung des Staats und dem Widerspruch des Einzelnen. Benutzt Elsaesser noch den Begriff des Mythos derart, dass er die RAF-Geschichte auf alte Mythen, quasi als Ur-Mythen der westlichen Kultur, bezieht, so ist jedoch häufiger – bis hin zum Aust/Edel/Eichinger-Film Der Baader Meinhof Komplex (2008) – von einem quasi selbständigen RAF-Mythos die Rede, so als schaffe sich die Bundesrepublik – ähnlich anderen Nationen – eine eigene Mythologie und ergänze auf diese Weise die überlieferten Mythen durch neue. Der RAF-Mythos erweist sich dabei als ein Mythos, der eng mit dem Gemeinwesen Deutschlands (genauer mit dem der Bundesrepublik Deutschland) verknüpft ist, und der dieses Gemeinwesen letztlich auch verstehbar und seinen Kern sichtbar macht. Natürlich ist die Thematisierung der RAF eingebunden in die bundesdeutsche Kultur, nicht nur in den Film, sondern sie ist auch Gegenstand der Literatur, die zahlreiche Bücher, von Bernhard Vesper über Friedrich C. Delius und Christian Geissler bis zu Rainald Goetz, hervorgebracht hat, 7 Jörn Ahrens: »Die Zelluloid-Zeit. Die Rote Armee Fraktion (RAF) im deutschen Spielfilm«, in: Zeitgeschichtliche Forschungen, Mai 2007. URL: www.zeit geschichte-online.de/zol/portals/_rainbow/documents/pdf/raf/ahrens_rafim film.pdf [15. September 2008]. 8 Georg Seeßlen: »Die deutsche Öffentlichkeit war in die RAF verliebt. Drei Jahrzehnte RAF im Film«, in: Freitag, 23. März 2007. 9 Thomas Elsaesser: »Antigone BRD. Die Rote Armee Fraktion, Deutschland im Herbst und Todesspiel«, in: Ders.: Terror und Trauma, a.a.O., S. 61.

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sowie im Weiteren auch Thema anderer Medien sowie der Popkultur mit ihren zahlreichen Kult-Artefakten. In einer ersten verdienstvollen Erhebung hat Anna Pfitzenmaier für die ›Zeitgeschichtlichen Forschungen‹ eine Filmografie verfasst, die 29 fi ktionale und 49 dokumentarische Produktionen für das Kino und das Fernsehen enthält. 10 Sie ist jedoch bei weitem nicht vollständig. 11 Je nachdem, wie weit oder wie eng das Themenfeld verstanden wird, ist die Zahl der Filme größer oder kleiner. Vor allem die Zahl der dokumentarischen Sendungen und Filme dürfte deutlich höher liegen, wenn die vielen Beiträge in den politischen Fernsehmagazinen, den Dokumentationen und Fernsehdiskussionen genauer ermittelt werden. Doch die Filme zum RAF-Terror sind nicht nur ein Thema der jüngeren deutschen Film- und Fernsehgeschichte, die Beschäftigung mit dem Thema ist seit 2007 wieder im vollen Umfang im Gange und damit auch in eine neue Phase eingetreten. Am 25. September 2008 startete Ulrich Edels Film Der Baader-Meinhof-Komplex, nach einem Drehbuch von Bernd Eichinger und Stefan Aust, in den deutschen Kinos. Die Nachricht, dass es diesen Film geben sollte, wurde schon ein Jahr zuvor in der Öffentlichkeit verbreitet. Der ›Spiegel‹ widmete dem Film – noch vor der Uraufführung des Films am 25. September 2008 – am 8. September 2008 eine Titelgeschichte, 12 der »Stern« berichtete am 4. September 2008 davon und in der politischen ARD-Talkshow Anne Will am 21. September 2008 diskutierten Stefan Aust, Hans-Joachim Vogel und andere den Film, den das Publikum noch nicht kannte. 13 In den Vor-Diskussionen ging es immer wieder um die Grundfrage, wie sympathisch oder unsympathisch die Staatsvertreter und die RAF-Mitglieder gezeigt worden seien. Während Aust in der Anne Will-Talkshow betonte, jeder Satz der Filmfiguren in den entscheidenden Phasen sei historisch belegt (alles sei also so gewesen wie dargestellt), monierte der SPD-Politiker Hans-Joachim Vogel, Buback und die anderen Staatsvertreter schauten unsympathisch aus (und implizit meinte das: damit würden ihnen keine Sympathien zukommen). Auch in anderen Talk-

10 Anna Pfitzenmaier: »RAF, Linksterrorismus und ›Deutscher Herbst‹ im Film. Eine kommentierte Filmographie (1967-2007)«, in: www.zeitgeschichteonline.de/site/40208741/default.aspx [8. März 2008]. 11 So fehlen z.B. frühe Fernsehsendungen wie der Fernsehfilm von Rolf Hädrich nach einem Drehbuch von Dieter Meichsner Kennen Sie Georg Linke? (ARD/ NDR, 27. Juni 1971). 12 N.N.: »›Hört auf, sie so zu sehen, wie sie nicht waren.‹ Ein Film zerstört den Mythos RAF«, in: Der Spiegel, Nr. 37, 8. September 2008, S. 41-56. 13 Anne Will in Erstes Deutsches Fernsehen (ARD), 21. September 2008.

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shows traten die alten Protagonisten der jahrzehntelang geführten Debatte auf, bis hin zu Bettina Röhl, der Tochter Ulrike Meinhofs. Dass eine solche – letztlich gespenstische – Diskussion möglich war, belegt, wie die Medien mit einem solchen Thema heute noch umgehen und welche Wirkungsmacht auch heute noch fi ktionale Thematisierungen der RAF-Geschichte haben. Weiterhin hat im Juli 2008 eine Gruppe von Filmemachern von Fatih Akin über Wolfgang Becker und Dominik Graf bis zu Tom Tykwer angekündigt, einen Omnibusfi lm, ähnlich dem Kluge/Fassbinder/Reitz/ Schlöndorff-Film Deutschland im Herbst (1978), zu drehen, der Deutschland 09 (2009) heißen soll und damit offensichtlich eine neue fi lmische Positionsbestimmung liefern sollte bzw. soll. 14 Die RAF wird also offensichtlich auch weiterhin ein die Medienöffentlichkeit erregendes Thema sein. Im Folgenden geht es um die fi ktionalen Filme und dokumentarischfi ktionalen Mischformen zum RAF-Terror. Denn es ist auff ällig, dass über ein so zeitnahes und sich über Jahre hinziehendes Ereignis eine derart beträchtliche Zahl nicht nur dokumentarischer, sondern auch fi ktionaler Darstellungen entstanden ist. Die fiktionalen Darstellungen stehen für ein Bedürfnis nach symbolischer Verdichtung des Themas, nach Zuspitzung und Deutung, die weit über das dokumentarische Nachzeichnen und Rekonstruieren hinausgehen. Indem die Filme die Ereignisse um die RAF zu Geschichten machen, sie also erzählen und erzählbar machen, formulieren sie das für viele Menschen letztlich wenig Fassbare. Dabei wird in ihnen wiederholt das Verhältnis von Normalität und Abweichung thematisiert, denn es geht in ihnen häufig darum, welche Deutungen den Ereignissen gegeben werden und welche sich als dominant durchsetzen. Filme wirken dabei auf zweierlei Weise: Zum einen machen sie sichtbar, welche bestimmende Lesart der realen Ereignisse angestrebt wird und – im Zusammenhang mit der Rezeption der Filme – sich auch als dominant durchgesetzt hat, zum anderen wirken sie selbst an der Durchsetzung dominanter Lesarten mit, indem sie solche plausibel und in sich schlüssig darstellen. Fiktionale Filme zeigen damit, wie Geschichte letztlich verstanden werden soll. Versucht man die Filme historisch zu gruppieren, so lassen sich folgende Gruppen bilden und einzelnen Phasen der neueren Geschichte zuordnen: • die indirekte Thematisierung des Terrors durch Darstellung der Situation; 14 N.N.: »Tykwer und Akin drehen Episodenfilm«, in: Spiegel-online, 8. Juli 2008, http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,564539,00.html [22. Juli 2009].

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Die Reflexion des RAF-Terrors in fiktionalen Filmen

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der ›Sympathisanten‹ (von 1971 bis 1977); die direkte Thematisierung der RAF (von 1977/78 bis 1992); Umwertungen und Neuorientierungen (von 1992 bis 2000); Dokumentarische Nüchternheit vs. Filmspektakel (von 2001 bis 2007).

Eine solche historische Gruppierung gibt jedoch nur die Hauptrichtungen der fi lmischen Behandlung wieder; die Grenzziehungen sind nicht trennscharf, wiederholt sind auch später noch Versionen der Geschichte zu sehen, die in früheren Phasen bereits ausbuchstabiert wurden. 15 Bei der Erörterung der fi ktionalen Darstellungen der RAF im Film – insbesondere von Zeithistorikern – wird häufig nur untersucht, wie zeitgeschichtlich korrekt die realen Ereignisse im Film behandelt werden. Filme sind jedoch immer auch in ihren medialen Bedingungen und ihrer gestalterischen Medienspezifik zu sehen, d.h., sie stehen immer auch im Kontext der deutschen Filmproduktion und ihrer thematischen und konzeptionellen Schwerpunkte. Dabei lassen sich drei Ebenen unterscheiden, auf denen diese Bedingungen wirksam werden: 1) die RAF-Thematisierung im bundesdeutschen Film steht im Kontext der Themen- und Stilwellen des deutschen Films (sowohl des Kino- wie des Fernsehfi lms) seit den 1970er Jahren: Die Involviertheit der zeitgenössischen Filmregisseure und -autoren in den 1970er und 1980er Jahren in die damalige konfrontative Situation prägte ebenso wie das von ihnen vertretene Konzept des Autorenfi lms den Versuch, eine eigene Position zur Auseinandersetzung zwischen dem Staat und dem RAF-Terrorismus zu beziehen. Dominant ist dabei, dass für die Filmemacher in dieser Phase ein enger Zusammenhang der RAF mit der in dieser Zeit vielfachen Nicht-Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bestand. Die RAF erschien als eine Reaktion auf das Unaufgearbeitete, als eine ›Rückkehr des Verdrängten‹, indem nämlich die RAF den kulturellen Eliten der Bundesrepublik ›ihre Maske‹ herunterreißen wollte, unter der dann der Faschismus sichtbar werden würde. Die Filme der 1970er Jahre sind deshalb vor dem Hintergrund der nicht abgeschlossenen Debatte um das Erbe des Nationalsozialismus zu sehen. Gleichzeitig befanden sich viele Filmemacher selbst in einem Milieu, das vom BKA, den Politikern und der konservativen Presse als Umfeld von heimlichen oder verdeckten ›Sympathisanten‹ der RAF angesehen wurde.

15 Eine etwas abweichende Periodisierung schlägt Andreas Elter vor, geht jedoch von wesentlich weniger Filmen aus. Vgl. Andreas Elter: Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt a.M. 2008, S. 237-243.

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In den 1990er Jahren sind einige Filme über die RAF, vor allem dort, wo sie sich satirisch mit dem Sujet auseinandersetzen, nicht ohne den Kontext der Filmkomödien jenes Jahrzehnts und der Rede von der sogenannten ›Spaßgesellschaft‹ zu sehen, sodass die RAF, aber auch die Vertreter des Staates satirisch gezeichnet werden und es zu frühen Formen der popkulturellen Idolisierung der RAF kommt. Andererseits wirken hier auch Konzepte des Fernsehfi lms auf die RAF-Darstellung ein, insbesondere dort, wo es um die Verbindung von fi ktionalen und dokumentarischen Elementen geht. Heinrich Breloers zweiteiliger Film Das Todesspiel von 1997, der als die wichtigste Darstellung der RAF in dieser Zeit zu werten ist, steht auch im Kontext der Thematisierung der Skandal- und Konfliktfälle, die die Bundesrepublik bestimmt haben und wie sie gerade Breloer zu Gegenstand seiner Filme gemacht hat (vom Barschel-Skandal in Die Staatskanzlei [1989] über den Coop-Skandal der Gewerkschaften in Kollege Otto [1991] bis zur Figur des Sozialdemokraten Wehner und seine Bewertung in Wehner [1993]). in der Zeit ab 2000 ist die Thematisierung der RAF nicht zu trennen vom Entstehen der sogenannten ›Berliner Schule‹ des deutschen Films, in der – in Abkehr vom Boom der Filmkomödien der 1990er Jahre – wieder eine ernsthafte und kritische Thematisierung der deutschen Gegenwart im Film gewagt wird. Mit dem Film Der Baader Meinhof Komplex wird ab 2008 versucht, die Geschichte im Sinne eines großen globalen Sujets darzustellen und damit auch international als einen ›Filmmythos‹ zu etablieren. Versucht wird dabei, Elemente des amerikanischen Kinos aufzunehmen, um das Sujet auf diese Weise auch für ein internationales Publikum ›konsumierbar‹ zu machen. 2) Weiterhin ist für die fi lmische Gestaltung des RAF-Sujets der Kontext von Gewalt- und Terrordarstellungen mitzubedenken, wie sie der amerikanische und europäische Film geliefert hat – von den Vietnamfilmen bis hin zu Filmen der gewalttätigen Rebellion der 1960er Jahre, weil, so eine Deutung des Filmwissenschaftlers Seeßlen, »die RAF selber so viel Kino enthielt« und in ihren Vorstellungen Bilder der fi lmischen Rebellen präsent waren. 16 Jean-Luc Godards Außer Atem (1960), Dennis Hoppers Easy Rider (1969), Arthur Penns Bonnie and Clyde (1967) und andere Filme stehen mit ihren Outcasts Pate bei der RAF-Darstellung. James Dean, Marlon Brando und Jean-Paul Belmondo scheinen als Vorbilder auf, und es war wohl auch vor allem die Selbststilisierung und eigenartige Medienfi xierung Andreas 16 Georg Seeßlen: »Die deutsche Öffentlichkeit war in die RAF verliebt«, a.a.O.

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Baaders, seine als ›animalisch‹ bezeichnete Präsenz jenseits aller politischen Proklamation, die zu solchen Deutungen der RAF im Rahmen einer Popkultur beigetragen hat. 17 Wiederholt wird darauf verwiesen, dass gerade die RAF-Figuren viel mit Kinohelden und deren Inszenierung zu tun haben 18 und dass sie als Medienfiguren dazu dienten, ein Lebensgefühl zu radikalisieren. 3) Dass es sich um Spielfilme handelt, wird jedoch auch noch in grundsätzlicher Weise virulent. Der Ausnahmezustand, der die Figuren im Film in eine besondere Anspannung setzt, der eine Herausforderung bedeutet und nach Bewältigung verlangt, bildet ein Grundmuster der Dramaturgie des fi ktionalen Films. Dabei steht die Sympathie fast immer auf der Seite des David, der gegen Goliath kämpft, auf der Seite der Gruppe junger Aktivisten, die sich mit dem Leviathan, also der Ordnungsmacht Staat, anlegt. Insofern gibt es auch eine dramaturgie-inhärente Sympathie des Films für die von der Normalität, von den bestehenden Verhältnissen abweichenden Einzelnen, die den Widerstand suchen und dabei zwangsläufi g zu den falschen Mitteln greifen und am Ende untergehen. Die Nähe der Autorenfi lme der 1970er Jahre zu den Terroristen und ihr Verstehenwollen von deren Handlungen resultiert also auch aus einem fi lmischen Denken, in das sowohl allgemeine Vorstellungen von der Geschichte und dem Erzählen von Geschichten eingehen als auch die Kenntnis der fi lmgeschichtlichen Tradition in der Thematisierung des Verhältnisses von Individuum und Staat. Es bedurfte also schon einer manifesten Reflexion vieler Dimensionen des Sujets und der Wahl ganz anderer Narrationsformen, um beim Erzählen der RAF-Geschichte nicht in diese traditionellen Schemata zu verfallen. In der Konstruktion der Abweichung von der Normalität wird das Andere, das Fremde sichtbar, bzw. soll es sichtbar gemacht werden, wobei dieses Fremde, so ein filmisches Narrationsmuster, immer auch Teil des Normalen und des Eigenen ist. Das macht wiederum solche Konstruktionen spannend, weil sich über dieses Verhältnis von Außen und Innen Gesellschaft definiert und mit ihr jeder Einzelne Position beziehen kann, wobei dies nicht unbedingt die vom Film nahegelegte Position sein muss. Man kann also die Filme nicht nur auf ihre Bewältigung einer zeitgeschichtlichen Thematik hin betrachten, sondern muss auch immer ihre Medialität und Fiktionalität mit im Blick haben. 17 Vgl. Alexandra Tacke: »Bilder von BAADER. Leander Scholz Rosenfest und Christopher Roth Baader«, in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF, a.a.O., S. 63-87. 18 Ebd.

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Die indirekte Thematisierung des Terrors (von 1971 bis 1977) Anders als es Jörn Ahrens 2007 in seiner Studie über die RAF-Filme dargestellt hat, 19 beginnt die Thematisierung der RAF nicht erst mit Volker Schlöndorffs Film Die verlorene Ehre der Katharina Blum von 1975. Auch wenn hier Filme, die nur dem Kontext der Thematisierung von Auf begehren und Rebellion einer jungen Generation in den 1960er Jahren entstammen und die sich nicht explizit auf die RAF beziehen, wie z.B. Johannes Schaafs Film Tätowierung von 1967 oder Rudolf Thomes Rote Sonne (1969), ausgeklammert bleiben, gibt es bereits frühere Thematisierungen der RAF. In Klaus Lemkes Fernsehfi lm Brandstifter (ARD/WDR 13. Mai 1969) geht es um eine Brandstiftung in einem Kölner Kaufhaus. Damit wird auf den Frankfurter Kaufhausanschlag von Baader und Ensslin angespielt. Lemke kannte Baader auch persönlich und ein direktes Aufgreifen der Ereignisse ist hier gegeben. Klaus Lemke, der mit seinen anderen Filmen jugendliche Figuren und deren Verhaltensweisen am Rande der gesellschaftlichen Normen zeigt (legendär seine Filme in den 1970er Jahren mit Cleo Kretschmer), rückt damit sehr früh die Baader-Meinhof-Gruppe in einen solchen Kontext eines filmisch letztlich sympathischen Widerspruchs zur ›Normalität‹ der bestehenden Verhältnisse. Auch wenn zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Films die weiteren Dimensionen des RAF-Terrors noch nicht absehbar waren, wird hier schon ein Grundmuster – nämlich das einer gewissen Sympathie mit dem Widerspruch der Einzelnen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen – deutlich. 1971 war im Fernsehen ein Film von Rolf Hädrich zu sehen, dessen Drehbuch der NDR-Fernsehspielleiter und Drehbuchautor Dieter Meichsner geschrieben hatte: Kennen Sie Georg Linke? Georg Linke war der Bibliotheksangestellte, der bei der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader durch Ulrike Meinhof 1971 in einer FU-Bibliothek verletzt wurde. Ulrike Meinhof hatte vorgegeben, mit Baader ein Buch über Heimzöglinge schreiben zu wollen und deshalb einen Freigang des inhaftierten Andreas Baader erwirkt. Hädrich und Meichsner stellen sich im Film auf die Seite der Opfer. Sie wollten bewusst nicht die Täter thematisieren, sondern die Unbeteiligten zeigen, die durch derartige Anschläge in Mitleidenschaft geraten. Wie Georg Linke, so die Perspektive des Films, könnte auch jeder Zuschauer überall Opfer eines terroristischen Anschlags werden. Meichsner hatte zwei Jahre zuvor ebenfalls mit Hädrich einen Film über die Studentenbewegung (Alma Mater, ARD/NDR 27. November 1969) produziert und hier durch semidokumentarische Formen versucht, Insti19 Jörn Ahrens: Die Zelluloid-Zeit, a.a.O., S. 3.

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tutsbesetzungen, Sit-ins und andere Formen des Protestes an der Freien Universität anzuklagen und die Studentenbewegung in die Nähe nationalsozialistischer Barbarei zu rücken. Jetzt wurde das Schicksal des Bibliotheksangestellten thematisiert, der in diese Befreiungsaktion hineingeriet. Meichsner und Hädrich wandten sich mit dem Film sehr früh gegen den Strom einer eher verklärenden Sicht der RAF, ohne dass sie sich dessen bewusst sein konnten, was noch kommen würde. Kennen Sie Georg Linke? stellt einen kleinbürgerlichen Tischlereimeister und Chef eines mittelständischen Berliner Unternehmens in den Mittelpunkt des Geschehens, zeigt, wie er in den Urlaub in die Schweiz fährt, mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern lebt, sich über die Kontrollen der Volkspolizisten bei der Einreise nach West-Berlin und darüber ärgert, dass in den Fernsehnachrichten viele Menschen West-Berlin schon aufgegeben haben und die Stadt für heruntergekommen halten. Der Tischlermeister ist ein lebensfroher, jovialer, kumpelhafter Mensch mit ›Berliner Schnauze‹; eben ein Mensch, wie es auch jeder Zuschauer sein könnte. Er steht hier für die bürgerliche Normalität, die durch die Brandstiftung im Kauf haus, aber auch durch die Schießereien in der Bibliothek unterlaufen wird. Der Tischlermeister fragt sich und dann auch ständig andere, ob man Georg Linke kenne, doch dieser ist – noch im Jahr der Baader-Befreiung – in der Öffentlichkeit unbekannt. Er ist deshalb so betroffen, weil er selbst zwei Stunden zuvor in dem Institut war und sich in der Rolle von Linke sieht: Es hätte auch ihn treffen können. Deswegen fragt er nach, und erst am Schluss sehen wir kurz ein Statement von Georg Linke selbst, das – quasi ein Zitat des Fernsehens – aus einer anderen Fernsehsendung stammt. Linke selbst bleibt dem Zuschauer aber letztlich weiterhin unbekannt. Hädrich und Meichsner wollten ihn gar nicht genauer zeigen, denn im Film soll sich ja jeder Zuschauer an dessen Stelle setzen können: Es könnte auch ihn treffen. Regisseur und Autor stellen damit die bürgerliche Mainstream-Normalität aus, und sie weisen darauf hin, dass es diese ist, der alle Sympathie zu gelten hat, nicht die auch weiterhin diff us und unscharf bleibende RAF. Der Film wurde in der Folge fast vergessen, weil sich eine andere Sichtweise der RAF durchsetzte, die vor allem das Milieu der auf Veränderung der Gesellschaft setzenden Intellektuellen und Kulturschaffenden zeigt, die seit Beginn der 1970er Jahre von staatlichen Repräsentanten und einer rechtskonservativen Presse als ›Sympathisanten‹ bezeichnen wurden. An ihnen zeigt der Film, wie der Staat durch Verfassungsschutz und Polizei selbst zu einer Bedrohung wird und letztlich Aktionen provoziert, die er ursprünglich bekämpfen wollte. Mit Die verlorene Ehre der Katharina Blum fand diese Sichtweise ihr prominentestes Beispiel. Gleichzeitig richtete sich der Film gegen eine manipulierende Presse, hier die ›Zeitung‹, mit 179

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der – kaum verdeckt – die ›Bild-Zeitung‹ gemeint ist. Vorlage war eine Erzählung von Heinrich Böll, die zunächst im ›Spiegel‹ abgedruckt wurde und auch in anderen Fassungen eine breite Rezeption erfuhr. Böll, der in einem ebenfalls im ›Spiegel‹ abgedruckten Text Anfang der 1970er Jahre ›Freiheit für Ulrike Meinhof‹ gefordert hatte, war von der Springer-Presse selbst zum Prototypen des ›Sympathisanten‹ stilisiert worden. Die Hausangestellte Katharina Blum (gespielt von Angela Winkler) versteckt den Bundeswehrdeserteur Götten (Jürgen Prochnow), den sie auf einer Karnevalsveranstaltung kennen gelernt hat und sieht sich einer Kampagne der ›Zeitung‹ ausgesetzt. Sie wird von der Polizei bei einer Hausdurchsuchung und bei anschließenden Verhören rüde behandelt, von der ›Zeitung‹ verfolgt, ebenso werden auch ihre Arbeitgeber unter Druck gesetzt. Daraufhin erschießt Katharina den Journalisten (Dieter Laser) und wird verhaftet. Schon der Filmbeginn zeigt, was das zentrale Thema ist: die Atmosphäre der Bespitzelung und die heimliche, wenn auch ineffektive Kontrolle. Der Deserteur Götten wird auf einer Rheinfähre von einem Agenten gefilmt, ebenso sind auch in den folgenden Karnevalszenen Beobachter und Agenten unterwegs, in ihrer Bespitzelung teilweise auf hilflose Art und Weise komisch. Dass die Staatsmacht hier auf aggressive Weise Bedrohungen erzeugt, wird durch die Komik gebrochen, damit wollte der Film das von ihm thematisierte Klima der Angst nicht noch verstärken, sondern die Repression so zeigen, dass der Zuschauer die Bedrohung auch ›weglachen‹ konnte. Der Film bezog eindeutig Position gegen die Vertreter der staatlichen Macht. Die ›Normalität‹ wird hier auf der Seite der Bürger verortet, es sind letztlich Außenstehende wie Katharina, die in etwas hineingezogen werden, was sie eigentlich nicht wollen, die aber sich aus einer moralischen Haltung heraus dazu auch immer verhalten und diese Rolle dann auch annehmen. Wie Katharina geraten auch ihre Arbeitgeber in die Mühlen der Überwachung durch den Staat und in den Denunziationsapparat der ›Zeitung‹, die sie zu ›Sympathisanten‹ macht. Der Polizeiapparat, die maskierten, im Morgengrauen aufmarschierenden bewaffneten Polizeitruppen und die Zeitungsleute – so legt es die Botschaft dieses Films und anderer Filme nahe – entpuppen sich als die eigentliche Bedrohung des Normalen. Dabei ist die narrative Konstruktion auff ällig und unterstreicht die Botschaft des Films. Der Repressionsapparat des Staates wird ja nicht bei der Verfolgung eines RAF-Mitglieds tätig, sondern bei einer eher nichtigen Angelegenheit: Ein Bundeswehrsoldat (hier Götten) ist mit der Kasse durchgebrannt. Der Staat entfaltet seine Maßnahmen so, als handele es sich um Terrorismus, und das zeigt wiederum, so die implizite Argumentation des Films, wie gefährlich der Staat letztlich sei und wie sehr er das Leben seiner Bürger bedrohe. Ebenso macht Rainer Werner Fassbinder in Mutter Küsters Fahrt zum 180

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Himmel (1975) nicht die RAF direkt zum Thema. (Der Titel spielt auf Phil Jutzis Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück [1929] an, der sich mit dem Elend der Arbeiter in den 1920er Jahren beschäftigt). Mit seiner Geschichte einer Frau aus dem Arbeitermilieu ging es Fassbinder wie Schlöndorff um den Kampf einer einfachen Frau gegen einen übermächtigen und undurchschaubaren Machtzusammenhang von Polizei und Presse. Weil ihr Mann wegen einer drohenden Entlassung zuerst seinen Chef und dann sich selbst erschossen hat, sucht sie nun Unterstützung zunächst bei der DKP, dann bei einer Gruppe von Anarchisten. Dabei wird sie selbst wiederum für deren politische Absichten ›benutzt‹. Bei einer Geiselnahme der Anarchisten kommt sie schließlich um. Auch hier wird das Verhältnis von Staat und Individuum thematisiert und gezeigt, wie der Einzelne in einem Klima der Bedrohung und Verdächtigungen zerstört wird. Fassbinder selbst hält sich gegenüber einer Betroffenheitskultur schon deutlich distanziert, bei ihm tragen auch die linken Gruppierungen von der DKP bis zu den Anarchisten Mitschuld am Tod von Mutter Küster. Auch Margarethe von Trottas Film Das zweite Erwachen der Christa Klages (1977), in dem die Hauptperson wegen der Schließung eines Kinderladens eine Bank ausraubt und deshalb bei Freunden und Bekannten Unterschlupf und Unterstützung findet, argumentiert ähnlich. In Reinhard Hauffs Film Messer im Kopf (1978) ist es ein Wissenschaftler, der bei einer Durchsuchung eines Jugendzentrums von der Polizei angeschossen wird und sein Gedächtnis verliert, und der schließlich, verfolgt von Polizei und Presse, den Polizisten, der ihn angeschossen hat, überfällt. Es geht in diesen Filmen immer wieder um das durch den Staat mit seiner Terroristenverfolgung erzeugte Klima der Angst und Bedrohung. Dabei werden oft Handlungen entwickelt, die explizit nichts mit der RAF zu tun haben, aber die Praktiken des Staates und die Reaktionen der Öffentlichkeit so zeigen, dass der Zusammenhang zur RAF hergestellt wird. Neben der Auffassung, dass die RAF nur eine Reaktion auf den Repressionsapparat des Staates sei, dass ihr Kampf letztlich doch legitim sei und der Staat mit seinen Aktionen überreagiere, steht dann auch immer wieder der Verdacht, dass die Existenz der RAF dem Staat höchst willkommen sei, weil er die RAF zum Anlass nehmen konnte, seinen Repressionsapparat massiv auszubauen. Das ging bis zu der in dieser Zeit vielfach kolportierten Meinung, letztlich sei die RAF eine Erfindung des Staates, um die gewaltfreie Reformierung der Gesellschaft, die auf Liberalisierung der Lebensverhältnisse und eine Demokratisierung von Entscheidungen drängte, zu hintertreiben. Weil der Staat und seine Institutionen unter Generalverdacht standen, war es auch nur mehr als angebracht, in den Filmen von dieser Staatsmacht zu erzählen. Dessen Kampf gegen die Terroristen und ihr poten181

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zielles Umfeld erscheint letztlich als eine Rückkehr zu faschistischen Methoden, die viele Intellektuelle in der Bundesrepublik schon in den 1960er Jahren befürchtet hatten. Eine genaue Zeichnung der RAF war deshalb nicht notwendig, ja nicht wünschenswert, weil sie nur ablenkte von der zentralen Ursache des repressiven und gewalttätigen Klimas. Die kritische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik hatte sich gerade in den 1960er Jahren verstärkt mit dem NS-Erbe in der Bundesrepublik auseinandergesetzt und die personellen Kontinuitäten aufgedeckt, die über 1945 hinaus weiter bestanden. Sie hatte die Notstandsgesetzgebung nicht verhindern können und sah in ihr ein Mittel des Staates, die Verfassung nach Belieben außer Kraft setzen zu können. Vor diesem Hintergrund schien der Einsatz von Gewalt durch Einzelne oder durch Gruppen – solange sich diese gegen Sachen und nicht gegen Menschen richtete, so das damalige Verständnis – als nicht ungerechtfertigt. Denn die Demokratie sollte gegen einen autoritär werdenden Staat verteidigt werden und – vor dem Hintergrund von Befreiungsbewegungen in der Welt und deren Oppositionsund Guerillaverständnis – zum Verständnis eines Staates führen, in dem das Volk wirklich bestimmte. Viele Filme der 1970er Jahre spiegeln diese Grundhaltung. Nicht die RAF und die anderen Organisationen, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele anwandten, erschienen als Abweichung von einer ›Normalität‹, sondern der Staat selbst schien sich nicht mehr normal zu verhalten, schien einen ›Staatsterrorismus‹ zu praktizieren, gegen den man sich wehren musste.

Direkte Thematisierungen der RAF (von 1977/78 bis 1992) Mit dem Höhepunkt des RAF-Terrorismus setzte 1977 eine andere, nun direkte Beschäftigung mit dem Thema ein. Deutlicher wurde von den Filmen eine Stellungnahme zum RAF-Terrorismus eingefordert. Der Namen stiftende Film Deutschland im Herbst, der 1978 in die Kinos kam, war eine Reaktion verschiedener Regisseure des Neuen Deutschen Films – von Schlöndorff über Fassbinder bis zu Edgar Reitz und Alexander Kluge – die jeweils einzelne Episoden zum Film beigesteuert haben. Form und Art der Thematisierung zeigen, dass es zu keiner einheitlichen und eindeutigen Position kam, dass die Regisseure auch mehrere Formen der Betroffenheit und der Deutung zulassen wollten. Ob dies als »Zerrissenheit« zu sehen ist, wie Seeßlen meint,20 ist zu bezweifeln. Die unmittelbare Zeitnähe der 20 Georg Seeßlen: »Die deutsche Öffentlichkeit war in die RAF verliebt«, a.a.O.

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Entstehung des Films zu den Ereignissen des Jahres 1977 ließ eine bündige Formulierung nur schwerlich zu. Die Rahmenhandlung des Films spielt in der Woche nach der Nacht, in der sich Baader, Ensslin und Raspe im Stammheimer Gefängnis umgebracht hatten. Die dokumentarischen und fi ktionalen Episoden des Films zeigen beispielsweise Aufnahmen vom Staatsbegräbnis von Hans Martin Schleyer über eine Szene, in der Fassbinder seine Mutter befragt, in der eine Geschichtslehrerin sich mit dem Radikalenerlass beschäftigt bis zur Beerdigung von Baader, Ensslin und Raspe. Das doppelte Begräbnis bildet also die Klammer, und Thomas Elsaesser hat gerade an diesem Film seine mythologisierende Deutung entwickelt, in der dann auch das Gespräch Fassbinders mit seiner Mutter eine zentrale – im Mythosdenken funktionierende – Bedeutung erhält.21 Auch hier geht es wieder um die aufgeheizte Stimmung im Land, um die Anspannung, in der sich die Gesellschaft befand. Die Verwendung dokumentarischer Aufnahmen im Film soll nicht zuletzt nun auch Authentizität und direkte Involviertheit in den zeitlichen Kontext demonstrieren. Es ging den Filmemachern darum, durch den Verweis auf das Dokumentarische einen Wahrheitsanspruch für die eigene Darstellung zu behaupten. Es ging nicht mehr nur um eine assoziative Nähe zum Terrorismus, sondern um einen direkten Bezug zu dem aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr zu beseitigenden Kampf zwischen einem Staat, der sich entschlossen verteidigte, und den Terroristen, wobei die Inhaftierten mit ihrem Tod selbst einen Märtyrerstatus anstrebten und damit den Staat nun auf eine ganz neue Weise unter Druck setzen wollten. Gerade in dem herrschenden Klima der Angst erschien es rätselhaft, wie es in einem Hochsicherheitstrakt wie dem speziell für die RAF gebauten Stammheim zu einem Selbstmord kommen konnte, sodass der Eindruck, die Gefangenen seien umgebracht worden, in das Klima der Verdächtigung und Repression hineinpasste. Indem die Filmemacher nun direkt auf die Eskalation der Auseinandersetzung reagierten und quasi einen ›aktuellen‹ Film machten, wollten sie damit auch einen eigenen Beitrag zur Diskussion leisten und sich zugleich des Deutungsanspruchs versichern. In der Folgezeit wurden im Film häufig biografische Momente der RAF-Protagonisten herausgestellt. Ziel war es, nach Erklärungen zu suchen, wie es zu diesem Ausbruch in die Gewalt kam und wie dieser Weg von der Forderung zur Veränderung der Gesellschaft in die Gewalt führte. Dabei ging es nicht um eine dokumentarische Darstellung, durch die Wahl der Fiktion wird eine assoziative Nähe zu den Terroristen gesucht. Die Fiktion erlaubte die Zuspitzung und Verdichtung. 21 Thomas Elsaesser: Terror und Trauma, a.a.O., S. 73ff.

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Margarethe von Trotta zeigt in Die bleierne Zeit (1981) die Herkunft der beiden Schwestern Marianne und Juliane (damit wird auf Gudrun und Christiane Ensslin angespielt) aus einem protestantischen Elternhaus. Die eine Schwester steht für den reformerischen, die andere für den terroristischen Weg. Die RAF erscheint als ein »tragisches Ergebnis deutscher (Familien)Geschichte«, wie der Filmkritiker Stefan Reinecke schrieb.22 Der Weg in den Terrorismus wird durch die strenge Erziehung begründet, auch hier steht der unaufgearbeitete Nationalsozialismus im Hintergrund, der den Radikalismus hervortreibt und provoziert. Damit erscheint der Terrorismus selbst Ergebnis einer Opfersituation zu sein, umgekehrt wird das weitere Leben der ›Reformerin‹ zunehmend dadurch geprägt, dass sie – entgegen ihrem ursprünglichen Willen – immer mehr zur Beschäftigung mit dem Terrorismus gedrängt wird. Die Normalität gebiert die Abweichungen von ihr. Beispielhaft, obwohl nicht unbedingt zum engeren RAF-Kontext gehörig, ist hier Markus Imhoofs Film Die Reise (1986) nach dem autobiografischen Buch von Bernward Vesper, der mit Gudrun Ensslin zusammenlebte, bevor sie Baader kennen lernte.23 Reinhard Hauffs Film Stammheim (1985) stellt nach einem Drehbuch von Stefan Aust den Prozess gegen Meinhof und die anderen RAF-Mitglieder in Stammheim 1975 dar, schildert die Beziehung der Protagonisten untereinander und will damit wohl auch das Unbegreifliche verstehbar, wenn auch nicht entschuldbar machen. Auch später noch werden einzelne Terroristen porträtiert, etwa in Volker Schlöndorffs Die Stille nach dem Schuss (2000), einer Darstellung der Geschichte der RAF-Terroristin Inge Viett, oder eben in Die Reise. Auch hier geht es um das Verstehen, wie es zu diesem Weg in die Gewalt kam und welche anderen Wege in den 1960er Jahren auch noch möglich waren. Die Suche nach Erklärungen betreibt dann auch der etwas sonderbare Film Wundkanal (1984) von Thomas Harlan, dem Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan, der in diesem Film einen Zusammenhang zwischen der SS des ›Dritten Reiches‹ und der RAF herzustellen versucht, indem die RAF einen alten Nazi entführt (er wird von dem ehemaligen SS-Obersturmbannführer mit Einsatz im Osten, Albert Filbert, gegeben). 22 Zit. nach filmportal: o.A.: »Keine Stille nach dem Schuss. Terrorismus im deutschen Film«, in: http:/www.filmportal.de/df/ed/ArtikelprintFC5331E6248 E2C3EE03053D50B37… [15. September 2008]. 23 Vgl. auch: Gerhart Pickerodt: »Erinnerung, Reflexion, Schreiben. Bernward Vespers ›Romanessay‹ Die Reise«, in: Heinz-B. Heller u.a. (Hg.): 40 Jahre Erinnerung: Tyrannei der Jahreszahl. AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 42, Jg. 2008, S. 10-19.

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Zu diesen Filmen, die nach Verstehen suchen, gehört auch Stephan und Luise Rinsers Film Kinder unseres Volkes (1983), der den Werdegang eines jungen Mädchens darstellt, das zur Terroristin wird und sich schließlich das Leben nimmt. Luise Rinser, der Friedensbewegung verbunden, hatte hier Ulrike Meinhof vor Augen. Die biografische oder quasi-biografische Narration wird wiederholt aufgegriffen und zieht sich unabhängig von anderen Deutungsmustern durch die gesamte Behandlung des Sujets. Das wichtigste spätere Beispiel dafür ist Gerd Conradts Film Starbuck Holger Meins (2002), der eine Montage aus Erinnerungen und Dokumenten von Holger Meins darstellt. Meins wird hier als Filmstudent der ersten Generation der 1968 neu gegründeten Berliner dff b (Deutsche Film- und Fernsehakademie) gezeigt; Mitstudenten (zu denen auch Gerd Conradt gehört), Dozenten werden gezeigt, dann wird auch die Radikalisierung von Holger Meins erörtert und biografisch begründet. Der Film zeigt mehr das Umfeld, als dass er sich inhaltlich mit der RAF beschäftigt. Auch hier ist latent ›Normalität und Abweichung‹ das Thema, die Abweichung ist jedoch hier zunächst eine künstlerische, es handelt sich um den Ausstieg des Künstlers aus der bürgerlichen Gesellschaft, der sich noch ganz im ›üblichen‹ Rahmen der Selbstfindung von Kunst- und Filmstudenten bewegt. Die Filme, die sich der RAF auf biografischem Wege nähern, stellen letztlich eine Suche dar. Sie wollen über die Spurensuche in Kindheit und Jugend verstehen, wie es zu diesem Weg in die Radikalität kommen konnte. Sie resultieren zum einen daraus, dass die Autoren und Filmemacher den Figuren, von denen sie handeln, in ihrem ursprünglichen Willen zur Rebellion und gesellschaftlichen Veränderung selbst nahestehen, den letzten Schritt in die Gewalt aber nicht mitgegangen sind. Sie versuchen deshalb zu verstehen, woher dieser ›Abweichung‹ von den selbst gegangenen Wegen rührt. Zum anderen resultieren derartige Narrationsmuster aus der oben beschriebenen, oft unbewussten Vorliebe für die Filmfigur des Rebellen und Außenseiters, dessen Geschichte zu erzählen mehr lohnt, als die Geschichte der Figur des einsichtigen Angepassten, der nur im Rahmen des Möglichen sich an die Reform der Verhältnisse wagt – und damit auf der ›sicheren Seite‹ ist. Eine eindeutige Deutung der Ereignisse im Sinne eines zeitgenössischen Geschichtsfi lms wurde in den Filmen dieser Zeit jedoch gerade nicht geboten. Gerade durch die »indirekte Thematisierung der (Familien) Geschichte«, wie der Filmkritiker Stefan Reinecke schrieb, wird der Weg der RAF-Mitglieder in den Terrorismus durch die strenge Erziehung begründet. Auch die direkte Thematisierung der RAF hinterlässt in Sachen Ursachenforschung ein weitestgehend unaufgearbeitetes Bild der RAF. Gleichzeitig lässt sich in den oft verschlüsselten, quasi-biografischen Dar185

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stellungen auch ein Grund für die spätere Behauptung finden, hier habe sich eine »Mythologie« gebildet.24

Neuorientierungen in den 1990er Jahren Die 1990er Jahre sind dadurch bestimmt, dass es neue, insbesondere satirische Formen gibt, die jüngere Regisseure wie z.B. Philipp Gröning in Die Terroristen! (1992) verwenden. Sie setzen sich damit von der ›Betroffenheitsgeneration‹ der älteren Filmemacher ab und zeigen ein distanziertes und teilweise auch ironisches Verhältnis zur RAF. Sie stellen den Aktionismus der Figuren heraus, die in ihrem Handeln auch etwas ›blind‹ und unpolitisch wirken. Drei junge Leute planen die Entführung des Bundeskanzlers Helmut Kohl, sie wirken unorganisiert, chaotisch, dabei zugleich aggressiv, immer überfordert. Mit einem ferngelenkten Spielzeugauto soll das Attentat ausgeführt werden, doch irgendwie wird das Auto von einer der gepanzerten Staatslimousinen zerquetscht. Ein Begleiter entschuldigt sich und drückt einem der verdutzten ›Terroristen‹ 200 Mark in die Hand: Dem Chef täte es leid. Der Film knüpft auch an Rainer Werner Fassbinders Film Die dritte Generation (1978) an, in dem es um eine fingierte Entführung aus Werbezwecken geht. Fassbinder hatte schon 1978 – als noch keiner von ›Generationen‹ der RAF sprach, von einer ›dritten Generation‹ gesprochen, die die RAF nur noch für Geschäftszwecke verwenden würde. Auch in diesem schon ironisch-distanzierten Ansatz bleibt im Hintergrund noch eine indirekte Kritik am Überwachungsstaat vorhanden, auch wenn sie durch die satirische Darstellung gebrochen wird. Grönings Film Die Terroristen! stieß auf Kritik, weil er die Planung einer Entführung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl zeigte. Ohne dass dies explizit formuliert wurde, stand bei der Kritik offenbar die Annahme im Hintergrund, eine solche Darstellung, wie dilettantisch und letztlich erfolglos sie auch gezeigt werde, könnte zur Nachahmung animieren. Auch Hans-Christoph Blumenberg, obwohl noch der älteren Generation zugehörig, aber erst spät zur Filmregie gekommen (Blumenberg arbeitete vorher als Filmkritiker), suchte ein distanziertes Verhältnis zum Sujet in seinem mit geringem Aufwand gedrehten Film Rotwang muss weg! (1994), bei dem es um die Erschießung eines Wirtschaftsbosses geht. Mit seiner satirischen Darstellung gelang es ihm jedoch nicht, eine Deutung

24 Vgl. Thomas Elsaesser: Terror und Trauma, a.a.O., S. 49ff.

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der RAF zu geben, die zur Neubestimmung des Verhältnisses von Terror und Gesellschaft beitrug. Christopher Roth griff in seinem Film Baader (2001) dann zwar das RAF-Sujet durch die explizite Benennung seiner Hauptfigur auf, fi ktionalisierte das Geschehen aber dann doch so weit, dass er ihn als Außenseiter darstellt, der wie ein klassischer Filmheld gegen das System ankämpft und untergeht. Die Filmfigur wird am Ende in einem Showdown erschossen. Damit stellt sich seine Darstellung in einen bewussten Gegensatz zur historischen Realität, auch wenn dieser Showdown als symbolische Darstellung seines Kampfes gegen die Staatsmacht verstanden werden kann. Eher im Kontext der Beschäftigung mit den DDR-Verhältnissen sind die Filme Vater, Mutter, Mörderkind (1993) von Ulrich Plenzdorf und Heiner Carow sowie Raus aus der Haut (1997) von Andreas Dresen und Torsten Schulz angesiedelt, in denen es darum ging, dass auch die DDR mit der RAF zu tun hatte, weil sie einigen ihrer Mitglieder Unterschlupf gewährt hatte. Carow und Plenzdorf erzählen die Geschichte eines untergetauchten RAF-Terroristen, der in der DDR eine Kindergärtnerin geheiratet hat. Der Terrorist wird enttarnt, die Kindergärtnerin ahnte von seiner Vergangenheit nichts und verliert auch noch ihren Job im Kindergarten. Die Perspektive wird von der Figur des 13-jährigen Adoptivsohns Karl bestimmt, der zur Kindergärtnerin hält, aber den ehemaligen Terroristen aus dem Gefängnis befreien will. Die Konfrontation von ›Normalität‹ und abweichendem Verhalten wird hier auf eine gänzlich andere Weise erörtert, weil hier die DDR-Normalität mit dem abweichenden Verhalten des Terroristen in Gegensatz gebracht wird, wobei hier jedoch die Normalität des DDRStaates selbst den heimlichen Unterschlupf gewährt hatte. Die ›Normalität‹ selbst erscheint hier als eine doppelbödige, wenn nicht verlogene, weil die ›wahren Verhältnisse‹ von den ›normalen‹ Bürgern (hier die Kindergärtnerin Uschi) nicht durchschaut werden. Andreas Dresen und Torsten Schulz (Drehbuch zus. mit Andreas Dresen) spiegeln in Raus aus der Haut das RAF-Problem in einer Liebesgeschichte: Die Schülerin Anna bringt ein Bild der RAF aus dem westdeutschen Magazin ›Der Spiegel‹ in die Schule mit und wird dabei vom linientreuen Lehrer Rottmann erwischt. Um ihr zu imponieren, will der Schulkamerad Markus das Bild aus dem Lehrerzimmer stehlen und wird dabei ebenfalls ertappt. Schließlich entführen sie den Lehrer Rottmann, um ihn bis zur Schulkonferenz aus dem Verkehr zu ziehen, auf der über Annas Wunsch, Medizin studieren zu dürfen, entschieden wird. Dass dadurch die Konflikte nur noch größer werden, liegt auf der Hand. Das falsche Bild des Widerstands führt dazu, dass die eigentlich erstrebte Anpassung an die Normalität immer weiter in die Ferne rückt, nicht aus einem Grundwider187

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spruch zwischen Normalität und Abweichung, sondern in einer schlichten jugendlichen Verkennung der Verhältnisse. Auch hier ist die Normalität letztlich nicht ›normal‹ weil sie auf die vermutete, aber nicht vorhandene Abweichung unangemessen reagiert und damit überhaupt erst die Abweichung produziert. Für den gesellschaftlichen Diskurs über den RAF-Terror bedeutsamer war Heinrich Breloers Film Das Todesspiel (1997), der sich – in der vom Regisseur schon damals etablierten dokumentarisch-fi ktionalen Weise – mit dem Thema auseinandersetzt. Breloer, der viel Material zusammengetragen hat, Szenen im Flugzeug nachstellte und damit miterlebbar machte, lieferte eine sehr dichte Anschauung der Flugzeugentführung und der Reaktionen um den Planungsstab der Bundesregierung und stellte dabei den grundlegenden Gegensatz zwischen staatlicher Ordnung und Terrorismus heraus. Sein Film löste dementsprechend eine grundsätzliche öffentliche Debatte aus, weil er in seinem zweiteiligen Fernsehfilm einerseits die Schleyer-Entführung (1. Teil: Volksgefängnis) sehr detailliert und andererseits die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut nach Mogadischu (2. Teil: Entführt die Landshut) darstellt und damit das Zentrum des RAF-Terrors zum fi lmischen Gegenstand macht. Mit seinem auf Detailgenauigkeit insistierenden Film erhob er den impliziten Anspruch, alle wesentlichen Fakten gewürdigt und eingebracht zu haben, sodass es nach diesem Film keine angemessenere Darstellung geben könne. Auch lieferte er eine entschieden andere Deutung des RAF-Terrors als bis dahin im Film üblich. Breloer stellt sich auf die Seite der Opfer und lässt durch seine Inszenierung die Zuschauer das Leiden der Flugzeuginsassen miterleben. Er distanziert sich entschieden von der RAF und konzentriert sich gleichzeitig entschieden auf das Gegeneinander von Staatsapparat (hier von Schmidt und dem Krisenstab, der GSG 9) und Terroristen, die das Flugzeug in ihre Gewalt gebracht haben. Ihm geht es darum, die Entscheidungsprozesse auf der politischen Ebene anschaubar zu machen und zu zeigen, dass hier nicht ein irgendwie diff user Machtapparat repressiv wirkte, sondern die Politiker es sich schwer machten, die richtige Entscheidung zu treffen. Breloers Todesspiel ist von der Kritik auch eine ›staatstragende‹ Haltung vorgeworfen worden, insbesondere deshalb, weil er den Krisenstab zeigt sowie dessen innere Widersprüche und weil er die beteiligten Politiker als Menschen mit Irrtümern und Schwächen und den Staat nicht als monströse Repressionsmaschine darstellt. Im Grunde verschiebt Breloer damit das Verhältnis von Normalität und Abweichung. Das Normale wird jetzt durch den Staat und die bestehenden Verhältnisse verkörpert, in deren Mitte immer die Opfer stehen: zum einen die Angehörigen von Hans-Martin Schleyer, zum anderen die Insassen der entführten Lufthansa-Maschine. 188

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Vor allem der zweite Teil macht diese Grundhaltung des Regisseurs deutlich, weil die Opfer, die als Unbeteiligte in den Konflikt hineingeraten, nun für die Normalität stehen. Der Staat erscheint teilweise auch für sie als Bedrohung, weil er sich – was sie jedoch im Entführungsfall nur ahnen können – nicht auf einen Handel mit den Entführern einlassen will. Gleichzeitig bleiben die Entführer für den Zuschauer durch ihre Gewalttätigkeit auf jeden Fall die Verursacher des Normalitätsbruchs. Es kann hier nicht einmal mehr eine heimliche oder ›klammheimliche‹ Sympathie (etwa im Sinne des Göttinger ›Mescalero‹-Artikels von 1977) für die Entführer aufkommen. Der erste Teil des Films, der die Entführung von Schleyer darstellt, akzentuiert einen anderen Deutungsaspekt neu, nämlich jenen des Zusammenhangs von Bundesrepublik und nationalsozialistischer Vergangenheit, der sich zu einem Konnex zwischen RAF, palästinensischen Entführern und Nationalsozialismus verschiebt. Denn nicht die SS-Vergangenheit von Schleyer wird nun zum Problem, sondern die Methoden der RAF bei ihren Gewalttaten, die eine Nähe zum Nationalsozialismus nahelegen. Zusammen mit dem Antisemitismus der palästinensischen Entführer der Lufthansa-Maschine geben sie hier ein neues Deutungsmuster vor. Dass dies vor allem durch den Film und seine Montagetechnik evoziert wird, hat Julia Schumacher herausgearbeitet.25 Breloer machte mit seinem Fernsehfi lm-Zweiteiler das Sujet wieder bedeutsam, hob es aus der Marginalisierung hervor, in die es zwischendurch abzurutschen drohte, weil einige Filme den Terror als diff usen Genrebaustein eines zeitbezogenen Actionfi lms oder einer Politkomödie verwendeten. Indem Breloer die Thematisierung der RAF in den Kanon seiner großen, die Gesellschaft der Bundesrepublik definierenden Darstellungen einreihte, machte er den Konflikt zwischen Staat und RAF zu einem großen Thema. Denn die RAF erscheint nicht mehr als letzter Ausläufer einer generationsbedingten, jugendlich motivierten Rebellion, sondern als eine terroristische Vereinigung, die den Fortbestand der Republik und ihrer Ordnung gefährdete. Nicht mehr die Terroristen sind die verdeckten oder heimlichen Märtyrer, sondern der entführte und ermordete Schleyer wird nun zum Märtyrer. Denn dadurch, dass die Staatsorgane letztlich auch seinen Tod in Kauf genommen haben, wollten sie die Ordnung wiederherstellen und den Bestand der Gesellschaft erhalten. Es handelt sich also auch hier – nun in umgekehrter Deutung – um eine moralische Frage nach dem Verhältnis von Gemeinschaft und Einzelnem. Breloer beantwortet sie – mit der Darstellung aller Skrupel, die die Politiker um Helmut Schmidt 25 Julia Schumacher: Filmgeschichte als Diskursgeschichte: Die RAF im deutschen Spielfilm, Münster 2010.

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dabei haben – dahin gehend, dass notfalls der Einzelne zugunsten des Gemeinwesens geopfert werden müsse. Der Film liefert auch deshalb eine entschiedene Deutung des RAF-Terrors, weil er sich selbst auktorial gibt. Der Filmemacher selbst wird als ›Erzähler‹ hörbar, der entweder aus dem Off heraus zusammenfasst und kommentiert oder indem er selbst als Rechercheur und Interviewpartner von Zeitzeugen im Bild zu sehen ist und damit die Authentizität seiner Darstellung zusätzlich zu legitimieren versucht. Der Film erhebt damit den Anspruch auf entschiedene Positionsbestimmung. Rückblickend ist festzustellen, dass er damit auch dem gesellschaftlichen Diskurs eine neue Richtung gab, und dass er damit auch auf eine breite Zustimmung in der Gesellschaft stieß. Oliver Tolmein stellte deshalb schon 1997 in der Zeitschrift ›konkret‹ ironisch fest, durch Breloers Film seien die Deutschen »zu einer einigen großen Familie zusammengewachsen – mit einer ins Tragische gesäuberten Geschichte«26. Thomas Elsaesser merkte zu Breloer an, »indem alles noch einmal nachgestellt und vorgeführt wurde«, sei »die RAF mitsamt ihrer Mythologie« nun »begraben« worden.27 Doch diese Einschätzung war wohl etwas vorschnell, denn die fi lmische Thematisierung der RAF ging weiter, und es schien so, als ob ihre Thematisierung zum Prüfstein wurde, an dem sich das Verhältnis von bundesdeutscher Normalität, Staat und Freiheit des Einzelnen definieren ließe. Gerade das nun immer historischer werdende Geschehen um die RAF eignete sich offenbar besonders, das Verhältnis einer neuen Generation zu Staatsallmacht und Terrorismus zu deuten, weil die RAF nicht nur die Problemstellung, sondern auch Handlungsplots und Personal für ihre Darstellung lieferte.

Ernüchterung vs. Filmspektakel (2001 bis 2007) Auf eine indirekte Weise stellt der 11. September 2001 mit seinem Terrorattentat eine Zäsur in der Behandlung des RAF-Terrorismus im fi ktionalen deutschen Film dar. Das Attentat auf den Twin-Tower verlieh dem Terror eine neue Dimension der Bedrohung und machte – trotz der drei Jahre zuvor verkündeten Auflösung der RAF – auch eine neue Bewertung der RAF notwendig. Max Färberböcks Film September (2003) und Elmar Fischers Produktion Fremder Freund (2003) stehen für diese Neubewertung des internationalen Terrorismus insgesamt. 26 Oliver Tolmein: »Schmidteinander«, in: konkret, Jg. 1997, Nr. 8, S. 46. 27 Thomas Elsaesser: Terror und Trauma, a.a.O., S. 49f.

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Eine neue Generation von Filmemachern setzte sich nun mit der RAF auseinander, nicht unbedingt durch den 11. September 2001 inspiriert, wohl aber durch schon davor angelaufene Diskussionen einer möglichen neuen Bedrohung durch islamische Terroristen. Die Frage danach, was sich als bundesdeutsche Normalität definieren ließ und wie diese sich gegenüber von außen und von innen kommenden Gefahren sichern ließ, war nun ein latentes Grundthema der Diskurse in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Dabei stellen die von innen kommenden Gefahren die deutlich größere Bedrohung – zumindest in den Augen der Gesellschaft – dar. Auch deshalb war der Rückgriff auf die bundesdeutsche Geschichte mit der RAF fi lmisch günstig. Christian Petzolds Innere Sicherheit (2000) thematisiert den Terrorismus der 1970er Jahre aus der Perspektive einer späteren ›Nach-RAF-Generation‹, einem jungen Mädchen, das mit seinen Eltern (dargestellt von Barbara Auer und Richie Müller), die ehemalige Terroristen sind, immer noch auf der Flucht lebt. Es geht bei ihr (gespielt von Julia Hummer) letztlich um die Gewinnung von Normalität, durch die sie sich von den Eltern distanzieren will. In den weiteren Kontext gehört hier auch der dokumentarische Film Black Box BRD von Andreas Veil (2001), der in seinem dokumentarisch angelegten Film zwei Porträts gegenüberstellt – Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen – wobei auch hier wie bei der Inneren Sicherheit der unterkühlte, distanzierte Stil bestimmend ist. Es geht dabei, wie in anderen Filmen der Zeit, nun darum, jenseits aller Involviertheit eine neue Sicht zu gewinnen und möglichst einer dabei in der publizistischen Öffentlichkeit wiederholt beschworenen Legenden- und Mythenbildung zu entkommen, was naturgemäß nicht immer gelingen konnte. Denn gerade die Personalisierung und Dramatisierung, die eine fi ktionale Darstellung grundsätzlich kennzeichnet, legte eine solche nahe. Bei aller Dramatisierung sollte deshalb vor allem die ebenfalls naheliegende Melodramatisierung vermieden werden. Die Grundhaltung der neueren Filme ist vielleicht als »Ernüchterung«28 zu bezeichnen. Andreas Veils Black Box BRD mit der Gegenüberstellung zweier konträrer Biografien des RAF-Sujets erinnert an Klaus Volkenborns Film Unversöhnliche Erinnerungen (1979), in dem ein Arbeiter, der auf der Seite der Roten Brigaden in Spanien gekämpft hatte, und ein Bundeswehr-General, der in seiner Jugend in der NS-Zeit im Rahmen der Legion Condor auf faschistischer Seite mitgekämpft hatte, in biografischen Aufnahmen miteinander konfrontiert werden. Auch wenn Veils Film von Machart und Struktur ganz anders vorgeht, sehr viele dokumentarische Konzepte des 28 Georg Seeßlen: »Die deutsche Öffentlichkeit war in die RAF verliebt«, a.a.O.

