Westlicher Geist im östlichen Körper?: »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike [1. Aufl.] 9783839413500

Stehen weltweit aufgeführte griechische Tragödien tatsächlich - wie vielfach behauptet - für die »Universalität« der ant

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Westlicher Geist im östlichen Körper?: »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike [1. Aufl.]
 9783839413500

Table of contents :
INHALT
EINLEITUNG
I INTERKULTURELLE DISKURSE ALS THEORETISCHE GRUNDLAGE
I.1 KULTURELLE IDENTITÄT
I.1.1 Zum Kultur-Begriff
I.1.2 Diskurs des Begriffs „Kulturelle Identität“
I.1.3 Authentizität und Tradition
I.2 EXOTISMUS UND HYBRIDITÄT
I.2.1 Exotismus
I.2.1.1 Begriffsklärung des Exotismus
I.2.1.2 Problemfeld und kulturkritische Definition des Exotismus
I.2.2 Zum „Hybriditäts“-Begriff und Identitätskonzept
I.2.3 Hybridität und Exotismus im Kontext des postmodernen Spätkapitalismus
II AUFFÜHRUNGSANALYSE ZWEIER ADAPTIONEN VON EURIPIDES’ MEDEA
II.1 MEDEA DES CHINESISCHEN REGISSEURS LUO JIN-LIN
II.1.1 Luo Jin-lin und sein Bezug zur griechischen Tragödie
II.1.2 Transformation des antiken griechischen Theaters zur chinesischen Opernform Hebei Bangzi
II.1.2.1 Dramaturgische Struktur
II.1.2.2 Sprache und Musik
II.1.2.3 Transformation des griechischen Chors
II.1.2.4 Transformation der Medea-Figur des Euripides
II.1.2.4.1 Medeas Identität
II.1.2.4.2 Konflikt zwischen Medea und Jason
II.1.2.4.3 Legitimation des Kindermordes
II.2 LOULAN NÜ ALS MEDEA DER TAIWANESISCHEN REGISSEURIN LIN XIU-WEI
II.2.1 Lin Xiu-wei und die Contemporary Legend Theater Company
II.2.2 Lins „feministische“ Interpretation und dramaturgischer Aufbau
II.2.3 Kulturelles Konglomerat als neues Theatergenre
II.2.3.1 Fiktion von Zeit und Raum
II.2.3.1.1 Kostüme
II.2.3.1.2 Bühne
II.2.3.2 Sprache und Musik
II.2.3.3 Ambivalente Identität des Chors
II.2.3.4 Die Loulan-Prinzessin als „taiwanesische“ Medea
II.2.3.4.1 Ambivalente Identität
II.2.3.4.2 Charakterisierung
II.2.3.4.3 Die Motivation des Kindermordes
II.2.4 Analogie zu Ninagawas Medea-Aufführung
II.2.4.1 Kostüme
II.2.4.2 Schauspielkunst und Rolle des Chors
III FUSION GRIECHISCHER TRAGÖDIEN UND ÖSTLICHER THEATERTRADITIONEN ALS KULTURPOLITISCHE STRATEGIE
III.1 TRANSFORMATION GRIECHISCHER TRAGÖDIEN ZUR INTERNATIONALEN ANERKENNUNG
III.1.1 Hybridität als Exotisierung
III.1.1.1 Ninagawas Konzept
III.1.1.2 Konzept und Rezeption der Aufführung Loulan Nü
III.1.2 „Authentizität“ als reformierte Tradition
III.1.2.1 Rezeption in China
III.1.2.2 Rezeption in Griechenland
III.2 GRIECHISCHE TRAGÖDIEN ALS „UNIVERSELLER“ WESTLICHER KANON
III.2.1 Wiederbelebung des antiken Theaters durch östliche Theatertraditionen
III.2.2 Politische Aspekte der Konstitution eines universellen Kanons
III.2.3 Konstruktion der Universalität des antiken Theaters am Beispiel der „chinesischen“ Aufführung Bakai
III.2.4 Universalismus des Westens als hegemoniale Strategie der USA
Epilog
Literatur
Anhang
Danksagung

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Kuan-wu Lin Westlicher Geist im östlichen Körper?

T h e a t e r | Band 17

Kuan-wu Lin (Dr. phil.) studierte Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin mit Schwerpunkt »Interkulturelles Theater«, arbeitet als Übersetzerin und freie Journalistin für taiwanesische Theaterzeitschriften.

Kuan-wu Lin Westlicher Geist im östlichen Körper? »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike

Die Dissertation wurde durch das NaFöG-Programm der Freien Universität Berlin sowie den Internationalen Graduiertenkolleg »InterArt Studies« unterstützt. Die Veröffentlichung dieser Dissertation wurde durch die Gewährung einer Publikationsbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Lin Xiu-wei, Taipei, 1993 Lektorat & Satz: Kuan-wu Lin und Markus Kirsch Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1350-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

EINLEITUNG 9

I INTERKULTURELLE DISKURSE ALS THEORETISCHE GRUNDLAGE I.1 KULTURELLE IDENTITÄT 27 I.1.1 Zum Kultur-Begriff 27 I.1.2 Diskurs des Begriffs „Kulturelle Identität“ 32 I.1.3 Authentizität und Tradition 39 I.2 EXOTISMUS UND HYBRIDITÄT 50 I.2.1 Exotismus 50 I.2.1.1 Begriffsklärung des Exotismus 50 I.2.1.2 Problemfeld und kulturkritische Definition des Exotismus 55 I.2.2 Zum „Hybriditäts“-Begriff und Identitätskonzept 61 I.2.3 Hybridität und Exotismus im Kontext des postmodernen Spätkapitalismus 69

II AUFFÜHRUNGSANALYSE ZWEIER ADAPTIONEN VON EURIPIDES’ MEDEA II.1 MEDEA DES CHINESISCHEN REGISSEURS LUO JIN-LIN 85 II.1.1 Luo Jin-lin und sein Bezug zur griechischen Tragödie 86 II.1.2 Transformation des antiken griechischen Theaters zur chinesischen Opernform Hebei Bangzi 93 II.1.2.1 Dramaturgische Struktur 94 II.1.2.2 Sprache und Musik 104 II.1.2.3 Transformation des griechischen Chors 107 II.1.2.4 Transformation der Medea-Figur des Euripides 118 II.1.2.4.1 Medeas Identität 124 II.1.2.4.2 Konflikt zwischen Medea und Jason 133 II.1.2.4.3 Legitimation des Kindermordes 141 II.2 LOULAN NÜ ALS MEDEA DER TAIWANESISCHEN REGISSEURIN LIN XIU-WEI 148 II.2.1 Lin Xiu-wei und die Contemporary Legend Theater Company 148 II.2.2 Lins „feministische“ Interpretation und dramaturgischer Aufbau 154 II.2.3 Kulturelles Konglomerat als neues Theatergenre 163 II.2.3.1 Fiktion von Zeit und Raum 164 II.2.3.1.1 Kostüme 164 II.2.3.1.2 Bühne 179 II.2.3.2 Sprache und Musik 182 II.2.3.3 Ambivalente Identität des Chors 186

II.2.3.4 Die Loulan-Prinzessin als „taiwanesische“ Medea 200 II.2.3.4.1 Ambivalente Identität 200 II.2.3.4.2 Charakterisierung 202 II.2.3.4.3 Die Motivation des Kindermordes 209 II.2.4 Analogie zu Ninagawas Medea-Aufführung 214 II.2.4.1 Kostüme 216 II.2.4.2 Schauspielkunst und Rolle des Chors 219

III FUSION GRIECHISCHER TRAGÖDIEN UND ÖSTLICHER THEATERTRADITIONEN ALS KULTURPOLITISCHE STRATEGIE III.1 TRANSFORMATION GRIECHISCHER TRAGÖDIEN ZUR INTERNATIONALEN ANERKENNUNG 233 III.1.1 Hybridität als Exotisierung 233 III.1.1.1 Ninagawas Konzept 234 III.1.1.2 Konzept und Rezeption der Aufführung Loulan Nü 240 III.1.2 „Authentizität“ als reformierte Tradition 249 III.1.2.1 Rezeption in China 251 III.1.2.2 Rezeption in Griechenland 266 III.2 GRIECHISCHE TRAGÖDIEN ALS „UNIVERSELLER“ WESTLICHER KANON 283 III.2.1 Wiederbelebung des antiken Theaters durch östliche Theatertraditionen 283 III.2.2 Politische Aspekte der Konstitution eines universellen Kanons 286

III.2.3 Konstruktion der Universalität des antiken Theaters am Beispiel der „chinesischen“ Aufführung Bakai 295 III.2.4 Universalismus des Westens als hegemoniale Strategie der USA 311

Epilog 321 Literatur 339 Anhang 367 Danksagung 372

Einleitung Im Allgemeinen wird Kultur nicht nur als abgrenzbar, sondern auch als grundsätzlich einer bestimmten Ethnie oder Gemeinschaft wie der eines Staates oder einer „Wertegemeinschaft“ zugehörig aufgefasst. So wird seit der Renaissance die antike griechische Kultur allgemein als Wurzel einer „reinen“ westlichen Zivilisation angesehen, wobei nicht nur das heutige Griechenland, sondern der ganze „Westen“ als legitimer Erbe der griechischen Tragödie gilt. Aber lassen sich Kulturen ebenso klar voneinander abgrenzen wie politische oder geographische Territorien? Kann sich Kultur überhaupt ohne jegliche Einflüsse von Außen entwickeln und absolute „Reinheit“ sowie „Einzigartigkeit“ beanspruchen? Und ist es auf Grund unseres begrenzten Wissens tatsächlich möglich, einen einzigen Ursprung der menschlichen Zivilisation festzustellen? Wohl niemand wird ernsthaft bestreiten können, dass sich Kulturen in stetigem Wandel befinden und sich gegenseitig beeinflussen, so dass Vermischungen unzweifelhaft zum kontinuierlichen Prozess kultureller Entwicklung gehören. Es ist daher fragwürdig, die griechische Tragödie als „Besitz“ oder „Eigentum“ (des heutigen) Griechenlands, Europas oder des ganzen „Westens“ anzusehen, zumal die Besitzansprüche einer Kultur und die Bewertungskriterien über die „Authentizität“ der Kultur unmittelbar mit der Autorität politischer Macht in Verbindung stehen. Insofern müssen zu einem umfassenden Verständnis der „Wiederbelebung“ der antiken Kultur und der griechischen Tragödie in heutiger Zeit die politischen Implikation berücksichtigt werden. Die historische Entwicklung des antiken griechischen Theaters lässt sich der britischen Altphilologin Edith Hall zufolge in drei Phasen unterteilen, anhand derer sich zeigen solle, welche politische Funktion die griechischen Tragödien dabei zu erfüllen hatte: Demnach verlief die erste Phase vor ca. 2500 Jahren in Athen parallel zur Etablierung der politischen Ideologie der Demokratie. Die zweite Phase stellt die Wiederbelebung der Tragödie auf europäischer Bühne sowie ihre Eingliederung in das europäische Bildungssystem dar und fand vor allem in England zur Blütezeit kolonialer Expansionsbestrebungen europäischer Mächte statt, von denen sie als „pre-

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Westlicher Geist im östlichen Körper? stigeträchtiger, paneuropäischer Besitz“ angesehen wurde. 1 Die weltweite Zunahme an Aufführungen griechischer Tragödien seit den letzten drei Dekaden des 20. Jh. stellt schließlich die dritte Phase dar, jedoch sind die Gründe für ihr Entstehen bislang noch nicht hinreichend untersucht und beantwortet worden. Dieses weltweite Phänomen, so Hall, sei ein Anhaltspunkt dafür, dass die griechische Tragödie „fast alle Grenzen von Zeit, Raum und Kulturtraditionen“ überschreite. Dies erklärt sie damit, dass die Wiederkehr der Tragödie um 1968-69 Ausdruck des politischen, sozialen und ästhetischen Wandels gewesen sei, der sich gegen Unterdrückung durch Rassismus, Autoritäten, Imperialismus und Geschlechterpolitik gerichtet habe. So geht sie davon aus, dass die weltweiten Adaptionen griechischer Tragödien auf die inneren Auseinandersetzungen der jeweiligen Kulturen und Länder mit ihrer imperialistischen Vergangenheit, sozialen Konflikten oder kulturellen Differenzen zurückzuführen seien. Ihr zufolge geht die Verbreitung griechischer Tragödien mit dem sog. „Performance Turn“ in der westlichen Avantgarde-Szene einher, wodurch die Suche nach Alternativen außerhalb des westlichen Naturalismus ausgedrückt wird, die sich sowohl auf das „andere“ nicht-westliche als auch auf das antike Theater richtet. Da das naturalistische westliche Theater in vielen ehemals kolonisierten Ländern als „konkretes Symbol der ästhetischen Kultur der imperialistischen Unterdrücker“ angesehen wird, repräsentiere hingegen nach Hall die Hinwendung zur griechischen Tragödie vor allem in Afrika den Prozess der Dekolonialisierung.2 Dieses globale Phänomen sei demnach insbesondere durch eine Fusion von antiken „westlichen“ Dramen und „östlichen“ Theatertraditionen charakterisiert: „Out with the proscenium arch stage went the taste for the type of dramatic action it had been developed to contain: western naturalism. There was a marked new interest in exploring other, more the traditional, ritual, pantomime or mime-related, processional and choreographical conventions of theatre in India, Africa, Japan and China, and above all new emphasis on performative styles, conventions, and self-consciousness. It has become a directorial commonplace to fuse the ‚western‘ classics of Greek theatre with ‚eastern‘ Kathakali or Noh conventions; but the most important example of all was the combination of electrifying Indian- and Cambodian-derived chorus work in Ariane Mnouchkine’s Les Atrides, in which the design of the performance

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Hall, Edith: „Introduction: Why Greek Tragedy in the Late Twentieth Century?“, in: Dies./Macintosh, Fiona/Wrigley, Amanda (Hg.): Dionysus since 69: Greek Tragedy at the Dawn of the Third Millennium, Oxford/USA 2004, S. 2ff Ebd., S. 24

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Einleitung space, with its partially buried statues, like the buried army of Qin Shuang [Kaiser Qin Shi-huang], also had Chinese resonances.“3

Die Fusion zwischen westlichen Klassikern (wie griechischen Tragödien) und östlichen Theatertraditionen gehört somit zu den signifikanten Merkmalen dieser Periode und der panasiatische, „polyphone“ Stil der französischen Regisseurin gilt als repräsentatives Beispiel hierfür, indem er unmittelbar das „neue Interesse“ und den „Geschmack“ des Westens bei der Erforschung des „Anderen“ verkörpert. Indem Hall jedoch betont, dass sich das Augenmerk des Westens auf das traditionelle Theater und das kulturelle Selbstbewusstsein des „Anderen“ richte und die Fusion das gemeinsame Interesse (engl. common place) von westlichen und östlichen Regisseuren darstelle, scheine der gemeinsame Verzicht auf den westlichen Naturalismus die Überwindung der kolonialen Vergangenheit zu bedeuten und mit dem „neuen Interesse“ des Westens am Osten bzw. den „nicht-westlichen“ Kulturen zusammenzutreffen. Dies lege nahe, dass die Fusion von griechischen Tragödien und östlichen Theatertraditionen nicht nur Ausdruck eines neuen kulturellen Selbstbewusstseins des Ostens, sondern auch eines gleichberechtigten kulturellen Austausches sei. Aber sind die griechischen Tragödien aus Sicht der asiatischen Länder tatsächlich notwendig, um ein eigenes kulturelles Bewusstsein zu entwickeln? Worin besteht also das eigentliche Interesse der östlichen Länder, griechische Tragödien zu adaptieren und mit der eigenen Theatertradition zu kombinieren? Sind die griechischen Tragödien tatsächlich so universell, dass sie problemlos in jede Kulturtradition integriert werden können, wie Hall dies darstellt, und bedeutet diese Fusion ebenfalls eine Befreiung vom westlichen Kulturimperialismus bzw. ist dies besonders fruchtbar für die östlichen Länder? Da zu dieser Fragestellung in westlichen Publikationen bislang die Beurteilung aus einer östlichen Perspektive weitgehend fehlt, möchte ich mit der vorliegenden Arbeit auf Grund meines persönlichen kulturellen Hintergrundes hierzu einen Beitrag leisten, um diese Problematik in Bezug auf China und Taiwan zu untersuchen. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass die in dieser Arbeit getroffenen Feststellungen den Anspruch erheben könnten, für die Situation in ganz Asien bzw. allen „nicht-westlichen“ Ländern zuzutreffen. Betrachtet man die Rezeptionsgeschichte in diesen beiden Ländern, stellt man fest, dass die Adaption griechischer Tragödien in China erst gegen Ende der 1980er Jahre und in Taiwan in den 1990er Jahren einsetzte, obwohl bereits seit den 1930er Jahren chinesische Übersetzungen von etwa zehn griechischen Tragödien

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Hall, in: Dies./Macintosh/Wrigley (Hg.) 2004, S. 28

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

existierten. Hierzu gehört auch die früheste Fassung von Euripides’ Medea, die 1937 von Shi Pu veröffentlicht wurde.4 Darüber hinaus gelten in China Yang Xien-yi, Zhou Zuo-ren und Luo Nian-sheng als die drei bedeutendsten Übersetzer antiker Dramen, von denen die meisten der 37 (2003) Übersetzungen klassischer Stücke stammen.5 Ungeachtet dessen gab es in China kaum Adaptionen griechischer Tragödien, bis mit Luo Jin-lin der Sohn des Übersetzers Luo Niansheng im Jahre 1986 Sophokles’ König Ödipus mit seiner Studentengruppe aus der Central Drama Academy in der Huaju-Form (chin. Bezeichnung für realistisches westliches Theater) aufführte. Luos König Ödipus und Antigone (1988), fanden im Inland großen Anklang und wurden ebenfalls nach Delphi zum Festival International Meeting of Ancient Greek Drama eingeladen. Obwohl Luos König Ödipus in China offiziell als erste chinesische Adaption einer griechischen Tragödien anerkannt wurde und großen Einfluss ausübte, konnte Luo jedoch erst einen internationalen Erfolg verzeichnen, als er im Jahre 1989 Euripides’ Medea im Stil der lokalen Hebei Bangzi-Oper (aus der chin. Provinz Hebei) adaptierte und im Jahre 1991 beim gleichen Festival präsentierte. Weitere Adaptionen griechischer Tragödien sind: Nien-yuan Bao (Für die Sünden büßen, adaptiert von Sophokles’ König Ödipus) des chinesischen Regisseurs Kuo Jingchuen, welche 1994 mit Peking-Oper-, Hebei Bangzi-Oper- und Kunqu-Schauspielern in Taiwan uraufgeführt wurde; Bakai (adaptiert von Euripides’ Bakchen) von Chen Shi-zheng, 1996 von Peking-Oper-Schauspielern der China National Beijing Opera und Schauspielern aus der New York Greek Drama Company; Antigone (2001), des Regisseurs Su Gen-shu und Tebei-Stadt (2002) von Luo Jin-lin (adaptiert von Aischylos’ Sieben gegen Theben und Sophokles’ Antigone) beide in der Hebei Bangzi-Opernform. Von diesen gelangten jedoch nur Bakai und Tebei-Stadt zum griechischen Theaterfestival International Meeting of Ancient Greek Drama und danach kam keine Welttournee zustande. Auf Grund dessen ist Luos Medea, die bereits über 200 Vorstellungen auf der ganzen Welt erreichte, nicht nur die erste chinesische Adaption in traditioneller 4

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Eberstein, Bernd: Das chinesische Theater im 20. Jahrhundert, Hamburg 1983, S. 364. Anmerkung: Von Zhou Zuo-ren stammt eine der umfassendsten Übersetzungen von Euripides’ Werk, worunter Medea jedoch nicht zu finden ist. Siehe: Zhou Zuo-ren: Oulibidesi beiju ji (Sammelband von Euripides’ Tragödien) 3 Bände, Peking 2002. Luo, Jin-lin: „Shijie zhui gulao de xiju: xila xiju“ („Das älteste Theater der Welt: Das antike griechische Theater“), Protokoll von Luos Vortrag am 27.2.2003 in Peking, siehe: http://202.130.245.40/chinese/RS/ 297527.htm [Stand: 01.09.2006]. Nach der Tabelle von Bernd Eberstein gab es zu diesem Zeitpunkt zehn griechische Tragödien, die ins Chinesische übersetzt wurden. Siehe: Eberstein 1983, S. 67

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Einleitung

Theaterform, sondern auch bis heute die im Ausland erfolgreichste chinesische Aufführung einer griechischen Tragödie.6 Die Medea-Produktion der Regisseurin Lin Xiu-wei und der Contemporary Legend Theater Company, die mit Loulan Nü (LoulanPrinzessin) betitelt ist, ist die erste Adaption einer griechischen Tragödie in Taiwan. Sie und die weltrenommierte Medea-Aufführung des japanischen Regisseurs Yukio Ninagawa, welche im selben Jahr vor der Premiere von Loulan Nü in Taipei zu Gast war, lösten in Taiwan das von den Medien sog. „Griechische Fieber“ aus.7 In den zwei darauf folgenden Jahren (1994-1995) wurden insgesamt vier Produktionen von Orestie (adaptiert von Aischylos Orestie) entwickelt. Während die Orestie (1995) als Kooperation zwischen der Contemporary Legend Theater Company und dem US-amerikanischen Regisseur Richard Schechner mit den selben Peking-Oper-Stars wie bei Loulan Nü konzipiert wurde, entstanden die drei anderen Produktionen in der Huaju-Form. 8 Danach schien die Tragödie vorübergehend wieder in Vergessenheit geraten zu sein, bis der Regisseur Lu Bo-shen im Jahre 2001 Sophokles’ Antigone als Open-AirAufführung, in taiwanesischem Dialekt und mit AmateurSchauspielern in der Huaju-Form inszenierte, was von den taiwanesischen Medien und Wissenschaftlern als die bisher beste taiwane6

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Luo, Jin-lin: „Guanyu Beijing Hebei Bangzi jutuan paiyan Meidiya de daoyan chanshu“ („Erklärung des Regisseurs über die Wiederaufnahme von Medea in der Hebei Bangzi-Gruppe aus Peking“), 17.09.2002 (unveröffentlichter Aufsatz von Luo Jin-lin für die Hebei Bangzi Theatergruppe aus Peking) Shi, Qiong-yu: „Qing dao shenchu wu mingliu: shazi huifu Meidiya de kuangai qingchou zhenteng le Taibei wutai“ („Die tiefste Liebe lässt niemanden am Leben: Kindermord, Vernichtung des Ehemanns. Wahnsinnige Liebe und Hass Medeas bringen die Bühne Taipeis zum Kochen“). In: People Stage, Juni 1993, S. 102 Die anderen drei Produktionen waren: Sange fuchou yu yige minzhu de danshen (Dreifache Rache und die Geburt der Demokratie) des Regisseurs Hung-hung, die 1994 nach seinem Besuch der Aufführung Orestie von Peter Stein in Berlin entstand (Quelle: Interview mit Hung-hung vom 12.09.2005), weiterhin Aoruisitiya Sanbuqu (Orestie-Trilogie) von Chen, Lihua, die 1995 von einer Studentengruppe der Universität der Kunst für pädagogische Zwecke aufgeführt wurde und drittens, eine Produktion von Tian, Qi-yuan, der vor seinem frühen Tod als begabtester Nachwuchsregisseur Taiwans der 1990er Jahre galt und 1995 Tianmi jiating (Süße Familie) mit dem Meidengfong-Ensemble (freie Theatergruppe aus Mitgliedern ab 50 Jahren) inszenierte. Siehe: Lin, Xiu-wei (Protokolleurin): „Cong xila yadian dao dandai chuangqi“ („Von Athen, Griechenland zur Contemporary Legend Theater Company“) in: Performing Arts Review, Nov. 1995, S. 88-91 Anmerkung: Bei diesem Aufsatz handelt es sich um ein Protokoll einer Konferenz mit allen drei Regisseuren, die im selben Jahr (1995) Aischylos’ Orestie in Taiwan adaptierten.

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

sische Interpretation einer griechischen Tragödie angesehen wurde.9 Obwohl die zeitgenössischen taiwanesischen Regisseure, wie hier deutlich wird, die griechischen Tragödien überwiegend in der Huaju-Form adaptierten, fanden diese im Ausland bzw. den westlichen Ländern keinerlei Beachtung. Hingegen wurde von Seiten internationaler europäischer und amerikanischer Theaterfestivals großes Interesse an den beiden Produktionen der Contemporary Legend Theater Company gezeigt, indem zahlreiche Festival-Manager die Aufführungen besuchten und gute Chancen für eine Einladung zur Teilnahme am Festival in Aussicht stellten, wenngleich sich für Loulan Nü und die Orestie die hohen Erwartungen in Form einer Welttournee aus unbekannten Gründen nicht erfüllten.10 Obwohl die taiwanesische Produktion Loulan Nü keinen internationalen Erfolg verbuchen konnte, wurde ihr jedoch von Seiten europäischer Theaterfestivals große Aufmerksamkeit entgegen gebracht und sie gilt ebenso wie die chinesische Medea-Produktion in ihrem Land als erster Ansatz für die Fusion von griechischen Tragödien und traditioneller chinesischer Schauspielkunst. Beide sind daher besonders relevant für die Untersuchung der zentralen Fragestellung dieser vorliegenden Arbeit, d.h. warum in China und Taiwan solche Kombinationen stattfinden, welches Konzept damit verfolgt wird und inwiefern sie mit den Interessen des westlichen Auslandes in Verbindung stehen. Ein weiterer Grund für die Auswahl des Forschungsgegenstandes ergibt sich nicht zuletzt auch daraus, dass der chinesische Literaturwissenschaftler Huang Shizhong bei seinem Vergleich zwischen Euripides’ Medea-Figur und den stereotypisierten chinesischen Frauenfiguren klassischer chinesischer Dramen, die ebenso wie Medea von ihren Männern verstoßen worden sind, darauf hinweist, wie unzugänglich Medea eigentlich für die chinesische Gesellschaft ist: „Aus der chinesischen Perspektive gilt ,Medea‘ nicht als eine gute [tugendhafte] Frau. Sie widerspricht nicht nur den ,sancong side‘ [drei Gehorsamkeiten und vier Tugenden] 11 , sondern verstößt auch gegen die Kindespietät [konfuziani-

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Wang, You-hui: „Beiju, zai xili dijing xiwai liaoshao“ („Tragödie: Katharsis im Theater und Erregung öffentlichen Aufsehens“), in: Performing Arts Review, Jan. 2002, S. 40 10 Zao, Yun-yi: „,Loulan Nü‘ ju guoji meixian“ („,Loulan Nü‘ hat gute Aussichten für die internationale Bühne“), in: Lianhe Bao (Zeitung der Vereinigung), 09.07.1993 und Diamond, Catherine: „The Floating World of Nouveau Chinoiserie: Asian Orientalist Productions of Greek Tragedy“, in: New Theatre Quarterly, Vol. XV, No. 2, Mai 1999, S. 148 11 Die drei Gehorsamkeiten sind: Vor der Heirat dem Vater gehorchen, nach der Heirat dem Mann gehorchen und nach der Verwitwung dem Sohn gehorchen. Die vier Tugenden sind: Die Bewahrung der Weiblichkeit, des

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Einleitung sches Kardinalprinzip der Verpflichtung der Kinder gegenüber ihren Eltern], indem sie ihren Vater verrät, ihren Bruder ermordet und sogar noch eigenhändig die beiden Söhne umbringt. In einer von der konfuzianischen Sittenlehre geprägten Gesellschaft gehören all ihre Taten zu den zehn größten Sünden, die nicht vergeben werden können. Selbst wenn sie keine göttliche Bestrafung in Form einer Erschlagung von fünf Blitzen [Bestrafung durch den Donnergott] erfahren müsse, würde es zumindest als gerechte Strafe angesehen, wenn sie verlassen und verstoßen wird. Es ist daher unmöglich, dass ihr Mitleid entgegen gebracht und ihr Schicksal als tragisch empfunden wird. Hingegen steht bei Euripides jedoch die Liebe über allem, einschließlich Ethik und Moral und sie legitimiert Medea sogar dazu, die Tabus zu brechen, die sie am Lieben hindern. Es zeigt sich im Hinblick auf die Beziehung zwischen Liebe und Ehepflicht eine enorme Diskrepanz zwischen Ost und West.“12

Dass nach Euripides’ Intention Medea trotz mehrerer Mordtaten, die sie wegen Jason begangen hat, großes Mitleid entgegen gebracht werden soll, geht in der Tat aus dem Text des Chores hervor. Im Gegensatz dazu wird sie aber genau aus dem selben Grund in der chinesischen Gesellschaft als negative Figur betrachtet und ihr Verhalten als Gotteslästerung verurteilt, da sie gegen die chinesische Ethik verstößt und das Individuum sowie die persönliche Liebe über die Familie und das Gemeinwohl stellt. Wenngleich seit der offiziellen Beendigung der feudalistischen Gesellschaft Anfang des 20. Jh. solche konkreten sittlich-moralischen Ansprüche gegenüber den Frauen wie sancong side auf Grund des durch westliche Einflüsse hervorgerufenen sozialen Wandels aufgehoben worden sind, spielen die Grundprinzipien der Sittenlehre im heutigen China immer noch eine bedeutende Rolle bei der Beurteilung des Verhaltens einer Frau in Bezug auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern und der Ehepflicht, zumal die Identifikation mit einer Figur von deren moralischer Qualität abhängt.13 Insbesondere beim traditionellen chinesischen Theater lässt sich die Charakterisierung einer Figur noch weniger von einem solchen sozialen Konsens trennen, indem die ästhetischen Kriterien und die Wahrnehmung der Zuschauer auf Grund der chinesischen Ethik, Moral und Religion ineinander verwoben sind. sanften und gefälligen Auftretens, der gepflegten Sprache und der gewissenhaften Verfolgung häuslicher Pflichten. Siehe: Chiu, Vermier Y.: Marriage Laws and Customs of China, Hongkong 1966, S. 17ff 12 Huang, Shi-zhong: „‚Meidiya‘ yu zhongguo fuxin hunbian beiju zhi bijiao“ („Der Vergleich zwischen ,Medea‘ und der chinesischen Tragödie bei der Thematik von Verrat und Ehebruch“), in: Yishu Baijia (Hundred Schools in Art), Nr. 3, 1992, S. 22 13 Huang, Shi-zhong: Hunbian, daode yu wenxiu: fuxin hunbian muti yanjiu (Ehebruch, Moral und Literatur: Forschung nach den Motiven von Untreue und Ehebruch), Peking 2000, S. 3ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

Dementsprechend gab auch die langjährige Medea-Darstellerin Peng Hui-heng gegenüber der griechischen Presse zu, dass sie in ihren jungen Jahren Medea in Bezug auf ihren Charakter und ihre Rache nicht verstehen konnte. Denn wenn den chinesischen Frauen dasselbe Schicksal zustoßen würde, würden sie niemandem Schaden zufügen außer sich selbst, weshalb die meisten chinesischen Heroinnen als Selbstmörderinnen enden, so Peng. 14 Im Gegensatz hierzu und zu Huangs Aussage, betrachtet jedoch der griechische Kritiker Thodoros Kritikos die chinesische Medea (ab dem vierten Akt) erstaunlicherweise als „geisttreue“ Präsentation des antiken Theaters: „Mehrfarbige asiatische Kostüme und stilisiertes Schminken, neuartige Klänge exotischer Instrumente und akrobatische Waffenkämpfe wurden miteinander kombiniert, um einen für die Sinne überbordenden Eindruck zu hinterlassen, aber mit einer wenig berührenden, oberflächlichen Interpretation. Die Dinge ändern sich schlagartig zu Beginn des vierten Aktes. Wenn die Handlung nach Korinth verlegt wird, erscheint die Amme, um eine neue, texttreuere Erzählweise der antiken Tragödie zu beginnen. Man könnte sagen, dass die chinesischen Künstler ab diesem Moment in der Lage waren, dem Geist der antiken Aufführung treu zu folgen, sicher treuer als Darstellungen mit europäischen Orientierungen. Deklamiert in einer strengen musikalischen Aussprache, erhalten die Monologe der Medea nun einen erschütternden Ausdruck, an den niemals die späteren, in realistischen Bahnen sich bewegenden, europäischen Schauspieler heranreichen können.“15

Ihm zufolge sind die ersten drei Akte, die sich an den Mythos über die bei Euripides nicht vorhandene Vorgeschichte zwischen Medea und Jason anlehnen, lediglich eine oberflächliche Interpretation in einem exotischen und sinnlichen Szenarium, wohingegen die letzten zwei Akte jedoch hinsichtlich des Textes und der Schauspielkunst „treu“ dem „Geist“ des antiken Theaters folgen sollen. Diese unterschiedliche Bewertung verweist somit nicht nur darauf, dass seine Kriterien auf der Forderung nach „Werktreue“ bzw. „Authentizität“ des antiken Theaters basieren, sondern sie deuten auch darauf hin, dass die chinesischen Schauspieler nur dann in der Lage seien, sich dem Geist der Tragödie anzunähern, wenn sie an Euripides’ Text festhalten. 14 Loanna, Kleftogianni: „Die chinesische Medea würde nicht ihre Kinder umbringen – sie würde Selbstmord begehen“, in: Eleftherotipia, Juli 1998, übersetzt von Siouzouli, Natascha. Bei diesem Aufsatz handelt es sich um ein Interview mit der chinesischen Medea-Darstellerin Peng Hui-heng. 15 Kritikos, Thodoros: „Zwei ungleiche Vorstellungen der ‚Medea‘ von Euripides: Das Universelle der Tragödie“, in: Eleftherotypia, 14.07.1991, übersetzt von Siouzouli, Natascha

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Einleitung

Aber wenn Euripides’ Medea-Figur für chinesische Schauspieler wie Peng Hui-heng so schwer zugänglich ist, wie können sie dann überhaupt treu dem Geist der Tragödie folgen? Da dieser Widerspruch offenbar nicht gelöst werden kann, wäre es möglich, dass Kritikos aus anderen Gründen dieses „Lob“ ausspricht, worauf die folgende Aussage deutet: „Die Inanspruchnahme und Verwertung eines 2.500 Jahre alten Textes durch zwei ihrem Ursprung und ihrer Orientierung nach derart unterschiedlichen Theaterensembles, nämlich durch ein europäisches Ensemble, das sich der Gestaltung der Zukunft des Theaters widmet und durch ein asiatisches, das sich mit der Wiederbelebung und Aufbewahrung vergangener Codes befasst, zeigt vor allem das breite Spektrum der antiken Tragödie, ihre Fähigkeit, sich künstlerischen Anforderungen anzupassen, die derart voneinander entfernt sind. Es unterstreicht gleichzeitig die vieldiskutierte Tendenz der modernen westlichen wie östlichen Theaterpraxis, sich endgültig von den etablierten Vorbildern des europäischen, optischen [im Sinne von „realistischen“] Theaters zu befreien, das seit der Renaissance auf der Erzeugung einer Illusion beruhte. Wenn wir akkurat sein wollen, dann müssten wir eigentlich von der Universalität der antiken Mythen sprechen und weniger von der der Tragödie.“16

Die Tendenz, die von ihm als Befreiung von den „Vorbildern des europäischen, optischen Theaters“ bezeichnet wird, deckt sich dabei mit der Aussage Edith Halls, dass seit Ende der 1960er Jahre auf Grund der Ablehnung des westlichen Naturalismus ein „neues Interesse“ an Alternativen bestehe. Dies bedeutet, dass die beiden Regisseure, anstatt sich dem Naturalismus zuzuwenden, auf ihre jeweilige Kulturtradition zurückgreifen, d.h. der griechische Regisseur Michael Marmarinos auf die griechische Tragödie bzw. das antike Theater und der chinesische Regisseur Luo Jin-lin auf die traditionelle chinesische Oper. Trotz dieser Gemeinsamkeit besteht jedoch für Kritikos ein wesentlicher Unterschied darin, dass der Rückgriff auf die eigene Tradition beim europäischen (griechischen) Ensemble eine „Gestaltung der Zukunft des Theaters“ darstelle, bei der asiatischen (chinesischen) Theatergruppe jedoch eine „Wiederbelebung und Aufbewahrung der vergangenen Codes“. Diese Differenzierung besagt unmissverständlich, dass die chinesische Theatertradition die Vergangenheit repräsentiere, wohingegen die griechische Tragödie den Weg in die Zukunft weise und obwohl keines der beiden Ensembles transnational ist, ordnet er sie auffälligerweise jedoch anstatt nach Nationen nach Kontinenten zu, als ob sie die Kulturen ganz Europas bzw. Asiens repräsentieren sollten. Da er außerdem feststellt, dass sich die beiden Aufführungen vielmehr an die Mythen anlehnen als an die Tragödie, bezieht sich seine Behauptung 16 Kritikos 1991, a.a.O.

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der Universalität letztendlich vielmehr auf die Tragödie, was eindeutig aus dem Titel seines Aufsatzes hervorgeht. Die Äußerungen von chinesischer Seite widersprechen jedoch offensichtlich der Darstellung des griechischen Kritikers Thodoros Kritikos und werfen daher eine Reihe von Fragen auf, die drei verschiedene Ebenen betreffen – Authentizität und Kategorisierung der Kulturen, die Fusion der griechischen Tragödie mit der chinesischen Theatertradition sowie die Universalität der griechischen Tragödie: Erstens, wie können die chinesischen Schauspieler den „Geist“ von Euripides „treuer“ befolgen als die europäischen Schauspieler, wenn die Medea-Figur auf Grund der kulturellen Diskrepanz unvereinbar mit der chinesischen Theatertradition ist? Wie ist es möglich, dass die erste Hälfte der Aufführung für ihn eine „exotische“, oberflächliche Interpretation darstellt, die zweite Hälfte hingegen „ein authentisches“ antikes Theater? Worauf stützt sich Kritikos wenn er der chinesischen Aufführung „Geisttreue“ attestiert und welchem Zweck dient dies? Was hat seine Unterscheidung zwischen der „Gestaltung der Zukunft des Theaters“ durch das griechische Ensemble von der „Wiederbelebung vergangener Codes“ durch die chinesische Produktion zu bedeuten? Wieso ordnet er das griechische und das chinesische Ensemble einem größeren geographischen Raum zu und stellt damit eine Gleichsetzung der antagonistischen Beziehung zwischen Geist und Körper mit der von Modernität und Tradition her? Um solche Fragen beantworten zu können, die mit der interkulturellen Problematik in Verbindung stehen, ist es im Rahmen dieser Arbeit notwendig, eine theoretische Grundlage der zentralen Begriffe des interkulturellen Diskurses zu schaffen. Zweitens, wenn Medea doch auf Grund ihrer Anstoß erregenden Taten in der chinesischen Gesellschaft grundsätzlich als Übeltäterin verurteilt und abgelehnt wird, wieso wird sie sowohl 1989 vom chinesischen Regisseur Luo Jin-lin als auch 1993 von der taiwanesischen Regisseurin Lin Xiu-wei adaptiert und in traditioneller Theaterform bzw. mit traditionellen Schauspielern aufgeführt? Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, dass sie mit Hilfe von Euripides für die Frauenemanzipation eintreten wollen. Wenn dem so wäre, ist jedoch fraglich, wieso die beiden Regisseure hierfür die traditionelle Theaterform bzw. Schauspieler auswählen anstatt auf die HuajuForm zurückzugreifen? Dies vor allem, wenn man bedenkt, dass Henrik Ibsens Nora oder Ein Puppenheim Anfang des 20. Jh. von der chinesischen Elite wie Hu Shi usw. in China vorgestellt und dafür plädiert wurde, sich dadurch vom feudalistischen System zu be-

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Einleitung

freien.17 Daher erschiene es wesentlich plausibler, wenn eine Auseinandersetzung mit der Geschlechterproblematik in der Huaju-Form stattfinden würde anstatt in der Theatertradition, da in letzterer die Charakterisierung der Frauen eng mit der feudalistischen Vergangenheit Chinas verknüpft ist. Lässt sich aber, wie Kritikos behauptet, eine Rückbesinnung auf die eigene Theatertradition als Befreiung vom „Vorbild des europäischen Theaters“ oder als Aufkommen eines kulturellen Selbstbewusstseins im Sinne Halls verstehen? Und sind zur Entwicklung dieses kulturellen Selbstbewusstseins in China oder Taiwan tatsächlich die griechischen Tragödien notwendig? Weshalb kombinieren die beiden Regisseure überhaupt die griechische Tragödie mit der eigenen Theatertradition? Welche Funktionen sollen diese beiden Faktoren erfüllen? All diese offenkundigen Fragen können nur mit Hilfe einer ausführlichen Analyse beider Aufführungen beantwortet werden. Drittens, wie kann die chinesische Medea als Bestätigung der Universalität der griechischen Tragödie eingesetzt werden? Welches kulturelle Verhältnis zwischen der griechischen Tragödie und der chinesischen Theatertradition wird hierdurch definiert? Wozu proklamiert Thodoros Kritikos die Universalität der Tragödie? Die Frage nach der Universalität der griechischen Tragödie ist insofern wichtig, als diese nicht allein von Kritikos aufgeworfen wird, sondern z.B. auch vom britischen Altphilologen Oliver Taplin, welcher in diesem Zusammenhang auf eine „fundamentale Antwort“ zu der Frage verweist, weshalb griechische Tragödien in den letzten zwei Dekaden des 20. Jh. so oft wie in keiner anderen Dekade adaptiert wurden:

17 Ibsen und sein Nora oder Ein Puppenheim wurde von der führenden Elite der Vierter-Mai-Bewegung (Hu Shi u.a.) im Jahre 1918 ins Chinesische übersetzt. Hu Shi verwirft das traditionelle chinesische Theater auf Grund seiner fehlenden Übereinstimmung mit der Realität und propagiert den „Ibsenismus“ als „gesunden Individualismus“. In den darauf folgenden dreißiger Jahren übte Nora oder Ein Puppenheim einen enormen Einfluss auf die zeitgenössische chinesische Theaterszene und die Intellektuellen aus: Sie wurde kontinuierlich aufgeführt und als Symbol der Frauenemanzipation, der Humanität und Befreiung des Denkens bejubelt. Die Einführung des „Ibsenismus“ muss dabei im politischen Zusammenhang gesehen werden, da sie in China mit der Einführung der politischen Ideologie des Nationalismus sowie einer anti-imperialistischen Bewegung einhergeht. Siehe: Sung, Rang/He Yi-zhou: „Yipusheng qushi baizhounian: bei nala gaibian de zhongguo zhishi fenzi“ („Zum hundertjährigen Todestag Ibsens: die von Nora veränderten chinesischen Intellektuellen“), in: Zhongguo xingwen zhoukang (Wochenzeitung der Chinesischen Nachrichten) am 11.05.2006. Siehe: http://news.sina.com.cn/c/cul/2006-05-11/17539833613.shtml [Stand: 20.08.2008]

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Westlicher Geist im östlichen Körper? „The fundamental answer has to be that Athenian tragedy of the fifth century B.C. is one of those achievements of human creativity that is so rich, so deep that it can be infinitely experienced afresh; that every age finds its own preoccupations explored in it, yet in a form that is not narrowly specific to the present.“18

Dass die griechische Tragödie für jede Zeit geeignet sei, befindet sich in Übereinstimmung mit Edith Halls Formulierung, dass die Tragödie „fast alle Grenzen von Zeit, Raum und Kulturtraditionen“ überschreite. Jedoch ist bei Taplin unklar, woher diese Antwort stammt und warum sie so lauten müsse. Vor allem bleibt nach wie vor die Frage unbeantwortet, warum die Anzahl der Adaptionen genau ab dieser Zeit weltweit zunimmt und sie erklärt auch nicht, warum China und Taiwan erst in den 1980er bzw. 1990er Jahren griechische Tragödien adaptierten, da doch bereits seit den 1930er Jahren chinesische Übersetzungen vorhanden waren. Sie kann ebenso wenig das Phänomen begründen, wieso der Trend zu vermehrten Adaptionen griechischer Tragödien entstand, der sich in den 1990er Jahren in beiden Ländern herausgebildet hat und danach wieder deutlich zurückgegangen ist. Angesichts solcher Widersprüche soll daher letztlich die (westliche) These der Universalität der griechischen Tragödie hinterfragt werden. Nachdem die zentrale Argumentation in Form der angeblichen Universalität der griechischen Tragödie dargelegt wurde, soll nun auf den allgemeinen Stand der wissenschaftlichen Erforschung dieser Thematik und auf alternative Erklärungsmodelle solcher Fusionen eingegangen werden. In der westlichen Literatur gibt es bislang lediglich drei wissenschaftliche Abhandlungen, die sich mit dem hier untersuchten Forschungsgegenstand überschneiden: Zum einen handelt es sich dabei um den Aufsatz Adaption and Staging of Greek Tragedy in Hebei Bangzi des chinesischen Theaterwissenschaftlers Min Tian. Dieser behandelt zwar alle chinesischen Adaptionen der griechischen Tragödie in der Hebei Bangzi-Form, aber er konzentriert sich hauptsächlich auf Luo Jin-lins Annäherung an die Tragödie. Sich auf Aristoteles’ „Poetik“ stützend vertritt er dabei die Ansicht, dass das antike Theater hinsichtlich der Dramaturgie und Theaterpraxis keine Gemeinsamkeiten mit der chinesischen Theatertradition habe. Für ihn stelle Luos Aufführung bzw. MedeaProduktion außerdem keineswegs eine „Fusion“ aus chinesischem und griechischem Theater dar, denn Euripides’ Text werde, so Min Tian, auf Grund von Luos Anspruch nach einer „authentischen“ 18 Taplin, Oliver: „Greek with consequence: The Lasting Significance of Ancient Greek Tragedy in the Modern World“, in: http://avoca.vicnet.net.au/ ~hsfau/gconsdos.html [Stand: 02.10.2008]

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Einleitung chinesischen Theatertradition zur einseitigen Anpassung der Ästhetik der Hebei Bangzi-Oper nur vage als „Rohstoff“ verwendet bzw. „ausgebeutet“, weshalb er Luos Adaption als „Displacement of Greek Tragedy“ bezeichnet und damit der Argumentation von Thodoros Kritikos widerspricht.19 Da sich aber alle Regisseure auf die gleiche Grundlage stützen, sollte sich die Untersuchung m.E. vielmehr auf die Frage konzentrieren, wie anstatt ob Euripides’ Text als Rohstoff verwendet wird. Dass Min Tian trotz des selben Anspruchs nach „Werktreue“ wie Thodoros Kritikos letztlich zu einer gegensätzlichen Bewertung gelangt, verdeutlicht die Problematik dieses Kriteriums, weshalb hierauf im dritten Kapitel unter Berücksichtigung unterschiedlicher Rezeptionen aus China und Griechenland eingegangen wird. Die anderen beiden Aufsätze stammen von Catherine Diamond, einer in Taiwan arbeitenden, US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin, die insgesamt vier Produktionen untersuchte, bei denen griechische Tragödien mit östlichen Theatertraditionen kombiniert wurden.20 Darunter befinden sich die zwei taiwanesischen Produktionen Loulan Nü und Orestie von Richard Schechner, Bakai des chinesischen Regisseurs Chen Shi-zheng und Bakai (adaptiert von Euripides’ Bakchen, 1997) des malaysischen Regisseurs U-Wei Saari. Diamond vertritt hierbei die These, dass die griechischen Tragödien bei diesen Fusionen nur als Deckmantel dienen, um den Zutritt zur internationalen Theaterbühne zu ermöglichen. Ihr zufolge sei es nicht die Tragödie, sondern vielmehr die international renommierte Medea-Aufführung Yukio Ninagawas, die über zwanzig Jahre lang auf Welttournee ging, welche den asiatischen Regisseuren den Impuls gegeben habe, die Tragödie mit dem selben „postmodernen und hybriden“ Konzept eines „orientalischen“ Spektakels zur Gefälligkeit der westlichen Zuschauer zu adaptieren. Die starke finanzielle Förderung solcher Prestige-Projekte lasse sich ihr zufolge auf politische Implikationen zurückführen, indem die östlichen Länder sich eine westliche Ikone – in Form der griechischen Tragödie – aneignen würden, um auf internationaler Bühne mit dem Westen konkurrieren zu können.21 Somit steht Diamonds Kritik an der Inbesitznahme der griechischen Tragödie durch die östlichen Länder diametral der These von 19 Min, Tian: „Adaptation and Staging of Greek Tragedy in Hebei Bangzi“, in: Asian Theatre Journal, Vol. 23, Nr. 2, 2006, S. 250 20 Die beiden Aufsätze Catherine Diamonds sind: „Cracks in the Arch of Illusion: Contemporary Experiments in Taiwan’s Peking Opera“, in: Theatre Research International, Vol. 20, No. 3, 1995, S. 237-254 und „The Floating World of Nouveau Chinoiserie: Asian Orientalist Productions of Greek Tragedy“, in: New Theatre Quarterly, Vol. XV, No. 2, Mai 1999, S. 142-164 21 Diamond 1999, S. 147

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Westlicher Geist im östlichen Körper? der Universalität der Tragödie entgegen, die von Thodoros Kritikos, Oliver Taplin und Edith Hall vertreten wird. Daher sollen diese beiden Aspekte anhand der Konzepte dieser Aufführungen auf ihre eigentliche Zielsetzung hin überprüft werden. Angesichts der spärlichen wissenschaftlichen Literatur und der fehlenden Möglichkeit eines eigenen Live-Erlebnisses, bin ich in Bezug auf die Aufführungsanalyse bei meiner Untersuchung methodologisch auf das Material der folgenden drei Bereiche angewiesen: Erstens, die Videoaufzeichnungen der Aufführungen von Medea aus der aktuellsten Version von 2002 sowie von Loulan Nü in der Fassung von 1993, wobei mir erstere der Regisseur Luo Jin-lin persönlich zur Verfügung gestellt hat und letztere von der Contemporary Legend Theater Company angeboten wurde. Zusätzlich hierzu noch die Videoaufzeichnung der 1984er Medea-Gastspiels des japanischen Regisseurs Yukio Ninagawa des Gastspiels in Athen, das vom European Cultural Center of Delphi stammt und in dieser Arbeit als Referenzmaterial zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der taiwanesischen und der japanischen Produktion verwendet wird. Zweitens, persönliche Interviews mit dem chinesischen Regisseur Luo Jin-lin und dem griechischen Regisseur Theodoros Terzopoulos22 sowie Interviews mit den beiden Medea-Schauspielerinnen Liu Yü-lin (die chinesische Medea-Darstellerin aus der aktuellen Version) und Wei Hai-min.23 Drittens, Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften, die z.T. von Luo Jin-lin und der Contemporary Legend Theater Company zur Verfügung gestellt wurden und z.T. durch meine eigene Recherche zusammengetragen wurden. Die griechischen Kritiken stammen aus der Archiv-Sammlung des Athener Zentrum für altgriechisches Drama und Theater ‚Desmoi‘. Auf Grund der zuvor genannten Fragestellungen und widersprüchlichen Thesen wird die Arbeit in drei Kapitel aufgeteilt, um die Gründe für die Fusion von griechischen Tragödien und chinesischen Theatertraditionen zu erforschen: Im ersten Kapitel soll eine theoretische Grundlage der interkulturellen Problematik erarbeitet werden, um anschließend deren Relevanz 22 Theodoros Terzopoulos war von 1985-1987 künstlerischer Leiter des International Meeting of Ancient Greek Drama, welches vom European Cultural Center of Delphi organisiert wird. 23 Leider ist kein Interviewtermin mit der Regisseurin Lin Xiu-wei zustande gekommen. Da aber in Bezug auf die Aufführung Loulan Nü bereits zahlreiche Interviews mit ihr veröffentlicht worden sind, stellt das fehlende persönliche Interview keinen Mangel an Informationen für die Forschungsarbeit dar.