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bundesdeutschen Films zitiert: Die scharfe Gegenübersetzung zweier Seiten greift das Lagerprinzip auf und stellt damit den Konfl ikt von Opfer und Täterseite ins Zentrum. Neben diesen Filmen der ›Berliner Schule‹ entstand eine weitere Richtung der RAF-Thematisierung, die als eine Genrefizierung des RAF-Terrors bezeichnet werden kann, wobei diese jedoch anders funktionierte, als sie sich Seeßlen im Sinne eines eigenen deutschen Subgenres gedacht hatte. Im Genremix von Kriminal-, Agentenfi lm und Thriller bildete sich im Fernsehen ein Subgenre des Terroristenfilms heraus, in dem es um die Verankerung von Attentat und Bedrohung im großstädtischen Alltag ging. Dazu gehören die Darstellung von Terroranschlägen in Fernsehserien wie Torsten Näters Tatort: Schatten (17. November 2002, ARD/RB) oder In den Straßen von Berlin: Terror (2. Februar 1998, ProSieben), aber auch Fernsehfi lme wie z.B. die ProSieben-Produktion Das Phantom von Dennis Gansel (2000). Sie verorten das Thema konventionell im Genre. Breloers Todesspiel hatte gerade nicht zur Begrabung des Mythos RAF geführt, wie Elsaesser annahm, sondern es zeigte durch seine detaillierte und materialreiche Darstellung, welche Möglichkeiten für weitere Filme der Stoff und seine Überführung ins Genre boten. Der politische Kontext ist in diesen Filmen oft nur Beiwerk, es geht auch gar nicht mehr um eine grundsätzliche Positionsbestimmung der bundesdeutschen Gesellschaft, sondern nur noch um die genrespezifische Verunsicherung und Wiederherstellung von Ordnung im Rahmen einer Mainstream-Unterhaltung. In diesem Jahrzehnt setzte sich aber auch die indirekte Thematisierung des Terrors im fi ktionalen Film fort, etwa in dem Film Bungalow (2000) von Ulrich Köhler, der von einem Bundeswehrdeserteur handelt, der sich zu verstecken sucht, oder auch in Christoph Hochhäuslers Falsche Bekenner (2006), in dem mit einem falschen Bekenntnis zu einem Terrorakt Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Anerkennung gesucht wird. Es ist hier nur noch eine Form der Verweigerung, die in diesen Filmen gezeigt wird: So wie der Bundeswehrsoldat auf einem Rastplatz einfach sitzen bleibt, so handelt der 18-jährige Armin in Falsche Bekenner, indem er sich den Zwängen der kleinbürgerlichen Kleinstadtwelt verweigert und sich zu nicht begangenen Taten bekennt. Hochhäuslers Film wirkt wie ein fernes Echo auf den Konflikt zwischen Staat und RAF 25 Jahre zuvor. In die Burleske schiebt Hans Weingartners Film Die fetten Jahre sind vorbei (2004) das Sujet der RAF. Weingartners Film war gerade deshalb erfolgreich, weil seine Botschaft war, dass die aktuelle Bedrohung des Gemeinwesens nicht in den subversiven Akten Einzelner besteht, sondern aus anderen Richtungen kommt. Die Handlungen der drei jungen Leute, die in den Villen reicher Leute Unordnung anrichten und Angst dadurch erzeugen, dass die vermeintliche Sicherheit der elektronisch gesicherten 192

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Villen nicht bestehe, erinnern an die Handlung der ›Spaßfraktion‹ Ende der 1960er Jahre, noch dazu, wenn die drei Einbrecher ihre aufgetürmten Burgen aus Möbeln und Wohnungsgegenständen in den Villen der Reichen mit dem Schild ›Die fetten Jahre sind vorbei‹ versehen und mit ›Die Erziehungsbeauftragten‹ unterzeichnen. Am Ende, nach einem Kidnapping eines inzwischen arrivierten ›Alt-68er‹ und dessen Freilassung, entschwinden sie auf seiner Jacht und schalten einen Fernsehsender aus, sodass nur noch das Rauschen auf dem Bildschirm zu sehen ist. Die neue Bedrohung scheint nun das Fernsehen, scheinen ›die Medien‹ zu sein, obwohl doch der Film selbst auch nur Medium ist und Die fetten Jahre sind vorbei wie fast alle bundesdeutschen Spielfilme vom Fernsehen direkt oder indirekt mitproduziert wurde. Burleske Filme wie Die fetten Jahre sind vorbei ›normalisieren‹ aber auch das Thema des RAF-Terrorismus, indem sie es zurückführen in die lebenslustige Jugendopposition der 1960er Jahre nach Art von May Spils Zur Sache Schätzchen (1968). Im Film verstehen die Handelnden das Ganze als Spiel und sind selbst betroffen und hilflos, als ihnen das Spiel entgleitet und mörderisch zu werden droht. Es ist letztlich die besonnene – aber auch in ihren Details dann offene – ›Hilfe‹ des Alt-68ers, der die Geschichte in einem Elektronik-Joke im Mittelmeer enden lässt. Die Umformulierung des Sujets von staatlichem Gewaltanspruch und individuellem bzw. generationsspezifischem Widerspruch in eines des individuellen spaßhaften Auf begehrens ist Teil einer Einbindung des Sujets in eine Unterhaltungswelt des Komischen. Normalisierung, also Herstellung von Ordnungen, in denen das Außergewöhnliche wieder eingefangen wird, dieses zum Teil unserer ›normalen‹ Welt gemacht wird,29 setzt voraus, dass die Bedeutung, die der RAF-Terrorismus einmal für das Selbstverständnis der Bundesrepublik gehabt hat, historisch geworden ist, dass die Grundfrage des Verhältnisses von staatlicher Macht und individuellem Widerspruch nicht mehr so zentral erscheint und sich am RAF-Terror nicht mehr die Geister scheiden, wenn es um die Definition der bundesdeutschen Gesellschaft geht. An den neueren Filmen nach der Jahrhundertwende wird der Gesellschaft damit indirekt deutlich, dass die reale Bedeutung der RAF-Auseinandersetzung für die Gegenwart geschwunden ist. Daran ändern auch aufgeregte Debattenbeiträge der alten Kontrahenten um den Film Der Baader Meinhof Komplex im Herbst 2008 nichts mehr. Die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts brennenden Konflikte der bundesdeutschen Gesellschaft sind andere geworden. 29 Vgl. Ute Gerhard/Jürgen Link/Ernst Schulte-Holthey (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung, Heidelberg 2001.

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Ein Mythos soll begraben werden und etabliert sich aufs Neue Gleichwohl ist damit die Frage einer ›Mythologisierung‹ der RAF noch nicht beantwortet. Denn – verstanden als ›Mythos‹ – wird die RAF in den neueren Filmen – wie oft bei Mythen – nicht mehr direkt thematisiert. Er wirkt nur noch im Hintergrund als eine eben die Gesellschaft und ihr Verhältnis von Normalität und Abweichung behandelnde Grundkonstellation. So verstanden stellen die RAF und der mit ihr verbundene spezifische bundesdeutsche Terrorismus – bei allen Variationen ihrer Handlungen – eine von mehreren größeren Geschichten dar, deren Erzählung die bundesrepublikanische Gesellschaft zu bestimmen versucht. Der im September 2008 in den bundesdeutschen Kinos angelaufene Film Der Baader Meinhof Komplex versucht im Rückgriff auf und gleichzeitiger Abgrenzung von Deutschland im Herbst und Das Todesspiel eine neue dominante Deutung des RAF-Terrorismus zu etablieren. Dabei werden vier Dinge miteinander verbunden: a) am historischen Beispiel das Verhältnis von Normalität und Abweichung noch einmal aufzuwerfen, ohne dass es jedoch paradigmatisch für die Gegenwart werden könnte; b) die genrehafte Ausmalung als großes Actionkino und damit seine Potenz, das Verhältnis von Normalität und Abweichung zu einer mythischen Geschichte zu verdichten, und dies c) bei gleichzeitiger Betonung des Authentischen der Darstellung und d) eine perfekte Promotion mit einem genau abgestimmten Marketing des Films. Dazu gehört auch die umfangreiche Thematisierung des Films im Vorfeld seines Kinostarts. Der Film will eine ›große Geschichte‹ erzählen, will also den Mythos noch einmal vorführen. Und er verfolgt seine Absicht mit einem hohen Authentizitätsanspruch. Doch dieser ist nur noch ein Echo auf Breloers Wahrheitsanspruch seines Zweiteilers Das Todesspiel. Längst wissen die Zuschauer, dass damit eine alte Tradition des Erzählens von Abenteuergeschichten bemüht wird, am Anfang zu versichern, die Geschichte sei nicht ausgedacht, sondern sei wirklich so geschehen und der Autor habe nur überliefert, was ihm wiederum ein Beteiligter überliefert habe. Auch Der Baader Meinhof Komplex bedient sich wie viele anderer Filme vor ihm des Gestus, durch dokumentarische Aufnahmen Authentizität für die gesamte Darstellung zu behaupten. Gleichzeitig setzt er auf das Gedächtnis der Zuschauer, wenn er die Kette der Todesschüsse und blutigen Anschläge auf Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke bis hin zu Drenkmann, von Mirbach, Ponto, Schleyer und den zahllosen Ungenannten aufruft, die dann bis zu den Selbstmorden der RAF-Mitglieder der ersten Stunde reicht. So gegenwärtig und körperlich nah der Film seine Geschichte und seine Figuren inszeniert: Hier wird eine Geschichte erzählt, die der Autor 194

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loswerden will und von der sich das Publikum auch befreien soll. Der Film beginnt seine Geschichte im publizistischen Umfeld von Ulrike Meinhof und der linkskritischen Zeitschrift ›konkret‹, bevor Meinhof zur RAF kommt. Es wird also ein Umfeld gezeigt, zu dem sich viele jener Generation zählten, die damals Student waren und sich über den Vietnamkrieg der Amerikaner und die unaufgedeckte NS-Vergangenheit empörten. Wir sehen Bilder des Schah-Besuchs, knüppelnde ›Jubelperser‹, die den Schah beklatschen sollten und dann mit den Stöcken ihrer Schilder auf die Demonstranten einschlugen, wir sehen, wie die Polizei zunächst untätig war und dann selbst auf die Demonstranten einschlug – Bilder, wie sie z.B. im dokumentarischen Film Der Polizeistaatsbesuch (SDR 1967) von Roman Brodman zu sehen waren. Die Bilder, die als dokumentarische Aufnahmen existieren und in der Vergangenheit wiederholt gezeigt wurden und damit zu Bildikonen verselbständigt wurden, werden nun im Reenactment-Verfahren nachgestellt. Das erzeugt eine merkwürdige Ambivalenz: Erinnerung wird geweckt – und wird doch zugleich auch enttäuscht, weil wir das Nachgemachte in den Bildern erkennen: Rudi Dutschke beispielsweise auf dem Vietnam-Kongress in Berlin oder Benno Ohnesorg, vom Polizisten Kurras erschossen. Und wir sehen einen Redakteur (gespielt von Volker Bruch) der Zeitschrift ›konkret‹, der seine Mitredakteurin Ulrike Meinhof interviewt, dem Herausgeber Klaus Röhl Informationen bringt – und in dem unschwer der Autor Stefan Aust selbst zu erkennen ist. Man könnte sagen, dass mit diesem Film und dem Buch, das zur Vorlage des Films wurde,30 sich eben die ›Generation Aust‹ eine traumatische Geschichte von der Seele schreiben wollte. Im raschen Stakkato werden im Baader Meinhof Komplex die Stationen der RAF durchschritten: der Brandanschlag auf das Kauf haus in Frankfurt a.M., die Banküberfälle, die Befreiung Baaders, der Anschlag auf die deutsche Botschaft in Stockholm, die Morde an Drenkmann, Ponto, Buback, die Entführung Schleyers, schließlich die Selbstmorde. Die Entführung von Peter Lorenz – hier ging die Bundesregierung auf die Forderung der Entführer auf Freilassung von RAF-Gefangenen ein – wird übersprungen, sie stört die Dramaturgie des gradlinigen Wegs in den ›Untergang‹. So wird nur am Anfang – hier wieder mit der Motivation der Ursachensuche in den familiären Verhältnissen (von Gudrun Ensslin) – biografisch argumentiert. Damit wird an die Filme der Nach-1978er Zeit angeknüpft, um sie gleich wieder zu verlassen. Später entfällt jede psychologisierende Begründung, das Handeln der Figuren bleibt fremd, abweisend, der Film erzählt hier fast postmodern in großen Sprüngen, reduziert das Gesche30 Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, a.a.O.

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hen. Der Film zeigt keine gefällige Sicht. Auch dort, wo er Sympathien – etwa mit den Eltern Ensslins – wecken könnte, bleibt er distanziert, nach der anfänglichen Sprachlosigkeit des Vaters (ein protestantischer Pfarrer), quillt es ihm und der Mutter beredt von den Lippen, doch ihr Verständnis für die Tochter wirkt nur befremdlich und abstoßend. Gleichwohl wirkt der Film – hier abweichend von der Einschätzung von Lothar Mikos in diesem Band – ungemein emotionalisierend, weil er eine Grundspannung von Erregung und Bedrohung inszeniert. Die Geschichte konzentriert sich auf Ulrike Meinhof (Martina Gedeck) und Gudrun Ensslin (Johanna Wokalek). Die Figur des Andreas Baader (Moritz Bleibtreu) bleibt merkwürdig unbedarft, blass letztlich, wenn auch ständig schreiend und schießwütig. Ulrike Meinhof, die Zögernde und dann doch wieder Entschiedene, die Intellektuelle, sie lässt am ehesten etwas von den inneren Bewegungen erkennen. Gudrun Ensslin bleibt im Film nur schemenhaft. Die anderen RAF-Mitglieder werden ebenfalls kaum differenziert gezeichnet, dazu reicht vielleicht auch die Zeit nicht, die der Film angesichts der zahlreichen Stationen der RAF-Geschichte durcheilt. Daran ändert auch die zweiteilige Fernsehfassung des Films, die eine halbe Stunde länger ist und am 22. und 23. November 2009 in der ARD ausgestrahlt wurde, nichts. Sie nimmt die Tradition von differenten Kino- und Fernsehfassungen auf, wie sie Wolfgang Petersens Film Das Boot (1981) begründet hat. Es geht dem Film nicht darum, zwischen den einzelnen Terroristen zu unterscheiden. Und wer sich als Zuschauer in der inneren Personage der Gruppe nicht auskennt, wird sich – trotz der auf physiognomische Ähnlichkeit hin angelegten Inszenierung – kaum zurechtfinden. Worin die Faszination der Inhaftierten für die immer wieder in den Terrorismus nachrückenden jungen Leute bestand, bleibt im Film unklar. Allenfalls wird indirekt deutlich, dass sich die Gruppe aus ehemaligen Heimzöglingen rekrutierte, dass es vielleicht das andere Leben gewesen sein mag, die nächtlichen Autorasereien von Baader, das Outlaw-Sein, das Im-Widerspruch-zur-Gesellschaft-Stehen. Der Film zeigt die Brutalität der Morde, das Draufhalten, er lässt nicht aus, wie die Körper unter den Schüssen hin- und hergeschlagen werden, er will alles bis zum bitteren Ende zeigen – vielleicht begründet sich darin seine Absicht, den Mythos zu entzaubern. Er ist darin Actionfi lm, ist Genre – aber auch mehr, weil er immer mit dem Wissen um die Historizität des Geschehens operiert. Am Ende bleibt keine Sympathie mehr mit den Terroristen zurück, wenn es sie noch irgendwo beim Zuschauer gegeben hat. Vor allem wird am Ende nur noch kleinlaut gezeigt, dass sich alle großspurigen Reden der RAF-Mitglieder über eine mögliche Befreiung in Nichts aufgelöst haben. Umgekehrt erscheint der Staat ebenfalls als gewalttätig, der Planungsstab um Helmut Schmidt wird nicht gezeigt, stattdessen Herold in seinem 196

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Bundeskriminalamt, beamtenhaft, kleinbürgerlich-bieder eingerichtet, mit einem Topf selbstgekochter Suppe auf dem Konferenztisch, der eher an einen Verwaltungsraum in einem kleinstädtischen Bürgermeisteramt erinnert. Herold erscheint kühl überlegend, er wirkt wie ein Stratege, der klug das Vorgehen bedenkt, sich in seine Gegner einfühlen kann und will – und der deshalb von vielen anderen Beamten/Politikern nicht verstanden wird. Er ist letztlich der zwar etwas merkwürdige Alte, aber er ist gleichzeitig auch der Weise, der letztlich als Einziger im Film so etwas wie Verständnis für das Ausscheren aus der Normalität zeigt, ohne es dabei zu akzeptieren. Er ist es, der nüchtern plant – und damit Erfolg hat. Der Film weckt andererseits keine Sympathien für die Polizei, die Gefängnisse, den Staat. Die Justiz handelt manchmal etwas unbedacht, wird von Anwälten und Terroristen ausgetrickst; der Richter im Stammheimer Prozess erscheint nur hilflos, fast schon lächerlich, der Situation kaum gewachsen, und der Zuschauer kann nicht begreifen, dass er sich so wenig durchsetzen konnte. Der Staat wird mit seiner Polizeimacht andererseits sehr brutal ins Bild gesetzt. Es ist eine körperlich bleibende Macht, eine der Gummiknüppel, Wasserwerfer, der Scharfschützen, nicht eine der strukturellen Gewalt. Die Methoden der Rasterfahndung und die Computertechnologie wirken immer irgendwie brav, fast schon belanglos – weil der Zuschauer um die heutige Maschinerie der Staatsapparate weiß. Die BKA-Technologie, die Herolds Assistent Dietrich Koch (Heino Ferch) Politikern (und dem Zuschauer) erklärt, und die heute als eine Technologie von gestern erscheint, verweist darauf, wie übermächtig die Ausspäh-Technologien heute geworden sind, wo zum Zeitpunkt, als der Film in die Kinos kam, die weltweite Finanzkrise auf ganz andere Bedrohungen der Gesellschaft verwies, und – zunächst fast unbeachtet – die Bundesregierung beschloss, bei unspezifiziert bleibenden ›Unglücksfällen‹ aller Art nun auch die Bundeswehr im Inneren einzusetzen. Als sich im Film Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim das Leben genommen haben und die Kombattanten außerhalb des Gefängnisses vor Wut aufheulen und den Staat als Mörder anklagen, bleibt es Brigitte Mohnhaupt, Terroristin der zweiten Generation, vorbehalten festzustellen, dass es Selbstmord war und die Mitstreiter Baader und Ensslin eben nicht selbst kannten. Sie sollten deshalb nicht an ein Bild von ihnen glauben, das so nicht stimme. Es ist fast schon das Schlusswort des Films, und es richtet sich an den Zuschauer und meint damit, die Öffentlichkeit solle endlich den Mythos begraben, solle Abschied nehmen von falschen Vorstellungen. Der Film will einen Endpunkt setzen. Doch er eröff net dabei den Raum für eine neue Inszenierung des Mythos: dass die Geschichte einer harten, ja brutalen Auseinandersetzung um die Gesellschaft die Bundesrepublik geprägt hat – und dass dieser Staat eben nicht nur ein Schönwetterstaat 197

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ist, wie es letztlich noch Die fetten Jahre sind vorbei suggeriert. Sondern dass er unerbittlich zuschlägt, seine Gegner hart verfolgt – bei allen wirkenden Unzulänglichkeiten seiner oft auch komisch wirkenden niederen Chargen. Der Film zerstört den Mythos der RAF nicht, wie es Aust und ›Der Spiegel‹ gern gehabt hätten. Er etabliert ihn neu – nur eben auf andere Weise, als dass er sie als eine Märtyrer-Geschichte erzählte. Er macht dabei die Geschichte zu einer der unterhaltenden Selbstverständigung der Gesellschaft, bei der die Zuschauer sich darüber im Klaren sind, dass diese Zeiten vorbei sind – und die Konflikte, die die Gesellschaft umtreiben, andere sind. Im Hintergrund steht die didaktische Absicht, zu zeigen, dass man heute mit dem Staat, mit dieser Gesellschaft nicht spaßen und sie schon gar nicht herausfordern sollte. Die Vorhaltungen der Kritik im Vorfeld des Kinostarts von Baader Meinhof Komplex, hier ziele man auf das »Blockbuster-Publikum«31, man wolle »Geschäfte mit dem Premium-Artikel RAF« betreiben32 oder man versuche, wie der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar monierte, mit dem Film »den Abenteuerspielplatz RAF nun bei Popcorn und Alcopops auszukosten«, verfehlen in einer kommerzialisierten Medienöffentlichkeit ihren Gegenstand: Soll es tatsächlich um die Etablierung einer staatsfreundlichen Deutung des Verhältnisses von Staat, Gewalt und Terrorismus gehen, dann bedarf es solcher – auch vereinfachender – Bildproduktionen. Die Kritik am Film war einhellig, und man könnte den massiven Verriss, den der Film erfuhr, auf Pannen in der Promotion des Films zurückführen, wenn z.B. nach den Pressevorführungen den Kritikern eine Sperrfrist auferlegt wurde mit der Drohung, 100.000 Euro Strafgeld zu verlangen, wenn diese Sperrfrist verletzt werden würde. Das hat sicherlich viele Kritiker erbost.33 Doch die Kritik ist grundlegender. Sie moniert vor allem den Mangel an fi lmischen Qualitäten. Michael Althen bezeichnet z.B. den Film in der ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ als »Polit-Porno«, der von Höhepunkt zu Höhepunkt eile und nur ein »Skelett einer Erzählung« liefere.34 Ähnlich äußerte sich auch Matthias Dell im ›Freitag‹, der voneinem »gewaltigen Geschichtsporno« sprach.35 Tobias Kniebe in der ›Süd31 Volker Gunske: »Abgerechnet wird zum Schluss«, in: tipp, Nr. 20, Jg. 2008, S. 29-31, hier S. 29. 32 Ebd., S. 30. 33 Dazu ausführlicher: Jan Schulz-Ojala: »Aktien und Action. Eichingers RAF-Film jetzt auch im Kino«, in: Der Tagesspiegel, 25. September 2008. 34 Michael Althen: »Polit-Porno: ›Der Baader Meinhof Komplex‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. September 2008. 35 Matthias Dell: »Das Baader-Meinhof-Komplott«, in: Freitag, 26. September 2008.

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deutschen Zeitung‹ sah das Geschehen nur wie »im schnellen Vorlauf« wiedergegeben, ohne dass sich eine fi lmische Erzählung entwickle,36 Claudia Schwartz monierte in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹, sie habe »keine Figurenentwicklung, keine psychologischen Begründungen« ausmachen können.37 Man könne eben nicht, wie ›Der Stern‹ monierte, »das Ganze« als »eine Sause durch zehn Jahre westdeutsche Nachkriegsgeschichte« inszenieren.38 Die Reihe lässt sich fortsetzen. Für den Zusammenhang von Normalität und Abweichung ist auff ällig, dass sich die Kritik weniger mit der Diskussion über Staatsmacht und Opposition, Anpassung und Widerstand, Reform und Revolution beschäftigt, sondern vor allem damit, ob der Film als Film ›funktioniere‹ ob er fi lmisch gelungen sei, also um ästhetische Probleme. Nicht zufällig wurde mehrfach Christoph Roths Film Baader (2002) als gelungener ›kühler Gangsterfi lm‹ und damit auch wegen seiner Trivialisierung gelobt, eben weil er sich zum Filmischen von vornherein bekannt hat. 2002 war dieser Film gerade wegen seiner Genrefizierung noch heftig gescholten worden. Deutlicher kann die Kritik – auf eine sicherlich bewusst geführte Weise – es nicht machen, dass die RAF nur noch eine Geschichte ist, eine unter vielen, die das Kino erzählen kann und die letztlich nur noch der Unterhaltung dient.

Die Diskussion geht weiter Dass es nicht bei dem mit großem PR-Aufwand in die Kinos gebrachten Film Baader Meinhof Komplex blieb, war anzunehmen, dass es aber so schnell mit Roland Suso Richters Film Mogadischu (Buch: Philip Remy) weiterging, damit war nicht zu rechnen. Der Film, produziert von Nico Hofmanns Produktionsfirma Teamworks im Auftrage der Degeto und des SWR, wurde vergleichbar mit dem Baader Meinhof Komplex aufwändig präsentiert. Am Sonntagabend (30. November 2008) Tatort-Zeit präsentiert, nahm die anschließende Polit-Talkshow Anne Will das Thema auf und diskutierte es u.a. mit dem damaligen Kopiloten Jürgen Vietor der entführten Lufthansa-Maschine ›Landshut‹ und einer der Passagierinnen, und verlieh dem Thema damit den dokumentarischen Realitätsanspruch, 36 Tobias Kniebe: »Bang Boom Bang«, in: Süddeutsche Zeitung, 24. September 2008. 37 Claudia Schwartz: »Mehr Schießwut als Sprengkraft«, in: Neue Zürcher Zeitung, 25. September 2008. 38 N.N.: »Das letzte Gefecht. Der Baader Meinhof Komplex«, in: Der Stern, 21. September 2008.

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der durch die danach folgende ausführliche Dokumentation über die Entführung weiter verstärkt wurde. Das Besondere des Films lag darin, dass das Geschehen jetzt vollständig im Bereich der Fiktion angesiedelt ist und keine dokumentarischen Materialien verwendet wurden. Die vollständige Nachinszenierung schuf damit einen weitgehend homogenen fi ktionalen Erzählraum, der der stark emotionalisierten Darstellung genügende Entfaltungsmöglichkeiten bot. Das Geschehen wird auf eine Konfrontation zwischen dem Flugkapitän Jürgen Schumann (dargestellt von Thomas Kretzschmann) und dem Anführer der palästinensischen Terroristen, der sich ›Captain Mahmud‹ nennt, (gespielt von Said Taghmaoui) zugespitzt. Ins Zentrum rückt auch die Stewardess Gabi Dillmann (gespielt von Nadja Uhl, die bei den zeitgleich stattfindenden Dreharbeiten des Baader Meinhof Komplexes die Terroristin Brigitte Mohnhaupt spielte). Schumann, der schließlich von den Terroristen erschossen wird, wird hier als Held dargestellt, der bei einer Zwischenlandung in Aden erfolglos eine Rettungsaktion versucht, um das dortige Militär zum Eingreifen zu bewegen. Damit wich der Film von den bisherigen Darstellungen des Geschehens ab, lieferte eine neue Sichtweise auf das Geschehen. Auch wird der Zusammenhang zur RAF reduziert. Stammheim ist, anders als bei Breloer, nicht mehr Ort des Geschehens. »Die deutschen Terroristen sind nicht mehr Schlüsselfiguren in diesem Spiel«, konstatierte deshalb der Fernsehkritiker Eckhard Fuhr,39 doch der Kontext bleibt weiterhin erhalten, zu sehr ist die ›Landshut‹-Entführung längst Teil der medialen RAFGeschichte. Der Film wurde von 7,3 Millionen Zuschauern (21,2 Prozent Marktanteil) gesehen und von der Fernsehkritik gelobt. Nikolaus von Festenberg verglich den Film mit Breloers Zweiteiler Das Todesspiel und hob besonders die durchgehende Fiktionalisierung der Darstellung hervor: »Damals fehlte noch der Mut, den Stoff ganz in die Fiktion zu verwandeln. Jede Sinnlichkeit musste dokumentarisch abgesichert werden. Jetzt, in einer historisch weniger verschämten Zeit, ist der Durchbruch zum Miterleben gelungen.« 40 Diese durchgehende Emotionalisierung der Darstellung war dadurch möglich geworden, dass die Authentizität versichernden Nachfragen und Darstellungen nun in Talkshow und Dokumentation verlagert werden konnten. Dennoch empfanden Kritiker den Film auch als ambiva-

39 Eckhard Fuhr: »›Mogadischu‹ − zwischen Angst und Faszination«, in: Welt kompakt, 28. November 2008. 40 Nikolaus von Festenberg: »Die fliegende Hölle«, in: Der Spiegel, Nr. 47, Jg. 2008, S. 196f.

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lent. Barbara Sichtermann monierte, dass die Fiktionalität letztlich immer noch gebrochen war: Zwar ist Mogadischu ein Fernsehfilm aus der Abteilung Fiktion, aber er sitzt so nahe an den Realitäten, dass die freie Erfindung zu schweigen hat, dafür aber das Gewissen des Dokumentaristen ständig klopft. Der Film Mogadischu ist deshalb so interessant, weil er dem Etikett zufolge ein Spielfilm ist, dem Geist zufolge aber eine Dokumentation. Ein Zwitter sozusagen.41

Diese Ambivalenz aber kennzeichnet die spezielle Form der Darstellung historischer Ereignisse in fiktionalen Fernsehsendungen, wie sie das Dokudrama kennzeichnet. Richter hatte sich schon zuvor mit dem Fernsehzweiteiler Dresden (2006) als Regisseur für Geschichtsfi lme und Dokudramen ausgewiesen, und auch Mogadischu reihte sich in die Gruppe der geschichtsträchtigen Dokudramen ein, die mit ihren Themen auch zu einer medialen Selbstverständigung der Bundesrepublik beitrugen. »Mogadischu belegt«, so noch einmal Festenberg, »dass sich das Fernsehen, ohne geistigen Schaden anzurichten, zum Leitmedium für historische Stoffe entwickeln kann.«42

Zusammenfassung Die Auseinandersetzung des Staates mit der RAF, so zeigt der Durchgang durch die fi ktionalen Thematisierungen der RAF im deutschen Film, stellt keine ›Fußnote‹ der bundesdeutschen Geschichte dar, sondern bildet, so der Publizist Stefan Aust, eine »außerordentliche Phase«, in der die Gesellschaft erfahren musste, »dass ein paar Leute mit kühnen Thesen, wie man eine Revolution anzettelt, den Staat in ernsthafte Schwierigkeiten bringen können«. Die wiederholte Darstellung und Erörterung dieser Herausforderung und ihrer Bewältigung gehört also zum Selbstfindungsprozess dieser Gesellschaft und die fi lmische Behandlung gibt dieser Erörterung immer wieder aufs Neue Anschaulichkeit und führt zu einer emotionalen Beschäftigung und individuellen Verarbeitung. Das Spektrum der Filme ist groß: Es reicht von oft kuriosen und bizarren Darstellungen über indirekte Thematisierungen bis zu Versuchen, möglichst genau und historisch gerecht für beide Seiten das Verhältnis von RAF-Terror und Staat darzustellen. 41 Barbara Sichtermann: »Hochinteressanter Zwitter«, in: epd medien, Nr. 95, 29. November 2008. 42 Nikolaus von Festenberg: »Die fliegende Hölle«, a.a.O., S. 197.

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Die Filme, die mit der Thematisierung der RAF ein großes Thema eines gesellschaftlichen Konflikts und einer Diskussion von Normalität und Abweichung zum Gegenstand haben, beginnen nicht bei der RAF selbst, sondern im Vorfeld, in dem sie das Motiv der Gewalt im Kontext eines Generationenkonflikts und eines Einander-Nichtverstehens zum Thema machen. 43 Aus ihnen entsteht eine indirekte Thematisierung der RAF, indem zunächst das Klima der Angst und Repression aufgegriffen und in den Filmen in individuellen Geschichten thematisiert wird. Es geht also darum, wie die Gesellschaft und der Staat mit dem von einer breiten Mehrheit der Gesellschaft als abweichendes Verhalten und als einen Ausbruch aus einer gesicherten Normalität angesehenen Verhalten umgehen, wobei auf der anderen Seite gerade der Staat als nicht mehr normal, als eine sich auf bauende repressive und gewalttätige Monstrosität verstanden wird. Mit dem Höhepunkt des RAF-Terrors 1977 setzt eine direkte Thematisierung ein, letztlich um zu begreifen, wie es dazu kommen konnte und worin die Gründe für diese Radikalisierung liegen. Dabei gelten den Ausbruchversuchen zumindest indirekt immer noch viele Sympathien. In den 1990er Jahren, beginnend mit Grönings Film Die Terroristen!, kommt es zu satirischen und grotesken Darstellungen des Terrorismus. Sie können als ein Versuch gesehen werden, sich von den Verpflichtungen zu befreien, sich für ein staatstragendes Verständnis und gegen eine Vorliebe für Rebellen und Outlaws zu entscheiden. Die komödiantische Variante will den Anspruch, die RAF sei ein Thema von geschichtsprägender Bedeutung, brechen, will das Sujet marginalisieren. Dagegen steht Heinrich Breloers Das Todesspiel, der mit der dramatisierenden Darstellung der Schleyerentführung und der Flugzeugentführung nach Mogadischu den Anspruch erhebt, am Sujet das Bekenntnis zu diesem Staat und zu dieser Republik zu setzen, und der damit die Normalität der geordneten Gesellschaft neu inauguriert. Breloer stellt in seinem Film die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von staatlichem Anspruch auf ein Gewaltmonopol und seine Verweigerung eines Nachgebens zugunsten des Lebens einzelner Geiseln auf neue Weise. Mit Beginn des neuen Jahrhunderts wird das RAF-Sujet zunehmend distanziert betrachtet. Eine neue Filmemacher-Generation, die mit den Auf bruchphantasien der 1960er und 1970er Jahre wenig zu tun hat, beschäftigt sich mit dem Thema. Die Filme Innere Sicherheit, Black Box BRD

43 Dazu gehört z.B. auch der Film Tätowierung (1967) von Johannes Schaaf, bei der ein ehemaliger Heimzögling seinen Adoptivvater erschießt, aber auch weitere Filme, die stärker den Aufbruch der jungen Generation thematisieren.

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und Falsche Bekenner stehen im Kontext der sogenannten ›Berliner Schule‹, die mit der komödiantischen Sicht der 1990er Jahre bricht. Vielleicht ist die auff älligste Beobachtung, dass sich am Ende mehrere Stränge der fi lmischen Behandlung des RAF-Terrors finden lassen, die dem eigentlichen Sujet näher und ferner stehen, die es sehr konkret oder eher verallgemeinert fassen. Die konkrete Beschäftigung mit der RAF steht dabei – auch in der fi ktionalen Darstellung – immer unter dem Zwang, möglichst nahe den realen, nachprüf baren Ereignissen der RAF zu sein, und damit oft zu dokumentarischen Mitteln zu greifen. Gleichzeitig historisiert sich das Sujet immer stärker, rückt uns immer ferner, und Aktualität gewinnt es nur noch als ein allgemeines Paradigma vom Umgang mit der Gewalt. Die Thematisierung als übergroßes Geschichtsereignis, als ›Mythos RAF‹, wie es die Promotion des Films nahelegt, ist nur noch eine von vielen anderen Thematisierungen. Die Besonderheit fiktionaler Darstellungen gegenüber dokumentarischen besteht darin, das historische Geschehen, den politischen Aspekt von Terror und Antiterror, von Staat und Individuum in einer Geschichte von Einzelnen erzählbar zu machen. Dabei bleibt die Spanne von Normalität und Nicht-Normalität, von Anpassung und Abweichung, vom Versuch, eigene Wege gehen zu wollen, die sich dann quer zu gesellschaftlichen Normen verhalten, immer bestehen, sie wird nur bestimmt in der Bandbreite des Sichquerstellens, des Sichverweigerns und in der Art und Weise, wie sich die Normalität der Verhältnisse wieder einstellt. An ihnen zeigt sich der Wandel in der Sichtweise der RAF besonders deutlich. Und mit Heinz-B. Heller wäre hier festzuhalten, dass mit den verschiedenen Versionen der Geschichte der RAF nicht nur die »Geschichte« umgeschrieben wird, sondern dass man »das Gedächtnis umschreibt, wie man Geschichte umschreibt«. 44 Alexander Kluge hat sich zum Thema RAF dahin gehend geäußert, dass sich eine Übereinstimmung großer Mehrheiten der Bevölkerung mit dem Staat, einschließlich seiner Kritiker der 1970er Jahre, dadurch einstellte, dass sich die Angst vor dem Staat und seinen Repressionen, vor einem »Bürgerkrieg«, als letztlich »unberechtigt« herausgestellt habe. 45 Aus seiner Bemerkung ist die Erleichterung herauszuhören, dass die au44 Heinz-B. Heller: »Man erinnert sich nicht – man schreibt das Gedächtnis um, wie man Geschichte umschreibt. Beobachtungen und Anmerkungen zu Chris Marker: ›Le Fond de l’air est rouge‹ (1977-2008)«, in: Heinz-B. Heller u.a. (Hg.): 40 Jahre Erinnerung an 68 – Tyrannei der Jahreszahl? Augenblick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 42, Jg. 2008, S. 100-113. 45 Alexander Kluge: »Die Gier nach dem Effekt«, in: Tipp, Nr. 20, Jg. 2008, S. 32f.

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ßergewöhnliche Situation gut bewältigt wurde und – wie es Stefan Aust bemerkte, der Staat mit der Herausforderung »rechtsstaatlich« umgegangen« sei. 46 Es hat also seither nicht nur auf der medialen Ebene, sondern ganz real im Leben vieler Menschen der 1960er und 1970er Generation ein Einverständnis mit dem Staat gegeben. »Die Zeit der erregten Diskussionen scheint vorbei«, resümierte der Berliner ›Tagesspiegel‹ nach der ersten Diskussion über den Baader Meinhof Komplex. 47 Gerade die Vielzahl der fi ktionalen Thematisierungen hat das betrieben, was als Normalisierung bezeichnet werden kann. Aus dem Konflikt zwischen dem Staat und einzelnen Terrorgruppen, zwischen einem Misstrauen gegenüber dem Staat auf einer breiteren Ebene und dem Staat als Akteur im Kampf gegen seine terroristischen Herausforderer, ist letztlich ein Filmstoff, ein Unterhaltungssujet geworden – gewiss immer noch mit zahlreichen Widerhaken – aber eben doch als eine Form der spannenden Unterhaltung. Auch wenn mit den Filmen Baader Meinhof Komplex und Mogadischu noch einmal die Diskussion hochzukommen scheint. Sie ist jetzt in dominanter Weise eine von der Medienindustrie inszenierte. Das ist als eine Form von Normalisierung zu verstehen.

Literatur Ahrens, Jörn: »Die Zelluloid-Zeit. Die Rote Armee Fraktion (RAF) im deutschen Spielfi lm«, in: Zeitgeschichtliche Forschungen, Mai 2007. URL: www.zeitgeschichte-online.de/zol/portals/_rainbow/documents/pdf/ raf/ahrens_rafimfi lm.pdf [15. September 2008]. Althen, Michael: »Polit-Porno: ›Der Baader Meinhof Komplex‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. September 2008. Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985. Aust, Stefan: »Ich hatte den schönsten Job der Welt«, in: Die Zeit, 11. September 2008. Dell, Matthias: »Das Baader-Meinhof-Komplott«, in: Freitag, 26. September 2008. Elsaesser, Thomas: Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD, Berlin 2006/2007.

46 Stefan Aust: »Ich hatte den schönsten Job der Welt«, in: Die Zeit, 11. September 2008. 47 Christina Tilmann: »Welcher Film? Anne Will: Baader-Meinhof goes Hollywood – der Film, der Terror und die Opfer. ARD«, in: Der Tagesspiegel, 23. September 2009, S. 27.

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Elter, Andreas: Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt a.M. 2008. Festenberg, Nikolaus von: »Die fliegende Hölle«, in: Der Spiegel, Nr. 47, Jg. 2008, S. 196f. Fuhr, Eckhard: »›Mogadischu‹ – zwischen Angst und Faszination«, in: Welt kompakt, 28. November 2008. Gerhard, Ute/Link, Jürgen/Schulte-Holthey, Ernst (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Heidelberg 2001. Gunske, Volker: »Abgerechnet wird zum Schluss«, in: Tipp, Nr. 20, Jg. 2008, S. 29-31. Heller, Heinz-B. u.a. (Hg.): 40 Jahre Erinnerung an 68 – Tyrannei der Jahreszahl? Augenblick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 42, Jg. 2008, S. 100-113. Kluge, Alexander: »Die Gier nach dem Effekt«, in: Tipp, Nr. 20, Jg. 2008, S. 32f. Kniebe, Tobias: »Bang Boom Bang«, in: Süddeutsche Zeitung, 24. September 2008. Nord, Christina: »Filmstart ›Baader Meinhof Komplex‹. Der Spuk geht weiter«, in: die tageszeitung, 20. September 2008. N.N.: »Tykwer und Akin drehen Episodenfilm«, in: Spiegel-online, 8. Juli 2008, http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,564539,00.html 22. Juli 2009]. N.N.: »›Hört auf, sie so zu sehen, wie sie nicht waren.‹ Ein Film zerstört den Mythos RAF«, in: Der Spiegel, Nr. 37, 8. September 2008, S. 41-56. N.N.: »Keine Stille nach dem Schuss. Terrorismus im deutschen Film«, http://www.filmportal.de/df/ed/ArtikelprintFC5331E6248E2C3EE03 053D50B37… [15. September 2008]. N.N.: »Das letzte Gefecht. Der Baader Meinhof Komplex«, in: Der Stern, 21. September 2008. Pfitzenmaier, Anna: »RAF, Linksterrorismus und ›Deutscher Herbst‹ im Film. Eine kommentierte Filmographie (1967-2007)«, in: www.zeit geschichte-online.de/site/40208741/default.aspx [8. März 2008]. Pickerodt, Gerhart: »Erinnerung, Reflexion, Schreiben. Bernward Vespers ›Romanessay‹ Die Reise«, in: Heinz-B. Heller u.a. (Hg.): 40 Jahre Erinnerung: Tyrannei der Jahreszahl. AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 42, 2008, S. 10-19. Schulz-Ojala, Jan: »Aktien und Action. Eichingers RAF-Film jetzt auch im Kino«, in: Der Tagesspiegel, 25. September 2008. Schumacher, Julia: Filmgeschichte als Diskursgeschichte: Die RAF im deutschen Spielfi lm, Münster 2010. Schwartz, Claudia: »Mehr Schießwut als Sprengkraft«, in: Neue Zürcher Zeitung, 25. September 2008. 205

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Seeßlen, Georg: »Die deutsche Öffentlichkeit war in die RAF verliebt. Drei Jahrzehnte RAF im Film«, in: Freitag, 23. März 2007. Sichtermann, Barbara: »Hochinteressanter Zwitter«, in: epd medien, Nr. 95, 29. November 2008. Stephan, Inge/Tacke, Alexandra (Hg.): NachBilder der RAF, Köln/Weimar/ Wien 2008. Tacke, Alexandra: »Bilder von BAADER. Leander Scholz Rosenfest und Christopher Roth Baader«, in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 63-87. Tilmann, Christina: »Welcher Film? Anne Will: Baader-Meinhof goes Hollywood – der Film, der Terror und die Opfer. ARD«, in: Der Tagesspiegel, 23. September 2009. Tolmein, Oliver: »Schmidteinander«, in: konkret, Jg. 1997, Nr. 8. Weinhauer, Klaus: »Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebziger Jahre«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 44. Ausg., Jg. 2004.

Filme Außer Atem (1960, F, R: Jean-Luc Godard) Baader (2001, D, R: Christopher Roth) Black Box BRD (2001, D, R: Andreas Veil) Bonnie and Clyde (1967, USA, R: Arthur Penn) Brandstifter (1969, D, R: Klaus Lemke) Bungalow (2000, D, R: Ulrich Köhler) Das Boot (1981, D, R: Wolfgang Petersen) Das Todesspiel (1997, D, R: Heinrich Breloer) Das zweite Erwachen der Christa Klages (1977, D, R: Margarethe von Trotta) Der Baader Meinhof Komplex (2008, D, R: Uli Edel) Der Polizeistaatsbesuch (1967, SDR, R: Roman Brodman) Deutschland im Herbst (1978, D, R: Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder, u.a.) Deutschland 09 (2009, D, R: Fatih Akin, Tom Tykwer u.a.) Die bleierne Zeit (1981, D, R: Margarethe von Trotta) Die dritte Generation (1978, D, R: Rainer Werner Fassbinder) Die fetten Jahre sind vorbei (2004, D, R: Hans Weingartner) Die Reise (1986, D, R: Markus Imhoof) Die Staatskanzlei (1989, D, R: Heinrich Breloer) Die Stille nach dem Schuss (2000, D, R: Volker Schlöndorff ) Die Terroristen! (1992, D, R: Philip Gröning) Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975, D, R: Volker Schlöndorff ) Easy Rider (1969, USA, R: Dennis Hopper) 206

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Falsche Bekenner (2006, D, R: Christoph Hochhäusler) Fremder Freund (2003, D, R: Elmar Fischer) Innere Sicherheit (2000, D, R: Christian Petzold) Kennen Sie Georg Linke? (1971, D, R: Rolf Hädrich) Kinder unseres Volkes (1983, D, R: Stephan Rinser) Kollege Otto (1991, D, R: Heinrich Breloer) Messer im Kopf (1978, D, R: Reinhard Hauff ) Mogadischu (2008, D, R: Roland Suso Richter) Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929 , D, R: Phil Jutzi) Mutter Küsters Fahrt zum Himmel (1975, D, R: Rainer Werner Fassbinder) Raus aus der Haut (1997, D, R: Andreas Dresen/Torsten Schulz) Rote Sonne (1969, D, R: Rudolf Thome) Rotwang muss weg! (1994, D, R: Hans-Christoph Blumenberg) September (2003, D, R: Max Färberböck) Stammheim (1985, D, R: Reinhard Hauff ) Starbuck Holger Meins (2002, D, R: Gerd Conradt) Tätowierung (1967, D, R: Johannes Schaaf) Unversöhnliche Erinnerungen (1979, D, R: Klaus Volkenborn) Vater, Mutter, Mörderkind (1993, D, R: Ulrich Plenzdorf/Heiner Carow) Wehner. Die unerzählte Geschichte (1993, D, R: Heinrich Breloer) Wundkanal (1984, D, R: Thomas Harlan) Zur Sache Schätzchen (1968, D, R: May Spils)

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Der Baader Meinhof Komplex – ein filmisches Hybr idprodukt in einer konvergenten Medienwelt Lothar Mikos

Als am 25. September 2008 der Film Der Baader Meinhof Komplex in die deutschen Kinos kam, wurde er von öffentlichen Diskussionen begleitet. Die mediale Aufmerksamkeit war letztlich größer als der Erfolg an den Kinokassen. Immerhin ca. 2,5 Millionen Zuschauer hatten den Film bis zum Februar 2009 gesehen. Bereits seit den 1970er Jahren hatten sich immer wieder Filmemacher mit dem deutschen Terrorismus auseinandergesetzt, vor allem die Aktivitäten der Rote Armee Fraktion (RAF) und deren Protagonisten standen im Mittelpunkt dieser Art der fi lmischen Bearbeitung deutscher Geschichte.1 Produzent Bernd Eichinger und seine Constantin 1 Vgl. den Beitrag von Knut Hickethier in diesem Band sowie die Beiträge von Jörn Ahrens, Claudia Breger, Anne-Kathrin Griese, Wolfgang Kabatek und Kirsten Möller in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF, Köln/Weimar/ Wien 2008, S. 121-196; ferner: Anke Bergmann: RAF auf der Leinwand. Diskursanalyse anhand ausgewählter Filmbeispiele zwischen dem Deutschen Herbst und der Jahrtausendwende. Diplomarbeit im Studiengang AV-Medienwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen ›Konrad Wolf‹, Potsdam 2005; Klaus Kreimeier: »Die RAF und der deutsche Film«, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1155-1170; Heiko Reusch: Zur Vorstellung des Terroristen. Die Darstellung der RAF-Terroristen im Film, Marburg 2008; Walter Uka: »Terrorismus im Film der 70er Jahre. Über die Schwierigkeiten deutscher Filmemacher beim Umgang mit der realen Gegenwart«, in: Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 382-398.

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Film AG hatten die Rechte an dem erstmals 1985 erschienenen Buch »Der Baader Meinhof Komplex« von Stefan Aust, damals noch Mitarbeiter des Norddeutschen Rundfunks, erworben.2 Bereits für Reinhard Hauffs Film Stammheim aus dem Jahr 1986, der im gleichen Jahr den Goldenen Bären bei den Berliner Filmfestspielen gewann, hatte Stefan Aust das Drehbuch geschrieben und sich dabei auf seine Recherchen zu seinem Buch gestützt. Das Drehbuch zu Der Baader Meinhof Komplex wurde von Bernd Eichinger in Zusammenarbeit mit Regisseur Uli Edel verfasst. Stefan Aust stand diesem Team beratend zur Seite. Relativ ungewöhnlich an dem Film ist zunächst, dass eine Produktionsfirma die Filmrechte an einem Sachbuch gekauft hat, in dem historische Ereignisse geschildert werden. Aus der Buchvorlage musste dann eine Filmerzählung entwickelt werden, denn es sollte ein Drama werden und kein Dokumentarfi lm. Welche Geschichte aber wird in dem Film erzählt? Wie setzt er die historischen Ereignisse in Szene? Wie kann er ein Geschehen dramatisieren, das in fast allen Einzelheiten öffentlich bekannt ist? Neben dem Buch von Stefan Aust gibt es eine ganze Reihe von Publikationen, die nicht nur die Geschehnisse aus der Sicht der Täter oder aus der Sicht der Opfer darstellen, sondern die sich auch umfangreich an die Interpretation des deutschen Terrorismus in der Gestalt der RAF gemacht haben. Exemplarisch sei hier auf das von Wolfgang Kraushaar herausgegebene, mehr als 1000-seitige Werk »Die RAF und der linke Terrorismus« verwiesen.3 Auch literarisch ist das Thema bereits umfassend bearbeitet worden, 4 ebenso wie im Film.5 Der Baader Meinhof Komplex als Film muss sich einerseits gegen das mit der RAF vorhandene Bildgedächtnis behaupten und andererseits aus der Adaption eines Sachbuches einen dramatischen Stoff entwickeln. Filmische Adaptionen von literarischen Stoffen stellen in der Regel eine »(Re-)Interpretation und (Re-)Kreation« dar.6 Davon ist im vorliegenden Fall allerdings nichts zu spüren, denn Der Baader Meinhof Komplex setzt auf eine weitgehend chronologische Darstellung der Ereignisse, wie sie auch im Buch von Stefan Aust geschildert werden. Dem Film geht es um historische Genauigkeit, um Authentizität, auch wenn 2 Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 1985. Zum Start des Films ist eine erweiterte Aufl age im gleichen Verlag erschienen. 3 Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006. 4 Vgl. die Darstellung bei Luise Tremel: »Die Literrorisierung. Die RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004«, in: Wolfgang Kraushaar (Hg): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, a.a.O., S. 1117-1154. 5 Vgl. Anmerkung 1. 6 Linda Hutcheon: A Theory of Adaptation, New York/London 2006, S. 172.

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diese dramatisch zu gestalten ist. Das zeigt sich in der Ausstattung, die sich bei der Gestaltung der Szenerie originalgetreu an das überlieferte Bildmaterial der Ereignisse hält, und bei der Kameraarbeit, die versucht, die dem kulturellen Gedächtnis zugeführten historischen Bildmaterialien nachzustellen. Sie kann nicht anders, als sich auf die Ikonografie der RAF zu beziehen. Der Film tritt als mediales Produkt in ein bereits vorhandenes Diskursfeld RAF ein und muss sich innerhalb der (historischen) medialen Auf bereitung des Stoffes positionieren. Er wird Teil einer konvergenten Medienwelt, in der Formen transmedialen Erzählens eine immer größere Bedeutung erlangen, und in der die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation tendenziell aufgehoben werden. Im Folgenden wird zunächst kurz auf die Konzepte der Medienkonvergenz, der transmedialen Erzählungen und der Hybridität von Medienprodukten eingegangen, bevor dann anhand des Films auf die dokumentarische Fiktion und die fi ktionale, dramatisierte Authentizität eingegangen wird. Die zentrale These ist, dass Der Baader Meinhof Komplex als Film nicht allein steht bzw. bestehen kann, sondern sich nur im Zusammenhang mit dem präfigurativen Wissen der Zuschauer entfalten kann.

Transmediales Erzählen in einer konvergenten Medienwelt Die Entwicklung digitaler und mobiler Medien hat seit Ende des 20. Jahrhunderts neue Möglichkeiten entstehen lassen, audiovisuelle Angebote auf verschiedenen medialen Plattformen zu verbreiten, um so das Publikum über verschiedene Nutzungsformen einzubinden. Dabei ist am Beispiel von Film und Fernsehen zu beobachten, dass die Grenzen zwischen verschiedenen Medien- und Kommunikationsanwendungen immer mehr verschwimmen.7 Diese Grenzen verschwimmen sowohl in technischer, ökonomischer, inhaltlicher und ästhetischer Hinsicht als auch mit Blick auf die Nutzung von Medienangeboten. Menschen handeln in »konvergierenden Medienumgebungen« 8 . In ökonomischer Hinsicht kann Konvergenz als eine »Ausweitung der kommerziellen Reichweite einzelner Filme oder Unterhaltungsangebote durch die Verbindung mit anderen Absatzmärkten« gesehen werden, »deren ultimatives Ziel es ist, den gleichen

7 Uwe Hasebrink: Fernsehen in neuen Medienumgebungen. Befunde und Prognosen zur Zukunft der Fernsehnutzung, Berlin 2001, S. 105. 8 Ebd., S. 10.

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Markeninhalt über verschiedene Medien zu verbreiten«9 . Auf der Seite der Mediennutzer kommt dem das Bedürfnis entgegen, beliebte Inhalte auf verschiedenen Medienplattformen zu suchen. Das gilt offenbar besonders für Angebote, die der Unterhaltung dienen, wie Henry Jenkins bemerkt: Unter Konvergenz verstehe ich die Ausbreitung von Inhalten über verschiedene Medienplattformen, die Kooperation zwischen verschiedenen Medienindustrien und das nomadische Verhalten von Medienpublika, die auf der Suche nach den Unterhaltungserlebnissen, die sie wünschen, nahezu überall hingehen.10

Die Verbindung zwischen den Angeboten und der Mediennutzung wird durch eine Ästhetik transmedialen Erzählens hergestellt. In den einzelnen Medien wird der Inhalt ästhetisch unterschiedlich auf bereitet:11 »Narrative und ästhetische Querverweise fördern dabei eine hohe Markenloyalität auf Seiten der Nutzer- und Rezipientengruppen.«12 Im Fall von Der Baader Meinhof Komplex geht es um eine Markenloyalität zur medialen Konstruktion des RAF-Terrorismus in Deutschland, wesentlich gestützt auf die Sichtweise von Stefan Aust und sein gleichnamiges Buch. Der Film reiht sich damit nicht nur in die medialen Konstruktionen der RAF in den 1970er Jahren, 13 sondern in den »Mythos RAF« ein, der seit den 1970er Jahren medial geprägt wurde. 14 Im Kontext der Medienkonvergenz werden Filme als medienübergreifende Marken etabliert. Die Geschichte im Kopf der Zuschauer entsteht dann nicht mehr allein über einen Film, sondern auch über die verschiedenen Angebote, die sich um einen Film gruppieren. Trailer im Kino, Fernsehen, Internet und in mobilen Endgeräten, Fanseiten, Merchandising-Artikel, Comics, Computerspiele, Bücher, Filmkritiken und Presseberichte formen die aktuelle Rezeption vor. In 9 Stephen Keane: CineTech. Film, Convergence and New Media, Basingstoke/New York 2007, S. 2. 10 Henry Jenkins: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, New York/London 2006, S. 2. 11 Ebd., S. 95ff. 12 Lothar Mikos/Susanne Eichner/Elizabeth Prommer/Michael Wedel: Die Herr der Ringe-Trilogie. Attraktion und Faszination eines populärkulturellen Phänomens, Konstanz 2007, S. 133. 13 Vgl. dazu Hanno Balz: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a.M./ New York 2008. 14 Vgl. Wolfgang Kraushaar: »Mythos RAF. Im Spannungsfeld von terroristischer Herausforderung und populistischer Bedrohungsphantasie«, in: Ders. (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, a.a.O., S. 1186-1210.

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diesem Sinn kann bei all diesen Ausprägungen auf verschiedenen Plattformen in Bezug auf einen einzelnen Film von »präfigurativem Material« gesprochen werden.15 Im Fall des vorliegenden Films ist dieses präfigurative Material sehr umfangreich. Der Film selbst kann nicht mehr darauf vertrauen, die Interpretationshoheit für die Erzählung RAF-Terrorismus bzw. Baader-Meinhof-Komplex zu haben. Auf ästhetischer Ebene lässt sich bei konvergenten Medienprodukten eine Auflösung der Grenzen zwischen verschiedenen Genres einerseits und zwischen Fiktion und Dokumentation andererseits beobachten. Als frühes Beispiel mag hier der Erfolg eines Thrillers wie The Blair Witch Project (1999) dienen. Das Internet spielte dabei eine wesentliche Rolle, denn dort wurde ein Rahmenplot erzählt, der den Film selbst in einen anderen Zusammenhang stellte.16 Der fi ktionale Film wurde in einen dokumentarischen Kontext gestellt, indem auf der Internetseite bereits die Geschichte der drei Studenten erzählt wurde, die sich auf den Weg machten, um in Maryland einen Film über die legendäre Blair-Hexe zu drehen. Das im Film zu sehende Material wurde als Zusammenschnitt des von den Studenten aufgenommenen Videomaterials angepriesen. Die Ästhetik des Films versucht mit grobkörnigen Aufnahmen, die mit einer verwackelnden Handkamera gemacht wurden, einen Eindruck von Authentizität zu erzeugen, der dem Publikum durch den Realismus der Repräsentation Angst einjagt. 17 Dieser Eindruck von Realismus und Authentizität wird durch die Internetseite verstärkt. Dort sind »Fotos der vermissten Personen, Aufnahmen von Interviews mit Verwandten und Freunden, Ausschnitte aus dem angeblich gefundenen Material, ›Fernseh‹-Informationen zum Fortgang der Fahndung« und weiteres Material zu finden.18 Die Authentisierungsstrategie in der Ästhetik des Films wird durch die intertextuellen Bezüge zum Inter15 Daniel Biltereyst/Ernest Mathijs/Phillippe Meers: »An Avalanche of Attention: The Prefiguration and Reception of The Lord of the Rings«, in: Martin Barker/Ernest Mathijs (Hg.): Watching The Lord of the Rings. Tolkien’s World Audiences, New York u.a. 2008, S. 37-57. 16 Margrit Schreier/Christine Navarra/Norbert Groeben: »Das Verschwinden der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Eine inhaltsanalytische Untersuchung zur Rezeption des Kinofilms The Blair Witch Project«, in: Achim Baum/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Fakten und Fiktionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten, Konstanz 2002, S. 271-282, hier S. 272f. 17 Paul Smith: »Terminator Technology: Hollywood, History, and Technology«, in: Matthew Tinkcom/Amy Villarejo (Hg.): Keyframes. Popular Cinema and Cultural Studies, London/New York 2001, S. 333-342, hier S. 333. 18 Margrit Schreier/Christine Navarra/Norbert Groeben: »Das Verschwinden der Grenze zwischen Realität und Fiktion«, a.a.O., S. 273.

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netauftritt gestützt. Die Geschichte im Kopf der Zuschauer ergibt sich erst aus beidem, dem Film und dem Internetangebot. Neben diesem Zusammenwachsen verschiedener Medienformen zeigen sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch textimmanente Tendenzen zur Auflösung von Genregrenzen und zur Verwischung der Grenzen von Fiktion und Dokumentation. Diese Entwicklungen werden auch mit dem Begriff der Hybridisierung bezeichnet. 19 Neben dem postmodernen Film Ende der 1980er Jahre zeigt sich dies besonders deutlich im Fernsehen, einerseits in den Formaten des so genannten Reality-TV,20 andererseits in der Inszenierung von historischen Ereignissen in dramatischen Erzählformen.21 Richard Kilborn unterscheidet zwischen additiven und integrativen Formen der Hybridität: Während sich additive Formen vor allem in Magazinsendungen im Fernsehen finden, bei denen die verschiedenen Genreeinflüsse sichtbar werden, nehmen integrative Formen die verschiedenen Genreelemente in sich auf und verbinden sie zu neuen Formen wie in den Reality-Shows.22 Während in dem Fernsehspiel von Heinrich Breloer, Todesspiel von 1997, dokumentarische Bilder mit fi ktionalen Spielhandlungen und Interviews verknüpft wurden, also verschiedene Genreelemente additiv zusammengefügt wurden, haben neuere fi ktionale Bearbeitungen von historischen Ereignissen vor allem im Fernsehen zu integrativen Formen geführt, z.B. der TV-Film Dresden von 2006. Es ist das Genre des Dokudramas entstanden, in dem sich das Bedürfnis nach Information über historische Ereignisse mit dem Bedürfnis nach einem Verständnis durch eine Erzählung bzw. einem Erlebnis zweiter Ordnung verbindet.23 Ebbrecht stellt dazu fest, dass die Kombination von dokumentarischen und fi ktionalen Modi der Repräsentation auf das 19 Vgl. Lothar Mikos: Film- und Fernsehanalyse, 2., überarb. Aufl ., Konstanz 2008, S. 270ff. 20 Vgl. hierzu exempl.: Annette Hill: Reality TV. Audiences and Popular Factual Television, London/New York 2005; Richard Kilborn: Staging the Real. Factual TV Programming in the Age of Big Brother, Manchester/New York 2003; Lothar Mikos/Patricia Feise/Katja Herzog/Elizabeth Prommer/Verena Veihl: Im Auge der Kamera. Das Fernsehereignis Big Brother, 2., neu bearb. und erw. Aufl., Berlin 2000. 21 Vgl. exempl. Tobias Ebbrecht: »Docudramatizing History on TV: German and British Docudrama and Historical Event Television in the Memorial Year 2005«, in: European Journal of Cultural Studies, 10. Januar 2007, S. 35-53. 22 Vgl. Richard Kilborn: Staging the Real, a.a.O., S. 12. 23 Vgl. dazu Derek Paget: »Codes and Conventions of Dramadoc and Docudrama«, in: Robert C. Allen/Annette Hill (Hg.): The Television Studies Reader, London/New York 2004, S. 196-208, hier S. 205.