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Einleitung für die beiden Aufführungen zu untersuchen. Somit werden zunächst die zentralen Begriffe „Kultur“, „Kulturelle Identität“ und (kulturelle) „Authentizität“ erläutert, um die von Kritikos hergestellte kulturelle Dichotomie zu erörtern. Daraufhin soll der Begriff „Exotismus“ sowohl vor seinem historischen Hintergrund beschrieben, als auch im Rahmen interkultureller Diskurse berücksichtigt werden. Darüber hinaus soll nicht nur auf Definitionen und Mechanismen verwandter Begriffe wie „Orientalismus“ eingegangen werden, sondern auch auf das Konzept der „Hybridität“, welches allgemein als strategisches Mittel zur Befreiung von Exotismus und Kolonialismus angesehen wird. Dabei soll die Frage beantwortet werden, ob sich die Wirksamkeit dieser Strategie am Beginn des 21. Jh. anhand der untersuchten Beispiele bestätigen lässt und somit allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Die Analyse der beiden Aufführungen bildet das zweite Kapitel und zugleich das Kernstück dieser Arbeit. Hierbei werden zunächst die Rahmbedingungen, d.h. die Faktoren zur Entstehung der beiden Produktionen sowie die angegebenen Zielsetzungen der Regisseure herausgearbeitet. Die folgende Analyse der beiden Aufführungen konzentriert sich dabei auf die Problematik der kulturellen Diskrepanz hinsichtlich Ästhetik, Ethik, Religion und Geschlechterverhältnis, nämlich wie diese einerseits auf Grund der Bearbeitung von Euripides’ Text durch die beiden Regisseure überwunden wird, so dass Euripides’ Medea für die chinesischen bzw. taiwanesischen Zuschauer zugänglich wird, und wie die Figur andererseits durch die Aneignung der Differenzen die chinesischen Kulturtraditionen transformieren und für die Zuschauer fruchtbar machen wird. Das dritte Kapitel umfasst zwei Teile: Erstens werden anhand der Ergebnisse der Aufführungsanalyse die beiden unterschiedlichen Konzepte herausgearbeitet. Dabei sollen die Rezeptionen aus dem In- und Ausland anhand von Artikeln aus Zeitungen und Zeitschriften vorgestellt und bewertet werden, um zu überprüfen, ob die angegebenen Zielsetzungen der beiden Regisseure entsprechend in die Tat umgesetzt werden konnten, in wessen Interesse diese Fusionen zustande kamen, welchem Zweck sie dienen und welche Konsequenzen ihre Konzepte für die Entwicklung der chinesischen Theatertradition haben. Im zweiten Teil dieses Kapitels findet schließlich eine Auseinandersetzung mit der These der Universalität der griechischen Tragödie statt, wobei die aktuellen geopolitischen Tendenzen mit einbezogen werden sollen.

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I Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage

I.1 KULTURELLE IDENTITÄT Um die interkulturelle Problematik in den beiden Aufführungen zum Vorschein zu bringen, sollen die kulturellen Diskurse einschränkend auf die interkulturelle Ebene bezogen werden, was nachfolgend in zwei Blöcken stattfindet, nämlich einerseits in Bezug auf Kulturelle Identität sowie andererseits Exotismus und Hybridität.

I.1.1 Zum Kultur-Begriff Das Wort „Kultur“ ist dem lat. cultura entlehnt und stammt von colere im Sinne von drehen, wenden oder bebauen, wodurch sich die Herkunft mit agrarischen Tätigkeiten in Verbindung mit der Bebauung von Ackerland ableiten lässt. Indem beim Ackerbau das Resultat nicht nur als abhängig von der eigenen Arbeitsleistung, sondern auch von der Qualität des Bodens, den Launen der Natur bzw. der Gunst der Götter angesehen wurde, verdeutlicht dieses Selbstverständnis für die Abhängigkeit des menschlichen Schaffens von begünstigenden äußeren Faktoren ein Kulturbewusstsein, das keine dichotomische Unterscheidung zwischen Kultur und Natur zulässt. Während sich der historische Ursprung des Kulturbegriffs auf die agrikulturelle Gesellschaft zurückführen lässt, gewann er in der Neuzeit Europas jedoch eine neue Bedeutung. So entwickelte er sich bei Samuel von Pufendorf (1632-1694) zu einem autonomen Bereich, der sich auf die Unterschiede zwischen Mensch und Tier bezieht. Demnach sei Kultur das, „was den Menschen zu seinem Glück aus der Barbarei eines und auch seines Naturzustands befreie“. Damit wurde die Arbeit der Kultivierung, die einer Bekämpfung der Menschennatur gleicht, als Glück verheißende Befreiung von der Natur dargestellt, was bis ins 17. und 18. Jh. aufrecht-

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erhalten wurde.1 Dementsprechend werden Kultur und Natur nicht als zwei sich gegenseitig begünstigende Faktoren aufgefasst, sondern als antagonistisches Verhältnis zwischen Ordnung und Chaos, Absicht und Spontaneität, zu Produzierendem und Nichtproduziertem usw., so dass das auf natürliche Weise Entstehende als Gegensatz zu dem durch menschliches Handeln Geschaffenen verstanden wird. Diese binäre Struktur wird ebenfalls auf die Geschlechter übertragen, indem der Mann mit dem Geist und die Frau mit dem Körper in Verbindung gebracht wird, was des Weiteren auch in der Völkerkunde (Ethnologie) als Unterscheidung zwischen „Naturvölkern“ und „Kulturvölkern“ fortgeführt wird, wobei die erstgenannte Bezeichnung eine gewisse abwertende Konnotation beinhaltet.2 Insofern ist dieses Verständnis des Kulturbegriffs nicht neutral aufzufassen, sondern es ist ein in sich positiv konnotierter Inbegriff für Werte und Normen. Die Pufendorf’sche Wertung wurde von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in Bezug auf den kausalen Zusammenhang zwischen Kultiviertheit und Glück abgelehnt, indem er anhand der sog. „guten Wilden“ Zivilisationskritik übt: „Man solle sich nicht täuschen: Was eine Gesellschaft sei und sein könne, entscheide sich auf der Ebene der Bedürfnisse des Körpers, nicht auf der Ebene der Bedürfnisse des Geistes, auf die die Kultur Bezug nehme.“ 3 Wenngleich Rousseau die „Wilden“ idealisiert und eine Rückkehr zur Natur proklamiert, stellt er jedoch in Übereinstimmung mit Pufendorf ebenfalls Kultur und Natur sowie Geist und Körper unvereinbar gegenüber, so dass sich diese Haltung lediglich als andere Seite derselben Medaille offenbart. Denn das „Andere“ wird hier als „Natur“ definiert und gleichgültig, ob ihm gegenüber zur Abgrenzung oder zur Annäherung plädiert wird, dient es als Medium zur Relativierung des Eigenen (bzw. Eigenbildes), was zum zentralen Denktopos der Aufklärung gehört.4 Es lässt sich daher feststellen, dass die Konstruktion der beiden Begriffe mit der Entdeckung der neuen Welt einhergeht und diese paradoxe Seite derselben Auffassung des Kulturbegriffs in seiner Unterscheidung von der Natur die moderne Gesellschaft Europas bis heute prägt. Ein weiteres wichtiges und einflussreiches Kulturkonzept aus der europäischen Moderne geht zurück auf Johann Gottfried Herder

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Baecker, Dirk: „Kultur“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, Stuttgart/Weimar/ Metzler 2001, S. 513 Hagenbüchle, Roland: Von der Multikulturalität zur Interkulturalität, Würzburg 2002, S. 35ff Baecker 2001, S. 515 Ebd., S. 516

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(1744-1803), der jede Kultur als eine klar abgegrenzte, unabhängige und isolierte Einheit betrachtete. Für ihn beruht die Herausbildung einer Kultur auf einer sozialen Homogenität, ethnischen Fundierung und interkulturellen Abgrenzung. Dabei soll eine Kultur das Leben des angehörigen Volkes im Ganzen wie im Einzelnen prägen und jedes Objekt zu einem unverwechselbaren Bestandteil dieser Kultur machen. Das heißt, dass eine Vereinheitlichung des Volkes angestrebt werden soll und dass jede Kultur als Kultur eines Volkes von den Kulturen anderer Völker spezifisch unterschieden und abgegrenzt sein soll. Somit stellt er sich Kulturen modellhaft als geschlossene Kugeln vor, die sowohl durch eine innere Homogenisierung als auch eine äußere Abgrenzung gebildet werden.5 Demzufolge ist der Kulturbegriff ein Ordnungsbegriff und erhebt einen Machtanspruch auf die Stabilisierung der sozialen Verhaltensregeln sowie auf das Verhältnis zu anderen Kulturen. Überdies bringt Herder Kultur mit „Sprache“, „Volk“ und „Nation“ in Verbindung, was dazu beiträgt, dass sich gegen Ende des 18. Jh. in Europa zunehmend nationalistisches Gedankengut ausprägte.6 Obwohl die nationalen Grenzen in der Realität kaum identisch mit Völkern oder Sprachen sind, werden vor diesem Hintergrund vielfach willkürlich kulturelle Grenzen gezogen, insbesondere indem z.B. die Nationalsozialisten in Deutschland die Einheit und Reinheit der Völker propagierten und ehemalige europäische Kolonialmächte wie England und Frankreich kolonisierte Gebiete willkürlich und ohne Rücksicht auf deren ethnische Besiedlung einteilten, was z.B. beim afrikanischen Kontinent bis heute relevant ist. Dieses Verständnis, dass Kultur ein in sich strukturiertes und integriertes, organisches Ganzes sei, konnte sich in der Folgezeit überwiegend durchsetzen. Erst seit den 1960er und 70er Jahren wurde diese Prämisse zunehmend von einigen Wissenschaftlern, wie z.B. von Wolfgang Welsch, angezweifelt und kritisch betrachtet. Er weist darauf hin, dass das Konzept Herders Faktoren wie Separatismus und Rassismus beinhalte und deshalb zu politischen Konflikten und Kriegen beitrage. Er zeigt dabei anhand der folgenden beiden Gesichtspunkte auf, weshalb der Kulturbegriff Herders unzutreffend ist: Zum einen ist es heutzutage in modernen Gesellschaften nicht mehr möglich, von einer inneren Einheit der Kulturen zu sprechen, weil die heutigen Gesellschaften vor allem in Großstädten multikulturell geworden sind. Sie umfassen eine große Vielfalt von verschiedenen Ethnien und Kulturen sowie verschiedene sexuelle Orientierungen

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Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität – zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen“, in: Schneider, Irmela/Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 68 Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft, Tübingen 2000, S. 220

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(Cross-Gender) wie Hetero- und Homosexualität. Zum anderen ist die Vorstellung von einer absoluten Abgrenzung der Kulturen und einer ethnischen Reinheit eine bloße Fiktion, da bereits seit Beginn der Menschheitsgeschichte immer schon gegenseitige Beeinflussungen der Kulturen und Völkervermischungen stattgefunden haben. Dazu äußert er sich wie folgt: „Sobald man die kulturellen Reinheitsfiktionen nur näher und realistisch betrachtet, spalten sie sich schnell in eine Reihe transkultureller Verflechtungen auf. Traditionell kam es zu Völkermischungen insbesondere durch Eroberungen. Dabei wurden Momente der besiegten Kulturen in die neue, hegemoniale Leitkultur integriert. [...] Der Unterschied zu heute liegt darin, dass die gegenwärtige Durchmischung kaum mit territorial-politischen Erweiterungen oder Eroberungen zu tun hat, sondern es handelt sich vielmehr um transversale kulturelle Austauschprozesse. Oder hat sich nur das Gesicht der Macht verändert – von militärischer zu ökonomischer Kolonisierung?“ 7

Damit verdeutlicht er, dass überhaupt keine homogene Kultur existiert und „die Idee von kultureller Reinheit ein Mythos“ ist.8 Anhand seiner Argumentation ist auch herauszulesen, dass Kulturen nicht statisch und festgelegt sind, sondern ständiger Veränderung unterliegen, weil sie sich sowohl durch die externen als auch durch die internen Einflüsse weiterentwickeln. Es lässt sich anhand der Geschichte verschiedenster Kulturen immer wieder belegen, dass man Kulturen nicht fixieren kann. Eine klare Abgrenzung der Kulturen kann daher nur sehr schwammig sein, es sei denn man argumentiert, dass sie keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen, was sich wiederum schwerlich aufrechterhalten lässt. Dies gilt auch im Besonderen für die Begriffe „westliche Kultur“ als auch „östliche Kultur“, von denen in dieser Arbeit immer wieder verallgemeinernd die Rede ist und die notgedrungen so übernommen werden müssen. Diese suggerieren eine im Sinne des traditionellen Kulturverständnisses in sich bestehende Homogenität, die, wie sich gezeigt hat, nicht aufrechterhalten werden kann. Beide beinhalten jeweils vielfältige Aspekte hinsichtlich ihrer ethischen Wertmaßstäbe, zu denen Sprachen, Bräuche, Religionen, Traditionen, Geschichtsverläufe usw. gehören, so dass man sie nicht klar und einheitlich definieren kann. Nicht nur die Vereinheitlichung innerhalb der beiden (hypothetischen) Kulturen versagt, sondern auch die äußere Abgrenzung zwischen Ost und West. Wo fängt der

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Welsch, in: Schneider/Thomsen (Hg.) 1997, S. 85 Mohanty, Jitendra N.: „Den Anderen verstehen“ in: Mall, Ram Adhar/ Lohmar, Dieter (Hg.): Philosophische Grundlagen der Interkulturalität, Amsterdam 1993, S. 117

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage Westen an, wo hört er auf, und wo sind die Grenzen des Ostens? Weder die geographischen noch die kulturellen Grenzen lassen sich eindeutig ziehen. Dies lässt sich anhand der etymologischen Herleitung dieser und ähnlicher Begriffe ableiten, wie etwa bei der Unterscheidung durch früher verwandte Bezeichnungen wie „Morgenland“ und „Abendland“ sowie „Orient“ und „Okzident“. All diese Begriffe drücken lediglich verschiedene Himmelsrichtungen aus, die von jedem Standpunkt aus betrachtet ihre Gültigkeit haben und die deshalb ungeeignet sind, um kulturelle Unterscheidungen zu treffen. Gleiches gilt für die Unterscheidung in „Europa“ und „Asien“, die rein geographischer Natur ist und ebenfalls kulturelle Aspekte ausklammert. Außerdem werden Länder wie Russland und die Türkei beiden Kontinenten gleichzeitig zugeordnet, wodurch die Schwierigkeit kultureller Grenzziehungen anhand geographischer Begriffe besonders plastisch wird. Aus diesen Feststellungen lässt sich folgern, dass eine strikte Unterscheidung in eine östliche und eine westliche Kultur kaum sinnvoll vorgenommen werden kann, weshalb Abgrenzungsversuche zwischen Osten und Westen, insbesondere die Annahme ihrer Gegensätzlichkeit, sehr willkürlich bzw. fragwürdig erscheinen. Die Erörterungen des Diskurses über den Kulturbegriff bilden die Grundlage des Diskurses über Interkulturalität, so dass auch letzterer neu aufgefasst werden muss: Kulturen werden nicht mehr als „stabile Territorien“ betrachtet, sondern nur als vorläufige und bewegliche Diskursfelder mit offenen Grenzen, um miteinander zu kommunizieren aber auch in Konkurrenz zu treten. Dabei erscheinen die einzelnen Kulturen weniger als kohärente Entitäten im Herder’schen Sinne, sondern vielmehr als dynamische und sich ständig verändernde Prozesse, bei denen kontinuierliches ein Aushandeln sozialer und politischer Veränderungen stattfindet und Gesetze, Normen, Werte und Konventionen immer wieder neu in Frage gestellt werden. Indem Kultur als transkulturelles Feld neu aufgefasst wird, wird die Vorstellung von essentieller Kultur als Abgrenzungsund Selbstbehauptungstendenz verneint.9 Dies soll dazu beitragen, die verwurzelten, fiktiven kulturellen Grenzen aufzubrechen und die kulturelle Interaktion zu fördern.

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Hagenbüchle 2002, S. 49

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

I.1.2 Diskurs des Begriffs „Kulturelle Identität“ Bevor der Begriff „Kulturelle Identität“ und der darüber geführte Diskurs erläutert wird, müssen der Begriff und seine Grundlagen in Zusammenhang mit dem Begriff „Identität“ zunächst kurz vorgestellt werden. Der Begriff Identität, der in den Humanwissenschaften des 20. Jh. eine zentrale Position eingenommen hat, ist noch nicht lange gebräuchlich. Ende der 1940er Jahre wurde er in die Individualpsychologie eingeführt und seitdem von einer Vielzahl anderer Disziplinen übernommen, so dass seine theoretischen Bezüge äußerst diffus geworden sind,10 weshalb an dieser Stelle eine Beschränkung auf die Erläuterung der sozialwissenschaftlichen Grundlagen stattfindet. Da der Identitätsbegriff seine im Wesentlichen heute noch gültige Bedeutung insbesondere im Kontext pragmatischen, interaktionstheoretischen und psychoanalytischen Denkens erhielt, lässt sich die soziologische Bedeutung auf die prominente psychoanalytische Theorie von Erik Erikson zurückführen. Eriksons Auffassung der Ich-Identität, welche er 1973 anhand der psychotherapeutischen Analyse entwickelte, zählt zu den einflussreichsten Ansätzen. Er verweist dabei spezifisch auf die Problematik der Identität, die er als Krise des Individuums bezeichnet. Für ihn ist Identität in etwa gleich bedeutend mit persönlicher Reife, die sich durch Bestimmtheit und Charakterfestigkeit auszeichnet. Als solche ist die Periode vom 16. bis etwa dem 22. Lebensjahr eines Menschen eine kritische Zeit, da er in dieser Phase noch verschiedene Möglichkeiten ausprobiert und sich in der Regel noch nicht für Bereiche von großer Tragweite, wie Beruf und Ehe, festlegt. Wenn er nicht dazu fähig ist, den Zustand der Unbestimmtheit abzuschließen bzw. auszulassen, tritt Erikson zufolge das Krankheitsbild der Identitätsdiffusion auf.11 Anhand seiner Theorie ist herzuleiten, dass man Identität als spezifische Subjektivitätsform in Übergängen bzw. in der psychischen Bearbeitung von Übergängen und Transformationen erwirbt und die Überwindung dieser Transformation bzw. die Festlegung der Handlungs- und Lebensorientierung eine Frage der individuellen Leistung ist. Wie Straub auch durch die Auseinandersetzung mit Erikson in einem soziologischen Beitrag herausgearbeitet hat, wird Identität als eine autonome Einheit aufgefasst und ist an die

10 Wagner, Peter: „Fest-Stellungen – Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“, in: Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hg.): Identitäten: Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt am Main 1998, S. 46 11 Böhme, Gernot: „Identität“, in: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim u. Basel 1997, S. 693ff

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage Handlungsfähigkeit des Einzelnen gebunden, wobei Kohärenz und Kontinuität als zwei relevante Faktoren zur Identitätsbildung beitragen.12 Diese vom Einzelnen kontinuierlich zu leistende Erarbeitung der Identität verlangt weitergehend sowohl die Bewahrung von Unterschieden als auch die Fähigkeit, Dissonanzen und Widersprüche zu synthetisieren bzw. die Unterschiede zu integrieren.13 Da die personale Identität eine Frage der Orientierung und Integrationsleistung des Einzelnen in der Gesellschaft darstellt und Menschen immer einer Gemeinschaft angehören, mit der sie gewisse Beziehungen eingehen, ist sie nicht von kollektiver Identität zu trennen. Unter einer kollektiven oder „Wir-Identität“ wird verstanden, dass sich eine Gruppe bildet, mit der sich ihre Mitglieder identifizieren. Mitglieder eines Kollektivs teilen ihre soziokulturelle Herkunft und eine bestimmte Tradition, gewisse Handlungs- und Lebensweisen, Orientierungen und Erwartungen oder richten sich nach einem gemeinsamen Ziel, das sie in Zukunft erreichen möchten. So bilden sich kollektive Identitäten im übereinstimmenden praktischen Verhalten sowie in der übereinkommenden Selbst- und Weltinterpretation. Insofern sind kollektive Identitäten als Konstrukte zu verstehen, die den einzelnen Individuen einen einheitlichen Bezugspunkt zuschreiben und zugleich eine Abgrenzung von anderen Gruppen herstellen.14 So wird eine kollektive Identität unter den Bedingungen von Abgrenzung bzw. Ausgrenzung relevant. Ebenso wie bei der personalen Identität, ist eine kollektive Identität auf Kontinuität und Kohärenz angewiesen. Während die Frage nach der Auffassung von der Kontinuität und Kohärenz einer Person auf ihre Biographie verweist, ist dies bei der Übertragung auf ein Kollektiv die Vorstellung von einer gemeinsamen Geschichte und einer gemeinsamen Erfahrung. Jedoch bemerkt Peter Wagner, dass der Verweis auf eine gemeinsame Geschichte nicht die Existenz und die Solidität kollektiv geteilter Glaubensordnungen erklären kann, weil es streng genommen keine „gemeinsame Geschichte“ gibt, sondern immer eine Vielzahl von Erfahrungen, deren jede sich von jeder anderen unterscheidet. 15 Daher bedarf eine kollektive Identität einer Geschichte mit gemeinsamen, geteilten Erfahrungen, die durch eine gegenwärtige Interaktion entstehen. Anhand dieses Punktes lässt sich eine kollektive Identität darauf überprüfen, ob sie eine „echte Wir-Gruppe“ bildet, die durch direkte Kommunikati-

12 Straub, Jürgen: „Personale und kollektive Identität – Zur Analyse eines theoretischen Begriffs“, in: Assmann/Friese (Hg.) 1998, S. 73ff 13 Assmann, Aleida/Friese, Heidrun: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.) 1998, S. 14 14 Straub, in: Assmann/Friese (Hg.) 1998, S. 104 15 Wagner, in: ebd., S. 69ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? on und Interaktion gewachsen ist. 16 Auf diesen Punkt werde ich später noch in Bezug auf den Diskurs der Kulturellen Identität näher eingehen. Anhand der Grundlagen des Begriffes „Identität“ ist zu erkennen, dass ein essentielles „Ich“ angenommen wird, welches als eine Einheit aufgefasst wird. Diese Annahme entspricht der klassischen Vorstellung, die sich auf Herders Idee von personaler Identität bzw. Kulturelle Identität zurückführen lässt. Da sein Konzept nicht nur zur Entwicklung des Individualismus beigetragen hat, welches die westlichen Gesellschaften grundlegend von den östlichen unterscheidet, sondern auch die damit einhergehende Auffassung von Kultureller Identität sowie das Anstreben kultureller Authentizität sehr geprägt hat, muss der darüber hinausgehende Diskurs der Identität bzw. Kulturellen Identität näher erläutert werden. Das Selbstbewusstsein für die Artikulation bzw. die Suche nach einer eigenen Identität wurde in der Zeit der Aufklärung entwickelt, wodurch es zu einer Unterscheidung von einer festgeschriebenen Identität in traditionellen Gesellschaften kam. So tragen die Ideen Herders seit Ende des 18. Jh. dazu bei, das individuelle Selbstbewusstsein in den westlichen Gesellschaften zu entwickeln. Für ihn besitzt jeder Mensch unverwechselbare Eigenschaften, die das Leben des Einzelnen auf charakteristische Weise bestimmen. Dabei komme es darauf an, sich selbst treu zu sein und sich nicht nach den Erfordernissen äußerlicher Konformität umgestalten zu lassen. Sich treu zu sein bedeutet dabei, seine eigene und unverwechselbare Originalität beizubehalten, welche ihr „Ich“ nur in sich selbst allein entdecken und artikulieren kann. Daraus lässt sich ableiten, dass Herder davon ausgegangen ist, dass jedes Individuum einen inneren Kern besitzt und eine konstante, homogene und naturgegebene Einheit darstellt. Die Herausbildung der eigenen Identität bedeutet demnach, einen inneren Kern bzw. ein „authentisches Ich“ zu suchen, weshalb die Vorstellung von „Authentizität“ eng mit der Feststellung der Identität verknüpft ist. Demnach beruht die persönliche Identität auf einer Selbstdefinition, wobei sich das Individuum radikal von anderen abgrenzt, welches Taylor als „monologische Erzeugung“ bezeichnet.17 Diese Auffassung bildet nicht nur die Grundlage für die Identitätsdefinition des Essentialismus (wie bei Descartes, Kant und Husserl), sondern sie bildet auch den Hintergrund für die modernen Konzepte der Authentizität und für die Ziele der Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung. So entwickelte sich die Idee der Authentizität bei Rousseau zum Ideal aller Bestrebun-

16 Straub, in: ebd., S. 100ff 17 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1997, S. 21

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage gen und fungiert als ein Bewertungsmaßstab, welcher die westlichen Gesellschaften sehr tief geprägt hat und große Autorität besitzt.18 Das Streben nach einer „authentischen personalen Identität“ ist gleichbedeutend mit dem Bemühen um eine kulturelle Identität, da Herders Aufforderung, sich selbst treu zu sein, auch für ein ganzes Volk bzw. die Volkskultur ihre Gültigkeit besitzt. Anders ausgedrückt bedeutet dies nicht zuletzt, dass auch die zu einem Volk gehörenden Individuen ihrem Volk bzw. ihrer eigenen Kultur treu sein sollen. Daran ist zu erkennen, dass die Begriffe Kultur und Volk von Herder praktisch gleichgesetzt werden und er hierdurch bereits für eine patriotische Gesinnung plädiert. Somit ist das daraus entwickelte Verständnis von Kultureller Identität oft austauschbar mit einer nationalen Identität.19 Ebenso wie bei der personalen Identität wird auch Kultur als eine essentielle, naturgegebene Einheit aufgefasst. Die Problematik dieses Konzepts von Kultur wurde bereits in Kapitel I.1.1 dargelegt. Was hier aber noch hinzugefügt bzw. betont werden muss, ist, dass Kulturelle Identität nicht zuletzt eng mit Authentizität verbunden ist. Dadurch werden nicht nur die Grenzen zwischen den Kulturen für unverrückbar erklärt, sondern dies verleitet auch dazu, die stereotypisierten Bilder von anderen Kulturen als „authentisch“ wahrzunehmen, welches leicht zur Verkennung und Verklärung anderer Kulturen führt. Jedoch ist hier anzumerken, dass es hierbei in erster Linie nicht darauf ankommt, Herder zu kritisieren, sondern vielmehr darum, die darüber hinausgehenden Bedeutungen von Identität und Kultureller Identität zu widerlegen, die im heutigen Diskursgeschehen noch weitgehend verankert sind. Der Terminus „Identität“ lässt sich vom lateinischen Wort idem ableiten, so dass der Begriff wörtlich in etwa mit „Selbigkeit“ übersetzt werden kann. Als philosophischer Terminus geht er auf das griechische Wort autos, to auton (dasselbe) zurück. Der Begriff wurde bereits von Platon in Zusammenhang mit der Frage nach dem menschlichen Sein schlechthin verwendet und damit nach seiner 18 Taylor 1997, S. 20 19 Die klassische Vorstellung der Kulturellen Identität wird mit Herders Idee der nationalen Identität gleichgesetzt und sie steht in enger Verbindung mit der sprachlichen Identität. Jedoch ist diese Annahme kultureller und sprachlicher Homogenität der Nationalkultur für gegenwärtige multikulturelle Gesellschaften unhaltbar geworden. So wird im Diskurs darauf hingewiesen, dass sich Kulturen im Gegensatz zu territorial definierten Nationalkulturen über große Räume ausdehnen können. Auf Grund dieser räumlichen Ausdehnung der Kulturen wird der Begriff „Kulturelle Identität“ heute oft mit Begriffen wie „Nationalkultur“, „ethnische Kultur“ usw. vermischt. Vgl. Wagner, in: Assmann/Friese (Hg.) 1998, S. 48ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Identität im Allgemeinen. Das Problem der Identität liegt zum einen darin, zu definieren, wer man selbst überhaupt ist, und zum anderen, ob man stets derselbe ist. Nicht nur der Körper eines Menschen verändert sich mit der Zeit, sondern auch die Erkenntnis von sich selbst, d.h. von Vorlieben, Begierden, Meinungen und Gewohnheiten, die nie ein Leben lang gleich bleiben, da sie permanent entstehen und vergehen. Indem ein menschliches Dasein auf Grund der Vergänglichkeit nicht kontinuierlich gleich bleiben kann, bedeutet das, dass es nichts aus sich heraus unabhängig Identisches bzw. Substantielles im menschlichen Leben gibt.20 Im Grunde genommen ist daher das menschliche Dasein eigentlich durch „NichtIdentität“ charakterisiert bzw. durch ständigen Wandel und neue Identitätssuche. Jedoch wies Platon auf eine Lösung dieses Problems hin, insofern als man durch die Erinnerung einen Schein der Identität im Wissen erzeugen kann, so dass man trotz seines nichtidentischen Daseins von anderen erkannt und angesprochen werden kann.21 Nach Platons Überlegungen lässt sich feststellen, dass Herders Ausgangspunkt von einem natürlichen, essentiellen Selbst eine Fiktion ist, weshalb sich sein Konzept daher als eine Strategie zur Konstruktion einer Scheinidentität entpuppt. Die von Herder postulierte traditionelle Vorstellung von naturgegebener, homogener Identität steht in diametralem Gegensatz zur Theorie des Anti-Essentialismus und der Postmoderne. Bei Letzterer wird davon ausgegangen, dass Identität keinen inneren substanziellen Kern besitzt, sondern eine reine Konstruktion ist. Deshalb wird hierbei nicht mehr die Frage nach der Identität gestellt, sondern nach der Strategie der Selbstrepräsentation bzw. wie man eine Identität selbst konstruieren kann. In Bezug auf kulturelle Identität weist bereits Benedict Anderson, einer der prominenten Theoretiker in Zusammenhang mit der Debatte um nationale Identität, darauf hin, dass die kollektive Identität bzw. „Wir-Gruppe“ eigentlich eine „imagined community“ darstellt.22 Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei Großgruppen wie z.B. „Nationen“ oder „Geschlechtern“ um „unechte Wir-Gruppen“, da sie nicht durch eine kommunikative Interaktion entstehen. Solche ideologisch konstruierten PseudoIdentitäten werden durch die Abgrenzung und Differenzierung von anderen Gruppen hergestellt. 23 So verweist Derridas Konzept der différance darauf, dass die Strategie der Identitätsbildung darin liegt, dass eine Differenzierung von anderen definiert wird, also

20 Böhme, in: Wulf (Hg.) 1997, S. 686f 21 Ebd., S. 688 22 Assmann/Friese, in: Dies. (Hg.) 1998, S. 12 23 Straub, in: ebd., S. 100

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage nicht durch what it is sondern durch what it is not.24 Durch die absolute Grenzziehung werden binäre Beziehungen sowie Dichotomien aufgebaut, wie Mann und Frau, Eigenes und Fremdes, Orient und Okzident, Ost und West, Tradition und Modernität usw., wodurch Hierarchien etabliert werden. Insofern ist die Konstitution der sozialen Identitäten im Sinne von Laclau als „ein Akt von Macht“ zu verstehen. Dazu schreibt Hall: „So the unities which identities proclaim are, in fact, constructed within the play of power and exclusion, and are the result, not of a natural and inevitable or primordial totality but of the naturalized, over-determined process of closure.“25

Daraus lässt sich folgern, dass die kollektive Identität bzw. Kulturelle Identität durch ein mächtiges Verfahren der Grenzziehung und Ausgrenzung konstruiert wird, die das Eigene und damit auch die Norm kennzeichnet und festigt. Sie bestimmt nicht nur das Verhältnis zu anderen Gruppen, Gesellschaften und Kulturen, sondern baut damit auch eine politische, soziale und kulturelle Hierarchie auf. Somit trägt eine solche Ausgrenzung dazu bei, die inneren Konflikte zu verleugnen und zu einer kollektiven Solidarität gegenüber Fremdeinflüssen auffordern zu können, wodurch die innere Kohärenz verstärkt werden soll. Dadurch werden die kulturellen Werte und Grenzen zu unüberbrückbaren Gegensätzen erklärt und als essentielle Gegebenheiten proklamiert, die aber tatsächlich nur eine Fiktion sind. Diese imaginäre Abgrenzung sorgt nicht nur für Missverständnisse und Konflikte bei interkulturellen Begegnungen, sondern verhindert auch den transkulturellen Prozess.26 Nach der traditionellen Vorstellung wird Identität bei Herder als absolute Identifikation mit der eigenen Einheit verstanden. Demnach wird Identifikation durch Anerkennung eines gemeinsamen Ursprungs konstruiert, durch gemeinsames Teilhaben an einem Ideal, einer Gruppe usw. charakterisiert und durch natürliche Prinzipien wie Treue und Solidarität etabliert. Dabei wird Identifikation

24 Derrida, Jacques: „Différance“, in: du Gay, Paul/Evans, Jessica/Redman, Peter (Hg.): Identity: A Reader, London 2000, S. 87ff 25 Hall, Stuart: „Introduction: who needs Identity?“, in: Ders./du Gay, Paul (Hg.): Questions of Cultural Identity, London, Thousand Oaks, New Delhi 1996, S. 5 26 Diese theoretischen Grundlagen lassen sich immer wieder bei realen politischen Prozessen feststellen, wodurch sich ihre Richtigkeit belegen lässt. Jüngstes Beispiel ist ein neu aufkommender Patriotismus in der USamerikanischen Gesellschaft nach den Anschlägen des 11. September 2001.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? als totale Verschmelzung mit den identifizierten Objekten aufgefasst. Da sich jedoch durch den Diskurs der 1960er Jahre herausgestellt hat, dass eine solche totale Verschmelzung eine Phantasievorstellung ist, weil die inneren Differenzen nie ganz beseitigt werden können, äußert sich Hall dazu folgendermaßen: „Identification is a process of articulation, a suturing, an over-determination not a subsumption. There is always ‚too much‘ or ‚too little‘ – an overdetermination or a lack, but never a proper fit, a totality.“27 Insofern wird Identifikation in diesem Diskurs nicht mehr durch ein Entweder-oder-Modell im Sinne von „Bewahren“ oder „Aufgeben“ bzw. von „Gewinn“ oder „Verlust“ aufgefasst, sondern sie relativiert sich, wobei dies von den jeweiligen Bedingungen und Möglichkeiten abhängt. Daher wird sie als eine Konstruktion und als ein Prozess aufgefasst, der nie abgeschlossen werden kann und Identität lässt sich nicht mehr als eine natürliche, homogene Einheit betrachten. In der Tat wird sie immer mehr fragmentiert und gebrochen und durch verschiedene Differenzen, Gegensätze, Diskurse und Positionen dekonstruiert und rekonstruiert. Kontinuität und Kohärenz verlieren ihre Gültigkeit, stattdessen zeichnet sich die Lebensorientierung der Menschen durch Flüchtigkeit, Wandlungsfähigkeit und Instabilität aus, so dass der Begriff „Identität“ oft mit der „Postmoderne“ verknüpft wird. Wie Douglas Keller in einer Untersuchung der postmodernen Identität darlegt, wird die Identität heute zu einem frei gewählten Spiel, einer theatralischen Darstellung des Selbst, in der man sich über Verschiebungen, Transformationen und dramatische Wechsel in einer Vielfalt von Rollen, Bildern und Tätigkeiten präsentieren kann. 28 Insofern handelt es sich nicht mehr um eine singuläre, einheitliche Identität, sondern um eine vielfältige Strategie der Selbstrepräsentation, wodurch das traditionelle Identitätsbildungskonzept herausgefordert und durchbrochen wird. In den verschiedenen Diskursmodifikationen, wie diaspora, différence, fragmentation und „Hybridität“ wird nicht nur der klassische Begriff der Kulturellen Identität untergraben, sondern es verschwindet auch die Gemeinsamkeit und das Kollektive, so dass der Unterschied zu Anderen in den Vordergrund gerückt wird. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass dabei weder von einer echten „WirGruppe“ noch von einer wirklichen kollektiven Identität die Rede ist. Vielmehr wird Identität zu einem scheinbar „freien“ Spiel des Indivi-

27 Hall, in: Ders./du Gay 1996, S. 3 28 Kellner, Douglas: „Popular culture and the construction of postmodern identities“, in: Lash, Scott/Friedman, Jonathan (Hg.): Modernity and Identity, Oxford/Cambridge/Blackwell 1992, S. 141ff

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage duums, bei dem man sie im globalen „Supermarkt“ beliebig auswählen kann und sich Differenz und Einzigartigkeit zuschreibt.29 Es lässt sich zusammenfassen, dass die alte Auffassung der Kulturellen Identität, die seit der Moderne mit dem Begriff der Nationalkultur verflochten ist und als essentielle sowie unumstößliche Gegebenheit festgeschrieben ist, im postmodernen Diskurs als eine manipulative Konstruktion zur Expansion und Legitimation der Macht und zum Aufbau einer Hierarchie entlarvt wird. Im Gegenzug zum puristischen und homogenen Kulturbegriff etablierte sich allmählich das Kulturkonzept „Hybridität“, das von Homi Bhabha auf einen „dritten Raum“ (third space) verortet wird, als Paradigmenwechsel für ein neues Identitätsbewusstsein in Form eines globalen soziokulturellen Wandels, der dazu beitragen soll, sowohl die politische Hierarchie zwischen ehemaligen Kolonisierten und Kolonisierenden abzubauen bzw. neu zu konstruieren als auch den transkulturellen Prozess voranzutreiben. Da dieses Konzept eng mit dem des Exotismus bzw. Orientalismus verbunden ist, wird dies erst in Kapitel I.2.2 vertieft.

I.1.3 Authentizität und Tradition Obwohl Herders Auffassung von naturgegebenen, puristischen Kulturen und homogenen Nationen in den postmodernen und postkolonialen Diskursen als „Mythos“ entlarvt wird, wird sein Ausgangspunkt von der Einzigartigkeit und Differenz der Subjekte (in Bezug auf Individuen und Nationalkulturen) weiterhin vielfach als Idealzustand angestrebt. Dies zeigt sich z.B. daran, dass sich „Authentizität“ erst seit der Mitte des 20. Jh. zum Modebegriff in den westlichen Ländern (Nordamerikas und Westeuropas) etabliert hat. Sein Einflussbereich erstreckt sich dabei über ein breites gesellschaftliches Spektrum von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kunst, Medien, Philosophie und Religion. 30 Diese allgemeine Verbreitung verweist auf eine sozial und kulturell erzeugte Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Echtheit, Wahrhaftigkeit und Einzigartigkeit, die sich die global agierende Industrie für ihre eigenen Interessen zunutze macht. Das scheinbar unstillbare Verlangen nach Authentizität stellt nicht zuletzt ein kulturelles Zeitphänomen dar, das mit der Erweiterung der Reproduktionsfähigkeit des technologischen Fort29 Grossberg, Lawrence: „Identity and Cultural Studies: Is That All There Is?“, in: Hall/du Gay (Hg.) 1996, S. 90 30 Knaller, Susanne: Ein Wort aus der Fremde: Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg 2007, S. 6

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Westlicher Geist im östlichen Körper? schritts einhergeht, wobei ein Prototyp zur Vervielfältigung in der Industrie als einziges Original aufgewertet wird. Vor diesem Hintergrund wird die Grundidee der Authentizität aus der Zeit der Aufklärung fortgeführt und ihr Bedeutungsspektrum ausgeweitet, indem auch ästhetische, moralisch-ethische und kognitive Elemente hinzugekommen sind.31 Auf Grund seiner vielfältigen Anwendungsbereiche und heterogenen Bedeutung ist eine einheitliche Definition äußerst schwierig. Die Schwammigkeit und Beliebigkeit des Begriffs trägt dazu bei, dass man sich bei ihm leicht bedient, um bestimmte Werte zu konstatieren oder durchzusetzen. Das Konzept „kultureller Authentizität“ ist gekoppelt an die Differenz und „Reinheit“ der Kulturen und steht somit in Korrelation mit dem Begriff „Tradition“. Daher ist die Problematik dieses Konzepts im gegenwärtigen interkulturellen Diskurs von zentraler Bedeutung. In Anbetracht dessen soll nachfolgend auf die etymologische Herleitung, Charakteristiken und Funktionen des Begriffs eingegangen werden. Der Begriff „Authentizität“ geht auf das griechische Wort authentés zurück, das sich als „Ausführer“ und „Selbstherr“ übersetzen lässt. Damit ist derjenige gemeint, „der etwas mit eigener Hand“ und „aus eigener Gewalt vollbringt“ und lässt sich als „Urheber“, aber auch als „Selbstmörder“ verstehen. 32 Der letzte Aspekt im Sinne einer Selbstdekonstruktion hat jedoch bei der heutigen Verwendung seine Relevanz eingebüßt, wohingegen ausschließlich die erste Bedeutung zum Tragen kommt. Aus dieser griechischen Wurzel ist das spätlateinische Wort authenticus entstanden, das die Bedeutungen „eigenhändig“, „verbürgt“ und „echt“ beinhaltet. Das Wort „authentisch“ wurde seit dem 16. Jh. im deutschen Sprachraum gebräuchlich und hauptsächlich auf Schriftstücke angewandt, wobei eine maßgebliche Instanz (wie z.B. die Kirche oder ein wissenschaftliches Institut) die Originalität, Zuverlässigkeit und Rechtmäßigkeit anerkennt.33 Dementsprechend umfasst der theologische Terminus „Authentizität der Schriften“ zwei grundsätzliche semantische Dimensionen des Begriffs: Im juridischen Sinne bezeichnet Authentizität „den normativen und autoritativen Anspruch der Offenbarung, die in den inspirierten, irrtumsfreien, kanonisierten Schriften ihre uns vermittelte Gestalt fand.“34 Dabei galten neben den Originalen auch deren

31 Knaller 2007, S. 7 32 Röttgers, Kurt/Fabian, Reinhard: „authentisch“, in: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, S. 691ff 33 Knaller 2007, S. 7 34 N.N.: „Authentizität der Schrift“, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Bd. 3, Mannheim/Wien/Zürich 1971, S. 189

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage Abschriften und Übersetzungen als authentisch, solange sie mit den Originalen übereinstimmten und von der katholischen Kirche anerkannt wurden. Auf literarkritischer Ebene stellt sich die Frage nach der historischen „Echtheit“ einer Schrift, d.h. ob diese genuin und unversehrt ist, d.h. ob die Schrift vom Verfasser selbst zu stammen vorgibt und ohne wesentliche Änderungen wie Textfälschungen, Zusätze und Streichungen usw. intakt erhalten ist. 35 Auch wenn heute eine Abschrift oder Übersetzung gegenüber einem Original nicht mehr als gleichwertig eingestuft wird, ist diese doppelte begriffliche Fassung im theologischen Kontext ebenso relevant wie im alltäglichen Gebrauch und in der wissenschaftlichen Anwendung. In diesem Sinne handelt es sich bei der Authentizität eines Werkes um eine Qualität, die nicht an ein materielles Trägermedium gebunden ist, so dass weder die Merkmale eines Objekts noch der Urheber selbst, sondern eine Institution wie die Kirche über die Autorität verfügt, Echtheit von Urheberschaft zu beglaubigen und zu garantieren.36 Indem die Bestimmung der Authentizität also ausschließlich von der äußerlichen Anerkennung der jeweiligen Institutionen abhängt, beruht der entscheidende Faktor für die Unterscheidung von „authentisch“ und „inauthentisch“ letztendlich auf Glaube und Autorität. Ferner bezieht sich das Attribut „Echtheit“ hier nicht nur auf eine richtige oder falsche Autorisierung, sondern ist auch ein Ausdruck der Wahrheit und Wahrhaftigkeit.37 Um die Problematik und Funktion des Begriffs zu erläutern, möchte ich dem Grundkonzept der Authentizität nachgehen, welches mit dem getreuen Abbild eines Originals korrespondiert. Die Bedeutungszuschreibung der Authentizität setzt daher ein „Original“ (von lat. origo: das Echte, Ursprüngliche) voraus, welches den Ursprung und implizit auch die Wahrheit verkörpert. In der Konsequenz treten damit eine Reihe von Fragen für dieses Konzept auf: Was kann als Original gelten? Wie lässt sich feststellen, dass das vermeintliche Original tatsächlich der Ursprung ist und nicht doch eines Tages eine noch ursprünglichere Quelle gefunden wird? Wie lässt sich überprüfen, dass das angebliche Originalbild die Wahrheit vertritt, wenn die Wirklichkeit je nach Erfahrung, Wissen und 35 Seidenspinner,

Wolfgang:

„Authentizität:

Kulturanthropologisch-

erinnerungskundliche Annäherungen an ein zentrales Wissenschaftskonzept im Blick auf das Weltkulturerbe“, in: Kunsttexte.de, 4/2007, S. 4. Siehe: www.kunsttexte.de/2007-4/seidenspinner-wolfgang-4/PDF/seidenspinner.pdf [Stand: 08.12.2007] 36 N.N.: „Authentizität“, in: Wetzer und Weltes Kirchenlexikon oder Enzyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1, Freiburg 1882, S. 1730 37 Noetzel, Thomas: Authentizität als politisches Problem: Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung, Berlin 1999, S. 19

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

Wahrnehmung der Menschen unterschiedlich geprägt ist? Ein Original bzw. eine authentische Repräsentation hiervon als objektive Wirklichkeit beschreiben zu können „[…] setzt die Lösung des epistemologischen Problems voraus, zu gesicherten, objektiven Aussagen über das Wesen, den wirklichen Kern, die Substanz von Dingen und Personen zu kommen. Diese erkenntnistheoretische Fragestellung ist in den bislang dargestellten Operationalisierungen der Kategorie des Authentischen nicht bearbeitet worden. Vielmehr haben die jeweiligen Unterscheider von Authentizität/Inauthentizität ihren Zugriff auf die Wirklichkeit als quasi selbstverständlich angesehen und keine weiteren Gründe die Richtigkeit ihrer jeweiligen Weltsicht mobilisiert.“ 38

Sobald man davon ausgeht, dass die Bewertung oder Zuschreibung der Authentizität sich auf ein „wahres“ Original bzw. eine „objektive“ Aussage über das Wesen stützt, gerät man somit in die Falle von essentialistischen Ansprüchen des Authentischen. Denn das Authentizitäts-Konzept operiert letztlich mit der gesellschaftlichen und politischen Zuschreibung, ohne sich mit dem „Sein“ eines bestimmten Objekts festmachen zu lassen. 39 Authentizität ist daher eine reine Illusion bzw. ein Effekt, durch den eine Repräsentation „wahrhaft“ zu sein scheint. Wie sie von den Wahrnehmenden als „wahr“ und „echt“ empfunden werden kann, hängt nicht nur von Erfahrung, Wissen und Bedürfnissen des Betrachters ab, sondern auch von den Wertmaßstäben der Gesellschaft. In diesem scheinbar direkt interaktiven Vorgang von Repräsentation und Wahrnehmung ist das Wissenschaftssystem relevant, denn es autorisiert und stützt dieses Modell.40 Dies bedeutet nicht zuletzt, dass sich die Bedingungen für die jeweilige Authentizitätszuschreibung einerseits durch den Wandel der sozialen Wertmaßstäbe verändern und andererseits der Wert durch die Bestimmung der autorisierten Institutionen gesteuert werden kann. Dies entspricht der theologischen Praxis, nach der das „Original“ die über alle Zweifel erhabene Norm bzw. den Kanon darstellt, der von der katholischen Kirche vorgegeben wird und an dem nicht gerüttelt werden darf. Dies bedeutet, dass die normative Bedeutungszuschreibung der Authentizität nach bestimmten Mechanismen abläuft, ein „Original“ als Norm bzw. Wahrheit vorauszusetzen, seine Repräsentation als authentisch oder unauthentisch zu bezeichnen und zugleich institutionell als richtig oder falsch zu bewerten und daran die Wertmaßstäbe festzulegen und zu kontrollieren.