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Bedürfnis des Publikums triff t, ihr eigenes Verständnis von Geschichte durch historische Evidenz bestätigt zu sehen.24 Zugleich geht das Dokudrama durch die Fiktionalisierung der Ereignisse über eine Dokumentation hinaus, indem es sich des Realitätseindrucks des fi ktionalen Kinos bedient. Auf diese Weise macht das Genre den Zuschauern ein doppeltes Angebot: Docudrama argues with the seriousness of documentary to the extent that it draws upon direct, motivated resemblances to its actual materials. As fictions, docudramas offer powerful, attractive persuasive arguments about actual subjects, depicting people, places, actions, and events that exist or have existed.25

Im Dokudrama zeigt sich, dass es um eine Interpretation von historischen Ereignissen geht, die sich aus dem diskursiven Feld bedient, das sich um das Ereignis herum gebildet hat. So konzentriert sich der Film JFK von Oliver Stone aus dem Jahr 1991 auf die Ermittlungen nach dem Mord an US-Präsident John F. Kennedy und greift die kursierenden Verschwörungstheorien dazu auf. Er stellt damit ganz im Sinne der Adaptionstheorie eine ›(Re-)Interpretation‹ der historischen Ereignisse unter Rekurs auf das außerfi lmische diskursive Feld dar. Dabei arbeitet der Film konsequent fiktional, eine Strategie, die bei Der Baader Meinhof Komplex nicht zu beobachten ist. Allerdings ist dieser Befund zu differenzieren: Während die Kameraarbeit, die Inszenierung von Action und der Einsatz von Musik einer fi ktionalen Strategie folgen, orientiert sich die Ausstattung – wie bereits erwähnt – am vorhanden Bildgedächtnis der RAF, die Träger der Handlung, die Figuren, bleiben jedoch hart an der dokumentarischen Vorlage, ebenso die Narration, die sich nicht traut, aus der Chronologie der historischen Ereignisse auszubrechen. Damit verspielt der Film alle Möglichkeiten des oben erwähnten doppelten Angebots an die Zuschauer, dass Dokudramen leisten können.

Der Baader Meinhof Komplex – fiktionale Doku ohne Drama Der Film von Bernd Eichinger und Uli Edel leistet eine (Re-)Interpretation und (Re-)Kreation lediglich auf filmästhetischer Ebene, die Narration 24 Tobias Ebbrecht: Docudramatizing History on TV, a.a.O., S. 40. 25 Steven N. Lipkin: Real Emotional Logic. Film and Television Docudrama as Persuasive Practice, Carbonale 2002, S. 4.

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orientiert sich am chronologischen Ablauf der Ereignisse, wie sie bereits in dem Sachbuch von Stefan Aust geschildert werden, angereichert durch Details, die aus anderen Publikationen zur RAF bekannt sind. Zu Beginn, den Szenen am Strand auf Sylt, wird zunächst die Familie des Verlegers Klaus Rainer Röhl, seine Frau Ulrike Meinhof und deren Kinder, in den Mittelpunkt gerückt. Auf der anschließenden Party der Hamburger großbürgerlichen Kreise darf dann Ulrike Meinhof ihre Kolumne zum Besuch des Schahs von Persien in Deutschland verlesen. Danach zeigt der Film die Anti-Schah-Demonstration bis hin zur Erschießung von Benno Ohnesorg durch einen Polizisten. Die Szenen von der Demonstration in Berlin wiederum verfolgt Familie Ensslin daheim vor dem Bildschirm, ebenso wie die Auftritte von Ulrike Meinhof in Talkshows, in denen sie die Ereignisse kommentiert. Anschließend ist zu sehen, wie Meinhof zusammen mit ihren Kindern die eheliche Villa verlässt. Unmittelbar danach rückt die dritte Hauptfigur in den Blick. Andreas Baader wird im Kreise von anderen jungen Männern beim Basteln von Bomben gezeigt. Anschließend sind die Frankfurter Kaufhaus-Brände zu sehen, gefolgt von der Verhaftung von Baader und Ensslin. Danach verlässt der Film seine fiktionale Inszenierung, indem dokumentarische Bilder vom Vietnam-Krieg eingebaut werden, die im Fernsehen zu sehen sind. Wieder fiktiv inszeniert ist der Vietnam-Kongress in Berlin und das Attentat auf Rudi Dutschke, gefolgt von den Springer-Protesten. Anhand dokumentarischer Szenen, die ebenfalls im TV laufen, wird nun der (Begründungs-)Zusammenhang für die 1968er-Bewegung gebracht (Bilder von Prag und Paris 1968, von Richard Nixon und Martin Luther King), der zugleich die frühen Aktionen der Terroristen Baader und Ensslin in diesen Kontext einordnet. Es wird noch eine Weile dauern, bis der Film zu einer der Schlüsselszenen der Geschichte der RAF kommt, dem Sprung von Ulrike Meinhof aus dem Fenster eines Gebäudes der Berliner Freien Universität bei der Befreiungsaktion für Andreas Baader, dem so genannten »Sprung in den Untergrund«, der letztlich zum bewaffneten Kampf führt. Bereits in diesen ersten Szenen von Der Baader Meinhof Komplex wird deutlich, dass sich der Film nicht entscheiden kann, ob er eine fi ktionale Geschichte anhand von handelnden Figuren, die eine Narration vorantreiben, erzählen will, oder ob er lediglich ein mit fiktionalen Mitteln inszeniertes, dokumentarisches oder besser authentisches Bild der Ereignisse nachzeichnen will. Bis zu den nach dem Vorbild von Actionfilmen inszenierten Bildern von der Anti-Schah-Demonstration wird dem Publikum die Geschichte einer politischen Journalistin zwischen großbürgerlicher Familie und revolutionärer Attitude gezeigt. Zwar wird Meinhof in diesen ersten Sequenzen auch als Person vorgestellt, doch bleibt die Inszenierung für einen fi ktionalen Film sehr kühl. Eine Emotionalisierung findet nicht 216

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statt. Dadurch bleibt eine Distanz zwischen der Filmfigur Meinhof und dem Publikum. Die Filmfigur Ensslin wird als Person erst gar nicht eingeführt, sondern lediglich durch den Disput mit ihrem Vater charakterisiert. Sie wird den ganzen Film über dem Zuschauer nicht nähergebracht. Ihre Handlungen werden nicht verständlich, auch wenn sie zumindest wie in der Auseinandersetzung mit Ulrike Meinhof im Stammheimer Gefängnis für den Zuschauer nachvollziehbar sind – aber nicht, weil die Handlungen der Filmfigur Ensslin aus dem Plot des Films heraus motiviert wären, sondern weil es dem Film in einigen, wenigen Szenen gelingt, ein »empathisches Feld« aufzubauen.26 Die Figur Baader wird lediglich durch die Aktion des Bombenbastelns eingeführt. Der Film vertraut bei der Einführung der drei zentralen Figuren ganz auf das präfigurative Wissen der Zuschauer. Dies wird noch deutlicher bei den Figuren, die nicht im Zentrum der historischen Ereignisse stehen. Vor allem die von Jan Josef Liefers gespielte Figur des Peter Homann, Geliebter von Ulrike Meinhof in der Berliner Zeit, dessen Rolle als Außenseiter bei den Konfl ikten im Palästinenserlager sehr deutlich wird, wird überhaupt nicht eingeführt. Sie taucht ebenso plötzlich auf wie sie auch wieder verschwindet, ohne dass ihre Motive und ihr Charakter deutlich würden. Bei der Szene im Palästinenserlager dient sie lediglich als Folie, um die Brutalität von Baader und Ensslin zu verdeutlichen. Das entfremdete Verhältnis zu Meinhof, die in dem Ausbildungslager ebenfalls für den Tod von Homann stimmt, obwohl er noch ein paar Monate zuvor ihr Geliebter war, wird dagegen kaum thematisiert.27 Auch hier verfehlt der Film eine fi ktionalisierende und emotionalisierende Strategie, um den Zuschauern die Figuren näherzubringen. Stattdessen bleibt er bei einer mit der Kamera inszenierten quasi-dokumentarischen Lektüre der realen historischen Ereignisse. Die Zentrierung der beobachtenden Perspektive auf die drei Figuren Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof – später rückt dann noch Brigitte Mohnhaupt nach – entspricht einerseits der historischen Mythenbildung um diese realen Personen. Sie galten als die Leitfiguren der so genannten ersten Generation der RAF. Aber mit ihnen ist die Geschichte der RAF nicht zu Ende, auch nicht zu Ende erzählt. Aber davor drückt sich der Film, denn er endet mit den Selbstmorden im Stammheimer Gefäng26 Vgl. zum Begriff des empathischen Feldes Hans-Jürgen Wulff: »Das empathische Feld«, in: Jan Sellmer/Ders. (Hg.): Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase?, Marburg 2002, S. 109-121, hier S. 110. 27 Zu den realen Ereignissen im Palästinenserlager, wo Baader, Ensslin und der Anwalt Horst Mahler ein so genanntes Volksgericht gegen Homann inszenieren, weil sie ihn loswerden wollen, vgl. Butz Peters: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004, S. 201ff.

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nis und der Erschießung von Hanns Martin Schleyer. Immerhin räumt er mit den von Wolfgang Kraushaar identifizierten drei Mythen der RAF auf: dem Mythos vom bewaff neten Kampf, dem Mythos von der Isolationsfolter und dem Mythos von den Gefangenen-Morden in Stammheim.28 Der Mythos vom bewaff neten Kampf wird als selbstbezogene Brutalität entlarvt, der Mythos von der Isolationsfolter durch die Darstellung der Kommunikationsstrukturen der Gruppe im Gefängnis. Der Mythos von den Gefangenen-Morden wird durch eine Aussage von Brigitte Mohnhaupt entkräftet. Die Gruppe um Mohnhaupt empfängt die Nachricht vom Tod der Stammheimer Häftlinge in Bagdad. Betroffenheit und Trauer, Wut und Verzweiflung machen sich breit. Mohnhaupt ergreift das Wort: »Könnt ihr die Stammheimer wirklich nur als Opfer sehen? Das war eine Aktion, habt ihr verstanden, eine Aktion!«29 Der Selbstmord wird als eine gezielte Aktion gewertet, um der so genannten Politik der RAF einen Dienst zu erweisen und sie voranzubringen. Auch am Ende bleibt der Film so dicht an den Fakten der historischen Ereignisse, verlässt seinen beobachtenden Modus nicht. Es gibt – abgesehen von der Kamera an sich – keine fi lminterne Erzählinstanz in Der Baader Meinhof Komplex. Die historischen Ereignisse erzählen sich gewissermaßen selbst, indem der Plot und die Bilder des Films auf den außerfi lmischen Diskurs über die RAF verweisen, der allerdings zumindest in den 1970er und 1980er Jahren wesentlich auch von fi ktionalen Filmen mit geprägt wurde. Klaus Kreimeier stellt dazu fest: Die Tatsache, dass die mediale Auseinandersetzung mit dem linken Terrorismus, zunächst jedenfalls, im Kino stattfand und mit der fiktionalen Filmerzählung eine klassische, literarisch im Roman und im Drama verankerte Narrationsform besetzte, steht somit quer zum Medienwandel, der die 1960er und 1970er Jahre bestimmte und gerade in diesen beiden Dekaden das Fernsehen als gesellschaftliches Leitmedium durchgesetzt hat.30

Der Baader Meinhof Komplex orientiert sich genau in die andere Richtung, indem er im Modus eines fi ktionalen Filmes eine Art Re-Enactment der historischen Ereignisse leistet, und sich dabei um eine Authentizität bemüht, die sich an das Bild- und Wortgedächtnis des RAF-Diskurses anlehnt. Allein die Entscheidung, die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge zu erzählen, deutet darauf hin. Damit arbeitet der Film einerseits gegen die Mythenbildung an, derer er sich aber in den originalgetreuen 28 Vgl. zum Mythos RAF Wolfgang Kraushaar: Mythos RAF, a.a.O., S. 1193ff. 29 Zitiert nach Butz Peters: Tödlicher Irrtum, a.a.O., S. 452. 30 Klaus Kreimeier: Die RAF und der deutsche Film, a.a.O., S. 1158.

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Bildern zugleich bedient. In diesem Sinne verwaltet er das ikonografische Erbe der RAF. Dies zeigt sich auch in der Zentrierung auf die zentralen Figuren der RAF. Hier bedient er einen Mythos, gegen den er zugleich aninszeniert – aber eben nicht mit letzter Konsequenz. Gerade die Figurenzentrierung hätte es ermöglicht, konsequenter gegen den RAF-Mythos anzuinszenieren. Dazu hätten aber gerade die Figuren Baader, Ensslin und Meinhof (und später Mohnhaupt) stärker fi ktionalisiert werden müssen. Damit ist nicht gemeint, dass diese Figuren im Film über das Maß der historischen Ereignisse hinaus hätten agieren müssen, sondern dass sie mit den Eigenschaften von fi ktionalen Figuren ausgestattet worden wären, einer filminternen Biografie, die ihre Handlungsmotive nachvollziehbar macht, und einem psychologischen Realismus, der ihre inneren Konflikte stärker offenlegt. Hier bleibt der Film unentschlossen. Zwar wird auf die Beziehung der drei Protagonisten zueinander eingegangen, vor allem aber nur, um in der Stammheimer Zeit die Entfremdung Ulrike Meinhofs von der Gruppe zu inszenieren, die von den anderen isoliert wird und sich selbst immer mehr zurückzieht. Eine emotionalisierende Erzählung hätte stärker auf die (psychologischen) Gründe der Beziehung von Baader und Ensslin sowie auf die Entwicklung von Ulrike Meinhof eingehen müssen. Zwar wird Meinhof zusammen mit ihren Kindern eingeführt, die sie auch aus der ehelichen Villa mitnimmt, doch im Verlauf des Plots gehen sie verloren. Kurz bevor Meinhof den Sprung in den Untergrund wagt, sagt sie noch: »Ich könnte meine Kinder nie verlassen.« Warum sie es dann doch tut, bleibt im Dunkeln, denn im Zusammenhang mit der Filmfigur Meinhof tauchen die Kinder nicht mehr auf. Man sieht noch, wie sie über die Grenze gebracht werden, und wie sie von einem Mann (Stefan Aust – der Buchautor der Vorlage als fiktionale Figur im Film) aus Sizilien abgeholt werden. Ansonsten werden die Kinder noch zweimal in Gesprächen erwähnt. Als die zunehmende Verzweiflung von Meinhof in Stammheim inszeniert wird, spielen ihre Kinder keine Rolle mehr. Gerade hier hätte sich angeboten, der emotionalen Nachvollziehbarkeit der Figur zuliebe, das Thema Kinder noch einmal aufzugreifen. Das Kind von Ensslin wird lediglich in den ersten Szenen gezeigt, spielt danach aber überhaupt keine Rolle mehr, ebenso wenig wie der Vater des Kindes, Bernward Vesper. Die Filmfiguren scheinen über jeden (menschlichen) Zweifel erhaben zu sein, eine innere Tiefe ist ihnen fremd – nicht nur in Bezug auf das eigene familiäre Umfeld, sondern auch in Bezug auf ihren Werdegang als Terroristen. Sie bleiben distanziert, die Zuschauer können keine Beziehung zu ihnen auf bauen, außer einer distanziert beobachtenden. So entwickelt sich weder ein persönliches noch ein politisches Drama.

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Schlussbemerkungen Bevor Der Baader Meinhof Komplex in die Kinos kam, schrieb Charlotte Klonk über den »Bildterrorismus« der RAF: Es gibt einige Bilder aus der Zeit der RAF, die den Terrorismus der siebziger Jahre weit über seine geschichtliche und politische Bedeutung hinaus lebendig gehalten haben. Dazu gehören jene, die damals von unglaublicher Wirkungsmacht waren, doch heute eher befremden, wie die Fotos des toten Holger Meins oder der gefangenen Ulrike Meinhof.31

Der Film benutzt diese Bilder und kontextualisiert sie in einem fi ktionalen Rahmen, um sich selbst Authentizität zu bescheinigen. Damit nimmt er ihnen jedoch nichts von der Befremdlichkeit. Im Prinzip bedient der Film die Schaulust, noch angeregt durch die actionreiche Inszenierung der Szenen, in denen Anschläge verübt werden (besonders der Überfall auf das Auto von Schleyer wird mit allen Mitteln der Actionkunst dargestellt). Damit bietet er sich, wie bereits die Bilder- und Medienpolitik der RAF, als Projektionsfläche an. »Die RAF ist für das Massenpublikum in den 1970er Jahren über weite Strecken die bevorzugte Projektionsleinwand gewesen. Auf der einen Seite wurden Neugierde, Lust und Voyeurismus geschürt und auf der anderen Angst, Neid und Abscheu.«32 Insofern greift der Film nicht nur auf die außerfi lmischen Texte der 1970er Jahre zurück, sondern bedient auch die Stimmungen der damaligen Zeit – die ebenso wie manche Bilder heute befremdlich wirken. Der Baader Meinhof Komplex ist abgesehen von den actionreichen Bildern der Gewalttaten, die durch eine formale Dynamik gekennzeichnet sind, ein Film, der aus der aktuellen Zeit fällt, weil er sich in den 1970er Jahren verliert. Er paktiert einerseits mit dem Mythos, indem er die Bilder der damaligen Zeit wieder lebendig werden lässt, andererseits traut er sich nicht, die filmischen Stärken einer nicht-chronologischen Dramaturgie, einer psychologischen Inszenierung der Figuren und einer Inszenierung, die das Geschehen für das Publikum auch emotional nachvollziehbar macht, auszuspielen. Die mangelnde Emotionalisierung kann als Authentisierungsstrategie gesehen werden, die sich in die originalgetreue Abfi lmung der Bildgeschichte der RAF einpasst. Doch zugleich werden gerade die Möglichkeiten, die in der Fiktionalisierung des Dokudramas stecken, verschenkt. Statt einer hochdramatischen Geschichte, in der die 31 Charlotte Klonk: »Bildterrorismus. Von Meins zu Schleyer«, in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF, a.a.O., S. 197-215, hier S. 197. 32 Wolfgang Kraushaar: Mythos RAF, a.a.O., S. 1200.

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Zuschauer die Handlungsketten und die Motive der Figuren aus der fi lmischen Erzählung heraus verstehen können, wird eine distanziert beobachtende Lektüre angeboten, die darauf setzt, dass der Zuschauer die Geschichte ja sowieso schon kennt. Um die zahlreichen Lücken des Filmplots zu füllen, ist das Publikum auf präfiguratives Wissen angewiesen, das es an den Film herantragen muss. Ist dieses Wissen nicht vorhanden, weil z.B. jüngere Zuschauer nicht mit der im Film herauf beschworenen Atmosphäre der 1970er Jahre vertraut sind und wenig über die RAF und ihre Protagonisten wissen, bildet sich in der Rezeption schnell das Gefühl von Langeweile aus, weil sie zwar dem Plot folgen, aber daraus keine Geschichte machen können. Ist das Wissen vorhanden, stellt sich bei Zuschauern, die an den historischen Ereignissen als Beobachter beteiligt waren und persönliche Erfahrungen mit der Zeit des RAF-Terrorismus in der Bundesrepublik verbinden, ebenfalls schnell Langeweile ein, weil sie die Geschichte der RAF in wesentlichen Zügen kennen und der Plot des Films dieser Geschichte nichts Neues hinzuzufügen weiß. Der Baader Meinhof Komplex bleibt in seinem selbstgeschaffenen Widerspruch zwischen fi ktionalisierender Inszenierung in den Actionszenen und historischer Genauigkeit in Dialogen, Ausstattung und Bildern gefangen. In diesem Sinne kann er als singulärer Film nicht bestehen. Obwohl als Dokudrama angelegt, kann er dem historischen Geschehen keine neuen Aspekte abgewinnen. Er kann noch nicht einmal eine Geschichte entfalten, da er sich auf das präfigurative Wissen der Zuschauer verlässt, und darauf, dass historische Ereignisse für sich sprechen. Aber auch die wollen erzählt sein.

Literatur Aust, Stefan: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 1985 (erweiterte Neuaufl. 2008). Balz, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a.M./ New York 2008. Bergmann, Anke: RAF auf der Leinwand. Diskursanalyse anhand ausgewählter Filmbeispiele zwischen dem Deutschen Herbst und der Jahrtausendwende. Diplomarbeit im Studiengang AV-Medienwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen ›Konrad Wolf‹, Potsdam 2005. Biltereyst, Daniel/Mathijs, Ernest/Meers, Phillippe: »An Avalanche of Attention: The Prefiguration and Reception of The Lord of the Rings«, in: Martin Barker/Ernest Mathijs (Hg.): Watching The Lord of the Rings. Tolkien’s World Audiences, New York u.a. 2008, S. 37-57. 221

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Ebbrecht, Tobias: »Docudramatizing History on TV: German and British Docudrama and Historical Event Television in the Memorial Year 2005«, in: European Journal of Cultural Studies, Nr. 10, Jg. 2007, Heft 1, S. 35-53. Hasebrink, Uwe: Fernsehen in neuen Medienumgebungen. Befunde und Prognosen zur Zukunft der Fernsehnutzung, Berlin 2001. Hill, Annette: Reality TV. Audiences and Popular Factual Television, London/New York 2005. Hutcheon, Linda: A Theory of Adaptation, New York/London 2006. Jenkins, Henry: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, New York/London 2006. Keane, Stephen: CineTech. Film, Convergence and New Media, Basingstoke/New York 2007. Kilborn, Richard: Staging the Real. Factual TV Programming in the Age of Big Brother, Manchester/New York 2003. Klonk, Charlotte: »Bildterrorismus. Von Meins zu Schleyer«, in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 197-215. Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg: Hamburger Edition 2006. Kraushaar, Wolfgang: »Mythos RAF. Im Spannungsfeld von terroristischer Herausforderung und populistischer Bedrohungsphantasie«, in: Ders. (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1186-1210. Kreimeier, Klaus: »Die RAF und der deutsche Film«, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1155-1170. Lipkin, Steven N.: Real Emotional Logic. Film and Television Docudrama as Persuasive Practice, Carbonale 2002. Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse, 2. überarb. Aufl., Konstanz 2008. Mikos, Lothar/Eichner, Susanne/Prommer, Elizabeth/Wedel, Michael: Die Herr der Ringe-Trilogie. Attraktion und Faszination eines populärkulturellen Phänomens, Konstanz 2007. Mikos, Lothar/Feise, Patricia/Herzog, Katja/Prommer, Elizabeth/Veihl, Verena: Im Auge der Kamera. Das Fernsehereignis Big Brother, 2. neu bearb. und erw. Aufl., Berlin 2000. Paget, Derek: »Codes and Conventions of Dramadoc and Docudrama«, in: Robert C. Allen/Annette Hill (Hg.): The Television Studies Reader, London/New York, 2004, S. 196-208. Peters, Butz: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004.

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Reusch, Heiko: Zur Vorstellung des Terroristen. Die Darstellung der RAFTerroristen im Film, Marburg 2008. Schreier, Margrit/Navarra, Christine/Groeben, Norbert: »Das Verschwinden der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Eine inhaltsanalytische Untersuchung zur Rezeption des Kinofilms The Blair Witch Project«, in: Achim Baum/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Fakten und Fiktionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten, Konstanz 2002, S. 271-282. Smith, Paul: »Terminator Technology: Hollywood, History, and Technology«, in: Matthew Tinkcom/Amy Villarejo (Hg.): Keyframes. Popular Cinema and Cultural Studies, London/New York 2001, S. 333-342. Stephan, Inge/Tacke, Alexandra (Hg.): NachBilder der RAF, Köln/Weimar/ Wien 2008. Tremel, Luise: »Die Literrorisierung. Die RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004«, in: Wolfgang Kraushaar (Hg): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1117-1154. Uka, Walter: »Terrorismus im Film der 70er Jahre. Über die Schwierigkeiten deutscher Filmemacher beim Umgang mit der realen Gegenwart«, in: Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt/New York 2006, S. 382-398. Wulff, Hans-Jürgen: »Das empathische Feld«, in: Jan Sellmer/Ders. (Hg.): Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase?, Marburg 2002, S. 109-121.

Filme Der Baader Meinhof Komplex (2008, D, R: Uli Edel) Dresden (2006, D, R: Roland Suso Richter) JFK (1991, USA, R: Oliver Stone) The Blair Witch Project (1999, USA, R: Daniel Myrick/Eduardo Sánchez) Todesspiel (1997, D, R: Heinrich Breloer)

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Migration in die Ungleichzeitigkeit : Fatih Akins Gegen die Wand und die Wende im deutsch-türkischen Film Ortrud Gutjahr

Als der Regisseur Fatih Akin mit seinem Film Gegen die Wand bei den Berliner Filmfestspielen 2004 den ›Goldenen Bären‹ gewann, wurde dies von den Medien als Sensationserfolg gefeiert. Das geschah offensichtlich nicht nur, weil ein Film, der erst im Nachrückverfahren in den Wettbewerb aufgenommen worden war, mit dem Hauptpreis des Festivals ausgezeichnet wurde,1 sondern auch, weil der Regisseur und seine Hauptdarsteller in Deutschland aufgewachsene Türken oder Deutsche mit Migrationshintergrund sind. Schnell war man sich einig, dass dieser Umstand der Auszeichnung eine »über den Film hinausgehende Bedeutung«2 verleihe. Auch im Ausland erregte Gegen die Wand als Ausdruck der virulenten Umbrüche im Einwanderungsland Deutschland großes Aufsehen. In der Presse war gar zu lesen, dass sich durch diesen Film das Bild, das über die in Deutschland lebenden Migranten kursiert, radikal verändert habe und mehr in Bewegung gekommen sei als in Jahrzehnten der Gastarbeiterdebatten und Integrationsprogramme, ja dass durch diesen Film eine »neue Ära« begonnen habe.3 1 Nach Reinhard Hauffs Stammheim (1986) gewann nach 18 Jahren erstmals wieder ein deutscher Film den Goldenen Bären. 2 Katja Nicodemus: »Ankunft in der Wirklichkeit«, in: Die Zeit, 19. Februar 2004. Wiederabgedruckt in: Fatih Akin: Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Drehbuch/Materialien/Interviews, Köln 2004, S. 221-225. 3 Fast zwanzig Jahre zuvor hatten Günter Wallraffs Undercover-Reportagen, die unter dem Titel ›Ganz unten‹ (1985) erschienen, eine Welle der Aufmerksamkeit für die hier lebenden Türken ausgelöst. Katja Nicodemus formulierte: »Dieses Deutschland ist da, es ist das einzig mögliche, und schon bald wird es die

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Der Autor Andreas Thiel, der den Film Gegen die Wand als Dramaturg, Regieassistent, Co-Produzent und künstlerischer Berater von Anfang an begleitet hatte, bestätigte als eine Absicht des Filmprojekts, »dass die Deutschen ihre Haltung zu den Zuwanderern überdenken, dass sie merken, dass ihre ach so wertvolle Leitkultur, die sie selbst schon längst verraten und verkauft haben, auch und besonders von den Türken bereichert wird« 4 . Wurde mit dem Film also unzweifelhaft eine politische Botschaft verknüpft und sollte er dem deutschen Publikum einen Spiegel für die jahrelange Ignoranz gegenüber Migranten vorhalten, so mutierte die Auszeichnung aus Sicht der in Deutschland lebenden Türken zu einer Art Integrationspokal, der Stolz und Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugte, wie sich dies in einem Artikel des Schriftstellers Feridun Zaimoğlu in launiger Prononciertheit formuliert findet: Überall im Lande feierten die Türken den neuen König von Deutschland. Man sah den jungen Filmemacher, auch im großen Glück bescheiden, vor den Kameras mal die Hand zur Kriegsfaust ballen, mal die Finger zum Siegeszeichen recken. In den Männercafés stießen Pensionäre der ersten Gastarbeitergeneration, stilecht und herkunftstreu, mit Anisschnaps auf ihren Helden an; ob des Jubels und der Völkerumarmungsszenen kamen orthodoxe Jungfern in die Versuchung, sich unstatthaft berühren zu lassen. Es war die Zeit der großen Gefühle und der symbolischen Gesten, und endlich konnte man, erschöpft von den lähmenden Debatten, sich einfach nur mal freuen.5

Fatih Akin, der 1973 als Sohn türkischer Einwanderer in Hamburg-Altona geboren wurde, dort das Abitur abgelegt, an der Hochschule für bildende Künste studiert und nach einer Reihe erfolgreicher Filme mit dem Goldenen Bären auch den internationalen Durchbruch geschaff t hatte, wurde zur Symbolfigur eines erfolgreichen Aufstiegs, der innerhalb der zweiten Migrantengeneration nicht zuletzt durch die produktive Teilhabe an letzten Träumer der Leitkultur mit fröhlicher Verachtung aus seiner unausweichlichen Zukunft fegen.« Katja Nicodemus: »Ankunft in der Wirklichkeit«, a.a.O. Der Politiker Özcan Mutlu erklärte: »Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr glaube ich, dass mit Fatih Akins Erfolg für uns Türken hier in Deutschland eine neue Ära begonnen hat.« Zitiert nach: Jörg Lau: »Die Türken sind da«, in: Die Zeit, 26. Februar 2004. 4 Andreas Thiel: »Vorwort«, in: Fatih Akin: Gegen die Wand, a.a.O., S. 11-14, hier S. 12. 5 Feridun Zaimoğlu: »Sex, Drogen und die Schocks der Moderne«, in: Tagesspiegel, 10. März 2004. Wiederabgedruckt in: Fatih Akin: Gegen die Wand, a.a.O., S. 209-213.

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unterschiedlichen kulturellen Kontexten auf beeindruckende Weise möglich wurde. Die Bewunderung richtete sich ganz unumwunden auf einen Filmregisseur, dem es offenbar gelungen war, ein fi lmisches Narrativ zu entwickeln, das etwas zu sehen und zu hören gibt, was so bisher noch nicht gefasst werden konnte. Gut 14 Jahre nach der Wiedervereinigung konnte sein Film als Zeichen einer anderen Wende gesehen werden, bei der Deutschland als Migrationsland ins öffentliche Bewusstsein rückte und ein Wandel im deutschen Kino sichtbar wurde. Denn neben der integrationspolitischen Bedeutung, die dem Film beigemessen wurde, sah man ihn auch als herausragendes Beispiel eines Genres, das bis dato zu wenig Beachtung gefunden hatte und gerade durch seine aufsehenerregende Veränderung in Akins Film in den Fokus des Interesses rückte. Damit nicht genug, wurde die Auszeichnung im internationalen Medienecho als Bestätigung für die bedeutsame Rolle des deutsch-türkischen Films verstanden, den es bereits seit zwei Jahrzehnten gab, der bisher aber noch nicht den Weg in die Mainstream-Kinos gefunden hatte. Zwar wurde die Filmkritik nicht müde zu betonen, dass in Akins Gegen die Wand Stereotype früherer Filme aufgekündigt werden, doch die Frage, worin eigentlich das substanziell Andere liegt, das es rechtfertigen könnte, hier von einer signifi kanten Erneuerung des Genres Migrationsfi lm zu sprechen, fand vor lauter Begeisterung wenig Beachtung. Und dieses Versäumnis ist bei einem ersten Blick auf den Film vielleicht auch wenig verwunderlich, denn in seiner bildgewaltig inszenierten Vielschichtigkeit basiert er doch auf einem nur allzu bekannten Narrativ.

Ein gängiges Plotmuster – ein außergewöhnlicher Film In Gegen die Wand wird ganz augenfällig eine Liebesgeschichte nach dem Plotmuster der Scheinehe erzählt, das bereits zu Beginn des Films deutlich aufgerufen wird.6 Die 20-jährige Sibel bittet den doppelt so alten, heruntergekommenen, drogenkonsumierenden und alkoholabhängigen Cahit, eine Scheinehe mit ihr einzugehen, um damit den durch das Elternhaus vorgegebenen Verhaltenserwartungen Genüge zu tun und diese zugleich zu 6 Zaimoğlu meint hierzu: »Fatih Akin hat mit diesem grandiosen Liebesepos die deutsche Romantik wiederbelebt, er hat sie entschlackt, ihr die hohl schwärmerischen Momente entnommen, und die orientalische Herzhitze eingebrannt. Wir versinken in unseren Kinositzen, wir treten hinaus in die Nacht, wir fletschen hungrig verliebt die Zähne. Uns fehlen die Worte.« Feridun Zaimoğlu: »Sex, Drogen und die Schocks der Moderne«, a.a.O.

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umgehen. Denn erhoffen sich ihre Eltern von der Heirat mit einem Türken die Gewähr für ein traditionsverpflichtetes Leben, so will die Heiratswillige unter dem Deckmantel der Ehe ein selbstbestimmtes führen, um sich nicht zuletzt sexuell ausleben zu können, wie dies durch das unbedingte Credo »ich will ficken! Und nicht nur mit einem Typen«7 in unmissverständlicher Deutlichkeit formuliert wird. Für das Plotmuster der Scheinehe ist kennzeichnend, dass es seinen Witz wie auch tiefere Bedeutung durch eine Umkehr der Ereignisfolge der Liebesanbahnung gewinnt. Im klassischen Liebesfilm schließt sich der ersten Begegnung oder gar der Liebe auf den ersten Blick eine Annäherungsphase an, in der das wechselseitige Interesse und Begehren evident wird. Danach aber wird unabdingbar eine Phase der Prüfung erforderlich, in der durch Intrige, unglücklichen Zufall oder Missverständnis Zweifel am Gefühl des Anderen keimen, mit dem Hinzutreten eines Dritten Eifersucht entsteht oder durch ein schicksalhaftes Ereignis die sich anbahnende Verbindung unterbrochen wird. Erst nach einer Phase der Bewährung, die mit der Lösung von Missverständnissen und dem Gewahrwerden wechselseitigen Verkennens einhergeht, kann die endgültige Bestätigung der Liebe erfolgen, wobei die bevorstehende Hochzeit nicht selten das ›Happy End‹ markiert. Der Plot der Scheinehe setzt hingegen die Hochzeit als ›Factual Ending‹ unabdingbar an den Beginn und holt das emotionale Curriculum der Liebesanbahnung als eigentlicher Handlung nach. In diesem Fall treiben die der Zweckgemeinschaft geschuldeten eheähnlichen Verhältnisse mit gemeinsamer Wohnung und geteilten Alltagsritualen das Begehren hervor: Entgegen der pragmatischen Abmachungen erweist sich Liebe als Effekt der Aushandlung divergierender Lebensvorstellungen und geteilter Erfahrungen. Deshalb ist das Plotmuster der Scheinehe unter kulturkritischer Perspektive auch besonders ergiebig, weil hier nicht wie im klassischen Liebesfilm ein subjektives Gefühl durch Formen kulturspezifischer Liebesbeweise beglaubigt werden muss, sondern umgekehrt die personale Bindung gleichsam ex post die geteilte kulturelle Praxis bestätigt, aus der diese Bindung in ihrer emotionalen Reichweite überhaupt erst entstehen konnte. Um eine solche Bestätigung kultureller Praxis geht es mit dem Plotmuster der Scheinehe auch in Akins Film. Einerseits kann Sibel dank der geschlossenen Vereinbarung ein Parallelleben führen, wie dies bereits in der Hochzeitsnacht deutlich wird, als sie sich mit einem Barkeeper einlässt, nachdem Cahit sie aus der Wohnung hinauskomplimentiert hat. Andererseits vermittelt sie dem schwermütigen Einzelgänger neue Lebensfreude und verwandelt seine zuvor vermüllte Zweizimmerwohnung für eine kurze Weile in den Ort eines quasi intimen Ehelebens, was durch gemeinsam 7 Fatih Akin: Gegen die Wand, a.a.O, S. 39.

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verbrachte Abende mit türkischem Essen verdeutlicht wird. Trotz zunehmender wechselseitiger Zuneigung wehrt Sibel jedoch den sexuellen Vollzug der Ehe ab, um ihre Freiheit nicht aufs Spiel zu setzen. Doch Cahit zeigt sich der Doppelbödigkeit der Als-ob-Ehe und der damit verbundenen Ambivalenz der Gefühle nicht gewachsen: Als sein Verhältnis zu Sibel von deren Zufallsbekanntschaft Niko mit dem eines Zuhälters zu seiner Hure verglichen wird, reagiert er wie ein eifersüchtiger und zutiefst gedemütigter Ehemann und erschlägt den Provokateur im Affekt. Dieser unkontrollierte Ausbruch wird Anlass für die notwendige Trennungsphase des Paares, die nach einer Schuld-und-Sühne-Dramaturgie gestaltet ist. Cahit wird verhaftet, und nach dem Muster der beginnenden Bewährungszeit gibt Sibel ihm im Gefängnis das Versprechen, bis zu seiner Entlassung auf ihn zu warten. Von ihren Eltern verstoßen und von ihrem Bruder verfolgt, flüchtet sie nach Istanbul und beginnt zunächst in einem Hotel, das ihre Cousine Selma leitet, zu arbeiten, gleitet aber zusehends in Drogen- und Alkoholkonsum ab. Erst nach einem völligen Zusammenbruch beginnt sie ein neues Leben aufzubauen, wie dies durch einen Zeitsprung von einigen Jahren verdeutlicht wird. Auch Cahit hat sich durch die Haft, die er nur aufgrund des Versprechens seiner Ehefrau, auf ihn zu warten, überstand, radikal verändert. Er hat seine Alkoholabhängigkeit überwunden und macht sich gemäß der notwendigen Wiederannäherung auf den Weg nach Istanbul, um Sibel zu treffen. Doch obwohl sie eine Nacht miteinander verbringen und sich damit das Plotmuster der Scheinehe erfüllt, wird eine gemeinsame Zukunft nicht in Aussicht gestellt. Die Anregung zu Gegen die Wand geht laut Akin auf eine biographische Begebenheit zurück. Eine frühere Schulfreundin habe ihn gefragt, ob er sie heiraten könne, »damit sie aus ihrem Elternhaus rauskommt« 8. Daraus sei die Idee entstanden, einen Film nach dem Muster der amerikanischen ›Romantic Comedy‹ »mit einer Spur ›Culture Clash‹« zu drehen, wobei er »eine Komödie wie ›Green Card‹ im Kopf«9 gehabt habe. In Akins Film geht es aber nicht wie in Peter Weirs Film (1990) um eine Scheinehe um der Aufenthaltserlaubnis willen, wie dies auch bei Cahits Freund Seref der Fall ist, 10 sondern um die Möglichkeit, jenseits der Familie und ohne die Verpflichtungen und Einschränkungen einer türkischen Ehe eine Phase 8 Ebd., S. 204. 9 Fatih Akin/Helmut Ziegler: »›Ich will kein Sonntagskind sein!‹ Ein Gespräch«, in: Ebd., S. 240. 10 Als Cahit Seref, der in einer Putzkolonne arbeitet, erzählt, dass er Sibel heiraten möchte, sagt dieser ihm, dass er damit seine Unabhängigkeit verlieren würde. Als Cahit ihn darauf hinweist, dass er doch auch geheiratet habe, antwortet Seref: »Um hier zu bleiben. Das ist was anderes.« In: Ebd., S. 47.

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der Selbsterprobung zu durchleben. Was in Akins Film also mit dem Plotmuster der Scheinehe verknüpft wird, ist das Muster des Adoleszenzfi lms, in dem sich die Protagonisten in kritische oder oppositionelle Auseinandersetzung mit dem Elternhaus begeben, in der Gruppe Gleichaltriger ihre Grenzen austesten und dabei nicht selten mit Recht und Ordnung in Konflikt geraten. Damit aber inszeniert Akin in seinem Film nicht nur eine Variation des Plotmusters der Scheinehe, vielmehr wird dieses auch eingesetzt, um einer Befreiung von Wertvorgaben und dem Wunsch nach selbstbestimmter Entwicklung Raum geben zu können. Zwar steht der Akt der Eheschließung am Anfang, doch die allmähliche emotionale Annäherung führt zwangsläufig in die Katastrophe, da die Bindung an den Partner den durch die Scheinehe verbürgten Freiheitsraum zu vernichten droht. Im Hinblick auf das Plotmuster liegt die Besonderheit von Akins Film also gerade darin, dass der Umkehr in der zeitlichen Abfolge der Liebesanbahnung noch eine ganz andere Ungleichzeitigkeit eingeschrieben ist. Denn die Tradition, wie sie im ritualisierten Fest der türkischen Hochzeit ihren signifi kanten Ausdruck findet, wird durch emanzipatorische Ansprüche unterminiert, wie sie in Deutschland im Zuge der 68er-Bewegung virulent wurden. In Szene gesetzt wird mithin die Koexistenz von traditionellen, mit der türkischen Familie konnotierten Vorschriften und davon divergierenden, mit dem ›Nachholen‹ einer deutschen Emanzipationsbewegung assoziierten Selbstbestimmungsbestrebungen. Die beiden Protagonisten des Films bewegen sich immer nur näherungsweise aufeinander zu, wie dies mit der Scheinehe angezeigt ist, in die Cahit erst nach langem Zögern einwilligt, wie auch mit der emotionalen Annäherung, die durch den Eifersuchtsausbruch beendet wird, bis hin zur Liebesnacht in Istanbul, die nicht zum erwarteten ›Happy End‹ führt. Während Cahit bei der ersten Begegnung in Hamburg seiner schmerzlichen Gebundenheit durch die brüske Abwehr jeglicher Frage nach seiner verstorbenen Frau Ausdruck gibt und sich dann allmählich Sibel zuwendet, die ihm wie ein rettender Engel erscheint, ist diese bei der Wiederbegegnung selbst an einen Mann und das gemeinsame Kind gebunden. 11 Dass in Akins Gegen die Wand die Ungleichzeitigkeit von Tradition und Selbstbestimmung, wie sie in der Entwicklung der Protagonisten sichtbar wird, auf Migrationserfahrungen verweist, die in diesem Film auf subtile Weise dargestellt sind, kann vor dem Hintergrund der Entwicklung des Genres Migrationsfi lm verdeutlicht werden. 11 Vgl. Daniela Berghahn: »No place like home? Or impossible homecomings in the films of Fatih Akin«, in: New cinemas: Journal of Contemporary Film, Nr. 4.3, Jg. 2006, S. 141-157, hier S. 154.

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Auf engstem Raum – Anfänge des Migrationsfilms Die Entstehung des Genres Migrationsfi lm verdankt sich einem umfassenden soziokulturellen Wandel, der mit politischen Steuerungsbestrebungen während der wirtschaftlichen Aufschwungphase der Nachkriegszeit begann, als in den 1950er Jahren durch Anwerbeabkommen Menschen aus strukturschwachen Ländern als Arbeitskräfte nach Deutschland geholt wurden. 12 Auch mit der Türkei wurde am 31. Oktober 1961 ein Vertrag mit der Absicht geschlossen, eine zeitlich befristete und nach dem Rotationsprinzip organisierte Vermittlung von Arbeitskräften zu regeln, 13 wobei nur kurzfristige Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen erteilt wurden, da diese Art der Arbeitsmarktsteuerung von deutscher Seite nur als Interimslösung gedacht war. 14 Doch 1974 wurde Arbeitsmigranten per Gesetz ermöglicht, Familienangehörige aus der Türkei nachzuholen, 15 und da diese Offerte von vielen genutzt wurde, zählte man im selben Jahre erstmals mehr als eine Million türkischer Einwanderer in Deutschland. 16 Doch zur Forderung oder Förderung von Integrationsmaßnahmen kam es kaum, da man eine dauerhafte Niederlassung der Migranten als Belastung des sozialen Netzes ansah. Als Anfang der 1980er Jahre fi nanzielle Anreize für rückkehrwillige Migranten geschaffen wurden, remigrierten zwar über 200.000 Türken in ihre Heimat, doch der weitaus größere Teil blieb dauerhaft in Deutschland.17 12 Der deutsch-italienische Anwerbevertrag vom 20. Dezember 1955 markiert den Beginn der Arbeitsmigration nach Deutschland. 13 Die türkischen Migranten entschieden sich hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen für die Arbeit in Deutschland, einige verließen aber auch aus politischen Beweggründen oder mit Blick auf bessere Bildungs- und Lebensmöglichkeiten ihre Heimat. 14 Wie sehr die Zulassung zur Arbeitsmigration von der wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik abhängig gemacht wurde, verdeutlicht auch der Anwerbestopp, der am 23. November 1973 im Zuge der Ölkrise verhängt wurde. 15 All diejenigen, die als Erwachsene nach Deutschland gekommen waren, wurden als ›erste Generation‹ bezeichnet, deren später nachgeholte oder in Deutschland geborene Kinder als ›zweite Generation‹. 16 Seit 1972 bilden die Migranten türkischer Herkunft die zahlenmäßig stärkste Gruppe an Einwanderern in Deutschland. 17 Immer mehr Migranten der ersten Generation wollen inzwischen ihren Lebensabend in Deutschland verbringen, da ihre Kinder bzw. Enkelkinder in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben. 1995 wollten 83% aller in Deutschland lebenden Türken nicht in die Türkei zurückkehren. Im Jahr 2003 machten sie

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Die Ballungssiedlungen innerhalb der Großstädte und die damit einhergehende soziale Segregation unterstützte von Anfang an die Tendenz innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft, Migranten als homogene Gruppe zu sehen und ihnen mit stereotypen Vorstellungen zu begegnen, wobei die Medien bei der Verfestigung wie auch Hinterfragung solcher Bilder eine nicht unerhebliche Rolle spielten und spielen: Vor allem die ästhetisch aufwendig gestalteten Kinofilme und Fernsehsendungen konstituieren eine Bildwelt mit attraktiv gestalteten politischen Identitätsmodellen und Sinnstrukturen, die gerade deshalb politisch so wichtig sind, weil sie nicht im Modus der politischen Bildung, sondern in dem der Unterhaltung daherkommen.18

Die ersten Filme, die sich mit der Migration und ihren psychosozialen Folgen sowie den Reaktionen in der Einwanderungsgesellschaft zunächst in Form des Sozialdramas auseinandersetzen, stammen von Regisseuren, die dem Autorenfi lm zuzurechnen sind. In seinen auf dem Höhepunkt der Zuwanderungsbewegung gedrehten Filmen diente Rainer Werner Fassbinder die Figur des Gastarbeiters vor allem zur Verdeutlichung der ausländerfeindlichen Stimmung in der Bundesrepublik. So wird in Katzelmacher (1969), einem Film, der in Plotmuster und Figurenkonstellation auf das kritische Volksstück zurückgreift, der Grieche Jorgos als eine der deutschen Sprache nur rudimentär mächtige Reflektorfigur konzipiert, die im Beziehungsgefüge einer Gruppe junger Frauen und Männer zur Projektionsfläche von Ängsten, sexuellen Phantasien und Fremdenhass wird. mit 1,91 Millionen 26% der Ausländer aus. Rechnet man die 600.000 Eingebürgerten hinzu, so leben heute rund 2,5 Millionen Menschen türkischer Herkunft in der Bundesrepublik. Vgl. zu diesem Absatz Ülger Polat: Soziale und kulturelle Identität türkischer Migranten der zweiten Generation in Deutschland, Hamburg 1998; Klaus J. Bade: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; Karl-Heinz Meier-Braun: Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt a.M. 2002; Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Hg.): Migration und Asyl in Zahlen, Nürnberg 2003; Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration (Hg.): Migration und Integration – Erfahrung nutzen, Neues wagen. Jahresgutachten 2004, Berlin 2004. 18 Andreas Dörner: »Das Kino als politische Integrationsagentur. Afroamerikanische Identifikationsangebote im Hollywood-Film der 90er Jahre«, in: Heribert Schatz/Christina Holtz-Bacha/Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Migranten und Medien. Neue Herausforderungen an die Integrationsfunktion von Presse und Rundfunk, Wiesbaden 2000, S. 164-178, hier S. 168. Vgl. auch Margret Spohn: Türkische Männer in Deutschland, Bielefeld 2002, S. 436.

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Auch in seinem Film Angst essen Seele auf (1974)19, in dem Elemente des Sozialdramas mit dem Melodram verbunden werden,20 steht die Verdinglichung eines Migranten im Zentrum. Die Verbindung einer einsamen älteren Witwe mit dem sozial isolierten, wesentlich jüngeren marokkanischen Gastarbeiter Ali schlägt unversehens in eine Herrschaftsbeziehung um, als der äußere soziale Druck auf das ungleiche Paar nachlässt. Demgegenüber suchte Helma Sanders-Brahms in ihrem Film Shirins Hochzeit (1975) mit sozialkritischem Impetus den Blick besonders auf Problematiken türkischer Frauen in Deutschland zu lenken. Die junge Shirin fl ieht kurz vor ihrer zwangsweisen Verheiratung aus der Türkei nach Köln, um dort nach ihrem heimlichen Verlobten zu suchen, und gerät, nachdem sie ihre Arbeit in der Fabrik verliert, an einen Zuhälter, der sie in Gastarbeiterunterkünften einsetzt, wo sie auch auf den lange Gesuchten triff t, der sie jedoch nicht erkennt. Am Ende wird Shirin in einer Schießerei zwischen Zuhältern verletzt. Gegenüber diesen, am Muster des Sozialdramas orientierten Filmen, hat Hark Bohm mit seinem romantischen Adoleszenzfilm Yasemin (1988) die Befreiung einer 17-jährigen türkischen Schülerin zum Thema gemacht. Als die Protagonistin wegen ihrer Freundschaft mit dem 20-jährigen Studenten Jan in die Türkei zurückgeschickt werden soll, widersetzt sie sich der elterlichen Verfügungsgewalt und flieht mit ihm. Der Film gilt nicht zuletzt wegen seines pädagogisierenden Impetus als paradigmatischer Jugendfi lm zum Thema Migration und wurde mit zahlreichen Preisen bedacht.21 Dass Mitte der 1980er Jahre ein zunehmendes Interesse an Filmen entstand, die ihre Narrative gleichsam aus der Innensicht auf das Leben der Migranten entwickeln, wird an Tevfi k Başers Debütfilm 40 qm Deutschland (1985) deutlich, der als Sensation wahrgenommen und mit dem Bundesfi lmpreis ausgezeichnet wurde.22 Die Kritik sah in ihm das künstlerische Zeugnis dafür, dass sich in Deutschland eine von der Mehrheitsgesellschaft abgegrenzte Parallelgesellschaft herausgebildet hatte. Der kammerspielartige ›Low-Budget‹-Film macht die völlige Isolation der 18-jährigen Türkin Turna zum Thema, die von ihrem Ehemann in der beengten Wohnung eingeschlossen und so hospitalisiert wird, dass ihr ein Entkommen aus der Wohnung erst nach seinem Tod gelingt. In Başers Abschied vom falschen 19 Der Film erhielt 1974 unter anderem den Preis der ökumenischen Jury bei den Filmfestspielen in Cannes. 20 Fassbinder zitiert in Angst essen Seele auf Douglas Sirks Melodram All That Heaven Allows (1955), das ein ähnliches Plotmuster aufweist. 21 Der Film erhielt 1989 sowohl den ›Deutschen Filmpreis‹ als auch den ›Bayerischen Filmpreis‹. 22 Der Film wurde außerdem zur Woche der Kritik nach Cannes eingeladen.

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Paradies (1988) findet hingegen die Protagonistin Elif, die ihren gewalttätigen Mann umgebracht hat, erst in der Abgeschiedenheit des Gefängnisses zu sich selbst. Wie bereits Sanders-Brahms’ Shirins Hochzeit verdeutlichen auch Başers Filme eine geschlechtsspezifische Ausrichtung im Genre des deutsch-türkischen Migrationsfi lms. Protagonisten werden tendenziell als Projektionsfiguren fremdenfeindlicher Verhältnisse und Opfer ausbeuterischer Arbeitsbedingungen konzipiert, seltener als Gefangene traditioneller Männlichkeitskonzepte, wie etwa in Yüksel Yavuzs Aprilkinder (1998). Demgegenüber werden Protagonistinnen vor allem als Opfer traditioneller Zuschreibungen und männlicher Gewalt besonders innerhalb der türkischen Familie vorgestellt und damit zugleich tendenziell als Kritikfiguren in Szene gesetzt, an denen die Symptome einer in ihrer kulturellen Binnendifferenzierung ›kranken‹ türkischen Gesellschaft lesbar werden.

Interkulturelle Begegnung – die zweite Generation im Film Aus der ersten Generation türkischer Arbeitsmigranten war kein einziger Filmemacher hervorgegangen, erst deren Kindern wurde es möglich, sich an Kunst- oder Filmhochschulen zu bewerben und den Weg in die Studios zu suchen. Seit den 1990er Jahren entwickelte sich die Filmproduktion dieser zweiten Generation, wobei kennzeichnend ist, dass sich viele Regisseure und zunehmend auch Regisseurinnen zunächst über Kurzfi lme einen Namen machten. Mitte der 1990er Jahre entstanden zahlreiche Filme junger Regisseurinnen mit Migrationshintergrund wie Ayşe Polats Ein Fest für Beyhan (1994), Aysun Bademsoys Mädchen am Ball (1995) und Seyhan Derins Ben Annemin Kiziyim – Ich bin Tochter meiner Mutter (1996), die deutlich machen, wie stark die deutsch-türkische Filmproduktion in dieser Zeit in Gang kam. Die Produktionen türkischstämmiger Regisseure, die in der Anfangsphase als ›Einwandererkino‹ eine Sonderstellung innerhalb des deutschsprachigen Kinos zugesprochen bekamen, setzten sich unter den Bezeichnungen deutsch-türkischer oder türkisch-deutscher Film (neben den übergreifenden Bezeichnungen Migrationsfi lm oder auch interkultureller Film) durch.23 Im Zuge des internationalen Phänomens des ›Cinema du Métissage‹, in dem Geschichten mit und über Figuren vielfältiger und unterschiedlicher kultureller Prägungen erzählt werden, geht es in den

23 Vgl. Deniz Göktürk: »Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?«, in: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart 2000.

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deutsch-türkischen Filmen zunehmend um die spannungsreiche Vermittlung kulturdifferenter Lebensweisen und Erfahrungsgehalte.24 Dabei werden auch Erzählmuster aus der Anfangsphase des Migrationsfi lms reflektiert, wie dies in Sinan Çetins Film Berlin in Berlin (1993) mit der Figur des Eindringlings in den gleichsam geschlossenen kulturellen Kosmos einer türkischen Familie in paradigmatischer Weise der Fall ist. Der Film, der wie zuvor Başers 40 qm Deutschland weitgehend im beengten Raum einer Berliner Wohnung spielt, betrachtet mit ethnographischem Blick den Zusammenprall von türkischer und deutscher Kultur anhand einer interkulturellen Liebesgeschichte: Ein deutscher Ingenieur und Hobbyphotograph beobachtet bei seinen Photoshootings eine attraktive türkische Frau, die ihrem Mann das Essen auf die Baustelle bringt. Nachdem sich der eifersüchtige türkische Arbeiter bei einem Handgemenge um den Photoapparat tödlich verletzt, wird der Ingenieur von dessen Familie mit Blutrache bedroht. Bei einer Verfolgungsjagd flüchtet er sich ausgerechnet in die Wohnung dieser türkischen Familie, in der alte Rituale und Rechte hochgehalten werden. Mit dem Hass einiger Familienmitglieder direkt konfrontiert, wird der junge Ingenieur gleichzeitig von den auf die Einhaltung des Gastrechts bedachten Familienoberhäuptern geschützt. Somit inszeniert Çetin in seinem Film eine Umkehrsituation der Migration und lässt den Deutschen unversehens als Gast unter Gastarbeitern daheim in der Fremde sein. Erzählmuster dieser Form des interkulturellen Films machen Fremdheiten als kulturelle Differenzen in Sitten, Gebräuchen und Verhaltensweisen insbesondere in der Liebesanbahnung deutlich, oder es werden Unterschiede zwischen türkischer Tradition und westlicher Moderne in der Begegnungssituation von kulturell unterschiedlich geprägten Figuren verhandelt, wobei Veränderungen des Modus kultureller Verortung häufig über Generationsunterschiede evident gemacht werden. Wenn es 1998 im Berliner Tip-Magazin in Reaktion auf vier Regiedebüts von Regisseuren türkischer Herkunft, unter ihnen Fatih Akin mit seinem preisgekrönten ersten Spielfi lm Kurz und schmerzlos, heißt: »Die Türken kommen. Und sie geben dem deutschen Film genau das, wonach wir seit Jahren schreien: Echte Typen, wahre Geschichten und neue Formen«, so wird damit allerdings weniger auf die interkulturelle Ausrichtung der Filme denn auf ihre zunehmende Thematisierung von Gewalt verwiesen. In auff älliger Weise werden seit Mitte der 1990er Jahre Figuren der zweiten Migrantengeneration gestaltet, die sich durch Gewaltausübung im kriminellen Milieu zu behaupten suchen. Signifi kantes Beispiel hierfür ist

24 Vgl. Amin Farzanefar: Kino des Orients. Stimmen aus einer Region, Marburg 2005.

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Lars Beckers Kanak Attack (2000)25, ein Gangster- und Rapperfilm, in dem von den jugendlichen Figuren eine an ›Insider-Codes‹ orientierte ›Kanak Sprak‹ gesprochen wird und der in dreizehn Episoden die Geschichte des Drogendealers Ertan erzählt, wobei die Topoi des Genres von Drogenhandel und Prostitution bis zu Raubüberfällen, Revierkämpfen, Besuchen in der Psychiatrie und Gefängnisaufenthalten durchdekliniert werden.26 Auf der anderen Seite konnte neben den Filmen, in denen die kriminelle Karriere jugendlicher Randseiter zum Thema wird, vor allem die ›Culture-Clash‹-Komödie ein breiteres Publikum erreichen. Diese Art der Komödie, die in der deutschen Filmproduktion bis dahin weitgehend unbekannt war und zumeist als interkulturelle Liebesgeschichte inszeniert ist, bezieht ihren Witz aus dem Aufeinanderprallen und Gegeneinanderausspielen divergierender kultureller Gewohnheiten und insbesondere Moralvorstellungen, wie dies in Idil Üners Kurzfilm Die Liebenden vom Hotel von Osman (2002) der Fall ist, in dem Akin den männlichen Protagonisten spielt, wie auch im Kinoerfolg Kebab Connection (2005), der auf einem Drehbuch von Fatih Akin und Ruth Toma basiert. Wie sehr die ›Culture-Clash‹-Komödie mittlerweile zum Exportschlager geworden ist, verdeutlicht Sinan Akkuş’ Episodenfilm Evet, ich will! (2008), der bereits im Hinblick auf ein Kinopublikum in Deutschland und der Türkei produziert wurde. Das Fernsehen hat den Trend zu interkulturellen Komödien früh aufgenommen und Muster aus dem Ausland auf deutsch-türkische Verhältnisse übertragen, wie zum Beispiel mit Nesrin Şamderelis Alles Getürkt! (2003). Dass Filme mit Migrationsthematiken und interkulturellen Beziehungskonstellationen mittlerweile bei einem breiten Publikum auf Interesse stoßen, zeigt deren zunehmende Präsenz auf verschiedenen Kanälen. Mit Rolf Schübels Zeit der Wünsche (2005) kam erstmals ein groß angelegtes Filmprojekt zur Migration ins deutschsprachige Fernsehen, zu dem Tevfik Başer das Drehbuch geschrieben hatte und das prompt den Grimme-Sonderpreis des Publikums erhielt. Als bester Fernsehfilm des Jahres 2006 wurde Stefan Holtz’ Komödie Meine verrückte türkische Hochzeit27 ausge25 Beckers Film liegt das Buch ›Abschaum. Die wahre Geschichte des Ertan Ongun‹ von Feridun Zaimoğlu zu Grunde. Laut Zaimoğlu fragte ihn der Drogendealer Ertan Ongun, ob er seine Geschichte nicht aufschreiben wolle, und sagte ihm: »Ich geb dir reinen Stoff. Du bist mein Dealer. Geh und verkauf das Zeug!« Feridun Zaimoğlu: »Nachwort«, in: Ders.: Abschaum. Die wahre Geschichte des Ertan Ongun, Hamburg 1997, S. 183f., hier S. 184. 26 Ein jüngeres Beispiel für einen Film, der Aufstieg und Fall eines Türken im Drogenmilieu zeigt, ist Özgür Yildirims Chiko (2008). 27 Der Film ist eine Cover-Version von Joel Zwicks My Big Fat Greek Wedding (2002).

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zeichnet. Dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen gelang es, mit Türkisch für Anfänger (2006ff.) eine erfolgreiche Familienserie über eine interkulturelle Patchwork-Familie zu etablieren. Doch der ›Culture Clash‹ wird auch als Gewaltexzess zum Thema von Fernsehproduktionen, so im Film Wut (2006) von Züli Aladağ, der ob seiner Darstellung der Übergriffe eines türkischen Schülers auf seinen deutschen Mitschüler und dessen Eltern in den Medien Aufsehen erregte. Zudem wurde 2008 mit Mehmet Kurtuluş, der durch seine Rollen in den Filmen Akins bekannt wurde, mit großem Presseecho die Figur eines türkischen Undercover-Ermittlers in die TatortKrimireihe eingeführt. Bei aller Auff ächerung der Genremuster, die sich mit der Migration aus der Türkei nach Deutschland und deren psychosozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgen auseinandersetzen, lässt sich feststellen, dass in den Filmen von Regisseuren mit Migrationshintergrund kaum mehr Themen wie Heimatverlust oder soziale Deprivation im Zentrum stehen, sondern vielmehr Prozesse inter- und transkultureller Selbsterprobung, wie dies für die Filme Akins in besonderem Maße gilt.

Zwei Blicke – Akins filmische Narrative der Migration In seinen Filmen bis hin zu Gegen die Wand beruft sich Akin dezidiert auf Vorbilder aus dem Hollywood-Kino28 und nutzt deren Genremuster, doch baut er dabei unzweifelhaft auf die Geschichte des deutsch-türkischen Films auf und setzt sich teilweise auch in direkten Bezug zu dieser.29 Wie sehr in seinem kurzen, kammerspielartig komödiantischen Gesellenstück Sensin – Du bist es! (1995) auf den Migrationskontext angespielt wird, verdeutlicht sich am Wunsch des (von Akin selbst gespielten) Protagonisten, eine, wie es immer wieder heißt, »Traumfrau« zu finden, die, wie er selbst, türkische Wurzeln hat, aber in Deutschland aufgewachsen ist. In seinem zweiten Kurzfi lm Getürkt (1996) befindet sich ein junger Türke aus Deutschland (wiederum von Akin selbst gespielt) während der Sommerferien in einem 70 Kilometer von Istanbul entfernten ›Provinzkaff am Schwarzen Meer‹ namens Chile, das längst zu einem Sammelort für die 28 Akin hat selbst vielfach darauf hingewiesen, dass er durch das amerikanische Genrekino, insbesondere durch Martin Scorsese und Quentin Tarantino, geprägt wurde. 29 Als Reminiszenz an die Geschichte des Migrationsfilms kann beispielsweise gesehen werden, dass er in Gegen die Wand die Rolle des Vaters von Sibel mit dem Schauspieler Demir Gökgöl besetzte, der in 40 qm Deutschland den Hodja spielte.

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türkischen Migranten Europas geworden ist, wie Akins Stimme aus dem Off betont: Es kommen nicht viele Touristen nach Chile. Die meisten sind die Wochenendler aus Istanbul und die Türken, die im Ausland leben, die hier ihren Urlaub verbringen. Türken aus Frankreich, Türken aus der Schweiz, sogar Türken aus China habe ich dort getroffen. Und natürlich Türken aus Deutschland, so wie ich.30

Der pikareske Kurzfilm nutzt das Muster der Gangsterkomödie, um Zeichen interkultureller Verständigung neu durchzudeklinieren. Gleich einem Code zwischen Gangstern des gleichen Clans werden deutsche Worte als Wiedererkennungszeichen zwischen Menschen inszeniert, welche Migration als kulturelle Erfahrung teilen. Auf diese Weise wird aus dem unbedarften, gleichsam temporär remigrierten Protagonisten ein Insider, der in einem Schildbürgerstreich Unkraut als Cannabis verkauft und so aus seiner Situation als integrierter Außenseiter den großen Deal zu machen versteht. Das Muster des Gangsterfi lms mit einer Parallelwelt, in der eigene Gesetze und Verständigungscodes herrschen, legt Akin auch seinem Spielfi lmdebüt Kurz und schmerzlos (1998) zu Grunde, um die Freundschaft zwischen einem Türken, einem Serben und einem Griechen in HamburgAltona in Szene zu setzen. Nach einer Schuld-und-Sühne-Dramaturgie, wie sie später auch in Gegen die Wand Anwendung findet, wird hier von einer zweiten Chance erzählt: Der Protagonist Gabriel scheitert nach einem Gefängnisaufenthalt in seinem Resozialisierungsprozess, weil er Rache für einen getöteten Freund übt. Dass aber gegenüber den Gefährdungen auf den nächtlichen Straßen die väterliche Tradition Halt zu geben vermag, wird am Ende des Films angedeutet. Um Grenzübertritte, Veränderungswünsche und die Suche nach verlässlichen Beziehungen geht es auch im Film Im Juli (2000), der nach dem Muster des ›Roadmovie‹ über den suchenden Entwicklungsprozess des schüchternen Referendars Daniel erzählt, der sich mit der esoterisch angehauchten Schmuckverkäuferin Juli von Hamburg aus auf eine abenteuerliche Odyssee durch verschiedene Länder Europas nach Istanbul begibt, um dort die ihm vermeintlich vorbestimmte junge Türkin Melek zu treffen. Doch erweist sich die erfahrungsreiche Reise, die nach Prinzipien der ›Screwball‹-Komödie organisiert ist, letztlich als Weg zu Juli, der Daniel unter der Bosporus-Brücke seine Liebe gesteht. In diesem Film wird erstmals die topologisch orientierte Bewegung der Remigration für zwei

30 Getürkt (1996).

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deutsche Protagonisten als Glückssuche in Istanbul in Szene gesetzt, eine Bewegung, die Akin in Gegen die Wand wieder aufgegriffen hat. Auch in seinem Film Solino (2002) werden filmische Narrative der Migration und Remigration entwickelt. Erzählt wird über zwei miteinander konkurrierende Brüder einer italienischen Migrantenfamilie, die sich zwar mit einer Pizzeria in Deutschland etablieren kann, deren Zusammenhalt aber zerbricht, als der Vater sich mit einer anderen Frau einlässt. Mit autoreflexivem Gestus werden anhand der Brüder, die beide Filmemacher werden, alternative Möglichkeiten des Migrantenkinos verhandelt, nämlich sich entweder in plagiatorischer Weise mit vorgegebenen Sujets oder aber mit den eigenen Wurzeln zu beschäftigen. Dieser knappe Abriss verdeutlicht, dass Akin Themen und Motive, die in Gegen die Wand zum Tragen kommen, bereits in seinen vorigen Filmarbeiten entwickelt hat. So spielen emotionale Bindungen in Paarbeziehung, Freundschaft und Familie wie auch Wut und Rachegelüste als zerstörerische Affekte eine wichtige Rolle. Immer wiederkehrendes Motiv ist der Drogenkonsum, der für Selbstbehauptung (Getürkt), Anerkennung in der Freundesgruppe (Kurz und schmerzlos), Enthemmung und Traum (Im Juli)31 wie auch für Selbstzerstörung (Gegen die Wand)32 stehen kann. Deutlich werden in Akins Filmen adoleszente Selbsterprobungswünsche und Überlebensstrategien zum Thema, wobei die Handlung zumeist in einem multikulturellen Milieu33 angesiedelt ist. Die Schauplätze der Handlung liegen (außer in Solino, der in Duisburg und Italien spielt) größtenteils in Hamburg, Istanbul und am Schwarzen Meer oder auf der Strecke zwischen diesen Orten,34 die stets auch ein Irgendwo repräsentieren, in dem sich die Figuren befi nden. Nicht zuletzt durch die exzessive Einspie31 In Im Juli findet sich zum einen eine surreale Kiffszene, in der Juli und Daniel über dem Boden schweben, zum anderen eine Traumszene, in der Daniel im Drogenrausch Juli und Melek in der Figur der Luna sieht. Im Film Auf der anderen Seite wird ebenfalls die enthemmende Wirkung des Drogenkonsums betont, als sich Lotte und Ayten nach einem Diskobesuch nahekommen. 32 Cahit wird als regelmäßiger Kokainkonsument vorgestellt: Bereits beim Hochzeitsfest, als das Brautpaar zum gemeinsamen Mahl in ein Nebenzimmer geleitet wird, überrascht Sibel ihren frisch angetrauten Ehemann mit einem Geschenk, nämlich Koks, das sie dann auch selbst konsumiert. Ist das Rauschmittel für Cahit Zeichen seiner Abhängigkeit, so für Sibel Zeichen ihrer Befreiung und Enthemmung, bis sie in der Türkei durch ihren Drogenkonsum selbst in einen Strudel der Gewalt gerät. 33 Die Figuren in Akins Filmen sind Deutsche, Türken, Italiener, Griechen, Serben und Albaner. 34 Im Film Im Juli werden bei Ortswechseln Ort, Datum und Zeit eingeblendet.

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lung von älterer und zeitgenössischer türkischer und westlicher Musik vermitteln die Filme einen multikulturellen Klangraum, in dem sich die Figuren in ihrer selbstverständlichen Mehrsprachigkeit orientieren, denn neben Deutsch und Türkisch wird auch die globale Verständigungssprache Englisch gesprochen.35 Die Protagonisten zeichnen sich durch eine mit umgangssprachlichen, vermehrt auch zotigen Ausdrücken gespickte Sprache aus und befleißigen sich eines ›Code Switching‹. Dabei wird das Türkische häufi g wie ein gruppenstiftender Geheimcode eingesetzt, welcher der bewussten Segregation dient. In seinen Filmen greift Akin bevorzugt auf Genres wie Gangsterfi lm, ›Roadmovie‹ und Liebeskomödie oder das Erzählmuster der Familiengeschichte zurück und zeichnet sich zugleich durch eine ganz eigene Handschrift aus. Während es beginnend mit seinen beiden Kurzfi lmen deutlich um Adoleszenzgeschichten geht, in denen sich die Protagonisten innerhalb ihrer Peergroup zu verorten suchen, gewinnt die Hinwendung zur Elterngeneration und ihrer Migrationsgeschichte zunehmende Bedeutung, wie dies durch seinen Dokumentarfi lm Wir haben vergessen zurückzukehren (2001)36 besonders deutlich hervorgehoben wird. Der biographisch orientierte Film entwickelt nach einem topologischen Gliederungsmuster anhand von Akins eigener Familiengeschichte drei Erzählmuster der Migration: Das erste Narrativ ist auf Hamburg-Altona bezogen und entfaltet die Geschichte einer Migration der Ankunft und Neubeheimatung. Akin bezeichnet sich selbst als Altonaer und befragt seine Eltern in deren Wohnung über die Geschichte ihrer Migration. Seine Eltern, die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, hatten immer vorgehabt, in die Türkei zurückzugehen, aber aus den anfänglich geplanten drei Jahren in Deutschland sind mittlerweile 35 geworden. »Wir haben einfach vergessen wieder zurückzukehren«, kommentiert Akins Vater die Frage seines Sohnes nach dem Grund ihres Bleibens. Das zweite Narrativ erzählt von Remigration und bezieht sich auf Istanbul, das Akin bereist, um seine Verwandten zu befragen, die ebenfalls als Gastarbeiter in den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, sich aber in den 1980er Jahren zur Rückkehr in die Heimat ent35 Auch in Auf der anderen Seite werden Türkisch, Deutsch und Englisch eingesetzt, um die verschiedenen Lebenswelten der Protagonisten zu kennzeichnen. Der Vater Nejats und die Hure Yeter verständigen sich in Bremen auf Türkisch; Ayten und Lotte kommunizieren in Hamburg auf Englisch; Lottes Mutter und Nejat unterhalten sich in Istanbul auf Deutsch. 36 Der Film wurde für eine Reihe des Bayerischen und Westdeutschen Rundfunks unter dem Titel Denk ich an Deutschland … produziert, in der sich junge deutsche Filmemacher mit dem Leben in ihrer Heimat auseinandersetzen sollten.

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schieden.37 Das dritte Narrativ bezieht sich auf die Sesshaftigkeit in der Türkei und lässt Verwandte zu Wort kommen, die dem Ruf des Westens nicht folgten und in dem kleinen Fischerdorf am Schwarzen Meer geblieben sind, das Akins Eltern einst verließen, um nach Deutschland zu gehen. Über Fotoalben und episodisches Erzählen wird ein heimatverbundener Aspekt der Familiengeschichte aufgespürt, der in der Recherche des Regisseurs seinen gleichsam archivarischen Ort in der ländlichen Türkei hat. Akin begibt sich mit seinem Dokumentarfi lm auf eine sehr persönliche Suche nach seinen familiären und kulturellen Wurzeln und einer Vergangenheit, die ihn betriff t, über die er aber nicht verfügt. Mit der fi lmischen Recherche nach den Erinnerungen der ersten Migrantengeneration und der Entwicklung der Narrative von Migration, Remigration und Heimatverbundenheit an verschiedenen Orten in Deutschland und der Türkei verbindet er die soziopolitische Geschichte der Arbeitsmigration mit der emotionalen Familiengeschichte. Obwohl Akin in Interviews immer wieder betont hat, dass er ohne Hinweise auf seine Herkunft einfach als guter Filmemacher geschätzt werden möchte, weiß er auch, dass seine Filme gerade durch diese Herkunft an Tiefe und gesellschaftlicher Virulenz gewinnen: [M]eine Filme [sind] sehr persönliche Filme […], die ich tief aus meiner Biographie und meinen Erfahrungen geschöpft habe. […] Ein Teil dieser Biographie ist natürlich meine Herkunft, daß ich türkische Eltern habe, daß ich türkisch spreche, daß […] ich türkische Musik gern höre und daß die türkische Sprache für mich manchmal wie ein Geheimcode war, den eben viele nicht verstehen. Das alles gebe ich an meine Filmfiguren weiter.38

Wie kaum ein anderer Regisseur des Gegenwartskinos in Deutschland bringt Akin die eigene Familie in seine Filme mit ein. So gibt er durch seinen biographischen Dokumentarfi lm nicht nur Einblicke in die Geschichten, Denkweisen und Wünsche seiner Familie, sondern spielte in seinen Kurzfi lmen auch selbst die Hauptrolle39 und setzte immer wieder 37 Vgl. Klaus Müller-Richter: »Phantasmagorien der Rückkehr aus der Migration. Fatih Akins kinematografische Konstruktion und Inszenierung von Heimatträumen«, in: Ders./Ramona Uritescu-Lombard (Hg.): Imaginäre Topografien. Migration und Verortung, Bielefeld 2007, S. 177-194. 38 Fatih Akin: »›Ein Gefühl der Anerkennung‹. Interview«, in: newscontainer, Nr. 15, Jg. 1999, S. 8. 39 Akin spielte unter anderem auch in Andreas Thiels und Kai Hensels Kismet (1999) und in Til Schweigers Klamaukkomödie 1½ Ritter – auf der Suche nach der hinreißenden Herzelinde (2008) mit.

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Familienmitglieder als Schauspieler ein. 40 Wie er selbst bekennt, bezieht er die Geschichten für seine Drehbücher41 aus eigenen Erfahrungen 42 und arbeitet eng mit einer Crew von Schauspielern zusammen, die teilweise seinem Freundes- oder Bekanntenkreis entstammen. 43 Vor allem aber insistiert Akin darauf, dass durch den familiären Migrationshintergrund zwei unterschiedliche Blicke in seinem Filmschaffen möglich werden: Unser Blick auf die deutsche Gesellschaft ist ein anderer. Und dadurch auch der auf das Kino. Wir haben noch einen zweiten Blick, den unserer Herkunftsländer. Dann sehen wir das Land durch ganz andere Augen. Wir sehen Sachen, die andere Leute nicht mehr wahrnehmen. Das macht unsere Filme anders. Nicht, dass sie dadurch besser würden, das ist keine Frage der Qualität. Aber wir bringen einfach eine andere Perspektive ein. 44

Um diesen ›zweiten Blick‹, diese ›andere Perspektive‹ entwickeln zu können, muss die Erinnerung an die Migration der Elterngeneration wachgerufen werden und als Teil einer eigenen und doch dem eigenen Leben vorgängigen Geschichte nachvollzogen werden. Damit wird deutlich, dass Akins familienbiographischer Dokumentarfi lm Wir haben vergessen zurückzukehren auch die Struktur für seine Filme vorgibt, die in Gegen die 40 Sein Vater spielt beispielsweise in Kurz und schmerzlos den Vater von Gabriel; sein Bruder Cem spielt in Getürkt einen Drogendealer, in Kurz und schmerzlos den Bruder des Türken Gabriel, in Im Juli einen Zollbeamten, in Gegen die Wand den Bruder von Sibel. 41 Akin hat zu fast allen seinen Filmen das Drehbuch selbst geschrieben. Nur für den Film Solino wurde das Drehbuch von Ruth Toma verfasst. Außerdem hat Akin auch für Anno Sauls Kebab Connection (2005) das Drehbuch geschrieben. 42 So geht beispielsweise der Film Kurz und schmerzlos darauf zurück, dass im Jahre 1993 einer seiner Freunde so tief im ›Milieu‹ war, dass er getötet werden sollte. Vgl. hierzu den Audiokommentar Fatih Akins auf der DVD von Kurz und schmerzlos. Wie der Protagonist Daniel reiste Akin einmal einem Mädchen hinterher, in das er sich verliebt hatte, und fuhr die Strecke, die in Im Juli gezeigt wird, jedes Jahr in den Sommerferien mit seinen Eltern. Vgl. hierzu Katharina Dockhorn: »Dem Mädchen hinterher«, in: Neues Deutschland, 24. August 2000. 43 Mehmet Kurtuluş spielt beispielsweise in Getürkt den Drogendealer, in Kurz und schmerzlos den Türken Gabriel, in Im Juli den Türken Isa, der die Leiche seines Onkels im Kofferraum zurück in die Heimat bringt, und in Gegen die Wand den Barkeeper in Istanbul. Birol Ünel, der bereits in Kurz und schmerzlos und Im Juli eingesetzt wurde, spielt die männliche Hauptrolle in Gegen die Wand . 44 So Fatih Akin zitiert nach Michael Ranze: »Heimat ist ein mentaler Zustand. Fatih Akin im Gespräch«, in: epd Film, Nr. 11, Jg. 2002, o.S.

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Wand in besonderer Weise ausgefeilt wurde. Denn mit der Inszenierung einer in umgekehrter Richtung erfolgenden Migration in die Türkei wird auch ein kulturelles Grundmuster des eigenen Gewordenseins gesucht. Dies aber ist kein Zurück der Erinnerung, sondern eine Neuentdeckung.

Migration in die Ungleichzeitigkeit Das topologische Muster der Migration und Remigration wird in Gegen die Wand mit Sibels Flucht und Cahits Rückkehr in die Türkei deutlich aufgerufen. Beide entstammen türkischen Familien und haben die deutsche Staatsbürgerschaft, wie bei ihrer Eheschließung auf dem Standesamt festgestellt wird. Cahit hat sich von Traditionen und Ehrvorstellungen weit entfernt, wie sie noch von Sibels Bruder vertreten werden, und nach dessen Einschätzung ist auch sein Türkisch nach dem langen Aufenthalt in Deutschland »ganz schön im Arsch«45 . Auch Sibel will sich radikal von Traditionen lossagen und ist bereit, dafür ein ungesichertes Leben in Kauf zu nehmen. Doch wird der filmisch erzählten Entwicklung der beiden Figuren eine auf alte Traditionen zurückgehende Musik und ein die Türkei symbolisch aufrufendes Bild vorausgeschickt. Denn was auf der Leinwand als erstes zu sehen ist, ist der Bosporus mit Blick auf ein Stadtpanorama des alten Istanbul, und was als erstes zu hören ist, ist die Instrumental- und Vokalmusik, die von einem Orchester und einer Sängerin am Ufer der Meerenge vorgetragen wird. Diese optische und akustische Einstimmung auf die Türkei ist jedoch entgegen der sich aufdrängenden ikonographischen Reminiszenzen kein folkloristisches Beiwerk des Films, sondern Teil seiner Grundstruktur. Was in Akins Gegen die Wand gegenüber früheren Filmen nämlich auff ällt, ist die strenge formale Gliederung, in welche die Handlung eingepasst ist. Die Szenenfolge orientiert sich mit aufsteigender Handlung (Kennenlernen des Paares in Hamburg, Hochzeit und allmähliche Annäherung), plötzlichem Umschwung (Totschlag des Nebenbuhlers) und abfallender Handlung (Sühnephase in Istanbul, Wiederbegegnung und Trennung) am Auf bau der antiken Tragödie, wie dies vor allem auch durch die Instrumentalstücke des Orchesters von Selim Sesler und dazugehörige Lieder der Sängerin 46 verdeutlicht wird. Dem ersten Lied (›Prodos‹/ Eingangslied des Chores) folgt ein szenischer Prolog, in dem Cahit mit seinem alten Auto gegen die Wand fährt und der Titel des Films eingeblendet wird. Daran schließt sich die szenische Handlung (›Epeisodion‹/ 45 Fatih Akin: Gegen die Wand, a.a.O., S. 52. 46 Die Lieder werden von der Schauspielerin und Regisseurin Idil Üner interpretiert, die bereits in Akins Kurz und schmerzlos und Im Juli mitgespielt hat.

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Szene) an, die durch Instrumental- und Liedeinlagen (›Stasima‹/Lieder des Chores) unterteilt wie auch rhythmisiert und mit einem Schlusslied (›Exodus‹/Schlusslied des Chores) beendet wird. Die Texte der Lieder, welche zunächst die unerwiderte, dann die erfüllte und schließlich die verlorene Liebe zum Thema haben, kommentieren den Verlauf der Handlung. 47 Die musikalischen Zwischenstücke überlappen teilweise die szenischen Handlungssequenzen und markieren mit ihrem orientalischen Sound eine akustische wie auch optische Zäsur und Verbindung zugleich. Das Orchester ist wie vor einem Bühnenhintergrund durchgehend an der gleichen Stelle der Stadtansicht Istanbuls situiert und bildet damit gegenüber der affektprallen Handlung, die mit Orts- und Szenenwechseln einhergeht, einen ruhenden Pol. Während dem Zuschauer durch teilweise entfesselte Kameraführung, die mit den Protagonisten mitgeht, das Gefühl vermittelt wird, sich während der Handlung mitten im Geschehen zu befinden, versetzen ihn die musikalisch-optischen Einblendungen in eine panoramatisch distanzierte Blickposition auf eine andere Welt. Aufgerufen wird durch die gliedernden Zwischenstücke nicht nur eine Einheit des Ortes, sondern auch der Zeit, denn das erste musikalische Zwischenstück findet bei Sonnenaufgang, das letzte bei Sonnenuntergang statt. Diesen ruhigen Sequenzen, in denen in Balladenform tradierte Vorstellungen über die Liebe zum Ausdruck gebracht werden, steht mit der Liebesgeschichte von Sibel und Cahit eine expressiv grenzüberschreitende Handlung gegenüber, die in ihren zerstörerischen Dimensionen in geschlossene Räume und nächtliche Straßen hineinverlegt ist. An diesen Orten wird das Plotmuster der Scheinehe von einer Geschichte der Gewalt überschrieben, die im Film bereits zu Beginn in äußerster Konsequenz gezeigt wird. Denn Akin ruft in seinem Film zwar das Muster der Tragödie auf, doch bei ihm ereignet sich die Katastrophe nicht am Ende, sondern gleich zu Beginn als handlungsinitiierendes Ereignis: Im Prolog sammelt der sichtlich heruntergekommene Cahit nach einem Konzert im Veranstaltungszentrum ›Fabrik‹ in Altona Flaschen ein, die er sukzessive austrinkt. Später wird der Betrunkene wegen seiner Gewalttätigkeit von Niko aus einer Bar auf St. Pauli geworfen, worauf hin er mit einem alten Ford Granada frontal und ohne zu bremsen gegen eine Wand fährt. Was nun folgt, sind Handlungssequenzen an heterotopischen Orten, Schauplätzen also, die Grenzen und Randbezirke der Gesellschaft markieren. So findet das erste Zusammentreffen zwischen Cahit und Sibel, die beide einen Suizidversuch hinter sich haben, in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik statt, einer »Abweichungshetero47 Vgl. Margret Mackuth: Es geht um Freiheit. Interkulturelle Motive in den Spielfilmen Fatih Akins, Saarbrücken 2007, S. 69f.

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topie«, in der diejenigen untergebracht sind, »deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm« 48. Der Wunsch, diesen Schauplatz zu verlassen, ist für Sibel mit einer erneuten Selbstverletzung verbunden, denn als Cahit es zunächst ablehnt, eine Scheinehe mit ihr einzugehen, schneidet sie sich mit einer zerschlagenen Bierflasche die Pulsadern auf. Erst durch die Heirat wird ihr der Eintritt in eine gesellschaftlich akzeptierte und staatlicherseits geschützte Form der Beziehung bestätigt. Doch der von den beiden geteilte Raum (die vermüllte und dann aufgeräumte Wohnung) erweist sich als Krisenheterotopie, welche die Desintegration der Protagonisten evident werden lässt. Cahit zertrümmert mehrere kleine Gläser so in seiner Hand, »dass die Scherben sich tief in seine Hand graben« 49, nachdem Sibel sich geweigert hat, eine sexuelle Beziehung mit ihm einzugehen. Sibel hingegen schneidet sich noch einmal die Pulsadern auf, als Cahit im Gefängnis ist. Nach ihrer Ankunft in Istanbul steht Sibel mit ihrer Cousine Selma eine Mittler- und Vertrauensfigur zur Verfügung, die ihr eine Wohnung und Arbeit verschaff t und ihr damit den Weg in ein sozial abgesichertes Leben ebnet. Doch Sibel hat durch die Migration in die Türkei ihr altes Leben nicht einfach hinter sich gelassen, sondern wiederholt es in entstellter Ähnlichkeit. In einer Art von ›Gender-Crossing‹-Maskerade schneidet sie sich die Haare kurz und kleidet sich wie Cahit. Vor allem aber sucht sie sich in einer psychosozialen Mimikry seinem Gestus und Habitus anzugleichen und zieht auf der Suche nach Alkohol und Drogen nachts durch die Straßen von Istanbul. Dieses Doppelleben findet seinen extremsten Ausdruck in einem Selbstmordversuch, der in Bildern drastischer Gewalt inszeniert wird. Nachdem Sibel in einer dunklen Bar im alkoholisierten, absenten Zustand vergewaltigt wurde und erst beim Erwachen registrierte, was mit ihr geschehen ist, provoziert sie auf der Straße drei Männer, die sie ansprechen. Wie unter Wiederholungszwang schleudert sie ihnen immer wieder – und auch dann noch, als sie tätlich angegriffen wird – misandrine, sexuell erniedrigende Verbalattacken entgegen, bis sie endlich brutal niedergeschlagen, getreten und schließlich mit einem Messer niedergestochen wird. Diese Szene, in der Sibel willentlich ihre Vernichtung durch die Männer provoziert, nimmt in Akins Film eine so exponierte wie ambivalente Position ein. Einerseits ist sie als geschlechtsspezifisch korrespondierende Spiegelszene zu Cahits Autofahrt gegen die Wand zu verstehen: Dessen willentlich herbeigeführter Unfall war Ausdruck seiner psychosozialen 48 Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hg.): Aistesis. Wahrnehmungen heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46, hier S. 40. 49 Fatih Akin: Gegen die Wand, a.a.O., S. 125.

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Deprivation, und die anschließende Begegnung mit Sibel markierte für ihn eine zweite Chance, wie er dies im Rückblick auch im Gespräch mit Selma in Istanbul formuliert: »Als ich Sibel zum ersten Mal traf, war ich tot. Ich war schon lange vorher gestorben.«50 Auch Sibel erlebt sich in Istanbul als vernichtet und schreibt in einem Brief an Cahit: »die einzige, die hier nicht lebt, bin ich«; nach der Vernichtungserfahrung beginnt sie ein neues Leben mit dem Mann, der sie auf der nächtlichen Straße gerettet hat. Andererseits stellt die Gewaltsequenz aber auch eine szenische Vergegenwärtigung unaussprechlicher körperlicher Einschreibungen dar, die sich zum einen auf die unmittelbar vorangegangene Vergewaltigung bezieht, darüber hinaus aber auch auf die Geschehnisse in Hamburg. In Verbalinjurien wie »Ich fick eure Mütter, ich fick eure Väter, ich fick eure Kinder, ich fick eure Sippen«51 artikuliert sich ihr Hass gegen eine familiäre Ordnung, der sie mit der Scheinhochzeit zu entkommen suchte. Sibel reinszeniert mit ihren Provokationen also ihre bis an die Grenze der Selbstzerstörung führende Auflehnung gegen tradierte Geschlechtervorstellungen und Lebensprinzipien. Genau aus dieser Auflehnung erwächst aber auch ihre zweite Chance, wie dies durch das im Film ausgesparte, nur im Rückblick angedeutete Leben nach dem Zusammenbruch verdeutlicht wird. Akin lässt die weitere Entwicklung seiner Figuren am Schluss offen. Cahit, der nach Mersin zurückfahren möchte, wartet am verabredeten Tag vergebens auf Sibel. Die Bewegung der Protagonisten von Hamburg nach Istanbul markiert den Weg einer ungleichzeitigen, aber geteilten Migrations- und Erinnerungsgeschichte. Ein anvisiertes gemeinsames Leben im Heimatort Cahits bleibt in Bezug auf das Plotmuster der Scheinehe das verweigerte ›Happy End‹, hinsichtlich der im Film subtil verhandelten Migrationsgeschichte aber die Erinnerung eines Anfangs. Deutlich wird hierdurch nicht zuletzt die Wende im deutsch-türkischen Film, die in Akins Gegen die Wand so prägnante Gestalt gewinnt. Denn auch wenn Topoi früherer Migrationsfi lme anzitiert werden, geht es hier weder in Figurenkonzeption noch Handlungsmuster um eine ›direkte‹ Thematisierung von Migration und ihre psychosozialen Folgen, noch allein um die Selbstbestimmungsbestrebungen junger Türken mit Migrationshintergrund, sondern vielmehr um ein fi lmisches Erzählen, das in einer Geschichte – wie der von einer Scheinehe und (un)möglichen Liebe – zugleich Narrative erkennbar werden lässt, in denen ein transgeneratives Gedächtnis der Migration formiert und seine identitätsstiftende Bedeutung erkundet wird. Wichtiger Teil dieser Gedächtnisgeschichte ist die 50 Dieser Text wird im Film gesprochen, steht so aber nicht im publizierten Drehbuch. 51 Fatih Akin: Gegen die Wand, a.a.O., S. 156.

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Geschichte der deutsch-türkischen Filme selbst, die mit Akins Gegen die Wand auch in ihrem ästhetischen Innovationspotential in den Blick rückt.

Literatur Akin, Fatih: Gegen die Wand. Das Drehbuch, in: Ders.: Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Drehbuch/Materialien/Interviews, Köln 2004, S. 17-189. Akin, Fatih: Nachwort, in: Ders.: Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Drehbuch/Materialien/Interviews, Köln 2004, S. 204f. Akin, Fatih/Helmut Ziegler: »›Ich will kein Sonntagskind sein!‹ Ein Gespräch«, in: Fatih Akin: Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Drehbuch/Materialien/Interviews, Köln 2004, S. 238-243. Akin, Fatih: »›Ein Gefühl der Anerkennung‹. Interview«, in: newscontainer, Nr. 15, Jg. 1999, S. 8. Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Berghahn, Daniela: »No place like home? Or impossible homecomings in the fi lms of Fatih Akin«, in: New cinemas: Journal of Contemporary Film, Nr. 4.3, Jg. 2006, S. 141-157. Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Hg.): Migration und Asyl in Zahlen, Nürnberg 2003. Dockhorn, Katharina: »Dem Mädchen hinterher«, in: Neues Deutschland, 24. August 2000. Dörner, Andreas: »Das Kino als politische Integrationsagentur. Afro-amerikanische Identifi kationsangebote im Hollywood-Film der 90er Jahre«, in: Heribert Schatz/Christina Holtz-Bacha/Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Migranten und Medien. Neue Herausforderungen an die Integrationsfunktion von Presse und Rundfunk, Wiesbaden 2000, S. 164-178. Farzanefar, Amin: Kino des Orients. Stimmen aus einer Region, Marburg 2005. Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hg.): Aistesis. Wahrnehmungen heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46. Göktürk, Deniz: »Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?«, in: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart 2000, S. 329347. Lau, Jörg: »Die Türken sind da«, in: Die Zeit, 26. Februar 2004. Mackuth, Margret: Es geht um Freiheit. Interkulturelle Motive in den Spielfi lmen Fatih Akins, Saarbrücken 2007. 247

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Meier-Braun, Karl-Heinz: Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt a.M. 2002. Müller-Richter, Klaus: »Phantasmagorien der Rückkehr aus der Migration. Fatih Akins kinematografische Konstruktion und Inszenierung von Heimatträumen«, in: Ders./Ramona Uritescu-Lombard (Hg.): Imaginäre Topografien. Migration und Verortung, Bielefeld 2007, S. 177-194. Nicodemus, Katja: »Ankunft in der Wirklichkeit«, in: Die Zeit, 19. Februar 2004. Wiederabgedruckt in: Fatih Akin: Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Drehbuch/Materialien/Interviews, Köln 2004, S. 221-225. Polat, Ülger: Soziale und kulturelle Identität türkischer Migranten der zweiten Generation in Deutschland, Hamburg 1998. Ranze, Michael: »Heimat ist ein mentaler Zustand. Fatih Akin im Gespräch«, in: epd Film, Nr. 11, Jg. 2002, o. S. Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration (Hg.): Migration und Integration – Erfahrung nutzen, Neues wagen. Jahresgutachten 2004, Berlin 2004. Spohn, Margret: Türkische Männer in Deutschland, Bielefeld 2002. Thiel, Andreas: »Vorwort«, in: Fatih Akin: Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Drehbuch/Materialien/Interviews, Köln 2004, S. 11-14. Wallraff, Günther: Ganz unten, Köln 1985. Zaimoğlu, Feridun: »Nachwort«, in: Ders.: Abschaum. Die wahre Geschichte des Ertan Ongun, Hamburg 1997, S. 183f. Zaimoğlu, Feridun: »Sex, Drogen und die Schocks der Moderne«, in: Tagesspiegel, 10. März 2004. Wiederabgedruckt in: Fatih Akin: Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Drehbuch/Materialien/Interviews, Köln 2004, S. 209-213.

Filme Abschied vom falschen Paradies (1988, D, R: Tevfi k Başer) All That Heaven Allows (1955, USA, R: Douglas Sirk) Alles Getürkt! (2003, D, R: Nesrin Şamdereli) Angst essen Seele auf (1974, D, R: Rainer Werner Fassbinder) Aprilkinder (1998, D, R: Yüksel Yavuz) Auf der anderen Seite (2007, D, R: Fatih Akin) Ben Annemin Kiziyim – Ich bin Tochter meiner Mutter (1996, D, R: Seyhan Derin) Berlin in Berlin (1993, D, R: Sinan Çetin) Chiko (2008, D, R: Özgür Yıldırim) Die Liebenden vom Hotel von Osman (2002, D, R: Idil Üner)

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1 ½ Ritter – auf der Suche nach der hinreißenden Herzelinde (2008, D, R: Til Schweiger) Ein Fest für Beyhan (1994, D, R: Ayşe Polatş) Evet, ich will! (2008, D, R: Sinan Akkuş) Gegen die Wand (2004, D, R: Fatih Akin) Getürkt (1996, D, R: Fatih Akin) Greencard (1990, USA, R: Peter Weir) Im Juli (2000, D, R: Fatih Akin) Kanak Attack (2000, D, R: Lars Becker) Katzelmacher (1969, D, R: Rainer Werner Fassbinder) Kebab Connection (2005, D, R: Anno Saul) Kismet (1999, D, R: Andreas Thiel/Kai Hensel) Kurz und schmerzlos (1998, D, R: Fatih Akin) Mädchen am Ball (1995, D, R: Aysun Bademsoy) Meine verrückte türkische Hochzeit (2006, D, R: Stefan Holtz) My Big Fat Greek Wedding (2002, D, R: Joel Zwick) Sensin – Du bist es! (1995, D, R: Fatih Akin) Shirins Hochzeit (1975, D, R: Helma Sanders-Brahms) Solino (2002, D, R: Fatih Akin) Stammheim (1986, D, R: Reinhard Hauff ) Türkisch für Anfänger (2006 ff. D) 40 qm Deutschland (1985, D, R: Tevfik Başer) Wir haben vergessen zurückzukehren (2001, D, R: Fatih Akin) Wut (2006, D, R: Züli Aladağ) Yasemin (1988, D, R: Hark Bohm) Zeit der Wünsche (2005, D, R: Rolf Schübel)

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Leben im anderen Deutschland : Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im gegenwär tigen deutschen Wendefilm Gerhard Jens Lüdeker

Die Darstellung der DDR und der Wiedervereinigung ist im deutschen Film seit 1989 einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Direkt nach dem Mauerfall nahm sich zunächst die letzte Generation einstiger DEFARegisseure dieses Themenkomplexes an und produzierte tiefgehende, problem- und nicht zuschauerorientierte Filme, wie z.B. Die Architekten (1990), Miraculi (1991) oder Das Land hinter dem Regenbogen (1991), die weitestgehend ungesehen in den Abgründen des öffentlich-rechtlichen Nachtprogramms verschwanden. Die Perspektive, die in diesen Filmen auf die beiden deutschen Staaten aufgebaut wird, ist sowohl kritisch was das Leben im real existierenden Sozialismus anbelangt als auch skeptisch soweit die Folgen der Wiedervereinigung betroffen sind. Parallel dazu entwickelten westdeutsche Filmemacher einen völlig anderen Blickwinkel, der wesentlich näher am Publikumsgeschmack zu liegen schien. In der ›Ostkomödie‹ (z.B. Go, Trabi Go! von Peter Timm, 1991, oder Detlev Bucks Wir können auch anders, 1993) werden Unterschiede im Habitus und in der Mentalität zwischen der Bevölkerung in West- und Ostdeutschland nach der Wende durch Stereotypen und Klischees herausgestellt. Besonders die Figuren des ›dämlichen‹ Ossi und des ›gierigen‹ Wessi haben sich auf problematische Weise für lange Zeit im kulturellen Gedächtnis der Nation und auch des Auslands etabliert. Ende der 1990er Jahre reagierte der Film, etwas verspätet, auf einen kulturell bereits seit Anfang der 1990er Jahre virulenten Diskurs, in dessen Rahmen alte DDR-Produkte eine Renaissance erlebten und die Medien in der Form von Shows und Sitcoms die Erinne251

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rung an die DDR nostalgisch verklärten. 1 Hinter dieser sentimentalen Welle verbarg sich eigentlich eine Identitätskrise ehemaliger Bürger der DDR, die ihre Wurzeln im Verschwinden ihres heimatlichen Bezugsortes, des DDR-Staates, hatte, aber darüber hinaus als gesamtdeutsches Phänomen inszeniert wurde. Filme wie Sonnenallee (1998) und zuletzt NVA (2006) haben dazu beigetragen, dass im Rahmen dieses Ostalgie genannten Diskurses eine andere Sicht auf die DDR installiert wurde, worin das ›andere Deutschland‹ nicht länger als Abweichung erscheint, sondern es wird der Eindruck vermittelt, die Normalität des DDR-Alltages habe sich nicht wesentlich von der im Westen unterschieden, ein Jugendlicher hätte dort genau die gleichen Probleme zu meistern gehabt wie überall sonst, und den wenigen Abweichungen, z.B. in Form einer staatlichen Obrigkeit, wäre mit Humor zu begegnen gewesen. Dieses Bild von der DDR löste Florian Henckel von Donnersmarck 2006 mit dem Leben der Anderen ab. Sein Film entwickelt eine kritische Perspektive auf den ostdeutschen Staat, die allerdings nicht so sehr auf das Alltagsleben, sondern auf die dramatischen Aspekte der Existenz unter einem totalitären SED-Regime mit einem omnipräsenten, alles durchdringenden Stasi-Apparat gerichtet ist. Der Regisseur positionierte seinen Film innerhalb eines Diskurses, der die DDR vor allem als Täter-Staat erinnert – gleichzeitig hat er den Anspruch vertreten, »eine Wahrheit« über diesen Aspekt der Zeitgeschichte zu erzählen.2 Das Leben der Anderen erlangte national und international große Resonanz – zu seinen Preisen gehört u.a. ein Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Die spezifische Mischung einer dramatischen und emotionalen Story vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Geschichte hatte sich als besonders publikumswirksam erwiesen, so dass die anschließende Institutionalisierung des sogenannten ›Wende-Dramas‹ im bundesdeutschen Fernsehen sicherlich auf den Anfangserfolg von Das Leben der Anderen zurückzuführen ist. Der Korpus dieser TV-Events umfasst bis jetzt: Prager Botschaft (RTL, 2007), Die Frau vom Checkpoint Charlie (ARD, 2007), An die Grenze (ZDF, 2007), 1 Vgl. zur Begriffsbestimmung und Unterscheidung von ›DDR-Nostalgie‹ und ›Ostalgie‹: Katja Neller: DDR-Nostalgie: Dimensionen der Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und politischen Konnotationen, Wiesbaden 2006, S. 47ff., sowie Thomas Ahbe: Ostalgie. Zum Umgang mit DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005, S. 7. 2 Margret Köhler: »Interview mit Florian Henckel von Donnersmarck«, in: Film & TV, Kameramann, Nr. 2, Jg. 2006, S. 90f.; kritisch dazu Lu Seegers: »Das Leben der Anderen oder die ›richtige Erinnerung‹ an die DDR«, in: Astrid Erll/ Stephanie Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung: plurimediale Konstellationen, Berlin/New York 2008, S. 21-52, hier S. 29ff.

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Die Todesautomatik (ZDF, 2007), Das Wunder von Berlin (ZDF, 2008), 12 heißt: ich liebe dich (ARD, 2008) und Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen (Sat.1, 2008). Das gemeinsame Merkmal dieser neuen Reihe von Wendefi lmen ist ein Erinnerungsdiskurs, in dessen Rahmen die DDR und ihre Repräsentanten als Täter in Erscheinung treten, während die Protagonisten stellvertretend für die Zivilbevölkerung als Opfer dargestellt werden. Ich werde im Folgenden herausarbeiten, mit welchen fi lmischen Mitteln die emotionale Anteilnahme des Zuschauers an den Opfer-Figuren hergestellt wird, um zu zeigen, welche Perspektive auf die DDR ganz grundsätzlich in diesen Filmen aufgebaut wird. Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt darin, die besondere Rolle moralischer Normen und ihren Abweichungen bei der Konstruktion dieses Täter-Opfer-Gegensatzes aufzuzeigen. Dabei werde ich mich vor allem auf die Figuren konzentrieren, die als Repräsentanten einer bestimmten politisch-ideologischen Norm fungieren oder im Sinne universeller moralischer Grundsätze handeln und daher von dieser Norm abweichen. Die Abweichung von der staatlichen Norm macht die Protagonisten zu Opfern des SED-Regimes, nähert sie aber gleichzeitig an das Wertesystem des Westens und besonders des heutigen Zuschauers an. Auf diese Weise kennzeichnen Das Leben der Anderen und seine Nachfolgefi lme die DDR als Abweichung von universellen moralischen Normen, die im Zuge der Wiedervereinigung durch seine ehemaligen Opfer, die Zivilbevölkerung, legitimerweise abgeschaff t wird.

Geschichten von der Unmöglichkeit des wahren Lebens im falschen Das Leben der Anderen erzählt die Geschichte des Stasi-Offiziers Wiesler, der im Auftrag seines Vorgesetzten Grubitz das Künstlerpaar Georg Dreyman und Christa Maria Sieland überwacht. Wiesler, der als linientreuer und seinem Beruf ergebener, unnachgiebiger Ermittler vorgestellt wird, lebt in ärmlichen, man kann sagen spartanischen Verhältnissen. Er taucht im Zuge der Überwachung in eine ihm zunächst unbekannte Welt ein, die von Werten wie Kunst, Kultur und menschlichem Miteinander geprägt ist. In diesem Künstlermilieu tummeln sich zwar auch Dissidenten, von denen sich der Schriftsteller Dreyman aber unterscheidet, weil er aus eigener Überzeugung gemäß dem Bitterfelder Weg Stücke schreibt. Dreyman glaubt, wie Wiesler, tatsächlich an den Sozialismus, auch wenn sein Umfeld versucht, ihn eines Besseren zu belehren. Es ist zuerst Wiesler, der die ›wahre Natur‹ des Systems kennenlernt als er erfährt, dass die Überwachung tatsächlich von dem Kulturminister Hempf aus Eifersucht auf 253

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den Schriftsteller in Auftrag gegeben wurde. Zwar geraten Wieslers Überzeugungen durch diese Einsicht in die Realität des Staatssozialismus, der von einzelnen Individuen zur Befriedigung ihrer Machtinteressen missbraucht wird, ins Wanken, aber letztendlich legt der Film nahe, dass er sich erst dann zu einem Abweichler entwickelt, als er ein aus Dreymans Wohnung entwendetes Buch von Brecht liest und während der Abhöraktion die fi ktive ›Sonate vom guten Menschen‹ mit anhört. Den letzten Anstoß geben also die Kunst und die durch sie vermittelten höheren Werte, um ihn die Normalität des Systems als Irrtum, als Abweichung von der ursprünglichen Grundidee erkennen zu lassen. Wiesler ändert sein Verhalten und beginnt, anstatt im Sinne des Staates im Sinne seiner neu gewonnenen Überzeugungen zu handeln, indem er seine Möglichkeiten nutzt, um das Künstlerpaar zu schützen, was ihm nur bedingt gelingt. Auf dem dramatischen Höhepunkt des Films bringt sich Sieland um, weil sie glaubt, ihren Freund verraten zu haben. Wiesler kann nur Dreyman selber retten, indem er belastendes Material (eine Schreibmaschine, auf der ein DDR-kritischer Artikel geschrieben wurde, der im Westen erschien) vor seinem Vorgesetzten in Sicherheit bringt. Obwohl ihm die Tat von Grubitz nicht nachgewiesen werden kann, wird er in die Abteilung M, die Briefüberwachung, versetzt. In der Endsequenz, nach dem Fall der Mauer, begegnet der mit einer Schreibblockade kämpfende Dreyman Hempf, der ihm einen Hinweis auf die erfolgte Überwachung gibt. Nachdem der Schriftsteller daraufhin seine Stasi-Akten eingesehen und erkannt hat, das er von dem Agenten ›HGW XX/7‹ gedeckt wurde und daher nie etwas von der Überwachung gespürt hat, widmet er ihm sein erstes, im wiedervereinigten Deutschland geschriebenes Buch, das er ›Sonate vom guten Menschen‹ nennt. Beide treffen sich nie persönlich, aber als Wiesler, der als ›Wendeverlierer‹ Zeitungen verteilt, das Buch im Schaufenster sieht, kauft er es tief bewegt. Von Donnersmarck hat erklärt, er habe die »Geschichte von einem Menschen […] der sich verändert« zeigen wollen.3 So oft wie der Film gelobt, wurde auch die realistische Möglichkeit für eine solche Entwicklung in der Stasi bezweifelt. 4 Nichtsdestotrotz wirkt die fi lmische Welt geschlossen und der dramatische Plot entfaltet eine starke emotionale Wirkung. In den nachfolgenden Event-Fernsehfilmen wird denn auch auf ähnliche 3 Margret Köhler: »Interview mit Florian Henkel von Donnersmarck«, a.a.O. 4 Z.B. Jens Gieseke hat den Film aus der Perspektive des Historikers eingehend kritisiert, vgl. Jens Gieseke: »Der traurige Blick des Hauptmanns Wiesler. Ein Kommentar zum Stasi-Film ›Das Leben der anderen‹«, in: Zeitgeschichteonline. Zeitgeschichte im Film. 04.2006. www.zeitgeschichte-online.de/zol/ portals/_rainbow/documents/pdf/gieseke_lbda.pdf [21. Juli 2008].

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Weise auf Dramatik und Emotionalisierung des Zuschauers gesetzt. Man begegnet Frauen, die für ihre Familie gegen das System kämpfen (Prager Botschaft, Die Frau vom Checkpoint Charly), coming-of-age stories, in denen Jugendliche in der NVA die unmenschliche Seite des Staates kennenlernen (An die Grenze, Das Wunder von Berlin), gegen den sie anschließend genauso opponieren wie erwachsene Dissidenten, die aus dem Untergrund oder aus dem Westen heraus operieren (Die Todesautomatik, Wir sind das Volk). Der Film 12 heißt: ich liebe dich kommt dem Muster des ›Oscar‹-prämierten Vorgängers am nächsten. Er erzählt die Geschichte eines Stasi-Offiziers, den die Liebe zu einer von ihm verhörten Dissidentin in seinen Überzeugungen wanken lässt, allerdings schaff t erst die Wiedervereinigung den Rahmen für beider Vereinigung, die unter DDR-Bedingungen nicht möglich war. Allen diesen Geschichten sind Protagonisten gemein, die sich gegen das System wenden, nachdem sie es durchschaut haben. Die Figuren entwickeln Werte, die sie nicht in der DDR, sondern erst im wiedervereinigten Deutschland leben können, weil das wahre Leben im falschen unmöglich ist.

Annäherungen an die Abweichler: emotionale Anteilnahme mit den Protagonisten Auf der von Donnersmarcks Film zugrunde liegenden starken Ausgangsidee (»high concept«5) von einem Menschen, der sich ändert, basieren in ähnlicher Weise auch die hier behandelten Fernsehfi lme. Zwar sind diese Protagonisten im Gegensatz zu Wiesler selten selber Teil des Systems, aber im Verlauf der Erzählungen grenzen sie sich genauso wie er aus moralischen Gründen davon ab und brechen aus ihrem Alltag aus. Dagegen durchlaufen die Repräsentanten des Systems keine vergleichbare Entwicklung. Im Gegenteil, diese Figuren scheinen selbst nach der Wiedervereinigung nichts zu bereuen und sich nicht geändert zu haben, wie man an Hempf am Ende von Das Leben der Anderen erkennen kann, der den alten Zeiten nachtrauert und sich dementsprechend nicht gegenüber Dreyman entschuldigt. In Das Wunder von Berlin erschießt sich der Vorgesetzte des jugendlichen Protagonisten als die Mauer fällt, während die oppositionelle Mutter dem Vater, der als linientreuer Oberstleutnant der Stasi bisher vor allem als Familientyrann aufgefallen ist, scheinbar vergibt. Der Zuschauer teilt die ›Erlebensperspektive‹ der Protagonisten, er nimmt wahr, was sie wahrnehmen, d.h. er erfährt die Gründe für ihre 5 Vgl. Justin Wyatt: High Concept, Austin 1994.

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Abwendung vom DDR-System, wird Zeuge der Konsequenzen, die sie dadurch erleiden müssen, und nimmt idealerweise an ihrem Schicksal emotional Anteil.6 Um die Möglichkeit für eine solche Anteilnahme zu erhöhen, setzen diese Filme verschiedene Strategien ein. Zunächst sind diese Figuren nicht fremdartig und unverständlich gestaltet, sie gehören keiner außerirdischen Zivilisation an, sondern es sind häufig Durchschnittsbürger, die in einer noch nicht lange vergangenen Zeit leben, den 1980er Jahren. Darüber hinaus stellt die Kamera durch Nah- und Halbnahaufnahmen immer wieder Nähe zu den Protagonisten her. Dabei handelt es sich um eine scheinbare sogenannte para-proxemische Nähe, deren wichtigste Wirkungen der fast unmittelbare Eindruck der emotionalen Reaktionen der Figuren und das Gefühl, sie sprächen zu einem sind.7 Ein Beispiel dafür findet sich in einer Szene in Das Leben der Anderen, in der Dreyman Sieland die ›Sonate vom guten Menschen‹ auf dem Klavier vorspielt und die Kamera den über Mikrofon mithörenden Wiesler umkreist, der sichtlich berührt ist. Schließlich fragt Dreyman, ob jemand, der diese Musik gehört hat, ein schlechter Mensch sein könne. Die Einstellung ist halbnah, man kann die Mimik gut erkennen und erhält einen unmittelbaren Eindruck von Wieslers Gefühlen. Eine Szene, in der die Anteilnahme des Zuschauers etwas anders gelenkt wird, findet sich in Die Frau vom Checkpoint Charly. Die Protagonistin Frau Bender bittet einen Beamten vergeblich um die Genehmigung ihres Ausreiseantrags in den Westen, wo sie ihren im Krankenhaus liegenden Vater besuchen will. Der Beamte gibt jedoch vor, ihre Sorge und ihre Bindung an ihren Vater nicht zu glauben. Tatsächlich wird Frau Bender aber bereits überwacht und soll in der DDR festgehalten werden. In dieser Szene wird sowohl ihr Gesicht als auch das des Beamten in Nahaufnahme präsentiert, wodurch die emotionale Anteilnahme des Zuschauers auf die Frau gelenkt wird, die ihre Gefühle nur mühsam kontrollieren kann, während das kalt wirkende Gesicht des Beamten abstoßend wirkt. Dadurch wird ein entscheidender Unterschied zwischen den Protagonisten und den Figuren, die den DDR-Kontext repräsentieren, verdeutlicht. Die Protagonisten reagieren spätestens nach ihrer Wandlung menschlich, sie zeigen emotionale Reaktionen und handeln in Bezug auf bestimmte Werte, die universellen Charakter haben und daher vom Zu6 Zu dem Begriff ›Erlebensperspektive‹ bzw. ›Fokalisierung‹ im Film vgl. Jörg Schweinitz: »Multiple Logik filmischer Perspektivierung. Fokalisierung, narrative Instanz und wahnsinnige Liebe«, in: montage/av, 16. Januar 2007, S. 83-100. 7 Zu Nähe und emotionaler Anteilnahme an Filmfiguren vgl. Jens Eder: »Filmfiguren: Rezeption und Analyse«, in: Thomas Schick/Tobias Ebbrecht (Hg.): Emotion – Empathie – Figur: Spielformen der Filmwahrnehmung, Berlin 2008, S. 131-151.

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schauer leicht geteilt werden können. Die Repräsentanten des Systems sind dagegen machtgierige Politiker oder opportunistische und gewissenlose Stasi-Beamte, wie Hempf und Grubitz im Leben der Anderen, es sind durch das System korrumpierte Spitzel, wie der Freund von Frau Bender in Die Frau vom Checkpoint Charly, oder es sind einfach namenlose befehlshörige Beamte, wie die zahllosen Polizisten und Militärs in Das Wunder von Berlin und Wir sind das Volk. Kurz, es handelt sich um stereotype Figuren, die entweder aus Opportunismus, Egoismus oder blinder Loyalität gegenüber dem Staat handeln. Bild: Wiesler mit Tränen Stereotypen sind nach Schweinitz »Figuren, die als schematisch reduzierte, sofort an wenigen markanten Attribute erkennbare Konstrukte erscheinen« 8 . Der Zuschauer erkennt diese Figuren, die sich im Gegensatz zu Protagonisten im Filmverlauf nicht charakterlich entwickeln, sofort, weil sie sich »durch Wiederholung im intertextuellen Raum der Narration als konventionelles Figurenmuster etabliert«9 haben. Diese Filme rekurrieren also auf bereits in anderen – fi lmischen und nicht fi lmischen – Narrationen verwendete Schemata mit hohem Bekanntheitsgrad und Wiedererkennungswert. Dass das DDR-Regime seine Bürger beobachten ließ und zu diesem Zweck ein dichtes Spitzelsystem besaß, ist als allgemeine Aussage genauso bekannt wie die perfiden Methoden der Stasi bzw. von Geheimdiensten generell. Auf diesem allgemeinen Wissen bauen die Filme auf und spezifizieren es scheinbar, indem sie Spitzel- und Funktionärsfiguren in fi ktiven Situationen darstellen, die diesem Bild entsprechen und einen Einblick in einzelne Abläufe, z.B. Verhöre, geben. Es wird also auf Erwartungen aufgebaut, die erfüllt und vertieft werden. Aber abgesehen von der erleichterten Kategorisierung der Figuren durch die Bestätigung dieser allgemeinen Annahmen findet interessanterweise auch eine intramediale Tradierung von Figuren innerhalb dieser neuen Wendefilme statt. So findet man die Figur Wiesler in verschiedenen Aspekten wieder: in dem Film 12 heißt: ich liebe dich als Stasi-Beamten, den die Liebe zu einer Frau ändert, in dem Film Wir sind das Volk wird dagegen nur der Aspekt des mit allen Wassern gewaschenen, unnachgiebigen und ideologiefesten Verhörspezialisten aufgegriffen. Der Zuschauer, dem diese Filme bekannt sind, könnte im letzten Fall aufgrund seiner Kenntnis von Wiesler hoffen, der Beamte würde sich ebenfalls wandeln. Weil er das nicht tut, quält er in gewisser Weise den Zuschauer genauso wie sein Opfer. Diese inszenatorischen Mittel, besonders die Schaff ung von Nähe zu den Protagonisten, sind wesentliche Bestandteile der emotionalen Anteilnahme an diesen Fi8 Jörg Schweinitz: Film und Stereotyp: Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin 2005, S. 46. 9 Ebd., S. 47.

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guren und der Entwicklung von Antipathie gegenüber den Staatsvertretern. Durch die Schaff ung solcher starken Kontraste wird in einem hohen Maße die emotionale Wirkung dieser Filme garantiert.