38 Noetzel 1999, S. 29ff 39 Ebd., S. 31ff 40 Knaller 2007, S. 9

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage Es lässt sich daher feststellen, dass Authentizität als Geltungs- und Wertbegriff vom Prinzip her immer mit Macht verwoben ist.41 Andererseits wird Authentizität auch mit Individuen in Verbindung gebracht und bezeichnet eine Person, deren Handeln nicht durch externe Einflüsse wie Gruppenzwang oder Manipulation bestimmt ist, sich ungekünstelt, natürlich und damit unverfälscht verhält. Als Individualitätskategorie kann Authentizität somit dazu dienen, die Autonomie und Souveränität des eigenen Handelns zu charakterisieren. Jedoch muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesem Selbstbild, wie im Rahmen des Diskurses über Identität in Kapitel I.1.2 dargelegt wurde, um ein „imaginäres Ich“ handelt und deshalb in Wirklichkeit eine Selbstkonstruktion und Selbstinszenierung darstellt, so dass diese eigentlich als unauthentisch gelten muss. Ferner tritt ein weiteres Paradoxon auf: Dadurch, dass das Authentizitätskonzept gleichzeitig in einem Beglaubigungskontext verhaftet ist, kann die Autonomie durch Fremdbestimmung wieder entzogen werden, indem das Selbstbild vom Betrachter nicht als authentisch sowie wahrhaftig wahrgenommen und anerkannt wird. Infolgedessen wird Authentizität in einem Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbestimmung konstruiert, so dass wegen dieser Ambivalenz die vermeintlich autonome Selbstrepräsentation nicht zuletzt auch eine freiwillige Unterwerfung unter die Autorität des Anderen sein kann, wodurch die externen Einflüsse unerkannt bleiben. Somit ist die Bestimmung der Repräsentation des Anderen abhängig vom Machtverhältnis zwischen Subjekt und Objekt bzw. von den jeweiligen Interessen beider Seiten.42 Auf Grund der semantischen Implikationen von Wahrheit und Machtansprüchen kann Authentizität zur politischen Legitimation instrumentalisiert werden, was auf zwei Ebenen in Form von Selbstdefinition und Bestimmung des Fremden stattfinden kann: Erstens lassen sich staatliche Strukturen durch die Erfindung von „authentischer“ Sprache, Geschichte und Kultur etablieren. 43 In diesem Zusammenhang weisen Eric Hobsbawm und Terence Ranger in ihrem Buch The Invention of Tradition darauf hin, dass „Tradition“ durch zwanghafte Wiederholung eine künstliche Kontinuität geschaffen und gleichzeitig der Anspruch erhoben wird, etwas sei „immer schon“ ein fester Bestandteil der eigenen Kultur gewesen.44 Indem neue „Traditionen“, Symbole und Interpretationen konstruiert werden und die Zuschreibung von Authentizität erhalten, bildet

41 Vgl. Knaller 2007, S. 9f 42 Ebd., S. 21ff 43 Noetzel 1999, S. 39 44 Hobsbawm, Eric: „Introduction: Invention Traditions“, in: Ders./Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? sich eine Legitimationsgrundlage für das politische Handeln heraus, wodurch die Identität der Nationalkulturen neu definiert und verstärkt werden kann.45 Zweitens kann die Inszenierung des Fremden als „authentische“ Repräsentation ebenfalls für politische Zwecke sowie zur Stabilisierung des eigenen Selbstverständnisses benutzt werden. Im heutigen interkulturellen Bereich kommt dem Konzept der Authentizität, das in der ersten Hälfte des 20. Jh. in Anthropologie und Ethnologie entstanden ist, eine zentrale Rolle zu. Noch bis in die 1960er Jahre waren zahlreiche Studien von Ethnologen grundlegend darauf fixiert, die „primitiven“ Stammeskulturen bzw. das Fremde oder Exotische als Überbleibsel des Authentischen zu betrachten. Eine solche Auffassung vertritt exemplarisch der einflussreiche Anthropologe Claude Lévi-Strauss, indem er den Hauptverdienst der Anthropologie darin sieht, „[…] dass sie in allen Formen des sozialen Lebens zu isolieren sucht, was wir die Ebenen der Authentizität genannt haben: entweder vollständige Gesellschaften (die sich sehr häufig unter den so genannten ‚Primitiven‘ finden); oder Modi sozialer Tätigkeit (die sogar innerhalb der heutigen oder ‚zivilisierten‘ Gesellschaften isolierbar sind), die sich aber in allen Fällen durch eine besondere psychologische Dichte definieren lassen und in denen die Beziehungen zwischen den Menschen und das System der sozialen Beziehungen integriert sind und ein Ganzes bilden.“46

Somit kennzeichnen sich für ihn die „primitiven“ Kulturen durch Authentizität, indem bei diesen Informationen über die mündliche Tradition vermittelt werden. Hingegen leidet die moderne Gesellschaft auf Grund der Ausdehnung der Massenkommunikation in Form von Büchern, Fernsehen, Presse, Radio usw. am Mangel unverstellter, direkter menschlicher Kontakte und Beziehungen. Auch wenn er konstatiert, dass „die Gesellschaften von heute nicht ganz ohne Authentizität“ seien, so verliere das Individuum in der Moderne insgesamt doch seine authentischen Eigenschaften.47 Nach dieser Auffassung enthält Authentizität, in Bezug auf die nichtwestlichen Kulturen bzw. „das Fremde“, Konnotationen, die mit den Eigenschaften „primitiv“, „traditionell“, „archaisch“ und „schriftlos“ gekennzeichnet sind. Lévi-Strauss’ Perspektive lässt sich auf Rousseaus Position zurückführen, wonach er mit dem Begriff der „authentischen Freiheit“

45 Dieser Punkt wurde bereits in Kapitel I.1.1 erläutert. 46 Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1967, S. 399 47 Ebd., S. 393ff

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage für die Rückkehr zum Urzustand der natürlichen Unschuld der Menschen plädiert, da seiner Ansicht nach die Gesellschaft verantwortlich für die Entfremdung und Unehrlichkeit des Individuums sei. Um sich von sozialen Bürden zu befreien und die eigene Autonomie zurück zu gewinnen, solle sich der Mensch nicht an der Anerkennung der Anderen oder den gesellschaftlichen Erwartungen orientieren, sondern auf seine innere Stimme hören.48 Dementsprechend verherrlicht Rousseau somit die „Primitiven“ als edle und tugendhafte „Wilde“, so dass seine Gegenüberstellung von Vergesellschaftlichung und Naturzustand zugleich eine Dichotomie zwischen Kultur und Natur darstellt. In Analogie dazu basiert Lévi-Strauss’ Unterscheidung von „authentisch“ und „inauthentisch“ ebenfalls eindeutig auf der Dichotomie von Tradition und Modernität, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. als wichtige Typologie in der klassischen Soziologie entwickelt und von Soziologen wie Tönnies und Durkheim vertreten wurde. Trotz vieler Kritikpunkte beherrschte dieses Modell für lange Zeit die Sozialwissenschaften und schuf ein manifestes Bild traditioneller und moderner Gesellschaften. Nach diesem Bild werden die traditionellen Gesellschaften oft als stagnierend, konservativ, autoritär und kollektiv dargestellt, wohingegen die modernen Gesellschaften als dynamisch, innovativ, individuell und rational bezeichnet werden. Dieser Gegensatz zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften führte oft zu einer problematischen Sicht der Bedeutung moderner und traditioneller Elemente für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft, da angenommen wurde, dass eine Modernisierung erst nach der Zerstörung der traditionellen Elemente möglich sei.49 Diesem Bild entsprechend bezeichneten deutsche Wissenschaftler wie Karl Marx und Max Weber die östlichen Gesellschaften als traditionell und die westlichen als modern, so dass die Dichotomie zwischen Tradition und Modernität mit der Dichotomie zwischen Ost und West gleichgesetzt wurde.50 Daraus ergibt sich, dass die Vorstellung der Dichotomie von Tradition und Modernität sowie von Ost und West auf der Überzeugung beruht, dass der Westen überlegen sei. Es stellt sich die Frage, ob diese Dichotomie von „Tradition und Modernität“ sowie ihre Parallelität zur Dichotomie von „Ost & West“ auch heute noch ihre Gültigkeit besitzt? In Anbetracht der Expan-

48 Noetzel 1999, S. 65 49 Eisenstadt, Samuel Noah: Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt am Main 1979, S. 42ff 50 Goody, Jack: „Experience and Expectation of the East“, in: Arts, Wil (Hg.): Through a glass, darkly: blurred images of cultural tradition and modernity over distance and time, Leiden/Boston/Köln/Brill 2000, S. 31

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Westlicher Geist im östlichen Körper? sion der imperialistischen Mächte des Westens wurde die Modernisierung, die zum Synonym für die Verwestlichung östlicher Länder geworden ist, im Osten als unausweichlicher Prozess angesehen und durchgeführt, um politische Autonomie zu bewahren und sich von der westlichen Hegemonie zu befreien bzw. sogar irgendwann mit ihr konkurrieren zu können. Aus diesem Grund eifert der Osten dem Westen bis heute in den Bereichen Technologie, Industrie, Wissenschaft, Gesetzgebung, politische Infrastruktur, bis hin zu künstlerischen Bereichen wie dem Theater nach. Dabei stellt sich aber heraus, dass die Zerstörung der Tradition nicht unbedingt zur Modernisierung beigetragen hat, sondern im Gegenteil, eine soziale Destabilisierung zur Folge hat. Angesichts dieses Problems vollzogen viele ehemals antitraditionell eingestellte Eliten eine Kehrtwende und versuchten stattdessen, wieder mehr traditionelle Aspekte und Symbole in die Gesellschaft einzubinden und durch eine Fusion von traditionellen mit westlichen Strukturen, eine eigene moderne soziale Ordnung aufzubauen. Zweifelsohne bedeutet diese politische und soziale Umwälzung eine erhebliche Erschütterung der eigenen Traditionen. Auf der anderen Seite zeigt sich in vielen Fällen, dass Tradition und Modernität nicht immer in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen, sondern sich auch gegenseitig ergänzen und ineinander integrieren lassen. Somit profitiert z.B. Japans politische Modernisierung von einer Verbreitung traditioneller Kultur durch moderne Techniken wie Massenmedien, so wie dies auch in Indien oder Taiwan der Fall ist.51 Solche Beispiele belegen, dass die östlichen Länder bereits zu einem großen Teil die westliche Kultur integriert haben, weshalb man ihre Gesellschaften längst nicht mehr als „rein“ traditionell bezeichnen kann. Ferner wird die Modernität nach dieser Vorstellung von kultureller Dichotomie allein den westlichen Kulturen zugeschrieben, als ob keine westlichen oder östlichen Traditionen in die modernen westlichen Gesellschaften Einzug gehalten hätten. Die strikte Grenzziehung zwischen Tradition und Modernität kaschiert, dass traditionelle Symbole, Wissen und Kräfte z.B. für moderne Wissenschaften und Technologien von unermesslicher Bedeutung sind. Als Beispiele können die Grundlagen des Strichcodes und der Computersprache genannt werden. So basiert das digitale Rechensystem auf dem von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) entwickelten Binärsystem, zu dem er durch seine Studien des chinesischen Orakelbuchs Yijing (Buch der Wandlungen) angeregt wurde. 52 Alleine

51 Eisenstadt 1979, S. 280ff 52 Im chinesischen Orakelbuch Yijing symbolisiert ein ganzer Strich das Yang (das Obere) und ein unterbrochener Strich das Yin (das Untere). In diesem Hexagramm besteht die Grundeinheit aus sechs Strichen, die durch ver-

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage dieses Beispiel zeigt, wie wichtig die Tradition für die Modernität ist, so dass man nicht behaupten kann, dass Tradition zwangsläufig im Gegensatz zur Moderne stehe. Außerdem kann festgehalten werden, dass Modernität keine reine Entwicklung des Westens ist und dass der Westen auch heute noch mitunter stark von traditionellem Wissen profitiert, wie z.B. in der Pharmazie bei der Patentierung von Wirkstoffen aus traditionell genutzten Heilpflanzen indigener Völker.53 Eine Gleichsetzung des Ostens mit Tradition und des Westens mit Modernität ist daher nicht haltbar. Durch die Untersuchung der Dynamik und Konstruktion von Tradition sowie der Kontinuität kultureller Modelle und Codes formulierte Eisenstadt, dass sich die moderne Gesellschaft zwar einerseits von der traditionellen unterscheidet, gleichzeitig aber auch eine neue Tradition darstellt: „Die Modernität entwickelte sich im Verlauf einer Reihe historischer Prozesse, die zuerst in Europa stattfanden und nicht nur soziale Strukturen und Organisationen, sondern auch eine neue Zivilisation, eine ‚große Tradition‘, eine nichttraditionelle ‚große Tradition‘ schufen.“ 54

Demnach lässt sich die Modernität nicht als Gegensatz zur Tradition auffassen, sondern sie schließt Tradition schon immer ein. Dass Modernität als Kontinuität der Tradition anzusehen ist, zeigt sich, wenn man sich die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „Tradition“ vor Augen führt: „Tradition“ leitet sich von „tradieren“ ab, was in etwa „wandeln“ und „weitergeben“ bedeutet (von lat. transire = hinübergehen), woraus sich folgern lässt, dass Tradition per Definition weder statisch noch „rein“ sein kann. Da Tradition sich ständig im Wandel befindet und ihr damit Reinheit wesensfremd ist, ist eine „authentische Tradition“ eine bloße Fiktion, welche die unrealistische Annahme voraussetzen würde, dass „Tradition“ zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte geschaffen und bis in die heutige Zeit unverändert beibehalten worden wäre.

schiedene Kombinationen von ganzen und unterbrochenen Strichen gebildet werden. Nach einem ähnlichen Prinzip rechnet ein Computer auf der Grundlage der Zahlen 1 und 0 (Bit), die sich zu einer Bedeutungseinheit verbinden (Byte). Nicht zuletzt lässt sich auch das Prinzip des Strichcodes auf Handelsgütern durch die sich zu Zahleneinheiten zusammenfügenden Striche und Leerräume auf das Yijing zurückführen. Vgl. Holz, Hans Heinz: „Characteristica universalis und Yijing in metaphysischer Perspektive“, in: Li, Wenchao/Poser, Hans (Hg.): Das Neueste über China: G. W. Leibnizens Novissima Sinica von 1697, Berlin 1997, S. 122ff 53 Wullweber, Joscha: Das grüne Gold der Gene, Münster 2004, S. 39ff 54 Eisenstadt 1979, S. 227ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Dennoch ist der alltägliche Gebrauch des Begriffs „Tradition“ tief vom dichotomischen Modell geprägt, so dass seine Anwendung gegenüber den nicht-westlichen Kulturen die Implikationen von Rückständigkeit, Naturnähe, Ganzheit und fehlender Technologie enthält. Auch wenn Authentizität einen gesellschaftlich hohen Wert darstellt, basiert Lévi-Strauss’ Zuschreibung der Authentizität zu „traditionellen“ und „archaischen“ Kulturen auf derselben binären, eurozentrischen Denkstruktur, so dass eine solche „Aufwertung“ des Fremden dennoch die vorausgehende Abwertung aus der Zeit des Kolonialismus einschließt. Diese „Mythen des Anderen“ - nämlich des Fremden als „Residuum des Authentischen“ – wurden mittlerweile von der jüngeren Generation der Anthropologen und Ethnologen wie Clifford Geertz, Lionel Trilling und anderen entzaubert.55 Nichtsdestoweniger wird die Begegnung mit dem Fremden seit den 1970er Jahren bis heute immer noch vom Verlangen nach Authentizität getrieben, was sich insbesondere beim Tourismus bemerkbar macht. Nach den Ergebnissen der soziologischen Tourismusforschung richtet sich die Sehnsucht der nicht-westlichen Kulturen auf die „Echtheit“ von Erfahrungen und Erlebnissen hinsichtlich touristischer Orte, Plätze, Szenerien, Gegenstände (wie Souvenirs und Kunstwerke), folkloristischen Darbietungen (wie traditionellem Theater und Tänzen) sowie Interaktionen zwischen Touristen und Einheimischen. 56 Die als „authentisch“ im Sinne von nichtinszeniert, ursprünglich und unverfälscht ausgewiesenen Orte, Menschen oder Handlungen erweisen sich in Wirklichkeit jedoch als inszeniert, einkalkuliert und entfremdet – und damit eben doch als inauthentisch. Das Authentizitätskonzept muss, in Analogie zum Theater, in einem interaktiven Prozess von Inszenierung, Erfahrung und Beglaubigung immer wieder durch die reziproke Fremd- und Selbstwahrnehmung von Akteuren und Beobachtern ausgehandelt werden.57 Somit lässt sich Authentizität als eine „Wahrnehmungskategorie“ auffassen, die von den Bedürfnissen, Erwartungen und Erfahrungen der Wahrnehmenden abhängt. 58 Diesbezüglich definiert der Anthropologe Richard Handler Authentizität als „ein kulturelles Konstrukt der modernen westlichen Welt“. Die Zuschreibung von Authentizität liegt demnach für ihn im modernen westlichen Verlangen danach begründet, so dass dieses 55 Vgl. Geertz, Clifford: Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller, München/Wien 1990, S. 15ff u. Trilling, Lionel: Das Ende der Aufrichtigkeit, München 1980, S. 149 56 Vester, Heinz-Günter: „Authentizität“, in: Hahn, Heinz/Kagelmann, H. Jürgen (Hg.) Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft, München 1993, S. 122 57 Noetzel 1999, S. 32 58 Vester, in: Hahn/Kagelmann (Hg.) 1993, S.124

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage Bedürfnis mehr über den Westen selbst aussagt als über nichtwestliche Kulturen: „Our search for authentic cultural experience – for the unspoiled, prestine, genuine, untouched and traditional – says more about us than about others.“59 Nicht zuletzt kommt diese Problematik in Lévi-Strauss’ Standardwerk Tristes tropiques zum Vorschein. Im Kapitel The End of Travels beklagt er sich darüber, dass die westlichen Reisenden in den nicht-westlichen Ländern zuerst den Unrat ihrer eigenen Zivilisation sehen, 60 womit er die industriellen Produkte, Abfälle und standardisierten Hotelzimmer meint. Der Anspruch auf kulturelle Authentizität verweist insofern nicht nur auf die westliche Sehnsucht nach Ganzheit, ursprünglicher Wildheit und emotioneller Intensität, sondern auch auf das Bedürfnis nach Konstruktion der eigenen Identität. Somit hält der Westen weiterhin daran fest, die östlichen und andere nicht-westliche Kulturen als „traditionell“ und „nicht-modernisiert“ wahrzunehmen. Demnach stellt Authentizität in Bezug auf fremde Kulturen eine Konstruktion dar, die auf eigenen Wünschen und Sehnsüchten beruht, weshalb weiterhin zu untersuchen ist, inwiefern dieses Konzept mit dem des Exotismus kooperiert und welche Implikationen dies für das politische Handeln beinhaltet, worauf ich im nächsten Kapitel eingehen möchte.

59 Handler, Richard: „Authenticity“, in: Anthropology Today, 2/1986, S. 2 60 Lévi-Strauss, Claude: Tristes tropiques, New York 1974, S. 41

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I.2 EXOTISMUS UND HYBRIDITÄT I.2.1 Exotismus Der Begriff „Exotismus“ gelangte erst im 20. Jh. über das Französische in den allgemeinen Sprachgebrauch und wird je nach Disziplin und Untersuchungsgegenstand sowie dem entsprechenden historischen Kontext heterogen definiert. Auf Grund der Vieldeutigkeiten und des außerordentlich komplexen Problemfeldes des Begriffs wird hier nicht versucht, eine griffige definitorische Eingrenzung oder den historischen Wandel der Begriffsbestimmungen in der Wissenschaft darzulegen, sondern es soll sich vielmehr darauf konzentriert werden, eine theoretische Grundlage für die in den nächsten Kapiteln fortzusetzenden Fragestellungen zu schaffen, nämlich inwiefern die beiden Aufführungen hinsichtlich ihrer Annäherung an die antike griechische Kultur und ihrer Ästhetik mit dem Exotismus zusammen hängen und inwiefern der westliche bzw. exotisierende europäische Blick auf die fernöstlichen Kulturen in die beiden Produktionen einfließt. Insofern soll der Begriff unter drei Gesichtspunkten erläutert werden: Erstens werden die Voraussetzungen, Charakteristika, Wirkungen und Mechanismen des Exotismus analysiert und auf ihre allgemeine Gültigkeit überprüft. Zweitens soll das vordergründige Problemfeld des Exotismus dargelegt werden, das nicht vom imperialistischen Kontext zu trennen ist und als Teilbegriff „Orientalismus“ im Rahmen des postkolonialen Diskurses eine zentrale Rolle spielt. Drittens wird das exotische Phänomen innerhalb des globalen Marktes – eingeschränkt auf die fernöstlichen Kulturen als exotisches Objekt – dargestellt, dessen Anknüpfung an die imperialistische Vergangenheit zu hinterfragen ist.

I.2.1.1 BEGRIFFSKLÄRUNG DES EXOTISMUS Das Wort „exotisch“ geht über das Lateinische exoticus auf das Griechische exotikós zurück und bedeutet „fremd“ bzw. „fremdlän-

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage disch“.61 Beginnend im 16. Jh., bezog sich seine Verwendung auf die Waren, Tiere und Pflanzen, die aus fernen Herkunftsorten nach Europa transportiert wurden und den Europäern seltsam vorkamen.62 Erst im 18. Jh. wurde es im Englischen, Französischen und Deutschen recht gebräuchlich, so dass sich das Substantiv „Exot“ schließlich im 19. Jh. herausbildete.63 Die Entwicklung des Sprachgebrauchs verweist auf die andauernde Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen seit dem Beginn der Entdeckungsreisen und auf die Ausprägung des Begriffs im 19. Jh. Der Exotismus wird so im Allgemeinen als ein „romantisches Phänomen“ aus der Zeit der Romantik (des 18. und 19. Jh.) verstanden,64 das in der Literatur, verschiedenen Künsten wie Malerei, Oper, Theater, Architektur und sogar auch im bürgerlichen Wohninterieur hervortritt. Dort zeigt sich die Faszination an fernen Ländern, märchenhaften Wundern, paradiesischen Vorstellungen und dem Traum von natürlicher Daseinsharmonie. Die fremden Kulturen wurden somit zur Projektionsfläche europäischer Sehnsüchte, Wunschvorstellungen, aber auch Ängsten. Neben dem klassischen Primitivismus bezüglich der sog. „Naturvölker“ zählt die Mode der Chinoiserie (17./18. Jh.), des Japonismus (19. Jh.) und Orientalismus (18./19. Jh.) zu seiner Erscheinungsform.65 Nicht nur die fernen und fremden Länder wie die der Südsee wurden zu immer wiederkehrenden Bezugspunkten, sondern auch die Antike gehörte neben dem Orient zum Kult der Exotisten der Romantik. Gleichgültig, ob es sich um eine zeitliche oder räumliche Distanz handelt, läuft die Exotisierung nach Friedrich Brie immer auf dasselbe hinaus, nämlich „den Wunsch, sich aus der Wirklichkeit zu flüchten, in ein Reich fremdartiger, schrecklich-schöner, ungeheuerlicher, die Sinne befriedigender Emotion“. 66 Denn nach ihm zeichnet sich der Exotist durch starke Bedürfnisse nach intensiver Sinnenempfindung aus, „deren Befriedigung nicht in der Wirk61 N.N.: „Exotismus“ in: Brockhaus-Enzyklopädie, Band 7, Mannheim 1988, S. 19 62 Rincón, Carlos: „Exotisch/Exotismus“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 341ff 63 Trauzettel, Rolf: „Exotismus als intellektuelle Haltung“, in: Kubin, Wolfgang (Hg.): Mein Bild in Deinem Auge – Exotismus und Moderne: Deutschland – China im 20. Jh., Darmstadt 1995, S. 1ff 64 Pochat, Götz: Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance: Voraussetzungen, Entwicklung und Wandel eines bildnerischen Vokabulars, Uppsala 1970, S. 15ff 65 N.N.: „Exotismus“ in: Brockhaus-Enzyklopädie 1988, S. 20 66 Friedrich, Brie: Exotismus der Sinne: Eine Studie zur Psychologie der Romantik, Freiburg 1920, S. 14

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Westlicher Geist im östlichen Körper? lichkeit, sondern [nur] in der Phantasie stattfinden könne“. Die überschwängliche Sehnsucht des Exotisten nach mannigfaltigen Sinneseindrücken beschwört bei ihm das Verlangen nach Synästhesien von Farben, Tönen und Gerüchen herauf. Die exotische Wirkung sei den durch Rauschmittel erzeugten visionären Zuständen vergleichbar, indem sie ihm „die Gefühle und die Bilder von fremdartiger Schönheit, Wollust, Glück, Übermenschentum oder Gottähnlichkeit verschaffen, die er in der Realität nicht bekommen kann.“67 Nach seiner Beobachtung suchen die Exotisten im Allgemeinen die „dionysischen“ Züge der Kulturen und Übermaß statt Maß, wobei die starke Forderung nach sinnlicher Erfüllung ebenso wie bei Drogen nie einzulösen sei. Die Vorbedingung für dieses eskapistische Bedürfnis des Exotisten sei ein diffuses Gefühl des Überdrusses mit sich und der bürgerlichen Welt, woraus resultiere, dass er die Charakteristika einer spezifischen Kultur in der Schaffung eines Wunschbildes nach eigener Neigung auswählt und dabei ins Unermessliche steigert oder verallgemeinert.68 Somit gilt der Exotismus für Brie als eine vordergründig psychische Konstitution, die sich erst in der Romantik herausgebildet hat, seitdem aber als ein dauerhaftes „psychisches Phänomen“ anzusehen sei.69 Demnach lässt sich konstatieren, dass das neu konstruierte exotische Bild gemäß den ausgesuchten Charakterzügen fremder Kulturen eine Mischung aus den eigenen Neigungen und Wunschvorstellungen darstellt. Auf Grund dieser Hyperästhetik und Fiktivität lässt sich der Exotismus durch die Unbestimmtheit der Kulturen charakterisieren. Als eine sinnliche Erfahrung zeichnet sich die exotische Wirkung vor allem durch ein vermischtes Gefühl aus Glücksversprechen und Furcht vor dem Unheimlichen aus, so dass der Exotismus somit von der Zivilisationsflucht und dem Traum von einem besseren Leben vorangetrieben wird70 und seine Entfaltung auf die Identitätsschwäche des Individuums bzw. einen kulturellen Umbruch verweist.71 Während der Exotismus Brie zufolge vor der Zeit der Romantik mit der Begründung fehlender psychischer Vorbedingungen nicht möglich gewesen sei, ist er aus der kunsthistorischen Sichtweise von Götz Pochat zeitlich und räumlich kaum abgrenzbar. Denn der Exotismus stellt für ihn „eine künstlerische Ausdrucksform einer allgemeinen menschlichen Eigenschaft dar, dem Alltag durch die Darstellung des Fremdartigen, Fernliegenden und Wunderbaren zu

67 Friedrich 1920, S. 12 68 Ebd., S. 9 69 Ebd., S. 21 70 Rincón, in: Barck (Hg.) 2001, S. 344f 71 Vgl. Trauzettel, in: Kubin (Hg.) 1995, S. 9

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage entrinnen, sich von den Produkten und Berichten der fremden Länder anregen und seiner Phantasie freien Lauf zu lassen.“72 Andererseits postuliert er wie Brie, dass die Wurzel des Exotismus im psychologischen Zustand des Einzelnen und der Gesellschaft zugrunde liege, und zwar am „jugendlichen Drang zum Fremden, der Idealisierung der Vergangenheit des Älteren und dem Unbehagen an der überzüchteten eigenen Zivilisation.“73 Einen wesentlichen Bestandteil davon stellt der „kulturelle Primitivismus“ dar, der sich auf dieselbe Triebkraft zurückführen lässt. Zusammen mit dem „Primitivismus“ kann der Exotismus einerseits als Verherrlichung oder Idealisierung der Lebensform fremder Völker erscheinen, andererseits aber auch die Geringschätzung des Anderen bzw. die Überlegenheit des Selbst heraufbeschwören. Es handelt sich somit um die beiden Seiten derselben Medaille und die Grenzen zwischen den beiden Extremen sind durchaus fließend.74 Abgesehen von diesen ambivalenten Charakteristika muss der fremdartige Aspekt des Exotischen, der sich vom Gewohnten und Alltäglichen unterscheiden lässt, hervorgehoben und erkannt werden, um überhaupt das Außergewöhnliche und Märchenhafte suggestiv zu bewirken und damit Faszination auszulösen.75 Diesbezüglich definiert Victor Segalen, der mit seinem umfangreichen literarischen und wissenschaftlichen Werk seine Erfahrung in Ostasien und dem ozeanischen Raum belegte, den Exotismus als eine Ästhetik des „Diversen“. Was das „Exotismusgefühl“ determiniert, sei nicht an äußerliche Bedingungen wie zeitliche oder räumliche Entfernung gebunden, sondern an den „Begriff des Anders-Seins, die Wahrnehmung des Diversen, das Wissen, dass etwas nicht das eigene Ich ist“.76 Daher ziele der Exotismus nicht auf „das vollkommene Begreifen eines Nicht-Ichs“ ab, sondern im Gegenteil auf „die scharfe, unmittelbare Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit“, die von der „Undurchdringbarkeit“ des Fremden ausgegangen sei.77 Damit wird das Fremde aus dem Eigenen bzw. der eigenen Zivilisation ausgeschlossen und lässt sich aus dieser Distanz „auskosten“.78 Das Präfix exo gilt für ihn als der entscheidende Faktor und bezieht sich auf „alles, was ‚außerhalb‘ des Gefüges unserer derzei-

72 Pochat 1970, S. 15 73 Ebd., S. 45 74 N.N.: „Exotismus“, in: Brockhaus-Enzyklopädie 1988, S. 21 75 Pochat 1970, S. 17ff 76 Segalen, Victor: Die Ästhetik des Diversen, Frankfurt am Main/Paris, 1983, S. 38 77 Ebd., S. 41 78 Ebd., S. 44

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Westlicher Geist im östlichen Körper? tigen alltäglichen Bewusstseinstatsachen liegt.“79 Aus seiner Auffassung ist zu schließen, dass das Fremde durch den exotisierenden Blick nicht nur als völlig anders wahrgenommen wird, sondern für seinen Betrachter auch anders bleiben soll, damit es aus der Distanz heraus kontrolliert und zum Eigenen gemacht werden kann. Demzufolge ist der Erfahrungshorizont auf den Aspekt des Andersartigsein eingeschränkt, so dass der Exotismus als ein Hindernis für Kenntnisse über fremde Kulturen anzusehen ist. An den zuvor dargelegten Forschungsergebnissen ist zu erkennen, dass sich der Begriff „Exotismus“ im weiteren Sinne als eine spezifische Grundhaltung, Wahrnehmung und ästhetischer Ausdrucksprozess verstehen lässt, wonach fremde Kulturen zur eigenen sinnlichen Erfüllung konstruiert werden und als reine Projektionsfläche für eigene Phantasien, Wunschvorstellungen, Sehnsüchte und Ängste fungieren. Dafür eignen sich vor allem weitgehend unbekannte Kulturen, denn es ist vielmehr die Unwissenheit als die räumliche oder zeitliche Entfernung, die einen Freiraum für eigene Wunschvorstellungen schafft.80 Um die exotische Wirkung von Faszinosum und Schrecken zu erzielen, muss das Exotische nicht nur als fremdartig und außergewöhnlich, sondern vor allem auch als geheimnisvoll empfunden werden. Insofern stellt sich die Verwandlung des Fremden zum wunderbar Exotischen im Gegensatz zu der „Entschleierung“ der Wissenschaft als ein Akt der „Verschleierung“ und „Mystifizierung“ dar, der nach bestimmten Mechanismen erfolgt: der Außenaspekt des Fremden wird nach eigenen Neigungen ausgewählt, aus dem ursprünglichen Kontext herausgerissen und als Inneres Wesen wiedergegeben. Das Fremde wird somit zum Objekt, das lediglich auf einer rein oberflächlichen Ebene in Erscheinung tritt.81 Da der Exot als undurchdringlich und unverständlich gelten soll, spricht sein Betrachter nicht „zu“ ihm, sondern „über“ ihn.82 Somit findet beim Exotismus kein Dialog statt, sondern es ist immer ein Prozess von gleichzeitiger Ausgrenzung und Entgrenzung des Fremden: Es wird zwar angeeignet, aber nicht als Bestandteil der eigenen Lebenswelt aufgefasst, sondern in seiner Bedeutung als „exotisch“ dekontextualisiert und umkodiert. Letztlich muss das exotische Bild nicht unbedingt de facto an die Wirklichkeit des Fremden anknüpfen, denn „das Erlebnis des Exotischen ist das paradoxale Erlebnis des gleichzeitig Vorstellbaren und Unglaublichen,

79 Segalen, Victor, zit. Jean, Jamin: Exotismus und Dichtung: Über Victor Segalen, Fankfurt am Main/Paris 1982, S. 38 80 N.N.: „Exotismus“, in: Brockhaus-Enzyklopädie 1988, S. 21 81 Trauzettel, in: Kubin (Hg.) 1995, S. 2f 82 Ebd., S. 5

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage die Verwirklichung des Irrealen in der Gegenwart.“ 83 Indem das konstruierte Bild des Fremden zwischen Fiktion und Realität oszilliert, kann es als Zufluchtsort seines in einer Identitätsschwäche befindlichen Betrachters fungieren, statt zur Identitätsfindung beizutragen.

I.2.1.2 PROBLEMFELD UND KULTURKRITISCHE DEFINITION DES EXOTISMUS Auch wenn die Erscheinung des Exotismus zeitlich und räumlich schwer einzugrenzen ist, handelt es sich doch nicht immer nur um ein harmloses „romantisches“ Phänomen der Ästhetik. Dass sich der Begriff im 19. Jh. herauskristallisiert hat, verweist darauf, dass die Entfaltung des Exotismus in Europa nicht allein in den psychologischen Bedingungen des Individuums oder der Gesellschaft begründet ist, sondern auch in einer Wechselbeziehung mit der Machterweiterung der europäischen Imperien steht. Insofern müssen die Bezüge, Mechanismen, das Ausmaß und die Funktion des Exotismus vom Standpunkt der Beziehungen zwischen Repräsentation und Herrschaft, Kultur und Politik (neu) situiert werden, so dass anschließend die Problematik sowie die kulturkritische Begriffsbestimmung innerhalb des postkolonialen Diskurses und der „cultural studies“ erläutert werden können. Der aus der Ablehnung der Moderne resultierende psychologische Drang nach der Suche des Archaischen, trägt in sich einen Machtwillen, den Raum von Begehren und Lust über die verbotenen Grenzen hinaus zu erweitern. Die Kolonialherrschaft bediente sich dieses Bedürfnisses und erweckte wiederum Sehnsüchte und Begierden nach Besitz des Fremdartigen, indem sie die außereuropäischen Kulturen einerseits zur Faszination und andererseits zugleich zur Bedrohung stilisierte.84 In der Darstellung der fremden Kulturen kommt es vor allem darauf an, die Beziehung zu ihnen nach den Maßstäben und politischen Motiven der Herrschaftskultur zu gestalten.85 Dieses Verhältnis wird mit Hilfe von Diskursen konstruiert: Aussagen der Evolutionstheorie des Darwinismus und der sich herausbildenden wissenschaftlichen Disziplinen wie der Anthropologie und Theoriebildungen über die Rassen, Geschlechter und deren Ungleichheit entwerfen einen universalen Zivilisationsprozess und konstituieren eine hierarchisierte Ordnung eines topographischen Systems bezüglich der Ethnien, Zivilisationen und Nationen.

83 Pochat 1970, S. 16 84 Rincón, in: Barck (Hg.) 2001, S. 340ff 85 Trauzettel, in: Kubin (Hg.) 1995, S. 1ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Diese Differenzierung und Hierarchisierung dient nicht nur dazu, das Verhältnis Europas zum Rest der Welt zu bestimmen und eine nationale Identität herauszubilden, sondern vorwiegend dazu, die fortgesetzte koloniale Ausbeutung zu legitimieren.86 Auf dieser diskursiven Grundlage wurden die fremden Völker nicht nur als „die Anderen“ definiert, sondern ihre Andersartigkeit wurde als epistemologische und ontologische Differenz erklärt. Die Beziehung zwischen Okzidentalem und Nicht-Okzidentalem wurde ebenso wie bei der sozialen Ordnung der Geschlechter in einer dichotomischen Struktur als „Kultur – Natur“ bzw. „Zivilisierte – Wilde“ aufgestellt. Außerdem wurde die Welt als das Ergebnis eines linearen Fortschrittsprozesses mit universeller Gültigkeit verstanden, womit die Kolonialmächte ihr Selbstverständnis kultureller Überlegenheit in zivilisatorischer, moralischer, religiöser, intellektueller, technischer oder ökonomischer Hinsicht begründeten und das Eingreifen in die Autonomie der für sie als „rückständig“ und „primitiv“ bewerteten Kulturen mit dem Missionsgedanken zu legitimierten, den man auf den Anspruch ausdehnte, diese auch an den Errungenschaften der modernen Zivilisation teilhaben lassen zu müssen.87 Dieses imperialistische und rassistische Konzept verblieb dabei keineswegs auf einer abstrakten Ebene, sondern wurde auch über die Repräsentation der exotisierten Fremden der Öffentlichkeit anschaulich vermittelt. Bei der üblichen und häufigen Praxis der Repräsentation waren insbesondere ab 1851 die „Weltausstellungen“ und zwischen 1870 und 1930 die sog. „Völkerschauen“ von großer Bedeutung, nicht nur weil sie als spektakuläre Erlebniswelt der Fremde ein Massenpublikum anzogen, sondern auch weil der Exotismus nicht mehr als Produkt der Imagination, sondern als „authentische“ Repräsentation der Fremde vorgegeben wurde und auf eine unterschwellige Weise zur Legitimation der Hegemonieansprüche auf die Kolonien und deren Ausbeutung diente.88 Dabei verlief die Instrumentalisierung des Exotismus für politische Zwecke bei diesen beiden Arten von Ausstellungen im Großen und Ganzen nach denselben Mechanismen: Einerseits wurden die ausgestellten fremden Menschen nach den bereits bei den Besuchern verankerten 86 Bay, Hansjörg/Merten, Kai: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Die Ordnung der Kulturen: Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750-1850, Würzburg 2006, S. 9ff 87 N.N.: „Exotismus“, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler-Lexikon Literaturund Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2001, S. 163 88 Bayerdörfer, Hans-Peter/Hellmuth, Eckhart: „Einleitung: Konsum konstruiert die Welt. Überlegungen zum Thema Inszenierung und Konsum des Fremden“, in: Dies. (Hg.): Exotica: Konsum und Inszenierung des Fremden im 19. Jahrhundert, Münster 2003, S. XXVI

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage Stereotypen zugeschnitten, wodurch sie für das Publikum zugänglich wurden. 89 Andererseits wurde auch völlig Unbekanntes zur Schau gestellt, vor allem körperliche Abnormitäten, die bei den Besuchern einen emotionalen Nervenkitzel verursachten.90 Die fremden Völker wurden auf diese Weise als sensationelle (und z.T. erotische) Exotica präsentiert und für ein reines Konsumspektakel vermarktet, so dass die Erwartungshaltung, die Neugierde und das „voyeuristische Staunen“ der Besucher befriedigt wurden, wobei sich die Betrachter aber in sicherer Distanz befanden.91 Die Ausstellungen entsprachen somit nicht der wirklichen Lebensweise der Völker, sondern Abbildungen europäischer Klischees (z.B. Afrikaner und Feuerländer als Kannibalen), so dass die Wahrnehmung der Fremde ausschließlich auf ihre Andersartigkeit und die konstruierte kulturelle Differenz fixiert wurde. Durch die erniedrigenden und abwertenden Darstellungen wurden die fremden Völker als unterentwickelte Primitive und ihre Kulturen als unterlegene Kulturmodelle gebrandmarkt, so dass die eigene kulturelle Überlegenheit unter Beweis gestellt werden konnte.92 Trotz der Inszenierung der Fremdartigkeit wurden dennoch die Authentizität des Gezeigten und der weiterbildende Wert solcher Ausstellungen von wissenschaftlicher Seite durch die Anthropologie bzw. Ethnologie untermauert, 93 so dass die hochartifiziellen imaginären Räume und exotisierten Fremden als Realität empfunden wurden. Das Erlebnis

89 In Bezug auf die Konsumierung des Fremden bei der Exposition Universelle de 1867 weist Volker Barth darauf hin, dass „ein diskursiv völlig unbesetztes Objekt nicht als Symbol für den Konsumenten dienen könne.“ Anders formuliert, um überhaupt das Fremde konsumieren zu können, muss es diskursiv aufgeladen sein. Diese Voraussetzung hat ebenfalls seine Gültigkeit, wenn man den Konsumenten durch die Rolle des Zuschauers bzw. Betrachters ersetzt. Die Symbolik, die die Fremden zu repräsentieren haben, gewährt insofern dem Betrachter Zugänglichkeit, als sie der „bekannten Fremdartigkeit“ entspricht. Nach Pochat kennzeichnet dieses paradoxe Verfahren den Charakter der exotischen Wirkung, die das Wiedererkennen der traditionellen Vorstellung des Außergewöhnlichen im Bewusstsein des Betrachters voraussetzt. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass die Verwandlung des Fremden zum Exotischen eine Sinneszuschreibung bedeutet, wodurch das Fremde dem exotischen Symbol zugewiesen wird. Siehe: Barth, Volker: „Konstruktion des Selbst. Konsum des Fremden auf der Pariser Weltausstellung von 1867“, in: ebd., S. 159 sowie Pochat 1970, S. 17 90 Dreesbach, Anne: „Kalmücken im Hofbräuhaus. Die Vermarktung von Schaustellungen fremder Menschen am Beispiel München“, in: Bayerdörfer/Hellmuth (Hg.) 2003, S. 229 91 Barth, in: ebd., S. 146 92 Ebd., S. 160 93 Dreesbach, in: ebd., S. 227

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Westlicher Geist im östlichen Körper? der „echten“ Fremde und ihrer „authentischen“ Lebenswelt bewirkten, dass die im kolonialen Diskurs geschaffenen negativen Stereotypen der Fremden verfestigt wurden, sich die konstituierte kulturelle Hierarchie etablierte und die imperialistische und rassistische Ideologie ihre Bestätigung fand. Auf diese Weise fungierte der Exotismus als Wegbereiter bzw. ideologische Legitimationsinstanz politisch-ökonomischer Dominanzansprüche der europäischen Imperien.94 Diese aus der imperialistischen Gesinnung heraus entstandene Praxis der Repräsentation findet ihre Entsprechung aber nicht nur in solchen Ausstellungen, sondern umfasst in einem breiten Spektrum von Texten (literarischen Werken, Reiseführern, journalistischen Berichten, politischen Traktaten, naturwissenschaftlichen Studien, philosophischen und religionskundlichen Schriften usw.), Bildern (Gemälde, Werbeplakate, Postkarten, Illustrierte, Photographien usw.), Architektur, Musik und Theater. Schließlich übernahm das Kino seit 1900 die Aufgabe der Repräsentation der „Anderen“ und visualisierte die Topoi des kolonialen Diskurses, indem die Stereotypen von Geschlecht, Rasse und ethnischer Identität verwendet wurden. Die Filme verbildlichten dabei die imperiale Expansion aus eurozentrischer Sichtweise und verliehen somit dem Publikum das Gefühl, überlegen, allgegenwärtig und unverletzlich zu sein.95 Dabei ist es gleichgültig, in welchem Zusammenhang diese Stereotypen verwendet werden, bei der Repräsentation der Fremden dominiert das Modell eines klaren Machtverhältnisses zwischen Europäern und Nicht-Europäern, das nach einer dualistischen Vergleichsbasis wie bei den Dichotomien „Selbst  Andere“, „Subjekt  Objekt“, „schwarz  weiß“, „gut  böse“, „überlegen  unterlegen“, „Zivilisierte  Wilde“, „Intelligenz – Emotion“, „Rationalität  Sensualität“ strukturiert ist.96 Selbst wenn die Fremden als begehrenswerte Verheißung fetischisiert werden oder als Konsumgut sympathische Identifikationsmuster erwecken sollen, verbirgt sich dahinter die Insistierung auf einer hierarchisierten und naturgegebenen kulturellen Differenz.97 Das exotisierte Fremde stellt sich somit als eine bewusste oder unbewusste Projektion dar, die nicht nur das Phantasma Europas reflektiert, sondern vor allem implizit oder explizit der kolonialen Kontrolle dient.