Die DDR in moralischer Perspektive Neben diesen fi lmischen Mitteln wird die emotionale Anteilnahme und damit der teilnehmende Blick des Zuschauers auf die fi lmische Welt besonders durch den Unterschied zwischen komplexen, sich verändernden gegenüber eindimensionalen, unveränderlichen Charakteren sowie deren Handlungen gesteuert. Die charakterlichen Merkmale der Figuren sind abgesehen von Eigenschaften wie z.B. Gelassenheit oder Jähzorn handlungswirksame Überzeugungen, die in der zwischenmenschlichen Interaktion eine moralische Bedeutung haben können. Durch Äußerungen und Handlungen von Figuren gewinnt der Zuschauer Einblick in diese Überzeugungen, sofern es keinen inneren Monolog gibt. Im Folgenden werde ich zeigen, dass in den hier zugrunde liegenden Filmen vor allem eklatante Differenzen zwischen den moralischen Überzeugungen und Handlungen der Protagonisten und dem Staat und seinen Repräsentanten hergestellt werden, wodurch die Dramatik und emotionale Wirkung der Geschichten einerseits und der Unterschied zwischen den Normen des DDR-Regimes und universellen Normen andererseits konstituiert wird. In der Ethik wird Moral als ein Begriff für die Normen und Werte verstanden, »die durch gemeinsame Anerkennung als verbindlich gesetzt worden sind und in der Form von • Geboten (Du sollst…; es ist deine Pflicht…) oder • Verboten (Du sollst nicht…) an die Gemeinschaft der Handelnden appellieren« 10. Moralische Werte und Normen sind oft der Gesetzgebung vorgeschaltet, so hat z.B. das moralische Verbot zu töten eine rechtliche Form erhalten, um institutionell überwacht und durchgesetzt werden zu können. Oft regelt die Moral allerdings gesellschaftliche Bereiche, ohne in Rechtsform überführbar zu sein, z.B. im Falle der geforderten Treue gegenüber dem Lebenspartner. Die Moral einer Gesellschaft hat historische Ursprünge und verändert sich aufgrund dieser Kontingenz, sowie sich das ›Freiheitsverständnis‹ einer Gruppe geschichtlich wandelt. Zu den gegenwärtigen moralischen Werten in der westlichen Hemisphäre gehören in unterschiedlich stark ausgeprägter Weise: Menschenwürde, Ehrlichkeit, Schutz der Familie, Gerechtig-

10 Annemarie Pieper: Einführung in die Ethik, Tübingen/Basel 2007, S. 32.

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keit, Patriotismus, Hilfsbereitschaft etc. 11 Diese Werte sind in verbindlicher Form z.B. in der Charta der Menschenrechte oder im Grundgesetz niedergeschrieben worden. Abgesehen davon ist Moral immer der Maßstab, an dem geltendes Recht gemessen werden muss, um nicht einfach nur eine positivistische Setzung zu sein, die blind befolgt wird. Filmfiguren exemplifizieren und repräsentieren durch ihre Überzeugungen und ihre Handlungen ›moralische Perspektiven‹, d.h., sie geben auf bestimmte, unterschiedlich tiefe Art und Weise Einblick in eine fi ktive persönliche Moral. Als Repräsentanten einer Gemeinschaft oder einer Gesellschaft können Anordnungen mehrerer Figuren Auskunft über Effekte und Defekte einer bestimmten kollektiven Moral geben. Die moralische Perspektive des Zuschauers auf die filmische Welt, von dem angenommen werden muss, dass er über eine eigene kontingente, kulturell bedingte Moral verfügt, kann sich den Figuren annähern, deren Werte er aufgrund entsprechender Dispositionen am ehesten positiv bewertet. Die Figuren, deren Handlungen seine moralischen Überzeugungen in eklatanter Weise verletzen, werden demgemäß vom Zuschauer schnell abgelehnt.12 Die Attribuierung mit moralischen Überzeugungen und die Ausübung moralisch relevanter Handlungen sind also weitere, sehr wirksame Mittel, mit denen der Film die emotionale Anteilnahme, die Sympathie oder sogar die Empathie des Zuschauers mit den Figuren steuern kann. Auch wenn es möglicherweise schwer ist, sich mit einem Stasi-Beamten wie Wiesler zu identifizieren, ist es nicht problematisch, mit ihm aufgrund der Werte, die er nach seiner Wandlung vertritt, zu sympathisieren. Wieslers neues Ziel, die beiden Künstler vor der Staatsmacht zu retten, steht in seiner Selbstlosigkeit Werten und Zielen von Figuren gegenüber, die ausschließlich auf sich selbst beschränkt sind und letztlich auch die sozialistische Grundidee pervertieren. Diese Filme nähern die moralische Perspektive der Protagonisten der des Zuschauers auf zweierlei Weise an, einmal durch von den Protagonisten vertretene, leicht teilbare bzw. universelle Werte, wie z.B. Hilfsbereitschaft, Familie, Menschlichkeit und Freiheit, zum anderen durch die Unmöglichkeit, sich mit den negativen Werten der Repräsentanten des DDR-Systems zu identifizieren. Auf diese Weise werden zunächst zwei verschiedene moralische Perspektiven auf die in den Filmen dargestellte Welt, die DDR in den 1980er Jahren, eröffnet: Die moralische Eigen-Perspektive bzw. Innenansicht der DDR durch ihre Repräsentanten. In Das Leben der Anderen sind die Repräsentanten 11 Vgl. ebd. 12 Dolf Zillmann: »Cinematic Creation of Emotion«, in: Joseph D. Anderson/ Barbara Fisher Anderson (Hg.): Moving Image Theory: Ecological Considerations, Carbondale 2005, S. 164-181, hier S. 172.

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des Staates ausschließlich Stasi-Mitarbeiter und Politik-Funktionäre. Ihre Normalität ist ein allumfassendes Überwachungssystem, in dem jeder Mensch verdächtigt werden kann, politischer Abweichler zu sein, wie im Falle Dreyman. Aber, wie anhand von Grubitz und Hempf deutlich wird, ist längst nicht jeder Angehörige dieses Systems von der sozialistischen Idee überzeugt und handelt in diesem Sinne. Die staatliche Normalität, die hier dargestellt wird, ist eine, in der Opportunisten ihre Positionen für ihre Zwecke missbrauchen. In dieser Binnenperspektive gibt es zwei Formen der Abweichung. Jegliches politisch non-konforme Handeln verletzt in der Regel die staatliche Norm. Beispiele dafür finden sich in jedem dieser Filme, sobald das System der DDR die Handlungen der Protagonisten als Zweifel oder Verletzung der geltenden Ordnung interpretiert, sanktioniert der Staat diese Menschen. Der Staat handelt in der Regel, weil er fürchtet, das von ihm in der Öffentlichkeit propagierte Selbstbild könne ins Wanken geraten und noch mehr Menschen zu ähnlichen Handlungen bewegen. Deshalb spielt die Mobilisierung der medialen Öffentlichkeit in Die Frau vom Checkpoint Charly, Die Todesautomatik und besonders in Wir sind das Volk eine solch große Rolle. Die zweite Abweichung stellt menschliches oder gar altruistisches Handeln dar, das gegen die implizite Norm verstößt, gemäß der man sich an das System anzupassen und notfalls auch auf Kosten anderer Karriere zu machen hat. Entsprechend dieser impliziten Norm rät Grubitz Wiesler, als dieser die wahren Gründe der Observation aufgedeckt hat, die Observation aus Karrieregründen weiterzuführen und Stillschweigen zu bewahren. Aus dieser Binnenperspektive ergibt sich das Bild eines Staates, in dem jegliche universellen moralischen Grundsätze, insbesondere Menschenrechte, aus Gründen der ideologischen Aufrechterhaltung des öffentlichen Eindrucks oder aus opportunistischen Gründen abgeschaff t sind oder zumindest sofortig suspendiert werden können. In den hier zugrunde liegenden Filmen wird zwar von wenigen Figuren, oftmals von den Protagonisten selber, wie Wiesler oder Frau Bender, auf die Grundidee des Sozialismus verwiesen, aber der Zuschauer lernt ein System kennen, das sich längst verselbstständigt und als Machtapparat etabliert hat. Die Perspektive der gewandelten Protagonisten. Die Protagonisten sind zunächst ideologisch weitestgehend unbelastet, sie verfügen allerdings über ausgeprägte moralische Grundsätze, die sie schnell in Opposition zum Staat geraten lassen. Dementsprechend opponiert Frau Bender in Die Frau vom Checkpoint Charly am Anfang des Films gegen den Vorwurf ihres Vorgesetzten, dass Produkte unterschlagen worden seien, mit dem Hinweis, dass die Produktionszahlen des Kombinats geschönt würden und nichts unterschlagen, sondern einfach nur zu wenig produziert worden sei. Weil sie die Alltagspraktiken im System als ideologische Täuschungen entlarvt, wird Frau Bender in der fi lmischen Erzählung frühzeitig für das Regime 260

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verdächtig. Die Figur Marco Kaiser dagegen führt zwar in Das Wunder von Berlin zunächst ein Leben als typischer jugendlicher Rebell, aber in wirkliche Opposition zum System tritt er erst, als er es in der NVA hautnah kennenlernt. Er wehrt sich auf der Grundlage seiner humanistischen Bildung (er zitiert Heine und will Germanistik studieren) und einer freiheitlichen Lebenseinstellung gegen Machtmissbrauch und Willkür seiner Vorgesetzten, den opportunistischen Ideologiegehorsam seines Vaters und seiner Kollegen, die am Ende des Films die Grenze nicht öffnen wollen, obwohl die Massen drängen. Während in diesem Film, wie in Das Leben der Anderen und 12 heißt: ich liebe dich auch, ein Teil des Protagonisten-Ensembles (der Vater) noch in das System verstrickt ist, existiert diese Perspektive in Wir sind das Volk nicht mehr. In diesem Film lernt der Zuschauer den Staatsapparat nur von außen, über eine Gruppe von Dissidenten, die von einem Journalisten im Westen unterstützt wird, kennen. Also spätestens, wenn sich die Protagonisten gewandelt und vom System der DDR abgewandt haben, bieten diese Filme dem Zuschauer Figuren, mit denen er sympathisieren kann, weil sie ein moralisches Korrektiv gegenüber dem Staat bilden, den sie nun bekämpfen. Die moralische Perspektive dieser Figuren ist historisch gesehen eine westliche, aber auch eine moderne und gleicht insofern in etwa der des Zuschauers. Aus dieser Sicht ist die DDR eine historische Abnormität, die es zu überwinden oder gegen die es sich durchzusetzen gilt, wenn man seine Menschenwürde bewahren möchte. Nimmt man beide Perspektiven zusammen, dann resultiert die Binnensicht des DDR-Systems, die von Figuren ausgeht, die als Verfechter einer letztendlich pervertierten sozialistischen Grundidee in Erscheinung treten, im Zusammenhang mit der Perspektive der Protagonisten, in welcher dieser Staat als unmenschliches System erscheint, in einer Sichtweise, gemäß welcher ein solcher Staat notwendigerweise abgeschaff t werden oder scheitern musste. Die in diesen Filmen vorhandenen Perspektiven zielen darauf ab, den Mauerfall als negativen Gründungsmythos zu etablieren, bei dem das ›Gute‹, die heutige Bundesrepublik, aus dem ›Bösen‹, der DDR, geboren wurde.13 Erst im Westen oder nach dem Mauerfall ist es den Protagonisten dieser Filme möglich, das wahre Leben im wahren zu führen. Durch den Mauerfall, an dem diese Figuren in der Regel kausal oder symbolisch beteiligt sind, wird festgeschrieben, dass sie nicht umsonst als Opfer der DDR gelitten haben, sondern dass ihr Engagement und ihre Überzeugungen dazu beigetragen haben, dieses Kapitel der deutschen 13 Zum Thema Gründungsmythos vgl. Matteo Galli/Heinz-Peter Preußer: »Deutsche Gründungsmythen. Allegorien und Genealogien nationaler Identität. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Deutsche Gründungsmythen, Heidelberg 2008, S. 7-23.

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Geschichte zu überwinden und sie so die Grundlage für die Realisierung des heutigen, wiedervereinten Deutschlands lieferten.

Die Opfer als Sieger über den Täter-Staat Im Gegensatz zur Ostalgie-Welle steht in den hier behandelten Filmen nicht der Lebensalltag in der DDR im Vordergrund, sondern sie fokussieren auf die DDR als SED-Regime und Überwachungsstaat, der in den Alltag seiner Bürger immer dann eingreift, wenn deren Handlungen und Äußerungen von der politisch-ideologischen Norm abzuweichen scheinen. Oft sind diese Abweichungen zunächst relativ banal, so bemängelt Sara Bender in Die Frau vom Checkpoint Charly lediglich die Arbeitsabläufe in dem Kombinat, in dem sie angestellt ist, und die Art und Weise, wie Produktionszahlen geschönt und Arbeiter, deren Angehörige in den Westen geflohen sind, geschasst werden. In dem Film Die Todesautomatik verbindet sich mit der Demonstration der jugendlichen Protagonisten gegen den Mauerbau von vornherein ein starker Freiheitswunsch zusammen mit fundamentaler Kritik an einem System, dessen tatsächliche Ausmaße sich erst zu entwickeln beginnen. In diesen Filmen wird dargestellt, mit welchen Mitteln der Staat gegen Abweichler vorging, selbst wenn diese noch gar keine Dissidenten im engeren, politischen Sinne waren, d.h. es wird das Bild eines Staates entworfen, der die Grundrechte seiner Bürger nicht nur im Ausnahmefall, sondern potentiell immer einschränken konnte. Der Diskurs, in den diese Filme einzuordnen sind, erinnert die DDR vornehmlich als Täter-Staat, dem einzelne oder ganze Gruppen seiner Bürger zum Opfer fielen. Dieser Täter-Opfer-Erinnerungsdiskurs existiert seit den frühen 1990er Jahren, tritt im Spielfi lm aber erst seit 2006, mit dem Erscheinen von Das Leben der Anderen, in hegemonialer Form auf.14 Hegemonial bedeutet, es ist aktuell die vorherrschende Art und Weise, in der die DDR öffentlich in einem oder in verschiedenen Medien dargestellt und erinnert wird. Von Donnersmarcks Film hat die Ostalgie-Welle beendet und die fi lmische Repräsentation der DDR in Konvergenz mit derjenigen an die NS-Zeit geführt. In der Nachfolge der von W.G. Sebald 15 initiierten Debatte über die Auslassung der Perspektive deutscher Opfer alliierter Bombenangriffe in der Nachkriegsliteratur ist genau diese Sicht, die von den deutschen Opfern des Nationalsozialmus erzählt, stärker be14 Zu der DDR-Täter-Opfer-Erinnerung vgl. Katja Schweizer: Täter und Opfer in der DDR: Vergangenheitsbewältigung nach der zweiten deutschen Diktatur, Münster 1999, S. 19ff. 15 Winfried G. Sebald: Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a.M. 2002.

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rücksichtigt worden, wie z.B. in Günter Grass’ Novelle ›Im Krebsgang‹ (2002). 16 In den Fernsehfilmen Dresden (ZDF, 2006), Die Flucht (ARD, 2007) und Die Gustloff (ZDF, 2007) erfährt der Zuschauer von Menschen, die zum einen nicht dem NS-Regime angehören, weil ihre moralischen Überzeugungen nicht damit kompatibel sind, und die zum anderen Opfer von Nazi-Obstruktionen, Bombenangriffen, dem Einmarsch russischer Truppen und der Torpedierung durch russische U-Boote werden. Wie in den hier behandelten Wendefi lmen entsprechen diese Protagonisten nicht der politisch-ideologischen Staats-Norm, ihre Moral beruht auf Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und Selbstlosigkeit jenseits einer politischen Doktrin. Sie sind deshalb natürlich als Figuren der Anteilnahme bzw. als historische Bezugsgrößen gut geeignet. So wie im Fall der DDR-Filme die Protagonisten immer symbolisch oder kausal am Fall des Regimes und der Mauer beteiligt sind enden die NS-Filme auf symbolische Weise mit der Verbindung der Protagonistinnen z.B. mit einem britischen Flieger (Dresden) oder einem französischen Kriegsgefangenen (Die Flucht). Allen diesen Täter-Opfer-Narrationen sind Figuren gemein, die u.a. aufgrund ihrer moralischen Abweichung von der Norm des jeweiligen Regimes unter Repressionen zu leiden haben, aber nach dem Untergang des Systems für einen Neubeginn oder einen Anschluss an die westliche Welt garantieren können, da sie diesen neuen Normen wiederum genügen. Bei Hauptmann Wiesler, Frau Bender, Marco Kaiser etc. handelt es sich um eine spezifische Form von Opfern. Sie fallen nicht im umgangssprachlichen Sinn dem DDR-Regime zum Opfer und sterben, sondern sie erbringen Opfer, indem sie Verfolgung, Obstruktion und Folter für ihre Überzeugungen und Werte erleiden. Wiesler gehört zunächst der Klasse der Täter an, durch seine Wandlung setzt er seinen Beruf und seine Freiheit aufs Spiel – er wird zum Opfer des Systems, dem er vorher angehörte. Frau Bender wird von ihren Kindern getrennt, alle Protagonisten riskieren, inhaftiert zu werden (teilweise werden sie es auch) und alle entscheiden sich, ihre gewohnten, sicheren Lebensbedingungen aufzugeben für ein Leben unter prekären Bedingungen. Dennoch stirbt keine dieser Figuren. Sie erbringen Opfer für einen Wert, den sie höher setzen als ihre Freiheit und ihr eigenes Leben, und setzen sich am Ende durch bzw. werden durch den Mauerfall ins Recht gesetzt. 16 Vgl. Laurel Cohen-Pfister/Dagmar Wienroeder-Skinner (Hg.): Victims and Perpetrators — 1933-1945. (Re)Presenting the Past in Post-Unification Culture, Berlin/New York 2006; Bill Niven (Hg.): Germans as victims: Remembering the past in contemporary Germany, Basingstoke [u.a.] 2006 sowie Helmut Schmitz (Hg.): A nation of victims? Representations of German wartime suffering from 1945 to the present, Amsterdam [u.a.] 2007.

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Aleida Assmann unterscheidet zwei Opferkategorien, die erinnert werden, und zwar heroische und traumatische Opfer. 17 Das heroische Opfer wird auch als »Märtyrer« bezeichnet und wurde für eine Sache erbracht, die ihm nachträglich Sinn verleiht. Deshalb ist es leicht, sich daran zu erinnern oder sogar möglich, es zu bewundern. 18 Das traumatische Opfer ist dagegen eine neuartige Kategorie, die geschaffen wurde, um der vielen »passiven Opfer« zu gedenken, die keine Widerstandskämpfer, Partisanen oder Dissidenten waren und die sich gegenüber ihren Tätern bzw. Peinigern auf keine »politischen Ziele, Motive oder Werte« berufen konnten.19 Assmann stellt gegenwärtig eine »ethische Wende von sakrifiziellen zu viktimologischen Formen des Erinnerns« fest.20 Während Helden oder Märtyrer als sakrifizielle Opfer für die Gemeinschaft gestorben sind und sie daher eher politische Bedeutung haben, stehen viktimologische Opfer außerhalb jeder möglichen nachträglichen Sinnstiftung und sind daher auf die Anerkennung einer Gemeinschaft angewiesen.21 Die Anerkennung von und Anteilnahme mit traumatisierten, viktimologischen Opfern hat eine moralische und weniger eine politische Dimension, weil es darum geht, sich in Opfer einzufühlen, die für die Gemeinschaft zunächst keinen sinnstiftenden Charakter haben. Abgesehen von dem daraus resultierenden Mitgefühl, also einer emotionalen Kategorie, ist dieser Prozess Indikator für eine Mentalität, in deren Erinnerung das Leiden und dessen Verhinderung immer mehr Priorität gewinnt.22 Im Gegensatz zu Zeitzeugen in gegenwärtigen Dokumentarfi lmen, die durch Verfolgung und häufig auch Folter in der DDR in der psychologischen Bedeutung des Wortes traumatisiert wurden und deshalb als viktimologische Opfer gelten müssen, verhält es sich mit den Opfern des SED-Regimes in den hier zugrunde liegenden Spielfi lmen in Bezug auf Assmanns Differenzierung ambivalenter.23 Nur in wenigen Fällen begegnet der Zuschauer Dissidenten, die aus dem Untergrund heraus ver17 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 74. 18 Vgl. ebd., S. 74-76. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 76. 21 Ebd., S. 77. 22 Ebd. 23 Zum DDR-Opfer-Erinnerungsdiskurs im Dokumentarfilm vgl. Gerhard Lüdeker: »Der DDR-Opfer-Erinnerungsdiskurs im Dokumentarfilm am Beispiel von ›jeder schweigt von etwas anderem‹«, in: Tobias Ebbrecht/Hilde Hoffmann/Jörg Schweinitz (Hg.): Selbstbilder/Gedächtnisbilder. Dokumentarfilm DDR & Post DDR, Marburg 2009.

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suchen, ihre politischen Ziele gegen den Staat durchzusetzen.24 In der Regel sind die Protagonisten dieser Filme normale Bürger und manchmal Angehörige des Systems, die zu handeln beginnen, weil die Staatsnorm ihrer Meinung nach eklatant von fundamentalen ethischen Normen abweicht und das eigentliche Ziel des Sozialismus pervertiert wird. In den meisten Fällen stehen hinter den Handlungen dieser Figuren keine politischen Intentionen. Hauptmann Wiesler will nicht die DDR zum Einsturz bringen, sondern das Künstlerpaar vor dem unrechtmäßigen Zugriff des Staates schützen, Frau Bender und die Lehrerin Bettina (Prager Botschaft) kämpfen für die Freiheit ihrer Familie und anderer Menschen. Erst der Staat belegt diese Vorhaben mit einer politischen Bedeutung. Diese Figuren unterscheiden sich von viktimologischen Opfern dadurch, dass sie sich in irgendeiner Form gegen den Staat durchgesetzt haben und nicht sinnlos zugrunde gegangen sind. Wiesler kann zumindest Dreyman vor dem Zugriff der Stasi schützen und Frau Bender bekommt ihre Kinder frei. Außerdem enden diese Filme fast immer mit dem Mauerfall, der die Protagonisten nachträglich ins Recht setzt, weil plötzlich tausende weitere Menschen ihren Überzeugungen folgen, so dass das Regime schließlich aufgeben muss. Durch die Übereinstimmung von Werten und Handlungen lassen sich die Protagonisten pars pro toto als Stellvertreter der Massen lesen, da beide eine ähnliche Bewegung weg von der DDR hin zu westlichen Werten vollziehen. Die Opferperspektive in neuesten Erinnerungsfi lmen an NS und DDR ist nicht von ungefähr die von Durchschnittsbürgern bzw. die der Zivilbevölkerung. Diese Art von Opfererinnerung hat, wie Assmann ganz richtig zeigt, immer auch eine moralische Dimension. Auch wenn Wiesler am Ende des Films Zeitungen austrägt und daher eher als Wendeverlierer denn als Gewinner erscheint, ist er ein moralischer Sieger, das zeigt die Anerkennung, die Dreyman ihm mit seinem Buch zollt. Der Mauerfall und die Wiedervereinigung sind zwar politische Ereignisse, aber die Filmerzählungen dieser Menschen, die für die ›richtige‹ Sache gelitten haben, finden auf der individuellen und moralischen Ebene statt. Politische Ereignisse, wie z.B. die Reform des Ostblocks unter den Stichworten Glasnost und Perestroika, werden, wenn überhaupt, dann nur am Rande erzählt und in ikonischen Bildern eingeblendet. Auf der einen Seite wird dadurch die emotionale Wirkung der Filme verstärkt, die dem politischen Diskurs weniger innewohnt, der Opfererinnerung, wie Assmann festgestellt hat, dagegen mehr. Auf der anderen Seite erscheint der Mauerfall als Resultat einer Bewegung aus dem Volk heraus und weniger als Ergebnis politischer Prozesse. Um diesen Mythos zu unterstreichen, werden in vielen Filmen (z.B. in Das Wunder von Berlin und Wir sind das 24 Z.B. in Das Wunder von Berlin und Wir sind das Volk.

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Volk) die symbolischen, weil im kulturellen Gedächtnis des 20. Jahrhunderts fest verankerten, Bilder des Mauerfalls nachgestellt oder als Dokumentarmaterial hineingeschnitten. Im Rahmen dieser mythischen Erzählungen sind die Protagonisten dieser Filme die Helden einer Bewegung, die als Masse in der Erinnerung nicht greif bar wäre. Die Opfer, die sie gebracht haben, sind also eher sakrifizieller als viktimologischer Art. Es findet eine Transformation der Alltagsmenschen in Heroen statt, die allerdings aus moralisch-menschlichen und nicht aus politisch-ideologischen Gründen heraus handeln und sich daher von den klassischen sakrifiziellen Opfern, den Märtyrern, fundamental unterscheiden. In diesen Filmen wird offenbar eine Hybridform, die zwischen den beiden Assmann’schen Kategorien steht, konstruiert. Diese neuen Heroen sind Helden des Alltags, deren Taten zwar eine politische Bedeutung sowohl aus Sicht der DDR als auch aufgrund ihrer symbolischen Tragweite innewohnt, deren Motivationen jedoch von jedem politischen Interesse frei sind.

Fazit Das entscheidende Merkmal dieser neuen Klasse von Filmen über die DDR ist, wie in gegenwärtigen deutschen Fernsehfi lmen zum Thema NS auch, die Konstruktion von scharfen Gegensätzen zwischen dem Täterstaat und der Zivilbevölkerung als Opfer. Eine entscheidende Funktion kommt dabei den Protagonisten zu, die eine hybride Form des Opfers darstellen, die zwischen der viktimologischen und der sakrifiziellen Kategorie schwankt, weil ihren Handlungen in den meisten Fällen keine intentionale gesellschaftliche oder politische Dimension innewohnt, sondern eine moralische, zwischenmenschliche, die in den Filmen allerdings auf symbolische Weise in eine sozial-relevante Bedeutungsdimension mündet, wenn diese Figuren z.B. die Mauerschranken öffnen (Das Wunder von Berlin). Somit funktionieren diese hybriden Opfer als moralische Entlastung der Zivilbevölkerung, der sie entstammen, weil sie beispielhaft zeigen, dass weite Teile der Bevölkerung keine ideologisch korrumpierten Mitläufer, sondern Menschen mit moralischen Grundsätzen waren. In diesem Zusammenhang sind Das Leben der Anderen und 12 heißt: ich liebe dich aufgrund der Wandlung ihrer dem System angehörenden Protagonisten als Darstellungen einer Versöhnung von (ehemaligen) Tätern und ihren Opfern lesbar. Der heroische Aspekt dieser Figuren resultiert aus ihrem Engagement, sich gegen das System zu wenden, Opfer zu bringen und durch ihren Sieg den moralischen Anschluss an das wiedervereinigte Deutschland zu gewährleisten. Diese zweite Funktion ist die mythische Dimension dieser Filme, bei der in der Erzählform eines negativen Gründungsmythos das 266

Leben im anderen Deutschland

von universellen Normen abweichende, negativ attribuierte System überwunden wird und aus seinem Untergang das neue entsteht. Darüber hinaus wird so ein gesamtdeutsches Identifi kationsangebot geschaffen, das bestehende Diskrepanzen zwischen Ost- und Westdeutschen nivelliert, da es beide Seiten in Hinsicht auf ihre Werte angleicht. Weil die Protagonisten sowohl mit konventionellen fi lmischen Mitteln als auch einer leicht teilbaren moralischen Perspektive dem Zuschauer nahegebracht werden, kann auch ein Westdeutscher, der niemals in der DDR war, an ihrem Schicksal Anteil nehmen. Denn es wird im Grunde keine rein DDR-spezifische Thematik verhandelt, sondern eine Problematik von allgemeinem Interesse – die Freiheit des Einzelnen gegenüber einem obstruktiven Staat. Es ist allerdings fraglich, ob sich ehemalige Bürger der DDR ebenfalls in den Protagonisten wiedererkennen können, schließlich war die Majorität nicht politisch aktiv, es waren nicht alle entweder Dissidenten oder Kollaborateure und Spitzel.25 Diese heroischen Opfer sind fi lmische Konstruktionen und keine Signifi kanten für eine historische Wirklichkeit. Der starke Kontrast zwischen der DDR als alle Lebensbereiche durchdringende Diktatur auf der einen und den Protagonisten und der bundesrepublikanischen Demokratie auf der anderen Seite trägt in erster Linie die Dramaturgie dieser Filme, reduziert aber gleichzeitig die realen historischen Verhältnisse in erheblicher Weise.26 So entpuppt sich der Gegensatz von Norm und Abweichung zwischen Individuum und Staat als eine neue Perspektive auf die deutsch-deutsche Geschichte im Spielfi lm, die aber wiederum nur eine weitere Facette, aber nicht die ›Wahrheit‹ über diesen Aspekt der Zeitgeschichte erzählt. Es bietet sich deshalb an, diesen Ansatz in die verschiedenen Formen der Darstellung bzw. der Erinnerung an die DDR im Film seit 1989 einzugliedern und auf diese Weise einen polyperspektivischen Zugang zu erhalten, der sicherlich auch nicht die ›Wahrheit‹, aber zumindest mehrere Facetten der damaligen Wirklichkeit aufzeigt.

25 Dementsprechend plädiert das Mitglied der Expertenkommission Richard Schröder für eine Darstellung des Alltags in der DDR, denn diese »war aber mehr als Stasi und Mauer«, in: Martin Sabrow u.a. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007, S. 306. 26 Vgl. dazu Irmgard Wilharm: Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film, Hannover 2006, S. 241ff.

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Literatur Ahbe, Thomas: Ostalgie. Zum Umgang mit DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. Cohen-Pfister, Laurel/Wienroeder-Skinner, Dagmar (Hg.): Victims and Perpetrators — 1933-1945. (Re)Presenting the Past in Post-Unification Culture, Berlin/New York 2006. Eder, Jens: »Imaginative Nähe zu Figuren«, in: montage/av, 15. Februar 2006, S. 135-160. Eder, Jens: »Filmfiguren. Rezeption und Analyse«, in: Thomas Schick/ Tobias Ebbrecht (Hg.): Emotion – Empathie – Figur: Spielformen der Filmwahrnehmung, Berlin 2008, S. 131-151. Galli, Matteo/Preußer, Heinz-Peter: »Deutsche Gründungsmythen. Allegorien und Genealogien nationaler Identität. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Deutsche Gründungsmythen, Heidelberg 2008, S. 7-23. Gieseke, Jens: »Der traurige Blick des Hauptmanns Wiesler. Ein Kommentar zum Stasi-Film ›Das Leben der anderen‹«, in: Zeitgeschichteonline. Zeitgeschichte im Film. 04.2006. www.zeitgeschichteonline.de/zol/portals/_rainbow/documents/pdf/gieseke_lbda.pdf [21. Juli 2008]. Köhler, Margret: »Interview mit Florian Henckel von Donnersmarck«, in: Film & TV, Kameramann, Nr. 2, Jg. 2006, S. 90f. Lüdeker, Gerhard: »Generationenerinnerung: Der Täter-Opfer-Diskurs am Beispiel von ›jeder schweigt von etwas anderem‹«, DDR erinnern vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfi lms, Marburg 2009, S. 304-322. Neller, Katja: DDR-Nostalgie. Dimensionen der Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und politischen Konnotationen, Wiesbaden 2006. Niven, Bill (Hg.): Germans as victims. Remembering the past in contemporary Germany, Basingstoke [u.a.] 2006. Pieper, Annemarie: Einführung in die Ethik, Tübingen/Basel 2007. Sabrow, Martin: Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007. Schmitz, Helmut (Hg.): A nation of victims?: representations of German wartime suffering from 1945 to the present, Amsterdam [u.a.] 2007. Schweinitz, Jörg: Film und Stereotyp: Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin 2006.

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Schweinitz, Jörg: »Multiple Logik fi lmischer Perspektivierung. Fokalisierung, narrative Instanz und wahnsinnige Liebe«, in: montage/av, 16. Januar 2007, S. 83-100. Schweizer, Katja: Täter und Opfer in der DDR. Vergangenheitsbewältigung nach der zweiten deutschen Diktatur, Münster 1999. Sebald, Winfried G.: Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a.M. 2002. Seegers, Lu: »Das Leben der Anderen oder die ›richtige Erinnerung‹ an die DDR«, in: Astrid Erll/Stephanie Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung: plurimediale Konstellationen, Berlin/New York 2008, S. 21-52. Wilharm, Irmgard: Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film. Hannover 2006. Wyatt, Justin: High Concept, Austin 1994. Zillmann, Dolf: »Cinematic Creation of Emotion«, in: Joseph D. Anderson/ Barbara Fisher Anderson (Hg.): Moving Image Theory. Ecological Considerations, Carbondale 2005, S. 164-181.

Filme An die Grenze (2007, D, R: Urs Egger) Das Leben der Anderen (2006, D, R: Florian Henckel von Donnersmarck) Das Land hinter dem Regenbogen (1991, D, R: Herwig Kipping) Das Wunder von Berlin (2008, D, R: Roland S. Richter) Die Architekten (1990, D, R: Peter Kahane) Die Gustloff (2007, D/Ö, R: Joseph Vilsmaier) Die Flucht (2007, D, R: Kai Wessel) Die Frau vom Checkpoint Charlie (2007, D, R: Miguel Alexandre) Die Todesautomatik (2007, D, R: Niki Stein) Dresden (2006, D, R: Roland Suso Richter) Go, Trabi Go! (1991, D, R: Peter Timm) Miraculi (1991, D, R: Ulrich Weiss) NVA (2006, D, R: Leander Haußmann) Prager Botschaft (2007, D, R: Lutz Konermann) Sonnenallee (1998, D, R: Leander Haußmann) Wir können auch anders (1993, D, R: Detlev Buck) Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen (2008, D, R: Thomas Berger) 12 heißt: ich liebe dich (2008, D, R: Connie Walther)

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Vor dem Gesetz – oder: Was ist ›r ichtig‹ und was ist ›falsch‹? Zur Differenz von Recht und Unrecht im deutschen Gegenwar tsfilm Waltraud ›Wara‹ Wende

Die Relativität von Rechtsund Unrechtsinterpretationen Eine gängige Lesart im Kontext unserer Vorstellungen zu den Themenfeldern ›Gesetz‹, ›Recht‹ und ›Unrecht‹ ist die folgende: Eine Person macht Erfahrungen, die mit den sozialen Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens kollidieren, Erfahrungen, die den gemeinsamen Orientierungsrahmen zur Disposition stellen, Erfahrungen, die nicht mit dem korrespondieren, was qua bestehender – handlungsleitender – Rechtsordnung in der Gestalt von Gesetzen und Rechtsprechungen eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Oder man könnte auch sagen: Eine Person macht in Bezug auf Gesetz, Recht und Gerechtigkeit eine Verlust-Erfahrung in Form eines Gesetzesverstoßes, eines Unrechts oder einer Ungerechtigkeit; es wird gelogen und betrogen, Besitz- und Eigentumsverhältnisse werden missachtet, es wird gegen Absprachen und Verträge verstoßen, die körperliche Unversehrtheit wird durch Gewaltakte beeinträchtigt. Ein Verstoß gegen geltendes Recht bzw. das Verletzen einer gültigen Rechtsnorm wird als Störung einer allgemein akzeptierten Ordnung erlebt und kann dann durch eigens auf solche Fälle spezialisierte Dritte (üblicherweise Richter bzw. Gerichte) geahndet werden, mit der Zielsetzung, die Entschädigungsoder Straf bedürfnisse der geschädigten Partei durchzusetzen. In einem genau geregelten Verfahren wird durch eine auf rechtliche Fragen spezialisierte – den jeweiligen Konflikt par teien gegenüber neutrale 271

Waltraud ›Wara‹ Wende

– Instanz der entsprechende Gesetzestext aufgesucht und das Gesetz wird zumindest der Intention nach vor ur teilsfrei zur Anwendung gebracht. Begangene Verstöße gegen das herrschende Recht werden bestraft, das Recht, gegen das temporär verstoßen wurde, wird wieder hergestellt und die Rechtssicherheit wird stabilisiert; wobei freilich auch der Grundsatz gilt, was nicht im geltenden Gesetz so bestimmt ist, darf weder »Verbrechen genannt, noch unter Strafe gestellt werden«1 . Ein durchaus wichtiger Grundsatz, der es einem Angeklagten gegebenenfalls ermöglicht, sich damit zu verteidigen, dass »er, wäre seine Tat zur Zeit der Begehung straf bar gewesen, sie unterlassen hätte«2 . Eine der belangreichsten Funktionen von Recht und Gesetz ist die Garantie der so genannten ›Normalität‹; diese Normalität stellt sich dar als ein »Geflecht von Erwartungen«3 und ein Netzwerk von Erwartungssicherheiten, welche die Mitglieder einer Gesellschaft unter bestimmten Umständen und in bestimmten Situationen voneinander hegen, ja gegebenenfalls sogar gegenseitig einklagen können. Erwartungssicherheit bedeutet, dass »meine Annahme über die Beschaffenheit der Welt, in der wir leben, sich nicht zu sehr von den Annahmen derer unterscheidet, mit denen ich zusammenlebe«4 . Dabei ist wichtig zu betonen, dass das geltende Recht eine – mit einem positiven Werturteil verbundene – soziale Spielregel des menschlichen Zusammenlebens ist, die – anders als alle anderen kulturellen Gewohnheiten, Konventionen oder Normen – mit Zwang durchgesetzt werden kann. Zudem gilt: Wenn ein Richter gegenüber einem Rechtsbrecher erklärt: »Ich verurteile Sie zu zehn Jahren Gefängnis«, dann ergeben sich aus diesem Sprechakt des Richters eine ganze Reihe von Konsequenzen für den Angesprochenen. Richter sind »institutionell sanktioniert«5, mit der weit reichenden Konsequenz, dass der Urteilsspruch eines Richters den Angeklagten nicht nur zum Kriminellen erklären, sondern ihn auch mit einer Strafe belegen kann. 1 Jan Philipp Reemtsma: »Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem«, in: Ders.: Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002, S. 47-84, hier S. 75. 2 Ebd. 3 Gerhart Sprenger: »Gerechtigkeit und Schicklichkeit«, in: Susanne Kaul/ Rüdiger Bittner (Hg.): Fiktionen der Gerechtigkeit. Literatur-Film-PhilosophieRecht, Baden-Baden 2005, S. 43-65, hier S. 53. (= Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Bd. 35.) 4 Jan Philipp Reemtsma: »Die Gewalt spricht nicht.« In: Ders.: Die Gewalt spricht nicht, a.a.O., S. 7-46, hier S. 26. 5 Sara Mills: Der Diskurs. Begriff, Theorie, Praxis, übersetzt von Ulrich Kriest, Göttingen 2007, S. 13.

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Vor dem Gesetz – oder: Was ist ›richtig‹ und was ist ›falsch‹?

Ein Problem dabei besteht darin, dass der Zusammenhang von ›Recht‹ und ›Unrecht‹ – das Verstoßen gegen eine Rechtsnorm – oft weit weniger offenkundig ist, als dies auf den ersten Blick vielleicht angenommen werden könnte, und die »Vorstellung […], es werde ein objektiv festgestelltes Geschehen dem Rechtssatz zugeordnet (›subsumiert‹) und daraus ergebe sich logisch das Urteil«6, eine zumindest heikle ist. Dem Gericht bzw. dem Richter obliegt nämlich nicht nur die Aufgabe, ein bestehendes Gesetz sachlich und parteilos zur Anwendung zu bringen – ein Gesetz, das er im Übrigen immer erst zum Sprechen bringen muss, ein Gesetz, das durch den Richter interpretiert werden muss –, dem Gericht und dem Richter kommt vor allem auch die Pflicht der so genannten ›Wahrheitssuche‹ zu. Und diese ›Wahrheitssuche‹ ist immer nur eine begrenzte, ist doch die Realität, auf die die Rechtsprechung des Richters bzw. des Gerichts Anwendung finden soll, das, was es zu beurteilen gilt, stets nur in vermittelter Art und Weise zugänglich, nämlich über die spezifischen Wirklichkeitswahrnehmungen, die je eigenen Gedächtnisleistungen und natürlich auch über die individuellen Sprachfähigkeiten der an dem Rechtsstreit jeweils beteiligten Personen. Darüber hinaus gilt, dass die gerichtliche ›Wahrheitsfindung‹ keineswegs nur durch das Aktantenwissen, das Erinnerungsvermögen und die Kommunikationskompetenzen der an einem Rechtsverstoß Beteiligten sowie das Beobachtungswissen, die Gedächtniskraft und das sprachliche Leistungsspektrum der jeweiligen Zeugen beeinflusst wird, sondern dass zudem Normalitätsvorstellungen, Normalitätswissen und Normalitätserwartungen auf Seiten der das Recht zur Anwendung bringenden Instanz eine große Rolle spielen können. Eine so genannte »Normalitätsfolie«7 dient gewissermaßen als Orientierungsmaßstab, an dem das Handeln und die darauf bezogenen Aussagen der an einem Rechtsstreit beteiligten Personen gemessen werden. Wenn beispielsweise vor Gericht behauptet wird, man habe – aus Versehen und ohne dies überhaupt selbst bemerkt zu haben – einem anderen Menschen schwere körperliche Gewalt angetan, dann wird eine solche Aussage zumindest in der Regel nicht als glaubwürdig erscheinen, widerspricht sie doch der gängigen Nor malitäts- und Alltagslogik. Hinzu kommt – und spätestens hier wird es dann kritisch –, dass es keineswegs immer und schon gar nicht zwingend der Fall ist, dass die an einem Rechtsstreit beteiligten Personen nach einem Richterspruch tatsächlich das subjektive Empfinden haben, die Gerechtigkeit habe gesiegt und es sei vom Richter unzweifelhaft ›Recht‹ gesprochen worden. Das 6 Ludger Hoffmann: »Die Wirklichkeit des Gerichts«, in: Der Deutschunterricht, Jg. 2007, Heft 4, S. 36-49, hier S. 36. 7 Ebd., S. 39.

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»Gerechtigkeitsempfinden« der an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien, das Empfinden, dass »das Opfer eines Verbrechens irgendetwas wie einen Ausgleich – eine Art Genugtuung, vielleicht etwas wie ›Wie-du-mirso-ich(man)-dir‹ – bekommen müsse« 8, muss sich nach einem Richterspruch nicht zwingend einstellen. Das spezifische Empfinden von ›Recht‹ und ›Gerechtigkeit‹, von ›Unrecht‹ und ›Ungerechtigkeit‹ ist stets gebunden an und determiniert von den subjektiven Er fahrungsräumen und den persönlichen Interpretationen der jeweiligen Ak tanten. Individuelle Wirklichkeitskonstruktionen, Inter pretationen, Meinungen, Denk- und Verhaltensweisen markieren dabei die Grenzposten, innerhalb derer Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, innerhalb derer Erlaubtes und Nicht-Erlaubtes, Statthaftes und Nicht-Statthaftes, Zulässiges und Nicht-Zulässiges empfunden wird, und hier können durchaus größere Differenzen zwischen dem Gerechtigkeitsgefühl einzelner einerseits und der tatsächlichen Rechtsprechung innerhalb eines staatlichen Rechtssystems andererseits bestehen. Vor allem aber ist das Erleben von ›Recht‹ und ›Unrecht‹, das Gefühl für die »Angemessenheit«9 eines Richterspruchs bzw. einer Strafe stets ein Resultat des sozio-kulturellen – und damit des historischen – Kontextes, in dem etwas als ›Recht‹ oder ›Unrecht‹ wahrgenommen, in dem von ›Recht‹ und ›Unrecht‹ gesprochen wird: Es sind ja keine tiefgründigen Überlegungen, die uns dazu bringen, die Tötung eines Menschen für eher strafenswert zu halten als die Lästerung des Namens irgendeines Gottes, sondern das Traditionsgefüge, in dem wir denken gelernt haben, legt uns nahe, so zu empfinden. Andere Traditionen sehen das möglicherweise anders.10

Jede sozio-historische Gesellschaftsformation hat ihre eigene Werteordnung, ihre eigenen Gerechtigkeitskonzeptionen und ihre eigene Rechtsordnung, jede Gesellschaft hat ihre eigenen Mechanismen, die es gestatten, im Rahmen der Gesamtheit aller prinzipiell möglichen Interpretationsstrategien zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹, zwischen ›wahren‹ und ›unwahren‹ Aussagen, zwischen ›Recht‹ und ›Unrecht‹ zu differenzieren, jede Gesellschaft hat ihre eigene Art und Weise, mögliche Verstöße gegen Wahrheit und Gerechtigkeit zu sanktionieren, und jede Gesellschaft hat

8 Jan Philipp Reemtsma: »Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem«, a.a.O., S. 49. 9 Ebd., S. 68. 10 Ebd.

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Vor dem Gesetz – oder: Was ist ›richtig‹ und was ist ›falsch‹?

ihre eigene Architektur, in der festgelegt ist, welchen Instanzen es obliegt, die Entscheidungen zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹ zu treffen. Und daraus folgt natürlich auch, dass die Vorstellung, eine bestehende Rechtsordnung sei ›überzeitlich‹ – d.h. sowohl heute wie auch gestern und morgen beständig und dauerhaft – nichts anderes als eine Fiktion ist: In der Geschichte der menschlichen Zivilisation sind sehr häufig ganz allgemein anerkannte Werturteile von anderen, ihnen mehr oder minder entgegengesetzten und dabei nicht weniger allgemein anerkannten Werturteilen verdrängt worden. So hat man in primitiven Gesellschaften Kollektivhaftung, z.B. im Falle der Blutrache, als ein durchaus gerechtes Prinzip angesehen, während in modernen Gesellschaften das gegenseitige Prinzip der Individualhaftung dem Rechtsgefühl entspricht, ohne daß jedoch auf gewissen Gebieten, wie z.B. in internationalen Beziehungen das Prinzip der Kollektivhaftung […] mit dem sittlichen Empfinden vieler Menschen von heute unvereinbar wäre.11

Akzeptiert man, dass Recht und Unrecht interpretationsabhängige – kontextspezifische – Deutungsmuster sind, so kann dennoch festgestellt werden, dass die jeweilige Semantik des Begriffs ›Recht‹ – wie dies im Übrigen bei allen sprachlichen Deutungsmustern der Fall ist – in starkem Maße dadurch definiert ist, wozu der Begriff ›Recht‹ in eine inhaltliche Beziehung gesetzt wird, bzw. in welchem sprachlichen Ordnungsgefüge der Begriff ›Recht‹ verankert ist. So wird das Bedeutungspotenzial von ›Recht‹ durch seine Zugehörigkeit bzw. seine Opposition zu einer Reihe von anderen Begriffen charakterisiert: rechtmäßig/unrechtmäßig, gesetzlich/ungesetzlich, gerecht/ungerecht, statthaft/verboten, rechtschaffen/verbrecherisch, legal/ illegal, offiziell/inoffiziell, verbindlich/unverbindlich, wahr/falsch, ehrlich/ verlogen, lobenswert/tadelnswert, einig/umstritten, einvernehmlich/kontrovers etc. Der Begriff ›Recht‹ wird über diese Zugehörigkeitskonstellationen auf eine komplexe Matrix von Eigenschaften bezogen, Eigenschaften, die ihm zugeschrieben oder auch abgesprochen werden können. Eine Gemeinsamkeit der mit dem Begriff ›Recht‹ konnotierten Eigenschaften besteht darin, dass sie allesamt mit eindeutigen ›moralischen‹ Werturteilen verknüpft sind, oder – man könnte auch sagen – dem Begriff ›Recht‹ werden eine Reihe von moralisch »bewertende[n] Prädikate[n]« 12 zugeordnet. Elementare Bezugsgrößen sind dabei die Adjektive ›gerecht‹ versus ›ungerecht‹: Recht soll Gerechtigkeit garantieren und Ungerechtig11 Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? Mit einem Nachwort von Robert Walter, Stuttgart 2000, S. 22. 12 Thomas Pogge: »Was ist Gerechtigkeit?«, in: Susanne Kaul/Rüdiger Bittner (Hg.): Fiktionen der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 13-30, hier S. 13.

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keit verhindern, wobei allerdings die richtige Zuordnung der Begriffe Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit durch die lexikalische Wortbedeutung einerseits und den tatsächlichen Wortgebrauch andererseits »zwar konditioniert, aber durch sie allein nicht determiniert wird«13 . Der unter bestimmten Umständen und in bestimmten Situationen mögliche Bedeutungsumfang von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit kann – auch wenn unter den bewertenden Aktanten prinzipielle Einigkeit über alle für die Bewertung relevanten Fakten bestehen sollte – variabel interpretiert werden: Unterschiedliche Konzeptionen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit können dazu führen, dass Menschen sich – trotz aller Verbindlichkeit der elementaren Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens – grundlegend uneins darüber sind, ob und inwieweit etwas als gerecht oder ungerecht, gut oder schlecht, lobenswert oder nicht-lobenswert eingeschätzt werden sollte. Von weiterer Bedeutung ist, dass die moralisch bewertende Klassifi kation von gerecht oder ungerecht nicht nur handlungsleitende Funktionen hat – »[w]er eine mögliche Handlung oder Regel ungerecht nennt, spricht sich gegen ihre Realisierung aus« 14 –, sondern dass das Werturteil ›ungerecht‹ stets auch mit bestimmten emotionalen Reaktionen einhergeht: Der eine Handlung, einen Zustand oder einen Sachverhalt als ungerecht Bewertende ist aufgebracht, ärgerlich, erregt, entrüstet, empört, erbittert, wütend, zornig. Und er ist dies, weil seine ›Erwartungssicherheit‹ – die Vorstellung nämlich, dass sein Denken und Empfinden über die Welt, in der er lebt, sich nicht wesentlich von dem Denken und dem Empfinden der anderen unterscheidet – erschüttert worden ist, und er die Erfahrung machen musste, dass »Gerechtigkeit […] in erster Linie eine mögliche, aber nicht notwendige Eigenschaft einer gesellschaftlichen Ordnung«15 ist. Die elementare Voraussetzung für diese Erfahrung ist, dass – auch wenn Menschen das Verlangen nach einer ›absoluten‹ und ›objektiven‹ Werteordnung und das Bedürfnis nach einer ›absoluten‹ und ›objektiven‹ Gerechtigkeit haben mögen – gesellschaftliche ›Wertsysteme‹ stets das Ergebnis einer Interpretationsleistung sind, und Interpretationsergebnisse immer auch ganz anders ausfallen können, Interpretationen sind stets und immer standortgebunden. Auch wenn viele Menschen – ja vielleicht sogar die Mehrheit aller Menschen – in ihren Interpretationen und Werturteilen miteinander übereinstimmen, bedeutet dies noch lange nicht, dass eine

13 Ebd. 14 Ebd., S. 15. 15 Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, a.a.O., S. 11.

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Interpretation bzw. ein Werturteil »in einem objektiven Sinne gültig« 16 ist. Die Tatsache, daß gewisse Werte in einer bestimmten Gesellschaft allgemein anerkannt werden, ist durchaus mit dem subjektiven und relativen Charakter der diese Werte behauptenden Urteile vereinbar. Daß viele Individuen in einem Werturteil übereinstimmen, ist kein Beweis dafür, daß dieses Urteil richtig, d.h. in einem objektiven Sinne gültig ist. Gerade so wie die Tatsache, daß die meisten Menschen glauben, oder doch glaubten, die Sonne drehe sich um die Erde, kein Beweis dafür ist oder war, daß dieser Glaube auf Wahrheit beruht. Das Kriterium der Gerechtigkeit, ganz ebenso wie das Kriterium der Wahrheit, ist durchaus nicht die Häufigkeit, in der Wirklichkeits- oder Werturteile auftreten. […] Obgleich die Frage, was eigentlich der höchste Wert sei, nicht rational beantwortet werden kann, so wird doch das subjektive und relative Urteil, mit dem diese Frage tatsächlich beantwortet wird, üblicherweise als die Behauptung eines objektiven Wertes oder – was auf dasselbe hinausläuft – einer absoluten Norm dargestellt.17

Wenn der soeben zitierte Rechtstheoretiker und Rechtsphilosoph Hans Kelsen (1881-1973) – der sich zeitlebens mit dem Problem der Gerechtigkeit auseinandergesetzt hat – im Rahmen seines Nachdenkens über die Frage ›Was ist Gerechtigkeit?‹ (1953) vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Relativität aller Interpretationen und damit auch der grundsätzlichen Relativität aller Werturteile zu der provokanten und radikalen Schlussfolgerung kommt, dass so etwas wie »absolute« Gerechtigkeit lediglich ein »irrationales Ideal«18 sei, dann kann die von Kelsen favorisierte Lesart der Relativität aller Gerechtigkeitsvorstellungen auch nicht durch Rückgriff auf Immanuel Kant und den von ihm formulierten ›kategorischen Imperativ‹ korrigiert oder gar falsifiziert werden. Die berühmte Formel des Königsberger Philosophen: »Handle nur nach der Maxime, von der du zugleich wünschen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«, impliziert, dass menschliches Verhalten ›gut‹ und ›gerecht‹ sei, wenn es bestimmten Normen entspreche, von denen der Handelnde wünschen kann, dass sie für alle Menschen verbindlich sein sollten. Stimmt man Kant hier zu, dann wäre im Anschluss freilich logischerweise zu fragen: Was genau beinhalten diese Normen, von denen für alle Menschen wünschenswert wäre, dass sie

16 Ebd., S. 21. 17 Ebd., S. 21f. 18 Ebd., S. 49; vgl. hierzu auch Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne, 2. Aufl ., Wiesbaden 2006.

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allgemein verbindlich sein sollten? Eine Frage, auf die der ›kategorische Imperativ‹ die Antwort offen lässt. Bei der Frage nach ›objektiven‹ und ›absoluten‹ Normen hilft im Übrigen auch der Hinweis auf die im Kontext der Aufklärungsbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnende – bis in die Antike zurückreichende – ›Natur rechtslehre‹ nicht wirklich weiter: Die in der Lehre vom Naturrecht vertretene Überzeugung, derzufolge jeder Mensch – unabhängig von seinem Geschlecht, seinem Alter, dem Ort, der Zeit und der Staatsform, in der er lebt – »im natürlichen Zustand« 19, also ›von Natur aus‹ (sprich: nicht durch Konvention und Normen) mit ›übergeordneten‹ und ›unveräußerlichen‹ Rechten ausgestattet ist, Rechten, die ihm allein aufgrund seines Menschseins gehören und die ihm niemand streitig machen kann (z.B. das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit oder auch das Recht auf persönliche Freiheit), Rechten, die als vor- und überstaatliche ›ewige‹ Rechte angesehen werden, ist genauso ein interpretationsabhängiger ›Glaubenssatz‹20 wie die – in der Charta der Menschenrechte fi xierte – Vorstellung, dass der Mensch ein mit Ver nunft begabtes Wesen sei; oder um es mit den Worten von Hans Kelsen zu formulieren: »Normen für menschliches Verhalten in der Vernunft zu finden, ist die gleiche Illusion wie die, solche Normen aus der Natur zu gewinnen.«21 Und auch das häufig mit Gerechtigkeitsvorstellungen verbundene – bereits von Aristoteles erstmals formulierte22 – ›Prinzip der Gleichheit‹ vor dem Gesetz kann nicht wirklich überzeugen, gipfelt es doch in der Forderung, ›alle‹ Menschen ›gleich‹ zu behandeln. Eine Forderung, die eine zumindest verzwickte ist, da die Menschen tatsächlich sehr verschieden sind und es überhaupt nicht zwei Menschen gibt, die wirklich gleich sind, ist der einzig mögliche Sinn dieser Forderung: dass die Gesellschaftsordnung in der Gewährung von Rechten und 19 Immanuel Kant: »Metaphysik der Sitten, Rechtslehre – Einleitung in die Metaphysik der Sitten«, in: Christoph Horn/Nico Scarano (Hg.): Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2002, S. 228. 20 Die Relativität naturrechtlicher Setzungen erweist sich nicht zuletzt auch darin, dass es neben der Überzeugung von der Existenz ›ewiger‹ – vom historischen Kontext unabhängiger – Rechte auch die naturrechtlichen Auffassungen vom ›Recht des Stärkeren‹ und dem ›Sieg der besseren Leistung‹ über den Status quo des Bestehenden gibt. 21 Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, a.a.O., S. 47. 22 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 5. Buch, Kapitel 6. Übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg 1985.

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in der Auferlegung von Pflichten gewisse Unterschiede unberücksichtigt lasse. Nur gewisse, keineswegs alle Unterschiede! […] Welches sind aber die Unterschiede, die berücksichtigt, und welches jene, die nicht berücksichtigt werden sollen? Das ist die entscheidende Frage, und auf diese Frage gibt das Prinzip der Gleichheit keine Antwort.23

Soll ein Recht nur Erwachsenen, nicht aber Kindern, nur Männern, nicht aber Frauen, nur Staatsbürgern, nicht aber Staatsfremden, nur den Angehörigen einer bestimmten Religion oder Rasse, nicht aber den Angehörigen anderer Religionen und Rassen gewährt werden? Welcher Unterschied zwischen Menschen gilt als wesentlich, welcher Unterschied zwischen Menschen kann vernachlässigt werden? Und – vor allem – wer bestimmt, welche Unterschiede zwischen den Menschen von Relevanz bzw. NichtRelevanz sind? Wenn – wie zuvor entwickelt – die Rechtsordnung einer Gesellschaft keine wie auch immer geartete ›absolute‹ oder ›objektive‹ Gerechtigkeit zu garantieren ver mag, und eine Rechtsordnung – auch wenn wir uns vielleicht etwas ganz anderes wünschen würden – immer nur das Resultat eines standortgebundenen Interpretationsprozesses ist, dann stellt sich aber nicht nur die Frage, ›wer‹ darüber bestimmt, ›welche‹ spezifischen Unterschiede zwischen den Menschen mit Blick auf die bestehende Rechtsordnung von Relevanz bzw. Nicht-Relevanz sind, sondern dann stellt sich auch die Frage, ›wer‹, d.h. welches Personal einer Gesellschaft, in ›welcher‹ Form über das ›Wie‹ der Architektur einer rechtlichen Ordnung zu bestimmen vermag. Gesetze und rechtliche Ordnungssysteme werden innerhalb eines sozialen Kontextes formuliert, und hier spielt die gesellschaftliche Praxis, die gesellschaftliche Position derjenigen, die ein Gesetz auf den Weg zu bringen vermögen, derjenigen, die ein bestehendes Gesetz aufrechtzuerhalten in der Lage sind, und derjenigen, die es fertigbringen, ein bestehendes Gesetz zu korrigieren, eine fundamentale Rolle. Mit anderen Worten: Da jede bestehende Rechtsordnung das Ergebnis eines überaus komplexen Interaktionsprozesses zwischen einer ganzen Reihe von unterschiedlichsten Aktanten ist, fallen die gesellschaftlichen Machtpotenziale und die gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten des am Diskurs über die Rechtsordnung beteiligten Personals in signifi kanter Weise ins Gewicht, und dabei werden die Kämpfe um die verschiedenen Versionen von Recht bzw. Unrecht – wie prinzipiell alle diskursiv gewonnenen Wahrheitsordnungen24 – von dem Zusammenspiel der jeweils realisierten Machtver23 Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, a.a.O., S. 34. 24 Sara Mills: Der Diskurs, a.a.O., S. 19ff.

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hältnisse, Machtstrukturen, Machtbeziehungen und Machtwirkungen bestimmt. Allerdings gilt auch: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.«25 Herrschende – gesellschaftlich akzeptierte – Gerechtigkeitskonzeptionen und Rechtsordnungen können durchaus kritisiert werden, jedes Mitglied einer sozialen Ordnung hat das Recht, nicht nur kritische Fragen an die bestehende – historisch bedingte – Rechtsordnung zu stellen, sondern ein jeder könnte unter Umständen vielleicht sogar die Pflicht haben, sich ›gegen‹ die Gesetze und ›gegen‹ die Verbote einer bestehenden Rechtsordnung auszusprechen. Der Satz »Gesetz ist Gesetz« – ohne Rücksicht auf das Gerechtigkeitsempfinden – den Juristen gern auch als ›Rechtssicherheit‹ bezeichnen, wird nämlich dann fragwürdig, wenn man davon ausgeht, dass es eine Geschichte bzw. eine Entwicklung von Recht und Gerechtigkeit gibt, impliziert doch Geschichte bzw. Entwicklung immer, dass sich etwas sowohl zum ›Besseren‹ wie auch zum ›Schlechteren‹, zum ›Richtigen‹ wie zum ›Falschen‹ entwickeln kann. Doch auch hier stellt sich dann natürlich die Frage: Was ist ›richtig‹ und was ist ›falsch‹? Welche Kriterien und welche Maßstäbe zur Beurteilung und Unterscheidung von ›richtigen‹ und ›falschen‹ Gesetzestexten und Gesetzesordnungen könnte es möglicherweise geben? Ja, gibt es derartige Kriterien und Maßstäbe überhaupt? Geht man von dem Axiom aus, dass »die Anwesenheit der Menschen auf dieser Welt irgendwie Sinn«26 machen sollte, bzw. dass »menschliche Existenz prinzipiell sinnvoll ist« 27, dann ist von elementarer Bedeutung, dass die Diskussionen und möglicherweise auch die Kämpfe um ›richtig‹ und ›falsch‹ offen auszuhandeln und keinesfalls zu unterdrücken sind! Es gibt nicht die ›eine‹ – ›objektiv‹ gültige – Normalitäts- und Wahrheitsvorstellung, sondern Normalitäts- und Wahrheitsmodelle und damit die Bilder von ›richtig‹ und ›falsch‹, Recht und Unrecht sind stets gebunden an den historischen Kontext einer spezifischen Kultur. Und deshalb wäre es verfehlt, die Rechts- und Unrechtsauffassungen der einen Kultur an den Rechts- und Unrechtsüberzeugungen einer anderen Kultur – etwa indem man die ›Allgemeinen Menschenrechte‹ oder die Glaubenssätze einer Religion als Maßstab erklärt – messen zu wollen; dies ließe den Pluralismus von kulturellen Normalitäts- und Wahrheitsstandpunkten außer Betracht und stieße bestenfalls auf tiefes Unverständnis der Kritisierten. In einer Welt wie der unseren, in der Menschen tagtäglich die Erfahrung machen können, dass es auch ganz andere Kulturen und damit ganz 25 Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 4. unveränderte Aufl ., Münster 2004, S. 153. 26 Ebd., S. 227. 27 Ebd., S. 228.

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andere Normalitäts- und Wahrheitsideen, Rechts- und Unrechtsurteile gibt, kommt es nicht darauf an, die ›eine‹ – für ›alle‹ Menschen gültige – Ordnungsstruktur für Normalität und Wahrheit festklopfen zu wollen, sondern hier wäre stattdessen wichtig, die Relativität scheinbarer Selbstverständlichkeiten in den Fokus der Wahrnehmung zu rücken, jeweils gültige Normalitäten zu hinterfragen, den Möglichkeitssinn für ganz andere Ordnungsstrukturen zu stärken und vor allem Widerständigkeiten gegen jeden Anspruch auf Wahrheitsmonopole zu trainieren. Mögliche Fragen, die dabei zu stellen wären, lauten: Wie lässt sich das der Rechtsordnung zugrunde liegende allgemeine Menschenbild beschreiben? Auf wen genau bezieht sich eine Rechtsordnung, wen schließt sie aus? In wessen Interesse ist der Status quo einer bestehenden Rechtsordnung? Sind existierende Gesetze und Gesetzesordnungen dem Dasein ›aller‹ Menschen, also dem Dasein eines jeden einzelnen Menschen auf diesem Globus dienlich oder sind sie dies nicht? Werden alle Menschen als gleichwertig angesehen, mit dem gleichen Recht auf ein erfülltes Leben? Wer sind mögliche Gewinner, wer sind mögliche Verlierer einer Rechtsordnung? Das Hinterfragen, Problematisieren und Kritisieren bestehender Normalitäts- und Wahrheitsauffassungen, Rechts- und Unrechtsüberzeugungen läuft dabei weder auf Beliebigkeit noch auf Chaos oder gar Anarchie hinaus, sondern derartige Haltungen könnten durchaus dazu führen, dass Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonte erweitert und Erkenntnis- und Handlungsspielräume ausgedehnt würden und ein selbstbewusster Standpunkt der reflektierten und absichtsvoll intendierten Parteinahme für eine Rechtsordnung eingenommen werden kann. Vor allem aber könnte das Wissen um die historische und kulturelle Relativität von Wirklichkeits-, Wahrheits-, Rechts- und Unrechtsvorstellungen, von ›richtig‹ und ›falsch‹ den Effekt haben, dass der ein Rechtssystem Beobachtende auf dem Weg der Beobachtung zum selbstreflexiven Beobachter avanciert, d.h., dass er zu einem Beobachter wird, der nicht nur die Rechtsordnung beobachtet, sondern auch sich selbst als Aktant eben dieser Rechtsordnung mit Distanz zu beobachten in der Lage ist, und der infolgedessen dann die Kulturabhängigkeiten der eigenen Rechts- und Unrechtsurteile, der eigenen Vorstellungen von ›richtig‹ und ›falsch‹ aus einigem Abstand zu bedenken beginnt.

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Zur Relation von Spielfilmwelten und außerfilmischen Wirklichkeiten Distanziertes Beobachten der Rechtsordnung einer Gesellschaft steht vor allem dann auf der Agenda, wenn Rechts- und Unrechtsempfinden zum Thema eines Spielfilms gemacht werden. Die Zuschauer eines Spielfi lms, in dem Gesetz, Recht und Unrecht im Handlungsraum einer den Zuschauern in erster Linie Unterhaltung bietenden Spielfilmwelt entwickelt werden, sind – darauf hat Niklas Luhmann aufmerksam gemacht – »Beobachter zweiter Ordnung«28; damit ist gemeint, dass die Zuschauer eines Films nicht Objekte der so genannten ›ersten‹ Wirklichkeit beobachten, sondern ›Beobachter‹ dieser ersten Wirklichkeit – d.h. Schriftsteller und Drehbuchautoren, Regisseure, Schauspieler und Kameraleute – bei ihren Beobachtungen beobachten und daraus dann möglicherweise Rückschlüsse auf die von diesen beobachtete ›erste‹ Wirklichkeit, auf die dort realisierten Wirklichkeitsinterpretationen und Normalitätsvorstellungen ziehen können.29 Spielfi lme interpretieren von sich aus, noch bevor sie von den Zuschauern interpretiert werden, und diese fi lmischen Interpretationen sind »kulturelle, ja kulturspezifische Auslegungen und Selbstreflexionen«30, bei denen nicht Realismus, Nachprüf barkeit, Fehlerlosigkeit und Faktentreue im entpragmatisierten »Reich des [filmischen] Als ob«31 für die qualitative Bewertung der mit Blick auf die Welt der Tatsachen ›autonomen‹ Spielfi lmwelt ausschlaggebend ist.32 Filmische Interpretationen33 bilden die Realität 28 Niklas Luhmann: »Weltkunst«, in: Ders./Frederick D. Bunsen/Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 32ff. 29 Vgl. Waltraud ›Wara‹ Wende: Kultur – Medien – Literatur. Literaturwissenschaft als Medienkulturwissenschaft, Würzburg 2004, S. 105ff. 30 Doris Bachmann-Medick: »Literatur – ein Vernetzungswerk«, in: Heide Appelsmeyer/Elfriede Billmann-Mahecha (Hg.): Kulturwissenschaften. Felder einer prozessorientierten Praxis, Velbrück 2001, S. 215-239, hier S. 219. 31 Vgl. hierzu: Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1988, S. 104. (= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, hg. v. Richard Grathoff und Bernhards Waldenfels, Bd. 18/1). 32 Vgl. hierzu: Waltraud ›Wara‹ Wende: »›Die Wahrheit ist nur eine zweifelhafte Angelegenheit‹ – oder: Wenn deutsch-deutsche Geschichte für Filmemacher zum Anlass für Lachangebote wird«, in: Dies. (Hg.): Wie die Welt lacht – Lachkulturen im Vergleich, Würzburg 2008, S. 320-341, hier S. 320ff. 33 Interpretationen, die von Paul Ricœur in ›Zeit und Erzählung‹ mit Blick auf literarische Texte als »Mimesis II« bezeichnet werden; vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählen, a.a.O., S. 104ff.

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der außer fi lmischen Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern die fi lmische ›Welterzeugung‹ steht mit der außerfi lmischen ›Welt des Handelns‹ in einer hochkomplexen und überaus vielschichtigen – auf Selektionsstrukturen, Verdichtungsleistungen, Poly valenzen und Ambivalenzen basierenden – Beziehung der wechselseitigen Beeinflussung, wobei die Zuschauer durch die Rezeption von Filmen eine Vervielfachung von potenziellen Wirklichkeitsbeschreibungen und möglichen Wirk lichkeitsinterpretationen geboten bekommen, bei denen nicht nur die mögliche »Gegenläufigkeit« der unterschiedlichen »Deutungsperspektiven«34 , sondern auch und vor allem Gegenbilder, Phantasien und Träume zu den kulturell dominanten Selbstauslegungen und Selbstdeutungen einer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen können. Darüber hinaus gilt zu bedenken, dass Spielfi lme nicht nur als Interpretationen der außer fi lmischen Wirklichkeit bzw. als Gegenbilder zu den in einer Gesellschaft bereits kursierenden Selbstauslegungen verstanden werden können, sondern dass zudem davon auszugehen ist, dass Spielfi lmbilder Einfluss und Rückwirkungen auf die in einer Gesellschaft generierten Selbstbilder haben: Spielfilmbilder wirken auf das Denken und Fühlen der Zuschauer zurück und tragen damit immer zur Meinungsbildung der Zuschauer mit bei.35 Über das komplexe filmische Zusammenspiel von Bild- und Tonelementen, Kameraeinstellungen und Kameraführungen, Bildauf bau, Bild-Ton-Montagen und Bildästhetik werden Deutungsperspek tiven auf die Wirklichkeitsstrukturen der Gesellschaft angeboten: Es werden Aussagen über die Ursachen und möglicher weise auch über die Hintergründe der Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenlebens gemacht, es werden Selbst- und Fremdbilder generiert und Freund- und Feindbilder ausbuchstabiert, es werden Helden, Antihelden und Identifi kationsangebote präsentiert, und es werden – last but not least – Rechts- und Unrechtssituationen bildmächtig in Szene gesetzt. Obwohl hier davon ausgegangen wird, dass die vorrangige und wesentliche Wirkung eines Spielfi lms in erster Linie darin besteht, die Zuschauer zu ›unterhalten‹, ihnen spannende Erlebnisse und kurzweilige Er fahrungsräume zu erschließen, die ihnen ihr ›wirk liches‹ Leben – leider

34 Doris Bachmann-Medick: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1996, S. 11-49, hier S. 46. 35 Vgl. hierzu auch Waltraud ›Wara‹ Wende: »Medienbilder und Geschichte – Zur Medialisierung des Holocaust«, in: Dies. (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart/Weimar 2002, S. 8-30.

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oder auch glücklicherweise – so nicht er möglicht36, ist andererseits davon auszugehen, dass die in medialen Speichermedien virtuell gebotenen Vorstellungswelten und Deutungsmuster immer Rück wirkungen auf die in einer Gesellschaft ›tatsächlich‹ zirkulierenden Inter pretationsmodelle, Wahrnehmungen und Sichtweisen des gesellschaftlichen Zusammenlebens haben. Und wenn dabei in Spielfi lmen von Recht und Unrecht erzählt wird, dann bleibt die Thematisierung des Rechtssystems hier zwar auf der rein symbolischen Ebene, doch ist zu vermuten, dass die medial gebotenen Rechtsordnungen stets zugleich Auswirkungen auf die Sinnkonstruktionen und Sinnorientierungen, Welt- und Selbstbilder der Zuschauer in deren ›außerfi lmischer‹ Lebenswelt haben. Im Folgenden werden zwei Filme in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, bei denen die Frage von Recht und Unrecht in ganz unterschiedlicher Weise fokussiert wird: Es soll gehen um Muxmäuschenstill (D 2004, Regie: Marcus Mittermeier) und Die fetten Jahre sind vorbei (D 2004, Regie: Hans Weingartner). Beiden Filmen gemeinsam ist, dass sie sich mit individuellem Unrechtserleben auseinandersetzen, wobei freilich die jeweiligen Verarbeitungen von Recht und Unrecht zu ganz unterschiedlichen Reaktionen auf Seiten der Protagonisten führen, Reaktionen, denen dann allerdings wieder eines gemeinsam ist, nämlich dass diese allesamt nicht nur unorthodox sind, sondern auch nicht mit dem übereinstimmen, was im Rahmen gegenwärtiger Rechts- und Unrechtsvorstellungen als eine für alle verbindliche Norm festgeschrieben ist.

Feldzüge gegen eine Gesellschaft, die ihre eigenen Regeln missachtet Der beim ›Max-Ophüls‹-Filmfestival 2004 mit dem Hauptpreis ausgezeichnete, in nur fünfundzwanzig Drehtagen ohne jedwede Filmförderung37 realisierte Low-Budget-Film Muxmäuschenstill erzählt in neunzig Minuten die skurrile Odyssee des Weltverbesserers Mux (gespielt von Jan 36 Vgl. ebd., S. 14. 37 Da nicht eine der diversen Filmförderinstitutionen, denen das Projekt zu ›brisant‹ war, Interesse an dem Drehbuch zeigte, musste der Film mit einem Mini-Budget von nur 40.000 Euro realisiert werden. Die Hauptfigur sei »weder charmant, schlau noch witzig«, so lauteten die Ablehnungsbegründungen. Außerdem könne »das Thema ›unsoziales Verhalten in der Gesellschaft‹ im Kino kaum interessieren«. Vgl. hierzu: Sven Kups: »Ein Mann greift durch in ›Muxmäuschenstill‹«, im: mdr.de. Zitiert nach: www.mdr.de/kultur/film/1470885.html [27. Juni 2008].

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Hendrik Stahlberg, der auch das Drehbuch zum Film geschrieben hat38). Bewaffnet mit einer Digitalkamera und einer Schusswaffe führt der an das Verantwortungsbewusstsein seiner Mitmenschen appellierende Moralapostel Mux einen permanenten Kampf gegen eine Gesellschaft, die ihre eigenen Regeln missachtet, gegen Gleichgültigkeit, Rechts-Brüche und Kriminalität – ja, man könnte vielleicht sagen, gegen das so genannte ›Böse‹ – in den Straßen des großstädtischen Berlin. Und dabei doziert der Idealist – auf dessen Nachttisch ein Brevier von Immanuel Kant liegt – nicht nur gerne schulmeisterlich über den Werteverfall einer massenmedial-verblödeten Welt, in der Ferrari-Schumi »ein Held [ist], weil er schnell um die Kurven fahren kann und keine Steuern zahlt«, sondern der Ex-Philosophiestudent ist zudem stets dazu bereit, alltägliche Verstöße gegen Recht und Ordnung kurzerhand in Selbstjustiz zu ahnden. Er konfrontiert Woche für Woche »sechzig bis achtzig Straftäter« mit ihren Vergehen, fordert sie unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Religion oder körperlichen Gebrechen zur Umkehr auf – notfalls sogar mit Waffengewalt. In einem gnadenlosen – der Utopie einer ›besseren‹ Welt verpflichteten – Feldzug kämpft Mux sowohl gegen (Gewohnheits-)Kleinkriminelle wie gegen Schwer verbrecher: Er stellt Straßenverkehrssünder und Drogendealer, kämpft gegen Schwarzfahrer und Kaufhausdiebe, überführt Schwimmbeckenpinkler und Exhibitionisten, attackiert Graffiti-Sprayer und Kinderschänder. In dem Wirklichkeitsmodell des übermotivierten Mux – für den ›Richtig‹ und ›Falsch‹, ›Gut‹ und Böse‹, ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ klar voneinander abgegrenzte und vor allem »unverrückbare Dimensionen«39 sind – ist jeder Verstoß gegen Ordnung und Anstand, Moral und Gesetz gleicher maßen schlimm und in jedem Fall zu bestrafen: Ob ein Auto falsch geparkt wird oder ein Vater seine ganze Familie ermordet, ob im Schwimmbad ein ›verdorbenes‹ Mädchen mit vollem Körpereinsatz flirtet oder alte Männer Kinderpornos kaufen, Mux zieht alle Missetäter nach dem Prinzip von Schuld und Sühne gnadenlos zur Verantwortung und ahndet jede Art von Verfehlung, Ordnungswidrigkeit oder Straftat auf seine ihm eigene Weise. Die so genannten ›Erziehungsmaßnahmen‹, die im Verlauf des Filmes immer härter und brutaler ausfallen, reichen von überhöhten Sofort-Bußgeldern und der öffentlichen Zurschaustellung des Täters über leichte Handgreiflichkeiten und den Einsatz von CS-Gas bis hin zu extremer Nötigung und 38 Im ›wirklichen‹ Leben muss Stahlberg – genauso wie Marcus Mittermeier, der Regisseur des Films – sein Brot als Serienschauspieler verdienen. 39 Holger Hirsch: »›Muxmäuschenstill‹ von Marcus Mittermeier, Deutschland (Uraufführung)«, in: SR-online. Zitiert nach: www.sr-online.de/statisch/ MOP/2004/wettbewerbfilme.de [27. Juni 2008].

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physischer Gewalt, wobei dem stets korrekt gekleideten jungen Mann – den man in seiner äußeren Unauff älligkeit auch mit einem Bankangestellten verwechseln könnte – die Maßstäbe für seine Erziehungs- und Strafmaßnahmen zunehmend abhanden kommen: Der Durchschnittstyp in seinem makellos gebügelten Hemd wird im Laufe des Films zunehmend zu einer tickenden – unberechenbaren – »Zeitbombe« 40. Der Film beginnt damit, dass Mux, bewaff net mit Radargerät, Richtmikrophon und Digitalkamera, einen Autoraser nicht nur anhält und ihn in schneidiger Tonlage eine »Geschwindigkeitsübertretungspauschale« zahlen lässt, sondern dem Temposünder darüber hinaus auch noch gleich das ganze Lenkrad abmontiert – eine Strafmaßnahme, die ›relativ‹ harmlos und komisch ist, und die zumindest einige Kino-Zuschauer zum Schmunzeln bewegen dürfte. Und auch das sofortige – überteuerte – Zur-Kasse-Bitten von Bus- und S-Bahn-Schwarzfahrern könnte man ›unter Umständen‹ noch belächeln. Selbst das Bepöbeln eines jungen Paares mit Baby, das seinen Wagen auf einem Behindertenparkplatz abstellt, mag ›möglicherweise‹ noch angehen, genauso wie der Verbalangriff auf einen Rollstuhlfahrer, der im Beisein von Kindern eine rote Ampel missachtet, zumindest ›eventuell‹ noch im Rahmen des Nachvollziehbaren ist. Problematisch und heikel allerdings wird es spätestens dann, wenn der besessene Ordnungshüter dem Rädelsführer einer aufsässigen Schulklasse als Vergeltungsmaßnahme eine Schweinsmaske aufsetzt, ihn mit Papierkugeln bewirf und ihn zwingt, während eines Vortrages über Recht und Ordnung in der Ecke des Klassenzimmers zu stehen. Hier ist die Grenze zwischen Recht und Rechthaberei, zwischen Zivilcourage und Gewaltherrschaft, »zwischen Idealismus und Fanatismus« 41 eindeutig überschritten. Und vollends auf dem Weg in Körperverletzung, Schikane und Anarchie ist Mux, wenn er Hundebesitzer, um ihnen einen Denkzettel zu verabreichen, mit dem Gesicht in den auf dem Bürgersteig liegenden Kot ihrer Hunde drückt, wenn er eine Kaufhausdiebin als Vergeltungsmaßnahme zwingt, den zuvor geklauten Büstenhalter direkt vor seinen Augen wieder auszuziehen, oder wenn er einem Käufer von Kinderpornos als Sofort-Bestrafung die Videokassette brutal in den Hintern schiebt. Tödlich gar endet eine Strafmaßnahme, mit der der selbsternannte Berliner Law-and-Order-Mann einem Graffiti-Sprayer zu Leibe rückt: Nachdem Mux dem Sprayer die eigene Farbe kurzerhand in die Augen ge40 Cristina Moles Kaupp: »Muxmäuschenstill – Ein Mann räumt auf«, in: fluter.de. Zitiert nach: http://film.fluter.de/de/62/kino/3061/?tpl=86 [27. Juni 2008]. 41 Marco Schmidt: »Groteske – Muxmäuschenstill«. Zitiert nach: http://archiv.mopo.de/rewrite/show.php?pfad/2004/200407 [27. Juni 2008].

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sprüht hat, torkelt der Geblendete vor eine S-Bahn und wird von dieser überfahren. Konfrontiert mit dem Tod wird Mux für zwei lange Sekunden ›muxmäuschenstill‹, um dann allerdings rasch wieder auf den von ihm eingeschlagenen – selbstgerechten – Weg zurückzufinden: Schuld an dem Tod des Sprayers habe natürlich nicht Mux, sondern der Fahrer der S-Bahn, weil dieser unerlaubterweise mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei. Wenn sich Mux allerdings beim Anblick der verstümmelten Leiche des Delinquenten übergeben muss, dann scheint zumindest der eigene Magen den Schlussfolgerungen und Maximen seines Kopfes nicht so recht glauben zu wollen. Dass die Berliner Variante des New Yorker Taxi Driver (1976) mit seinem seltsam einseitigen Unrechtsbewusstsein nur sehr bedingt ein den kategorischen Imperativ im Munde führender »Mann mit Prinzipien in einer prinzipienlosen Gesellschaft« 42 ist, zeigt sich dabei freilich nicht nur in der übertriebenen Maßlosigkeit und der regellosen Willkür der von ihm in Selbstjustiz verhängten Strafen, sondern auch in einem Kommentar, den der vorgebliche Ordnungshüter und scheinbare Moralapostel anlässlich der Erniedrigung der von ihm erwischten Büstenhalter-Diebin im Nachhinein gegenüber seinem Assistenten abgibt: »Die Erniedrigung fand ich klasse! Sie wusste, sie kann nichts mehr machen. […] Da bekam ich richtig Bock!« Spätestens mit diesem Kommentar wird aus dem Helden ein Mäuschen, werden die Weltverbesserungs-Aktionen zweifelhaft, wird aus Mux ein psychopathischer Antiheld mit fehlendem Unrechtsbewusstsein, der aus »niederen Instinkten« 43 und perverser Neigung die eigene Machtfülle gegenüber den Straftätern auszunutzen versteht, um in schneidiger Polizistentonlage, arrogant und jähzornig, eigenmächtig und gnadenlos vor allem sich selbst sadistische Befriedigung zu verschaffen. Wenn Mux für Recht und Ordnung eintritt, dann tut er das nämlich nur in Grenzen aus Gemeinsinn für die Gesellschaft, der – wie er glaubt – ihre »Ideale verloren« gegangen sind, sondern dann tut der Hegel und Kant, Goethe und Kleist zitierende ›Schöngeist‹ dies mindestens genauso sehr für sich selbst, für das eigene Ego, für den eigenen Machtrausch, für die eigene perverse Neigung. Und so ist es denn auch nur allzu konsequent, dass ihn nicht so 42 Martin Schwickert: »Muxmäuschenstill – Militante Ich-AG«, in: Ultimo – Film-Kritiken. Zitiert nach: www.ultimo-bielefeld.de/kr-film/f-mux.htm [27. Juni 2008]. 43 Gabriele Meierding: »Mux’ Mission – von hohen Idealen und niederen Instinkten. Die großartige Satire ›Muxmäuschenstill‹ von Regiedebütant Marcus Mittermeier«, in: abendblatt.de. Zitiert nach: http://www.abendblatt.de/ daten/2004/07/08/315693.html [27. Juni 2008].

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sehr die Opfer einer Straftat interessieren als vielmehr »die öffentliche Anerkennung, die ihm die Überführung der Täter einträgt« 44 . Weniger sein Gerechtigkeitsempfinden als vielmehr sein Verlangen nach Macht und Anerkennung, das Bedürfnis, dass Dritte seine Autorität in Ordnungs- und Rechtsfragen anerkennen mögen, ist es dann auch, das den Don Quichotte der Volkserziehung motiviert, einen Assistenten – einen treuen Sancho Pansa – anzuheuern. Gerd (Fritz Roth), ein unterwürfiger, tumber Sozialhilfeempfänger und Alkoholiker, dem Mux nach dem Ablauf einer dreimonatigen Probezeit einen »festen Arbeitsvertrag mit allen Sozialversicherungen« in Aussicht stellt, wird sein Faktotum, mit dem er auf der Suche nach zu bestrafendem Fehlverhalten durch die Straßen, Parks, Kaufhäuser und U-Bahnhöfe Berlins zieht. Die Aufgabe des willfährigen Langzeitarbeitslosen aus Darmstadt besteht darin, die digitale Handkamera zu halten, damit die ›gemeinnützigen‹ Heldentaten seines Vordenkers auf einem »Schulungsvideo« als Anschauungsmaterial für die Nation festgehalten werden können, der theoretische – am kategorischen Imperativ orientierte – Überbau der philosophisch abgefederten Moralvorstellungen seines Meisters bleibt dem armen Tor natürlich verschlossen. »Ich bin Teil einer Gesellschaft«, so beginnt Mux sein Manifest im Kampf für eine neue Weltordnung, »ich bin Teil einer Gesellschaft, in der wir unsere Ideale verloren haben, in der wir keine Utopien mehr haben. Und ich bin dafür da, beim ersten Schritt zu helfen, dass die Menschen die Kraft wiederfinden, für ihr Verhalten Verantwortung zu übernehmen.« Eine Botschaft, die irgendwie – seien wir ehrlich – an Roman Herzog erinnert! Mux leidet darunter, dass »die Menschen etwas behaupten, was sie nicht sind«, er leidet unter den Guido Westerwelles und den Roland Kochs, all den »Auslaufmodell[en] der Republik«, die sich – sofern sich Mux mit seiner Moral durchsetzen kann – bald »warm anziehen« können. Er leidet unter dem Samstagabend-»Fickmichdideldeideldum«-TV, den Dieter Bohlens und den Stefan Raabs, und er läuft Amok gegen die Windmühlen des moralischen Verfalls und gegen die Fallstricke der sittlichen Verderbtheit. Was ihm jedoch dabei fehlt, ist der überzeugende Gegenentwurf, nicht umsonst bleibt sein Manifest für eine gerechtere Gesellschaft unvollendet: Mux’ Bedürfnis nach »Re-Etablierung einer allgemeinverbindlichen Moral« 45 scheitert an der eigenen – egozentrischen und gnadenlosen – Mo-

44 Thomas Assheuer: »Blutige Hände, saubere Moral. Die Entfernung zwischen Menschen ist unendlich. Marcus Mittermaiers [sic!] Film ›Muxmäuschenstill‹«, in: Die Zeit, 08 Juli 2004. 45 Hanns-Georg Rodek: »Ich muxe, du/er/sie muxt, wir muxen. In Marcus Mittermaiers [sic!] Film ›Muxmäuschenstill‹ räumt eine Moral-Ich-AG in Deutsch-

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rallosigkeit, entgleist an der ihm eigenen perversen Mischung von Zivilcourage und Fanatismus, Mut und Wahn. Dank der stets nach Sensationen Ausschau haltenden, quotenorientierten Medien »steigt der Westentaschen-Sheriff« durch seine spektakulären Aktionen auch ohne Fertigstellung seines Moral-Manifests dennoch »bald zum Moral-Guru« 46, zum Tugend-Idol der ganzen Nation auf. Präsent auf allen Fernseh-Kanälen und hofiert von den ›Tagesthemen‹ und von diversen ›Talkshows‹ kann der Gerechtigkeitsunternehmer Mux weiteres Personal einstellen und eine moderne Bürosuite anmieten. Medienpopularität und geschickte Marketingstrategien ermöglichen es der ständig expandierenden – und damit Schritt für Schritt die allgemeine Arbeitslosigkeit reduzierenden – »Gesellschaft für Gemeinsinnpflege« schließlich sogar, sich von Berlin aus auf das gesamte Bundesgebiet auszudehnen und Filialen in weiteren deutschen Städten zu eröff nen: Wobei das von einem übereifrigen Mitarbeiter der Gesellschaft ausgedachte Internetportal ›www.denunziant. com‹ von Mux – da der Begriff Denunziant »in Deutschland einen fahlen Beigeschmack« habe – in ›www. infor mant.com‹ korrigiert wird, ohne dass sein Mitarbeiter freilich versteht, was Mux an der ursprünglichen Namensgebung zu beanstanden hatte. Beruflich zunehmend erfolgreich, ist das Privatleben des Moralpredigers allerdings alles andere als erfüllt. Seine freien Abende verbringt er bei seiner Nachbarin Tüdelchen, die als Mutterersatz fungiert, oder auch in einer der vielen trostlosen Berliner Eckkneipen, wo er inbrünstig den Uralt-Ohrwurm »Sechzig Jahre und kein bisschen weise« zum Besten der einfältig-stumpfsinnig-schunkelnden Gäste gibt. Wirkliche Freunde fehlen ihm und sein Verhältnis zu Kira (Wanda Perdelwitz), der jungen Kellnerin eines Landgasthauses, die mit seiner respektvollen Zurückhaltung und seinen romantisch-verklärten, ritterlich-wirklichkeitsfremden Huldigungen nichts anzufangen weiß, führt ihn letztendlich in die Katastrophe. Von der Keuschheit Kiras, seiner ihn beflügelnden Muse, die er liebevoll auch »Mäuschen« nennt, überzeugt, will er das Mädchen vor den Abgründen des Begehrens und der weltlichen Verdorbenheit beschützen, will er seine Dulcinea vor dem Schicksal des Gretchens bewahren. Als der im »Wahn von der Reinheit« 47 Gefangene das Mädchen – das Goethes ›Faust‹ nie gelesen hat und damit das Schicksal des Gretchens nicht kennt – jedoch land auf«, in: Welt-Online. Zitiert nach: www.welt.de/print-welt/article325321/ ich_muxe_duersie_muxt_wir_muxen. html [27. Juni 2008]. 46 Marco Schmidt: »Groteske – Muxmäuschenstill«, a.a.O. 47 Oliver Hüttmann: »Meister Proper läuft Amok«, in: spiegel-online. Zitiert nach: www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518.druck-307811,00html [27. Juni 2008].

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dabei ertappt, wie sie sich während einer Kirmes einem anderen Mann hingibt, verfängt sich der Eifersüchtige – unfähig seine Gefühle zu kontrollieren – im Netz der eigenen Erwartungen. Konfrontiert mit dem Verrat und der Untreue der so gar nicht Sittsam-Schamhaften sieht der Nähesuchende im »Chaos der Liebe« 48 nur mehr einen Ausweg; einen Ausweg, durch den er freilich endgültig zum Gesetzesbrecher wird: Nach einem Spaziergang an einem See tötet er das ›gefallene‹ Mädchen mit einem kaltblütigen Kopfschuss. Sich selbst ebenfalls umzubringen, dazu allerdings fehlt ihm der Mut, stattdessen ruft er Gerd, und gemeinsam verscharren sie die Leiche. Der blutige Ausgang der Liebesgeschichte – das private Desaster – zwingt den Volkserzieher, Deutschland zu verlassen, und so plant er – gemeinsam mit Gerd – eine Zweigstelle der »Gesellschaft für Gemeinsinnpflege« in Italien aufzubauen. Dazu kommt es allerdings nicht, die ›italienische Reise‹ nimmt einen tragischen Ausgang: Mux bezahlt seinen unbedachten Versuch, einen Temposünder spontan zu stoppen, mit dem eigenen Leben. Das Ganze endet schließlich mit einer schwarzen Leinwand und – nach fünf Sekunden Stille – einem Monolog des Weltverbesserers aus dem Off, den dieser zuvor auf eine Kassette gesprochen hat: Mux wendet sich an Gerd, der in Darmstadt und Umgebung für die Verbreitung der Ideenwelt seines Meisters Sorge tragen soll. Dann erscheint – bevor der Abspann des Films beginnt – in weißer Schrift auf schwarzer Leinwand das Wort: »still«. Muxmäuschenstill erzählt unter Verwendung dokumentarischer Stilmittel ein tragisch-komisches »satirisches Märchen«49 von dem Aufstieg und dem Fall eines Welt verbesserers, der bei der – fortgesetzt grotesker werdenden – Durchsetzung seiner ›idealistischen‹ Ziele zunehmend gegen die bestehenden Gesetze des Rechtsstaates verstößt, ohne allerdings selbst dabei je mit der Polizei in Berührung zu kommen. Formal ist der chronologisch aufgebaute Film aus zwei unterschiedlichen Perspektiven inszeniert: Einerseits aus der Perspektive einer scheinbar sachlich abbildenden Mini-DV-Kamera, die vorzugsweise mit Halbtotalen arbeitet und den Zuschauern den Eindruck vermittelt, das Geschehen auf der Leinwand sei im Reportagestil parteilos und sachlich präsentiert, und andererseits aus der Perspektive eines radikal subjektiven, verwackelten und manchmal auch unscharfe Bilder liefernden digitalen Camcorders, mit dem Gerd einen Film im Film dreht, wobei durch das Auge seiner Kamera, durch welches die Anwesenheit eines unsichtbaren Dritten inszeniert wird, sowohl die 48 Ebd. 49 Thomas Winkler: ›Muxmäuschenstill‹. Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004, S. 10.

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Schande der Gesetzesbrecher wie die Demütigungen und Bestrafungen durch Mux verdoppelt werden. Beide Perspektiven geben dem Geschehen auf der Leinwand einen semi-dokumentarischen – Authentizität und Unmittelbarkeit versprechenden – Charakter, der zudem auch noch dadurch untermauert wird, dass Marcus Mittermeier sein Regiedebüt aus Kostengründen an Originalschauplätzen mit Originalton und mit natürlichem Licht gedreht hat. Spontandrehs ohne vorheriges Drehbuch und ohne Genehmigung, Aufnahmen vom ›Jahrhunderthochwasser‹ im Osten, Bilder einer Anti-Roland-Koch-Demo, das Arbeiten überwiegend mit Laiendarstellern geben dem Film einen ausgeprägten Reality-Charak ter. Darüber hinaus wird der Reality-Charakter des Geschehens auf der Leinwand erzielt durch diverse Textinserts mit den eingeblendeten Straftaten der erwischten Missetäter, durch zahlreiche Off-Kommentare, in denen zum Teil bei schwarzer Leinwand die Stimme von Mux zu hören ist, sowie durch direkte Kameraansprachen von Mux, in denen er für Gerd, Kira und die gestellten Missetäter sein Weltverbesserungskonzept erläutert. In visuellem Kontrast zu diesen am Dokumentarfi lm orientierten Stilmittel stehen die Begegnungen mit der von Mux als unschuldige ›Göttin‹ idealisierten Kira, in denen warmes Licht, eine erdige Farbgestaltung und wohltemperierte Musik als ästhetisches Prinzip mit den verklär ten, wirklichkeitsfremden Kopf bildern des Minnesängers korrespondieren. Ein weiterer Kontrapunkt zu den dokumentarischen Stilmitteln wird gesetzt durch die schnellen Rhythmen der Techno-Musik auf der Tonspur sowie die während der Verbrecherjagden des Filmes immer schneller werdenden Schnittfolgen: Beides – Musik und Schnittfrequenz – hat den Effekt, die Atemlosigkeit des Moralapostels auch stilistisch zum Ausdruck zu bringen. Als Gesamtwerk ist Muxmäuschenstill »ein großer Wurf«50, der Film ist »nur technisch entsprechend schlicht; thematisch, kompositorisch, auch schauspielerisch ist [er] sensationell«51 . Überraschend freilich dabei ist, dass weder die im Kontrast zu den am Dokumentarstil orientierten Gestaltungsmitteln stehenden ästhetischen Prinzipien des Films noch der satirisch überzogene, grotesk-skurrile – »rabenschwarze«52 – Grundzug der erzählten Selbstjustizgeschichte, weder 50 Hanns-Georg Rodek: »Ich muxe, du/er/sie muxt, wir muxen«, a.a.O. 51 Jan Schulz-Ojala: »Der Alptraumtänzer. ›Muxmäuschenstill‹ oder Von einem, der auszog die Welt zu verbessern«, in: Der Tagesspiegel. Zitiert nach: www.tagesspiegel.de/kultur/tagestipps/;art135,1982943? [27. Juni 2008]. 52 Karin Müller: »Mux sieht rot – Eine rabenschwarze Komödie, in der Selbstjustiz ad absurdum geführt wird«. Zitiert nach: www.mybasel.ch/freizeit_ kino_archiv.cfm?cmd =detail&id=1251 [27. Juni 2008].

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der zwischen charismatisch und psychopathisch changierende – in sich gebrochene – Charakter des abgestürzten Moralapostels noch seine diversen Verstöße gegen geltendes Recht einige Zuschauer davon abhalten konnten, sich bei Mittermeier und Stahlberg – den beiden bisher eher unauff älligen Serienschauspielern, die man aus eher schlichten TV-Serien wie Samt und Seide, Küstenwache und Rosenheimcops kennt – allen Ernstes zu erkundigen, »wo sie denn mitmachen«53, wie sie Mitglied im Club der Muxisten werden könnten. Und dies ist umso überraschender, weil die provokante Weltverbesserungssatire Muxmäuschenstill den von Mux geführten privaten Angriffskrieg auf kriminelle Nachbarn, seinen moralisch motivierten Kampf gegen Verantwortungslosigkeit, Werteverfall und Kriminalität, mit der subtilen Demaskierung der Mechanismen der Macht – Überwachung und Denunziantentum – verknüpft, so dass es wahrnehmungssensiblen Zuschauern eigentlich unglaublich schwerfallen müsste, sich zu positionieren. Aufmerksame Zuschauer bekommen »ein identifikatorisches Problem«54 , wird ihnen doch nichts geboten, an das sie sich halten könnten: Die Doppelbödigkeiten – Mux begeht Straftaten um Straftäter zu bestrafen – und die Primitivität der auf einer selbstherrlichen Wirklichkeitskonstruktion basierenden Erziehungsmaßnahmen beschwören eine permanente subtile Verunsicherung auf Seiten des Publikums. Gleichwohl scheint der die Kinokassen zum Klingeln bringende und die Presse zum Jubeln provozierende Film eine aktuelle gesellschaftliche Stimmung zu bedienen, er streichelt Meinungen und Vorurteile über die Haltlosigkeiten, Gleichgültigkeiten und die angeblich wachsende – laut Statistik allerdings absinkende – Kriminalitätsrate in einer wertfreien Gesellschaft, »bürstet sie [aber] gleich wieder gegen den Strich«55 . Wenn Mux appelliert, dass im Interesse der Allgemeinheit Recht und Ordnung wieder gestärkt und hierfür individuelle, private Verantwortung übernommen werden müsse, dann spielt er mit genau jenen Worten, mit denen sich auch deutsche Moralpolitiker gerne das Wohlwollen ihrer nicht zuletzt durch die Medien und ihre Sensationsberichterstattung verunsicherten Wählerschaft populistisch erschleichen. 53 Kai Müller: »Kein Geld, keine Ahnung, keine Zeit. Wie zwei unbekannte Serienschauspieler mit der Moral-Komödie ›Muxmäuschenstill‹ das Kino erobern«, in: Der Tagesspiegel. Zitiert nach: www.tagesspiegel.de/kultur/;art772,1977268?– Frame=3 [27. Juni 2008]. 54 Frank Junghänel: »Herr Mux geht ins Kino«, in: Berliner Zeitung, 19. Juli 2004. Zitiert nach: www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi [27. Juni 2008]. 55 Jan Schulz-Ojala: »Der Alptraumtänzer«, a.a.O.

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In einer Gesellschaft, in der »Sicherheit zunehmend privatisiert und zur Jobmaschine«56 wird, in der private Wachdienste florieren, Reiche sich hinter festungsartigen Wohnparks verschanzen, Konzerne eigene Schutztruppen auf bauen, dürfte ein Film, in dem die Zuschauer durch einen das Gewaltmonopol des Staates missachtenden Weltverbesserer nahegelegt bekommen, über unterschiedliche Konzeptionen von Recht und Unrecht, Moral und Unmoral, über die Wertordnung und den moralischen Überbau der Gesellschaft nachzudenken, reichlich Stoff für hitzige Diskussionen bereitstellen, zumal, wenn der Weltverbesserer ein Psychopath ist und der Film damit das emotional hochgradig aufgeladene Beziehungsgeflecht von Recht und Unrecht, gesetzlich und ungesetzlich, richtig und falsch, statthaft und verboten doppelt hinterfragt.

Rebellionsversuche einer postmodernen Nach-Wende-Generation Von einem ganz anderen Standort aus agieren die drei Weltverbesserer in Hans Weingartners Die fetten Jahre sind vorbei, deren ›Einschüchterungsbotschaften‹ und ›Erziehungsmaßnahmen‹ sich nicht auf die ›kleinen‹ Leute und ihre alltäglichen Vergehen, sondern auf die ›großen‹ und ›fiesen‹ Vertreter des Kapitals, auf Limousinen- und Villenbesitzer, auf Banker und Manager, auf Großindustrielle und Konzernvorstände mit Wohnort Berlin Zehlendorf konzentrieren. Der im Jahr 2004 mit dem ›Förderpreis Deutscher Film‹ ausgezeichnete und im gleichen Jahr auf dem ›Filmfestival in Cannes‹ mit zehnminütigen Ovationen frenetisch gefeierte deutschöster reichische Film erzählt in 124 Minuten von drei jungen Menschen, die ihre Kritik an den sozialen Einseitigkeiten des kapitalistischen Systems – ihren antikapitalistischen Protest gegen die offenkundigen Ungerechtigkeiten der lokalen und globalen Wohlstandsverteilung – auf ihre eigene, ganz besondere Weise zu artikulieren versuchen. Die Sehnsucht nach mehr sozialer Gerechtigkeit und das Verlangen nach mehr demokratischer Gleichheit führen Jan (Daniel Brühl) und Peter (Stipe Erceg), die zwei James-Dean-Rebellen des Films, in Berliner Vorortvillen, wo die zwei Mittzwanziger freilich sehr genau wissen, was sie tun bzw. was zu tun ist. Wenn die Bewohner der Nobelhäuser über Nacht abwesend sind, brechen die beiden jungen Männer in deren Villen ein, um im Inneren der Häuser ein »kreatives Chaos«57 mit den teuren 56 Thomas Winkler: »Muxmäuschenstill«, a.a.O. 57 Ingrid Arnold: »Die fetten Jahre sind vorbei«, in: www2.kinofenster.de/ kinoundthemen/ausgaben/kf0412 [3. Juli 2008].

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Einrichtungsgegenständen ihrer unfreiwilligen Gastgeber zu inszenieren. Im trickreich-raffinierten Wettkampf gegen die zum Schutz der Privilegien installierten Alarmanlagen wird deren bürgerliche Ordnung »symbolisch auf den Kopf«58 gestellt: Da werden Güterberge aus ausgesuchter Kunst, kostspieligen Designer möbeln und exquisiter Edeltechnik aufgetürmt, da verschwinden luxuriöse Stereoanlagen im Kühlschrank und da werden wertvolle Porzellanfiguren in den Klosettschüsseln ihrer Eigentümer arrangiert. Zerstört oder gar gestohlen wird bei diesen effektvollen Umdekorierungsmaßnahmen nichts, zu Schaden kommt niemand, es geht den beiden auf gewaltfreie Aktionen setzenden ›Einbrechern‹ nicht um Diebstahl oder Vandalismus, sondern es geht ihnen um den durchaus idealistisch zu verstehenden Versuch, mit den Privilegierten dieser Welt auf eine etwas andere – möglicherweise nachhaltigere – Art und Weise zu kommunizieren und sie auf diese Weise zum selbstkritischen Nachdenken zu motivieren. Bevor die beiden Freunde die an Kunsthappenings erinnernden nächtlichen Aktivitäten abbrechen und die Villen wieder verlassen, deponieren sie stets kleine schriftliche Botschaften, in denen sie engagiert ihr an den Idealen der Gleichheit und der Brüderlichkeit orientiertes – subjektives – Rechts-Empfinden artikulieren und den Hausbewohnern warnend, ja drohend verkündet wird: »Sie haben zu viel Geld« beziehungsweise »Die fetten Jahre sind vorbei« – signiert werden die in roter Farbe hinterlassenen, an die RAF-Zeit erinnernden spontihaften ›Bekennerschreiben‹ mit der selbstbewussten Unterschrift: »Die Erziehungsberechtigten«. Die in elektronisch überwachten – an »Hochsicherheitszonen« erinnernden – Wohnanlagen residierenden Wohlhabenden sollen aufgerüttelt, irritiert und beunruhigt werden, es geht darum, die Selbstverständlichkeit von Privilegien anarchistisch zur Disposition zu stellen, die Unantastbarkeit des Status quo rebellisch zu problematisieren und Sicherheitsgefühle subversiv in Unordnung zu bringen. Mit anderen Worten: Die beiden Männer wollen längerfristig gedachte Exempel statuieren – »Einen treffen, hundert erziehen!« Von der moralischen Überlegenheit ihrer privaten Protestaktionen überzeugt, reagiert Jan, der eher theoretisch-philosophische Kopf der beiden, dann folgerichtig auch überaus ungehalten und erbost, als ihm Peter, der zu instinktiven Aktivitäten neigende ehemalige Alarmanlageninstallateur, erklärt, er habe bei einem der letzten Einbrüche zum Spaß eine teure Uhr mitgehen lassen. Im Nicht-Beachten von Besitzverhältnissen ist für Jan, auch wenn er mit Hausfriedensbruch offensichtlich keinerlei Pro-

58 Andreas Borcholte: »Anarchie und Alltag«, in: spiegel-online. Zitiert nach: www.spiegel.de/kultur/kino/0,15187,druck-329478,00.html [3. Juli 2008].

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bleme hat, eine Grenze überschritten, eine Ethik-Grenze, die er nicht zu überschreiten gewillt ist. Während Jan und Peter – trotz dieser Unstimmigkeiten – ihren Weg des politischen Protests prinzipiell gefunden zu haben scheinen und sich dabei auf der »richtigen Seite wähnen«59, ist Jule (Julia Jentsch), die über die nächtlichen Aktionen nicht informierte Freundin von Peter, noch auf der Suche nach »der für sie passenden politischen Widerstandsform«60. Sie demonstriert in Fußgängerzonen – auch wenn ihr Demos »oft total sinnlos« vorkommen – gegen die Ausbeutung der Dritten Welt bei der Herstellung von westlichen Konsumgütern, und sie lässt ihrem zwischen diffuser Wut und latenter Verzweiflung changierenden Lebensgefühl, ihrem Defätismus angesichts des eigenen privaten Schuldenbergs, ihrem Frust über die Dünkelhaftigkeit und die Arroganz der Gäste in einem Berliner Edel-Lokal – in dem sie aus akuter Geldnot allabendlich zu jobben gezwungen ist – freien Lauf, indem sie die in einer Tiefgarage geparkten Autos der Mercedes-S-Klasse mit einem Schlüssel zerkratzt. Als Jule wegen Mietrückstands von ihrem Vermieter eine fristlose Kündigung erhält und sie bei Peter und Jan in deren heruntergekommener – vom Zugriff der Sanierer noch verschont gebliebenen – Altbauwohnung Zuflucht findet, entwickelt sich rasch eine komplizierte Dreierbeziehung zwischen den drei jungen Menschen, die nicht ohne Rückwirkungen auf die Männerfreundschaft und ihre politischen Aktivitäten bleibt. Jan verliebt sich – ohne dies Peter mitzuteilen – in die Freundin seines Freundes, und hilft ihr – damit Jule die beim Einzug hinterlegte Kaution zurückerhält – beim Renovieren ihrer ehemaligen Wohnung. Dabei erfährt er, während Peter zu einem hedonistischen Kurztrip nach Barcelona aufgebrochen ist, aus welchem Grund Jule so hoch verschuldet ist, dass sie die Miete für eine eigene Wohnung nicht mehr zahlen kann. Die junge Frau hat als Fahrerin eines unversicherten Kleinwagens einen Auffahrunfall, bei dem ein Mercedes der S-Klasse zu Schrott gefahren wurde, verschuldet und wurde zur Strafe vom Gericht zur Zahlung von 94.500 Euro an den geschädigten Unfallgegner verurteilt. Jan ist entsetzt über die für ihn offenkundige »Ungerechtigkeit« des – von den konkreten Lebenssituationen der Unfallgegner abstrahierenden – Richterspruchs: Die verhängte Schadensersatzzahlung bedeutet für Jule den finanziellen Ruin, während für ihren Unfallgegner – einen Top-Manager namens Hardenberg – die Höhe

59 Ingrid Arnold: Die fetten Jahre sind vorbei. Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004, S. 9. 60 Ingrid Arnold: »Die fetten Jahre sind vorbei«, in: www2.kinofenster.de/ kinoundthemen/ausgaben/kf0412 [3. Juli 2008].

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des verhängten Schadensersatzes lediglich einer Peanutszahlung, bezahlbar aus der Portokasse des Managers, gleichkommt. »Im Rausch der Gefühle«61 nimmt Jan Jules ganz individuelles, nicht symbolisches, sondern »eher reales Problem mit dem Kapitalismus«62 nunmehr zum Anlass, ihr von den mit Peter inszenierten nächtlichen Happenings in den Berliner Villen zu erzählen. Durch die Aktionen der beiden Männer mit einer sehr konkreten Handlungsalternative zur Ohnmacht und Ausweglosigkeit ihrer eigenen Situation konfrontiert, überredet Jule daraufhin den jungen Mann spontan dazu, sich in der Villa ihres Gläubigers Hardenberg »ein wenig umzusehen«. Im Zehlendorfer Domizil angekommen, dekorieren die beiden Aktivisten diesmal allerdings nicht nur die Einrichtungsgegenstände um, sondern sie werfen – in einer Mischung aus unerbittlichen Hassgefühlen und verliebtem Übermut – darüber hinaus auch kurzerhand Hardenbergs Designersofa in den Pool, wodurch unversehens aus dem ursprünglich pädagogisch motivierten Einbruch ein ganz persönlicher, vandalischer Rachefeldzug geworden ist. Schließlich werden die beiden frisch Verliebten von einer versehentlich ausgelösten Gartenbeleuchtung in die Flucht geschlagen, wobei – von beiden zunächst unbemerkt – beim überstürzten Verlassen der Villa Jules Handy am Tatort zurückbleibt. Als am darauf folgenden Tag Peter aus Barcelona zurückkehrt, verheimlichen ihm Jule und Jan sowohl ihre Verliebtheit wie auch den nächtlichen Einbruch. Erst nachdem sie während eines zweiten Einbruchs in Hardenbergs Villa – beim Versuch das verlorene Handy zu finden – von Hardenberg (Burghart Klaussner) überrascht worden sind, der Millionär die junge Frau als seine Unfallgegnerin identifiziert und der von der Situation überforderte Jan ihn daraufhin kopflos niedergeschlagen hat, beschließen die beiden, den ahnungslosen Peter um Hilfe beim Krisenmanagement der eskalierten Lage zu bitten. In Panik entscheiden die drei, dass es – will man die aus dem Ruder gelaufene Aktion nicht mit einer Gefängnisstrafe sühnen – keine andere Lösungsmöglichkeit gibt, als den Millionär kurzerhand zu kidnappen: Und so werden die selbster nannten Erziehungsberechtigten unverhoff t und unvorbereitet 61 Kerstin Rottmann: »Vom Glück und vom Geld: ›Die fetten Jahre sind vorbei‹ – Fahrenheit 9/11 war gestern, nun kommen ›Die fetten Jahre‹: Hans Weingartners Film zeigt, wie eine Polit-Komödie zum Nachdenken und Mitfühlen anregen kann«, in: netzeitung.de, 24. November 2004. Zitiert nach: www.net zeitung.de/entertainment/movie/filmder woche/314195.html [3. Juli 2008]. 62 Tobias Kniebe: »Generation Nix – Hans Weingartner trifft auf eine unergründliche Jugend in seinem neuen Film ›Die fetten Jahre sind vorbei‹«, in: Süddeutsche Zeitung, 24. November 2004. Zitiert nach: www.sueddeutsche.de/ kultur/artikel/529/43486/print.html [3. Juli 2008].

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zu Entführern wider Willen, wird aus einer mehr oder weniger humorvollen Protestform eine überaus rabiate – an das Schreckgespenst des linksextremistischen Terrors der RAF erinnernde – Entführungsaktion im Stil der 70er-Jahre. Mit dieser spontanen Entführung beginnt der zweite Teil des Spielfi lms, der nun nicht mehr in Berlin, sondern in einer einsamen Hütte von Jules Onkel in den österreichischen Bergen spielt. Waren die Aktionen in den Berliner Vorstadtvillen zwar moralisch korrekt, aber nicht unbedingt legal, so haben die drei mit der Entführung nicht nur eine Rechts-Grenze, sondern auch eine Moral-Grenze überschritten, mit der Konsequenz, dass sich alle drei in der neuen Situation maßlos überfordert fühlen. Hinzu kommt: In der klaren Luft der Berge stellt sich für die Entführer schnell heraus, dass der Entführte alles andere als lediglich ein unsympathischer und hassenswerter Klassenfeind ist: Hardenberg ist Alt-68er, war einst in der Studentenbewegung und im SDS aktiv und kannte Rudi Dutschke und andere Studentenführer persönlich. Das »Opfer mit Vergangenheit«63 verstand sich früher – ebenso wie aktuell seine Entführer – als Weltverbesserer, erinnert sich beim Nudelkochen gerne an die Zeiten der damals praktizierten »freien« Liebe und sehnt sich in seinen »schwachen Momenten« auch heute noch ab und an nach dem »einfachen« Leben zurück, weshalb er seine Entführung mehr und mehr als unfreiwilligen ›Urlaub‹, als unfreiwillige Auszeit von den Zwängen seiner Kapitalisten-Existenz zu genießen beginnt. Es dauert nicht lange und Hardenberg, der – trainiert im Beherrschen und Dominieren von komplexen Situationen – auch in seinem Gefängnis in den Bergen allmählich das Kommando zu übernehmen beginnt, erklärt seinen drei relativ planlosen Entführern, warum er trotz seiner SDSVergangenheit nunmehr CDU wähle: Im Laufe der Zeit berufl ich immer erfolgreicher geworden, habe er sich »irgendwann« dabei ertappt, wie er »in der Wahlkabine das Kreuz bei der CDU« gemacht habe. Der Manager genießt es, inmitten der skurrilen Alm-Szenerie voller Nostalgie am Joint zu ziehen und dabei gleichzeitig der jungen Generation aus der Position des Erfahreneren heraus nüchtern und gelassen vorzuführen, dass alle Ideale relativ kurze Halbwertzeiten haben und das jugendliche Bedürfnis nach »diff use[m] Dagegensein«64 im Laufe der Zeit genauso abklinge und schließlich zerplatzte wie die sicherlich ehrenwerte Vorstellung, für den 63 Jan Schulz-Ojala: »Eine linke Geschichte. ›Die fetten Jahre sind vorbei‹: Was der Film mit dem Leben des Schauspielers Burghart Klaußner zu tun hat«, in: Der Tagesspiegel, 24. November 2004. Zitiert nach: www.tagesspiegel.de/ zeitung/Die-Dritte-Seite;art705,22 037 [27. Juni 2008]. 64 Andreas Borcholte: »Anarchie und Alltag«, a.a.O.

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Lauf der Welt individuelle Verantwortung über nehmen zu müssen. Die Stabilität bürgerlicher Ordnungsstrukturen, das ichbezogene Verlangen nach Heirat, Kindern und Karriere, Geld, Komfort und Einfamilienhaus sei nun einmal viel stärker und nachhaltiger als der lediglich jugendlichsentimentale Drang, romantisch-altruistische Utopien Wirklichkeit werden zu lassen, rebellische Energien seien endlich und die »Haltbarkeit von Idealen«65 sei begrenzt. Dabei führt der Ex-68er – als Repräsentant der vorausgegangenen Generation – den drei jungen Menschen so ganz nebenbei auf plastische Art und Weise vor Augen, wie ihr eigener zukünftiger Lebensweg möglicherweise aussehen könnte: Die anarchistische Entscheidung für ein Leben jenseits der Koordinaten des vorgegebenen Gesellschaftssystems könnte ein rascheres Ende finden als von den drei Welt verbesserern vielleicht momentan gedacht. Darüber hinaus gerät durch die im Laufe der Zeit wachsende Sympathie zwischen der Geisel und den drei Entführern die geordnete Freund-Feind-Struktur der drei jungen Menschen zunehmend aus den Fugen. Vor allem aber kommt hinzu, dass die drei Entführer nicht nur mit der von ihnen nicht geplanten Entführungssituation vollkommen überfordert sind – zur Disposition stehen: umbringen, Lösegeld fordern, aufgeben oder abhauen – sondern auch weder der größeren Lebenserfahrung noch dem lebensweltlichen Pragmatismus ihres Gefangenen wirklich mehr entgegenzusetzen haben als diff usen Aktionismus und »papierene Phrasen«66 über den als ungerecht empfunden Zustand der Welt. Rebellieren ist – glaubt man Jan – »halt schwieriger geworden«, seit es CheGuevara-Sticker in fast jedem Laden zu kaufen gibt. In einer Gesellschaft, die keine Tabus mehr zu kennen scheint, laufen Provokation und Rebellion eben schnell ins Leere. Auff ällig ist: Die drei jungen Menschen intendieren einen radikalen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne »diese Verhältnisse jedoch explizit zu definieren«67. Ihre Empörung über das Übel der ungleichen Verteilung von Chancen, Mitteln und Gütern in der west lichen Wohl65 Sascha Rettig: »Weingartners Clash der Generationen. Hans Weingartners Palmen-würdiger Film ›Die fetten Jahre sind vorbei‹ hatte gegen ›Fahrenheit 9/11‹ so wenig Chancen wie die Journalisten gegen das Akkreditierungssystem von Cannes«, in: netzeitung.de. Zitiert nach: www.netzeitung.de/entertain ment/movie/286996.html [27. Juni 2008]. 66 Ekkehart Krippendorff: »Wohlstandsgefängnis. ›Die fetten Jahre sind vorbei‹ – die Alt-68er, die erwachsen werden mussten in dieser Gesellschaft«, in: Freitag, 26. November 2004. Zitiert nach: www.freitag.de/2004/49/04491302. php [27. Juni 2008]. 67 Ingrid Arnold: Die fetten Jahre sind vorbei. Filmheft, a.a.O., S. 11.

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standsgesellschaft und ihre globalisierungskritische Entrüstung über Armut und Ausbeutung in der Dritten Welt sind zwar überaus engagiert und sehr emphatisch, aber intellektuell wenig differenziert und in gewissem Sinne ratlos. Jan, Peter und Jule versuchen zu rebellieren, ohne wirklich zu reflektieren, konkrete politische Zielsetzungen für ihren Kampf gegen den Status quo werden keine formuliert, und so bleibt offen, wie die kunstvollen Installationen von Designermöbeln und das damit verbundene symbolische Infragestellen von großbürgerlichen Lebensstilen zu einer tatsächlichen – konkreten – Veränderung der bestehenden Unrechtsstrukturen des global entfesselten – neoliberalen – Turbokapitalismus beitragen könnten. Und auch ihr im »Showdown der Generationen«68 gemachter – missionarischer – Vorschlag an Hardenberg, er solle sein Zwei-Millionen-Gehalt doch für wohltätige Zwecke spenden, ist zwar idealistisch motiviert, aber wohl kaum dazu geeignet, den Zustand der Welt, nationale und internationale Ausbeutungsmechanismen, die »Massenpsychose vom permanenten Wachstum«69 nachhaltig zu verändern – ein Vorschlag, der in seiner Naivität wohl eher an der »Grenze zur Lächerlichkeit«70 zu verorten ist. An eine freilich ganz andere Grenze stoßen die drei »Möchtegern-Revolutionäre«71 durch die zwischen ihnen entstandene Dreiecksbeziehung, die Hardenberg geschickt als Joker zu seinen eigenen Gunsten auszuspielen versteht. Das Verheimlichen der Liebesgeschichte zwischen Jan und Jule destabilisiert nicht nur deren moralische Position gegenüber Hardenberg, sondern wird – nachdem Peter geschickt und schlitzohrig von Hardenberg aufgeklärt wurde – zudem zu einer Zerreißprobe für die Freundschaft der drei jungen Menschen. Resultat der Ménage à trois ist, dass man sich zu einem Abbruch der Entführung entschließt und kurzerhand gemeinsam mit Hardenberg zurück nach Berlin fährt. In Berlin angekommen hat Hardenberg eine Überraschung – nicht nur für Jan, Jule und Peter, sondern auch für die Zuschauer des Films – parat: Der Manager und Alt-68er erlässt Jule ihre Schulden und erklärt den drei 68 Kerstin Rottmann: »Vom Glück und vom Geld«, a.a.O. 69 Roberto Dzugan/Frédéric Jaeger: »Kein Zeichen von Dekadenz. Interview mit Hans Weingartner zu ›Die fetten Jahre sind vorbei‹«, in: www.critic.de/interviews/detail/artikel/kein-zeichen-von-dekadenz [27. Juni 2008]. 70 Juli Zeh: »Sixties würzig, Sixties light. ›Die fetten Jahre sind vorbei‹ – Die Cabinet-Generation wird politisch, aber deshalb noch lange nicht erwachsen«, in: Freitag, 26. November 2004. Zitiert nach: www.freitag.de/2004/49/04491301. php [27. Juni 2008]. 71 Philipp Bühler: »›Die fetten Jahre sind vorbei‹ – das richtige Leben«, in: fluter.de. Zitiert nach: http://film.fluter.de/de/82/kinoi/3407/?pl=86 [27. Juni 2008].