94 N.N.: „Exotismus“, in: Nünning (Hg.) 2001, S. 163 95 Rincón, in: Barck (Hg.) 2001, S. 340ff 96 Janmohamed, Abdul R.: „Colonialist Literature“, in: Critical Inquiry, Vol.12, No. I, 1985, S. 63 97 Huggan, Graham: The postcolonial exotic: marketing the margins, USA/Kanada 2001, S. 14

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage

In der Phase der Entkolonialisierung der 1960er und 70er Jahre wurde der Exotismus als Phänomen besonders kritisch hinterfragt und der Begriff neu definiert. So sah ihn Frantz Fanon als ein Synonym der ästhetisierenden „Vereinfachung“, die den Kolonisierten gefangen nimmt und als den Anderen in stilisierten Stereotypen fixiert. Auch im Zuge des Antiimperialismus Ende der 1970er Jahre wurde in Italien eine Debatte über die Beziehungen zwischen Exotismus, Kolonialismus und den europäischen Nationalstaaten geführt, die schließlich neue kulturkritische Definitionen vorlegte: Das Exotische wird von Gianni Celati als „deterritoriales Territorium“ definiert und erhält bei Enzo Cocco die Bedeutung von „schmerzlosem Herrschaftsinstrument“ und „totalisierender Maschine“, die in die Schöpfung des „Anderen“ den alten Traum von der allumfassenden und allwissenden Einheit einfließen lässt.98 Aber die komplexen Zusammenhänge des Exotismus mit der Machtentfaltung, dem Kulturanspruch und der Wissensproduktion, treten jedoch hauptsächlich durch die neue postkoloniale Lesart seit der Publikation von Edward Saids Schrift Orientalismus im Jahre 1978 zu Tage.99 In seiner facettenreichen Analyse von literarischen Texten, Reiseberichten und „orientalistischen Studien“ zeichnet Said nach, wie ein seit dem 18. Jh. vom Okzident (vor allem in Frankreich, England und seit dem 20. Jh. in den USA) entwickelter Diskurs mit Hilfe der verschiedenen Stereotypen ein mythisches und negatives Bild des Ostens, in erster Linie des Nahen Ostens, konstruiert.100 Dieser Diskurs, den er als „Orientalismus“ bezeichnet, definiert den Orient als das dem „Westen“ entgegen gesetzte „Andere“, wobei diese Denkweise auf der ontologischen und epistemologischen Unterscheidung von Orient und Okzident beruht.101 Said betrachtet die diskursive Repräsentation des Orients nicht als bloße Widerspiegelung des politischen und ökonomischen Umfeldes, sondern als konstitutives Moment für den Kolonialismus und Imperialismus, weshalb sie unabdingbar für die koloniale Eroberung, Besetzung und Administration sei. Dabei macht er deutlich, dass die Wissensproduktion in Hinsicht auf Kultur, Wissenschaft, Bildungssystem usw. nicht nur im Dienst der kolonialen Macht instrumentalisiert wurde, sondern auch zur Legitimation der Kolonialherrschaft herangezogen wurde. 102 Es handelt sich insofern nicht nur um eine politisch-ökonomische Kolonialisierung, sondern auch

98 99 100 101 102

zit. nach Rincón, in: Barck (Hg.) 2001, S. 351ff Ebd., S. 340ff Said, Edward: Orientalism, New York 1979, S. 26 Vgl. Said 1979, S. 2ff Dhawan, Nikita/Do Mar Castro Varela, Maria: Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 32ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? um eine kulturelle und psychische Unterwerfung, die durch die Einschreibung in Denkweisen und Weltbildern auf der Grundlage der Erfahrungen und Wissenstraditionen der Kolonisatoren erlangt wird. Die Kulturhegemonie des „Westens“ besteht somit für ihn in einer „epistemischen Gewalt“ (epistemic violence), die das koloniale Subjekt überhaupt erst als den „Anderen“ konstituiert, so dass er damit die Beziehung zwischen Imperialismus und Kultur auch in der Gegenwart kritisch hinterfragt.103 Diese von Said dargelegte Problematik der Repräsentation des Orients ist auf die Ausgrenzung und imaginäre Überschreibung des Objekts zurückzuführen, welches den Mechanismen des Exotismus entspricht. Die „Orientalisierung“ des Orients lässt sich somit als Exotisierung des Orients auffassen. Daraus geht hervor, dass der Exotismus nicht nur als Repräsentationsform eingesetzt wurde, sondern überhaupt der Ausgangspunkt der Wissensproduktion des Imperialismus war. Es fand somit ein Zusammenfließen und Zusammenwirken von Exotismus, kolonialem Diskurs und Makropolitik (Nationalismus, Imperialismus als Ausdehnung der Nationalität) statt, wobei die Instrumentalisierung des Exotismus für die politische Ideologie ohne den Diskurs aber nicht funktionieren kann. Diesbezüglich formulieren Jonathan Arac und Harriet Ritvo eine Transformation der Makropolitik hin zum Spektakel: „Imperialism is the expansion of nationality. Exoticism, in turn, is the aestheticizing means by which the pain of that expansion is converted into spectacle, to culture in the service of empire, even as it may also act to change the originating national culture.“104

Das exotische Spektakel ist das Ergebnis einer ästhetischpolitischen Praxis, die sowohl den Schmerz als auch die politischen Motive verschleiert. Unter der Oberfläche der Mystifizierung, der pompösen Erscheinung der Exotica und der scheinbar positiven Schwärmerei in der Rhetorik der Exotisten versteckt sich jedoch die politische Botschaft. Maskiert wird jedoch auch der Exotismus selbst, indem er als „authentisch“ oder als empirisch nachgewiesene Realität und Wissen vorgegeben wird. Dabei spielen vor allem die psychologischen Faktoren eine bedeutsame Rolle: Die Sehnsucht und Begierde nach Überschreitung der verbotenen Grenzen zum Fremden, die emotionelle Oszillation zwischen Faszinosum und Furcht sowie das darin ausgelöste Gefühl von Überlegenheit und 103

Dhawan/Do Mar Castro Varela 2005, S. 50ff

104

Arac, Jonathan/Ritvo, Harriet: „Introduction“, in: Dies. (Hg.): Macropolitics of nineteenth-century literature: nationalism, exoticism, imperialism, Philadephia 1991, S. 5

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage Übermenschentum. Das psychologische Bedürfnis und der exotische Effekt ermöglichen somit der politischen Ideologie, auf unterschwellige Weise in das Bewusstsein einzudringen. Dass sich der Exotismus als hocheffizientes strategisches Mittel der imperialistischen Macht erweisen konnte, liegt nicht nur an der Maskierung, sondern auch daran, dass er sich als Repräsentationsform selbst bevollmächtigen kann, denn sein Ausgangspunkt besteht darin, dass das Objekt nicht zurückblickt bzw. stumm bleibt.105 Dies besagt eine Machtausübung: Indem das Fremde als das Exotische betrachtet oder präsentiert wird, ist es ausgegrenzt und zugleich seiner Stimme beraubt. Daraus lässt sich schließen, dass der Exotismus im imperialistischen Kontext als verdeckte Gewalt und versteckter Kontrollmechanismus fungiert. Die Problematik des Exotismus liegt daher nicht lediglich in einer romantischen Verklärung der Fremden bzw. fremder Kulturen, sondern umfasst machtpolitische Fragen nach Repräsentation, Kulturdifferenz und Gender, die zur zentralen Thematik der postkolonialen Theorie gehören. Dort richtet sich die Frage vor allem darauf, wie sich die Verhältnisse von Macht und Wissen in der Produktion von Subjekteffekten und Vorstellungsbildern bei den „Anderen“ und ihren Kulturen auswirken und funktionieren. In dieser Arbeit soll daher weiterführenden Fragen nachgegangen werden, in welcher Form der Exotismus heute erscheint und inwiefern diese Form des Exotismus mit seiner imperialistischen Vergangenheit zusammenhängt, worauf ich in Kapitel I.2.3 eingehen werde.

I.2.2 Zum „Hybriditäts“-Begriff und Identitätskonzept Es stellt sich die Frage, wie und von wem die kulturelle Differenz repräsentiert wird, oder wie Gayatri Chakravorty Spivak dies formuliert, ob die Subkulturen in der Dominanzgesellschaft bzw. in der westlichen Hegemonie überhaupt die Möglichkeit haben, zu sprechen.106 Inwiefern wird das Verhältnis zwischen dem „westlichen“ Eigenen und dem „Anderen“ nach der „offiziellen“ Beendigung des Kolonialismus (nach dem 2. Weltkrieg) neu definiert? Welches Konzept und welche Umgangsform mit der Repräsentation kultureller Differenzen werden entworfen und praktiziert? Inwiefern hängt die-

105 106

Huggan 2001, S. 14 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2007

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Westlicher Geist im östlichen Körper? se neue Auffassung des Kulturbegriffs und die neue Auffassung gegenüber fremden Kulturen noch mit der imperialistischen Vergangenheit und dem Exotismus zusammen und welche Zielsetzung steht dabei im Vordergrund? Um all diese Fragen zu beantworten, muss zunächst der Begriff „Hybridität“ näher erläutert werden. Der Begriff ist an dieser Stelle von zentraler Bedeutung, nicht nur weil er die Hoffnung für einen Aushandlungsprozess in Fragen der Migration, Globalisierung, des interkulturellen Austauschs und der Kulturellen Identität ausdrückt, sondern auch weil er seit der letzten Dekade in verschiedenen Diskursen und Künsten als subversive „Grenzüberschreitung“ zelebriert wird und sich zugleich zu einem effizienten Produktionsmodus des postmodernen Spätkapitalismus verwandelt hat.107 Die Bedeutung des Begriffs soll hierbei jeweils im postmodernen und postkolonialen Kontext ausdifferenziert werden. Während „Hybridität“ im Postkolonialismus als ein Identitätsund Kulturkonzept entworfen wurde, um damit aus dem Syndrom des Kolonialismus herauszutreten bzw. eine Entkolonialisierung zu ermöglichen, wird dieser Terminus bzw. in seiner Abwandlung als „Hybridisierung“ von Ihab Hassan neben anderen Begriffen wie Unbestimmtheit, Fragmentierung, Auflösung des Kanons, Ironie, „Karnevalisierung“, Performanz und das Nicht-Darstellbare verwendet, um die Merkmale der Postmoderne zu benennen.108 Innerhalb der Debatte über die Postmoderne wird kein theoretisches Konzept der „Hybridität“ herausgearbeitet, sondern sie gehört infolge der postmodernen Denkströmung seit den 1960er Jahren zu einem generellen Phänomen der Alltagspraxis wie in den Medien, Künsten, der Musik und der Technologie, die sich gegen die Auffassung der Moderne richtet, welche mit Schlagwörtern wie Ordnung, Stabilität, Totalität, linearer Fortschritt, kohärenten, geschlossenen Kulturen und einzigartiger Identität charakterisiert wird. Die Infragestellung des puristischen Wertesystems und der dualistischen Struktur der westlichen Hegemonie, die durch den Postmodernismus bzw. Poststrukturalismus eingeleitet wurde, wurde somit zum Ausgangspunkt des postkolonialistischen Kulturkonzepts der „Hybridität“. Es stellt sich die Frage, inwiefern sich der Begriff Hybridität aus diesen beiden Kontexten voneinander unterscheiden lässt. Obwohl der Diskurs des Postkolonialismus erst entstand, als sich der Begriff der Postmoderne bereits etabliert hatte, möchte ich zuerst auf das

107

Ha, Kien Nghi: „Die Grenze überqueren? Hybridität als spätkapitalistische Logik der kulturellen Übersetzung und der nationalen Modernisierung“, 10. 2006, in: www.translate.eipcp.net [Stand: 24.07.2007]

108

Hassan, Ihab: „Postmoderne heute“, in: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 48ff

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage Kulturkonzept des Begriffs „Hybridität“ eingehen, um den Zusammenhang zwischen dieser Theorie und der praktischen Anwendung der Hybridität in der Postmoderne zu überprüfen. Der Begriff „Hybridität“ leitet sich vom lateinischen Wort hybrida ab, das in der Biologie gebraucht wird, um einen „Bastard“ zu bezeichnen, d.h. ein aus Kreuzungen verschiedener Zuchtlinien, Rassen oder Arten hervorgegangenes Produkt von Vorfahren mit unterschiedlichen erblichen Merkmalen.109 Der Ursprung des Wortes „hybrid“ geht aber noch weiter auf das altgriechische Hybris (Vermessenheit) zurück, das eine religiöse Beleidigung beschreibt, durch die die Grenze zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen aufgehoben wird. So werden nicht zuletzt auch Mischwesen als „Hybride“ bezeichnet, die meisten in Form von Furcht erregenden Missgestalten wie Chimären, Sphingen, Gorgonen, Zentauren usw., wie sie z.B. in der griechischen Mythologie und Literatur auftreten. Während ihre Bedeutung auf religiöser und mythologischer Ebene mit Angst und Bedrohung konnotiert wird, werden sie in Platons Philosophie mit soziokultureller und ethnischer Krankhaftigkeit in Verbindung gebracht, wo der hybride „Bastard“ als Signifikant der kulturellen und biologischen Minderwertigkeit eingesetzt wird und den Gegensatz zum Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen repräsentiert.110 In der Rassenlehre des 19. Jh. entwickelte sich der Begriff zu einer kulturellen Metapher und setzte die Konstruktion biologischer „Rassen“ voraus. Dabei erklärt der Rassenbegriff die menschliche Natur sowie der organische Kulturbegriff die soziale Welt zu statischen Gemeinschaften und die „Weißen“ als die überlegene Rasse. In diesem Zusammenhang verkörpert der „Bastard“ sowohl die Sehnsucht nach sexueller Eroberungen des Fremden als auch die angstbesetzten Phantasma, die Weiße Identität zu verschmutzen und die „überlegene“ Kultur zu verlieren. Auf Grund solcher Befürchtungen vor Minderwertigkeit, körperlichen Beeinträchtigungen sowie des vermuteten Verlusts von Authentizität, Wahrhaftigkeit, Anstand und Sitten wird er als bedrohlich und degeneriert abgelehnt oder sogar bekämpft.111 Das Hybride stellt mit seiner Ambivalenz zwischen der eigenen „weißen“ und fremden „anderen“ Identität unmittelbar die Reinheit der Rassen und Kulturen infrage und wird

109 110

111

N.N.: „Hybridität“, in: Nünning (Hg.) 2001, S. 260 Ha, Kien Nghi: Hype um Hybridität: Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkaptialismus, Bielefeld 2005, S. 23 Ha, Kien Nghi: Ethnizität und Migration Reroaded: kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin 2004, S. 133

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Westlicher Geist im östlichen Körper? im kolonialen Kontext als inakzeptable Form der gesellschaftlichen und soziokulturellen Grenzüberschreitung betrachtet. In den 1980er Jahren wurde der Begriff „Hybridität“ zum kulturtheoretischen Schlüsselbegriff umgedeutet. In seiner Theorie über Romane setzt der Literaturwissenschaftler und Kunsttheoretiker Michail Bachtin die Kategorie des Hybriden neben die Monologe und Dialoge als dritte Möglichkeit für die Abbildung der Sprache ein.112 Die Hybridisierung stellt für ihn einen Prozess der Vermischung von Sprache dar, die nicht der Logik von „entweder – oder“, sondern „sowohl-als-auch“ folgt.113 Das Hybride ist somit als Gegenbegriff des Absoluten, Reinen, Puristischen und auch des Dichotomischen zu verstehen. Jedoch lässt sich eine solche Sprachmischung nur dann als hybrid bezeichnen, wenn der Unterschied der Sprache noch rekonstruierbar ist, so Bachtin. Bezieht man dies auf die Vermischung der Kulturen, so lässt sich die hybride Kultur dadurch charakterisieren, dass die Grenzen noch erkennbar bleiben. D.h., im Unterschied dazu wird die vermischte Form durch die Aufhebung oder Verwischung von Differenzen im kulturellen Bewusstsein nicht mehr als Hybrid, sondern als etwas Eigenständiges wahrgenommen.114 Im Unterscheid dazu postulieren die Postkolonialisten wie Stuart Hall, Homi Bhabha, Gayatri Chakravorty Spivak usw., dass Kultur nie ein abgeschlossener und vollendeter Raum, sondern immer hybrid ist.115 Demnach sind die kulturellen Differenzen keineswegs essentiell oder ontologisch, auch die Grenzen zwischen Innen und Außen sowie dem Selbst und den Anderen lassen sich nur schwer ziehen. Jedoch wird der Begriff „Hybridität“ im postkolonialen Diskurs nicht lediglich dafür eingesetzt, die Vermischung der Kulturen als Normalverlauf aufzufassen und zu beschreiben, sondern er soll in der Dominanzgesellschaft eine kulturelle Strategie für die Kolonisierten, marginalisierten Gruppen und Minoritäten bieten. So hat v.a. der angloamerikanische Literaturwissenschaftler Homi Bhabha diese Strategie in seinem einflussreichen Hauptwerk The Location of Culture konzipiert und die Bedeutung von „Hybridität“ im postkolonialen Kontext am meisten geprägt.

112 113

N.N.: „Hybridität“, in: Nünning (Hg.) 2001, S. 260 Bakhtin, Mikhail: „Discourse in the novel“, in: Holquist, Michael (Hg.): The Dialoge Imagination, Austin 1981, S. 358

114

Schneider, Irmela: „Von der Vielsprachigkeit zur ‚Kunst der Hybridation’, Diskurse des Hybriden“, in: Dies./Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 21

115

Papastergiadis, Nikos: „Tracing Hybridity in Theory“, in: Werbner, Pnina/Modood Tariq (Hg.): Debating Cultural Hybridity: Multi-cultural Identities and the Politics of Anti-Racism, London 1997, S. 273ff

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage

Bei seiner Auseinandersetzung mit dem kolonialen Diskurs sah Bhabha in den von den Kolonisatoren verleugneten „rassischen“ Hybriden (Bastarden) ein Subversionspotential: „Erzeugt durch eine Strategie der Verleugnung, bezieht sich Diskriminierung immer auf einen Prozeß der Aufspaltung als der Vorbedingung von Unterwerfung: eine Diskriminierung zwischen der Mutterkultur und ihren entarteten Bastarden, dem Selbst und seinen Doppeln, wobei die Spur dessen, was verleugnet wird, nicht verdrängt, sondern als etwas Differentes – als Mutation, als Hybridform – wiederholt wird. [...] Hybridität repräsentiert jene ambivalente ‚Verwandlung‘ des Untertanen/Subjektes in das schreckenerregende, entstellte Objekt paranoider Klassifikation – eine beunruhigende Infragestellung der Bilder und Präsenzformen der Autorität.“116

Der „Rassenbastard“ lässt sich hier auf die Kolonisierten beziehen, denen aufgezwungen wurde, die Werte und Normen der Mutterkultur zu übernehmen. Durch die Übernahme ergibt sich die kulturelle Hybridität, die die angebliche „Reinheit“ der Rassen und Kulturen als Mythos entlarvt und damit die Autorität herausfordert. Die Ambivalenz der Hybridität, so Bhabha, ermöglicht nicht nur Widerstand, sondern ist auch ein Indiz dafür, die Beziehung zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren nicht als klare binäre Opposition von „Unterworfenen“ und „Herren“ zu betrachten. Überdies führt er die Strategie der Mimikry ein, wodurch die Kolonisierten sich als „almost the same, but not quite“ – im Sinne von „fast weiß, aber doch nicht ganz“ – tarnen, so dass die beherrschende Macht auf umgekehrte Weise angegriffen werden kann. Daraus geht hervor, dass die Nachahmung der „weißen Kultur“ für Bhabha nicht unbedingt eine Vereinnahmung durch diese bzw. einen Verlust der kolonisierten Kultur bedeutet, sondern über Widerstandspotential verfügt.117 Damit teilt Bhabha dieselbe Ansicht wie die Postmodernisten, dass die herrschende Macht – sei es die des Kolonialismus, sei es die der gesellschaftlichen Unterdrückung – auf der Dialektik der modernen Souveränität basiert, die die Vielfalt der Differenzen in binäre Gegensätze zwingt und die einander gegenüberstehenden essenziellen sozialen Identitäten in eine kohärente Totalität einordnet.118 Um die binäre Macht- und Identitätsstruktur aufzubrechen, verortet Bhabha die „Hybridität“ der Kultur und Identität in einen „Zwischenraum“, den er als in-between bzw. third space bezeichnet. Er kon-

116 117 118

Bhabha, Homi: Die Verortung der Kulturen, Tübingen 2000, S. 168 Ebd., S. 168ff Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire: Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York 2003, S. 157ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? kretisiert seinen Raumbegriff mit der Metapher eines Treppenhauses, das weder zum oberen noch zum unteren Raum gehört: „Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozess symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten konstruiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, dass sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine überkommene oder verordnete Hierarchie gibt.“119

Der „Dritte Raum“ reflektiert in erster Linie den Zustand des „Dazwischenseins“ der Immigranten aus ehemaligen Kolonien in den westlichen Metropolen, die sich weder ihrer ursprünglichen Herkunft zugehörig fühlen noch sich mit der neuen Heimat identifizieren können. Damit bietet er einen Weg, „der Politik der Polarität zu entkommen“,120 bzw. sich von festgelegten, homogenisierten Kulturellen Identitäten zu befreien. In diesem Übergangsraum zwischen zwei Kulturen und Identitäten ist die Hybridität durch Ambivalenz und einen liminalen Zustand gekennzeichnet. Der „Zwischenraum“ ist der Ort, an dem die kulturelle Zuordnung entzogen wird und sich in einem Spannungsfeld zwischen „sowohl-als-auch“ und „weder – noch“ bewegt. Die Hybridität birgt daher das Risiko in sich, anstatt durch die Zugehörigkeit zu beiden Kulturen einen doppelten Vorteil zu erlangen, im Gegenteil dazu keiner von beiden Kulturen anzugehören, was letztlich einer kulturellen Entwurzelung gleichkommt. Ein solcher „liminaler“ Zustand der Identität wird nach Lehrmeinung der Ethnologie üblicherweise durch ein Ritual überwunden, wohingegen Bhabha diese Labilität als produktives Potential betrachtet, weshalb sie nicht überwunden werden soll.121 Denn der „Dritte Raum“ verbindet die Kulturen ohne hierarchische Einordnung und bietet einen freien Platz für alle Identitäten, Repräsentationen und Differenzen, so dass verschiedene Bedeutungen, Werte, Glaubensüberzeugungen und Praktiken dort neu ausgehandelt werden können. Die Subversion der Hybridität richtet sich nicht nur gegen den biologistischen Rassismus und jegliche essentialistische Auffassung

119 120 121

Bhabha 2000, S. 5 Ebd., S. 58 Hansen 2000, S. 348

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage von Kultur, Nation, Ethnie, Religion und Geschlecht, 122 sondern auch gegen die alten Rahmungen, Werte, Grenzen und Identitäten. Der Zustand des „Dazwischenseins“ ist insofern sowohl ein Zustand der Befreiung als auch zugleich der Verwirrung: „Die Zeit der Befreiung ist [...] eine Zeit der kulturellen Ungewissheit und, wichtiger noch, der signifikatorischen oder repräsentationalen Unentscheidbarkeit.“123

Die Hybridität erweist sich somit als Ambivalenz und Unentscheidbarkeit, aber gerade deswegen ermöglicht sie, dass die kulturellen Symbole dort neu verhandelt bzw. mit neuen Bedeutungen belegt und reinterpretiert werden:124 „[A] willingness to descend into that alien territory [...] may reveal that the theoretical recognition of the split-space of enunciation may open the way to conceptualizing an international culture, based not on the exoticism or multiculturalism of the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of culture’s hybridity.“125

Damit soll sich sein Konzept von der Hybridisierung in der postmodernen Konsumgesellschaft unterscheiden, die auf Exotismus und multikulturellem Nebeneinander beruht. Die „Hybridität“ gilt nicht lediglich als Identitätskonzept für ein isoliertes und fragmentiertes Dasein, sondern sie stellt eine neue Form der Gemeinschaft dar, einen neuen Internationalismus und eine Zusammenkunft von Menschen in der Diaspora. Bhabhas Theorie der „Hybridität“ und des „Dritten Raums“ wird nicht nur in den anglophonen Geisteswissenschaften zelebriert, sondern findet auch im deutschsprachigen Kontext großen Anklang. Ebenso vielfältig und breit ist aber auch die Kritik, die vor allem darauf gerichtet ist, das vorgegebene Widerstandspotential infrage zu stellen.126 Um die Argumente der Kritiker kurz zusammenzufassen, sollen hier nur die fünf wichtigsten Kritikpunkte angeführt werden: Erstens, indem Bhabha davon ausgeht, dass alle kulturellen Systeme in ambivalenten Räumen konstruiert sind bzw. dass alle

122

Chen, Kuan-Hsing: „Introduction: The decolonization question“, in: Ders.

123

(Hg.): Trajectories: Inter-Asia Cultural Studies, London/New York 1998, S. 24 Bhabha 2000, S. 54

124 125 126

Hagenbüchle 2002, S. 44 Bhabha, Homi: The Location of Culture, New York 1994, S. 38 Dhawan/Do Mar Castro Varela 2005, S. 100ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Kulturen hybrid sind, verliert sein Konzept vom „Dritten Raum“, des „Dazwischen-Seins“ und der „Hybridität“ seine Bedeutung. 127 Der Widerspruch seiner Theorie besteht darin, dass sein Identitätskonzept nur stichhaltig sein kann, wenn die Kulturen als trennbare Einheiten, also eben nicht als hybrid, aufgefasst werden. Zweitens, mit dem Begriff „Hybridität“ die essentialistischen Rassenkonzepte zu dekonstruieren, ist insofern problematisch, als seine historischen Wurzeln tief in rassistischen Ideologien verankert sind.128 Drittens bleibt fraglich, inwiefern durch die Strategie der Mimikry Widerstand geleistet werden kann. So kritisieren Moore und Gilbert, dass Bhabha die strategische Kontrolle der Kolonisatoren unterschätzt habe. Z.B. zeige die historische Tatsache, dass sich die anglisierten Inder nicht nur assimiliert haben, sondern auch mit den Kolonialherren kollaborierten.129 Während die Landbevölkerung über ein enormes Widerstandspotential verfüge, sei auch in der heutigen Zeit zu beobachten, dass gerade die gebildete Elite Indiens nicht selten neokoloniale Interessen verteidigt. 130 Darüber hinaus ist Bhabhas Übertragung des aus der Biologie stammenden Begriffs der Mimikry auf gesellschaftliche Zusammenhänge m.E. fragwürdig. So bedeutet Mimikry in der Biologie eine „Nachahmung wehrhafter oder ungenießbarer Tiere in Gestalt und Farbe durch wehrlose, um nicht als Beute erkannt zu werden“,131 was sich also ausschließlich auf die äußerliche Erscheinung bezieht. Bhabha bezieht den Begriff jedoch auf das menschliche Verhalten und verkennt somit, dass äußerliche Merkmale wie Hautfarbe usw. nicht über ein scheinbar herrschaftskonformes Verhalten hinwegtäuschen können. So gesehen wäre der Begriff Mimikry umgekehrt besser geeignet, um die Strategie einer verdeckten Kooperation mit dem diskriminierenden Herrschaftssystem zu charakterisieren, indem die äußere Erscheinung ein scheinbares Subversionspotential vortäuscht. Viertens betrachtet Katharyne Mitchell das Konzept als dekontextualisiert, da der „dritte Raum“ nicht an einen konkreten sozialen oder politischen Kontext gebunden ist, sondern vielmehr überall und nirgends existieren kann, was es unmöglich macht, Widerstand

127 128

Dhawan/Do Mar Castro Varela 2005, S. 101 Young, Robert: Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture and Race,

129

London/New York 1995, S. 27 Moore-Gilbert, Bart: Postcolonial Theory: Context, Practices, Politics, London/New York 1998, S. 134

130 131

Dhawan/Do Mar Castro Varela 2005, S. 106 Komárek, Stanislav: „Mimikry und verwandte Erscheinungen“, in: Europäische Zeitschrift für Semiotische Studien, Vol. 4 (4) 1992, S. 694

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage zu lokalisieren. 132 Sie stellt nicht zuletzt auch die Frage, ob der „Dritte Raum“, der als idealer Raum für die strategische Intervention innerhalb hegemonialer Strukturen fungieren soll, nicht ebenso gut dem Spätkapitalismus für die Entwicklung immer neuer Formen der Kapitalakkumulation dienen kann.133 Fünftens weisen Negri und Hardt darauf hin, dass die Macht, die Postkolonialisten und auch Postmodernisten glauben, mit einer Politik der Differenz bekämpfen zu müssen und zu können, sich bereits transformiert hat. Das neue Paradigma der Macht beruht daher weder auf den binären Strukturen der Moderne noch auf nationaler Ebene, sondern auf einer transnationalen und transkulturellen Dimension, was durch die Ideologie des „Unternehmenskapitals“ und des Weltmarktes evident ist. Die Strategie der Hybridität, die eine Befreiung und Subversion darstellen soll, kann daher die neue Herrschaftsstruktur nicht herausfordern, sondern fällt in Wirklichkeit mit ihr in eins und unterstützt sie sogar (unwissentlich) darin, die Grenzen von Nationen, Rassen und Geschlechtern zu überspielen und für die globale Marktwirtschaft frei verfügbar zu machen.134

I.2.3 Hybridität und Exotismus im Kontext des postmodernen Spätkapitalismus Angesichts des letzten Kritikpunktes soll nachfolgend die Bedeutung der Hybridität im Kontext des postmodernen Spätkapitalismus näher untersucht werden. Die Postmoderne und der Spätkapitalismus stehen für Fredric Jameson in einer genealogischen Beziehung, da ästhetische Praxis, industrielle Produktion und Verwertungslogik miteinander verflochten sind, so dass es unmöglich ist, sie voneinander zu trennen.135 Diese Entwicklung findet nicht nur in den nordamerikanischen und westeuropäischen Ländern statt, sondern in allen großen Metropolen. Dementsprechend verweist Kate Nash auch auf die enge Verbindung zwischen Globalisierung und Postmoderne: „Global culture is often seen as postmodern: fastchanging, fragmented, pluralist, hybrid and syncretic.“136 Dies wirft folglich die Frage auf, inwiefern

132

Mitchell, Katharyne: „Different Diasporas and the Hype of Hybridity“, in: Environment and Planning D: Society and Space, 15 (5) 1997, S. 547

133 134 135

Ebd., S. 533 Hardt/Negri 2003, S. 151 Jameson, Fredric: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capi-

136

talism, London/New York 1996, S. 18 Nash, Kate: Contemporary Political Sociology: Globalization, Politics, and Power, Oxford 2000, S. 71

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

Hybridität als Zeichen einer postmodernen Ästhetik und Konzeption von Kultur und Gesellschaft mit der Verwertungslogik der globalen Marktwirtschaft zusammenhängt. Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, zunächst auf den prekären Begriff „Postmoderne“ einzugehen. Dieser Begriff wird seit den 1960er Jahren von damals in New York lebenden Künstlern, Schriftstellern und Kritikern wie Rauschenberg, Cage, Burroughs, Fielder, Hassan und Sontag verwendet, um die Moderne wegen ihrer Institutionalisierung in Museen und Akademien in Frage zu stellen. In den 1970er und 80er Jahren wird er auch auf andere Bereiche wie Architektur, visuelle Kunst, Performance und Musik übertragen und ebenfalls in Europa populär. Mit der Bewertung der Künstler und der theoretischen Erklärung für diese Strömung geht der postmoderne Diskurs einher, an dem sich Theoretiker wie Bell, Lyotard, Vattimo, Derrida, Foucault, Habermas, Baudrillard und Jameson beteiligten.137 Dieser Diskurs um die „Postmoderne“ ist insofern diffus, als dieser von Anfang an eng mit Diagnosen, Prognosen und Hoffnungen auf das Anbrechen einer neuen Zeit verzahnt ist. Folglich ist er hinsichtlich seiner Legitimität als Epochenbegriff, zeitlichen Ansetzung, Inhalte und seines übergreifenden Anwendungsbereichs höchst umstritten.138 Jedoch ist als Orientierung folgende prägnante Formulierung Lyotards hilfreich: „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: Postmoderne bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.“ 139 Demnach wäre Postmoderne als Abschied von denjenigen großen Entwürfen aufzufassen, welche die modernen Totalitarismen und Homogenisierungen propagierten. Hingegen bestimmen Differenzen und Heterogenien die neue Orientierung, so dass Pluralität anstelle der Totalität der Moderne zum neuen Paradigma der Postmoderne wird. 140 Dieser Paradigmenwechsel setzt vor allem im Kunstbereich an: Die postmodernen Künstler attackieren nicht nur die Autonomie und Institutionalisierung der Kunst, sondern sie erklären auch die moderne Kunst als ausgeschöpft. Ihnen zufolge ist alles schon geschrieben und hervorgebracht, weshalb die Künstler keinen Anspruch mehr auf Einzigartigkeit erheben können. Außerdem kommt es daher zwangsläufig zu Wiederholungen, die in der Postmoderne wiederum selbst zum Inhalt künstlerischer Ausdrucksweise geworden sind, wie z.B. bei Andy Warhol in der Bildenden Kunst oder Steve Reich in der Musik.

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Featherstone, Mike: Consumer culture and Postmodernism, London/ Newbury Park/New Delhi 1991, S. 7ff Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1991, S. 9ff Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen, Wien 1986, S. 14 Welsch, Wolfgang: „Einleitung“, in: Ders. (Hg.) 1988, S. 13

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Mit diesem Postulat schlagen die postmodernen Künstler einen neuen Weg ein, indem sie durch die Pluralisierung, die „Pastiche“Technik, Vermischung von Codes und Genres, sowie Parodie und Ironie Vielfalt schaffen. Dadurch werden schließlich auch die Grenzen zwischen Kunst und Alltagsleben verwischt und die Unterschiede zwischen ernster Hochkunst und populärer Massenkultur bis hin zum Kitsch aufgebrochen.141 Die Pastiche, die eine stilistische Heterogenisierung bedeutet, wird zur zentralen Technik bzw. Taktik der Postmoderne und es handelt sich dabei um die „Weiterentwicklung von Differenzierung und Entdifferenzierung in Form von Hybridkreuzungen, Reintegrationen und Rekombinationen“.142 Am Beispiel der Architektur lässt sich diese ästhetische Praxis und die damit einhergehende Problematik besonders gut verdeutlichen, weil sie im öffentlichen Erscheinungsbild einen allgemein sichtbaren Ausdruck bestehender Machtverhältnisse repräsentiert und ihre Erschaffung im Vergleich zu anderen Kunstformen besonders stark von finanzkräftigen Auftraggebern abhängig ist. Im Gegensatz zur modernen Architektur, die ausschließlich der gesellschaftlichen Elite vorbehalten ist, fordern die postmodernen Architekten eine „Doppelkodierung“ und „Mehrsprachigkeit“ der Bauwerke, um damit mindestens zwei Bevölkerungsschichten anzusprechen.143 Solche Bauwerke sind nicht mehr nur eine Demonstration des technologischen Fortschritts wie in der Moderne, sondern sie lösen mit ihren pompösen, „polyphonen“ Fassaden beim Betrachter auch Faszination aus, indem sie den Eindruck von ästhetischer Innovation und Kreativität vermitteln. Dabei handelt es sich nicht um eine Umkodierung, sondern um eine Gleichzeitigkeit von zwei oder mehreren Architektursprachen, die einer breiten Masse Zugang ermöglichen soll. Eine solche Vielfalt durchbricht zwar die binäre und antagonistische Struktur der Moderne, erschüttert jedoch nicht deren Hierarchie. In Jamesons Betrachtung erweist sich eine solche Architektur als „(selbst)gefälliger Eklektizismus“, weil er alle architektonischen Stilrichtungen der Vergangenheit „plündert“ und sie auf willkürliche

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Featherstone 1991, S. 7ff Hoppmann, Heike: Pro:Version. Postmoderne Taktiken in einer strategischen Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2000, S. 29 Stirlings äußerst „polyglotter“ Neubau der Stuttgarter Staatsgalerie gilt hierfür als Paradebeispiel in Deutschland. Hierbei werden traditionelle und moderne, elitäre und populäre, konstruktivistische und darstellende Codes zusammengeführt, so dass sich eine vielfältige Architekturlandschaft ergibt. Siehe: Jencks, Charles: „Die Sprache der postmodernen Architektur“, in: Welsch (Hg.) 1988, S. 88ff

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und zufällige Weise zu überstimulierenden Formkompositionen zusammenfügt.144 An diesem Beispiel ist zu erkennen, dass die Pluralisierung bzw. Hybridisierung ein Erfolg versprechendes Konzept darstellt. Alleine durch die Anwendung einer Mischform werden die Traditionen und Konvention gebrochen, die Genres aufgelöst und die etablierten Grenzen überschritten. Dies erweckt somit beim Betrachter einen kreativen, revolutionären und tabubrechenden Anschein und erreicht dadurch leicht ein Massenpublikum, ohne tiefgründige Strukturfragen oder soziale Problematiken tangieren zu müssen. Dabei müssen sie von der breiten Öffentlichkeit nicht einmal als schön empfunden werden, da sich ihre Wirkung im öffentlichen Bewusstsein nicht so sehr in ihrer Ästhetik entfaltet, als vielmehr durch ihren symbolhaften Charakter. Denn mit dem postmodernen Motto anything goes werden symbolische Zitatelemente, Nachbildungen und Dekorationen aus unterschiedlichen Zeitepochen, Kultursprachen und Stilen prinzipienlos angereichert und die Kombination kann dabei unendlich variiert werden. Durch Mehrfachkodierung und Verkreuzung verschiedener Regelsysteme wird nicht nur ein Vervielfältigungseffekt, sondern auch ein Irritationseffekt erzeugt, welcher letztendlich ein sinnentleertes, „zielloses Überschreiten“ und eine Beliebigkeit des Nebeneinanders ergibt, welche als Indifferentismus bezeichnet werden kann.145 Indem alltägliche Produkte zu Kunstobjekten verwandelt werden (z.B. Andy Warhols Campbell’s-Konservendosen) und damit die Grenzen zwischen Kunst und Alltag aufgebrochen werden, werden die alltäglichen Produkte umgekehrt ästhetisiert, so dass in den Metropolen überall Kunst zu sehen ist, auf der Straße, in Geschäften, am Körper, als Mode-Design, in der Werbung, bei städtischen Bauwerken usw.146 Dabei verändert sich die Rolle der Kunst auf signifikante Weise: Einerseits werden die Kunstwerke bzw. Kunstevents immer mehr konsumiert und sie verkommen dabei laut Adorno zu reinen Waren; auf der anderen Seite dient die Kunst dazu, ein marktentscheidendes Image für die Produkte zu schaffen und deren Konsumwert zu erhöhen. Die Entgrenzung zwischen Kultur und Kunst geht somit im Zuge ihrer Integration in die Kulturindustrie einher. Dass Design und Werbung zunehmend als Kunst zelebriert 144

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Jameson, Fredric: „Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus“, in: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Postmoderne: Zeichen eines kulturellen Wandels, Hamburg 1997, S. 46 Rademacher, Claudia: „,Zeit der Erschlaffung‘?: Überlegungen zur Kulturkritik bei Adorno und Lyotard“, in: Ders./Schweppenhäuer, Gerhard (Hg.): Postmoderne Kultur?: soziologische und philosophische Perspektiven, Opladen 1997, S. 148 Featherstone 1991, S. 25ff

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werden und Eingang in Kunst-Museen finden, bestätigt Stephen Bayleys Feststellung: „[I]ndustrial design is the art of the twentieth century.“147 Dies verweist nicht zuletzt auch darauf, dass die ästhetische Produktion zu einem integralen Bestandteil der allgemeinen Warenproduktion geworden ist. In diesem Zusammenhang ist wiederum auch ein Wandel des Warencharakters festzustellen: Sie werden nicht mehr nur für ihren eigentlichen Verwendungszweck als materieller Gebrauchsgegenstand gekauft, sondern sie fungieren auch immer stärker als Träger von Zeichen und Symbolen. Da die Konsumenten zunehmend mit Informationen, Bildern und komplexen Wahlmöglichkeiten bombardiert werden, die Kapazität des menschlichen Fassungsvermögens aber begrenzt bleibt, wird die Erlangung von Aufmerksamkeit von immer größerer Bedeutung gegenüber dem praktischen Nutzen und der Qualität der Produkte, so dass das „Image-Making“ zur Doktrin der Marktwirtschaft geworden ist, wie Guy Debord erklärt: „The image has become the final form of commodity reification.“148 Da der Gebrauchswert der Waren zunehmend vom imaginativen Feld des Tauschwerts abgelöst wird, setzt man bei der Vermarktung vermehrt darauf, die Waren mit kulturellen Zeichen und Symbolen aufzuladen, die mit Sehnsüchten, Exotik, Schönheit, Lust, Genuss und überhaupt allem, was man sich wünscht und wovon man träumt, assoziiert werden. Es geht somit nicht mehr darum, ein Produkt zu bewerben, sondern ein bestimmtes Lebensgefühl. Die Massenmedien und die Werbung sind dabei die wichtigsten Mittel für diesen Prozess und sie benutzen nicht nur die vorhandenen kulturellen Zeichen, sondern produzieren auch neue Zeichen wie z.B. „Warenzeichen“ oder definieren die Symbolik neu.149 Dies deutet darauf hin, dass die Zeichen unabhängig von Produkt und Objekt existieren, so dass Baudrillard die aktive Manipulation von Zeichen als logische Konsequenz der Konsumgesellschaft auffasst.150 Indem die Grenzen zwischen Kultur und Konsum verwischt werden und das Image-Making zur dominanten Form der Konsumkultur in der postmodernen Gesellschaft wird, wird alles im sozialen

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Bayley, Stephen: In Good Shape, London 1979, S. 10 zit. nach Jameson 1996, S. 18 Als Beispiel hierfür kann der Mobilfunknetzbetreiber O2 genannt werden, der auf der Grundlage des Markenrechts die Verwendung der chemischen Formel für Sauerstoff durch andere Firmen verhindern wollte, welche gewerblich mit realem Sauerstoff in Verbindung stehen, siehe: Roth, WolfDieter: „Die Luft zum Atmen wegklagen“, in: Telepolis, 18.3.2005, http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/19/196 98/1.html&words=O2&T=o2 [Stand: 03.09.2007] Featherstone 1991, S. 15ff

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Leben zur „Kultur“, die von Jameson als depthless culture bezeichnet wird.151 Auf Grund der Vielfalt und Diversität von Lebensformen und Produkten wird das Wählen zum Hauptproblem der Konsumenten, das nicht mit dem modernen binären Denken des „Entweder-oder“, sondern des „Sowohl-als-auch“ gelöst werden kann. Die Konsumenten orientieren sich laut Gerhard Schulze immer mehr am Erlebniswert als am Gebrauchswert, so dass die ökonomische Semantik allmählich hin zur psychophysischen Semantik verschoben wird.152 Das erlebnisorientierte Subjekt hat sowohl Angst davor, enttäuscht zu werden als auch davor, etwas zu verpassen und ist dabei ständig auf der Suche nach Erlebnissen, ohne eigentlich genau zu wissen, was es erleben will.153 Dieses sich seit Mitte der 1960er Jahre anbahnende und Mitte der 1980er Jahre ausgeprägte neue Konsumverhalten bildet den Hintergrund für den Boom von Erlebnismärkten, Massenmedien, Ausstellungen, Festivals usw. Folglich wird die Industrie- zur Erlebnisgesellschaft transformiert, welche Guy Debord als „Gesellschaft des Spektakels“ bezeichnete.154 Angesicht dieser Verwertungslogik zeigt sich, dass in der Postmoderne die Produktion sowohl in der Kunst als auch in der Industrie bzw. Kulturindustrie zur Reproduktion übergegangen ist. Um immer wieder neue Vielfalt und Diversität hervorzubringen, fördert die postmoderne spätkapitalistische Ökonomie durch unaufhörliche Mischungen und Re-Kompositionen des bereits Vorhandenen ästhetische und technologische Innovationen, wobei diese unabdingbare Voraussetzungen für einen transnationalen und transkulturellen globalen Markt darstellen. Aus diesen Gründen hat die binäre Unterscheidung der Moderne, die auf Exklusion und fixierter Zugehörigkeit basiert, in der Postmoderne ausgedient. Stattdessen wird die „Hybridisierung zum zentralen Merkmal und zur Bedingung für Produktion und Zirkulation.“155 Im Gegensatz zu seiner historischen Bedeutung von Degeneration, erscheint das Hybride nun als Hoffnungsträger für den technologischen und zivilisatorischen Fortschritt.156 Da die Hybridisierung Differenz schafft, hat sich die Kulturindustrie dieses Prinzip frühzeitig angeeignet, indem sie sich durch 151 152 153

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Jameson, in: Huyssen/Scherpe (Hg.) 1997, S. 93ff Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main/New York 1992, S. 36f Schneider, Irmela: „Hybridkultur. Eine Spurensuche“, in: Thomsen, Christian (Hg.): Hybridkultur. Bildschirmmedien und Evolutionsformen der Künste, Siegen 1994, S. 21 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978 Hardt/Negri 2003, S. 328 Schneider, in: Ders./Thomsen (Hg.) 1997, S. 56

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage die Nachfrage nach außergewöhnlichen Designs definiert, die sich durch ihre jeweilige Unterscheidbarkeit auszeichnen. Durch Techniken wie „Collage“, „Remix“ und „Sampling“ werden Materialien, Bilder, Sprachen und Klänge zur ästhetischen Produktion angefertigt und in verschiedenen Bereichen wie Mode, Musik, Kino und Werbung eingesetzt. Hierbei rückt insbesondere die Differenz der Kulturen als Produktivitätsressource ins Zentrum des Interesses, um einen „durchdesignten“ Lifestyle und Konsummodelle anzubieten sowie neue Trends zu setzen. Diese Art von kultureller Fremdaneignung basiert auf Dekontextualisierung, d.h. verschiedene Elemente werden aus dem ursprünglichen kulturellen Kontext herausgerissen und auf einer rein oberflächlichen Ebene adaptiert, indem sie fungieren ausschließlich als Ornamente und Dekoration fungierten. Dies bezieht sich nicht nur auf die materielle oder ästhetische Ebene, sondern auch auf die Symbolik, weshalb diesbezüglich Mike Featherstone auf Folgendes hinweist: „Consumer culture uses images, signs and symbolic goods which summon up dreams, desires and fantasies which suggest romantic authenticity and emotional fulfillment in narcissistically pleasing oneself, instead of others.“157 Die hybriden kulturellen Artefakte stellen somit ästhetische, exotische, oft aber auch esoterische Anreize dar, die ein bislang unbekanntes Begehren hervorrufen und zur Erweiterung des Selbst beitragen sollen. Das Hybriditätskonzept wird daher nicht nur bei der materiellen Produktion, sondern auch auf der immateriellen Ebene praktiziert. Bedeutsam ist hier, dass die Differenz zur Signatur für Kreativität sowie das Potential zur sozialen und kulturellen Mobilität aufgewertet wird. Dies zeigt sich an Verkaufsslogans wie think different von Apple, designed to make a difference von Braun usw., die an innovationsorientierte Individuen im Sinne von „Leistungsträgern“ der Gesellschaft gerichtet sind. Nicht zuletzt sind zunehmend transnationale Unternehmer davon überzeugt, dass die ethnisch-kulturelle Vielfalt unabdingbar für die Wettbewerbsfähigkeit auf den hart umkämpften globalen Märkten ist. Beispielsweise plädiert der USamerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida dafür, dass sich kreatives Handeln und innovatives Schaffen in einem Milieu der Vielfalt verschiedener Ethnien in hohem Maße entfalten können. Dadurch sollen neue Ideen entstehen, die entscheidende Kriterien für mehr Wachstum und größere Absatzmärkte darstellen.158 Im Kulturbetrieb richten sich die Marketingstrategien auf Dif-