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jungen Menschen, man müsse sich wegen der gewaltsamen Entführung keinerlei Sorgen mehr machen, er werde nicht zur Polizei gehen. Die ›Erziehungsmaßnamen‹ haben sich also – so hat es zumindest den Anschein – zumindest partiell gelohnt. An dieser Stelle nun könnte der Film zu Ende sein, er ist es aber nicht; stattdessen gibt es noch andere Überraschungen: Als Jan im Anschluss an Hardenbergs Entgegenkommen das Equipment für weitere Einbrüche entsorgen will, protestiert Peter, weil er – nachdem er sein gekränktes Ego und seine Eifersüchteleien über wunden hat – weiterhin an die gemeinsame Sache glaubt. Und immer ist der Film noch keineswegs zu Ende: Statt einem auch an diesem Punkt möglichen Abspann sehen die Zuschauer den wieder frei gelassenen Hardenberg über längere Zeit nachdenklich in seiner Designerwohnung sitzen. Ein anschließender Szenenwechsel kontrastiert die Großaufnahme des Gesichts von Hardenberg mit einer Szene, in der zu sehen ist, dass Jan, Jule und Peter gemeinsam – äußerst friedvoll – in einem Bett liegen. Dieser Idylle folgt abermals eine Überraschung: Ein erneuter Szenenwechsel zeigt ein Sondereinsatzkommando, das sich für die Erstürmung der Altbauwohnung von Jan, Jule und Peter bereit macht. Eine Faust schlägt gegen die Wohnungstür, Jule erwacht, die Spannung steigt. Dann erstürmt das Einsatzkommando eine – überraschend leere – Wohnung, in der die Zuschauer gemeinsam mit den Polizisten des Einsatzkommandos auf einer Wand zu lesen bekommen: »Manche Menschen ändern sich nie.« Musikalisch kommentiert wird der hinter der Polizeiaktion ganz offensichtlich stehende Vertrauensbruch Hardenbergs durch lautstarkes Einspielen des elegisch-schwermütigen Leonard-Cohen-Songs ›Hallelujah‹ in der Version Jeff Buck leys. Ein an die Polizeiaktion anschließender, nunmehr allerletzter Szenenwechsel führt dann tatsächlich zum Epilog, und damit nun wirklich zum Ende, und zwar zum durchaus ›offenen‹ Ende des Films: Jan, Jule und Peter – denen es augenfällig gelungen ist, ihre Idee von Freundschaft über kleinbürgerliche Moralvorstellungen in Sachen Liebe hinwegzuretten – begeben sich zielstrebig zu einer vermutlich Hardenberg gehörenden72 Luxusjacht, mit der sie auf das ›offene‹ Meer hinaus fahren. Dann bringt die Filmkamera Bilder von einer großen Satellitenanlage mitten im Ozean, Bilder, die im Kontext der vorausgegangenen Filmhandlung bereits zweimal zuvor auf einem Foto gezeigt wurden und dabei stets Anlass für Jan waren, über die weltweite Verdummungs-Macht der so genannten ›Kulturindustrie‹ zu reflektieren. Abrupt beendet wird die Filmhandlung schließlich von weißem Flimmern und undifferenziertem Rauschen wie 72 Es befindet sich ein Bootsführerschein mit dem Bild Hardenbergs im Boot.

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bei einem TV-Sender-Ausfall, wodurch den Zuschauern des Kinofi lms ein vorausgegangener Sabotageakt an den Sendemasten nahegelegt wird. Der Prozess persönlicher und politischer Selbstfi ndung, die Suche nach Möglichkeiten des gesellschaftlichen Engagements, der Protest gegen den Staus quo hat damit eine neue Qualität bekommen, die – in ihrer medienkritischen Ausrichtung in der Gefolgschaft der ›Frankfurter Schule‹ um Theodor W. Adorno stehenden – ›Erziehungsberechtigten‹ haben für ihre weiteren, im Vergleich zu dem Ausgangspunkt des Films unduldsameren Aktionen einen neuen, stärkeren Gegner gefunden: das Massenmedium Fernsehen. Die von den Dreien durch den Sabotageakt erzwungene Sendepause soll die ungeheure Macht der Medien zumindest temporär außer Kraft setzen und den Menschen die Möglichkeit des eigenen – selbstständigen – Nachdenkens eröff nen, die Zerstörung des Medium wird zur Message. Gleichzeitig verweist dieses ›offene‹ Ende auf eine mögliche – mit einer expliziten und fortschreitenden Radikalisierung einhergehende – Zukunftsperspektive der drei jungen Menschen hin: Der langsame und friedvolle Marsch durch die Institutionen ist ihre Sache nicht. Präsentiert wird die chronologisch erzählte Geschichte des zwischen nüchternem Kammerspiel und Generationen-Komödie, Roadmovie, Parabel und Polit-Groteske changierenden Films73 einer privat organisierten Rebellion meist mittels einer digitalen, leicht unruhige Bilder liefernden Handkamera, die – im Zusammenspiel mit zum Teil improvisierten Dialogen und der verwendeten Umgangssprache – dem Filmgeschehen einen authentischen, stark dokumentarischen Charakter verleiht, zumal die einzelnen Filmbilder auch wenig bis überhaupt nicht ausgeleuchtet sind und auf gebaute Kulissen verzichtet wurde. Darüber hinaus wird im Vorspann – die ersten Filmbilder zeigen das rasche Umdekorieren einer Villa – mit der eingeschränkten Perspektive einer körnige Bilder liefernden Überwachungskamera gearbeitet, wodurch nicht nur Authentizität, sondern auch Spannung erzeugt wird. Dieser – vor allem für die Exposition und das Finale des Films charakteristischen – Spannungssteigerung dient im Übrigen auch ein Zeitraffer, mit dem zu Beginn des Films eine globalisierungskritische Demonstration gegen die Ausbeutung der Dritten Welt in Szene gesetzt wird. Genauso wie die Musik aus dem Independentbereich der Rockmusik, die vor allem im ersten Teil des Films entweder als Originalton oder aber als über den Originalton des Films gelegter Soundtrack zu hören ist, dem Zuschauer Dynamik und Action – sowie das Gefühl, selbst mittendrin zu sein – suggeriert.74 73 Ingrid Arnold: Die fetten Jahre sind vorbei, a.a.O., S. 13. 74 Gegen Ende des Films wird die Musik wehmütiger und melancholischer, es dominieren akustische Gitarrenklänge, darunter der wiederholt eingespielte,

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Und dennoch kommt der Film – nicht zuletzt durch eine Vielzahl von eine große Nähe zu den Filmfiguren bewirkenden Nah- und Halbnahaufnahmen – als Ganzes eher wie eine ruhige und nachdenkliche Zustandsbeschreibung daher: Vor allem die Szenen während des Aufenthaltes in der entlegenen – gesellschaftsfernen – Berghütte, in denen sowohl der politische Diskurs zwischen dem Alt-68er und der jungen Generation wie die emotionalen Befindlichkeiten der Protagonisten zentral stehen, spiegeln in ihrer größtenteils ruhigen – auf ein Mix von Nah- und Halbnahaufnahmen einerseits und Halbtotalen und Totalen andererseits setzenden – Inszenierung die innerlich desolate, unsicher-unentschiedene Befindlichkeit der Protagonisten wider, und sie vermitteln darüber hinaus den Zuschauern den Eindruck, das Gezeigte nicht aus einer allwissenden – auktorialen – Perspektive präsentiert zu bekommen, sondern sich selbst lediglich auf – zur eigenen Positionierung zwingenden – Augenhöhe mit den im Visier der Beobachtung stehenden Protagonisten zu befinden. Die Aussage des Films ist durchaus schillernd, ambivalent und doppeldeutig: Es geht um illegale Aktionen und um die Verletzung des geltenden Rechts, es geht um Gewalt und Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Kidnapping und einen Terroranschlag, aber es geht auch um das idealistische Begehren, sich gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu wehren, um das Infragestellen der ausbeuterischen Konsequenzen von Globalisierung und dereguliertem Raubtierkapitalismus, es geht um die Träume von jungen Menschen und um deren Wunsch, die Welt, in der wir leben, zum Besseren zu verändern. Wobei freilich die drei jungen Aktivisten in ihrer anarchistischen Kritik an struktureller Gewalt, neoliberaler Wachstumsideologie, westlicher Wohlstandsgesellschaft und medialer Verdummung – anders als die Generation der 68er – »nichts in Herz und Hand« haben als das relativ vage Lebensgefühl, dass es »nicht immer so weitergehen kann«75 . Dabei liefert Hans Weingartner ein Porträt gesellschaftlicher Befindlichkeiten: Es ist ihm gelungen, ein Stück Realität zu präsentieren und das vorurteilslose Bild einer postmodernen Nach-Wende-Generation zu zeichnen, einer Generation, die in ihrer mitunter »gutgläubignaiv[en]« 76 – aber durchaus auch sympathischen – Utopie von einer besseren Welt in erster Linie auf subjektive Emotionalität und zwischenmenschliche Beziehungen setzt. Weil sie sowohl das Vertrauen in das Funktionieren von politischen Parteien wie auch jedweden Glauben an politische Ideologien bereits erwähnte elegisch-schwermütige Leonard-Cohen-Song ›Hallelujah‹ in der Version Jeff Buckleys. 75 Juli Zeh: »Sixties würzig, Sixties light«, a.a.O. 76 Ingrid Arnold: Die fetten Jahre sind vorbei, a.a.O., S. 12.

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verloren hat, lautet ihr – von Jan und Jule kurz und bündig an eine Wand gepinselter – Slogan: »Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle.« Wie Marcus Mittermeier in Muxmäuschenstil bietet auch Hans Weingartner den Zuschauern keine wirkliche Identifi kationsmöglichkeit an, weder die drei subversiv-zornigen, intellektuell freilich eher schlicht daherkommenden Jung-Rebellen noch Hardenberg, der zum saturierten Erfolgsmanager mutierte Ex-68er, sind dazu geeignet, sich mit ihnen positiv zu solidarisieren. Stattdessen überlässt es Hans Weingartner den Zuschauern, einen eigenen Standpunkt gegenüber der erzählten Geschichte einer moralisch motivierten Privat-Rebellion ohne substanziellen und überzeugenden Gegenentwurf zu finden.

Training für den Möglichkeitssinn Wie Mittermeier, so liefert auch Weingartner »kein Lehrstück, sondern eine lehrreiche Beobachtung« 77, beide Regisseure beziehen gegenüber ihren Protagonisten, deren diff use Gerechtigkeitsvorstellungen und der daraus folgenden umstürzlerischen Außerkraftsetzung des staatlichen Gewaltmonopols eher beobachtend in Szene gesetzt werden, keine eindeutige Stellung, der erzieherische Zeigefinger gegenüber dem In-UnordnungBringen der bestehenden Ordnung unterbleibt, Bewertungsfragen werden – auch wenn in Die fetten Jahre sind vorbei Jan, Jule und Peter durch ihren selbstlosen, wenn auch naiven Idealismus mit Blick auf Hardenberg die moralischen Sieger bleiben – geschickt den Zuschauern überlassen: Und genau diese Offenheit ist keineswegs eine Schwäche, sondern der Reiz, ja die ausgesprochene Stärke beider Filme. Eine Stärke ist es sicherlich auch, dass beide Filme darüber hinaus die Frage nach der Haltbarkeit von Idealen, nach den Möglichkeiten des privatpersönlichen Engagements und nach dem Widerspruch zwischen dem gut gemeinten Versuch, »die Welt zu retten« und den daraus resultierenden offenkundigen Unrechtshandlungen stellen und dabei so ganz nebenbei auf überzeugende Art und Weise filmisch in Szene gesetzt wird, dass Normalitätsvorstellungen und Wirklichkeitswahrnehmungen genauso wie damit korrespondierende Gerechtigkeitserwartungen stets das Resultat von – zwar kulturell justierten, aber immer individuell modellierten – Wirklichkeitskonstruktionen sind. 77 Jörg Peter Löblein: »Die niedliche Revolution. Hans Weingartners ›Die fetten Jahre sind vorbei‹ untersucht Formen und Formeln des Protests«, in: szonline.de, 24. November 2004. Zitiert nach: www.sz-online.de/_sitetools/news/ printversion.asp?id=725 [3. Juli 2008].

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Beide Filme enden dabei durchaus nicht in »Beliebigkeit« 78, sondern es gelingt beiden Filmen – wenn auch in ganz unterschiedlicher Manier – exemplarisch nachvollziehbar zu machen, dass Rechts- und Unrechtsüberzeugungen standortgebunden konstruiert werden und Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, richtig und unrichtig, legal und illegal, rechtschaffen und verbrecherisch eben keine ›absoluten‹, intersubjektiven Größen sind. Jede bestehende Rechtsordnung ist eine kulturell sanktionierte und damit eine prinzipiell relative, sie könnte auch ganz anders aussehen, so dass widerständiges Hinterfragen, Problematisieren und Kritisieren von gesellschaftlich legitimierten Gerechtigkeitsordnungen genauso wie Verstöße gegen gültige Rechtssysteme grundsätzlich einem wertvollen Training für den Möglichkeitssinn gleichkommen. Und dass die Zuschauer, wenn sie mit derartigen Filmkonzepten konfrontiert sind, angehalten werden, selbstreflexiv ihre eigene Position zu Rechts- und Unrechtsfragen zu bedenken, ist sicherlich die größte Stärke beider Filme.

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Vor dem Gesetz – oder: Was ist ›richtig‹ und was ist ›falsch‹?

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Normalität und Normalitätsbruch in Michael Hanekes Filmen Wolfzeit und Caché Lars Koch

Michael Haneke ist einer der ambitioniertesten wie umstrittensten Filmemacher der Gegenwart. Die feuilletonistische Bewertung seines Werkes oszilliert zwischen begeisterter Zustimmung und strikter Ablehnung. Zahlreichen Preisen – u.a. der ›Goldenen Palme‹ bei den Filmfestspielen von Cannes 2005 – stehen zum Teil drastische Verrisse gegenüber, die in ihrer Argumentation meist darauf abzielen, Haneke sei ein antiquierter Moralist und seine Filme eine triste Klage über die Schlechtigkeit der Welt. Überblickt man die Kinoarbeiten des österreichischen Filmemachers – angefangen bei seiner ›Bürgerkriegstrilogie‹ der 1990er Jahre über die bitterböse Mediensatire Funny Games aus dem Jahre 1997 bis hin zu seinen Filmen der französischen Schaffensphase nach dem Jahrtausendwechsel, so ist den ablehnenden Kritiken zumindest insoweit zuzustimmen, dass die Filme dem Rezipienten einiges an emotionalem Stress und reflexiver Arbeit abverlangen. Der Grundton der Arbeiten Hanekes verweigert sich entspannter Konsumtion, die von ihm entworfenen Bilder sind sperrig, oftmals in solch prekärer Ausleuchtung gehalten, dass sie mit höchster Konzentration angeschaut werden müssen, um den jeweiligen Plot in seinen einzelnen Facetten zu erfassen. Die Figurenensembles in den Filmen Hanekes agieren bzw. reagieren oftmals im Dunkeln, eine grundlegende Metapher, die darauf verweist, dass die verhandelten Filmstoffe auch auf der narrativen Ebene immer wieder von dem postmodernen Verlust von Sinn, Identität und Kommunikation handeln. Haneke führt in seinen Filmen Sozialformationen vor, deren alltägliche Normalität durch unvorhergesehene Ereignisse in Frage gestellt wird. Im Moment der Zuspitzung zeigt sich, dass die bis dato als sicher geglaub309

Lars Koch

te Verlässlichkeit der sozialen Gefüge nicht auf der Basis normativer Übereinkunft aller Beteiligten auf Dauer gestellt ist, sondern auf impliziten wie expliziten Ein- und Ausschließungsmechanismen beruht. Als Medien der Herstellung von sozialer Kohäsion fungieren in Hanekes Filmen Macht und Gewalt. An die Stelle der großen Meistererzählungen über die Genese westlicher Gesellschaften tritt so eine sehr viel ambitionslosere Lektüre menschlichen Verhaltens, die – weitläufig orientiert an René Girards These über die mimetische Rivalität innerhalb aller Organisationsformen der menschlichen Kultur – zunächst einmal direkt danach fragt, »Was ist?«, anstatt vorschnell sein Heil in der verharmlosenden Frage »Wie ist es zu erklären?« zu suchen. René Girard, dessen Arbeiten über archaische Religionen Haneke eigenem Bekunden nach gut kennt 1 , geht von der grundsätzlichen Überlegung aus, dass Gesellschaften nur dann langfristig überleben können, wenn sie einen Weg finden, die in der Natur des Menschen angelegten Gewaltpotenziale erfolgreich zu kanalisieren. Andernfalls führe das genuine Aneignungsverhalten des Menschen – Schopenhauers ›blinder Wille‹ – unweigerlich dazu, dass Neid, Missgunst und Rivalität exponenziell wachsen und eine Gewalteskalation in Gang gesetzt wird. Das ursprüngliche Objekt der Begierde spielt dabei im Verlauf der Entwicklung gar keine Rolle mehr: Die Gewalt gewinnt im Zuge einer mimetischen Krise an Intensität, weil die Beteiligten sich gegenseitig imitieren und befeuern. Blutvergießen führt immer wieder zu neuem Blutvergießen: Die Rache […] stellt einen unendlichen […] Prozess dar. Wann immer sie an einem beliebigen Punkt innerhalb der Gesellschaft auftaucht, neigt sie dazu, sich auszubreiten und die gesamte Gesellschaft zu erfassen. […] Mit der Häufung der Vergeltungsmaßnahmen wird die Existenz der Gesellschaft insgesamt aufs Spiel gesetzt.2

Als basale Deeskalationsmechanismen nennt Girard vor allem Riten, zeremonielle Opferungen und Sündenbockprojektionen – Formen der sozialen Kommunikation also, die ihre Autorität immer auf der Grundlage eines kollektiven Akzeptanzmanagements entwickeln und vor dem Hintergrund sozialer Rahmenbrüche schnell ihren ordnungsstiftenden Status verlieren können.3

1 Thomas Assheuer: Nahaufnahme Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer, Berlin 2008, S. 53. 2 René Girard: Ausstoßung und Verfolgung, Frankfurt a.M. 1992, S. 142f. 3 Zu Girards mimetischer Theorie vgl. Chris Fleming/René Girard: Violence and Mimesis. Polity, Cambridge 2004.

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Normalität und Normalitätsbruch in Michael Hanekes Filmen

Die so plausibilisierte latente Brüchigkeit menschlicher Beziehungen exemplifiziert Haneke in seinen Filmen – einem wissenschaftlichen Experiment gleich – in Form von Laborkonstellationen, in denen seine Figurenensembles dazu genötigt werden, auf radikale soziale und interpersonelle Zustandsveränderungen zu reagieren. Die bis dato herrschende Normalität kippt – um es mit einem Terminus des französischen Soziologen Émile Durkheims zu sagen – in Momenten des Vertrauensverlustes sukzessive und von den Beteiligten nur nach und nach realisiert in Anomie. Haneke interessieren die so in ihrer dynamischen Steigerung beobachteten Verfallsprozesse dabei weniger im Sinne einer direkten soziologischen Kausalitätsanalyse, vielmehr rekonstruiert er die noch hinter solchen soziokulturellen Effekten zurückliegenden Subjektivierungs- und Sozialisierungsprozesse, die in ihrer Summe den diskursiven Ermöglichungszusammenhang bilden, innerhalb dessen seine Figuren dann in ihrem »Kampf um Anerkennung«4 vorgeführt werden. Wichtig zu bemerken ist, dass Hanekes Auseinandersetzung mit der spätmodernen Hyperindividualisierung, mit den zu konstatierenden immensen gesellschaftlichen Beschleunigungsprozessen und den sich weltweit zunehmend virtualisierenden Wahrnehmungsweisen nicht alleine auf die inhaltliche Ebene seiner Filme beschränkt ist, sondern in einer spezifischen Filmästhetik ein formales Doppel findet. Wenn er in seinen ›untragischen Trauerspielen‹ in verschiedenen Mischungsintensitäten den kleinen Krieg der Familie und den großen Krieg an den gesellschaftlichen Grenzbarrieren inszeniert, dann tut er dies in einer Erzählhaltung der kritischen Negation. Diese rekurriert auf einen an Adorno geschulten Kunstbegriff, der Kunst als »ästhetische Emanzipation gegen den Status quo«5 begreift und daraus abgeleitet eine »Moral der Form«6 einfordert. Hanekes Filme, vor allem die Arbeiten der österreichischen Schaffensperiode – Der siebte Kontinent (1987-1989), Bennys Video (1993) und 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1995) – erzählen ihre Geschichten von der allgemeinen »Vergletscherung der Gefühle« harmonieverweigernd, in audiovisuellen Gesamtkompositionen, die mittels Schwarzblende, überlangen Einstellungen und reflexiven Indienstnahmen der Tonspur das Fragmentarische des modernen Lebensgefühls betonen und sich dezidiert dem Überwältigungscharakter des Genre-Kinos widersetzen. Leitprinzip der frühen, die Bedingungen ihrer eigenen Rezeption bespiegelnden Kinofi lme ist das der produktiven wie rezeptiven Autonomie: Haneke geht es in gewisser Weise 4 Vgl. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 6. Aufl age, Frankfurt a.M. 2008. 5 So Haneke in: Nahaufnahme Michael Haneke, a.a.O., S. 50. 6 Ebd.

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Anleihen am avantgardeorientierten »Kino der Attraktionen«7 nehmend darum, den Zuschauer im Brecht’schen Sinne eine Haltung kritischer Auseinandersetzung aufzunötigen, die ihn aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit herausführen soll. 8 Bewusstseinsbildung und Handlungsermächtigung sind somit die Zielkoordinaten einer Kinokunst, die vermittelt über die jenseits des »Überredungsgestus des Gefälligen«9 angesiedelte Form auch so etwas wie Kinopädagogik ist. Die späteren Filme der französischen Phase hingegen, angefangen bei Code: unbekannt (2000) und Die Klavierspielerin (2001) über Wolfzeit (2003) bis hin zu Caché (2005), nehmen inhaltlich wie ästhetisch eine anders akzentuierte Perspektive ein, indem sie sich – mit Deleuze formuliert – vom Prinzip des Zeit-Bildes weg und auf jenes des Bewegungs-Bildes hin orientieren. 10 Ohne der genaueren Analyse der beiden zuletzt genannten Filme vorweggreifen zu wollen, kann diese Verschiebung vielleicht vorläufig unter dem Begriff der Desillusionierung verortet werden. Der künstlerisch formulierte Autonomieanspruch, der Befreiung und Widerstand als substanzielle Möglichkeiten gesellschaftlichen Handelns wenn nicht forderte, so doch zumindest als Denkmöglichkeit mit einschloss, ist bei Haneke seit der Jahrtausendwende um eine Perspektive ergänzt worden, die nunmehr eher die beinahe tragisch zu nennende Verstrickung des Einzelnen in Angst und Schuld betont und die Frage nach möglichen Freiheitsräumen zugunsten der Einforderung von Empathie mit den Leidenden der Welt hintan stellt. 11

7 Vgl. Tom Gunnings: »The Cinema of Attraction: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser/Adam Barker (Hg.): Early Film, London 1989, S. 201-222. 8 Zu den Bezugnahmen Hanekes auf die Ästhetik Brechts vgl. Jürgen Metelmann: Zur Kritik der Kino-Gewalt. Die Filme Michael Hanekes, München 2001. 9 Franz Grabner: »Der Name der Erbsünde ist Verdrängung. Ein Gespräch mit Michael Haneke«, in: Christian Wessely/Franz Grabner/Gerhard Larcher (Hg.): Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Marburg 2008, S. 11-24, hier S. 23. 10 Vgl. die beiden Bände von Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungs-Bild und Kino 2. Das Zeit-Bild, Neuaufl age, Frankfurt a.M. 2008. 11 Zum Aspekt des Tragischen in den jüngeren Filmen Hanekes vgl. Jörg Metelmann: »Die Autonomie, das Tragische. Über die Kehre im Kinowerk von Michael Haneke«, in: Christian Wessely/Franz Grabner/Gerhard Larcher (Hg.): Michael Haneke und seine Filme, a.a.O., S. 113-131.

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Normalität und Normalitätsbruch in Michael Hanekes Filmen

Dieser neuen Grundanlage der Haneke’schen Weltsicht korrespondiert auch eine veränderte ästhetische Gestaltung. Setzten die frühen Filme auf eine sich dem Hollywood-Prinzip der »höchstmöglichen Lesbarkeit«12 widersetzende Form der kinematografischen Unlust 13, die den Zuschauern ihre Beobachterposition zweiter Ordnung permanent im Bewusstsein hielt, so bemühen sich zwar auch die jüngeren Werke prinzipiell um eine distanzierte Darstellungsweise, die gerade in Situationen dramaturgischer Zuspitzung – etwa bei der Inszenierung von Gewaltausbrüchen – aus den tradierten Darstellungs- und Legitimationskonventionen des MainstreamKinos ausbricht. Nichtsdestotrotz lehnen die jüngeren Filme Michael Hanekes die Konventionalität des Genre-Kinos nicht mehr rundherum ab, sondern bedienen sich in abgewandelter Form ihrer filmischen Mittel und Plotstrukturen, wenn es darum geht, die Möglichkeit zur momenthaften Identifikation von Zuschauern und Filmhandlung zu schaffen. Wo Haneke früher einer Einschätzung Georg Seeßlens nach konsequent »anti-mytisch«, »anti-psychologisch« und »anti-melodramatisch« inszenierte14 , nutzt er in seinen aktuellen Arbeiten die narrativen Potenziale des Genre-Kinos, um so gemäß der zu erwartenden rezeptiven Decoding-Praxis einen Appell an den Wirklichkeitssinn der Zuschauer zu formulieren. Im Mittelpunkt stehen bei diesen Überlegungen solche realistischen Darstellungssequenzen, die angesichts der Brucherfahrungen der Moderne das »Leiden Anderer« 15 in den Fokus der Wahrnehmung rücken. Ziel ist es, sich damit in filmischer Weise dem generellen Anspruch der Opfer zu stellen, sich jenseits der oftmals zum Spektakel mutierenden Erzählungen unserer Medienwelten einen eigenen Platz in der symbolischen Ordnung zurückzuerobern. Dem fi lmischen Blick auf die Opfer ist eine Aufforderung zum emphatischen Perspektivenwechsel eingeschrieben. Eine Denkfigur, die selbst in ihrer Unwahrscheinlichkeit einen Gegenpol zum kalten Rausch der Bilder markiert.

12 David Bordwell: »Kognition und Verstehen. Sehen und Vergessen in MILDRED PIERCE«, montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, Nr. 1, Jg. 1992, S. 5-24, hier S. 17. 13 So eine bekannte Begrifflichkeit der der feministischen Filmtheorie nahestehenden Laura Malvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen, Vol. 16, Nr. 3, Jg. 1975, S. 6-18, hier S. 12. 14 Vgl. Georg Seeßlen: »Strukturen der Vereisung. Blick, Perspektive und Gestus in den Filmen Michael Hanekes«, in: Christian Wessely/Franz Grabner/Gerhard Larcher (Hg.): Michael Haneke und seine Filme, a.a.O., S. 25-44, hier S. 26. 15 Vgl. im Hinblick auf die Fotografie Susan Sontag: Das Leiden Anderer betrachten, München 2003.

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Aber auch hier gilt: Ein archimedischer Punkt, von dem aus Gewalt und Leidenserfahrung sinnhaft zu transzendieren wären, findet sich in Hanekes Bildwelten ebenso wenig wie eine temporale Struktur, die einem schrecklichen ›Jetzt‹ ein befriedetes ›Danach‹ kausal notwendig an die Seite stellen würde. Also auch hier wieder ein Moment der Selbstbescheidung, das sich den Weg in metaphysische Ersatzwelten versagt und doch nicht in nihilistischer Resignation versinkt: Haneke nimmt den Menschen ernst. Er weiß um seine Schwächen, gibt aber dennoch nicht die Hoff nung auf, dass der kommunikative Brückenschlag zwischen den In- und OutGroups der Gesellschaft zumindest phasenweise gelingen kann. Haneke praktiziert so eine Wirkungsästhetik, die den Spielfi lm wenn nicht als moralische Anstalt, so doch zumindest als einen genuinen Erfahrungsraum realisiert, in dem die Kältepole der Spätmoderne ansichtig und die ebenso uneingelösten wie unaufgehobenen Forderungen nach einer gerechteren Welt im Rekurs auf das nicht Gesagte laut werden.

Wolfzeit – eine kupierte Apokalypse Normalität hat in Michael Hanekes Filmen immer den Status des Prekären inne. Was oberflächlich stabil und geordnet erscheint, wird untergründig von einem dynamischen Gegeneinander unterschiedlicher individueller und gesellschaftlicher Triebenergien bestimmt. Die Protagonisten Hanekes leben immer schon in einer fremden Welt, auch wenn die äußerlichen Gegebenheiten zunächst einen relativ vertrauten Eindruck machen. In dem 2003 produzierten Spielfi lm Wolfzeit ist dieses Grundsetting nicht anders: Wir beobachten eine gutbürgerliche Durchschnittsfamilie – Vater, Mutter, zwei Kinder – in einem Peugeot auf dem Weg in ihr Wochenendhaus. Alles scheint normal, wenn nicht sogar harmonisch. Als sie das Haus erreichen, machen sie sich sofort daran, das mit Lebensmitteln vollgepackte Auto zu entladen. Als sie durch eine Tür – in Hankes Werk immer wieder als narratives Signal eingesetzt – hindurch das dunkle Innere des Hauses betreten, fallen sie jedoch aus der Normalität – und damit verbunden der Erwartungshaltung der Zuschauer – heraus. Der vermeintliche Ort der Zuflucht ist schon von einer anderen Familie besetzt, der fremde Vater bedroht die Dazugekommenen mit einem Jagdgewehr und fordert die Herausgabe aller Lebensmittel und des Autos. Als Georges, der Besitzer des Wochenendhauses, die verängstigten Eindringlinge gemäß der bewährten Deeskalationsroutine der neoliberal/bürgerlichen Befriedungssemantik zu beruhigen versucht – »lassen Sie uns reden, wir können doch teilen« –, wird er kurzerhand vor den Augen seiner Frau Anna (Isabelle Huppert) erschossen. Völlig geschockt begibt sich die ›Restfamilie‹, der Vorräte und 314

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des Autos beraubt, auf die Suche nach einer anderen Herberge. Die Suche wird zu einer Odyssee durch eine »apokalyptische Landschaft extremer Knappheit«16. Damit hat für sie, wie im Eröffnungsgedicht der nordischen Edda zu lesen ist, die Wolfzeit begonnen: Viel weiß der Weise/sieht weit voraus./Der Welt Untergang, der Asen Fall./Brüder befehden sich und fällen einander/Geschwisterte sieht man die Sippe brechen./ Der Grund erdröhnt, üble Disen fliegen/Der Eine schont des Andern nicht mehr./ Unerhörtes eräugnet sich, großer Ehbruch./Beilalter, Schwertalter, wo Schilde krachen, Windzeit, Wolfszeit eh die Welt zerstürzt.17

Hanekes Film partizipiert vom Ausgangsplot her an dem gerade in seiner Entstehungszeit sehr populären Genre des Katastrophenfi lms.18 Anders als in diesem üblich, findet sich aber in Wolfzeit kein Held, der die vor Special Effects sprühende Story einer Lösung zuführen würde. Im engeren Sinne erzählt Wolfzeit gar keine Geschichte, sondern versucht vielmehr, die emotionale Signatur einer dystopischen Gegenwart in Bilder zu fassen. Dort, wo der genreadäquate Katastrophenfi lm stereotype Rollenmuster und Darstellungsweisen auf den Plan ruft – einen (neoliberalen) Akteur, der sich insbesondere durch »hypernervöse Wachheit […], Flexibilität und dynamische Prozessorientierung« auszeichnet, eine Erzählführung, die vom Moment der Plötzlichkeit dominiert wird 19 – beschreibt Wolfzeit Angst und Orientierungslosigkeit als Motiv der entschleunigten Bewegung durch eine verkehrte und nicht mehr lesbare Welt. Welches Schrecknis sich eigentlich ereignet hat, verbleibt in einem Netz düsterer Andeutungen. Anna und ihre Kinder ziehen, verlorenen Seelen gleich, durch eine entvölkerte Landschaft, vorbei an brennenden Tierkadavern und Leichen am Straßenrand. Die neue Welt, inszeniert in diff usen, düster-nebligen Bildern, ist unwirtlich geworden. Die Menschen, die das vermutliche Ende der Staatlichkeit überlebt haben, rotten sich zusammen und versuchen 16 So Roland Wicher: »Michael Hanekes Kino. Die ›emotionale Vergletscherung‹ in der Industrie- und Mediengesellschaft und die Feuer der ›Wolfzeit‹ danach«, in: Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 27, Jg. 2004, zitiert nach http//:www.theomag.de/27/rw2.htm [20. April 2009]. 17 Die ältere Edda. Göttersage. Der Seherin Ausspruch, in der Übersetzung von Karl Simrock (1851), zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de [20. April 2009]. 18 Etwa: Signs (USA 2002), The Core (USA 2003), The Day after Tomorrow (USA 2004). 19 Vgl. hierzu den sehr lesenswerten Essay von Kathrin Röggla: »Worst Case Szenario«, in: Die Zeit, 5. März 2009, S. 34f.

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auf der Grundlage einer primitiven Tauschwirtschaft, das Überleben zu organisieren. Nachdem Anna und ihre Kinder an vielen verschlossenen Türen vorbeigeirrt sind, verbringen sie – die Anleihen zur christlichen Adventsgeschichte sind unübersehbar – die Nacht in einem Stall. Die Entwertung der kulturellen Tradition wird hier in beeindruckenden Bildern deutlich: Als Anna aufwacht, ist ihr Sohn Ben verschwunden. Während der von Panik getriebenen Suche in der finsteren Nacht geht die Orientierung Annas ebenso verloren, wie die der Kamera und die des Zuschauers. Nutzt der Film die dramaturgische Bedeutung der Tonspur dadurch, dass er im Dienste der Trostlosigkeitsimagination konsequent auf extradiegetisch eingespielte Musik- und Soundeffekte verzichtet, so erfährt die anthropologische Bedeutung des akustischen Sinns in den durch die Finsternis gellenden Rufen der Mutter eine ästhetisch reflektierte Entsprechung: ›Anthropologische Hauptaufgabe‹ des Gehörs […] [ist es,] unseren Körper im Raum zu stabilisieren, ihn aufrecht zu halten, ihm eine dreidimensionale Orientierung und vor allem eine Rundum-Sicherheit zu ermöglichen, die auch jene Räume, Dinge und Ereignisse einschließt, die wir nicht sehen können, vor allem das, was hinter unserem Rücken vorgeht. Während das Auge sucht und Beute macht, lauscht das Ohr auf das, was uns erbeutet. Das Ohr ist das Organ der Angst.20

Die sich so den Zuschauern vermittelnde Unbehaustheit der Restfamilie findet im Fortlauf der Szene eine Fortsetzung im irrlichternden Flackern brennender Heuballen, die die Szenerie weniger erleuchten, als dass sie sie nur für Momente in ein gespenstisches Licht tauchen. Am nächsten Tag gelangt die Familie, mittlerweile begleitet von einem verwilderten älteren Jungen, der Ben in der Nacht aufgesammelt und zurück gebracht hatte, an ein Bahngleis. Diesem folgen sie bis zu einer kleinen Bahnhofshalle im Nirgendwo, in der sich schon eine größere Flüchtlingsgruppe versammelt hat. Dieser heterotopische Ort, ein fensterloser, klaustrophobischer Bunker, wird zum Laboratorium einer versuchten Krisenvergemeinschaftung, in der sich in Analogie zu den Analysen Girards auf der Grundlage von Besitz und Gewalt schnell eine neue hierarchische Ordnung herausbildet. In ihr werden aus den politischen Subjekten der westlichen Demokratien wieder Objekte einer nichtkodifizierten Machtpraxis, in der angesichts des politischen Ausnahmezustands verschiedene Akteure darum streiten, eine neue Souveränität zu erlangen. Das soziale Miteinander, das hier nach der Auf kündigung des zivilisatorischen 20 Mirjam Schaub: Bilder aus dem Off. Zum philosophischen Stand der Kinotheorie, Weimar 2005, S. 76.

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Regelwerks entsteht, organisiert sich nach nahezu atavistischen Mustern in einem Spannungsraum physischer und psychischer Gedrängtheit, der in seiner sozialen Entdifferenzierung mit Girard als eine aktualisierte Schwundstufe der sozialen Krise par excellence begriffen werden kann: Die Krise stürzt die Menschen in eine permanente Auseinandersetzung, die sie jedes unterscheidbaren Merkmals, jeder Identität beraubt. […] Nichts und niemand wird verschont; kohärente Absichten und rationale Aktivitäten gibt es nicht mehr. Zusammenschlüsse jeglicher Art lösen sich auf oder werden zutiefst erschüttert, alle materiellen Werte verkümmern.21

Die Verteilung von Lebensmitteln und anderen Ressourcen wird von einer kleinen Horde bewaffneter Männer organisiert, die Gruppe stabilisiert sich nur zögerlich in der Benennung von vermeintlichen Dieben, die eine Sündenbockfunktion übernehmen. Kommunikation als Kulturtechnik reduziert sich auf das Nötigste, eine Sinnstiftung des Sinnlosen wird von einigen wenigen Flüchtlingen durch die Generierung einer mythischen Geschichte von den kommenden ›36 Gerechten‹ versucht, die aber bei den meisten Anwesenden nur Kopfschütteln auslöst. Darüber hinaus richten sich alle eschatologischen Hoff nungen auf das Eintreffen eines Zuges, der die sich weiter vergrößernde Menschenansammlung auflesen und an einen besseren Ort bringen wird. Diesen Ausweg in die Transzendenz verweigert Haneke allerdings. Seine Apokalypse ist kupiert, das Heilsversprechen, das dem Weltende in der christlichen Tradition nachfolgen soll, bleibt in der säkularisierten Spätmoderne ebenso aus, wie die Rückkehr in einen romantischen Naturzustand. Eine wichtige Scharnierfunktion nimmt in diesem Kontext der junge Outlaw ein, der Anna und ihre Kinder bis zum Bahnhof begleitet und von da an aus dem Wald heraus misstrauisch das Treiben im Flüchtlingslager beobachtet. Verwildert und von Außen die Bunkergemeinschaft belauernd, fungiert er in gewisser Weise als ein Wolfsmensch, wie ihn Giorgio Agamben in seinem Buch ›Homo Sacer‹ beschreibt: Er ist ein Lebewesen, dass »weder Mensch noch Bestie ist, eine Kreatur, die […] in beiden Welten wohnt, ohne der einen oder anderen anzugehören«22 . Als Wolfsmensch, als nacktes Leben, dokumentiert der verdreckte Junge in seinem Ausgeschlossensein von der Gemeinschaft die labile Grenze zwischen Natur und Kultur. Sein prekärer Status auf der in sich paradoxen Grenze von Sozialität und An-

21 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M. 1992, S. 80f. 22 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 115.

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omie verweist auf eine spezifische »Zone der Unbestimmtheit«23, die als ein Niemandsland des Übergangs die von Agamben als grundsätzlich herausgestellten biopolitischen Implikationen der conditio humana zitiert.24 Das Bezogenbleiben des Jungens auf die Bahnhofsgemeinschaft, die in aller Distanznahme ex negativo zugleich die Sehnsucht nach einem gelingenden Miteinander andeutet, negiert die romantische Vorstellung eines Naturzustands jenseits des Sozialen und unterstreicht das prinzipielle Ineinander von gesellschaftlicher Stabilität und Ausnahmezustand, welches unter der dünnen Firnis der Normalität immer wieder ausagiert werden muss. Der Mensch, so das Fazit von Hanekes anthropologischer Reflexion, ist und bleibt ein soziales Wesen. Hierauf gründet trotz aller Sensibilität für die untergründigen Friktionen menschlicher Gemeinschaft die in Wolfzeit in einigen Szenen durchscheinende Hoffnung auf eine Überwindung von Aggression und Gewalt. Überwiegt auch die Einsicht in die grundsätzliche Agonalität der menschlichen Existenz, so kommt es doch immer wieder auch zu Momenten der Mitmenschlichkeit, die die Latenz von Gewalt und Absurdität tendenziell suspendieren. So sucht in Wolfzeit Annas Tochter Eva immer wieder die Nähe des Wolfsjungen, mit der Absicht, diesen in die Flüchtlingsgemeinschaft zu integrieren. Noch aussagekräftiger ist in diesem Kontext eine Szene gegen Ende des Films, in der Annas Sohn versucht, sich selbst zu verbrennen, um – wie er es abends zuvor in einem der kursierenden Gerüchte aufgeschnappt hat – durch sein Opfer die Welt zu verändern. Als er sich, zu nacktem Leben geworden, anschickt, in die Flammen zu gehen, wird er von einem herbeieilenden Mitglied der herrschenden Clique daran gehindert. Mit den Worten, dass der Wille zum Opfer schon ausreiche, schließt er den Jungen – einer Pieta gleich – in die Arme.25 Hier wird Hanekes Absage an die gesellschaftliche Sehnsucht nach transzendenter Rettung in seiner Verschränkung mit dem Appell an innerweltliche Empathie explizit. Anders als in René Girards anthropologi23 Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2004, S. 33. 24 Aus der Flut der Agamben-Literatur vgl. bündig Johannes Scheu: »Giorgio Agamben: Überleben in der Leere«, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 350-362. 25 Hier wird einmal mehr Hanekes Bezug auf die christliche Tradition deutlich. So gesehen ist Bens Schicksal ein Amalgam aus der alttestamentarischen Geschichte Abrahams und Isaacs (Genesis 22) und Inhalten der neutestamentarischen Gesellschaftslehre. Nachdem Jesus durch seinen (realen) Tod die Zukunft des Menschen verändert hat, lebt christliche Nächstenliebe aus dem identifikatorischen Nachvollzug des Opfers.

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schen Lektüren26 muss in Wolfzeit das Opfer des Jungen nicht realiter erbracht werden, weil es in der kontingenten Moderne leerlaufen würde. Die Haltung, die die Bereitschaft zum Opfer dokumentiert, ist jedoch eine, die durch ihren symbolischen Überschuss eben jenen Abbruch von Kommunikation und sozialem Verhalten überwinden kann, von dem die Wolfzeit bestimmt wird. Ebenso wie seine Schwester Eva erscheint der kleine Junge so als personale Figuration einer immanenten Hoff ung, die den Opferbegriff in abstrakter Perspektive umdreht. Dort, wo das Genre-Kino in tradierten Repräsentationsweisen die Geschichten der Täter inszeniert, fokussiert Haneke eine menschliche Haltung, die aus der Fähigkeit zur Empathie lebt und so den Blick auf die Möglichkeit einer anderen Mitmenschlichkeit eröffnet. Indem sich Haneke der Banalisierung des Blicks verweigert und dem Bild durch das Zeigen einer Leidenserfahrung eine moralische Konsistenz zurückgibt, macht er den Zuschauer zum Zeugen, für den das Kino jenseits jeder »Prostitution des Sichtbaren«27 wieder zu einem Ort der – wenn auch unbehaglich akzentuierten – Erfahrung werden kann. In diesem Sinne ist die Schlussszene von Wolfzeit durchaus konsequent. Die Kamera schaut aus einem fahrenden Zug heraus in eine menschenleere Landschaft. Kein Kontext, keine Erklärung, reine Bewegung (des Bildes, der Akteure, der Reflektion). Sich einen Reim darauf zu machen, bleibt Aufgabe der Zuschauer.

Caché als Kollaps der bürgerlichen Normalität Auch Michaels Hanekes bislang erfolgreichste Arbeit, der 2005 produzierte und hochkarätig besetzte Spielfi lm Caché, beobachtet, wie Normalität – diesmal angestoßen durch den »destruktiven Einbruch verdrängter Vergangenheit in eine wohlgeordnete Lebenswelt«28 – sukzessive erodiert. 26 »Das Opfer tritt nicht an die Stelle dieses oder jenes besonders bedrohten Individuums […], sondern es tritt an die Stelle aller Mitglieder der Gesellschaft und wird zugleich […] von allen ihren Mitgliedern dargebracht. Das Opfer schützt die ganze Gesellschaft vor ihrer eigenen Gewalt […]. In erster Linie beansprucht das Opfer […] Zwistigkeiten und Rivalitäten, Eifersucht und Streitigkeiten zwischen einander nahestehenden Personen auszuräumen, es verstärkt den sozialen Zusammenhalt.« René Girard: Das Heilige und die Gewalt, a.a.O., S. 18f. 27 Jean Baudrillard: »Die Szene und das Obszöne«, in: Wulf Kamper (Hg.): Das Schwinden der Sinne, Frankfurt a.M. 1984, S. 279-297, hier S. 282. 28 Mario Schröder: »Einbruch und Wiederkehr. Reflexionsfragmente zu Mi-

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Schon die erste Szene des Films deutet die zentralen Motive der nachfolgenden rund zwei Stunden Spielzeit an. Man sieht eine statisch in der Totalen gefi lmte Häuserfront. Es passiert nicht viel, einige Autos fahren vorbei, man hört Straßenlärm. Eine erste Irritation entsteht, als der Dialog zweier Personen zu hören ist, der nicht zu den Bildern passen will. Als wenig später die Hauptfigur des Films, Georges Laurent (Daniel Auteuil), aus einem der Gebäude ins Bild tritt und an der Kamera vorbei zu seinem – sinnigerweise in der ›Rue des Iris‹ abgestellten – Auto geht, löst sich der Widerspruch zwischen Bild und Tonspur unvermittelt auf: schneller Bildvor- und Rücklauf machen deutlich, dass die Aufnahmen des Hauses innerhalb der Diegese zu einer Videoaufnahme gehören, die das Ehepaar Laurent in seinem Wohnzimmer anschaut und kommentiert. Das Videotape wurde ihnen anonym und ohne weitere Erklärung zugesendet. Einzig eine beigefügte Kinderzeichnung, die ein Gesicht mit roter Einfärbung zeigt, verweist darauf, dass mit dem Video eine Rätselstruktur verbunden ist, die der vermeintlichen Normalität der Laurents ein Ende setzt. Die Verschränkung von Innen- und Außenperspektive – mediale Bilder des familiären Außen, die im Innern als bedrohliche Beobachtungskonstellation rezipiert werden und damit eine Ereignisdynamik in Gang setzen – ist ein Leitmotiv, das die verschiedenen Handlungsstränge des an das ThrillerGenre angelegten Films miteinander verbinden. War in Wolfzeit ein gesellschaftlicher Ausnahmezustand das Thema, ist es hier – ergänzt um Reflexionen über das Medium »Spielfilm«29 – der soziale Kernbereich der Familie, der durch die anonymen Videobotschaften zunehmenden Spannungen ausgesetzt wird. Im Fortlauf der Handlung wird klar, dass die der kulturellen Elite Frankreichs angehörende Familie zwar durch ihren Alltag und seine Rituale oberflächlich zusammengehalten wird, untergründig aber schon länger Vertrauensverlust und Sprachlosigkeit vorherrschen. Eigentlicher Adressat der insgesamt vier Video-Botschaften ist Georges, ein erfolgreicher Literaturkritiker, der in seiner Kindheit eine Tat begangen hat, die ihn nach vielen Jahren der erfolgreichen »Méconnaissance«30 chael Hanekes Film Caché«, in: Christian Wessely/Franz Grabner/Gerhard Larcher (Hg.): Michael Haneke und seine Filme, a.a.O., S. 223-247, hier S. 224. 29 So kontextualisiert thematisiert Caché Überwachung nicht nur auf der Ebene des Erzählstoffs, sondern auch als Grundbedingung filmischen Erzählens, und führt damit die Figur des »Voyeurs« als Grundfigur der Kinogesellschaft vor. Vgl. hierzu Norman K. Denzin: »Die Geburt der Kinogesellschaft«, in: Rainer Winter/Elisabeth Niederer (Hg.): Ethnografie, Kino und Interpretation – Die performative Wende der Sozialwissenschaften. Der Norman K. Denzin-Reader, Bielefeld 2008, S. 89-236. 30 Der von Girard prominent gebrauchte Begriff der ›Méconnaissance‹ ist

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nunmehr einholt: Seine Eltern, Besitzer eines stattlichen landwirtschaftlichen Anwesens, hatten in den 1960er Jahren vorgehabt, den kleinen Majid, einen Jungen algerischer Abstammung, zu adoptieren. Um dies zu verhindern hatte Georges in einem Akt »triangulären Begehrens«31 den Eltern erzählt, das Majid Blut spucke und diesen zudem dazu überredet, den Hofhahn, auf einer abstrakteren Ebene Symbol der französischen Republik, mit einer Axt zu erschlagen. Daraufhin hatten die Eltern beschlossen, von der Adoption abzusehen und den älteren Rivalen stattdessen in ein Heim zu schicken. Auf brillante Weise gelingt es Haneke in der Figur des Georges Laurent, individuelles und kollektives Gedächtnis zur Deckung zu bringen und so die Verdrängungstat des kleinen Georges zugleich als gesellschaftliches Problem zu rekonstruieren: Die Eltern Majids hatten auf dem Hof der Laurents als Bedienstete gearbeitet und waren am 17. Oktober 1961 bei einem von französischen Polizeieinheiten an algerischstämmigen Demonstranten verübten Massaker zusammen mit mehr als 200 weiteren Menschen ums Leben gekommen. Dieses Datum, das eines der schlimmsten Gräuel französischer Kolonialpolitik markiert, spielt bis heute im öffentlichen französischen Gedächtnis kaum eine Rolle. Die individuelle Verdrängungsleistung Laurents spiegelt quasi die französische Erinnerungspraxis und reflektiert so die Brüchigkeit von Identitätskonzepten, die auf einer Lüge errichtet sind. Je mehr Georges klar wird, dass die Videos auf seine Vergangenheit anspielen, umso reduzierter wird die Kommunikation mit seiner Frau Anne (Juliette Binoche). Je mehr angesichts des nicht adressierbaren Wissens um die Möglichkeit des Überwachtwerdens ein Gefühl kaf kaesker »Unheimlichkeit«32 von Georges Besitz ergreift und er innerschwer ins Deutsche zu übersetzen. Situationsbezogen heißt er so viel wie ›Täuschung‹, ›Selbsttäuschung‹ oder auch ›Nicht-wissen-wollen‹. Girard beschreibt »Méconnaissance« in seiner Beschäftigung mit Marcel Proust, als hätte er dabei die Figur des Georges Laurent vor Augen: »Die Fakten […] dringen in jene Welt, in der unsere Überzeugungen herrschen, nicht ein. Die Fakten haben die Überzeugungen nicht hervorgebracht und werden sie auch nicht zerstören. Augen und Ohren verschließen sich, sobald Gesundheit und Integrität des persönlichen Universums auf dem Spiel stehen.« René Girard: Figuren des Begehrens, Münster 1996, S. 204. 31 »Ein Eitler begehrt ein Objekt dann, wenn er überzeugt ist, daß dieses Objekt bereits von einem Dritten, der ein gewisses Ansehen genießt, begehrt wird. In dieser Konstellation ist der Mittler der Rivale.« Ebd., S. 16. 32 Haneke spielt in Caché immer wieder mit Freuds Kategorie des »Unheimlichen«, gemeinhin verstanden als etwas, das ins Verborgene verdrängt wurde und wieder hervorgetreten ist. Wie für die Gesamtkonzeption des Films cha-

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lich aus der Fassung gerät, umso stärker schaltet sein psychischer Apparat zur Abwehr der Angst auf das Konzept ›Haltung‹ um. Als Georges über die Bilder des vierten Videotapes den Aufenthaltsort des vermeintlichen Absenders ermittelt und diesen in seiner heruntergekommenen Sozialwohnung aufsucht, kommt es zu einer ersten Konfrontation zwischen den beiden ehemaligen Kontrahenten: Während der augenscheinlich überraschte Majid, zwischen Freude und Verwunderung schwankend, ein überaus höfliches Gespräch führen will, reagiert Georges äußerst aggressiv und mit der Androhung massiver Konsequenzen für den Fall, dass seine Familie weiter mit Videobotschaften belästigt werde. Das topologische Spiel mit den Innen- und Außenrelationen, das anders akzentuiert auch schon in Wolfzeit im Motiv des Wolfsjungen anklang, erfährt in der Beziehung zwischen Georges und Majid so eine soziologische Adressierung. Während der eine zeit seines Lebens zur privilegierten Schicht der Besitzenden gehörte, blieb der andere von allen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten ausgeschlossen. Dass im Gespräch der beiden die sprachlichen Codes vertauscht sind, macht den Mechanismus sozialer Segregation nur umso deutlicher. Der paranoid-aggressive Georges ist Täter, der vermeintliche Eindringling Majid (zum zweiten Mal) das höfl iche Opfer. Die von Majid geäußerte Einschätzung »Du hast vor allem zu viel zu verlieren. […] Stimmt’s nicht? Ich denke doch. Was tut man nicht alles, um nichts zu verlieren?« bringt einen sozialen Habitus auf den Punkt, der bürgerliche Existenzangst als zentrales Movens der sozialen Konfliktlage aufdeckt. Die homogenisierenden Subjektivierungsprozesse der liberalen Gouvernementalität produzieren Individuen, die in ihrem Handeln kaum auf Aspekte des sozialen Miteinanders rekurrieren, sondern nahezu ausschließlich die eigene Positionierung im gesellschaftlichen Kräftefeld im Blick haben. Hier ist der Kern der von Haneke immer wieder reflektierten, emotionalen Verarmung der spätmodernen Konsumgesellschaft. Eine Szene, die den Sohn der Laurents beim Schwimmtraining zeigt, deutet beispielsweise an, wie der Neoliberalismus auf subtile Weise gesellschaftliche Ordnungs- und Regelsysteme in die Individuen einzuschreiben versucht: Von oben gefilmt zeigt die Kamera Pierrot, wie er im Schwimmbecken Wenden übt und dazu mit anderen Jungen immer wieder in einer Kreisbewegung die gleichen Berakteristisch, lässt sich auch hier eine doppelte Perspektivierung konstatieren, die einerseits den auf einer Selbstverleugnung aufgebauten Lebensentwurf von Georges Laurent meint, zugleich aber auch außerfilmisch die totale Sichtbarkeit des Privaten in erfolgreichen Medienformaten wie Big Brother etc. kommentiert. Zur psychoanalytischen Kategorie des Unheimlichen vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, in: Ders.: Studienausgabe Bd. IV: Psychologische Schriften, hg. v. Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a.M. 2000, S. 241-275.

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wegungsabläufe durchführt. Angefeuert durch die überwachende Stimme des Trainers, schneller und präziser zu werden, lernt Pierrot auf diese Weise schon in jungen Jahren, dass die Abstoßung vom (sozialen) Rand für das Fortkommen im (gesellschaftlichen) Schwimmbecken sehr wichtig ist.33 Eben dieser Grundgedanke dichotomischer Konkurrenz innerhalb eines insgesamt über allgemeine Spielregeln gleichgeschalteten und von anonymen Strukturen kontrollierten gesellschaftlichen Feldes ist es auch, der das Zueinanderkommen von Georges und Majid unmöglich macht. Während Majid auf die Möglichkeit eines echten Verstehens und die Anerkennung seiner individuellen Biografie hoff t, nimmt Georges nur die anklagende Nötigung zur Erinnerung an die eigene Schuld wahr. Das Gespräch bricht ab, bevor es eigentlich begonnen hat. Auf diese endgültige soziale Tötung reagiert Majid, indem er sich vor den Augen Georges’ die Kehle durchschneidet. Georges – auch hier verlässt die Kamera keineswegs ihre verstörende Position affektneutraler Beobachtung34 – bleibt ob des direkten Gewaltausbruchs, der so gar nicht in die subtil ausgebildete Ausgrenzungsmechanik der Upper Class passen will, geschockt zurück. Die Fremdheit der eruptiven Gewaltmechanik, das Blut, das in Analogie zur kindlichen Tötungsszene des Hahns aus Majids geöffneter Halsschlagader an die Wand spritzt, markiert eine irritierende Differenz zum bürgerlichen

33 Knüpft der Themenzusammenhang von Privatheit, medialer Sichtbarkeit und dem im Schicksal der Familie Laurent dokumentierten Verfall von Beziehungen im Modus der Beobachtung an Foucaults Überlegungen zur Disziplinargesellschaft an (Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994), so lassen sich in Hanekes Referenzen auf spätbürgerliche Subjektivierungsprozesse auch Denkfiguren im Kontext des Deleuze-Textes »Postskriptum zur Kontrollgesellschaft« (in: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-263) ausmachen. Neben der Schwimmszene spricht hierfür auch eine Szene in Hanekes Film 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls, die einen Studenten während des Tischtennistrainings im verzweifelten Kampf mit einer großen Anzahl von Bällen zeigt, die ihm von einer Maschine in großer Geschwindigkeit entgegengeschossen werden. Ganz in diesem Sinne dokumentiert ein Poster in Pierrots Zimmer die Subjektkonstitution der beiden Elternteile: »La victoire a un prix.« 34 Wie Eberhard Ostermann ausgeführt hat, zitiert die Tötungsszene die schon weiter oben angeführte »Ästhetik der Attraktionen« und eröffnet damit wiederum implizit einen Mediendiskurs, der durch Georges’ anschließenden und der Betäubung dienenden Kinobesucht fortgeführt wird. Vgl. Eberhard Ostermann: »Soziale und ästhetische Verunsicherung in Caché«, in: Ders.: Die Filmerzählung. Acht exemplarische Analysen, München 2007, S. 113-129, hier S. 128.

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»Exzess der Ordnung«35 . Spätestens hier wird deutlich, dass die Normalität der Laurents trotz aller Appelle an den Common Sense latenter Xenophobie ein Ende gefunden hat. Auch wenn Georges verzweifelt und unter Einsatz von sprachlicher Verdrängung und pharmakologischer Berauschung versucht, eine Renormalisierung seines durch die Videobotschaften denormalisierten Lebens zu initiieren, findet er doch keinen Weg, Hanekes Laborexperiment zu beenden. Obwohl die Vorhänge seines Schlafzimmers sorgfältig geschlossen sind, dringt durch einen Spalt das Licht der ›Wirklichkeit‹ herein. In diesem Sinne wäre die prinzipiell deutungsoffene Schlussszene des Films, die Pierrot vor den Türen seiner Schule im Gespräch mit Majids namenlosem Sohn zeigt, im Hinblick auf eine diskurstheoretische Verortung plausibel aufzulösen: Auch wenn der Vater jede Form von Verständigung abwehrt, sind die Grenzen zwischen Inklusion und Exklusion doch porös geworden. Die Türen, die im Film zuvor von allen Figuren geschlossen gehalten wurden, haben – so der kleine hoffnungsvolle Rest von Caché – zumindest im Hinblick auf die nachfolgende Generation (und das Kinopublikum) tendenziell ihre Trennungsfunktion verloren. In gewisser Weise schließt sich in der Schlusseinstellung vor der Schule der Kreis zum Anfang des Films. Ebenso statisch aufgenommen, thematisiert diese im Lichte der zurückliegenden Filmhandlung die Möglichkeiten des kinematografischen Bildes als Sprengkapsel verfestigter Gesellschaftsmuster.36 Das Problem der Autorschaft der »Bilder aus dem Off«37 bleibt innerhalb der Filmhandlung ungelöst. Alle Verdächtigen – Majid, sein Sohn, vielleicht Pierrot – können alleine schon aus visuellen Gründen – insbesondere der in einigen Szenen wiederholt ins Leere laufenden Blickachsen der Aufnahmen – nicht überzeugend der Urheberschaft überführt werden. Die sich hieraus zunächst ergebende metaleptische Destabilisierung der Narration38 verschiebt den Deutungsansatz 35 Jörg Metelmann: Zur Kritik der Kino-Gewalt, a.a.O., S. 192. 36 Diese These findet auf der Ebene der Diegese eine inverse Entsprechung in einer Szene, die Georges bei der Erledigung von Korrespondenz zeigt. Nebenbei läuft der Fernseher, zu sehen ist ein Bericht über die von US-Streitkräften geführte Koalitionsarmee im Irak. Die Divergenz zwischen passiver Rezeption der im von einer ornamentalen Bücherwand umrahmten Bildschirm ausgestrahlten Bilder und der Erledigung geschäftlicher Schreibarbeit markiert genau den blinden Fleck, den Caché in kritischer Absicht attackiert. 37 So der Titel eines Vortrags von Susanne Kaul: »Bilder aus dem Off. Zu Michael Hanekes Caché«, in: vgl.: www.uni-bielefeld.de/(de)/ZIF/Publikationen/ 09-1-Kaul.pdf [22. April 2009]. 38 So der die Verwischung von Diegese und Extradiegese beschreibende Fachterminus in Gérard Genettes Narratologie.