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Featherstone 1991, S. 25ff

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Merx, Andreas: „,The Rise of the Creative Class‘: Buchbesprechung“, in: Homepage der Heinreich-Böll-Stiftung http://www.migration-boell.de/web/integration/47_532.asp [Stand: 20.05.2007]

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ferenzen, um unbeschränkt neue kulturelle Artikulationen zu erschaffen und damit Märkte auszudifferenzieren, was von Huggan Graham als „Vermarktung der Ränder“ bezeichnet wird.159 Auf diese Weise wird Differenz zum neuen Ideal für eine endlose Pluralisierung und Grenzüberschreitung kultureller Sphären.160 Die Differenzen werden mit verschiedenen Ansätzen und in verschiedenen Bereichen in der Mainstreamgesellschaft verankert, wodurch die Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie aufgelöst werden. Die Hybridisierung, die zu einem charakteristischen Merkmal der postmodernen Gesellschaft gehört, fällt hier als universelle Kulturerscheinung mit einer global agierenden Verwertungslogik zusammen. Da der Prozess der Hybridisierung Öffnung, Grenzüberschreitung, Durchdringung, Inklusion und Differenzierung umfasst, kennt dieser Ansatz vermeintlich keine Grenzen, kein Außen und keinen Ausschluss. Mit diesem offenen Ansatz lässt sie unbegrenzte Kombinationen und Mischungsverhältnisse zu und bringt unerwartete Resultate hervor, die neue Arten der Kommodifizierung kreieren und einen marktentscheidenden Fortschritt ermöglichen soll. In diesem Zusammenhang wird Hybridität zum Inbegriff von Flexibilität, Diversität, Mobilität, Innovations- und Wandlungsfähigkeit stilisiert. All dies ist unabdingbar für den Spätkapitalismus, dessen profitabhängige Produktionsweise unter den transnationalen Machtbedingungen grenzüberschreitender Technologien und Bewegungen operiert. Daher stellt sie nicht nur einen effizienzsteigernden Produktionsmodus und ein kommerziell Erfolg versprechendes Modell dar, sondern wird zum Leit- und Strukturprinzip urbaner Industriegesellschaften in der Ära der Globalisierung erhoben.161 Im Zuge dieser Entwicklung und des damit einhergehenden Wertewandels des Spätkapitalismus seit den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Hybridisierung in kulturelle Artefakte und Lebensformen eingeschrieben und ihr Referenzbereich übergreift ein heterogenes und breites Spektrum von Medien, akademischen Bereichen, Wertesystemen, Lebensstilen usw. Die Tendenz zeigt, dass sich die Hybridisierung bereits als unaufhaltsame Strömung durchgesetzt hat und als Kulturphänomen zur Signatur der Zeit gehört.162 Man kann sagen, dass die heutige Denkweise vielmehr auf Prinzipien wie two in one bzw. all in one als auf dem „Entweder-oder“-Modell der Moderne beruht. So übt die Hybridität auch innerhalb des akademischen Bereiches und der Kunst eine unwiderstehliche Attraktion aus, indem sie nicht nur mit Innovation und Fortschritt konno-

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Hardt/Negri 2003, S. 165 Ha 2005, S. 59ff Ebd., S. 47 Schneider, in: Dies. /Thomsen (Hg.) 1997, S. 56

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage tiert wird, sondern auch auf Grund ihres angeblichen Befreiungsund Widerstandspotentials zelebriert wird. Douglas Kellner weist in diesem Zusammenhang auf das Subversionspotential der Hybridität hin: „The forms of hybrid culture and identities described by postmodern cultural studies correspond to a globalized capitalism with an intense flow of products, cultures, people and identities with new configurations of the global and the local and new forms of struggle and resistance.“163

Diese Befreiungsverheißung überlappt sich mit der postkolonialen Auffassung von „Hybridität“, die Bhabha als „Dritten Raum“ für die Aushandlung der Machtverhältnisse konzipiert. Die Popularität des Begriffs deutet daher darauf hin, dass er nicht nur zum Synonym für das Bahnbrechende und Revolutionäre geworden ist, sondern auch als universelle Lösungsformel angesehen wird, mit der Erwartung, dass er die disparaten Probleme und Dysfunktionalitäten der Gegenwart auflösen kann.164 Es ist zwar nicht anzuzweifeln, dass Hybridität ein Widerstandspotential besitzt, um die strukturellen Grenzen und Barrieren zu überschreiten, aber dies bedeutet nicht, dass dieser Prozess zwangsläufig stattfindet. Denn „das Hybride bildet nicht den Gegenbegriff zum Hierarchischen und Hegemonialen, sondern zum Binären und Dichotomischen.“165 Ohne eine einschneidende Intervention und Umkodierung kann Hybridität in keiner Weise dazu beitragen, alte Hierarchien zu brechen und Macht neu zu konfigurieren, da eine Umkodierung keine Voraussetzung für Hybridität darstellt. Anstatt einer Umkodierung setzt das Hybride aber voraus, dass eine Parallelität verschiedener Elemente erkennbar bleibt, d.h. sobald die zusammengesetzten Fragmente nicht mehr rekonstruierbar sind, lässt sich eine Mischung nicht mehr als „hybrid“ wahrnehmen. Da sich das Hybride immer als eine Kombination von mindestens zwei vorher als getrennt aufgefassten Systemen darstellt, ergibt sich zwangsläufig eine Grenzüberschreitung, welche den Eindruck von Innovation und Befreiung vermittelt. Genau aus diesem Grund trägt Hybridität die Gefahr in sich, dass sie dafür instrumentalisiert werden kann, die Existenz vorhandener Grenzen zu überspielen und eine trügerisch-harmonische Welt ohne kulturelle Konflikte zu simulieren, indem bestehende Hierarchien verschleiert werden. 163

Kellner, Douglas: „Critical Theory and Cultural Studies“, in: McGuigan, Jim

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(Hg.): Cultural Methodologies, London 1997, S. 23 Ha 2005, S. 47 Schneider, in: Dies./Thomesen (Hg.) 1997, S. 43

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Wie zuvor dargelegt, ist zu erkennen, dass die im künstlerischen und akademischen Bereich auf Grund ihrer Befreiungsverheißung gefeierte und geforderte Hybridität in der Praxis mit der Verwertungslogik des postmodernen Spätkapitalismus zusammenfällt. Die Frage stellt sich, inwiefern sie in dieser Überlagerung ihre Subversionskraft noch entfalten kann und welche Auswirkungen die Praktizierung dieses Konzepts mit sich bringt. Sowohl Lyotard als auch Adorno kommen in ihrer Analyse zu derselben Schlussfolgerung, dass die resultierende Macht aus der Fusion von Kultur, Kunst und Konsum auf die Kulturindustrie übergegangen ist. Dabei ist die avantgardistische Kunst und Kultur immer mehr von der Gewinnmaximierung der kapitalistischen Machtreproduktion in die Ecke gedrängt worden und unterwirft ihr ästhetisches Potential den Mechanismen der Kulturindustrie, so Lyotard. Dies zeige sich etwa daran, dass ästhetische Kriterien nur noch auf Quoten und Profit beruhen, die ein Werk einbringt (wie z.B. Einschaltquoten, Besucherzahlen, Bestsellerlisten, Musik-Charts etc.). Die widerständigen und antagonistischen Potentiale werden dabei nicht zuletzt auch getilgt oder unschädlich gemacht, indem das Ästhetische auf den schnellen Massenkonsum zurechtgeschnitten wird.166 Während die Kunst durch ihre Pervertierung zur Kulturindustrie allmählich ihr Widerstandspotential verliert, wird das humane Potential der Kultur hierdurch ebenfalls zunehmend zerstört. Denn die Kulturindustrie, die laut Adorno nichts weiter als „Massenbetrug“ bedeutet, raubt die Freiheit und Autonomie der Menschen und macht sie zu Abhängigen und Hörigen des Massenkonsums.167 Dass sich die Macht im postmodernen Spätkapitalismus nicht in Kultur oder Kunst, sondern im Kapital konzentriert hat, wird auch von Seiten der Industrie bestätigt, indem Michael Michalsky (Global Creative Director von Adidas) u.a. in einen Interview äußert: „Konsum konstruiert die Welt“.168 Seine Bemerkung „Jeder ist besessen, neu und anders zu sein“ deutet darauf hin, dass die Verwertungslogik auf dieser Fetischisierung der Differenz beruht, die zur narzisstischen Selbsterweiterung angeeignet wird. Während die unersättliche Gier des Marktes nach immer Neuem, kurzlebig Konsumierbarem Ausschau hält, suchen auch die postmodernen Künstler ständig das Neue, das auf das Nicht-Darstellbare anspielt. Auf Grund dieser Analogie fügt sich die

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Lyotard, Jean-François: „Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?“, in: Welsch (Hg.) 1988, S. 197 Rademacher, in: Ders./Schweppenhäuer (Hg.) 1997, S. 145 Interview mit Michael Michalsky und Ekow Eshun, in: „Welt am Sonntag“, Nr. 40, 7. Oktober 2001, zit. nach Geyer/Hellmuth, in: Ders. (Hg.) 2003, S. IX

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage künstlerische Kategorie des Neuen für Lyotard nahtlos in die kapitalistische Reproduktionsordnung ein und unterscheidet sich auch immer weniger vom Neuen der Konsumgüter. Durch die Koppelung der beiden Bereiche wird die ästhetische Innovation, die durch die Hybridität hervorgebracht wird, zum „Profitvehikel der kapitalistischen Marktreproduktion“. 169 Somit wird „Neuheit“ zum Wert an sich erhoben und als „Innovation“ gefeiert, ohne als kommerzielles Produkt notwendigerweise hinsichtlich seiner Nützlichkeit oder als Kunstwerk hinsichtlich seiner Ästhetik hinterfragt zu werden. Durch Hybridisierung wird somit die Realität zu einem „Simulakrum“ (Abbild) transformiert, welches nach Frederic Jameson „the identical copy for which no original has ever existed“ repräsentiert.170 Das Hybride ist demzufolge eine Kopie, weil es sich dabei um eine „Reproduktion von Genre-Mutationen“ handelt.171 Dennoch wird es als das Neue und Einzigartige ausgegeben, indem es das noch nie Dagewesene repräsentiert. Für Baudrillard ist diese Differenzbildung eine Reproduktion des Gleichen, die in Wahrheit Indifferenz erzeugt172 und in Übereinstimmung damit betrachtet auch Adorno „das Neue als Verkleidung des Immergleichen“.173 Daraus geht hervor, dass Hybridität ein Trugbild von Einzigartigkeit und kaleidoskopischer Vielfalt produziert, womit „Pseudoevents“ und „Spektakel“ geschaffen werden, um sich dem Geschmack des Publikums bzw. der Konsumenten anzubiedern. 174 Mit postmodernem Nihilismus und Hedonismus trägt Hybridität als Reproduktionsmodus sowohl in der Kunst als auch in der Kulturindustrie dazu bei, den Menschen in eine „ästhetische Halluzination der Realität“ zu versetzen, die Baudrillard als „Simulation“ bzw. „Hyperrealität“ bezeichnet.175 Somit verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, indem eine Hyperrealität geschaffen wird, da sie „realer als das Reale“ ist. Es lässt sich daher folgern, dass es sich bei der Hybridisierung als kultureller Erscheinung in der postmodernen Gesellschaft per se vielmehr um eine Strategie zur Schaffung des „Neuen“ handelt, um dadurch vielversprechende sinnliche und emotionelle Erlebniswelten und eine Ausweitung des Marktes zu erreichen, als um eine Form des Widerstandes gegen Macht und Strukturfragen. Auch

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Rademacher, in: ebd., S. 145

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Jameson 1996, S. 18 Hassan, in: Welsch (Hg.) 1988, S. 52 Welsch 1991, S. 149ff

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Rademacher, in: Ders./Schweppenhäuer (Hg.) 1997, S. 144 Jameson, ebd., S. 18 Baudrillard, Jean: „Die Simulation“, in: Welsch (Hg.) 1988, S. 159

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Westlicher Geist im östlichen Körper? wenn in der Postmoderne auf den Totalitarismus der Moderne im Sinne des „Mythos“ von Ganzheit und Purismus verzichtet wird, bedeutet dies nicht, dass sie die politische Hierarchie der Moderne herausfordert oder aufbricht. In Anbetracht dessen formuliert Lyotard: „Die Postmoderne situiert sich weder nach der Moderne noch gegen sie. Sie war in ihr schon eingeschlossen, nur verborgen.“176 Dass die Moderne fester Bestandteil der Postmoderne ist, lässt sich nicht nur bereits am Begriff „Post-Moderne“ erkennen, sondern auch daran, dass ein Werk nur dann postmodern sein kann, wenn es zuvor modern war. Insofern „bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt.“177 Die permanente Geburt der Moderne und ihre Verborgenheit innerhalb der Postmoderne lässt sich nicht nur auf die Ideologie beziehen, sondern auch auf das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Während in der Kolonialzeit das Andere auf Grund der propagierten „Reinheit“ ausgeschlossen wurde, wird es durch die postmoderne Forderung nach Diversität und Heterogenität integriert. Die Paradoxie besteht darin, dass der Exotismus, der immer eine Ausgrenzung voraussetzt, dadurch jedoch nicht verschwunden ist, sondern gerade deswegen ohne jegliche geographischen Grenzen und zeitliche Einschränkungen – hier und jetzt – stattfindet.178 Das scheinbar integrierte Andere wird wiederum ausgegrenzt, so dass die Exklusion durch die Inklusion entsteht, was Nelly Richard wie folgt beschreibt: „The fact is, however, that no sooner are these differences – sexual, political, racial, cultural – posited and valued than they become subsumed into the metacategory of the ‚undifferentiated‘, which means that all singularities immediatedly become indistinguishable and interchangeable in a new, sophisticated economy of ‚sameness‘. Postmodernism defends itself against the destabilizing threat of the ‚other‘ by integrating it back into a framework which absorbs all differences and contradictions. The centre, though claiming to be in disintegration, still operates as a centre: filling away any divergencies into a system of codes whose meanings, both semantically and territorially, it continues to administer by exclusive right.“179

Dies deutet darauf hin, dass der Einfluss bzw. die Macht des Zentrums trotz der Hybridisierung der Kulturen nicht unterwandert wird, sondern hinter den Kulissen untertaucht. Dabei operiert die

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zit. nach Welsch 1991, S. 82ff Lyotard, in: Welsch (Hg.) 1988, S. 201

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Célestin, Roger: From Cannibals to Radicals, London 1995, S. 220 Richards, Nelly: „Postmodernity and Periphery“, in: Docherty, Thomas (Hg): Postmodernism: A Reader, New York 1993, S. 468

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Interkulturelle Diskurse als theoretische Grundlage exklusive Macht anstatt nach der Ideologie des Purismus nun auf subtile Weise durch die semantische Definition der Differenz und Kategorisierung. Dass das Zentrum auf Grund der ökonomischen Überlegenheit über das Privileg des selektiven und exklusiven Rechts verfügt, verdeutlicht sich in der Konstruktion des postmodernen Massenexotismus, die sich nach den Bedürfnissen und ästhetischen Präferenzen der Konsumenten in Nord-Amerika und Westeuropa orientiert.180 Er erstreckt sich über ein breites Spektrum von materiellen Gütern, gastronomischen Erlebnissen, Fernreisen, sexuellen Dienstleistungen, Werbung, Kulturindustrie, Unterhaltungsindustrie und Massenmedien bis zu an östliche Religionen angelehnte Heilsbewegungen. Man kann sagen, dass alle Produktionen, die Imagination verkaufen und sich hierfür fremde Kulturen aneignen, gezielt mit exotischen Klischees zur kulturellen Repräsentation arbeiten.181 Dabei ist diese Aneignung des Anderen ebenso selektiv wie manipulativ, nicht nur weil fremde Kulturen durch die Bedeutungszuschreibung bei der Konsumierung des Anderen aus der Perspektive westlicher Hegemoniebestrebungen zurechtgeschnitten werden, sondern auch weil die Konsumenten wiederum durch solche exotisierenden Darstellungen geprägt werden. Die Zuschreibung von vermeintlicher Authentizität und Differenz knüpft somit implizit an dieselbe Darstellung des Exotischen aus der Kolonialzeit an, welche bereits ausführlich anhand des Authentizitätskonzepts in Kapitel I.1.3 dargelegt ist. Deshalb kann die Strömung des Massenexotismus als eine Art Fortsetzung des Exotismus aus dem 19. Jh. verstanden werden, durch den das Fremde ebenfalls inszeniert und konsumiert wurde. Dennoch hat sich der Exotismus seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. hinsichtlich seines Zwecks und seiner Vermarktungsstrategie transformiert. So dient er weniger zur territorialen Expansion der Nationen als vielmehr zur ökonomischen Machtausdehnung. Diesbezüglich übt Ahmad Aijaz Kritik an Saids „Orientalismus“ und weist auf die aktuelle Problematik des Exotismus hin: „[T]he condition of becoming this perfect consumer, of course, is that one frees oneself from stable identities of class, nation, gender. [...] This is the imperial geography not of the colonial period but of late capitalism: commodity acquires universality, and a universal market arises across national frontiers and local customs, while white trade rejoins black trade. When cultural critisicism

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Rincón, in: Barck (Hg.) 2001, S. 339ff Ha 2005, S. 79

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Westlicher Geist im östlichen Körper? reaches this point of convergence with the universal market, one might add, it becomes indistinguishable from commodity fetishism.“182

Hierbei geht der Exotismus Hand in Hand mit der Hybridität, wodurch sich die Ressourcen zur Erzeugung von Differenz grenzenlos erweitern lassen und andererseits die exotisierten, hybriden Produkte wiederum für jeden Markt der Weltbevölkerung zugänglich gemacht werden können. Die Exotisierung der Kulturen verläuft somit nicht mehr wie beim Orientalismus in einer Einbahnstraße vom Okzident zum Orient, sondern kreuz und quer in alle Richtungen. Damit hat der Exotismus eine neue, noch nie zuvor da gewesene Dimension erreicht, die von Graham Huggan als „global spectacularisation of cultural difference“ bezeichnet wird.183 Nicht zuletzt verweist Aijaz’ Formulierung „white trade rejoins black trade“ auch darauf, dass die Inszenierung exotischer Spektakel für den globalen Markt zu einem transnationalen joint venture geführt hat. Das exotisierte Objekt lässt sich dadurch nicht mehr in der kulturellen Topographie verorten und es ist ebenfalls undurchschaubar geworden, wer wirklich hinter den exotisierten Produkten steht bzw. wer am meisten davon profitiert.

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Aijaz, Ahmad: In Theory: Classes, Nations, Literatures, London 1992, S. 217 Huggan 2001, S. 14

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II Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

II.1 MEDEA DES CHINESISCHEN REGISSEURS LUO JIN-LIN Die Medea-Aufführung des chinesischen Regisseurs Luo Jin-lin, deren Premiere im Jahre 1989 war, ist bisher die international erfolgreichste chinesische Aufführung einer griechischen Tragödie. Zuvor begann bereits 1986 der Regisseur Li Jiayao damit, klassische westliche Dramen in der Xiqu-Form 1 aufzuführen. Während Lis auf Macbeth zurückgehende Aufführung Xie Shou ji (engl. Blood-Stained Hands) die erste chinesische Adaption einer Shakespeare-Tragödie

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Der Begriff Xiqu besteht aus den beiden Zeichen Xi und Qu: das erste bedeutet Kampf bzw. Wettstreit und verweist im übertragenen Sinne auf einen sprachlichen Wettstreit; das zweite ist die Bezeichnung für die liedhaften Gedichte mit unregelmäßigen, gereimten Versen, die in der Song-Zeit (960-1270 n.Chr.) entstanden sind. Während die zwei bedeutenden Theoretiker und Kritiker Wang Ji-de (?-1623) und Liyu (1611-1680) die Ästhetik des Qu in Bezug auf Lyrik und Musik behandelten, führte Wang Guo-wei (1877-1927) in seinem Buch Song Yuan Xiqu Shi (Die Geschichte des Xiqu in der Song- und Yuan-Zeit) 1913 die zwei Zeichen Xi und Qu zusammen, um dadurch das traditionelle chinesische Theater zu definieren. Nach seiner kurzen und prägnanten Formulierung spricht man von Xiqu, wenn eine Geschichte durch Gesang und Tanz erzählt wird („Yiqu Zhe, weiyi gewu yang gushi ye“). Nach diesem Kriterium setzte er die Geschichte des chinesischen Theaters bei Zaju (die gebräuchliche Bezeichnung für die allgemeinen Dramen und Darbietungen zur Song- und Yuan-Zeit) aus der Yuan-Zeit (1279-1368 n.Chr.) an. Die Darbietungen der Sui- und Tang-Zeit (581-618 und 618-960 n.Chr.) zählten insofern für ihn nicht zum Xiqu, als dadurch kaum Geschichten erzählt wurden und sie als Tanz zu bezeichnen, sei seiner Ansicht nach angemessener als von Xiqu zu sprechen. Auch Zaju aus der Song-Zeit konnte für ihn nicht als Xiqu gelten, da hierbei noch der Ringkampf integriert war. Anhand zahlreicher historischer Belege schuf Wang somit eine ontologische, theoretische Grundlage für die Geschichte und die ästhetischen Merkmale des chinesischen Theaters und er erhob auf diese Weise das chinesische Theater von einer unbeachteten oder sogar verachteten Kunst auf eine wissenschaftliche Ebene. Heute wird der Begriff Xiqu als Oberbegriff für alle traditionellen chinesischen Theaterformen verwendet, um sie von Huaju (dem westlichen Sprechtheater) zu unterscheiden. Siehe: Zheng, Chuan-yin: Zhongguo xiqu wenhua gailun (Einführung in die Kultur des klassischen Xiqu), Taipei 1995, S. 45ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? in der Xiqu-Form darstellt,2 gilt Luos Medea als erste chinesische Adaption dieser griechischen Tragödie in der Xiqu-Form. Es lässt sich daher fragen, welches kulturelle Konzept und welche Zielsetzung Adaptionen griechischer Tragödien als Xiqu beinhalten und wie die kulturelle und ästhetische Diskrepanz zwischen dem antiken griechischen Theater und Xiqu überwunden werden kann. Bevor ich anhand der Aufführungsanalyse auf die Beantwortung dieser Frage eingehe, werden im Folgenden die Biographie des Regisseurs sowie sein Bezug zum griechischen Theater dargestellt, um den Hintergrund der Aufführung zu erläutern.

II.1.1 Luo Jin-lin und sein Bezug zur griechischen Tragödie Der 1937 geborene chinesische Regisseur Luo Jin-lin absolvierte die Zhongyan xiju xueyuan (Central Drama Academy) in der Fachrichtung Regie, welche sich ursprünglich auf das Huaju3 konzentrierte. Jedoch wurde zu seiner Zeit unter der Leitung von Ouyang Quqian ein neuer Akzent gesetzt, so dass Kenntnisse über das Xiqu als obligatorische Voraussetzung für die Ausbildung eines chinesischen Regisseurs galten. Somit erlernte Luo Jin-lin während seiner Studienzeit neben der Stanislawski-Methode und Ibsens Realismus auch die Bühnenpraxis der Peking-Oper.4 Dadurch, dass seine Mutter als

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Zha, Peide/Tian, Jia: „Shakespeare in Traditional Chinese Operas“, in: Shakespeare Quarterly, Vol. 37, Nr. 2, Summer 1986, S. 204. Anmerkung: Blood-Stained Hands wurde als Kunqu-Oper im Rahmen des ersten chinesischen Shakespeare-Festivals präsentiert, das im Jahre 1986 in Schanghai stattfand. Außerdem gab es noch drei weitere Produktionen, bei denen Shakespeare-Stücke in lokalen chinesischen Opernformen aufgeführt wurden, nämlich Much Ado About Nothing, The Winter’s Tale und Twelfth Night. Jedoch gelangte nur Blood-Stained Hands auf internationale euro-

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päische Theaterfestivals und zwar 1987 nach Edinburgh und anschließend auch nach Schweden, Dänemark usw. Es gab zahlreiche verschiedene chinesische Bezeichnungen für das westliche naturalistische und realistische Theater, wie z.B. Xinju (neues Theater), Wenming xi (zivilisiertes Theater) und Xieshi ju (realistisches Theater). Nach Quyang Quqian wurde der Begriff Huaju im Sinne des Sprechtheaters

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1927 von Tian Han eingeführt und hat sich seitdem allmählich in China durchgesetzt. Siehe: Eberstein 1983, S. 16 Luo, Jin-lin: „Hebei Bangzi Tebai Chen ji gu xila beiju“ („Theben-Stadt von Hebei Bangzi und antike griechische Tragödien“), Protokoll von Luos Vortrag am 21.3.2002, Siehe: http://www.jinxingshi.com/jryz/007.htm [Stand: 09.10.2007]

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Amateurschauspielerin in mehr als 50 Peking-Oper-Stücken mitgewirkt hatte, wurde er bereits seit seiner Kindheit von der chinesischen Theatertradition geprägt.5 Aus seiner Biographie geht hervor, dass er vor seiner ersten Adaption einer griechischen Tragödie noch nie in Griechenland oder überhaupt im westlichen Ausland gewesen war. Sein Bezug zur antiken griechischen Kultur und dem griechischen Theater stammt lediglich von seinem Vater Luo Nian-sheng (1904-1990), der nach seinem Studienaufenthalt in Athen (19341935) sein ganzes Leben der Übersetzung von Dramen, literarischen Werken und der Philosophie des antiken Griechenlands widmete. Obwohl Luo durch die Bearbeitung der Übersetzungen seines Vaters bereits seit seiner Jugendzeit viele antike griechische Dramen kannte, brachte er erst im Jahre 1986 im Alter von 49 Jahren zum ersten Mal ein antikes griechisches Drama auf eine chinesische Bühne. Dieser Wendepunkt geht nicht lediglich auf ein plötzlich erwachtes persönliches Interesse zurück, sondern hängt mit dem politischen Umfeld Chinas zusammen. So wies er selbst darauf hin, dass die Rezeption des antiken griechischen Theaters auf Grund der strikten Ablehnung der westlichen Kultur in der Zeit Mao Zedongs unmöglich war, da erst nach dessen Tod 1976 und durch die von Deng Xiao-ping 1978 eingeleitete Öffnungspolitik sowie die in den 1980er Jahren eingeführten Wirtschaftsreformen eine Öffnung Chinas gegenüber westlichen Ländern und eine intensive Auseinandersetzug mit der westlichen Kultur ermöglicht wurde.6 Andererseits empfand Luo Jin-lin erst nach der Kulturrevolution (1966-1976) persönlich Begeisterung für die antiken griechischen Dramen, da er im Rückblick auf die Mao-Zeit viele Parallelen zwischen der griechischen Tragödie und der chinesischen Politik erkannte. Nicht zuletzt entsprach die Geschichte Mao Zedongs seiner Ansicht nach auch dem tragischen Schicksal des König Ödipus, der auf der Suche

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Bai, Ai-lian: „Luo Jin-lin: Dongxi xiju ronghe dashi“ („Luo Jin-lin – Der Meister der Verschmelzung östlicher und westlicher Kultur“), in: Lie-xiong, Liu (Hg.): Zhongguo shida xiju daoyan dashi (Die zehn größten TheaterregieMeister Chinas), Peking 2005, S. 107ff Luo wies darauf hin, dass Mao Zedong einmal geäußert hatte: „Yen bi cheng Xila“, was bedeutet, dass alle westlichen Schriften auf das antike Griechenland zurückgehen, so dass dadurch das chinesische Volk abgeschreckt wurde, sich mit dem antiken Griechenland zu beschäftigen. Erst nach der Öffnung Chinas unter Deng Xiao-ping seit den 1980er Jahren, versuchte China sich wieder der westlichen Kultur anzunähern, wodurch der Zugang zum griechischen Theater ermöglicht wurde. Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005

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Westlicher Geist im östlichen Körper? nach einem Schuldigen für die Situation des Landes schließlich zur Erkenntnis gelangt, dass er selbst der Schuldige ist.7 Auch wenn sowohl die chinesische als auch die westliche Theatertradition zu seinem künstlerischen Werdegang gehören, so beruht sein Ansatz für die Adaption der griechischen Tragödien zunächst doch auf dem Huaju. So war seine erste Aufführung einer griechischen Tragödie König Ödipus, welche im Jahre 1986 von Studenten aufgeführt wurde, die als Huaju-Schauspieler an der Central Drama Academy ausgebildet wurden. Diese Aufführung wurde noch im selben Jahr zum 2nd International Meeting of Ancient Greek Drama in Delphi eingeladen. Luos König Ödipus gilt somit als erste chinesische Aufführung in der Huaju-Form, die internationale Anerkennung erlangen konnte, so dass sie ebenfalls in den chinesischen Medien große Beachtung fand und sogar vom zentralen chinesischen Fernsehsender CCTV aufgezeichnet und im ganzen Land ausgestrahlt wurde.8 In dieser Inszenierung wurden nicht nur lyrische Passagen und Chorlieder des Originals gekürzt und an die chinesischen Gewohnheiten angepasst, sondern auch alle für Chinesen fremd erscheinenden Gottheiten mit dem Namen Apollo versehen, welcher durch die gleichnamige US-amerikanische Raumfähre auch in China allgemein bekannt war.9 Wenn auch diese Aufführung nach Helmut Flashar im Wesentlichen auf der Stanislawski-Methode, auf Shaw und Hauptmann beruhte,10 so wurden jedoch auch Konventionen der Peking-Oper integriert. Als Beispiel hierfür erwähnt der Regisseur die Schlussszene von Ödipus, in der die Blendung der Augen lediglich mit einem schwarzen Band angedeutet wird: Dass der Ödipus-Darsteller nach der Blendung der Augen mit ausgestrecktem Körper gerade nach hinten fällt, geht auf die Dao Jianshi-Technik (leblos nach hinten fallen) der Peking-Oper zurück, wodurch die männlichen Rollen ihre tiefe Trauer zum Ausdruck bringen.11 Während dramaturgischer Aufbau und Kontext ebenfalls dem chinesischen Publikum angepasst wurde, entsprachen sämtliche Kostüme dem antiken Griechenland, wodurch bei den Zuschauern trotz aller vorgenommenen Adaptionen dennoch der Anschein eines „authentischen“ griechischen Theaters erweckt werden konnte. Dementsprechend wurde Luos König Ödipus in Griechenland als eine klassische

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Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005

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Bai, Ai-lian: „Xilan wenhua de zhongguo chuanren” („A Chinese who knows ancient Greek culture“), in: Xiju chunqui, Nr. 1, August 2003, S. 51 Flashar, Hellmut: Inszenierung der Antike: Das griechische Drama auf der

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Bühne der Neuzeit 1585-1990, München 1991, S. 293 10 Ebd., S. 293f 11 Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea und „treu“ an das antike griechische Theater angelehnte Aufführung aufgefasst.12 In Antigone, einer seiner weiteren Inszenierungen griechischer Tragödien aus dem Jahre 1988, die ebenfalls in der Huaju-Form aufgeführt wurde und am International Meeting of Ancient Greek Drama in Delphi teilnahm, integrierte Luo auch einige Konventionen der Peking-Oper-Schauspielkunst, wie z.B. Pao yuanchang.13 Trotzdem erschien dies den Festival-Zuschauern nicht signifikant genug, denn die beiden Aufführungen wurden zum Beispiel vom griechischen Kritiker Kostas Georgoussopoulos als „westliche Melodramen“ bezeichnet und der Anspruch nach einem „chinesischen“ Stil bzw. dem Xiqu wurde bereits beim Publikumsgespräch zu König Ödipus von Seiten der Festival-Zuschauer zum Ausdruck gebracht.14 Ungeachtet solcher Äußerungen bestand Luo Jin-lins Zielsetzung bislang darin, den chinesischen Zuschauern ein „authentisches“ antikes griechisches Theater vorzustellen. Darunter versteht er jedoch keine museumshafte Reproduktion, sondern eine Anpassung an die Ästhetik und Bedürfnisse der chinesischen Zuschauer, unter Beibehaltung von Jingshen (Geist und Essenz) der antiken griechischen Dramen.15 Da er sich bis auf die Medea-Aufführung ausschließlich auf die Inszenierung griechischer Tragödien in der Huaju-Form konzentrierte, ist offensichtlich, dass er nicht das Xiqu, sondern die Huaju-Form als geeignetere Darstellungsform für seine Zielsetzung betrachtete.16

12 Wu, Ji-Cheng: „Shijie jutan de you yici jianyan – guanyu ‚Erdipushi wang‘ de guowai pingyi“ („Eine Prüfung im Welttheater: Ausländische Kritik über ,König Ödipus‘“), in: Chinese Theatre, Nr. 8, 1986, S. 59. Anmerkung: Dieser Artikel handelt vom chinesischen Protokoll eines Publikumsgesprächs, das am 17.6.1986 im Rahmen des 2nd International Meeting of Ancient Greek Drama stattfand. 13 Bai 2003, S. 53. Anmerkung: Pao yuan-chang bedeutet im Kreis zu laufen, um auf die Veränderung von Handlungszeit und -ort hinzudeuten, siehe: Huang, Ke-bao: Xiqu biaoyan yanjiu (Untersuchung der Darstellung der traditionellen Schauspielkunst), Peking 1988, S. 32ff 14 Georgoussopoulos, Kostas: „Das chinesische Paradigma: ,Medea‘ ist durch Stil und Sprache Chinas befreit und wieder belebt worden“, in: Ta Nea, 09.07.1991, übersetzt von Siouzouli, Natascha und Agrafiotis, Alexis 15 Luo, Jin-lin: „Gu xila xiju zai zhongguo“ („Das antike griechische Theater in China“), in: Drama, Nr. 3, 1995, S. 133. Luos Vortrag beim Symposium des 8th International Meeting of Ancient Greek Drama in Delphi 16 Auf die Auseinandersetzung zwischen Luo Jin-lin und den FestivalZuschauern soll in Kapitel III.1.2.2 über die Rezeption in Griechenland ausführlich eingegangen werden.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Im Unterschied zu Luos vorherigen Inszenierungen wurde Euripides’ Medea im Jahre 1989 im lokalen Opernstil Hebei Bangzi aus der Provinz Hebei uraufgeführt.17 Diese schlagartige Änderung im Umgang mit der Adaption griechischer Tragödien entstammte dabei weder Luos persönlichen Bedürfnissen noch dem chinesischen Theaterumfeld, sondern der Vorschlag, die griechischen Tragödien in der traditionellen chinesischen Theaterform aufzuführen anstatt in Form des realistischen Sprechtheaters, kam vom griechischen Regisseur Theodoros Terzopoulos, der im Zeitraum von 1985-1987 künstlerischer Leiter des European Culture Centre of Delphi war.18 Der Frage, welche Intention sich hinter diesem Anspruch von Seiten des internationalen Theaterfestivals aus Griechenland verbirgt und in welchem Verhältnis dieses zu den Interessen der chinesischen Seite steht, werde ich in Kapitel III.1.2 nachgehen. Für seine Inszenierung wählte Luo Jin-lin unter den über dreihundert traditionellen chinesischen Opernstilen die lokale Opernform Hebei Bangzi aus, da sie seiner Meinung nach auf Grund ihres temperamentvollen und pathetischen Gesangsstils am besten dafür geeignet sei, den Gemütszustand der tragischen Figuren griechischer Tragödien zum Ausdruck zu bringen. 19 Tatsächlich erlebte 17 Die Bangzi-Oper (Klapperoper) war in Nordchina vor der Entstehung der Peking-Oper dominierend. Ihre Musik wird hauptsächlich von Perkussionsinstrumenten bestimmt und ihre einfache Struktur lässt sich dadurch leicht auf neue Texte und verschiedene Dialekte übertragen. Im Unterschied dazu basieren die in der Peking-Oper verwendeten musikalischen Strukturen vorwiegend auf dem Pi-Huang-Stil, welcher sowohl auf den Melodien des Xi-Pi aus der Provinz Shaanxi als auch auf dem Musikstil Er Huang beruht, also aus den beiden Gebieten von Huanggang und Huangpi in der Provinz Hubei. Siehe: Cheng, Julie: Gesichter der Peking-Oper: zerbrochener Ziegel und Dattelkern, Hamburg 1990, S. 38. Anmerkung: Die Hebei Bangzi ist im 19. Jh. durch die Adaption des Bangqi-Gesangsstils aus den Provinzen Shanxi und Shaanxi entstanden. Um 1900 erlebte diese Opernform ihren Aufschwung und konkurrierte mit der Peking-Oper, so dass viele Schauspieler(innen) beide Gesangsstile beherrschten, was als Jing Bang liang xia-guo (Peking-Oper und Bangzi in einen Topf) bezeichnet wurde. Siehe: Ma, Wen-lung (Hg.): Zongguo xiqu yinyue jicheng (Sammelband über die chinesische Xiqu-Musik), Hebei-Band 1, Peking 1998, S. 3ff 18 Im Interview mit Luo Jin-lin am 12.10.2005 wies er zwar darauf hin, dass der Anstoß für die Inszenierung der griechischen Tragödien innerhalb der chinesischen Theatertradition von einem griechischen Festival-Veranstalter kam, aber er wusste dessen Namen nicht mehr. Im Interview mit Theodoros Terzopoulos am 30.10.2006 erklärte dieser dann, dass er selbst Luo Jin-lin den Vorschlag gemacht hatte. Das European Culture Centre of Delphi bildet das Komitee des International Meeting of Ancient Greek Drama. 19 Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005. Es ist anzumerken, dass sich die Hebei Bangzi-Oper in Bezug auf Repertoire, stilisierte Darstellun-

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea seine Medea-Aufführung in eben diesem Hebei Bangzi-Stil ihren internationalen Durchbruch als sie beim International Meeting of Ancient Greek Drama von 1991 einen großen Triumph feiern konnte. Seitdem tourte sie durch die ganze Welt und hatte bisher mehr als 250 Vorstellungen.20 Auf Grund von personellen Neubesetzungen wurde die MedeaAufführung im Jahre 1995 und 2002 erneut überarbeitet. Während die ersten zwei Versionen von der Hebei Bangzi-Gruppe aus der Provinz Hebei aufgeführt wurden, wurden bei der letzten Bearbeitung die Rollen komplett neu mit Schauspielern der Pekinger Hebei Bangzi-Gruppe besetzt. Der Regisseur begründete die Notwendigkeit für die Wiederaufnahme im Jahre 2002 damit, dass die MedeaAufführung auf Grund ihres internationalen Erfolges noch viele potenzielle Anfragen aus dem In- und Ausland habe, wobei er den „ausländischen Markt“ wesentlich stärker betonte als den inländischen. Dabei erklärte er seine Zielsetzung mit den Worten: „Wir strebten von Anfang an danach, ein neues Xiqu zu schaffen, welches von den chinesischen Zuschauern als reformiertes Xiqu betrachtet wird und von den ausländischen Zuschauern aber als „authentisches“ Xiqu empfunden wird.“21

Im Unterschied zu seinem früheren Anspruch, den chinesischen Zuschauern das „authentische“ antike griechische Theater in der Huaju-Form zu vermitteln, beabsichtigte er mit seiner Adaption von Euripides’ Medea in der Xiqu-Form, sowohl die chinesischen als auch die nicht-chinesischen Zuschauer anzusprechen. Dabei ging er davon aus, dass die beiden Zielgruppen unterschiedliche Wahrnehmungen und Bedürfnisse haben, da die ausländischen Zuschauer eine Vorliebe für das „originale“, „authentische“ Xiqu hät-

gen, Kostüme, Masken und die Aufteilung der Rollentypen mit Ausnahme der gesprochenen Parts nicht sehr von der Peking-Oper unterscheidet. Dies liegt daran, dass die Schauspieler auf Grund der Popularität der Genres seit 1891 beide beherrschen und auch hintereinander vorführen können. Somit beruht ihre Unterscheidung hauptsächlich auf der musikalischen Darbietung bzw. dem Gesangsstil. Folglich ist die Hebei Bangzi-Oper durch die hohe Tonlage sowie den temperamentvollen Gesang gekennzeichnet, wodurch die tragischen Figuren, vor allem die Qingyi-Rolle (feine Dame im blauen Gewand) zur Geltung gebracht werden können und auch im Vordergrund des gesamten Repertoires stehen. Siehe: Zhang, Gen (Hg.): Zongguo xiqu zhi: Hebei Juan (Sammelband über die chinesische Xiqu: Hebei-Band), Peking 1993, S. 65 20 Qin, Ye: „Daoyan Luo Jin-lin jianjie“ („Profil des Regisseurs Luo Jin-lin“), in: http://www.cctv.com/tvcomment/tyzj/2642.shtml [Stand: 22.08.2006] 21 Luo, Jin-lin, 17.09.2002

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Westlicher Geist im östlichen Körper? ten, während die chinesischen Zuschauer eine Reformierung des Xiqu beanspruchen würden und genau diese unterschiedlichen Erwartungen seiner Ansicht nach durch die Verschmelzung der chinesischen Theatertradition und des antiken griechischen Theaters erfüllt werden können. Somit soll diese Fusion nicht nur dazu dienen, das Xiqu weiter zu entwickeln, sondern auch dazu, es im Ausland zu präsentieren. Jedoch besteht eine kulturelle und ästhetische Diskrepanz zwischen der chinesischen Theatertradition und dem antiken griechischen Theater, so dass sich fragen lässt, wie diese in der MedeaAufführung so bearbeitet wird, dass einerseits eine Anpassung an die traditionelle chinesische Ästhetik stattfindet, anderseits aber auch eine Reformierung. Da der Regisseur keine Aufnahmen mehr der beiden früheren Versionen aus den Jahren 1989 und 1995 besitzt, stützte ich dabei meine Analyse auf die Videoaufnahme aus dem Jahre 2002. Laut Luo Jin-lin besteht außer der Rollenbesetzung jedoch kein einschneidender Unterschied zwischen den drei Versionen,22 was nicht zuletzt bedeutet, dass er das gleiche Konzept und Bühnenskript verwendet wie bei der ursprünglichen Fassung, so dass die Dramaturgie unverändert geblieben ist. Dennoch wurden die Kulissen und Kostüme auf Grund des Wechsels der Theatergruppe für die dritte Version neu angefertigt, da diese Ausstattung der jeweiligen Theatergruppe gehört.23 Während die dritte Version von 2002 bisher noch nicht in Griechenland aufgeführt wurde, wurde die erste aus dem Jahre 1991 und die zweite von 1998 im Rahmen des International Meeting of Ancient Greek Drama nach Delphi eingeladen. Die in Griechenland gesammelten Zeitungsberichte und Kritiken beziehen sich somit auf die ersten beiden Versionen, die in Bezug auf die schauspielerische Darbietung nicht identisch mit dem Material der Analyse (also der dritten Version) sein können. Trotz der unterschiedlichen schauspielerischen Interpretationen bietet die Rezeption aus Griechenland einen wichtigen Anhaltspunkt für die Beurteilung außerhalb Chinas. Denn die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Rezeptionen in China und Griechenland soll sich in erster Linie auf das Konzept der Inszenierung und Transformation der antiken Tragödie und des Xiqu beziehen. Daher bilden das Konzept und die Transformation den Gegenstand der Aufführungsanalyse den folgenden Unterpunkt dieses Kapitels, während auf die unterschiedlichen Rezeptionen erst danach in Kapitel III.1.2 eingegangen wird.

22 Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005 23 Ebd.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

II.1.2 Transformation des antiken griechischen Theaters zur chinesischen Opernform Hebei Bangzi Das Xiqu (einschließlich der Hebei Bangzi-Oper) ist in jeder Hinsicht, d.h. Charakterisierung der Figuren, Erzählstruktur, Moral der Geschichte usw. eng mit Sitten, Ethik und Weltanschauung des Konfuzianismus, Taoismus und chinesischen Buddhismus verbunden, selbst wenn es sich nur um Beiläufigkeiten handelt, wie etwa eine bestimmte Geste oder die Art des Ganges.24 Die Kombination von antikem griechischem Theater und Xiqu konfrontiert somit unmittelbar mit der Frage, wie die ästhetische, kulturelle und ethische Divergenz überwunden bzw. für das Xiqu angeeignet werden kann. Wie bereits erwähnt, zielt Luo mit seiner Medea-Aufführung darauf ab, den ausländischen Zuschauern ein „authentisches“ und den chinesischen ein reformiertes Xiqu darzubieten. Demnach soll Euripides’ Medea gemäß den ästhetischen Prinzipien des Xiqu in eine Hebei Bangzi-Oper transformiert werden, während das Xiqu umgekehrt zum antiken griechischen Theater transformiert werden soll. Daher wird zuerst untersucht, wie die 431 v.Chr. von Euripides verfasste Tragödie Medea bearbeitet wird, so dass die Kausalität der Geschichte und das Verhalten der Figuren im chinesischen Kulturkontext plausibel erscheint und mit den Konventionen der Hebei Bangzi-Oper in Einklang gebracht werden kann, worauf unter den Gesichtspunkten dramaturgischer Aufbau, Sprache und Musik eingegangen wird. Bei anderen Bühnenfaktoren lässt sich ebenfalls beobachten, wie Luo fast in jeder Hinsicht die Konventionen des Xiqu befolgt. Somit bleibt die Bühne leer und es gibt mit Ausnahme davon, dass die ganze Bühne durchgehend beleuchtet wird, kaum Lichteffekte. Während die Bühnenausstattung ebenfalls kaum technischen Aufwand beansprucht, wurden die Kostüme nach den Vorlieben der ausländischen Zuschauer eigens mit aufwendigen Handstickereien angefertigt.25 Trotzdem stimmen die Kostüme mit den Rollentypen des Xiqu überein und sowohl das Orchester als auch die Schauspieler gehören zur traditionellen Theaterszene. All dies soll dazu beitragen, dass die Aufführung ausländischen Zuschauern als authentische Tradition erscheint. Dennoch weist sie zwei signifikante Differenzen zum Xiqu auf: Erstens integriert Luo den griechischen Chor, den es im Xiqu zuvor nie gegeben hatte. Zweitens adaptiert er Euripides’ Medea-Figur, die 24 Zheng, Chuan-yin: Chuantong wenhua yu gudian xiqu (Traditionelle Kultur und klassisches Xiqu), Changsha 2004, S. 144ff 25 Luo, Jin-lin, in: Drama, 1995, S. 135

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Westlicher Geist im östlichen Körper? der chinesischen Ethik widerspricht und sich der idealen chinesischen Frauengestalt des Xiqu entgegensetzt. Daher stellt sich die Frage, wie sich Luos Einsatz des Chors mit der Ästhetik des Xiqu vereinbaren lässt bzw. mit der Funktion des griechischen Chors übereinstimmt und inwiefern Luos Medea mit der des Euripides bzw. der chinesischen Frauengestalt des Xiqu zusammenhängt. Die Integration des griechischen Chors und die Verwandlung von Euripides’ Medea-Figur bilden somit den Schwerpunkt der Analyse.

II.1.2.1 DRAMATURGISCHE STRUKTUR In Luo Jin-lins Aufführung Medea wird die von seinem Vater Luo Nian-sheng übersetzte Fassung von Euripides’ Medea als Textvorlage verwendet, die in moderner chinesischer Sprache und im ProsaStil geschrieben wurde.26 Im Unterschied dazu beruht jedoch die Sprache des Hebei Bangzi normalerweise sowohl auf der klassischen chinesischen Sprache (Wenyan) als auch auf dem lokalen Dialekt der Provinz Hebei.27 Überdies wird der Gesang in poetischen und gereimten Versen den verschiedenen, vorgegebenen Melodien und Taktarten des Hebei Bangzi entsprechend vorgetragen, welche sich vom Prosa-Text unterscheiden. Daher betrifft die Bearbeitung von Euripides’ Text nicht nur die kulturelle Diskrepanz hinsichtlich des dramaturgischen Aufbaus, sondern sie wird auch mit den fundamentalen Unterschieden zwischen Sprache und Musik konfrontiert, auf welche im nächsten Unterpunkt (1.2.2) eingegangen wird. Um die Musik und den Gesang des Hebei Bangzi beizubehalten, wurde der Bangzi-Komponist Ji Jun-chao mit dem Bühnenskript beauftragt, wobei die Grundzüge der Handlung in Zusammenarbeit mit dem Regisseur entwickelt wurden. Euripides setzt die Geschichte dort an, als Medea von Jason verlassen wurde und zuhause ihre Trauer und ihren Groll über seinen Verrat zum Ausdruck bringt. Die Vorgeschichte zwischen den beiden Hauptfiguren, die sich auf den Mythos Das Goldene Vlies zurückführen lässt, ist zwar sowohl im antiken Griechenland als auch im ganzen westlichen Kulturraum allgemein bekannt, hingegen kennen die meisten chinesischen Zuschauer aber weder den griechischen Mythos noch Euripides’ Medea. Aus diesem Grund beschlossen der Regisseur und der Komponist zwei erklärende Akte hinzuzufügen bzw. voranzustellen, 26 Luo Nian-sheng wies darauf hin, dass sich die poetische griechische Sprache schwer ins Chinesische übertragen lässt. Zum Verständnis für die chinesischen Leser verwendet er den Prosa-Stil, wobei jedoch manche Original-Gedichte beibehalten wurden. Siehe: Wu 1986, S. 60 27 Ma, Long-wen/Mao, Da-zhi: Hebei Bangzi jianshi (Kurzgeschichte des Hebei Bangzi), Peking 1982, S. 13

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea die an den Mythos Das Goldene Vlies angelehnt sind.28 Diese sollten die ersten zwei von insgesamt fünf Akten bilden, welche im Einzelnen mit Erlangung des Schatzes, Kochen eines Lammes, Verlassen der Familie, Liebesverrat und Kindermord betitelt sind. 29 Hierbei knüpft die Geschichte von Luos Medea erst ab dem vierten Akt an Euripides’ Fassung an. Demzufolge findet die Handlung nicht, wie bei Euripides, innerhalb eines Tages statt, sondern sie erstreckt sich über einen Zeitraum von dreizehn Jahren und setzt mit der Begegnung von Medea und Jason am Schwarzen Meer an. Die Geschichte wird nicht in einen historischen chinesischen Kontext versetzt, sondern durch den Gesang der acht Chorsängerinnen in der Prologszene als griechischer Mythos ausgegeben und es werden auch alle originalen Namen der Figuren beibehalten, obwohl sie in traditionellen XiquKostümen auftreten. Handlungszeit und -ort verbleiben bewusst im antiken Griechenland, um für die chinesischen Zuschauer eine kulturelle Distanz zu schaffen, so dass die Widersprüche, die durch die Versetzung in einen historischen chinesischen Hintergrund möglicherweise entstehen würden, vermieden werden können.30 Folglich zeigt der erste Akt, wie sich die beiden Hauptfiguren Medea und Jason, von Eros’ Liebespfeil getroffen, ineinander verlieben und er ihr ewige Treue schwört. Ebenfalls wird dargestellt, wie sie ihm daraufhin mit ihrem magischen Fächer hilft, das Goldene Vlies zu erlangen, indem sie den Sturm über dem Meer besänftigt und den Drachen schläfrig macht, der diesen Schatz bewacht. Der zweite Akt erzählt, wie Jason nach seiner Rückkehr erfährt, dass sein Onkel Pelias Jasons Vater ermordet und die Krone usurpiert hat. Er versucht sich zu rächen, wird dabei jedoch gefangen genommen. Medea überlistet währenddessen Pelias mit der Aussicht auf ein Verjüngungsmittel, indem sie ein altes Schaf in kochendem Wasser in ein Lamm verwandelt. Während Pelias mit Hilfe seiner Tochter in eben diesen heißen Bottich steigt, um sich zu verjüngen, dabei aber statt sich wie das Schaf zu verjüngen daran stirbt, rettet Medea Jason aus der Gefangenschaft und die beiden fliehen aus seiner Heimat.

28 In seinem unveröffentlichten Aufsatz wird darauf hingewiesen, dass sich die an den Mythos Das Goldene Vlies angelehnte Geschichte auf das neunzehnte Kapitel Die Argonautensage im antiken griechischen Mythos bezieht. Jedoch wird der Autor des Buches nicht erwähnt. Siehe: Luo, Jin-lin 2002, a.a.O. 29 Luo, Jin-lin: Yong zhongguo chuantong xiqu biaoyan gu xila beiju (Aufführung der griechischen Tragödien im traditionellen chinesischen Theater), in: Da Wutai (Große Bühne), April 1995, S. 50 30 Bai 2005, S. 114

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Danach soll die Aufführung nach Auskunft des Regisseurs wieder an Euripides’ Medea anknüpfen,31 jedoch geht die Darstellung bei Luo Jin-lin tatsächlich über die von Euripides hinaus: So wird nicht nur Jasons Liebe zu den beiden Kindern, sondern auch sein Interesse an der Erlangung königlicher Macht im dritten Akt vorgeführt, indem er die Kinder an ihre königliche Abstammung erinnert und seine Hoffnung in sie setzt, ins königliche Haus zurückzukehren. Nicht zuletzt tritt die Königstochter Glauke als hässliche und wollüstige Prinzessin auf, die ihn mit dem Geschenk eines prächtigen königlichen Gewandes und der Aussicht auf königliche Macht verführt und ihn dadurch dazu bringt, der Vermählung zuzustimmen. All das, was bei Euripides nicht vorhanden ist, soll hier dazu dienen, Jason als negative Figur zu profilieren, die nach Macht und Reichtum strebt und dafür um jeden Preis alles und jeden verrät.32 Die Handlung setzt im vierten Akt wie bei Euripides an, als Medea wegen Jasons Verrat in tiefste Trauer stürzt und über die fehlende soziale und göttliche Gerechtigkeit gegenüber den Frauen klagt. Während Euripides’ Medea den Frauenchor zur Zustimmung gegenüber ihrer Rache überredet, bewahrt der Frauenchor die chinesische Medea vor einem Selbstmord, woraufhin sie sich selbst zur Rache entschließt. Dennoch gewinnt sie – unter dem Vorwand die Kinder im Exil versorgen zu müssen – ebenso wie Euripides’ Medea einen Tag Aufschub beim Brautvater König Kreon, und gibt danach in einem Monolog den Zuschauern gegenüber triumphierend zu erkennen, dass sie genau diesen einen Tag benötigt, um Vater, Braut und Bräutigam zu vernichten. Daraufhin dreht sich der Streit zwischen Medea und Jason nicht mehr darum, dass er ihr ihre Wohltaten mit Undankbarkeit vergolten hat und sie sich seinetwegen in einer ausweglosen Situation befindet, sondern darum, dass jeder von ihnen die Kinder für sich beansprucht. Dies unterstreicht wiederum die Aussage des zweiten Aktes, dass die Kinder Jasons ganze Hoffnung bedeuten, so dass der Kindermord für ihn die schlimmste Rache darstellt. Bei Luo Jin-lin fehlt die Aigeus-Szene, in der Euripides’ Medea die Wichtigkeit der Nachkommen für einen Mann unterstreicht und in der Medea sich für die Zeit nach ihrer Rachetat politisches Asyl bei Aigeus, dem König Athens, sichern kann. Stattdessen wird ein von König Kreon verhängter zweiter Verbannungsbefehl, der bei Euripides nicht vorhanden ist, von einem Boten und vier kaiserlichen Soldaten vollzogen, so dass die chinesische Medea nun kein politisches Asyl mehr bei ihm gewährt bekommt und sofort des Landes verwiesen wird. In dieser Notsituation überreicht sie dem Boten die

31 Luo, Jin-lin, in: Da Wutai 1995, S. 50 32 Ebd.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea vergifteten Geschenke für Prinzessin Glauke und schickt ihre beiden Kinder zur Begleitung mit, um die Intrige zu vertuschen. Erst dann verrät sie der Amme ihr Vorhaben des Kindermordes, für den sie vorher keinerlei Anzeichen zu erkennen gab. Damit unterscheidet sie sich von Euripides’ Medea-Figur, die ihre Rache vorher genauestens kalkuliert hatte, so dass sie erst nach der Absicherung ihres Asyls ihren Plan in die Tat umsetzt. Angesichts der starken Gefühle gegenüber ihren Kindern gerät die chinesische Medea im fünften Akt, wie bei Euripides, in ihrer Entscheidung ins Wanken, die Kinder zu ermorden. Als aber der Bote von Jasons Anliegen zum Schutz seiner Nachkommen berichtet, ist sie fest entschlossen, die Ermordung der Kinder mit ihrem Zauberfächer zu vollziehen. Bei Euripides tritt der Bote zwar auch in dieser Szene auf, aber er wird nicht von Jason geschickt, um Medea vor der Verfolgung der Korinther zu warnen und damit das Leben der beiden Kinder zu retten. Während Jasons Verhältnis zu den Kindern bei Euripides unklar bleibt, wird bei Luos Fassung Jasons Interesse am Fortbestehen der Nachkommen hervorgehoben und damit zum Drehpunkt des tragischen Geschehens, so dass umso nachvollziehbarer wird, dass er am Schluss um den Tod der Kinder klagt und trauert. Im Gegensatz zu Euripides’ Medea-Figur, die am Ende mit dem Drachenwagen triumphierend nach Athen entflieht, schützt die chinesische Medea die Leichen der Kinder wortlos mit dem Zauberfächer vor dem Annäherungsversuch Jasons. Somit endet die Geschichte, nicht mehr wie bei Euripides, mit dem Wortwechsel eines streitenden Ehepaars und der Demonstration Medeas übermenschlicher Macht über Jason, sondern mit einem um den Tod der Kinder trauernden Ehepaar, wobei er hilflos klagt und sie mit ihrem Schweigen ihre Macht demonstriert. Es stellt sich heraus, dass die Handlung der zwei letzten Akte zwar immer wieder an Euripides’ Medea anknüpft, aber gleichzeitig auch davon abweicht. Die Abweichungen bestehen hauptsächlich darin, die negativen Charakterzüge Medeas zu eliminieren und Jason durch die Betonung seines Opportunismus und seiner Sippenpolitik als sozialen Feind darzustellen. Diesbezüglich äußerte der Regisseur Folgendes: „Es gibt viele Kontroversen über die Medea-Figur. Viele sind der Meinung, selbst wenn Rache gerechtfertigt ist, sollten die eigenen Kinder jedoch nicht ermordet werden. Daher ist sie nicht bemitleidenswert. Jedoch bin ich der Ansicht, dass Euripides anhand der sozialen Bedingungen seiner Zeit eine solche Figur geschaffen hat, da er großes Mitleid mit den unter dem damaligen sozialen Status leidenden Frauen hatte. Medea weiß genau, dass Jasons Verrat nicht lediglich aus Liebe, sondern auf Grund seiner Gier nach königlicher Macht geschieht. Überdies setzt er all seine Hoffnung auf die beiden Kinder. Medeas ex-

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Westlicher Geist im östlichen Körper? treme Rache wurde von Jason erzwungen. Mit der Rache leistet sie Widerstand für die Frauen. Nur wenn der Hass bis zum Äußersten geht, kann so eine Rache in die Tat umgesetzt werden. Im Originaltext spricht Euripides Medea immer wieder sein Mitleid und Lob aus. Manche sagen, dass Jason der griechische ,Chen Shi-mei‘ und Medea die griechische ,Qin Xiang-lian‘ sei. Dabei haben sie gar nicht so Unrecht. Insofern sind Ji Jun-chao und ich uns einig, Medea all unser Mitleid und Lob auszusprechen... “33

Anhand Luos Aussage ist zu erkennen, dass bei vielen chinesischen Lesern kein Mitleid gegenüber Euripides’ Medea-Figur erweckt werden kann. Ungeachtet dessen, beabsichtigt der Regisseur, Euripides’ Medea-Figur Mitleid zu schenken, wobei sowohl die Charakterisierung Medeas als auch der Grund von Jasons Verrat eine entscheidende Rolle spielen. Somit werden Medeas Verrat des Vaters und die Ermordung des Bruders bewusst ausgeblendet und auch sämtliche nach konfuzianischer Ansicht als negativ angesehenen Charakterzüge von Euripides’ Medea-Figur wie Eifersucht, Eigenwilligkeit und Unbezähmbarkeit eliminiert, so dass sie zu einer rein positiven Figur verwandelt wird.34 Luos Begründung für Jasons Verrat lässt sich auf das in ganz China bekannte und zum klassischen chinesischen Kanon gehörende Drama Qin Xiang-lian zurückführen, in welchem Chen Shimei nach der neuen Vermählung mit der kaiserlichen Tochter seine Ehefrau Qin Xiang-lian und die beiden Kinder verleugnet.35 In der Tat besitzt diese chinesische Geschichte eine ähnliche dramaturgische Struktur wie Euripides’ Medea – beide Frauen haben ihren Männern treu gedient, wurden aber von ihnen zusammen mit den Kindern verlassen. Da sie sich aber in Hinblick auf die Charakteristika, das Verhalten, die Herangehensweise und Weltanschauung stark voneinander unterscheiden, sind jedoch sowohl die kausalen Zusammenhänge als auch die moralischen Aussagen der Geschichten verschieden.36 Das Drama von Qin Xiang-lian ist zwar bereits in der Song-Dynastie entstanden, aber seine Aktualität lässt sich daran feststellen, dass der Name Chen Shi-mei in der heutigen chinesischen Gesellschaft zum Synonym für einen Ehebrecher und Liebesverräter geworden ist. Im Unterschied zur allgemeinen, gegenwärtigen Auffassung verlässt Chen Shi-mei – gemäß des klassischen Dramentextes – seine treue Gattin Qin Xiang-lian aber nicht aus 33 Luo, Jin-lin, in: Da Wutai, 1995, S. 50 34 Siehe Kap. II.1.2.4.1 35 Das Xiqu-Drama Qin Xiang-lian ist auch unter dem Titel Che Mei An (Hinrichtung Chen Shi-meis) bekannt. 36 Inwiefern diese beiden Frauengestalten in die chinesische Aufführung einfließen, soll in Unterpunkt 1.2.4 über die Transformation von Euripides’ Medea-Figur ausführlich behandelt werden.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Liebe zu einer anderen Frau, sondern aus Gier nach Reichtum und politischer Macht. Denn in der traditionellen chinesischen Ehe spielte Liebe keine Rolle und eine neue Vermählung eines Mannes war auf Grund des Polygamie-Systems in der feudalistischen Zeit legitim. Chen Shi-mei wird insofern allseits heftig getadelt und verurteilt, indem er gegen die Kinderpietät und den konfuzianischen Sittenkodex verstößt, denn er lässt seine Eltern im Stich und beauftragt einen Mörder, seine rechtmäßige Frau Qin Xiang-lian und die beiden Kinder zu töten, um seinen durch die erneute Vermählung hinzugewonnenen politischen und sozialen Status zu festigen. Diese soziale Empörung gegenüber Chen Shi-mei hängt andererseits auch mit der moralischen Stärke Qin Xiang-lians zusammen, die ihm gegenüber in Kontrast steht. Dass keiner der in klassischen chinesischen Dramen dargestellten, verlassenen Frauenfiguren so viel Mitleid und Sympathie entgegengebracht werden kann wie Qin Xiang-lin, liegt daran, dass sie die drei wichtigsten Verpflichtungen gegenüber ihrem Mann erfüllt hat, d.h. seine Eltern zu ernähren, sie nach ihrem Tod zu beerdigen und drei Jahre Trauer für sie zu tragen. Dies bedeutet, je mehr sie sich entsprechend der Ethik selbst aufopfert, desto mehr stärkt die Gesellschaft ihr den Rücken.37 Wenn auch die chinesische Medea solche wichtigen Lebensaufgaben wie Qin Xiang-lian Jason gegenüber nicht erfüllt hat, entspricht ihr Verhalten dennoch der konfuzianischen Ethik: Jasons Verrat geht zwar nicht so weit wie der Chen Shi-meis, aber er wird ebenso mit der Gier nach Macht und Reichtum begründet. Dies schafft gegenüber der chinesischen Medea die ethische, moralische und rechtliche Grundlage, so dass ihre Rache kein persönlicher Akt ist, sondern eine soziale Dimension darstellt. Aus der kausalen Analogie dieser beiden Geschichten ergibt sich, dass die innere Logik der Geschichte von Luos Medea vielmehr an das klassische chinesische Drama Qin Xiang-lian angelehnt ist als an Euripides’ Medea. Dadurch kann bei chinesischen Zuschauern auf eine Art und Weise Mitleid gegenüber Euripides’ Medea-Figur erweckt werden, die allein auf der Grundlage des Originaltextes unmöglich wäre. Darüber hinaus werden auch die Bedürfnisse des westlichen Publikums berücksichtigt, was eine wichtige Rolle für den dramaturgischen Aufbau der Aufführung spielt. Dies lässt sich vor allem an der Hinzufügung zweier Szenen zu Euripides’ Fassung erkennen, welche die ersten zwei Akte der Aufführung darstellen. Zwar wurden sie inhaltlich für die chinesischen Zuschauer konzipiert und ergänzt, um ihnen das fehlende Vorwissen der Medea-Geschichte nahe zu bringen, sie beinhalten aber im Vergleich zu den anderen

37 Huang, Shi-zhong 2000, S. 11ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? drei Akten – dem Geschmack des westlichen Publikums entsprechend – überwiegend Akrobatik, Kampf- und Tanzszenen: So zeigt der Eros-Darsteller eine Reihe von Rückwärtssalti und Abwärtssalti, Jason tritt mit einer Pferde-Peitsche auf und die Fahrt mit dem Argonautenschiff wird durch stilisierte Bewegungen der beiden Hauptdarsteller und nur mit einem Ruder als einzigem Requisit auf der ansonsten leeren Bühne dargestellt. 38 Des Weiteren wird die ständige räumliche und zeitliche Veränderung durch die Konvention des Pao yuanchang (im Kreis laufen) sowie durch andere stilisierte Schauspiel-Konventionen verdeutlicht. Nicht zuletzt werden die Wellen des Schwarzen Meeres durch die Shuiqi (Wasserfahne) symbolisiert, welche von zwölf Longtao-Schauspielern bewegt wird.39 Im Kampf gegen die von vier Schauspielern dargestellten Drachen sowie zwischen Jason und Pelias’ Sohn wird die Kungfu-Kampfkunst angewendet. Wenn den chinesischen Zuschauern auch die Vorgeschichte von Medea und Jason zum Verständnis der Handlung erzählt werden muss, so wäre es jedoch nicht zwingend notwendig, sie wie geschehen in einer Länge von fünfzig Minuten vorzuführen. Diese Ausdehnung soll einerseits dazu dienen, dass die Schauspieler ihre Geschicklichkeit demonstrieren können, andererseits aber auch dazu, sich den Vorlieben und dem Geschmack des westlichen Publikums anzunähern.40 In Übereinstimmung hiermit äußerte der Regisseur: „In der Aufführung ‚Medea‘ werden die Eigenschaften des Xiqu wie z.B. ‚Xuni‘ (Fiktivität), ‚Chengshixin‘ (Stilisierung) sowie ‚Zhonghexin‘ (Gesamtkunstwerk) zur Geltung gebracht. [...] Wir versuchen, die Möglichkeiten der einzigartigen Schauspielkünste und Darstellungsformen des Xiqu auszuschöpfen. Dazu gehören die verschiedenen Überschläge, das Pferde-Reiten, die Bootsfahrt, der Kampf gegen Wind und Wellen, die Kampfkunst mit Schwert und Messer usw.“41

Diese Herangehensweise stimmt mit seiner Zielsetzung überein, dass die Aufführung bei den ausländischen Zuschauern den Anschein eines „authentischen“ chinesischen Theaters erwecken soll. Demnach geht er davon aus, dass die Vorliebe der westlichen Zuschauer in einer „reinen“ chinesischen Theatertradition besteht. Dieser Anspruch bezieht sich dabei offensichtlich nicht auf den Inhalt, sondern lediglich auf die äußere Form des Xiqu. Denn die erwähnten Beispiele für die spezifischen Eigenschaften des Xiqu wie

38 Siehe Anhang Abb. 1 39 Die Bedeutung und Funktion der Longtao-Schauspieler wird in Kap. II.1.2.3 ausführlich erklärt. 40 Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005 41 Luo, Jin-lin, in: Drama, 1995, S. 135

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

die Bootsfahrt, das Pferde-Reiten usw. stimmen mit denjenigen überein, die ebenso von westlichen Theatermachern und -wissenschaftlern gekennzeichnet und als Vorzüge betrachtet werden. 42 Dies bedeutet nicht zuletzt, dass die äußere Form der traditionellen Ästhetik selektiv auf die Erwartungshaltung des westlichen Publikums zugeschnitten wird. Daraus lässt sich folgern, dass die dramaturgische Struktur nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Nachvollziehbarkeit der Handlung für die chinesischen Zuschauer, sondern auch mit dem Ziel der wirkungsvollen Präsentation der eigenen chinesischen Tradition für die westlichen Zuschauer aufgebaut wird. Obwohl die Handlung mit möglichst vielen Darstellungsmitteln und -formen des Xiqu umgesetzt wird und keine modernen Elemente wie Sound- oder Lichteffekte integriert sind, findet durch die Adaption der griechischen Tragödie zwangsläufig eine Abweichung von der Tradition statt. Beispielsweise sind die Stücke des Xiqu nicht in Tragödien und Komödien unterteilt, sondern je nach Inhalt sowie der im Zentrum stehenden Geschicklichkeit in Wuxi (Kampfszene, bezieht sich auf die Kriegslist, wobei Bühnenkampf und Akrobatik im Zentrum stehen) und Wenxi (Zivilszene, bezieht sich auf häusliche Schwierigkeiten des Alltagslebens, wobei Gesang sowie mimische Darstellungen im Vordergrund stehen).43 Der episodische Cha42 Die Schauspielkunst des Xiqu, die sich auf Grund ihrer nicht-realistischen Darstellung von der Stanislawski-Schauspielmethode unterscheidet, wurde in den 1920er Jahren durch die Welttournee von Mei Lanfang in den westlichen Ländern bekannt. Unter dem Eindruck von Meis Gastspiel 1935 in Moskau beschrieb Bertolt Brecht in seinem Aufsatz Chinesische Schauspielkunst und Verfremdungseffekt ziemlich exakt die Vorführung der Bootsfahrt, womit er seine Theorie vom Verfremdungseffekt (V-Effekt) untermauerte, obwohl die Schauspielkunst des Xiqu bei den chinesischen Zuschauern keinen V-Effekt erzeugt. Die Faszination der westlichen Zuschauer liegt dabei vor allem daran, dass eine imaginäre Kulisse auf einer leeren Bühne durch das Zusammenwirken von sparsamen Requisiten und entsprechenden pantomimischen Darstellungen hergestellt werden kann. Diesbezüglich führte der russische Theaterwissenschaftler Sergei Obraszow ebenso Bootsfahrt und Peitsche als Beispiele für die imaginäre Darstellung des Xiqu an und wies darauf hin, dass diese pantomimische Sprache für jeden verständlich sei, selbst für diejenigen, die zum ersten Mal eine traditionelle chinesische Theateraufführung sehen. Siehe: Obraszow, Sergei: Das chinesische Theater, Berlin 1965, S. 53ff. Es lässt sich folgern, dass das Augenmerk der europäischen Zuschauer überwiegend auf solche pantomimischen Darbietungen des Xiqu gerichtet ist, welchen dann bei Einführungen in die traditionelle chinesische Schauspielkunst in westlichen Quellen größere Beachtung entgegengebracht wird. 43 Hsü, Tao-ching: The Chinese Conception of the Theatre, Birmingham 1985, S. 313. Auch die musikalische Besetzung in chinesischen Orchestern ist in

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Westlicher Geist im östlichen Körper? rakter des Xiqu ermöglicht, dass die beiden Kategorien sowohl als einzelne Spiele vorgeführt als auch zu einer abendfüllenden Aufführung vereinigt werden können. Im letzten Fall folgt die Kampfszene gemäß der Konvention nach der Zivilszene. Da die ersten zwei Akte in der Aufführung Medea jedoch vorwiegend Kampfszenen beinhalten und damit die Reihfolge umgekehrt wird, bricht dies unmittelbar die traditionelle dramaturgische Struktur.44 Nicht zuletzt werden die Darstellung von Feuer, Wasser und Wagen im Xiqu mit Fahnen angedeutet, auf denen die entsprechende Symbolik abgebildet ist. Auf dieser Grundlage wird eine neue Symbolik erfunden, so dass realistische Objekte wie ein Schaf oder ein Topf im zweiten Akt durch die Yangqi (Schaf-Fahne) und Guoqi (Topf-Fahne) ersetzt werden, was es im Xiqu jedoch zuvor noch nie gegeben hat. Damit erweist sich die Aufführung de facto als ein „reformiertes Xiqu“ wie der Regisseur selbst formuliert.45 Dennoch kann die Aufführung für diejenigen Zuschauer, die sich mit den Konventionen des Xiqu nicht auskennen, tatsächlich als „authentische“ chinesische Tradition erscheinen, da solche Abweichungen vom Xiqu immer noch im Rahmen der traditionellen Ästhetik stattfinden. Ob diese Aussage Luos ausschließlich auf die westlichen Zuschauer zutrifft, lässt sich jedoch in Frage stellen, denn die junge Generation in chinesischen Metropolen verfügt mittlerweile ebenso wenig über Kenntnisse des Xiqu, so dass auch sie die Codes und Konventionen des Xiqu nicht nachvollziehen kann.46 Schließlich ist anzumerken, dass bereits der Einsatz eines Regisseurs für eine traditionelle chinesische Aufführung an sich ihre Konvention durchbricht, denn zuvor wurde im Xiqu noch nie ein Regisseur eingesetzt. Diese Neuerung begründet der taiwanesische Theaterwissenschaftler Fu Jin, indem er die allgemeine Ansicht über die Ästhetik des Xiqu bekräftigt, welche u.a. auch von Luo Jinlin mit dem westlichen Begriff des „Gesamtkunstwerks“ aufgefasst wird:47 Da die verschiedenen Elemente wie Musik, Schauspielkunst, diese beiden Kategorien aufgeteilt, so dass primär Saiteninstrumente und Blasinstrumente für Wenxi (Zivilszene) und Schlaginstrumente für Wuxi (Militärszene) verwendet werden. Siehe: Kindermann, Heinz: Einführung in das ostasiatische Theater, Wien/Köln/Graz 1985, S. 177 u. 191 44 Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005 45 Siehe Kap. II.1.2 46 Zhang, Liang: A History and Theory of Chinese Traditional Opera Stage Art, Peking 2000, S. 402f 47 Es ist unklar, mit welchem Konzept des Begriffs „Gesamtkunstwerk“ das Xiqu in Verbindung gebracht wird. In der Darstellung der Merkmale des Xiqu verwendet aber auch der Regisseur Luo Jin-lin diesen Begriff. Abgesehen davon stehe das Wesen des traditionellen chinesischen Theaters für Eberstein nahe an Max Reinhardts Konzept des Theaters als Gesamtkunst-

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Bühnenkulissen usw. beim westlichen Theater als eigenständige Kunstformen betrachtet werden, werden sie durch einen Regisseur zusammengebracht und vereinigt. Im Gegensatz dazu werden sie beim Xiqu jedoch nicht als unabhängig voneinander existierende Kunstformen oder Darstellungsmittel angesehen, denn die traditionellen chinesischen Schauspieler werden von Beginn an in verschiedenen Kunstfertigkeiten, nämlich den sog. „vier Geschicklichkeiten“ (chin. Sigong: Gesang, Sprechen, Bewegungsspiel und Bühnenwaffenkampf) ausgebildet und auch Handlungszeit sowie -raum werden nicht durch Bühnenkulissen, sondern durch das Handeln der Schauspieler hergestellt. Insofern verkörpert jeder Schauspieler des Xiqu in sich eine Vereinigung der verschiedenen Kunstformen und steht im Zentrum der Aufführung. Da die Kombination sowie die Abläufe der vier Geschicklichkeiten beim Xiqu festgelegt sind – selbst wenn es Änderungen gibt, so jedoch nur durch die Schauspieler – ist ein Regisseur für eine traditionelle chinesische Theateraufführung überflüssig.48 Dies weist auf einen potentiellen Konflikt zwischen den traditionellen Schauspielern und dem nach der Stanislawski-Methode ausgebildeten Sprechtheater-Regisseur hin. Damit die JasonDarstellerin Pei Yan-lin, die in den 1980er Jahren bereits als beste Schauspielerin für den Wusheng-Typus (junge Kriegerin) in der Hebei Bangzi-Oper galt und als „Nationalschatz“ Chinas ausgezeichnet wurde, sich besser präsentieren konnte, wurde die Aufführung bei der ersten Version als Medea und Jason betitelt und der Jason-Rolle wurde mehr Raum zugestanden, so dass diese Figur in jedem Akt auftrat.49 Nachdem diese Rolle bei den folgenden zwei Versionen jedoch von anderen Schauspielern übernommen wurde, wurde der Name Jason aus dem Aufführungstitel gestrichen, aber die dramaturgische Struktur wurde dennoch beibehalten. Daran wird deutlich, dass Luo Jin-lin nicht über dieselbe Autorität verfügte wie westliche Regisseure und sich gezwungen sah, den Interessen der Star-Schauspieler entgegenzukommen. Daher lässt sich die Art und Weise der dramaturgischen Umstrukturierung bei der Bearbeitung von Euripides’ Medea auf drei wesentliche Faktoren zurückführen, und zwar sowohl auf die StarSchauspielerin als auch die chinesischen sowie die westlichen Zuschauer. Um die Bedürfnisse von allen zu befriedigen, basiert Luos Aufführung auf der chinesischen Theatertradition, so dass Euripi-

werk aus Musik, bildender Kunst, Darstellung und Text. Siehe: Eberstein 1983, S. 62 48 Fu, Jin: Xiqu meixue (Ästhetik des Xiqu), Taipei 1995, S. 275 49 Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005

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Westlicher Geist im östlichen Körper? des’ Medea nicht nur in Hinsicht auf die Darstellungsform dem Xiqu angepasst wird, sondern auch deren Inhalt auf einen chinesischen Kultur-Kontext übertragen wird. Zwar wird die Geschichte nicht als chinesisch, sondern als griechisch vorgestellt, jedoch entsprechen die Aussagen sowie die Charakterisierungen der Figuren der konfuzianischen Ethik. Darüber hinaus lassen nur die zwei letzten Akte einen Bezug zu den Handlungssträngen bei Euripides erkennen, wobei sich auch nur die Zeilen 145-148 und 370-376 des Originaltextes in der Aufführung wieder finden lassen. Daher zeigt sich, dass der Text des Euripides im Grunde nur als Textvorlage dient und dass es sich bei der Aufführung von Luo Jin-lin um einen komplett neu geschriebenen Text und eine – zwar auf Euripides sowie dem griechischen Mythos basierende – aber im Grunde neu konstruierte Geschichte handelt, die inhaltlich viel mehr an das klassische chinesische Drama Qin Xiang-lian als an Euripides’ Medea anknüpft.

II.1.2.2 SPRACHE UND MUSIK Wie alle anderen Formen des Xiqu beinhaltet die Hebei Bangzi-Oper einen gesungenen, gesprochenen und rezitativen Part, ebenso wie es auch im antiken griechischen Theater der Fall ist. Während die Rezitation hauptsächlich für die Erzählung der Handlung und bei Dialogen eingesetzt wird, tritt der Gesang vielmehr zum Ausdruck des inneren Gemütszustandes einer Rollenfigur in Erscheinung. Dass der Gesang als erste von vier Geschicklichkeiten eines Schauspielers genannt wird, weist auf seine prominente Bedeutung hin. Im Unterschied zur westlichen Opern-Komposition sind die Melodieund Rhythmus-Typen beim Xiqu festgelegt, während ein Text hinzu gedichtet wird. Da der gesungene Part auf einer lyrischen, gereimten und poetischen Sprache beruht, lässt sich ein fremdsprachiges Theaterstück kaum noch mit irgendeinem Gesangsstil des Xiqu wiedergeben. Infolgedessen wird der gesungene Part bei solchen Adaptionen zwangsläufig zurückgedrängt oder es wird sogar gänzlich darauf verzichtet.50 Im Unterschied dazu mangelt es der chinesischen Medea-Aufführung nicht an Gesangspassagen, sondern der Gesangstext macht im Gegenteil sogar den größten Teil des Bühnenskripts aus. Dies liegt nicht nur daran, dass die Textbearbeitung von einem Bangzi-Komponisten übernommen wurde, sondern auch daran, dass der Komponist de facto einen komplett neuen Text geschrieben hat. Dennoch stellt sich die Frage, wie der neue 50 Yu, Cong: Xiqu shengqiang juzhong yanjiu (Untersuchung der Xiqu-Genres), Peking 1988, S. 326ff. Die taiwanesische Aufführung Loulan Nü verzichtet gänzlich auf Peking-Oper-Gesang.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Text so konstruiert wird, dass er mit der Musik der Hebei BangziOper in Einklang gebracht werden kann. Die Musik des Xiqu lässt sich in die zwei Systeme des Qupaiund Banqiang-Stils unterteilen, die in der Regel getrennt voneinander in einer Aufführung Anwendung finden, d.h. in ein und derselben Aufführung wird entweder nur der Qupai- oder nur der Banqiang-Stil verwendet. Der Gesangsstil des Hebei Bangzi, dessen melodisch-rhythmische Struktur sich an der Taktangabe einer Klapper 51 und einer Trommel orientiert, gehört dabei zum letzteren. Die gebräuchlichsten Taktarten sind der Ein-Viertel-, der Zwei-Viertelund der Vier-Viertel-Takt sowie der metrisch ungebundene Takt. Jede dieser Taktarten ist in sich anhand der verschiedenen Tempi in zwei oder mehr Formen ausdifferenziert, wie zum Beispiel der Vier-Viertel-Takt in Da Manban (mit 16-40 Metronomschlägen) und Xiao Manban (mit 50-124 Metronomschlägen). Es ist festgelegt, welche Taktart für welchen Gemütszustand bzw. für die Erzählung der Geschichte verwendet wird. Somit bringt zum Beispiel die langsamste Taktart Da Manban die Melancholie, Trauer und Nachdenklichkeit einer Figur am besten zur Geltung, weshalb sie hauptsächlich von den tragischen Rollentypen wie Qingyi (feine Dame) und Laosheng (alter Mann) eingesetzt wird. Der Gesangstext des BanqiangStils besteht zum großen Teil aus fünf-, sieben- und zehnsilbigen Verszeilen, d.h. die Verse sind paarweise angeordnet und jede Zeile hat fünf, sieben oder zehn Silben.52 Im Unterschied dazu wird der Qupai-Stil lediglich von Saiteninstrumenten begleitet, wobei alle Melodietypen festgelegt sind. Dies bedeutet, dass die aus den ungleichmäßigen Verszeilen bestehenden Verse den vorgegebenen Melodien entsprechend angepasst gedichtet werden.53 Obwohl die Musik der Hebei Bangzi-Oper auf dem Banqiang-Stil basiert, wird teilweise der Qupai-Stil eingesetzt, dessen Anwendung auf die Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre und die Begleitung der tänzerischen Darbietung der Figuren beschränkt ist.54 In der Aufführung Medea werden sowohl der Qupai- als auch der Banqiang-Stil eingesetzt. So singt der Frauenchor durchgehend im Qupai-Stil, um die Geschichte zu erzählen, die Handlung voranzubringen und das Geschehen zu kommentieren. Währenddessen 51 Diese wird bei der Hebei Bangzi-Oper durch ein Bangzi-Instrument ersetzt. Das Musikinstrument Bangzi, das aus einem hohlen Holzblock besteht und mit einem Bambusstock angeschlagen wird, ist besonders charakteristisch für die Hebei Bangzi-Oper. Siehe: Zhou, Wei-zhi (Hg.): Zongguo xiqu yinyue jicheng (Sammelband über die chinesische Xiqu-Musik), Hebei-Band 1, Peking 1998, S. 41 52 Zhou 1998, S. 35ff 53 Ebd., S. 41 54 Ma/Mao 1982, S. 138ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? bringen die Protagonisten die Gefühle der Rollenfiguren ausschließlich im Banqiang-Stil zum Ausdruck. Damit bilden die beiden Seiten zwar einen Kontrast, ergänzen sich aber gleichzeitig auch.55 Da eine solche Aufteilung weder bei der Hebei Bangzi-Oper noch bei anderen Xiqu-Formen zu finden ist, stellt dies eine neue musikalische Strukturierung dar, um den Chor gemäß den musikalischen Konventionen des Xiqu in die Aufführung zu integrieren. Überdies schrieb der Komponist anhand des Versmaßes der Qupai- und Banqiang-Stile einen neuen Text für den Gesangspart, wobei aber auch zum Teil der Prosastil aus der Übersetzung von Luo Nian-sheng sinngemäß integriert wurde. Da der Gesangstext somit nicht aus einer rein lyrischen Sprache besteht, wurde er als „unausgereifte Poesie“ bezeichnet und für seinen „uneinheitlichen Sprachstil“ kritisiert.56 Dies verweist darauf, dass der Bühnentext trotz Jis Bemühungen nicht ganz mit der musikalischen und sprachlichen Konvention der Hebei Bangzi-Oper übereinstimmt. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die Sprache der Hebei Bangzi-Oper im Vergleich zur Peking- und Kunqu-Oper an sich schon weitaus weniger literarisch und viel einfacher gehalten wird, da sich das lokale Publikum der Provinz Hebei überwiegend aus einem bäuerlichen Umfeld zusammensetzt.57 Daher ist es fraglich, ob die Kritik, die nicht spezifisch an die traditionellen Konventionen der lokalen Opernform Hebei Bangzi gerichtet ist, sondern vielmehr auf dem allgemeinen Maßstab des Xiqu basiert, adäquat für die Bewertung der MedeaAufführung ist. Wie bei allen anderen Xiqu-Formen fungiert die Musik eines Hebei Bangzi-Orchesters nicht nur als Gesangsbegleitung, sondern sie bestimmt auch die Bewegungsabläufe der Darsteller, strukturiert deren Sprache und markiert jede ihrer Bewegungen. Somit werden die Gemütsregungen und Charakterisierungen jedes Rollentyps rhythmisch, hörbar und bildhaft hervorgebracht.58 Damit die Musiker jede Geste der Schauspieler beobachten und ihren Aktionen besondere Bedeutung verleihen oder sie begleitend unterstützen, sit55 Zhang, Yan-yin: „Meideya Yanchu chengong yu yishu jiazhi – baijing heibei bangzi jutuan ‚meideya‘ yantaohui congshu“ („Erfolg und künstlerischer Stellenwert der Medea-Aufführung: Zusammenfassung des Symposiums über ,Medea‘ der Hebei Bangzi-Gruppe aus Peking“), in: Journal of College of Chinese Traditional Opera, Vol. 24, Nr. 1. Feb. 2003, S. 3 56 Zhu, Xin-yan: „Manshuo ‚Meideya‘“ („Über ‚Medea‘ sprechen“), in: Drama, Nr. 3, 1996, S. 70 57 Im traditionellen Repertoire der Hebei Bangzi-Oper verwenden alle Figuren, einschließlich der kaiserlichen Mitglieder, hohen Beamten, edlen Damen usw. die bäuerliche Sprache. Siehe: Ma/Mao 1982, S. 130ff 58 Hwang, Wen-lung: Körpersprache im traditionellen chinesischen Drama, Frankfurt am Main 1998, S. 119f

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea zen sie (für das Publikum sichtbar) auf der rechten Bühnenseite.59 Dementsprechend positioniert sich das Orchester der Hebei BangziOper aus Peking bei der Aufführung Medea auf der rechten, vorderen Bühnenseite. Es umfasst folgende Musikinstrumente: eine kleine Trommel (Danpigu) als Haupttaktgeber (Bangzi), dreisaitige Laute (Sanxian), zweisaitige Laute (Erhu), chinesische Geige (Banhu), Flöte (Di), chinesische Klarinetten (Suona), Mundorgel (Sheng), großer Gong (Da Luo) und kleiner Gong (Xiao Luo). Da weder westliche Musikinstrumente noch westliche Melodien einbezogen sind, entspricht das Orchester der traditionellen Besetzung.

II.1.2.3 TRANSFORMATION DES GRIECHISCHEN CHORS Da es beim Xiqu keinen Chor gibt, stellt sich die Frage, inwiefern die acht Chorsängerinnen in der Aufführung an den griechischen Chor bzw. den Chor von Euripides’ Medea anknüpfen, aber auch inwiefern sie sich gleichzeitig mit der Ästhetik des traditionellen chinesischen Theaters vereinbaren lassen. Um diese beiden Fragen zu beantworten, müssen ihre Rollen und Funktionen in der Aufführung herausgearbeitet werden, die wiederum mit dem griechischen Chor sowie den ästhetischen Konventionen des Xiqu verglichen werden müssen. In diesem Zusammenhang möchte ich dies in Bezug auf die räumliche Positionierung, die Identität sowie die Darstellungsform und die Funktionen näher erläutern. Bei der Aufführung sind auf der linken Seite der vorderen Bühne für die Chorsängerinnen acht Stühle in zwei Reihen und in einem Winkel von ca. 45° zur Rampe aufgestellt, wo sie sowohl für das gegenüber positionierte Orchester als auch für das Publikum gut sichtbar sind. Nach den Konventionen des Xiqu werden auf der Bühne ein Tisch und zwei Stühle aufgestellt, die zur Darstellung der räumlichen Einrichtung wie Bett, Treppe usw. dienen.60 Während die Stühle auf der traditionellen Bühne je nach Handlungsbedarf durch die Körpersprache der Schauspieler in verschiedene Einrichtungsgegenstände verwandelt werden,61 erfüllen sie in der Auf59 Kindermann 1985, S. 178 60 Hwang, Wen-lung 1998, S. 285ff 61 Ein Tisch und zwei Stühle, die zum typischen Inventar des Xiqu gehören, werden oft als Requisiten verwendet und ihre Bedeutung ist abhängig von ihrer Positionierung sowie der Körpersprache der Schauspieler. Somit kann ein Stuhl, dessen Rückseite den Zuschauern zugewandt ist, die Tür eines Gefängnisses, eine Höhle oder auch einen Baum symbolisieren. Und wenn ein Schauspieler auf einem Stuhl steht, stellt dies entweder eine auf den Wolken schwebende Gottheit oder eine Person dar, die auf eine Pagode hinaufgestiegen ist. Siehe: Zhang, Liang 2000, S. 196ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? führung Medea lediglich ihre ursprüngliche und reale Funktion als Sitzgelegenheit. Dies bedeutet, dass die acht Stühle nicht in die Handlung einbezogen sind und damit nur eine Zuschauerecke auf der Bühne markieren. Trotz dieser räumlichen Zuteilung bleibt der Frauenchor nicht durchgehend dort sitzen, sondern er trägt an diesem Platz die Lieder entweder im Stehen vor oder nimmt wie alle anderen sich auf der Bühne befindlichen Schauspieler durch Gesang und Tanz aktiv am Geschehen teil. An diesem reservierten Platz bleibt er in der Sitzposition unbeteiligt, so dass er ebenso wie die wirklichen Zuschauer außerhalb der Handlung das Geschehen verfolgt. Im Unterschied dazu befindet sich der Chor bei den griechischen Tragödien außer während des Prologs durchgehend in der Orchestra, die sich zwischen der Bühne (Skené) und dem Zuschauerraum (Theatron) befindet.62 Er kommuniziert einerseits wie ein Akteur mit den Figuren; andererseits verfolgt er genau wie die Zuschauer das Geschehen auf der Skené. Durch die Interaktion zwischen dem Chor und den Figuren werden nicht nur die Sachverhalte erläutert und die Geschichte exponiert, sondern es können auch die Reaktionen der Zuschauer beeinflusst oder reflektiert werden. Infolge dieser zweideutigen Rolle sowie seiner räumlichen Position, lässt er sich als Vermittler zwischen den Schauspielern und Zuschauern betrachten. Diese Position und Funktion spielt im traditionellen chinesischen Theater jedoch keine relevante Rolle. Ganz im Gegenteil kann der Einsatz des Chors dem Xiqu sogar widersprechen, denn die Ästhetik des Xiqu besteht gerade darin, dass der Schauspieler im Zentrum steht und direkt mit dem Zuschauer kommuniziert.63 Jedoch wird in der Medea-Aufführung dieser Gefahr wie folgt begegnet gewirkt: Es ist zu beobachten, dass die Chorsängerinnen, selbst wenn sie mit ihrem Tanz eine Weile den ganzen Bühnenraum beanspruchen, letztendlich doch immer zu ihrem Sitzplatz zurückkehren oder sich sofort hinter den Darstellern positionieren, sobald sich diese auf der Bühne befinden. So wird vermieden, dass der Frauenchor zwischen den Schauspielern und Zuschauern steht, und der Einsatz des Chors dem ästhetischen Prinzip des Xiqu nicht entgegenwirkt. Bei Euripides’ Medea tritt der Chor als „Frauen aus Korinth“ auf, die sich von Anfang an als enge Freundinnen Medeas zu erkennen geben. Somit hat er eine konstante Identität und nimmt als

62 Auf Grund dieser Raumverteilung verfolgt der griechische Chor unmittelbar das Geschehen auf der Bühne aus dem gleichen Winkel wie die Zuschauer, jedoch aus kleinerer Distanz. Siehe: Hose, Martin: Studien zum Chor bei Euripides, Band 1, Stuttgart 1990, S. 33 63 Fu 1995, S. 275

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Figur bzw. als dramatis persona mit einer bestimmten Charakterisierung an der Handlung teil.64 Trotz dieser Frauenrolle besteht der Chor aus fünfzehn Männern, die ohne Maske singen und tanzen, aber auch mit den Hauptfiguren Dialoge führen. Im Unterschied dazu wird der Chor in der chinesischen Aufführung mit acht Schauspielerinnen im Dan-Rollentyp (Frauenrolle) besetzt. Ohne Ankündigung ihrer Identität oder Motivation stehen sie zu Beginn der Aufführung auf der Bühne und führen den Prolog ein, der im Gegensatz dazu bei Euripides von der Amme vorgetragen wird. Zur Eröffnung jeden Aktes leitet der Frauenchor die Geschichte mit einem Gesang ein, dessen Text die folgenden Inhalte umfasst: Erläuterung der Vorgeschichte, Hinweise auf Handlungsort und -zeit, Beschreibung der subjektiven Perspektive der Figuren, Vorstellung der Identität Medeas, Kommentare zu vorherigen Ereignissen und Ankündigung der bevorstehenden Handlung. Dadurch werden die fünf Akte klar voneinander getrennt, aber gleichzeitig werden auch die Handlungszusammenhänge zwischen den einzelnen Akten miteinander verknüpft. Somit fungiert er einerseits als „Vorhang“, wie Friedrich Dürrenmatt die Funktion des griechischen Chors beschrieb,65 andererseits fungiert er als Erzähler, der über der Handlung steht und bereits alles weiß. Damit unterscheidet er sich erheblich vom griechischen Chor, der genauso wie die Zuschauer das Geschehen verfolgt und denselben Wissensstand hat.66 Infolgedessen steht der Frauenchor der chinesischen Medea-Aufführung in einem entgegengesetzten Verhältnis zum griechischen Chor. Die Erzählfunktion des Frauenchors der chinesischen MedeaAufführung lässt sich auf die narrative Struktur und die Konventionen des Xiqu zurückführen und er übernimmt dabei folgende Funktion, die sonst von den einzelnen Schauspielern selbst getragen wird: Normalerweise stellt sich jeder Schauspieler bei seinem Auftritt mit dem Jinchang Shi (Auftrittsgedicht) selbst vor (Zibao Jiamen) und erzählt die Vorgeschichte, wobei er diese aus seiner subjektiven Sichtweise beschreibt und das Vorhaben seiner eigenen oder einer anderen Figur exponiert. Bei seinem Abtritt kommentiert er wiederum mit dem Tuichang Shi (Abgangsgedicht) das soeben

64 Hose, Martin: Studien zum Chor bei Euripides, Band 2, Stuttgart 1990, S. 404 65 Friedrich Dürrenmatt betrachtet den griechischen Chor als Vorhang, der die Handlungszeit untergliedert und einen Akt eindeutig abschließt. Dies soll unmittelbar dazu beitragen, dass sich die „erschöpften und erschrockenen Zuschauer ausruhen können“. Siehe: Zimmermann, Bernhard: Europa und die griechische Tragödie: vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart, Frankfurt am Main 2000, S. 157 66 Hose 1990, Bd. 1, S. 35

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Westlicher Geist im östlichen Körper? vorgeführte Geschehnis, womit der Akt abgeschlossen wird.67 Durch seinen Auf- und Abtritt werden nicht nur die einzelnen Akte klar voneinander unterschieden, sondern es erfolgt auch ein Wechsel des Handlungsortes sowie der Handlungszeit, wobei die Charakterzüge der Figuren sowie zugleich die Sachverhalte skizziert werden.68 Nicht zuletzt kann er auch während der Aufführung seine Interaktion mit einer anderen Figur unterbrechen und aus seiner Rolle heraustreten, um die Zuschauer durch die Konvention des Dabeigong (stilisiertes Beiseite-Sprechen) direkt anzusprechen. Dabei muss er nur eine Seite des Gesichts mit dem Ärmel bedecken und sich den Zuschauern zuwenden, um ihnen entweder seine heimlichen Gedanken und Gefühle oder seine Urteile und Bewertungen über die anderen Figuren anzuvertrauen. 69 Demzufolge wechselt er somit zwischen seiner darzustellenden Figur und der Erzählperspektive. Indem der Frauenchor nun offensichtlich diese Aufgabe anstelle des Schauspielers übernimmt, braucht der Schauspieler nicht mehr so oft aus seiner Rolle als Figur herauszutreten. Somit kündigt beispielsweise der Frauenchor den Auftritt Medeas im ersten Akt an und stellt ihre ambivalente Identität zwischen Gottheit und Mensch sowie ihren vielfältigen Charakter vor. Indem die Chorsängerinnen ihre „Wasserärmel“ schwingen und mit ihrem Gesang Medea begleiten, erscheinen sie selber wie eine Gruppe von Feen, die mit Medea vom Himmel auf die irdische Welt herabsinken, wodurch die göttliche Gestalt Medeas wiederum betont wird. Daraus geht hervor, dass der Frauenchor sowohl als Erzähler als auch als Akteur an der Handlung mitwirkt.70 Obwohl der Frauenchor jeden Akt eröffnet und abschließt, beschränkt sich seine Aufgabe nicht allein auf die Erzählung. Seine Rolle wechselt ständig und ist abhängig vom jeweiligen Einsatz und der Funktion. So verkörpert er z.B. die Hofmädchen im Palast von König Pelias sowie die Dienerin der Prinzessin Glauke, oder er stellt mit der Fahne des Wassers die imaginären hohen Wellen des Schwarzen Meeres und mit der Fahne des Topfes einen imaginären Topf dar. Ein anderes Mal bildet er durch eine stufige Formation einen Fels, an dem sich das Goldene Vlies befinden soll. Auf diese Art und Weise hebt er nicht nur den Status der Figuren hervor, sondern er stellt auch die entsprechende Atmosphäre, die Kulissen sowie die imaginären Requisiten zu den jeweiligen Szenen her.