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von der Ebene der Ontologie der erzählten Geschichte auf die Ebene der Epistemologie des filmischen Mediums: Das Rätsel liegt weniger in den Bildern, als dass ihre Existenz selbst das Rätsel ist. Eine mögliche selbstreflexive Erklärung, die die Erinnerungs- und Verdrängungsproblematik von Caché an die fi lmische Poetologie des Regisseurs Michael Haneke zurückbindet, rekurriert vor diesem Hintergrund auf den in der »ScreenTheorie«39 unter ideologiekritischen Vorzeichen oftmals thematisierten Begriff der »Suture«. Entwickelt in der kritischen Beschäftigung mit der Illusionsgenerierung des Klassischen Kinos beschreibt die »Suture« solche fi lmischen Verfahren, die dem Zuschauer ein Gefühl der lustvollen identifi katorischen Eingebundenheit vermitteln und in der Herstellung raum-zeitlicher Kontinuität kritische Distanzierung erschweren. 40 Indem Caché die zentrale Frage der Herkunft der Videobotschaften nicht auflöst, oder – genauer noch – indirekt gar die Vermutung eines Ineinanderfallens von Diegese und außerfilmischer Realität nahelegt, markiert der Film eine die ›Einnähung‹ des Zuschauers verhindernde Bruchstelle der Narration, die – wie Slavoj Žižek es im Kontext anderer kinematografischer Arbeiten ausgeführt hat – Versenkung verunmöglicht. 41 Die intradiegetische Leerstelle der Autorschaft der Videos, die die fatale Dynamik von Verbrechen, Erinnerung und individueller/kollektiver Schuld in Gang setzt, wird im Schulterschluss mit den grundsätzlichen fi lmprogrammatischen Überzeugungen Hanekes somit metanarrativ dahin gehend angereichert, dass der diskursive Ermöglichungszusammenhang der von dem Film Caché angestoßenen Erinnerungsleistung ins Bewusstsein der Zuschauer tritt. Diese werden – zumindest dem Anspruch Hanekes nach – nicht mehr die Augen vor eben jener kolonialen Vergangenheit verschließen können, welcher Georges mit Schlaftabletten zu entfliehen versucht. Die Videobotschaften sind somit das narrative Ergebnis einer außerfilmischen Positivität des Erinnerungsdiskurses, der im Anschluss an Adorno vor allem als ein Gegendiskurs zur hegemonialen Macht der gesellschaftlichen Mehrheitshistoriografie fungiert. Seine Schlagkraft entfaltet er in der Verbindung der Erinnerung an die Opfer mit der Offenheit einer ästhetischen Form, die auf dem Wege der Thematisierung filmischer Möglichkeiten zur Selbstbeobachtung die Fiktion einer homogenen diegetischen Welt durchschlägt. Gerade dass dieser Gegendiskurs sich die Genre-Konventionen 39 Zur britischen Screen-Theorie der 1970er Jahre vgl. Phil Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology: A Film Theory Reader, New York 1986. 40 Vgl. zur ›Suture‹ kurz und bündig Thomas Elsaesser/Malte Hagener (Hg.): Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 110ff. 41 Vgl. Slavoj Žižek: ›Die Furcht vor echten Tränen‹. Krystof Kieslowski und die Nahtstelle, Berlin 2001.

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des Thrillers42 anverwandelt, macht ihn erfolgreich anschlussfähig an die Wahrnehmungskonventionen eines mehr und mehr durch die Bildwelten der Unterhaltungsmedien geprägten kollektiven Imaginären, das gleichzeitig bedient und irritiert wird. Ebenso wie das Gedächtnis arbeitet dieser Diskurs – so die von der Produktionsfirma ›Wega-Film‹ angebotene Übersetzung des Partizips ›Caché‹ – »verborgen, versteckt, lauernd«.

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42 Zur Genre-Bearbeitung von Caché vgl. Eberhard Ostermann: »Soziale und ästhetische Verunsicherung in Caché«, a.a.O., vor allem S. 115f.

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Normalität und Normalitätsbruch in Michael Hanekes Filmen

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Seeßlen, Georg: »Strukturen der Vereisung. Blick, Perspektive und Gestus in den Filmen Michael Hanekes«, in: Christian Wessely/Franz Grabner/Gerhard Larcher (Hg.): Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Marburg 2008, S. 25-44. Sontag, Susan: Das Leiden Anderer betrachten, München 2003. Wicher, Roland: »Michael Hanekes Kino. Die ›emotionale Vergletscherung‹ in der Industrie- und Mediengesellschaft und die Feuer der ›Wolfzeit‹ danach«, in: Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 27, Jg. 2004, zitiert nach http//:www.theomag.de/27/rw2.htm [20. April 2009]. Žižek, Slavoj: ›Die Furcht vor echten Tränen‹. Krystof Kieslowski und die Nahtstelle, Berlin 2001.

Filme Bennys Video (1993, Ö, R: Michael Haneke) Caché (2005, F/Ö/D/I, R: Michael Haneke) Code: unbekannt (2000, F/D/R, R: Michael Haneke) Der siebte Kontinent (1987-1989, Ö, R: Michael Haneke) Die Klavierspielerin (2001, D/F/P, R: Michael Haneke) 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1995, Ö/D, R: Michael Haneke) Funny Games (1997, D, R: Michael Haneke) Signs (2002, USA, R: M. Night Shyamalan) The Core (2003, USA, R: Jon Amiel) The Day After Tomorrow (2004, USA, R: Wolfgang Emmerich) Wolfzeit (2003, F/D/Ö, R: Michael Haneke)

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Oscar figur ier t Geschichte : Die deutschen Nominierungen in der Endausscheidung um den ›Oscar‹ Hans Jörg Schmidt

Seit 1957 verleiht die 1929 ins Leben gerufene Academy of Motion Arts and Picture Sciences alljährlich einen Academy Award of Merit – außerhalb von Cineasten-Kreisen besser bekannt als ›Oscar‹ – an den besten nichtenglischsprachigen Film. 1 In den Jahren von 1947 bis 1955 gab es kein spezifisches Nominierungsverfahren hierfür, sondern wurde der ›AuslandsOscar‹ außerhalb des Wettbewerbs als Sonderpreis vergeben. Erst mit dem Jahr 1956 (verliehen 1957) setzte – analog zu dem ansonsten von der Academy angewandten Auswahlverfahren, das fünf Nominierungen triff t – ein regulärer Wettbewerb um den besten fremdsprachigen Film ein. In der erstgenannten Zeitspanne bis 1956/57 dominierten Filme aus Frankreich, Italien, Spanien und Japan. Mit dem Beginn der Nominierungen für das Filmjahr 1956 setzte die deutsche Präsenz in Hollywood ein. Jährlich unterbreitet seither die Export-Union des deutschen Films (ab 2004 German Films Service & Marketing GmbH) mit Sitz in München einen Vorschlag zur Aufnahme in die Endausscheidung. Insgesamt sechzehn Mal war ihre Lobbyarbeit bis dato von Erfolg gekrönt.2 Drei Mal gelang es den 1 Vgl. Hans Jürgen Kubiak: Die Oscar-Filme. Die besten Filme der Jahre 1927/28 bis 2004, die besten nicht-englischsprachigen Filme der Jahre 1947 bis 2004, die besten Animationsfilme der Jahre 2001 bis 2004, Marburg 2005, sowie Norbert Stresau: Der Oscar. Alle preisgekrönten Filme, Regisseure und Schauspieler seit 1929, München 1994. 2 Nominiert für die Preisverleihung im Jahr 1957: Helmut Käutner: Der Hauptmann von Köpenick; 1958: Robert Siodmak: Nachts wenn der Teufel kam; 1959: Franz Peter Wirth: Helden; 1960: Bernhard Wicki: Die Brücke; 1974: Maximilian

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deutschen Wettbewerbsteilnehmern gar, den ›Oscar‹ für den besten nichtenglischsprachigen Film zu gewinnen. Als empirische Grundlage des Vortrages, der die These vertritt, dass in den fi lmischen Beiträgen das Deutungsmuster ›Alterität‹ als Strategie der Vergangenheitsbewältigung eine zentrale Rolle spielt, sollen die sechzehn von der Academy nominierten deutschen Werke herangezogen werden.3 Bereits die bloße Betrachtung ihrer Titel lässt die genannte These, ungeachtet einer eingehenderen inhaltlichen Analyse, wahrscheinlich werden. Ein weiteres Charakteristikum der fi lmischen Beiträge ist ihr Fokus auf die Auseinandersetzung mit diktatorischer Vergangenheit in verschiedensten Ausprägungen. Ein Schwerpunkt liegt auf der fi lmischen Repräsentation der Entwicklung und Auswirkungen des nationalsozialistischen Regimes. Durch die Norm-Abweichung innerhalb der fi lmischen Inszenierung diktatorischer Vergangenheit wird über einen personal dargestellten Plot, der anhand eines oder mehrerer Protagonisten von einem ›Anderen Deutschland‹ berichtet, ein wirkkräftiges Deutungsmuster zur Vergangenheitsbewältigung bereitgestellt und ein Beitrag zur geschichtspolitischen Normalisierung geleistet. In erster, thesengenerierender Annäherung lassen sich gewisse Linien historischer Blickfeldverschiebungen herauskristallisieren – gebrochen oder verstärkt durch die Auswahl der Academy und gesteuert durch die Aushandlungsprozesse der Nominierungsinstanzen, die bei eingehenderer Untersuchung noch zu rekonstruieren sind, sei einmal bis zu ausgreifenderer wissenschaftlicher Diskursanalyse der multiplexen Nominierungspraxis dahingestellt: Anfänglich werden deutsche Filme, wohl nicht nur verfahrensbedingt, für gut ein Dezennium nicht berücksichtigt. Danach setzt eine indirekte, komödiantisch-verlachende Auseinandersetzung mit den Grundlagen diktatorischer Vergangenheit ein. Dies geschieht erstmals im Jahr 1958 mit der Reflexion über den autoritären Charaktertypus in Form einer mit dem Stempel der Alterität gekennzeichneten Figur, die Schell: Der Fußgänger; 1977: Frank Beyer: Jakob der Lügner (DDR); 1979: Hans W. Geißendörfer: Die gläserne Zelle; 1980: Volker Schlöndorff: Die Blechtrommel; 1986: Agniezka Holland: Bittere Ernte; 1991: Michael Verhoeven: Das schreckliche Mädchen; 1993: Helmut Dietl: Schtonk!; 1998: Caroline Link: Jenseits der Stille; 2003: Caroline Link: Nirgendwo in Afrika; 2005: Oliver Hirschbiegel: Der Untergang; 2006: Marc Rothemund: Sophie Scholl – Die letzten Tage; 2007: Florian Henckel von Donnersmarck: Das Leben der Anderen (Schlöndorff, Link, Donnersmarck erhielten den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film). 3 Vgl. für kurze Charakteristiken, Materialien, Screenshots und Trailer zu den Filmen auch die Informationsportale: www.deutscher-tonfilm.de, www.film portal.de, www.imdb.com.

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sich als Hauptmann von Köpenick das Wissen um die autoritäre Norm für ihre Zwecke zu eigen macht. Die Beschäftigung mit dem beschädigten soldatischen Ideal sowie mit der grauenhaften Brutalität des Krieges und des NS-Regimes prägen die nachfolgenden Nominierungen (Die Brücke, Nachts, wenn der Teufel kam), bevor die Auseinandersetzung mit dem Holocaust (Jacob der Lügner) – bezeichnenderweise die erste und einzige Berücksichtigung eines in der DDR produzierten Filmes – in das Blickfeld tritt. Oskar Mazerath in Schlöndorffs Grass-Verfi lmung ist dann eine nahezu klassische Figur des Anderen. Das Gesellschaftspanorama Die Blechtrommel besetzt nicht nur infolge der Auszeichnung mit dem Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film eine wichtige Scharnierstelle im Prozess der fi lmischen Vergangenheitsarbeit mittels der Strategie ›Alterität‹. Onto- und Phylogenese einer Epoche treten in Schlöndorffs Anlage des Pimpfs Oscar Mazerath der Grass’schen Romanvorlage zum Vorschein. Über Film-Geschichten, die von der Flucht vor den Nationalsozialisten erzählen (Bittere Ernte) und den Weg ins Ausland beschreiten, wie das etwa im preisgekrönten Beitrag Nirgendwo in Afrika Charlotte Links der Fall ist, kommt es zur Auswahl von Filmen, die sich in gewisser Weise metareflexiv mit dem sensationslüsternen, aber zugleich noch stets höchst tabuisierten Umgang mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen (Schtonk!, Das schreckliche Mädchen). Danach findet eine Blickfeldverschiebung hin zur Täterperspektive statt, die ihren ›Gipfel‹ in Oliver Hirschbiegels Der Untergang erreicht. Hierauf wird die im öffentlichen Diskurs kontrovers aufgenommene Entwicklung hin zur Tätergeschichte durch einen Rekurs auf die Opferperspektive sozusagen ›korrigiert‹ und mit Sophie Scholl – Die letzten Tage wiederum ein personal greif bares ›Anderes Deutschland‹ dem Millionenpublikum als oscarwürdig präsentiert. Reichlich ein Dezennium nach dem ›Untergang‹ der DDR öff nen sich dann auch die Kinosäle zur Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit. In dem 2007 preisgekrönten Beitrag Das Leben der Anderen fungiert, wie am Titel bereits erkennbar, das inszenatorisch geschickt doppelbödig eingesetzte Deutungsmuster ›Alterität‹ im Abgleich mit der ›DDR-Normalität‹ als zentrale Strategie im Prozess der fi lmischen Aufarbeitung deutscher (Zeit-) Geschichte. Nach dieser kurzen tour d’horizon durch ein halbes Jahrhundert deutscher Filmpräsenz in Kaliforniens Traumschmiede Hollywood geht es im Folgenden darum, die fi lmische Inszenierung von personal erzählten Geschichten – und qualitativ äußerst frappant: von kontextprägender (Diktatur-)Geschichte – auf ihre Erzählstrategien zu analysieren und mit historischen Diskursen zu komplementieren. Seit Adorno zählt die Figur des autoritären Charaktertypus zu einem 331

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der wirkmächtigsten Diskurspromotoren, die soziologische und psychologische Fragestellungen in Hinblick auf die Genese des Nationalsozialismus miteinander verknüpft. 4 Helmut Käutners fi lmische Umsetzung des Zuckmeyer’schen Dramas Der Hauptmann von Köpenick kann durchaus vor diesem Diskurshintergrund gesehen werden.5 In Käutners Beharren auf Heinz Rühmann als Hauptdarsteller, mit dem er sich gegen die Produzenten und Nazi-Opfer Walter Koppel und Gyula Trebitsch durchsetzte, spiegelt sich der Versuch, ein »deutsches Märchen«, wie bereits Zuckmayers bezeichnender Untertitel lautet,6 mit einem tragikomischen, persönlich in die Wirren des NS verstrickten Helden zu besetzen. Sicherlich spielte Zuckmeyers Bekanntheit in den Vereinigten Staaten für die Nominierung der Geschichte um den in Armut lebenden Berliner Schuster Voigt eine entscheidende Rolle. Die sture Befolgung von Regularitäten eines bürokratistischen Regimes und der Militarismus gleichsam als Ersatzreligion stehen im geschichtspolitischen Hintergrund der Handlung, die sich um den von Rühmann dargestellten Hauptmann Voigt rankt. Die Auszeichnung mit dem Filmband in Gold als ›Bester Film demokratischen Gedankens‹ verweist auf den aufklärerisch-pädagogischen Impetus, den die zeitgenössische Kritik dem im Film karikierten Spiel mit den autoritären Mentalitätsformationen des Preußentums zumaß. ›Der Abend‹ vom 1. September 1956 lobte Rühmanns Darstellung des Hauptmanns in höchsten Tönen und strich besonders heraus, es sei die »Sternstunde« des Schauspielers, wie er als Voigt »unsicher durch die falsche Weltordnung taumelt, wie er kapituliert und erst still und dann aus der Verzweiflung heraus übermütig wird«. Und die »prächtige Ironisierung der Allgewalt der preußischen Uniform«7 war selbst dem Handbuch der katholischen Filmkritik eine lobende Bemerkung wert. Hierin spiegelt sich zugleich die beginnende Totalitarismus-Debatte, die insbesondere von der katholischen Kirche geführt wurde, insofern der noch stets in seinen Nachwirkungen präsente Nationalsozialismus als unmittelbare Bedrohung der katholischen Totalitätsansprüche erfahren wurde. Hierin und in der durch den kalten Krieg beförderten Debatte um die

4 Vgl. Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson u.a.: »Studies in the Authoritarian Personality«, in: Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften II. Erste Hälfte, hg. v. Susan Buck-Mross/Rolf Tiedemann (Gesammelte Schriften, Bd. 9,1), Frankfurt a.M. 1975, S. 237-509. 5 Kinostart 1956, nominiert 1957. 6 Vgl. Carl Zuckmeyer: Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen, Frankfurt a.M. 1990. 7 Handbuch der katholischen Filmkritik, Bd. 5, Düsseldorf 1963, S. 178.

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Ursprünge totalitärer Herrschaft könnte eine geschichtsdiskursive Erklärung für die Berücksichtigung des Films liegen. Gewaltverbrechen und SS-Methoden sind es dann, die ein Jahr später im Mittelpunkt der mit Mario Adorf besetzten Inszenierung über den angeblichen Massenmörder Bruno Lüdke stehen. In Nachts, wenn der Teufel kam 8, gelangt ein häufig anzutreffendes Deutungsmuster zum Tragen, das die Auslagerung der nationalsozialistischen Schreckenstaten auf die metaphysische Ebene des Bösen als Erklärung des Unsäglichen bereithält. Erneut ist, wie im Hauptmann von Köpenick, auch das psychologische Erklärungsmoment vertreten, da von dem zunächst beschuldigten Parteifunktionär Willi Keun der Verdacht auf den von niemand ernstgenommenen, psychisch gestörten Hilfsarbeiter Bruno Lüdke wechselt. Diese Theorie findet bei SS-Gruppenführer Rosdorf Anklang, da jener dadurch ein Argument zur Vernichtung geistig Behinderter geliefert bekommt. Als sich die Täterschaft des Verwirrten Lüdke als begründet erweist, bricht sich die Willkürherrschaft und moralische Korruption des NS-Regimes Bahn: Im Nationalsozialismus sei es, so gibt der von Hannes Messemer gespielte SSGruppenführer Rosdorf kund, nicht möglich, dass jahrelang ein debiler Massenmörder ungestraft herumlaufe. Um dieses Versagen des Regimes zu vertuschen, wird der zu Unrecht verdächtigte Keun als Täter hingerichtet und der Täter Lüdke ohne Gerichtsverfahren umgebracht. Der Film ist in der Grundkonstellation an den Fall des Hamburger Serienmörders Fritz Haarmann, der in den 20er Jahren dort sein Unwesen trieb, angelehnt. Reclams Lexikon des deutschen Films hebt die »überzeugende Skizzierung des zeithistorischen Hintergrunds« durch den Regisseur Robert Siodmak hervor und verweist darauf, dass der Film eine der »beklemmendsten Studien über die Verbindung von Totalitarismus, Gewalt und Verbrechen« sei, die das deutsche Kino darzubieten habe.9 Helden von Franz Peter Wirth 10 greift auf eine dramatische Vorlage George Bernhard Shaws zurück, im Original Arms and the Man. 11 Der Krieg zwischen Bulgarien und Serbien im letzen Viertel des 19. Jahrhunderts bildet den geschichtlichen Hintergrund. Im Zentrum des Films steht der von O. W. Fischer gespielte Deserteur Bluntschi, der die Flucht dem Heldentod auf dem Schlachtfeld vorzieht, nachdem er bemerkt, dass er von seinen Kameraden im Stich gelassen wurde. Nach der Rückkehr aus 8 Kinostart 1956, nominiert 1958. 9 Thomas Kramer (Hg.): Reclams Lexikon des deutschen Films, Stuttgart 1995, S. 231. 10 Kinostart 1959, nominiert 1960. 11 Vgl. George Bernhard Shaw: Arms and the Man, London 1984. (Ders.: Helden, Frankfurt a.M. 1990).

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dem Krieg führt der Deserteur mit einem Nebenbuhler ein Duell um seine Angebetete Raina (gespielt von Lieselotte Pulver). Ein Happy End löst die Spannungen in Wohlgefallen auf. Das kurz nach der Wiederbewaffnung Deutschlands produzierte Werk nähert sich der Auseinandersetzung mit dem soldatischen Ideal und stellt implizit die in den End-50ern vieldiskutierte Frage, ob eine Wiederbewaffnung oder ein Verzicht auf Verteidigung sinnvoll sind. In den beiden antagonistischen Figuren zeigt sich, dass für den Einzelnen auf der kollektiven Ebene durchaus ein Rückzug von den Waffen möglich ist. Wenn aber Fragen der Ehre auf individueller Ebene verhandelt werden, wird vom Film das Gefecht in Form der Satisfaktion des Fin de Siècle als legitimes Mittel präsentiert. Die doppelte Erzählfiguration, die zwischen Kollektivund Individualbetrachtungsweise changiert, ist teilweise der zeitlichen Verortung der Rahmenhandlung um 1885 geschuldet. Bluntschi als sich duellierender Waffendienstverweigerer verbindet diese beiden Ebenen miteinander. Inwieweit in der recht getreuen Adaption Reflexe der Entstehungszeit zu erkennen sind, lässt sich über die Wahl des Stoffes hinaus, die den zeithistorischen Kontext widerspiegelt, schwerlich beurteilen. Einen großen Teil zur Auswahl des Film für die Endausscheidung um den besten nicht englischsprachigen Film erklärt sich sicherlich in der Umsetzung des Shaw’schen Dramas und der Besetzung der Figuren durch bekannte Schauspieler. Bernhard Wickis Die Brücke ist vielfach behandelt und als Klassiker des deutschen Nachkriegs-Kriegsfi lms bezeichnet worden, 12 weswegen hier lediglich auf den geschichtsdiskursiven Kern des 1960 von der Academy nominierten Films zurückgegriffen werden soll: Die Frage nach soldatischem Heldentum und ergebener Diensttreue, die sich bis in die Problematik des vernunftwidrigen blinden Gehorsams hinein erstreckt, wird gekoppelt an den unmenschlichen Umgang mit jugendlicher Begeisterungsfähigkeit im NS-Regime. Hiermit schließt der Film über sieben Jungen, die in einer bayerischen Kleinstadt die sinnlose Verteidigung einer Brücke vor den heranrückenden Amerikanern bis zum Äußersten aufrechterhalten, in gewisser Weise diskursiv an die vorherigen an, weitet die Perspektive jedoch stärker ins Kollektive aus. Beide Filme, sowohl Die Brücke wie auch Helden gehen an wenigen Protagonisten orientiert der Problematik auf den Grund, wie sich Menschen in militärischen, von Subordinationsverhältnissen geprägten Situationen verhalten und worin die Ursachen für die Befolgung oder den Ausbruch aus diesen Situationen gefunden werden können. Ist Bluntschis Welt noch eine beschauliche, mit alten, teilweise vormodernen Ehrvorstellungen, kontrastiert die Darstellung des Soldati12 Kinostart 1959, nominiert 1960.

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schen in Wickys Brücke hierzu. Nur ein einziger der sieben Jungen bleibt am Leben. Bei Wicky gibt es kein Happy End, sondern die Realität moderner Kriegsführung. Erst nach einer Lücke von fast eineinhalb Dezennien erfolgt im Jahr 1974 wieder die Nominierung eines in Deutschland produzierten Films durch die Academy. Auch Maximilian Schells Der Fußgänger setzt sich mit der Problematik der Hitlerdiktatur auseinander. 13 Jedoch steht nicht die Vorgeschichte oder das verbrecherische Handeln des NS-Regimes im Mittelpunkt der teilweise dokufi ktionalen Handlung, sondern wird die Frage der Schuld und der Umgang mit dieser erörtert. Hierin spiegelt sich der vergangenheitspolitische Diskurs der beginnenden 70er Jahre. Im Film deckt ein Boulevardreporter auf, dass der von Gustav Rudolf Sellner gespielte Großindustrielle Gieße während des NS-Regimes wohl ein furchtbares Verbrechen begangen hat. Multiperspektivisch wird nun im Film beschrieben, wie sich die einzelnen Charaktere auf den bevorstehenden Prozess vorbereiten. Vergangenheitsaufarbeitung ist das zentrale Thema, was sich anhand verschiedener zitathaft wirkender Aussprüche der Figuren gut nachvollziehen lässt. Gieße spricht zu Beginn des Films beispielsweise geschichtsreflexiv zu seinem Enkel: »Geschichte ist, was wichtig ist, was vor 300 Jahren und was gestern war.« Durch eine biographische Extremsituation wird Giese im Laufe der Handlung wieder an seine unbewältigte Vergangenheit während des Dritten Reichs erinnert. Nach einem von ihm verursachten Verkehrsunfall ist sein Sohn ums Leben gekommen. Hierdurch zur Selbstreflexion angestoßen betrachtet Gieße sein Leben aus dem Blickwinkel der Schuld. Im erinnernden Rückblick auf die NS-Zeit bleibt allerdings nebulös, ob Giese als Kommandant deutscher Truppen ein griechisches Dorf hat auslöschen lassen und dabei selbst zur Waffe gegriffen hat. Auch eine Augenzeugin vermag dies nicht mehr definitiv aufzuhellen. Jedenfalls beginnt durch die wieder präsent gemachte Vergangenheit Gieses eine Hexenjagd auf den Industriellen, die mehr und mehr aus dem Ruder läuft. Historisches Geschehen und im Laufe der Zeit eingebrachte Erinnerungspartikel fließen am Ende des Films ineinander und lassen eine eindeutige Bewertung der Rolle Gieses im Dritten Reich unmöglich werden. Frank Beyers Jacob der Lügner ist der einzige Film aus DDR-Produktion, der in Hollywood bei der Auswahl zum besten nicht-englischsprachigen Film zu reüssieren vermochte.14 Entscheidend im Vergleich mit den vorhergehenden Nominierungen ist der Wechsel der Perspektive, die nicht Täter bzw. Repräsentanten des Regimes in den Vordergrund stellt, sondern die 13 Kinostart 1974, nominiert 1974. 14 Kinostart 1974, nominiert 1977.

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Auseinandersetzung mit den Opfern diktatorischer Gewalt und den Bedingungen in einem lebensbedrohlichen Regime zeigt. Die Bundesrepublik hatte in den 70er Jahren diesen Wandel in der historischen Betrachtung des NS-Regimes zwar ebenfalls vollzogen, doch war die DDR aufgrund ihres offiziellen Anspruchs als antifaschistischer Staats früher in die – wenngleich instrumentalisierte – Auseinandersetzung mit dem Holocaust eingetreten. Heinz Rühmann, der bereits im Hauptmann von Köpenick in der Person des Schusters Voigt eine Facette der deutschen Geschichte verkörpert hatte, sollte zunächst die Rolle Jakobs spielen, konnte aber aufgrund der Interventionen Erich Honeckers nicht zum Zuge kommen. Im fi lmischen Plot selbst wird die Situation der von der Endlösung bedrohten Häftlinge abgebildet an einem Schlitzohr und Überlebenskünstler, mithin wird die Annäherung an das Thema Holocaust mit verlachenden Elementen aufgenommen. Der Schauplatz ist ein osteuropäisches Ghetto, in dem Jakob interniert ist. Er hat sich zur Aufgabe gemacht, den Mitinsassen Hoffnung auf Befreiung durch die Rote Armee zu machen. Ausgelöst von einer Nachricht über den Vormarsch der Truppen, die er zufällig mitgehört hat, fingiert er weitere Nachrichten, um die Zukunft hoffnungsfroher darzustellen. Und tatsächlich hellt sich die Stimmung im Ghetto auf. Als ein kleines Mädchen hinter Jacobs Lügengeheimnis kommt, befindet sich Jacob der Lügner in einem Zwiespalt. Im in Ostberlin publizierten Filmspiegel kommentierte Klara Anders unter dem Titel ›Nicht nur Historie‹, dass sich Beckers Film und eine Reihe anderer Filme dieses Jahrgangs »teilweise direkt oder indirekt mit dem Kampf gegen den Faschismus auseinandersetzen, aber Geschichte nicht nur rekonstruieren wollen, sondern sich Fragen zuwenden, die über die Historie hinaus für Menschen stehen«15 . Sie behauptet fernerhin eine Anpassung an die Normalität des Menschlichen, die sich im Film widerspiegele. Dem heutzutage eher als Produzent der Lindenstraße bekannten Filmemacher Hans W. Geißendörfer war es im Jahr 1979 vergönnt, mit seinem Werk Die gläserne Zelle in die Endauswahl um den besten ausländischen Film zu gehen. Im Zentrum des Films steht ein weiteres Mal die Schuldfrage, jedoch auf die Individualebene verlagert. Der nach Motiven von Patricia Highsmith erzählte Plot zeigt einen nach fünfjähriger, zu Unrecht verbüßter Haft aus dem Gefängnis entlassenen Architekten, der die wahren Schuldigen für einen nicht direkt von ihm zu verantwortenden Unglücksfall dingfest machen möchte. An der Person Philipp Braun wird die soziale und psychologische Ursache von Schuld einerseits, die moralische Komponente der Schuld andererseits kontrastiv gegenübergestellt und nach tiefe15 Klara Anders: »Nicht nur Historie«, in: Filmspiegel, Nr. 11, Jg. 1975.

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ren Ursachen von Verbrechen in den Grundlagen der Gesellschaft gesucht. Der ungestraft davongekommene Bauunternehmer Lasky, der bereits für Brauns Inhaftierung wegen einer mängelhaft ausgeführten Treppe, bei deren Einsturz ein Kind ums Leben kam, verantwortlich war, stiftet letztendlich den nach Gerechtigkeit suchenden, von der Gesellschaft zunehmend distanziert aufgenommenen Braun zu einem Mord an. Der Film fällt insofern aus der Reihe der bisherigen Nominierungen der Academy heraus, als erstmals kein Bezug zu einem diktatorischen System oder zu militärischen bzw. soldatischen Zusammenhängen zu erkennen ist. Die Frage der Schuld ist allerdings ein Element, das auch in vorhergehenden Filmen eine wichtige Rolle spielte. Mit Schlöndorffs Verfi lmung16 der Grass’schen Romanvorlage 17 Die Blechtrommel kommen wir wieder zurück in den Sog des Nationalsozialismus, sehen allerdings einen neueren, multiperspektivisch-gesellschaftspsychologischen Deutungsansatz auf die Ursachen des Dritten Reiches, der in gewisser Weise auch Geißendörfers Film, allerdings angewendet auf eine andere Zeit, zugrunde lag. Steht in den meisten der vorhergehenden Nominierungen die Frage nach der Genese des autoritären Charaktertypus im Zentrum, wird diese hier eher dem erzählerischen Kontext überlassen. Im Mittelpunkt der Filmhandlung steht vielmehr der verschreckende, im Jahr 1924 geborene Oskar, der sich von seiner Umwelt absetzt, indem er als Dreijähriger beschließt, sich äußerlich nicht weiterzuentwickeln. Damit will er den Einflüssen der Erwachsenenwelt entgehen, spiegelt deren Normalität aber durch sein Anders-Sein umso mehr. Insofern ist die diktatorische Umgebung eher Staffage für die Entfaltung einer Persönlichkeit, die durch ihr normabweichendes Potenzial dafür einsteht, sich gegen die vermeintlich unaufhaltsamen Entwicklungen des heraufkommenden Nationalsozialismus zu stellen. Oskar, ein frühreifes, hellhöriges Bürschchen, entwickelt sich zu einem Seismographen der Zeit. Der Protest gegen die von Machtverhältnissen geprägte Welt der Erwachsenen, wenngleich sich Oskar auch als Künstler zur Belustigung der Nazi-Truppen zur Verfügung stellt, steht im Vordergrund. In einzelnen Szenen lässt Schlöndorff eine direktere, geschichtsdidaktischere Darstellung als die Romanvorlage erkennen. Die Auszeichnung des Film mit dem Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film ist möglicherweise auch ein Zeichen für die mentale Annäherung der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik in Zeiten des Kalten Krieges, gleichfalls jedoch in weitaus größerem Maße Zeichen der Meisterschaft von Romancier und Filmemacher. 16 Kinostart 1979, nominiert 1980. 17 Vgl. Günter Grass: Die Blechtrommel, Neuwied 1959.

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Bittere Ernte unter der Regie der polnischen Filmemacherin Angniezka Holland 18 ist angelehnt an die Romanvorlage von Herman H. Field und Stanislaw Mierzinsky. 19 Der Film zeigt den Winter des Jahres 1942/43, als es der Medizinstudentin Rosa Eckart gelingt, aus einem Zug zu fl iehen, der sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn in ein Konzentrationslager bringen soll. Nach der geglückten Flucht triff t sie, getrennt von Sohn und Mann, auf den einsiedelnden Bauern Leon Wolny, der sich ihrer annimmt und sie in zunehmendem Maße bedrängt. In einer unglücklichen Verkettung von Ereignissen verfällt Rosa dem Eindruck, ihr Gastherr, der als ›Volksdeutscher‹ Profiteur der deutschen Besatzung ist, wolle sie den deutschen Truppen ausliefern und nimmt sich das Leben. Hier steht die Frage des politischen Opportunismus im Widerstreit mit dem persönlichen Gefühlsleben, denn zwischen dem schratigen Leon und der freiheitssuchenden Rosa entwickelt sich im Laufe der Zeit eine verwickelte Beziehung. Der psychologisch feinfühlig inszenierte Film wirft einen Blick aus der Opferperspektive auf die Ängste und Wirrnisse, die im Misstrauen gegenüber dem Anderen, der sich in einer ähnlichen Ausnahmesituation befindet, entstehen. Besonders eindrücklich ist die Eingangsszene, in der durch den nur schemenhaften Blick hindurch zwischen zwei Holzbrettern eines Waggons hinaus ins Freie sich die Ängste und Schrecknisse des Holocausts entfalten. Der im Jahr 1991 nominierte Film Michael Verhoevens, in dessen Fokus die unbändige Neugierde des titelgebenden Schrecklichen Mädchens auf die Vergangenheit ihrer Heimatstadt steht,20 wendet sich der reflexiven, nicht zeitunmittelbar oder präfigurativ erzählten Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit des NS-Regimes zu. Nicht das Jahr 1942/43, sondern die trügerische Idylle des bayerischen Dorfes Pfitzig bildet den Rahmen der Handlung, in der die Klosterschülerin Sonja für die erfolgreiche Teilnahme an einem internationalen Aufsatzwettbewerb zunächst gefeiert wird, als sie sich daraufhin aber dem Thema ›Meine Stadt im Dritten Reich‹ annimmt, mit dem Konsens des nachkriegsbundesrepublikanischen Stillschweigens über die Nazi-Vergangenheit konfrontiert wird. Während ihrer Recherchen erfährt sie zunehmende Behinderungen, wird zum Schrecklichen Mädchen erklärt, und gibt zunächst entmutigt auf. Als sie ihre entmutigenden Erfahrungen Jahre später in einem Buch verarbeitet, wird sie gar als Nestbeschmutzerin angesehen und muss um ihre Gesundheit bangen. Mit der teilweise satirisch überzeichneten 18 Kinostart 1985, nominiert 1986. 19 Vgl. Herman H. Field/Stanislaw Mierzinsky: Bittere Ernte, Frankfurt a.M. 1964. 20 Kinostart 1990, nominiert 1991.

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Darstellung einer unliebsamen Vergangenheitsaufarbeitung wird über die Mechanismen der Verdrängung und deren Einflüsse auf das Alltagshandeln der fi lmischen Gegenwart reflektiert. Erwähnenswert ist, dass sowohl Das schreckliche Mädchen als auch der zwei Jahre später nominierte Film Schtonk nicht mehr auf rein fi ktionale Vorlagen zurückgreifen oder die Geschichten frei konstruieren. Der verstärkte Rückgriff auf faktisch-realhistorische Gegebenheiten hält dadurch als authentifizierendes Mittel Einzug in die fi lmische Darstellung. Michael Verhoevens Film über Das schreckliche Mädchen, der mit dem ›Silbernen Bären‹ ausgezeichnet wurde, lief nur für kurze Zeit in den Kinos. Carsten Visarius fragte angesichts der geringen Resonanz auf den ästhetisch und thematisch differenzierten Film, der sich der Erinnerungslücke bezüglich der Jahre 1933 bis 45 annimmt: Ist es die Trägheit des Publikums, die sich allen Abweichungen von den gewohnten narrativen Konzepten verweigert, die Abneigung gegen Verhoevens Thematik oder die Blockadepolitik der amerikanischen Verleihfirmen, die ihre schwächeren Konkurrenten an den Rand drängen? Oder ist es der Mangel an Geduld und Ausdauer seitens der Kinobetreiber, die einem anfangs nur zögernden Zuspruch findenden Film die nötige Anlaufs- und Entwicklungszeit nicht gönnen wollen oder können? Es sieht ganz danach aus, als zerstörte der vereinte Konformismus von Konsumenten und Industrie die Vielfalt der Produktions- und Wahrnehmungsmöglichkeiten.21

Eine weitere Parallele zwischen dem Schrecklichen Mädchen und Schtonk kann in der satirisch-überzeichnenden Darstellung beider Filme gesehen werden. Auch Schtonk ist ein Film, der den einerseits tabuisierenden, anderseits aber gleichfalls sensationslüsternen, in jedem Fall aber unsicheren Umgang mit dem NS-Regime thematisiert.22 Dietls Filmsatire auf die gefälschten Hitler-Tagebücher Konrad Kujaus macht die reflexartigen Mechanismen mittels stilisierter Kunstmittel transparent. Rudolf Worschech bemerkte in einer Kritik, der Film handele von »Kontinuität, deutscher Kontinuität« und greife »weit zurück, um eine direkte Verbindung zwischen den Altnazis und Geschäftemachern von heute und dem Objekt ihrer Verehrung herzustellen. In einer der großartigsten Expositionen der neueren deutschen Filmgeschichte« schlage »er einen Bogen von 1945 bis in die achtziger Jahre. Deutsche Geschichte im Zeitraffertempo, ein respektloser schneller Vorlauf in fünf Minuten«23 .

21 Karsten Visarius, in: epd Film, Nr. 4, April 1990. 22 Kinostart 1992, nominiert 1993. 23 Rudolf Worschech, in: epd Film, Nr. 4, April 1992.

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Als Schlüsselsatz fand der bezeichnende Ausspruch des Stern-Chefredakteurs Peter Koch als Authentifizierungsmittel Eingang in die Verfi lmung Dietels: »Weite Teile der deutschen Geschichte müssen neu geschrieben werden.«24 Eine Gemengelage von Sensationsgier, Tabuisierung und Mythisierung des Nationalsozialismus wird im satirisch angelegten Film kombiniert mit der Kritik an der Verklärung des Dritten Reichs. Mit weiteren fünf Jahren Abstand zum NS-Regime ist Caroline Links Jenseits der Stille einer der wenigen von der Academy nominierten Filme, die nicht mit Reminiszenzen an die diktatorische Vergangenheit aufwarten.25 Die ruhige, so gar nicht sensationslüsterne Geschichte eines Mädchens, das als Übersetzerin ihrer Eltern und deren Brücke zur »normalen Welt« fungiert, sich mit zunehmender Zeit aber von ihnen emanzipiert, setzt sich von der Reihe der vorherigen Nominierungen ab. Erst nochmals fünf Jahre später ist es wiederum Caroline Link, die es mit ihrem Film Nirgendwo in Afrika in die Vorauswahl der Hollywood-Jury schaff t.26 Diesmal bildet jedoch um ein weiteres Mal mehr das nationalsozialistische Deutschland den Bezugspunkt der Filmhandlung. Link inszeniert die von Stefanie Zweig herrührende Fluchtgeschichte der Familie Redlich nach Kenia vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland.27 Durch Flucht bringen sich die Protagonisten in Sicherheit vor den Unwägbarkeiten des Regimes. Die Emigration ist eine Facette, derer auch die Geschichtsschreibung über das Dritte Reich relativ spät habhaft wurde und seit Ende der 80er Jahre mehr Aufmerksamkeit in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit fand. Doch steht eher die innere Entwicklung der Protagonisten und deren Umgang mit der Emigrationssituation im Mittelpunkt der Handlung. Die räumliche Entfernung zum kalten Deutschland der Jahre nach 1933, die eindrucksvoll in den panoramatischen Landschaftsaufnahmen Afrikas kontrastiert, zeigt in gewisser Weise die erzählerische Distanz zum Geschehen, das lediglich den Rahmen und Bezugspunkt der Handlung bildet. Fast könnte man zu der Aussage verleitet werden: ohne Integration eines Bezugs zur NS-Diktatur in den Plot kein Oscar für einen deutschsprachigen Film, denn bekanntlich erhielt Caroline Links Film 23 Jahre nach Schlöndorffs Blechtrommel als zweiter deutscher Wettbewerbsbeitrag den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film verliehen. 24 Hans-Dieter Seidel: »Narren des Schicksals. Die Hitler-Tagebuch-Affäre als Film: Helmut Dietls ›Schtonk‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. März 1992. 25 Kinostart 1996, nominiert 1998. 26 Kinostart 2001, nominiert 2003. 27 Vgl. Stefanie Zweig: Nirgendwo in Afrika, München 2000.

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Die Entwicklungstendenz zu einem zunehmend reflexiven bzw. durch räumliche oder zeitliche Entfernung geschaffenen Abstand zum Thema Nationalsozialismus kommt im Jahr 2005 zum Erliegen. Ein auch in der Historiographie nachzuvollziehender ›Turn‹, weg von einer immer stärker ausdifferenzierten Opfergeschichte hin zur Tätergeschichte, mithin in den personalen Kern des Nationalsozialismus, findet statt: Oliver Hirschbiegels Der Untergang28 sorgte nicht nur maßgeblich für den Konstanzer Historikertag des Jahres 2006 mit dem Thema »GeschichtsBilder«,29 sondern löste auch einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs unter dem weit gefassten Motto »Kann man Hitler verfi lmen?«30 aus. Erstmals stand eine realitätsnah gezeichnete Figur namens Adolf Hitler im Zentrum einer fi lmisch als Großkino inszenierten Vergangenheitsdarstellung. Die Ambivalenz der dadurch entsponnenen Debatte lässt sich daran erkennen, dass der Film in Verkennung seines fiktionalen Charakters häufig im Sinne eines Wahrheitszeugnisses behandelt wurde und insbesondere die ›fi ktiven Personen‹, wie etwa der von Donevan Gunia gespielte Hitlerjunge Peter Kranz, Befremden bei Betrachtern auslösten. Der geschichtsdokumentarische Charakter wurde durch den Rekurs auf Joachim Fests Hitler-Biographie31 und durch die dokumentarische Einbettung der Spielhandlung in Interviewszenen mit Traudl Junge verstärkt. Ob nun Verharmlosung oder Authentizität im Film überwiegen, ist nicht die hier zu beantwortende Fragestellung, sondern frappant ist die Emotionalität der Diskussion und die perspektivische Wendung vom Erzählen der diktatorischen Vergangenheit aus der Opferperspektive zur Täterperspektive. Insofern fand eine thematische Annäherung an die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte statt, die fi ktionale Darstellung rückte wieder dichter an die Zeit des NS heran. Frank Schirrmacher sprach in diesem Zusammenhang in der FAZ von der »Zweiten Erfindung des Adolf Hitler«32 . Die von Schirrmacher behauptete Normalisierung und Enttabuisierung könnte zwar als Anzeichen eines weniger befangenen Umgangs mit der Vergangenheit betrachtet wer28 Kinostart 2004, nominiert 2005. 29 Vgl. Clemens Wischermann: Abschlussbericht 46. Historikertag. GeschichtsBilder, 19.-22. September 2006, Universität Konstanz, Konstanz 2006. 30 Michael Töteberg: »Kann man Hitler verfilmen? Der Untergang hat einen historischen Vorläufer: G.W. Pabsts Der letzte Akt«, in: film-dienst, Nr. 19, 16. April 2004. Töteberg weist darauf hin, dass diese Frage bereits 1955 von Friedrich Torberg gestellt worden sei. 31 Vgl. Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie, 3. Aufl ., Berlin 2006. 32 Frank Schirrmacher: »Die zweite Erfindung des Adolf Hitler. Bernd Eichingers Risiko und Lohn: Sein Film Der Untergang macht das sichtbar, was uns bis heute verfolgt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. September 2004.

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den, doch wird diese These durch die Diskussion um den Film teilweise konterkariert. Schirrmacher befand jedenfalls in rhetorischer Frageweise: Eichinger hat etwas durchbrochen. Ist das schon die ›Normalität‹? Da Eichinger in der Tat der erste Künstler ist, der sich von Hitler nichts mehr vorschreiben lässt, ist es ein Akt von Normalisierung. Und damit ist Der Untergang nicht nur ein großes Kunstwerk, sondern ein wichtiges Datum unserer Verarbeitungsgeschichte. Aber man glaube nicht, dass jetzt irgend etwas leichter geworden ist. Es ist unheimlicher geworden um uns herum. Nähergerückt ist es auch.33

Mit einem die Schuldfrage berührenden Zitat Traudl Junges endet der Film. Rückblickend betrachtet verweist die Referenz der Hitler-Sekretärin an die jahrgangsgleiche Sophie Scholl auf die Oscar-Nominierung des Folgejahres: Eines Tages bin ich an der Gedenktafel vorbeigegangen, die für die Sophie Scholl an der Franz-Joseph-Straße befestigt war, und da hab ich gesehen, dass sie mein Jahrgang war und dass sie in dem Jahr, als ich zu Hitler kam, hingerichtet worden ist. Und in dem Moment hab ich gespürt, dass das keine Entschuldigung ist, dass man jung ist.34

Aus der diametral entgegengesetzten Perspektive eines NS-Opfers bzw. des Widerstands inszeniert und ebenso wie die Hitler-Darstellung historisch fundiert ist der 2006 nominierte Film Sophie Scholl – Die letzten Tage.35 Erstaunlich im Vergleich zum vorhergehenden Film ist der erwähnte Kontrast der Darstellungsperspektiven. Hier wird in einer um 180 Grad veränderten Konstellation die Sicht der couragierten Nazigegnerin, mithin eines personalisierten ›Anderen Deutschlands‹ figuriert. Mit dem Untergang hat Das Leben der Sophie Scholl allerdings den authentifizierenden Rückgriff auf historisches Quellenmaterial gemein, da die Verhörprotokolle von Hans und Sophie Scholl und die in der DDR archivierten Unterlagen der Verhöre Christoph Probsts als Grundlage der Verfi lmung dienten. Der Prozess gegen die Geschwister Scholl aus der Sichtweise Sophie Scholls steht im Mittelpunkt der fi lmischen Darstellung, die von Marc Rothermund nach Möglichkeit an Originalschauplätzen gedreht wurde. Zeitlich parallel zur Hitler-Darstellung sind es die letzten Tage Sophie Scholls, fünf 33 Ebd. 34 Vgl. auch: Tobias Kniebe: »Mit kleinstem gemeinsamem Nenner. Wie Der Untergang versucht, Geschichte, Ideologie und Kino zusammenzubringen«, in: Süddeutsche Zeitung, 15. September 2004. 35 Kinostart 2005, nominiert 2006.

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insgesamt, die den Kern der Darstellung bilden. Die nahezu gleichzeitige Auseinandersetzung mit Täter- und Opferperspektive könnte als Zeichen der Normalisierung betrachtet werden, die Lösung vom Dritten Reich und die Verschiebung auf weitere nur teilweise aufgearbeitete Themen der deutschen Geschichte könnten diese These stützen. Waren es bisher entweder Täter oder Opfer in zeitlich aufeinanderfolgenden Filmen bei ähnlich personalisierten Erzählperspektiven, so erhielt 2007 eine genial doppelbödig erzählte Filmgeschichte von Florian Henckel von Donnersmarck die Nominierung durch die Academy. Im Leben der Anderen werden die Perspektiven verschränkt und parallel miteinander gedacht.36 Das Deutungsmuster Alterität findet in aufeinander bezogenen Täter- und Opferschicksalen gestalterische Form und zeigt in schlichter Darstellung die Banalität bzw. Normalität des Bösen. Henckel von Donnersmarck konnte mit dem Film Das Leben der Anderen, der sich zwar wiederum der diktatorischen Vergangenheit annimmt, aber diesmal das SED-System als fi lmische Folie nutzt, den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film gewinnen. Die Konfrontation von geistiger Freiheit, verkörpert im Schriftsteller Georg Dreymann und seiner Freundin Christa Maria Sieland, mit dem diktatorischen Unrechtsregime des Staatssozialismus, figuriert im Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler und seinen Vorgesetzten, gerät anhand der im Film präsentierten Zwischenmenschlichkeit aus den Fugen. Wieslers Blick auf Das Leben der Anderen lässt ihn über das Leben der vermeintlich Normalen, über das eingeschränkte Leben der Millionen DDR-Bürger reflektieren. Um abschließend kurz zu resümieren: Numerisch betrachtet sind von den 16 Nominierungen der Academy 13 Mal militärische, autoritäre oder diktatorische Kontexte die Folie für die Erzählung historisch perspektivierter Filme. Der Nationalsozialismus ist in fast zwei Dritteln der Filme vertreten. Der Wechsel von Täter- und Opferperspektive und die mit dem Lauf der Zeit auch räumlich zunehmende Entfernung vom diktatorischen Geschehen des NS-Regimes sind zwei Tendenzen, die zusammen mit der zunehmenden Abweichung der Hauptpersonen von der durch die Diktatur gesetzten zeithistorischen Norm Ausdruck der geschichtspolitischen Normalisierung sind bzw. als Reflexivwerden in Hinblick auf die diktatorische Vergangenheit gedeutet werden können. Im fi lmischen Erzählen spiegelt sich somit eine allgemeine Tendenz zur Normalisierung wieder, die die Ergebnisse des geschichtspolitischen Diskurses integriert und eine Entwicklung hin zur Defi ktionalisierung bzw. Authentifizierung aufweist. Die Normalisierung wird vor allem über eine personal inszenierte Alterität erreicht. Insofern können Abweichung von der Norm bzw. Alterität als 36 Kinostart 2006, nominiert 2007.

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fi lmisch vermittelter Gegenentwurf zur Totalität autoritärer und diktatorischer Regime gesehen werden. Möglicherweise fi ndet sich hierin ein den meisten Nominierungen impliziter geschichtsdidaktischer Appell. Und das nur zum Schluss und am Rande: Ein weiterer Schritt zur geschichtspolitischen Normalisierung vermittels des deutschen Spielfi lms könnte der Weg der RAF nach Hollywood sein.

Literatur Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswik, Else/Levinson, Daniel J. u.a.: »Studies in the Authoritarian Personality«, in: Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften II. Erste Hälfte, hg. v. Susan Buck-Mross/ Rolf Tiedemann (Gesammelte Schriften, Bd. 9,1), Frankfurt a.M. 1975, S. 237-509. Anders, Klara: »Nicht nur Historie«, in: Filmspiegel, Nr. 11, Jg. 1975. Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie, 3. Aufl., Berlin 2006. Field, Herman H./Mierzinsky, Stanislaw: Bittere Ernte, Frankfurt a.M. 1964. Grass, Günter: Die Blechtrommel, Neuwied 1959. Handbuch der katholischen Filmkritik, Bd. 5, Düsseldorf 1963. Kniebe, Tobias: »Mit kleinstem gemeinsamem Nenner. Wie ›Der Untergang‹ versucht, Geschichte, Ideologie und Kino zusammenzubringen«, in: Süddeutsche Zeitung, 15. September 2004. Kramer, Thomas (Hg.): Reclams Lexikon des deutschen Films, Stuttgart 1995. Kubiak, Hans Jürgen: Die Oscar-Filme. Die besten Filme der Jahre 1927/28 bis 2004, die besten nicht-englischsprachigen Filme der Jahre 1947 bis 2004, die besten Animationsfi lme der Jahre 2001 bis 2004, Marburg 2005. Schirrmacher, Frank: »Die zweite Erfindung des Adolf Hitler. Bernd Eichingers Risiko und Lohn: Sein Film ›Der Untergang‹ macht das sichtbar, was uns bis heute verfolgt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. September 2004. Seidel, Hans-Dieter: »Narren des Schicksals. Die Hitler-Tagebuch-Aff äre als Film: Helmut Dietls ›Schtonk‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. März 1992. Shaw, George Bernhard: Arms and the Man, London 1984. Shaw, George Bernhard: Helden, Frankfurt a.M. 1990. Stresau, Norbert: Der Oscar. Alle preisgekrönten Filme, Regisseure und Schauspieler seit 1929, München 1994.

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Töteberg, Michael: »Kann man Hitler verfilmen? ›Der Untergang‹ hat einen historischen Vorläufer: G.W. Pabsts ›Der letzte Akt‹«, in: fi lmdienst, Nr. 19, 16. September 2004. Wischermann, Clemens: Abschlussbericht 46. Historikertag. GeschichtsBilder, 19.-22. September 2006, Universität Konstanz, Konstanz 2006. Worschech, Rudolf (o.T.), in: epd Film, Nr. 4, April 1992. Zuckmeyer, Carl: Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen, Frankfurt a.M. 1990. Zweig, Stefanie: Nirgendwo in Afrika, München 2000.

Filme Bittere Ernte (1986, D, R: Agniezka Holland) Das Leben der Anderen (2007, D, R: Florian Henckel von Donnersmarck) Das schreckliche Mädchen (1991, D, R: Michael Verhoeven) Der Fußgänger (1974, D, R: Maximilian Schell) Der Hauptmann von Köpenick (1957, D, R: Helmut Käutner) Der Untergang (2005, D, R: Oliver Hirschbiegel) Die Blechtrommel (1980, D, R: Volker Schlöndorff ) Die Brücke (1960, D, R: Bernhard Wicki) Die gläserne Zelle (1979, D, R: Hans W. Geißendörfer) Helden (1959, D, R: Franz Peter Wirth) Jakob der Lügner (1977, DDR, R: Frank Beyer) Jenseits der Stille (1998, D, R: Caroline Link) Nachts wenn der Teufel kam (1958, D: Robert Siodmak) Nirgendwo in Afrika (2003, D, R: Caroline Link) Schtonk! (1993, D, R: Helmut Dietl) Sophie Scholl – Die letzten Tage (2006, D, R: Marc Rothemund)

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Zu den Autoren Jörn Ahrens, Dr. phil. habil., geb. 1967, ist Privatdozent am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin; er vertritt derzeit die Professur für Kultursoziologie (W3) an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kultur- und Gesellschaftsanalyse; populäre Medien und Kulturen; Fragen der Gewalt, der Subjektivität, der Biowissenschaften, der Arbeit, des Mythos und des Todes. Sabine Biebl, Dr. phil. des., geb. 1974, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Davor war sie lange Jahre als Projektmitarbeiterin in der Neuedition der ›Werke‹ Siegfried Kracauers tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Literatur- und Filmgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Prozesse gesellschaftlicher Selbstbeschreibung sowie Literatur zwischen Philosophie und Theologie. Lorenz Engell, Dr. phil. habil., geb. 1959, ist Film und Fernsehwissenschaftler und Professor für Medien-Philosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Hier war er zunächst ab 1993 Professor für Wahrnehmungslehre, Geschichte und Theorie der Kommunikation und der Medien, dann von 1996-2000 Gründungsdekan der Fakultät Medien und von 2004-2008 Prorektor. Seit 2008 ist er, gemeinsam mit Bernhard Siegert, Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie Weimar. Seine Forschungsschwerpunkte sind Film und Fernsehen als philosophische Apparaturen und Agenturen. Er ist Mitherausgeber des Kursbuch Medienkultur (1999), des Jahrbuchs Archiv für Mediengeschichte (seit 2001), der serie moderner film (seit 2003) und der Zeitschrift für Kulturund Medienforschung (seit 2009).

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Ortrud Gutjahr, Dr. phil. habil., ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Interkulturelle Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft; Literatur und Psychoanalyse; Kulturtheorie und Theaterforschung. Sie ist Mitherausgeberin des Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse und Begründerin und Herausgeberin der Reihe Theater und Universität im Gespräch. Knut Hickethier, geb. 1945, Dr. phil. habil., ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. Er ist Mitherausgeber der fi lmwissenschaftlichen Reihe Auf blende und der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation. Ferner ist er Herausgeber der Reihe Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte. Veröffentlichungen über Medientheorie, Film, Fernsehen und Radio. Lars Koch, Dr. phil., geb. 1973, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Neuere Deutsche Literaturwissenschaften der Universität Siegen und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Er koordiniert das DFG-Netzwerk ›Spielformen der Angst‹ und hat seine Arbeitsschwerpunkte in der Literatur- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts, der Kultur- und Medientheorie, der Imaginationsgeschichte sozialer Insekten sowie in der Angst-Kulturforschung. Ingo Loose, Dr. phil., geb. 1971, ist seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin sowie seit 2007 Dozent für Holocaust Studies am Touro College Berlin. Seit 2009 ist er Geschäftsführer des 48. Deutschen Historikertages 2010 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Holocaust, nationalsozialistische Besatzungspolitik in Osteuropa. Gerhard J. Lüdeker ist Doktorandenstipendiat an der Universität Bremen und Mitarbeiter am Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (ifkud). Er promoviert zum Thema ›Kollektive Erinnerung und nationale Identität im Film. Nationalsozialismus und Wiedervereinigung im deutschen Spielfilm nach 1989‹. Seine Forschungsschwerpunkte sind Erinnerung, Gesellschaft und Moral in den Medien. Lothar Mikos, Dr. phil. habil., geb. 1954, ist Professor für Fernsehwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen ›Konrad Wolf‹ in Potsdam-Babelsberg. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind: Film, Fernsehen und Populärkultur in Theorie und Praxis; Lokale Formatadaptionen im globalen Fernsehmarkt; Globaler Sport/Medien-Komplex; Mediale Ge348

Zu den Autoren

waltdarstellungen; Internationales Kinderfernsehen; Qualitative Methoden der Medienforschung. Susanne Mildner, geb. 1980, schreibt im Rahmen einer vom DAAD, der DFH und der KKGS-Stiftung unterstützten deutsch-französischen Kooperation ihre Cotutelle de thèse zur »Amour à la Werther: ›regard croisée‹ auf einen deutsch-französischen Mythos – Liebeskonzeptionen bei Villers, de Staël, Stendhal und Goethe« (Universität Potsdam/Sorbonne Paris). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Martina Möller, M.A. Germanistik, M.A. Medien- und Kulturwissenschaft, geb. 1970, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaften der Université de Provence I (Aix-Marseille) in Frankreich. Sie arbeitet an ihrer Dissertation zum visuellen Stil im Trümmerfi lm. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Weimarer Kino, ästhetische Opposition im Unterhaltungsfilm des Nationalsozialismus sowie die Filme von Joseph Losey und Béla Tarr. Sören Philipps, Dr. phil., geb. 1971, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar und Forschungskoordinator des Arbeitskreises ›Sicherheit im städtischen Raum‹, Lehrbeauftragter am Historischen Seminar und am Institut für Politische Wissenschaft an der Leibniz Universität Hannover sowie im Modul ›Wissenschaft macht Geschichte‹ an der Leuphana Universität Lüneburg. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Deutschen und Europäischen Zeitgeschichte, der Europäischen Integration sowie des kollektiven Gedächtnisses. Hans Jörg Schmidt, Dr. phil., geb. 1977, ist wissenschaftlicher Assistent im Rahmen der Professur für Politikwissenschaft/Freiheitsforschung & -lehre an der SRH Hochschule Heidelberg und führt die Geschäfte des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung. Er ist Mitglied im DFGNetzwerk ›Spielformen der Angst‹. Seine kulturwissenschaftlichen Untersuchungen erstrecken sich v.a. auf die Forschungsgebiete Alltags- und Populärkultur, Bildungs- und Wissen(schaft)sgeschichte, Deutungsmusteranalyse, Herrscherkult und Politische Religion, Historische Semantik und Freiheitsforschung.

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Waltraud ›Wara‹ Wende, Dr. phil. habil., geb. 1957, ist Inhaberin des Lehrstuhls ›Literatur und Kultur der deutschsprachigen Gebiete‹ der Rijksuniversiteit Groningen (NL); Promotion 1989, Habilitation 1994; Arbeitsschwerpunkte: Kultur-, Literatur- und Mediengeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Niels Werber, Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Geopolitik der Literatur, Medien und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, Theorien der Literatur, Medien der Kunst, Immersion, Soziale Insekten. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Linguistik und Literatur (Lili).

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Sandra Strigl Traumreisende Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem 2007, 236 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-659-5

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