67 Zhang, Liang 2000, S. 72 68 Huang, Ke-bao 1988, S. 7ff 69 Hwang, Wen-lung 1998, S. 73 70 Dass der Frauenchor als eine anonyme Gruppe auftritt und damit den Status der Figur untermalt, entspricht unmittelbar der Funktion des Longtao, auch wenn es die Rolle als Feen beim Xiqu noch nie zuvor gegeben hatte.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Im Vergleich dazu gibt es im Xiqu die Longtao-Schauspieler, die eine anonyme Gruppe von z.B. Gerichtsdienern, Gefolgsleuten, Soldaten, Hofmädchen usw. verkörpern. Je vier Personen bilden eine Einheit und zwei oder vier dieser Einheiten stellen wiederum verschiedene Formationen her, welche choreographisch festgelegt sind. Durch die stilisierten Formationen, Requisiten und Kostüme schaffen sie das entsprechend benötigte Szenarium und heben den Status sowie die Identität der jeweils auftretenden Figuren wie Kaiser, Kaiserin, General, Richter, hoher Beamter usw. hervor. Durch die Änderung ihrer Formation sowie ihren Auf- und Abtritt können die imaginären Kulissen auf der leeren Bühne je nach Bedarf hergestellt oder verändert werden bzw. wieder verschwinden. Nicht zuletzt tragen sie dazu bei, die benötigte Atmosphäre zu erzeugen, indem sie die Fahnen zum Einsatz bringen, die Wind, Wasser usw. symbolisieren.71 Daraus geht hervor, dass der Frauenchor in Analogie zu den Longtao-Schauspielern als eine Art von „lebendiger Kulisse“ fungiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Frauenchor alle benötigten Longtao-Rollen der Aufführung übernimmt, sondern nur insoweit, als sie den Kostümen entsprechen oder diesen zumindest nicht entgegensetzt wirken. Somit werden z.B. die Rollen von Soldaten, Eunuchen usw. von anderen Longtao-Schauspielern übernommen. Daran ist zu erkennen, dass trotz des Einsatzes des Chors kein Verstoß gegen die Konventionen des Xiqu stattfindet. Darüber hinaus wird auch die Aufgabe des Requisitenmanns (Jianchang), der als Privatperson auf der Bühne erscheint, um den Schauspielern die benötigten Requisiten zu reichen oder abzunehmen,72 dem Frauenchor zugewiesen. So nimmt er z.B. Jason Peitsche und Mantel ab, übergibt ihm das Goldene Vlies, bereitet ein Ruder für die beiden Hauptdarsteller auf der Bühne vor, bringt das Brautgeschenk auf die Bühne usw. Wenn auch die Chorsängerinnen im Unterschied zum Jianchang, der weder ein Kostüm noch Make-up trägt, ihre äußerliche Erscheinung als Dan-Rollentyp beibehalten, verkörpern sie also keineswegs eine Rolle, die durchgängig plausibel in den Handlungszusammenhang eingebunden ist. Vielmehr werden sie je nach Bühnenbedarf pragmatisch und flexibel eingesetzt, ohne eine bestimmte Identität annehmen zu müssen. Ihre Rolle ist daher zwiespältig: manchmal sind sie in die Handlung eingebunden; manchmal stehen sie über der Handlung. Diese ambivalente Identität der Chorsängerinnen entspricht wiederum dem Ansatz des Bangqiang (Begleitgesangs) aus der Sichuan-Oper (der lokalen Opernform aus der Provinz Sichuan). Nach Meinung des Regisseurs sei dieser Begleitgesang mit dem griechi-

71 Zhang, Liang 2000, S. 266f 72 Ebd., S. 241ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? schen Chor vergleichbar und deshalb solle seine Funktionsweise vom Frauenchor übernommen werden.73 Während der griechische Chor in der Orchestra (zwischen Bühne und Zuschauerraum) aktiv mit Tanz-, Gesangs- und Sprecheinlagen agiert, existiert der Bangqiang ausschließlich als Stimme, die nicht sichtbar hinter den Bühnenkulissen die Darsteller unterstützt. Diese Art von Chor verfügt weder über eine eigene feste Identität noch führt er einen Dialog mit den Figuren.74 Unter seinen zahlreichen Einsatzmöglichkeiten sind folgende drei Funktionen in der Aufführung Medea zu finden: Erstens können die inneren Gedanken und Gefühle der Figuren durch den Bangqiang zum Ausdruck gebracht werden, wenn die Akteure selbst dazu nicht imstande sind. Dementsprechend drückt z.B. der Frauenchor bei der ersten Begegnung von Medea und Jason Medeas Zuneigung zu ihm aus, die sie ihm in dieser Situation jedoch keinesfalls direkt zeigen kann. Mit Hilfe des Chors kann den Zuschauern jedoch ihre Leidenschaft vermittelt werden, ohne dass sie ihre Schüchternheit eines jungen Mädchens verliert. In einem anderen Fall befindet sich Medea nach der Auseinandersetzung mit Jason in tiefster Trauer, so dass sie alleine und sprachlos auf der Bühne steht. An ihrer Stelle bringt der Chor mit mimischen und tänzerischen Darbietungen Enttäuschung, Reue, Selbst-Hass, Trauer, Klage über das Unrecht und die Ausweglosigkeit der Frauen zum Ausdruck, so dass ihre Gefühle trotz ihres Schweigens zur Geltung gebracht werden können.75 Zweitens kann durch den Bangqiang den Zuschauern die Meinung bzw. die Interpretationshilfe des Autors vermittelt werden.76 Als Medea z.B. nach Jasons Verrat aus dem Haus stürmt und in ihrem Monolog ihre Trauer beklagt, schenkt ihr der Frauenchor Mitleid, was auf eine Stellungnahme des Regisseurs verweist. So übt der Frauenchor folgende Kritik an Jason, als er nach seiner neuen Vermählung allein in einem königlichen Gewand zurückkehrt, um seine beiden Kinder zu besuchen: 73 Luo, Jin-lin, in: Drama, 1995, S. 134 74 Der Bangqiang wurde ursprünglich den Orchester-Musikern zugewiesen, weshalb der Chor-Gesang ausschließlich aus Männerstimmen besteht. Seit 1949 wurden dafür spezielle Schauspielerinnen und Schauspieler dafür eingesetzt, die jedoch nicht auf der Bühne auftreten. Siehe: Zhang, Yi-fu: „Chuanju gaoqiang zhong de bangqiang“ („Bangqiang bei der SichuanOper“), in: Wanxia (Abenddämmerung), Nr. 4, 2006, S. 46 75 Bai 2005, S. 115ff 76 Zhen, Yun-jia: „Yichang zhonghe de gaoqiang“ („Der hochstimmige Gesang bei dem einer singt und die anderen folgen“), 09.10.2003. in: http://www.bscul.com/BOYIX/ChannelBOYIX/bashu/open.html.aspx?id=28 28 [Stand: 21.11.2006]

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea „Power and influence has made you greedy, Wealth and luxury have made you cool, You, The ungrateful man, You’ve spoiled the affections of your wife, You’ve trampled on the hearts of your children! Here, There remains no trace of honesty, The glow of oath’s turned dim.....“ 77

Obwohl die Chorsängerinnen Jason in der zweiten Person anreden, stellt dies keinen Dialog dar, denn der Jason-Darsteller tut so, als ob er den Kommentar nicht gehört hätte. Durch das moralische Urteil des Chors wird der Grund von Jasons Verrat erneut betont und zugleich die zentrale Aussage des Regisseurs verdeutlicht, welche darin besteht, soziale Kritik am Verrat auf Grund persönlicher Vorteile in Bezug auf Macht und Reichtum auszuüben.78 Drittens können auch allgemeine Werte und mögliche Reaktionen der Zuschauer durch den Bangqiang vertreten werden, was sich aber nicht immer ganz eindeutig von der zweiten Funktion trennen lässt.79 Nachdem z.B. Medea der Amme ihren Racheplan in Form des Kindermordes offenbart und dann abtritt, kommentiert der Frauenchor dies wie folgt: „Ah, the pitiable woman, Taking revenge is blameless, Killing children is extremely brutal, How could you have the courage, To have your children’s blood splashed on your body?!“80

Damit verdeutlicht der Chor sein Mitgefühl, aber auch seine Zweifel, sowie seine Distanzierung gegenüber dem Vorhaben des Kindermords. Anschließend, zur Öffnung des nächsten Akts, trägt der Chor folgenden Kommentar vor: „Ah, the pitiable woman, You want to decide your own destiny, You want to get even with your hated foes; You have lost your patience as a woman, You have lost your affections as a mother;

77 Auszug aus dem Bühnenskript, 4. Akt. Anmerkung: Alle ins Englische übersetzte Texte der Inszenierung die in dieser Arbeit zitiert werden, stammen aus den englisch/chinesischen Untertiteln der Videoaufzeichnung von 2002. 78 Bai 2005, S. 115ff 79 Zhen, Yun-jia 2003, a.a.O. 80 Auszug aus dem Bühnenskript, 4. Akt

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Westlicher Geist im östlichen Körper? If you should slay your own children, you’ll shock the world and draw people’s wrath, you’ll be punished by deities of the heaven!“81

Auch hier wird trotz der Anrede in der zweiten Person kein Dialog formuliert, da sich ausschließlich der Chor auf der Bühne befindet. Anhand der beiden eben zitierten Aussagen des Chors wird klar darauf hingewiesen, dass Medeas Rache nicht als rein persönliche Angelegenheit gelten kann, sondern als soziale Dimension zu verstehen ist, indem eine unterdrückte Frau ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt. Der Chor schenkt hier Medea einerseits großes Mitleid, vertritt aber gleichzeitig auch diejenigen Zuschauer, die den Kindermord als Frevel betrachten und ablehnen würden. Es stellt sich heraus, dass sich die letzten zwei Funktionen des Bangqiang mit der des griechischen Chors decken, der als Sprachrohr des Dichters oder als Stellvertreter des Zuschauers fungieren kann.82 Indem diese beiden Funktionen in die Einsetzung des Frauenchors der chinesischen Medea-Aufführung eingeflossen sind, ist festzustellen, dass in der Aufführung sowohl an die chinesische Tradition des Bangqiang als auch an die des griechischen Chors angeknüpft wird. Wie zuvor dargelegt, ergreift der Frauenchor für Medea Partei, bringt ihr Mitleid und Verständnis entgegen, hält Jason für schuldig, distanziert sich aber gleichzeitig auch vom Kindermord und trauert schließlich über das tragische Geschehen. Daran ist nicht nur seine Funktion zu erkennen, sondern es zeigt sich auch, dass die Entwicklung seiner Stellungnahme recht nahe an den Chor bei Euripides angelehnt ist. 83 Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass im Unterschied zum Chor bei Euripides die Kommentare nicht in Form von Dialogen stattfinden, sondern der Frauenchor stattdessen vielmehr wie ein Erzähler über der Handlung steht und außerdem keine festgelegte Identität besitzt, was beides den Konventionen des Bangqiang entspricht. Im Gegensatz dazu ist Euripides’ Chor kontinuierlich in die Handlung eingebunden und interagiert mit den Figuren wie z.B. mit der Amme und Medea. Somit stellt sich die Frage, inwiefern der 81 Auszug aus dem Bühnenskript, 5. Akt 82 Paulsen fasst drei mögliche Funktionen des griechischen Chors zusammen, die er als „Mitspieler“, „Sprachrohr des Dichters“ und „Stellvertreter der Zuschauer“ formuliert. M.E. nach lassen sich die letzten zwei Funktionen nicht klar voneinander trennen und die drei Funktionen müssen sich auch nicht gegenseitig ausschließen. Siehe: Paulsen, Thomas: „Die Funktionen des Chores in der Attischen Tragödie“, in: Binder, Gerhard/Glei, Reinhold F./Effe, Bernd (Hg.): Das antike Theater: Aspekte seiner Geschichte, Rezeption und Aktualität, Trier 1998, S. 69ff 83 Hose 1990, Bd. 2, S. 406

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Frauenchor der chinesischen Medea-Aufführung an der Handlung teilnimmt und welche Rolle er dabei einnimmt. Die Zahl der direkten Dialogszenen zwischen dem Chor und den Figuren auf der Bühne wurde in der chinesischen Aufführung auf lediglich zwei reduziert, die jeweils einmal mit der Amme und einmal mit Medea stattfinden und gesprochen statt gesungen werden: Im Eingang des vierten Akts wendet sich der Frauenchor an die Amme, um sich nach ihrem Kummer zu erkundigen. Dieser kurze Dialog dient dazu, dass die Amme den Sachverhalt erläutern kann. Obwohl sich der Chor auf diese Weise mit in der Handlung befindet, gibt es keine Hinweise auf seine Identität. Dass der Chor wiederum als Unbekannter in die Handlung eingreift, lässt sich auch bei seinem zweiten Dialog beobachten, den er im selben Akt nach dem Abgang der Amme mit Medea führt. Nachdem Medea in Form eines Monologs über das soziale Unrecht gegenüber den Frauen und die Untätigkeit der Götter klagt, entscheidet sie sich zunächst für den Selbstmord, um dadurch passiv Widerstand zu leisten.84 Der Frauenchor bewahrt sie jedoch vor dieser Tat und stellt diese traditionelle „Lösung“ bzw. Reaktion einer Frau in einer solchen Situation in Frage: „Is it that we women, however great misfortune we suffer, could only resort, as a struggle, to die at others’ disposal? No, No, No, This should not be the nature of women, And nor is it the symbol of virtue!“85

Infolgedessen fasst Medea einen anderen, neuen Entschluss: Anstatt des Selbstmords entschließt sie sich zur Rache, wodurch die Handlung eine Wendung nimmt. Anhand der Interpretation der chinesischen Dramatikerin Bai Ai-liang kann der chinesische Frauenchor ebenso wie Euripides’ Chor sowohl als enge Freundin Medeas als auch als ihre innere Stimme wie beim Bangqiang betrachtet werden. 86 Doch dass der Chor einen so ausschlaggebenden Einfluss auf Medeas weiteres Vorgehen ausübt, unterscheidet sich offensichtlich von Euripides’ Chor. Denn dieser versucht zwar mit seinen Fragen, Bitten und Ratschlägen, Medeas Haltung zu verändern, kann sie aber letztlich

84 Inwiefern Medea mit der traditionellen chinesischen Frauengestalt verknüpft wird, werde ich im nächsten Unterpunkt 1.2.4 dieses Kapitels noch näher erläutern. 85 Auszug aus dem Bühnenskript, 4. Akt 86 Bai 2005, S. 115ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? nie umstimmen.87 Ganz im Gegenteil dazu wird diese Stelle bei Euripides genau umgekehrt konstruiert. Hier ist es Medea, die mit ihrer Redegewandtheit den Chor dazu bringt, ihr beizustehen und ihr mit seinem Schweigen zu ihrem Racheplan zu verhelfen. Dadurch präsentiert sich Euripides’ Medea-Figur als autonome und selbstbewusste Frau, die nicht nur entschlossen handelt, sondern auch ihre Fähigkeiten und ihre Macht zu nutzen weiß. Selbst wenn der chinesische Frauenchor als innere Stimme Medeas fungieren sollte, wird in der chinesischen Medea-Aufführung nicht nur das autonome und bewusste Handeln, sondern auch der berechnende und heimtückische Charakter von Euripides’ Medea eliminiert, indem es nicht sie selbst, sondern der Chor ist, der ihr den Anstoß dazu gibt, statt des Selbstmords über eine andere Lösung für ihre Situation nachzudenken. Nur so kann sie für die chinesischen Zuschauer als positive Figur und bemitleidenswerte Frau gelten. Auch wenn es inhaltlich plausibel erscheint, wie beim Bangqiang den Frauenchor als innere Stimme Medeas zu betrachten, widerspricht die Interaktion des Chors mit den Figuren jedoch den Konventionen des Bangqiang. Es stellt sich daher heraus, dass der chinesische Frauenchor weder eindeutig den Funktionen und Konventionen von Euripides’ Chor noch dem chinesischen Chor-Gesang Bangqiang zugeordnet werden kann. Gerade diese undefinierte und verschwommene Identität des Chors wird dafür genutzt, offen zu lassen, was und wer letztendlich die chinesische Medea dazu bringt, sich anstatt zum Selbstmord zu einer so unbändigen Rache zu entschließen und sich damit radikal vom traditionellen chinesischen Frauenbild abzuwenden und in Euripides’ Medea-Figur zu verwandeln. Anhand der Analyse stellt sich somit heraus, dass die Bemühungen des Regisseurs vorrangig darin bestehen, den griechischen Chor so zu transformieren, dass er sich in die Ästhetik des Xiqu integrieren lässt. Dementsprechend werden dem chinesischen Frauenchor die Aufgaben des Erzählers sowie von Longtao, Jianchang und Bangqiang zugewiesen. Dabei pendelt er zwischen Innen und Außen der Handlung und wandert durch verschiedene Rollen, wodurch er eindeutig von Euripides’ Chor abweicht, der eine konstante Identität besitzt und intensiv mit den Figuren interagiert. Obwohl der Chor nicht zu den Konventionen des Xiqu gehört, sind solche Funktionen des griechischen Chors, sich in die Handlung einzumischen und Kommentare über die Figuren und das Geschehen ab-

87 Der Chor ist zwar nie imstande, die Figur umzustimmen, aber er trägt mit seinen Fragen, Bitten und Ratschlägen gegenüber der Figur unmittelbar dazu bei, dass durch diese Kontrastwirkung dem Zuschauer die Haltung der Figuren bewusst wird. Siehe: Hose 1990, Bd. 1, S. 295

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea zugeben, bei Xiqu-Schauspielern durchaus üblich. Diese Schnittmenge zwischen den beiden Theatertraditionen wird in der Aufführung als Bindeglied eingesetzt, so dass folglich der chinesische Frauenchor solche Funktionen des griechischen Chors erfüllen kann, ohne den ästhetischen Prinzipien des Xiqu zu widersprechen.88 Damit schließt der chinesische Frauenchor sowohl Elemente des griechischen Chors als auch die Ästhetik des Xiqu ein, wobei aber auch Brüche entstehen und es dadurch in einen Zustand des „weder – noch“ gerät. In der europäischen Rezeptionsgeschichte über den griechischen Chor ist die Ansicht Friedrich Schillers von zentraler Bedeutung, dass die Aufgabe und Funktion des griechischen Chors darin bestehe, die dramatische Illusion zu brechen und den Zuschauer zur Reflexion anzuregen, was wiederum von Bertolt Brecht als Verfremdungseffekt bezeichnet wird. 89 Nach dieser Auffassung muss der griechische Chor in einer traditionellen chinesischen Aufführung überflüssig erscheinen, da im traditionellen chinesischen Theater nicht danach gestrebt wird, dem Zuschauer die Illusion einer Realität auf der Bühne zu verschaffen, sondern ganz im Gegenteil besteht die Aufgabe der traditionellen Schauspieler vielmehr darin, den Zuschauer ständig daran zu erinnern, dass das Bühnengeschehen nur ein Schauspiel ist.90 Insofern stellt sich die Frage, wozu der griechische Chor in der Aufführung Medea überhaupt eingesetzt wird. Dies verdeutlichen zwei Aussagen des Regisseurs: „Unsere Zielsetzung ist, die Tradition des Chors aus der griechischen Tragödie mit den Traditionen des Xiqu wie ‚Xunin‘, ‚Symbolik, Stilisierung‘ sowie ‚Tanzund Gesangsdarbietungen‘ zu verknüpfen, um die Ästhetik des Xiqu in vollem Maße zu präsentieren.“91 „Ich habe die Form des griechischen Chors in der traditionellen Darbietung des Xiqu eingesetzt. Dadurch erweitert sich die Darstellungsform des Xiqu und zugleich kommen auch die vielfältigen Funktionen des griechischen Chors zur Geltung.“92

Es lässt sich daher folgern, dass der griechische Chor in der Aufführung Medea nicht nur insoweit transformiert wird, um dem äs-

88 Tang, Xiao-bai: „Jiaoliu de yiyi: Hebei bangzi ‚Meidiya‘ guanhou“ („Die Bedeutung des Austauschs: nach dem Besuch von Hebei Bangzis ‚Medea‘“), in: Da Wutai (Große Bühne), Nr. 2, 1996, S. 47 89 Zimmermann 2000, S. 150ff 90 Hwang, Wen-lung 1998, S. 77 91 Luo 2002, a.a.O. 92 Luo, Jin-lin, in: Da Wutai, 1995, S. 48

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Westlicher Geist im östlichen Körper? thetischen Prinzip des Xiqu zu entsprechen, sondern auch darüber hinausgehend dazu dient, dessen Eigenschaften und die Ästhetik hervorzuheben. Ferner wird durch die Einbeziehung des griechischen Chors zwangsläufig von den traditionellen Konventionen abgewichen, so dass eine neue Symbolik, stilisierte Bewegungen und Funktionen entstehen. Somit trägt der griechische Chor nicht zuletzt zur Vielfalt der chinesischen Darstellungsformen und zur Transformation des Xiqu bei. Andererseits wird auch die Funktion des griechischen Chors durch seine Integration in die chinesische Schauspielkunst erweitert. Demzufolge findet die Transformation des Chors nicht nur in eine Richtung statt, sondern erweist sich als ästhetische Erweiterung für beide Seiten – sowohl für den griechischen Chor als auch das Xiqu.

II.1.2.4 TRANSFORMATION DER MEDEA-FIGUR DES EURIPIDES Bevor ich auf die Analyse der Transformation von Euripides’ MedeaFigur eingehe, soll zunächst die Diskrepanz zwischen der griechischen und der chinesischen Kultur im Hinblick auf ihre jeweilige Theaterkonvention und Ethik dargestellt werden. Die Unterschiede verweisen dabei unmittelbar auf die zentrale Problematik der Adaption der Medea-Figur in das Xiqu, so dass vor diesem Hintergrund auf die Frage eingegangen werden kann, wie diese Diskrepanz in der chinesischen Aufführung Medea bearbeitet bzw. überwunden wird und inwiefern Euripides’ Medea-Figur mit der idealisierten chinesischen Frauenfigur (wie Qin Xiang-lian) verknüpft werden kann, die als Vorlage für die chinesische Medea dient. Da das traditionelle chinesische Theater als moralische Institution fungiert, besteht der Ausgangspunkt aller traditionellen Theaterstücke darin, dass Gutes mit Gutem belohnt und Böses mit Bösem vergolten wird. 93 Dabei determiniert die konfuzianische Ethik die moralische Beurteilung von Gut und Böse und dies wird zugleich zu einem göttlichen Urteil erhoben, während die Vorstellung von göttlicher Bestrafung und Belohnung auf dem chinesischen Buddhismus

93 Zheng Chuan-yin weist darauf hin, dass der Glaube an eine gerechte göttliche Strafe und das Karma (Yinguo Baoyin) in der chinesischen Kultur so tief verankert ist, dass sich nicht nur der Ausgangspunkt aller Xiqu-Stücke, sondern auch die subjektive Beschreibung eines Sachverhaltes darauf beziehen muss. Selbst wenn ein Autor diese Anschauung nicht vertritt, wird sie vom chinesischen Sozialleben, menschlichen Umgang und vom moralischen Urteil reflektiert, so dass er sich ihr nicht widersetzen kann. Siehe: Zheng, Chuan-yin 2004, S. 276ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea und Taoismus beruht.94 Indem dieser feste Glaube der Gesellschaft an eine durch die Götter vollzogene absolute Gerechtigkeit als das grundlegende und höchste Prinzip des Xiqu gilt, gehört somit ein Happy End zu einer der bedeutendsten Konventionen des traditionellen chinesischen Theaters. Dementsprechend werden alle Figuren nach ihrem Alter, Geschlecht, Sozialstatus und Charakter bestimmten Rollentypen zugeordnet. Dies bedeutet nicht zuletzt eine Typisierung einer Person, deren Charakter durch die chinesische Gesellschaft und Sittlichkeit geprägt ist. Da die Darstellung der Figuren den Idealen der konfuzianischen Weltanschauung verpflichtet ist, drückt sich ihre Individualität ausschließlich durch ihre moralische Qualität aus, d.h. sie wird eindeutig auf Grund der Dualität von Gut und Böse definiert. Demnach verkörpert jede Figur einen spezifischen Stereotyp, wie z.B. der Name Chen Shi-meis, der sich zum Synonym für Verrat von Ehe und Liebe entwickelt hat.95 Solche moralischen Urteile über eine Figur werden den Zuschauern bereits beim ersten Auftritt des Schauspielers durch sein Kostüm, die Maskierung, die Selbstvorstellung (Zibao Jiamen) sowie seinen Gang und seine Gesten eindeutig vermittelt. Demzufolge ist die Wahrnehmung bzw. Erwartung der chinesischen Zuschauer dadurch gekennzeichnet, dass Lob oder Tadel gegenüber einer Figur eindeutig erkennbar werden und dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden.96 Im krassen Gegensatz dazu präsentiert sich Euripides’ Medea als ambivalente Figur, welche die Grenzen zwischen Mensch und Gottheit, Mann und Frau sowie Barbarei und Zivilisiertheit überschreitet und sich damit einer eindeutigen Kategorisierung entzieht. 97 Ihr vielschichtiger und komplexer Charakter erweist sich ebenfalls als zwiespältig, indem sie einerseits eine kluge, redegewandte, stolze, selbstbewusste und entschlossene Frau darstellt und ihr andererseits negative Eigenschaften wie Heimtücke, Brutalität, Wildheit sowie zügellose Leidenschaft zugeschrieben werden. In Übereinstimmung mit ihren ambivalenten Charakterzügen befindet sie sich an der Schwelle zwischen Opfer und Täterin, wodurch es schwierig wird, ein eindeutiges moralisches Urteil über sie zu fällen. All dies widersetzt sich fundamental den traditionellen chinesischen Theaterkonventionen.

94 Zhou, Yu-de: Xiqu yu Zhongguo zhongjiao (Xiqu und chinesische Religion), Peking 1990, S. 155ff 95 Zheng, Chuan-yin 2004, S. 172ff 96 Ebd., S. 165ff 97 Rabinowitz, Nancy Sorkin: Anxiety veiled: Euripides and the Traffic in Women, Ithaka/London 1993, S. 126ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Obwohl in traditionellen chinesischen Dramen kein vergleichbares Beispiel für eine Kindermörderin zu finden ist, teilt Medea jedoch insoweit das bittere Los mit anderen tragischen Frauenfiguren aus Xiqu-Stücken wie Qin Xiang-lian, Jiao Gui-yin, Zao Zhen-nu usw., als diese trotz ihrer großen Verdienste gegenüber ihren Männern von ihnen verraten und verlassen werden. Überdies musste Medeas Klage über den niedrigen sozialen Status der Frauen in China zwangsläufig großen Anklang finden. Denn im Vergleich zu den antiken griechischen Frauen, die als „Fortpflanzungswerkzeuge“ zur Verewigung der männlichen Erbfolge dienten,98 befanden sich die chinesischen Frauen zur Zeit der feudalistischen Gesellschaft in einer noch elenderen Lage. Angesichts des Polygamie-Systems gab es offiziell keinen Ehebruch seitens des Mannes und auch die Scheidung war das Privileg des Mannes, der gemäß des chinesischen Sittenkodexes Qichu (Sieben Bestimmungen zum Verstoß) seine Frau jederzeit verstoßen durfte, wenn sie eine der folgenden sieben „Sünden“ beging: keinen Sohn zu gebären, untreu zu sein, den Schwiegereltern nicht zu gehorchen und diesen nicht zu dienen, zu zanken und zu stehlen, eifersüchtig zu sein oder eine ansteckende, tödliche Krankheit zu haben.99 Seit der Song-Dynastie war der moralische Anspruch nach absoluter Treue seitens der Frauen schließlich so streng geworden, dass die Scheidung für eine Frau zugleich Ausweglosigkeit bedeutete, da eine Wiederheirat auf Grund des Verlustes ihrer Jungfräulichkeit kaum noch akzeptabel war und eine Rückkehr zu ihrem Elternhaus nicht nur eine große Schande bedeutete, sondern für ihre Familie auch eine finanzielle Belastung. 100 Auf diese Weise wurden die chinesischen Frauen den Männern rigoros untergeordnet und ihr rechtlicher Schutz war geringfügig und abhängig von ihren moralischen Qualitäten und Taten. Somit hatte nur eine rechtschaffene Frau, die moralisch makellos war und gegenüber ihrem Mann große Verdienste vorzuweisen hatte, das Recht, gegen einen Verstoß seitens des Mannes zu klagen.101 Dies 98

Hidalgo-Xirinachs, Roxana: Die Medea des Euripides: Zur Psychoanalyse

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der weiblichen Aggression und Autonomie, Gießen 2002, S. 66ff Chiu 1966, S. 60ff. Darüber hinaus spielten die drei weiblichen Gehorsamspflichten des Konfuzianismus (gegenüber dem Vater vor der Ehe, gegenüber dem Mann in der Ehe und gegenüber dem ältesten Sohn nach dem Tod des Mannes) und die vier weiblichen Tugenden (Sittsamkeit, geziemende Sprache, richtiges Betragen und Fleiß) die maßgebliche Rolle

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für die moralische Beurteilung einer Frau. Siehe: ebd., S. 20ff Huang, Shi-zhong 2000, S. 141ff Gemäß den Sanbuqu (drei Bestimmungen gegen einen Verstoß) aus dem Buch der Riten (Dadai Liji) durfte eine rechtmäßige Frau nicht verstoßen werden, wenn eine der folgenden drei Bedingungen auf sie zutraf: wenn sie drei Jahre lang Trauer für die Eltern ihres Mannes bezeugt hatte,

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea bedeutet, dass in der patriarchalisch geprägten chinesischen Gesellschaft ihr Los des Verlassenwerdens nur dann als ungerecht angesehen und ihr deswegen Mitleid entgegen gebracht werden konnte, wenn ihre Charakterzüge, ihr Verhalten und ihre Verdienste gegenüber ihrem Mann den konfuzianischen Moralmaßstäben entsprachen. Unter dem westlichen Einfluss wurde 1931 das Monogamie-System gesetzlich eingeführt, so dass die traditionelle Polygamie und Zwangsehe verboten wurde. Die zweite Version des Ehegesetzes die 1980 in Kraft eingetreten ist, übte einen beträchtlichen Einfluss auf den sozialen Wandel der chinesischen Gesellschaft aus, indem seitdem beide Geschlechter im Gegensatz zur Tradition über gleichberechtigte Scheidungsrechte verfügen und sich auf die erloschene Liebe als legitimen Scheidungsgrund berufen können, woraufhin die Scheidungsquote rasant angestiegen ist. 102 Obwohl die gegenseitige Liebe als Voraussetzung für die Ehe gesetzlich anerkannt wird, bedeutet dies jedoch nicht zwangsläufig, dass die Frauen dadurch auch sozial den Männern gleichgestellt oder dass die traditionellen Werte und Einstellung über die Ehe außer Kraft gesetzt sind. Vielmehr bestehen die beiden moralischen Kriterien – also der westlich geprägten individuellen Freiheit bzw. freien Liebe bzw. der traditionellen Ethik und Moral mit der Betonung von Treue und familiärer Verpflichtung – nebeneinander. Diese beiden wurden als unvereinbar betrachtet und sorgten in den 1980er Jahren für einen neuen Geschlechterkonflikt und heftige Debatten.103 In Bezug auf den traditionellen Ehekonflikt gilt die Geschichte der Qin Xiang-lian, die zu einer der populärsten und am weitesten verbreiteten des Xiqu-Repertoires gehört, als repräsentativstes Beispiel, worauf sich auch heute immer wieder jede Debatte über den Geschlechterkampf in der heutigen chinesischen Gesellschaft bezieht.104 Dass das Mitleid ihr gegenüber im Vergleich zu anderen verlassenen Frauenfiguren besonders groß ist, liegt nicht zuletzt daran, dass sie ihrem Mann Chen Shi-mei gegenüber die wichtigste Familienverpflichtung in Form der „Kinderpietät“ erfüllt hat. Denn wenn sie ihren Mann von ärmlichen Verhältnissen an bis zum Reichtum begleitet hatte oder wenn sie nach dem Verstoß kein Zuhause hatte. Obwohl sich eine rechtmäßige Frau hierauf berufen konnte, um Einwand

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gegen den Verstoß durch ihren Mann zu erheben, trat Sanbuqu in der Realität jedoch kaum in Kraft. Siehe: Chiu 1966, S. 68ff Yang, Cai-juan/Yao, Mi-jia: „On Chinese Marriage Changes under The Ef-

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fect of Cultural Thoughts in Modern Times“, in: Journal of Shannxi Instituate of Education, Vol. 23, Nr. 3, Aug. 2007, S. 85ff Guan, Ai-hua: „Freedom, Responsibility and Equality in a Marriage“, in:

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Journal of Huaiyin Teachers College (Social Science), Vol. 24, Nr. 4, 2002, S. 805 Huang, Shi-zhong 2000, S. 256

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Westlicher Geist im östlichen Körper? sie hat während seiner Abwesenheit nicht nur allein ihre Schwiegereltern versorgt und sie nach deren Tod beerdigt, sondern auch drei Jahre Trauer für sie eingehalten. Solche Wohltaten, die nicht direkt den Mann, sondern die Familie des Mannes betreffen, zählen zu den größten Verdiensten in der konfuzianischen Gesellschaft. Dass Chen Shi-mei eine enorme soziale Empörung und Ablehnung auslöst, hat nichts mit seinem Liebesverrat zu tun, sondern vielmehr damit, dass er durch die Verleugnung seiner Ehe mit Qin Xiang-lian und der Leugnung der Existenz seiner beiden Kinder gegen das chinesische Sippengesetz verstößt. 105 Denn ein Mann in der feudalistischen chinesischen Gesellschaft durfte zwar mehrere Nebenfrauen haben, aber nur eine rechtmäßige Ehefrau. Der niedrige Rang einer Nebenfrau ist aber für eine kaiserliche Tochter inakzeptabel. Dies bedeutet für Chen Shi-mei, dass er den hohen politischen und sozialen Status am Kaiserhof nur beibehalten kann, wenn die Prinzessin zu seiner einzigen rechtmäßigen Frau eingestuft wird. Aus diesem Grund gibt er sogar ihre Ermordung in Auftrag, um seine alte Ehe hinter dem Rücken der Prinzessin zu vertuschen.106 Obwohl Qin Xiang-lian das Recht auf den Status als einzig rechtmäßige Ehefrau Chen Shi-meis zusteht, verzichtet sie darauf und überlässt es dem Richter Baozhen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Mit dieser Selbstlosigkeit verkörpert sie das absolut Gute und zugleich das ideale konfuzianische Frauenbild. Dies bedeutet auch, dass je weniger Qin Xiang-lian ihre Rechte und persönlichen Interessen beansprucht bzw. je mehr sie sich der konfuzianischen Moral unterwirft, desto mehr verlangt die Öffentlichkeit, dass ihr Gerechtigkeit widerfahren solle.107 Im Gegensatz dazu setzt sich Medea selbst aktiv für ihre eigenen Interessen und ihre persönliche Rache ein. Dass ihr dennoch von Euripides’ Chor und den westlichen Zuschauern großes Mitleid entgegengebracht werden kann, liegt hauptsächlich an der Hilfe und Unterstützung für Jason und dass sie durch seinen Verrat in eine ausweglose Situation geraten ist.108 Jedoch machen es genau diese Verdienste gegenüber Jason unmöglich, dass die chinesischen Zuschauer Mitleid mit Medea empfinden, da sie, um Jason zu helfen, ihren Vater verrät und ih105 106

Huang, Shi-zhong 2000, S. 10ff Ebd., S. 11ff

107

Diese spezifische Konstellation im chinesischen Theater lässt sich auf das Taichi-Prinzip zurückführen, wonach das Yang-Element (Stärke und Aktivität) nur durch das Yin-Element (Schwäche und Passivität) besiegt

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werden kann bzw. dass eine Figur durch Passivität vielmehr das Mitgefühl der Zuschauer aktivieren kann. Siehe: ebd., S. 285ff Rabinowitz 1993, S. 126ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea ren eigenen Bruder ermordet und damit gegen das höchste konfuzianische Gebot der „Kinderpietät“ verstößt. Demzufolge wird sie im Auge des chinesischen Betrachters als absolute Frevlerin angesehen, die – wenn sie schon nicht von den Göttern in die Hölle befördert wird – zumindest das Verlassenwerden verdient.109 Anstatt jedoch von den Göttern bestraft zu werden, vollzieht Euripides’ Medea mit Hilfe ihres Großvaters, des Sonnengottes Helios, ihre maßlose Rache. Somit verfügt sie über eine göttliche Legitimation ihrer Rache bzw. ist sogar dazu verpflichtet, sich für die Verweigerung der Ehrerbietung zu rächen, um ihre Ehre einzuklagen.110 Dass die von Euripides dargestellten Götter auf so willkürliche Weise die Menschen bestrafen und weder die menschliche Moral noch Gerechtigkeit vertreten, ist dabei für das chinesische Publikum völlig fremd und unvorstellbar. Es kann festgestellt werden, dass die Wahrnehmung der chinesischen Zuschauer und die Ästhetik des traditionellen chinesischen Theaters eng mit den konfuzianischen Moralmaßstäben zusammenhängen und dass sich Euripides’ Medea-Figur daher nicht mit den chinesischen Theaterkonventionen, der Ethik oder dem religiösen Glauben vereinbaren lässt. Dennoch sympathisiert der Regisseur Luo Jin-lin mit Euripides’ Medea-Figur und beabsichtigt, sie auch im chinesischen Kontext als rein positive Figur darzustellen.111 Es stellt sich daher die Frage, wie die ethisch-moralischen Diskrepanzen in der chinesischen Aufführung so bearbeitet werden, dass die Medea-Figur trotz ihrer Rache bei den chinesischen Zuschauern Mitleid erwecken kann. Da die dargestellten Figuren im traditionellen chinesischen Theater die Stereotypen der alten chinesischen Gesellschaft verkörpern, die sich nicht von der konfuzianischen Sittlichkeit trennen lassen und da die Darstellung einer Figur abhängig vom zugeordneten Rollentyp ist, der sich durch die für ihn festgelegten stilisierten körpersprachlichen Ausdrucksformen und dem spezifischen Anspruch der vier Geschicklichkeiten von anderen Rollentypen unterscheidet, soll der Frage nachgegangen werden, ob und wie sich Euripides’ Medea-Figur einem bestimmten Rollentyp zuordnen lässt und wie dieser mit der traditionellen chinesischen Schauspielkunst dargestellt werden kann.

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Huang, Shi-zhong 1992, S. 22ff Schlesier, Renate: „Medeas Verwandlungen“, in: Kämmerer, Annet-

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te/Schuchard, Margret/Speck, Agnes (Hg.): Medeas Wandlungen: Studien zu einem Mythos in Kunst und Wissenschaft, Heidelberg 1998, S. 7 Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Bei der Darstellung der chinesischen Medea handelt sich zwangsläufig um einen transformativen Prozess, der in zwei entgegen gesetzten Richtungen abläuft: einerseits, wie Euripides’ Medea-Figur zum Stereotyp der idealen chinesischen Frauengestalt des traditionellen chinesischen Theaters transformiert wird und andererseits, wie dieses traditionelle chinesische Frauenbild seinerseits durch Euripides’ Medea-Figur verändert oder sogar unterminiert wird. Um diese Fragen zu beantworten, soll im Folgenden insbesondere auf drei Aspekte eingegangen werden: die Identität Medeas, den Konflikt zwischen Medea und Jason sowie die Legitimation des Kindermordes. II.1.2.4.1 Medeas Identität Im ersten Akt kündigt der Frauenchor, begleitet von Gesang und Tanz, den ersten Auftritt Medeas an und stellt sie dabei mit folgenden Worten vor: „Ah... You’ve flown up here, Medea! You are a god, or you are a mortal? The god of the Heaven endowed you with soul, The god of the Earth taught you with loyalty, Artemis passed on magic arts to you, Aphrodite pointed a lover for you. You are a mortal, or a god? You have a chivalrous girl’s tenacity, You have a maiden’s purity, You have a witch’s cruelty, You have a mother’s love! Ah... You’ve flown, Medea! You are a mortal? You are a mortal!“112

Anhand dieser Darstellung ist zu erkennen, dass Medeas kulturelle Herkunft als Prinzessin von Kolchis völlig ausgeblendet wird. Infolgedessen wird ihre skandalöse Tat in Form des Verrats des Vaters und der Ermordung des eigenen Bruders nicht thematisiert und damit zugleich in der Auseinandersetzung der beiden Hauptfiguren der kulturelle Konflikt zwischen „Zivilisierten“ und „Barbaren“ ausgeblendet. Obwohl der Frauenchor ihre ambivalente Identität zwischen Gottheit und Mensch hervorhebt, bleibt ihre göttliche Herkunft jedoch unbekannt. Erst im zweiten Akt, in dem der Pädagoge sie bei König Pelias als „Enkelin des Sonnengottes Helios und der „Priesterin der Mondgöttin Artemis“ vorstellt, ist dies zu erfahren.113

112 113

Auszug aus dem Bühnenskript, 1. Akt Ebd., 2. Akt

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Mit diesem Gesang und der tänzerischen Begleitung des Frauenchors tritt die Medea-Darstellerin Liu Yu-lin von der linken Seite der Hinterbühne in einem roten Kostüm auf und schwingt dabei mit beiden Händen einen langen roten Seidenschal in der Luft. Während der Farbe Rot auf Grund ihrer Symbolik im Xiqu die Eigenschaften Freude, Würde und Loyalität zugeschrieben werden,114 verleiht ihr der Tanz mit dem Seidenschal (Chouwu) und der Kostümschnitt eine göttliche Erscheinung,115 da sie dadurch den fliegenden Göttern und Göttinnen aus der Wandmalerei des buddhistischen Höhlentempels der chinesischen Stadt Dunhuang nachempfunden ist.116 Nach dieser Eingangsszene mit dem Seidenschal-Tanz wird ihre übernatürliche Identität vor allem durch die Verwendung eines aus Pfauenfedern bestehenden, faltbaren Fächers hervorgebracht,117 der nach den Xiqu-Konventionen den Rollen von Konkubinen, Feen oder Hexen zugeschrieben wird.118 Durch den Einsatz des Fächers bzw. dessen Zusammenführung mit den stilisierten Bewegungen werden nicht nur Medeas Zauberkräfte, sondern auch ihre Charakterzüge sowie inneren Gemütszustände zum Ausdruck gebracht.119 114 115 116

Cheng, Julie 1990, S. 30 Siehe Anhang, Abb. 2 Diese Darstellung der fliegenden Göttin lässt sich auf die Inszenierung Tiannü sanhua (Die Blumen verteilende Fee) zurückführen, einem der im In- und Ausland besonders beliebten Stücke aus dem Repertoire von Mei Lanfang. In Anlehnung an die chinesische Malerei Sanhua Tu (Bild des Blumenverteilens) und die göttliche Abbildung aus der Wandmalerei der buddhistischen Höhlentempel von Dunhuang kreierte Mei Lanfang ein neues Kostüm, das im Unterschied zum traditionellen Xiqu-Kostüm mehr weibliche Konturen hervorhebt sowie den Seidenschal-Tanz (Chouwu), um eine über die Wolken fliegende Fee darzustellen. Dieses neue Kostüm-Design und die neue Choreographie basieren zwar auf der traditionellen Ästhetik, weichen jedoch von der Xiqu-Konvention ab. Siehe: Zhang, Gen/Yu, Cong (Hg.): The Art of Chinese Beijing Opera, Peking 1996, S. 163

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Siehe Anhang, Abb. 1 Bian, Shao-chu: „Guan shanzi shi jiaose“ („Durch den Fächer die Rolle erkennen“), in: Kewei Yuwen, Nr. 2, 2006, S. 126

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Der Fächer gehört zu den wichtigsten Requisiten, die in Zivilszenen eingesetzt werden. Dabei geht es nicht darum, ihn gemäß seiner wirklichen Funktion einzusetzen, um sich Luft zuzufächern, sondern darum, die Identität, den Charakter und die inneren Gefühle der Figur sichtbar zu machen. Somit exponieren die rollenspezifische Form und das Material des verwendeten Fächers die Identität einer Figur, während ihre Charakterzüge sowie inneren Gemütszustände durch ein Spektrum von stilisierten Bewegungen unter Verwendung eines Fächers zum Ausdruck gebracht werden, was man als Shanzi Gong (Geschicklichkeit des Fächers)

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Dass sie mit ihrer Zauberkraft eher wie eine Gottheit als eine böse und Furcht erregende Hexe erscheint, liegt darin begründet, dass durch die Darstellung der Figuren entsprechend der chinesischen Ethik eine Dualität von Gut und Böse impliziert wird. Somit wird im ersten Akt anstatt des Verrats des Vaters und der Ermordung des Bruders ausschließlich vorgeführt, wie sie mit ihrem Zauberfächer alle Hindernisse für Jason beiseite schafft und das goldene Vlies erlangt. Dadurch erscheint sie als liebende, helfende Fee oder Göttin. Im zweiten Akt, in welchem sie unter dem Vorwand einer durch ihre Zauberkraft bewirkten Verjüngung Pelias in eine Todesfalle lockt, offenbart sich jedoch ihr hinterhältiger und grausamer Charakter. Dennoch erweist sich diese Tat im Unterschied zu Euripides’ Fassung als gerechtfertigt, da Pelias durch die Ermordung des eigenen Bruders (d.h. des Königs) zum Zweck der Machtergreifung als böse Figur erscheint, zumal Jasons Vater nach Aussage seines Pädagogen als ein barmherziger und guter König dargestellt wird. Darüber hinaus gehört die Vergeltung des Vatermordes angesichts der konfuzianischen Etikette zur höchsten Priorität und Verpflichtung eines Sohnes.120 Insofern gewinnt ihr Mord an Pelias eine besondere Bedeutung, da diese Tat eigentlich nur durch ihre Liebe zu Jason und seine Bewahrung vor dem Tod motiviert ist, so dass sie dadurch ihre wichtigste Familienverpflichtung gegenüber ihm erfüllt hat. Da dies aus der konfuzianischen Sichtweise als großer Verdienst gegenüber dem Ehemann anerkannt wird, lässt sie sich trotz ihrer Intrige, Grausamkeit und Zauberei als positive Figur auffassen. Es lässt sich also feststellen, dass die negativ konnotierten Eigenschaften und Taten Medeas in den ersten zwei Akten bewusst ausgeblendet bzw. eliminiert wurden. Andererseits wird ihre Loyalität, die im Konfuzianismus als das höchste moralische Ideal gilt, soweit hervorgehoben, dass damit für sie nicht nur eine rechtliche Grundlage gegen den Verstoß des Mannes geschaffen wird, sondern bei den chinesischen Zuschauern auch große Sympathie ihr gegenüber erweckt wird. Dies wiederum ermöglicht, dass die Zuschauer in den folgenden Akten überhaupt Mitleid mit ihr empfinden können.

bezeichnet. Darüber hinaus kann ein Fächer den roten Faden einer Handlung markieren und seine Bedeutung kann auch durch die Fiktivität (Xunin) ständig transformiert werden, so dass er auf der Bühne z.B. als Stift, Brief, Teller oder Peitsche fungiert. Siehe: Wang, Xian-yu: „Shanzi yu xiqu“ („Fächer und Xiqu“), in: Dandai Xiju (Zeitgenössisches Theater), Nr. 6, 1986, S. 61 120

Tang, Hong-lin/Zou, Jian-feng: „On Confucian Filial Piety's Development and Repression of Blood Revenge“, in: Journal of Ningbo University, Vol. 10, No. 6, Nov. 2005, S. 27

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Da im traditionellen chinesischen Theater die Rollentypen die Grundlage für die Darstellung einer Figur bilden, müssen diese einander jeweils eindeutig zugeordnet werden.121 Angesichts ihres Alters und ihres unverheirateten Familienstandes in den ersten zwei Akten, soll Medea dem Rollentyp Guimendan (Dame im Frauengemach) zugeordnet werden, d.h. einer unschuldigen jungen Frau, die noch zu Hause wohnt.122 Auf Grund ihrer ambivalenten Identität und ihrer vielfältigen, komplexen Charakterzüge ist es jedoch inadäquat, Medea ausschließlich als schüchternes und naives Mädchen darzustellen, weshalb die Medea-Schauspielerin Liu Yu-lin sowohl auf den Rollentyp Huadan (junge lebhafte Frau) als auch Daomadan (Frau mit Schwert und Pferd) zurückgreift.123 Während der Redefluss und die geschmeidigen Bewegungen der Huadan ihr einen unschuldigen, listigen, lebhaften und sinnlichen Charakter verleihen, nimmt sie gleichzeitig durch die Darstellungsmittel der Daomadan eine heroische Gestalt an, die nicht nur mit der Kampfkunst vertraut ist, sondern auch einen unbändigen, entschlossenen, tapferen und loyalen Charakter besitzt.124 Ab dem dritten Akt tritt Liu Yu-lin anstatt in dem roten, noblen und dekorativen Kostüm in einem schlichten, hellblauen Gewand mit ca. ein Meter langen Wasserärmeln auf, was zu den typischen Kostümen des Rollentyps Qingyi (feine Dame in einfachem Gewand) gehört. Da der Rollentyp Qingyi immer die Hauptfigur in den Tragödien über Unrecht und Vergeltung spielt und das ideale konfuzianische Frauenbild verkörpert,125 verweist diese Veränderung des Ko-

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Es gibt vier Grund-Rollentpyen – Sheng (männliche Rolle), Dan (weibliche Rolle), Jing (Schminkmaske) und Chou (komische Rolle), wobei sich jeder Rollentyp je nach Alter und Eigenschaften noch genauer unterteilen lässt. Somit umfasst z.B. die weibliche Rolle insgesamt sechs Typen: Qingyi (feine Dame im einfachen Gewand), Huadan (junge lebhafte Frau), Daomadan (Frau mit Schwert und Pferd), Guimendan (Dame im Frauengemach), Wudan (weiblicher Krieger) und Laodan (alte Frau). Die Rollentypen unterscheiden sich nicht nur durch Kostüme, Kopfschmuck, Frisur und Schminkmaske, sondern auch durch die stilisierte Körpersprache bzw. den Schwerpunkt der vier Geschicklichkeiten (Sigong). Die Stilisierung der Rollentypen ermöglicht den Schauspielern einen Grundrahmen der Darstellung der Figuren und zugleich den Zuschauern, die Identität und Charakterzüge der Figuren zu erkennen. Siehe: Hu, Zhi-feng: Xiqu yanyuan chuangzao jiaose lun (Theorie der Gestaltung von Figuren bei

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den Xiqu-Schauspielern), Schanghai 1994, S. 29ff Bai 2005, S. 123ff Liu, Yu-lin: „Wo de xiqu yishu guan“ („Meine Anschauung über die Xiqu-

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Kunst“), in: Chinese Theatre, Nr. 6, 2003, S. 52 Bai 2005, S. 124ff Cheng, Julie 1990, S. 49

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Westlicher Geist im östlichen Körper? stüms auf Medeas Verwandlung von einer göttlichen Erscheinung zur idealen klassischen chinesischen Frauengestalt der „tugendhaften Ehefrau und liebevollen Mutter“ (Xianqi Lianmu) sowie auf die Anknüpfung an das Stereotyp der unter Unrecht leidenden chinesischen Frauenfigur des Xiqus. Durch den gelassenen Gang, die graziösen Gesten und das vernünftige Verhalten der Qingyi erhält die chinesische Medea einen noblen, rechtschaffenen und ernsten Charakter. Jedoch verkörpern solche tugendhaften Frauenfiguren im Xiqu das absolut Gute und sie würden niemandem Schaden zufügen, wie die Medea-Darstellerin Peng Hui-heng gegenüber der griechischen Presse erklärt hat. 126 Selbst wenn sie einen Verrat oder Verstoß durch ihre Männer erleiden, leisten sie keinen Widerstand, sondern überlassen es entweder einem Richter (wie es die Figur der Qin Xiang-lian tut) oder den Göttern (wie z.B. Zao Zhen-nü), ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In einem anderen Fall, wenn weder Richter noch Götter für sie eintreten, bleibt ihnen kein anderer Ausweg als der Selbstmord (wie im Falle Du Shi-nians und Jiao Gui-yins), um ihre eigene Würde zu bewahren und damit ein Zeichen des Widerstandes zu setzen.127 Dementsprechend will auch die chinesische Medea im vierten Akt mit dem Zauberfächer Selbstmord begehen, nachdem sie über die Ungerechtigkeit der patriarchalischen Gesellschaft und die Inkompetenz der Götter geklagt hat. Jedoch bewahrt sie der Frauenchor vor dem Tod und stellt den traditionellen moralischen Anspruch nach Selbstlosigkeit und Selbstaufgabe der Frauen in Frage: „Is it that we women, How great misfortune we suffer, could only resort, as a struggle, to die at other’s disposal? No, no, no, this should not be the nature of women and nor is it the symbol of virtue!“128

Dadurch wird sie umgestimmt und entscheidet sich für die Rache, welche sie wie folgt begründet: „To die is of no use. Suicide represents incapability! I’ll enjoy my foe’s death to console myself to the full!“129 126

Vgl. Einleitung

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Die aktive Rache einer Frau lässt sich nur bei weiblichen Geistfiguren finden, wie z.B. Jiao Gui-yin, die nach dem Selbstmord als Geist auf die irdische Welt zurückkehrt, um ihren Mann in die Hölle zu bringen, der sei-

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nen Eid gebrochen hat. Siehe: Huang, Shi-zhong 2000, S. 285ff Auszug aus dem Bühnenskript, 4. Akt Ebd.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, dass sie auf die typische, passive Haltung der „tugendhaften Ehefrau und liebevollen Mutter“ verzichtet, um das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Damit stürzt sie unmittelbar das traditionelle Frauenideal um und verwandelt sich von einem passiven Opfer zu einem aktiv handelnden, autonomen Subjekt wie Euripides’ Medea, woraus hervor geht, dass die Diskrepanz zwischen ihr und dem Ideal des chinesischen Frauenbildes dafür genutzt wird, die traditionellen Werte umzustürzen. Dass die schlagartige Wende zugunsten der Racheabsicht nicht gegen die Anstandsregeln verstößt, sondern vielmehr wie eine selbstverständliche Rückkehr zu ihrem Selbst erscheint, liegt daran, dass sie bereits in den ersten zwei Akten als eine außergewöhnliche Frau dargestellt wird, die sowohl übernatürliche Fähigkeiten besitzt als auch besonders mutig und intelligent ist. Dennoch ist sie nun nicht mehr die helfende und liebende Göttin, sondern sie verwandelt sich zu einer zerstörerischen und strafenden Göttin. Diese Veränderung lässt sich nicht zuletzt auch bei ihrem dritten Kostüm beobachten. Das typische Kleid des Rollentyps Qingyi das hellblaue lange Gewand - wird im fünften Akt durch ein weißes Gewand ohne Wasserärmel und einen um ihre Brust gewickelten weißen Überrock ersetzt. Der Rock besteht aus zwei Stücken aus faltigem, halbtransparentem Stoff und die beiden Enden seiner Vorderseite sind jeweils an ihre Mittelfinger festgebunden, so dass beim Öffnen der Arme automatisch der Eindruck entsteht, dass es sich dabei um Flügel handelt. Diese Art von Überrock, der im Xiqu Da Yaobao genannt wird, kennzeichnet den Krankheitszustand einer weiblichen Figur.130 Jedoch gibt es keinerlei Hinweise auf eine reale Krankheit, weshalb dies sich wohl vielmehr auf Medeas seelischen oder psychischen Zustand bezieht. Neben der Symbolik und der dekorativen Funktion wird er ebenso wie die Wasserärmel (Shuixiu) dafür eingesetzt, die inneren Gefühle einer Figur hervorzuheben. Unterstützt von der jeweiligen Situation und der angewendeten Körpersprache, verleiht das Kostüm des Da Yaobao der Schauspielerin auch zwei unterschiedliche äußerliche Gestalten. Indem sie ihre Arme liebevoll um die beiden Kinder schlingt, erscheint sie einerseits wie eine Vogelmutter, die ihre Kinder unter ihren Flügeln hütet und schützt. Aber als sie den beiden Kindern hinterher jagt, um diese zu ermorden, verwandelt sie der ausgebreitete Rock andererseits zu einem gnadenlosen und wilden Raubtier. Bei Euripides wird Medea durch die Aussagen der Amme und des Chors entweder als mörderisches Raubtier wie eine Löwin (Zeile 187) oder herz-

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Tan, Yuan-jie: Zhongguo jingju fuzhuan tupu (Abbildungen von Kostümen der Peking-Oper), Peking 1990, S. 329

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Westlicher Geist im östlichen Körper? los und gnadenlos wie ein Fels oder Eisen (Zeile 27, 1279) dargestellt, wodurch ihr eine Furcht erregende Gestalt verliehen wird.131 Auch Jason betrachtet sie als Tier und Ungeheuer wie die schiffeund männerverschlingende Skylla (Zeile 1343) und führt den Grund ihrer Rachegelüste auf die Wildheit ihrer Charakterzüge an.132 Solche Anmerkungen von Chor, Amme und Jason sind in der chinesischen Aufführung jedoch gänzlich eliminiert. In der Darstellung der Medea-Figur wird die animalische Triebkraft nur durch den Rock in der Szene des Kindermordes angedeutet und ihre übernatürlichen Kräfte zur Durchführung der Rache werden durch den Einsatz des Zauberfächers zum Ausdruck gebracht. Indem sämtliche wilden, barbarischen und Furcht einflößenden Eigenschaften von Euripides’ Medea-Figur herausgefiltert werden, stellt sich die chinesische Medea trotz ihrer Rache vielmehr als positive und göttliche Figur dar. Obwohl sie ebenfalls „animalische“ Eigenschaften besitzt, erscheint sie jedoch auf Grund der durchgehend hell beleuchteten Bühne nicht als Furcht erregende Gestalt. Folglich wird sie einerseits hinsichtlich der Ambivalenz zwischen Tier und Mensch mit Euripides’ Medea verknüpft, andererseits unterscheidet sie sich doch von ihr bezüglich der fehlenden Furcht einflößenden Eigenschaften. Darüber hinaus reicht die zurückhaltende Körpersprache des Rollentyps Qingyi nicht mehr aus, die Entschlossenheit, Heimtücke, Stärke und Würde Medeas bei ihrer Rache zum Vorschein zu bringen. Daher integriert Liu Yu-lin in ihre Rolle zusätzlich insbesondere die Darstellungsmittel des Rollentyps Hualian (bemaltes Gesicht), der entweder einen würdevollen, imposanten Helden oder einen hinterhältigen, mächtigen Charakter verkörpert.133 Das auffälligste Beispiel dafür ist die Szene aus dem fünften Akt, als sie, ihren Rücken dem Zuschauerraum zugewandt, die Nachricht über den Tod ihrer beiden Feinde hört. Danach bricht sie zuerst in ein schrilles weibliches Lachen aus einer Mischung von hoher Falsett-Stimme und realer Stimme aus. Dann dreht sie sich mit einem kraftvollen Schwung zum Zuschauerraum um, schlingt ihren weißen Wickelrock durch eine schnelle Drehung um ihre beiden Arme und hält mit weit aufgerissenen Augen die in einer Bogenform ausgebreiteten Arme in Schulterhöhe einige Sekunden lang vor ihrer Brust,134 was

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Schlesier 1998, S. 9ff Euripides: „Medea“, in: von Arnim, Hans (Hg.): Euripides’ Tragödien, Mün-

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chen 1990 Liu, Yu-lin 2003, S. 52 Diese Körperhaltung wird im Xiqu als La Shangban bezeichnet.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Lianxian genannt wird (Sich-Präsentieren). 135 Daraufhin lacht sie mit tiefer Stimme laut und übertrieben auf. Dieses anmaßende Lachen wird von einem bösen Blick und taumelnden Schritten begleitet, so als ob sie in einen Zustand des Wahnsinns geraten wäre. Das weiter fortgesetzte Lachen wird immer tiefer und leiser bis es schließlich verstummt, so dass die triumphierende Freude in eine Verbitterung umzuschlagen scheint. Auf diese Weise möchte die Schauspielerin den inneren Widerspruch Medeas sichtbar machen, indem sie sich einerseits über ihren Erfolg freut, aber andererseits auch über ihren bevorstehenden Racheplan in Form des Kindermordes bedrückt ist.136 Dabei lässt sich nicht nur die kraftvolle Körperhaltung des La Shangban und Lianxian, sondern auch die übertriebene Mimik und das tiefe Lachen auf die große Ausdruckskraft der Hualian zurückführen. Durch diese Anknüpfung an die chinesischen HeldenStereotypen wird der chinesischen Medea die starke Gesinnung einer Heldin und zugleich auch ein herrischer, gewalttätiger und hinterlistiger Charakter verliehen.137 Im Vergleich dazu drückt Euripides’ Medea-Figur ihre heroische Gestalt dadurch aus, dass sie aus Furcht vor dem Gelächter der Feinde die Kinder mit einem Schwert ermordet, da solche Mordmotive und Waffen üblicherweise mit den typischen griechischen Heroen in Verbindung gebracht werden.138 Auch wenn sich die chinesische Medea keiner männlich-heroischen Sprache bedient, nähert sich ihre mit Hilfe der Schauspielkunst hergestellte heroische Qualität doch an Euripides’ Medea-Figur an und sie pendelt ebenfalls zwischen einer gnadenlosen Heldin und einer liebevollen Mutter hin und her.139 Das ausschlaggebende Bühnenelement, das die ganze Verwandlung von Medeas Identität und die Entwicklung der Handlung markiert, ist jedoch der Fächer, der mit Ausnahme des dritten Aktes durchgehend präsent ist. Aber selbst dort verweist er gerade durch seine Abwesenheit auf Medeas Übergang von einer Göttin zu einer Menschenfrau. Erst durch Jasons Bruch seines Treueschwurs 135

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Lianxian bedeutet, dass ein Schauspieler sich in einer bestimmten Körperhaltung dem Zuschauer gegenüber präsentiert. Diese kurze Pause ermöglicht es den Zuschauern, die dargestellte Figur hinsichtlich ihrer Charakterzüge und Gemütszustände genau zu betrachten, weshalb sie wie eine Großaufnahme der Figur wirkt. Siehe: Hu, Zhi-feng 1994, S. 27 Liu, Yu-lin 2003, S. 53 Ebd. Blondell, Ruby/Gamel, Mary-Kay/Rabinowitz, Nancy Sorkin/Zweig, Bella: Euripides – Women on the edge: four plays by Euripides, New York/London 1999, S. 164ff Foley, Helene: „Medea’s Divided Self“, in: Classical Antiquity, Vol. 8, No. 1, April 1989, S. 76ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? kehrt der Fächer zurück und sie steht vor der Entscheidung, ob sie ihn gegen sich selbst (Selbstmord) oder gegen ihre Feinde (Rache) einsetzt. Diese Wiederkehr des Fächers ist daher zugleich die Rückkehr zu ihrer göttlichen Macht, die Jason jedoch nicht mehr zu Gute kommt, sondern ihn im Gegenteil zerstört. Nachdem sie am Schluss mit dem Zauberfächer den Mord an ihren Kindern vollzogen und um sie geweint hat, sitzt sie aufrecht zwischen den beiden Leichen dem Publikum gegenüber und weist Jasons Annäherungsversuche an die Kinder durch das Schwingen des Fächers wortlos zurück. Es gibt weder einen triumphalen Abgang mit dem vom Sonnengott geschickten Drachenwagen in Form von dea ex machina noch die gegenseitigen Schmähungen der beiden Hauptfiguren wie bei Euripides’ Medea, sondern nur ihre schweigende Wache bei den toten Kindern sowie Jasons hilflose Klage und Verzweiflung. Indem der Triumph der Rache dadurch konterkariert wird und offen bleibt, ob sie für eine solch maßlose Rache bestraft wird, unterscheidet sie sich von Euripides’ Medea-Figur, welche sich im Gegensatz dazu als eine unmenschliche und selbstherrliche Rachegöttin erweist.140 Anstatt eine dämonische Gestalt anzunehmen, präsentiert sich die chinesische Medea auf diese Weise als trauernde Mutter und würdevolle Göttin, die sich an Jason rächt, aber damit zugleich auch sich selbst bestraft. Anlässlich der Hervorhebung ihres eigenen Leidens erscheint sie im Gegensatz zu Euripides’ Medea daher immer noch bemitleidenswert. Es lässt sich daher folgern, dass die Identität Medeas in der chinesischen Aufführung eine kontinuierliche Entwicklung nimmt und dabei eine Metamorphose durchläuft: Sie stellt sich zunächst als liebende Göttin und loyale, tapfere Frau dar und wird dann zu einer Menschenfrau bzw. dem chinesischen Frauenideal einer „tugendhaften Ehefrau und liebevollen Mutter“ transformiert. Durch den Kindermord verwandelt sie sich schließlich in eine trauernde Mutter und eine rächende Göttin zugleich. Dadurch, dass die aus konfuzianischer Sichtweise negativen Eigenschaften herausgefiltert bzw. eliminiert worden sind und insbesondere ihre Loyalität gegenüber Jason hervorgehoben wird, wird Euripides’ Medea in Luos Aufführung bis zu ihrem Kindermord zu einer rein positiven Figur transformiert. Dies ermöglicht den chinesischen Zuschauern, sich mit ihr zu identifizieren und knüpft zugleich hinsichtlich der Thematik in Form eines Treue- bzw. Ehebruchs an den schematischen Verlauf der klassischen chinesischen Dramen an. Jedoch wird sich diesem Schema wiederum widersetzt, indem die chinesische Medea anstatt einer passiven Opferrolle durch die Rache ihre Gerechtigkeit

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Schlesier 1998, S. 7ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea durchsetzt. Ihr Übergang von der „tugendhaften Ehefrau und liebevollen Mutter“ zur rächenden Göttin, erweist sich dabei als bestes Indiz dafür, dass das traditionelle chinesische Weiblichkeitsideal durch Euripides’ Medea-Figur umgestürzt wird. Wenn auch der kulturelle Aspekt der Dichotomie zwischen Barbarei und Zivilisiertheit nicht thematisiert wird, besteht jedoch im Hinblick auf die Grenzüberschreitung zwischen Mensch und Gottheit, Männlichkeit und Weiblichkeit, sowie zwischen Mensch und Tier auf eine gewisse Weise eine Analogie zu Euripides’ MedeaFigur. Dies zeigt sich vor allem bei der Schauspielkunst: Indem die Medea-Schauspielerin verschiedene stilisierte Formen der Körpersprache der Charaktere von Huadan, Daomadan, Qingyi und Hualian einsetzt, um die ambivalente Identität und die vielseitigen Charakterzüge darzustellen, werden die strikten Grenzen zwischen unterschiedlichen weiblichen sowie zwischen männlichen und weiblichen Rollentypen überschritten. Somit entsteht sowohl eine neue stilisierte Körpersprache als auch eine neue Frauengestalt, die beide einerseits auf den traditionellen Konventionen beruhen, andererseits aber auch von ihr abweichen. Daraus lässt sich schließen, dass sich die chinesische Medea in einem Spannungsfeld zwischen Euripides’ Medea-Figur und dem traditionellen chinesischen Weiblichkeitsideal bewegt. II.1.2.4.2 Konflikt zwischen Medea und Jason Ausgehend von der vielseitigen und komplexen Identität von Euripides’ Medea-Figur lässt sich der Konflikt der beiden Protagonisten nicht als ein gewöhnlicher Ehebruch oder üblicher Liebesverrat betrachten, sondern er steht in Zusammenhang mit einer Übergangsphase des antiken Griechenland, in der ein neues Rechtssystem die alten göttlichen Gesetze ablöste. Nach der neuen attischen Gesetzgebung war eine gemischte Ehe zwischen einem Athener und einer Ausländerin verboten, weshalb die Heirat von Medea und Jason als illegal galt. Somit wurde Medea als Ausländerin kein Rechtsschutz gewährt und sie hatte einen ähnlich niedrigen sozialen Status wie eine Konkubine. 141 Ungeachtet dessen ist ihre Ehe durch den Schwur Jasons gegenüber dem Sonnengott Helios geschlossen worden. Medeas Kritik richtet sich einerseits gegen die Diskriminierung der Frauen und Fremden, andererseits wirft sie Jason einen Eidbruch vor und stellt sein Verhalten als Hybris dar. Damit opponiert sie gegen die attischen Geschlechterrollen sowie gegen die Zivilordnung und rechtfertigt ihre Rache mit der göttlichen Gesetzgebung. Nicht zuletzt verleiht Medeas hoch angesehene Abstammung ihr die 141

Hidalgo-Xirinachs 2002, S. 66ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? göttliche Befugnis, Jason zu bestrafen, um ihre Würde und die alte göttliche Ordnung wieder herzustellen. Indem sie schließlich mit Hilfe ihres Ahnengottes Helios triumphierend entfliehen konnte, steht sie den Göttern als gleichberechtigtes Subjekt gegenüber, so dass ihre maßlose Rache wie eine willkürliche Strafe der Götter erscheint. In diesem Sinne stellt der Konflikt der beiden Hauptfiguren nicht nur einen Kampf zwischen den beiden Geschlechtern sowie zwischen einer Ausländerin und einem Athener dar, sondern verkörpert gleichfalls den kulturellen Bruch zwischen den alten, göttlichen Gesetzen und der neuen rechtlichen Ordnung.142 Eine solche Analogie lässt sich jedoch nicht in den chinesischen Kulturkontext versetzen, nicht nur weil alle chinesischen Götter die absolute Gerechtigkeit vertreten und keine willkürlichen Strafen ausüben, sondern auch weil sie als moralische Instanz für die konfuzianische Ethik fungieren und ihre Gesetze mit der politischrechtlichen Ordnung Chinas übereinstimmen. Angesichts des religiösen und sozialen Hintergrundes erkennt das traditionelle chinesische Theater die konfuzianische Sittenlehre als höchstes Prinzip an, anstatt sie in Frage zu stellen. Somit besteht die Tragik nicht im Konflikt zwischen einem autonomen Individuum und der Gesellschaft, sondern vielmehr darin, dass eine Figur trotz ihrer Unterwerfung unter die soziale Ordnung und ihrer Selbstaufopferung für die Ethik nicht entsprechend belohnt wird und Unrecht erleiden muss.143 Dass die Gerechtigkeit gegenüber einer solch tragischen Figur nach dem üblichen Ablauf letztendlich durch einen ehrbaren Richter oder die göttliche Macht wieder hergestellt wird, festigt wiederum den Glauben an die Belohnung des Guten. Das Angewiesensein auf Götter oder den Gesetzgeber deutet darauf hin, dass das durch persönliche Interessen motivierte aktive Handeln eines Individuums in der chinesischen Kultur verpönt ist.144 Da Medea im Gegensatz dazu aktiv Rache ausübt, bedarf diese einer plausiblen Rechtfertigung, damit sie nicht als abstoßende Figur erscheint, sondern stattdessen die Sympathien der chinesischen Zuschauer erlangen kann. Dadurch, dass sie in den beiden ersten Akten als stereotype, vom Ehemann verlassene sowie als moralisch makellose chinesische Frau dargestellt wird und ihre Wohltaten gegenüber Jason der konfuzianischen Doktrin entsprechen, wird für sie zunächst eine rechtliche Grundlage geschaffen, die sie zur Klage über den Verstoß ihres Mannes berechtigt. Jedoch reicht dies allein noch nicht aus, Jasons Verstoß zu verurteilen und ihre Rache zu legitimieren. Hierbei spielt nicht nur die Darstellung Ja-

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Hidalgo-Xirinachs 2002, S. 74ff Huang, Shi-zhong 2000, S. 275 Ebd., S. 276

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea sons bzw. der Grund seines Verrats, sondern auch der Konflikt der beiden Figuren eine entscheidende Rolle, was im dritten und vierten Akt zur Geltung gebracht wird. Im dritten Akt (Verlassen der Familie), der bei Euripides nicht vorhanden ist, tritt der Jason-Schauspieler in hellblauer Zivilkleidung des Rollentyps Wensheng (männliche Hauptrolle für einen vornehmen und gebildeten Mann) auf, welche auf seinen sozialen Status als gewöhnlicher Bürger hinweist. Damit unterscheidet er sich von seiner vorherigen edlen und heroischen Gestalt in Form des Rollentyps Wusheng (Krieger) aus den ersten zwei Akten, wodurch die Degradierung seiner hohen Abstammung angedeutet wird. Dementsprechend drückt er in den Dialogen mit den beiden Kindern sowie mit Medea seinen verdrießlichen Gemütszustand und seine Unzufriedenheit darüber aus, das Königreich seines Vaters zu verlieren und im Exil leben zu müssen. Außerdem sieht er keine Chance, jemals in seine Heimat zurückzukehren und die politische Stellung als Königssohn wieder zu erlangen. Er setzt daher all seine Hoffnungen auf seine beiden Kinder, welche es sich zur Lebensaufgabe machen sollen, die Machtposition und Ehre seiner königlichen Familie wieder herzustellen. Nachdem dadurch klar auf seine Ambitionen hingewiesen wurde, erscheinen König Kreon und dessen Tochter Glauke vor seiner Haustür. Mit ihrer kindlichen Stimme und ihrem eigenwilligen Verhalten, gibt sie sich als hässliche, verwöhnte und laszive Prinzessin zu erkennen, die im Kontrast zum respektablen und ernsten Charakter sowie der Schönheit der chinesischen Medea steht. Nachdem die Königstochter ein Auge auf Jason geworfen hat, bittet sie den Königsvater, ihn zum Abendmahl einzuladen, was sich schließlich als Vorwand für ihren Heiratsantrag herausstellt. Angesichts seiner zögernden Haltung verführt sie ihn mit einem prächtigen königlichen Gewand, welches sowohl Reichtum als auch königliche Macht symbolisiert. Es zeigt sich daher deutlich, dass er der Vermählung nicht aus Liebe, sondern allein zum Zweck der Wiedererlangung von Reichtum und Macht zustimmt. Diese Szene verweist nicht nur auf den eigentlichen Grund von Jasons Verrat, sondern legitimiert auch Medeas spätere grausame Rache an der königlichen Familie. Dadurch, dass die Königstochter ihn in Kenntnis seines Familienstandes dennoch auf aktive Weise verführt, entspricht sie der sog. „dritten Person“ (Di Sanzhe), die sich in eine Ehe einmischt und die Familie der anderen Frau zerstört. Unter dem tief greifenden Einfluss der konfuzianischen Sittenlehre wird die „dritte Person“ bis heute für den Ehebruch des Mannes verantwortlich gemacht und scharf angeprangert.145 Infolge

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Huang, Shi-zhong 2000, S. 250ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? der Anknüpfung an dieses im sozialen Kontext Chinas geltende Bild von der verhassten „dritten Person“ wird die Königstochter als Urheberin einer Freveltat verurteilt und König Kreon als ihr Komplize betrachtet. Ferner verstoßen die Beiden durch ihre selbstsüchtige Machtausübung gegen die konfuzianische Doktrin und erweisen sich dadurch als willkürliche Herrscher.146 Auf diese Art und Weise gewinnen Medeas Morde an der königlichen Familie eine soziale und politische Berechtigung. Im Unterschied dazu scheint Glauke bei Euripides auf Grund ihrer Abwesenheit unschuldig zu sein und durch die unkontrollierbare Eifersucht und den Hass ihrer Rivalen in die blutige Vergeltung hineingezogen zu werden. Während die Eifersucht Medeas bei Euripides sowohl vom Chor als auch von Jason als vordergründiges Rachemotiv Medeas formuliert wird,147 kommt dies in der chinesischen Aufführung überhaupt nicht zur Sprache vor. Dies liegt nicht nur daran, dass Jasons Verrat nicht mit Liebe zu einer Jüngeren begründet wird, sondern vor allem auch daran, dass die Eifersucht einer Frau zu den sieben Gründen gehört, wonach ein Mann seine rechtmäßige Frau auf legitime Weise verstoßen durfte. Insofern ist die bewusste Ausblendung dieser negativen Eigenschaft von signifikanter Bedeutung dafür, dass Jason keine Legitimation für die Scheidung zuteil werden kann. Dadurch, dass er auf Grund persönlicher Gier nach Reichtum und Macht seine Frau verstößt, wird dies als Unrecht verurteilt. Denn gemäß dem Sittengesetz von den „drei Bestimmungen gegen einen Verstoß“ (Sanbuqu) durfte ein Mann nach seinem politischen oder sozialen Aufstieg seine rechtmäßige Frau nicht verstoßen, wenn diese mit ihm eine schwierige Zeit durchgestanden hat.148 Obwohl die chinesische Medea nach diesem Gesetz dazu berechtigt ist, einen Einwand gegen seinen Verstoß zu erheben, verzichtet sie nicht nur auf das ihr zustehende Recht, sondern macht ihm noch nicht einmal Vorhaltungen wegen seines Verrats, als er 146

Die politische und rechtliche Ordnung Chinas basiert auf der konfuzianischen Lehre, wonach die Beziehung zwischen Herrscher und Untertanen sowie die beiderseitigen Verpflichtungen und Rechte festgelegt sind. Dies bedeutet, dass nicht nur der Kaiser, sondern auch die kaiserliche Familie entsprechend der konfuzianischen Doktrin handeln müsse, um gegenüber dem Volk als moralisches Vorbild auftreten zu können. Konfuzius’ Schüler und Nachfolger Menzius geht sogar soweit, das Volk zum Sturz eines Herrschers zu berechtigen, wenn dieser gegen die Rechtschaffenheit (Yi) verstößt. Siehe: Liew, Ten-Chin: The Unity of Rule and Virtue: a Critique of a Supposed Parallel Between Confucian Ethics and

147 148

Virtue Ethics, London/Singapur/Peking 2004, S. 146ff Foley 1989, S. 77ff Ebd., S. 69ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea ihr nach der neuen Vermählung wieder gegenübersteht. Während an dieser Stelle bei Euripides ein rhetorisches Tauziehen zwischen Medeas Vorwurf und Jasons Rechtfertigung stattfindet, wird bei Luo Jin-lin der Kampf um die beiden Kinder ins Zentrum des Konflikts der beiden Protagonisten gerückt: Nachdem König Kreon Medea und ihren beiden Kindern einen Tag Aufschub vor der Ausweisung aus dem Land gewährt hat, besucht Jason seine alte Familie. Er trifft zuerst die beiden Kinder allein, die aber kein Verständnis für seine Entscheidung zeigen und ihn weinend um seine Rückkehr bitten. Trotz seiner Vaterliebe lässt er sich jedoch nicht umstimmen, begründet dies erneut mit der Wiederherstellung der Ehre und Position seiner königlichen Familie und schärft ihnen stets die Erinnerung an ihre hohe Abstammung ein. Medea unterbricht die Zusammenkunft und veranlasst die Kinder, sich zurückzuziehen. Angesichts ihrer schweigsamen Selbstachtung und ihres verachtenden Blickes ihm gegenüber, ergreift er die Initiative und schiebt ihr die Schuld für die eigentlich durch ihn verursachte Verbannung zu. Ferner zeigt er keinerlei Interesse für den Grund ihres Zorns bzw. ihre ausweglose Situation und versucht sie zu überzeugen, dass es das Beste für die Kinder sei, bei ihm zu bleiben und eines Tages die Thronfolge anzutreten. Dies lehnt sie mit dem Argument ab, dass man mit der Erlangung von Macht und Reichtum im Königshaus immer in Intrigen verwickelt sei, weshalb sie die Kinder vor solchen blutigen Machtkämpfen bewahren wolle. Daraufhin kann er ihrem Argument nichts anderes entgegen setzen, außer ihren Einwand als unvernünftig zu bezeichnen und er tritt im Zorn ab. Im Gegensatz zu seiner vorherigen heroischen Gestalt, als er Medea gegenüber Liebe schwor und mit ihr gemeinsam alle gefährlichen Situationen des Lebens meistern wollte, schließt er sie hier nun völlig von seinen Zukunftsplänen aus. Es wird auch deutlich, dass er sie verlässt und verrät, weil er mit Hilfe der anderen Frau seine neue Zielsetzung verwirklichen kann. Dadurch, dass er seiner treuen Frau in keiner Weise Mitgefühl oder Dankbarkeit entgegen bringt, sondern lediglich nach seinem eigenen Vorteil handelt, gibt er sich als egoistischer Opportunist zu erkennen und löst damit beim chinesischen Publikum große Empörung aus. Denn der Nutzen bzw. Vorteil (Li), vor allem der selbstsüchtige Nutzen, ist im Konfuzianismus stets verpönt und wird als Antonym zur konfuzianischen Kardinaltugend Yi (Rechtschaffenheit) verwendet. Letzteres bedeutet moralisches Handeln im Sinne von Gerechtigkeit, Treue sowie Einhalten von Versprechungen und fungiert als ein Kriterium

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Westlicher Geist im östlichen Körper? für die Unterscheidung zwischen einem Edlen (Junzi) und einem Bösartigen (Xiaoren).149 Den Kindern gegenüber rechtfertigt er jedoch sein Interesse an Macht und Reichtum damit, dass die Ehre und Position seiner königlichen Familie einerseits wieder hergestellt und diese andererseits an die beiden Kinder weiter gegeben werden müsse. Seine Sippenpolitik beruht nicht nur auf der Adelspflicht, sondern stimmt auch mit dem traditionellen patriarchalischen Denken Chinas überein, wonach der politische und soziale Aufstieg zum Wohlstand und sozialen Prestige der Familie erstrebenswert ist und das Sorgetragen für die Nachkommenschaft zur Verewigung der Sippe als wichtigste Aufgabe angesehen wird. Daher ist gegen seine Ambitionen und Zielsetzungen an sich nichts einzuwenden, sondern nur gegen seine ungerechte und verwerfliche Vorgehensweise, denn der moralische Wert und die Ordnung des Gemeinwesens sollen nach Konfuzius eine höhere Priorität erhalten als das Streben nach Reichtum und Macht.150 An dieser Stelle ist das Argument der chinesischen Medea gegen seine Sippenpolitik von entscheidender Bedeutung, um den Zuschauern ihr gegenüber Sympathie zu ermöglichen. Denn obwohl sie unter dem Unrecht Jasons leidet, präsentiert sie sich ihm gegenüber weder als Opfer noch betont sie ihre eigenen, persönlichen Rechte. Stattdessen vertritt sie die traditionellen konfuzianischen Werte, wonach das Streben nach Macht und Reichtum geringer als Ethik und Moral geschätzt werden sollen. Auf diese Weise erscheint sie im Gegensatz zu ihm aufrichtig, rational, tugendhaft und selbstlos und verkörpert damit die konfuzianischen Ideale. Auch wenn die chinesische Medea selbst keine Kritik an Jasons Verrat ausübt, wird diese an ihrer Stelle vom Frauenchor bereits vor der Konfrontationsszene der beiden Protagonisten vorweg genommen: „Power and influence has made you greedy, Wealth and luxury have made you crool, You, the ungrateful man, You’ve spoiled the affections of your wife, You’ve trampled on the hearts of your children! Here, there remains no trace of honesty, The glow of oath’s turned dim...“151

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Gu, Xuewu: Konfuzius zur Einführung, Hamburg 1999, S. 78ff Ebd., S. 55ff Auszug aus dem Bühnenskript, 4. Akt

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Es lässt sich erkennen, dass dieses klare moralische Urteil auf den zwei ethischen Prinzipien des Konfuzianismus Xin (Verlässlichkeit) und Yi (Rechtschaffenheit) beruht, die beide in den englischen Untertiteln vereinfacht mit honesty übersetzt wurden. Der Frauenchor vertritt hier nicht nur die konfuzianische Ethik, sondern er verkörpert auch durch seine kollektive Einheit eine Stimme aus der Gesellschaft, die Jason scharf tadelt und verurteilt. Auf diese Art und Weise ist er nicht mehr nur ein betrügender Ehemann auf einer rein privaten Ebene, sondern er wird darüber hinaus als sozialer Feind eingestuft. Indem Jason die beiden Kinder für sich alleine beansprucht, ohne die geringsten Anzeichen von Mitgefühl oder Dankbarkeit für Medeas Verdienste an den Tag zu legen oder ihr seine Hilfe für das Leben im Exil anzubieten, ist ersichtlich, dass er nicht nur ihre Liebe und Loyalität ausgenutzt hat, sondern auch, dass er sie zu einem reinen Fortpflanzungswerkzeug degradiert hat. Diese neue Erkenntnis über ihn versetzt sie in einen Gemütszustand aus einer Mischung von tiefster Enttäuschung, Reue, Schamgefühl und Verzweifelung, was nach seinem Abtritt durch ihre mimische und tänzerische Solo-Darbietung zum Ausdruck gebracht wird. Dabei begleitet der Frauenchor sie mit dem Kommentar: „Oh, love used to decorate all you longed for. Oh, love, it’s ruined all you hoped for! Who could smash the fetters for women? Who could uphold the dignity of women? Where is the justice on the human world? Where is the way out for us women?“152

Somit spricht der Frauenchor nicht nur an ihrer Stelle, sondern er identifiziert sich auch mit ihr. Indem er ihr erleidetes Unrecht und Los als gemeinsames Problem aller Frauen darstellt, erscheint der Konflikt zwischen den beiden Figuren als ein Geschlechterkampf und Medeas späterer Gegenschlag gewinnt unmittelbar eine feministische Dimension. Mit den vier Fragestellungen schenkt ihr der Chor Mitleid und fordert ihr gegenüber gleichzeitig zur Gerechtigkeit auf.153 Trotzdem wird aber, wie bereits erwähnt, nach der chinesischen Konvention von einer tugendhaften Frau erwartet, dass sie die Gerechtigkeit nicht selbst durchsetzt, sondern dies einem ehr-

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Auszug aus dem Bühnenskript, 4. Akt Das Rechtsgefühl, das hier vom Frauenchor zum Ausdruck gebracht wird, gehört ebenfalls zur Ausübung von Yi, denn Konfuzius zufolge soll ein Edler immer mutig auftreten und gegen Dinge ankämpfen, die aus seiner Sicht ungerecht sind.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? baren Richter oder einem Gott überlässt. Da der unentbehrliche Ausgleich hier jedoch als offene Frage formuliert ist, deutet dies darauf hin, dass es keinen solchen Richter oder Gott gibt, der sich für Medea einsetzt, weshalb ihr nichts anderes übrig bleibt, als selbst aktiv zu handeln. Auf diese suggestive Weise wird sie quasi durch den Frauenchor dazu berechtigt, Jason zu bestrafen und dadurch die Gerechtigkeit wieder herzustellen. Im Vergleich dazu werden bei Euripides diese zwei Auswirkungen  nämlich das moralische Urteil gegenüber Jason und Mitleid gegenüber Medea  ebenfalls in derselben Konfrontationsszene zum Vorschein gebracht. Jedoch wird der Konflikt der beiden Protagonisten bei Luo Jin-lin anders dargestellt. Daher stellt sich die Frage, was wie und weshalb transformiert wird. Hier lassen sich vor allem zwei signifikante Abweichungen von der Originalfassung anführen: Zum einen zählt Euripides’ Medea-Figur sämtliche Verdienste gegenüber Jason auf, um ihm seine Undankbarkeit und seinen Eidbruch vorzuwerfen, worauf aber die chinesische Medea gänzlich verzichtet. Dies liegt nicht nur daran, dass ihre Wohltaten bereits in den ersten zwei Akten ausführlich dargestellt worden sind, sondern auch daran, dass die Aufzählung eigener Verdienste in der chinesischen Kultur als Prahlerei eingestuft und negativ bewertet wird. Nicht zuletzt sind die individuellen Bedürfnisse dem Gemeinwohl einer Einheit wie Familie, Gesellschaft und Staat untergeordnet und die Selbstlosigkeit gehört zur konfuzianischen Tugend,154 was bedeutet, dass die den eigenen Vorteilen bzw. Bedürfnissen dienenden Aspekte möglichst eliminiert werden müssen, um die Überzeugungskraft einer Aussage zu verstärken und eine Figur positiv darzustellen. Angesichts dessen erscheint die chinesische Medea umso aufrichtiger, tugendhafter und bemitleidenswerter, je weniger sie trotz des Erleidens großen Unrechts ihre Rechte beansprucht, sondern sich stattdessen mit Jason ausschließlich über die Frage nach der Zukunft der Kinder auseinandersetzt. Hinzu kommt, dass der Einwand gegen Jasons Verrat und das Eintreten für Medeas Rechte von unbeteiligten Beobachtern – dem Frauenchor – übernommen wird, wodurch das moralische Urteil gerechter und überzeugender erscheint. Bei Euripides rechtfertigt Jason außerdem seine neue Vermählung zwar mit der Sippenpolitik, aber er lässt dennoch die Kinder mit ihrer Mutter aus dem Land ausweisen, so dass schließlich unklar bleibt, was sie wirklich für ihn bedeuten. Im Gegensatz dazu sieht der chinesische Jason keine Notwendigkeit, ihr gegenüber seinen Verrat zu rechtfertigen und es wird deutlich, dass sein einziges Interesse bei der Auseinandersetzung bloß darin besteht, dass die

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Gu 1999, S. 57ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Kinder bei ihm bleiben. Dies bringt sie schließlich zu der Erkenntnis, dass der Tod der beiden Kinder für ihn die schlimmste Strafe bedeutet. Insgesamt wird dadurch die Motivation des Kindermordes im Vergleich zu Euripides plausibler verdeutlicht. Dies bedeutet, dass der Transformationsprozess in der Darstellung des Konflikts der beiden Protagonisten hauptsächlich darin besteht, dass Jasons selbstsüchtige Motive hervorgehoben werden und die auf persönliche Interessen bezogenen Elemente bei der Aussage von Euripides’ Medea-Figur möglichst herausgefiltert werden. Denn das moralische Urteil über eine Figur ist in der chinesischen Kultur davon abhängig, ob diese in Übereinstimmung mit dem ethischen Prinzip des Konfuzianismus Yi (Rechtschaffenheit) oder im Gegensatz dazu zum eigenen Nutzen (Sili) handelt. Indem Jasons Verrat mit seiner persönlichen Gier nach Macht und Reichtum begründet wird und indem sich der Konflikt auf den Rechtsstreit im Kampf um die Kinder verlagert sowie die Kritik an Jason vom Frauenchor übernommen wird, kann bei den chinesischen Zuschauern eine sittliche Entrüstung gegenüber ihm und Mitleid gegenüber Medea erweckt werden. Auf diese Art und Weise kann auch die chinesische Medea, in Übereinstimmung mit Euripides, letztendlich die Legitimation für ihre Rache erlangen. II.1.2.4.3 Legitimation des Kindermordes Obwohl die Bestrafung Jasons durch den Kommentar des Frauenchors als unentbehrlich für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit dargestellt wird, ist dadurch Medeas Kindermord jedoch nicht legitimiert und bedarf einer nachvollziehbaren Erklärung. Nach der Konfrontationsszene der beiden Protagonisten wird die Rachetat sukzessive in drei Schritten vollzogen und von Medea selbst begründet: Erstens veranlasst Kreon nach Jasons Abgang im vierten Akt, Medea und die beiden Kinder doch sofort aus dem Land zu vertreiben. In der durch Zeitdruck hervorgerufenen Notsituation schickt sie die Kinder in den Palast, um das Erbstück ihres göttlichen Vorfahren Helios an die Königstochter zu überreichen, so als ob sie damit die Aufnahme der Kinder in den Palast bezwecken wollte. Anschließend offenbart sie der Amme gegenüber ihre Intrige und gibt ihr zugleich zu verstehen, dass sie aus tiefster Enttäuschung und Verzweiflung dazu bereit ist, die Kinder als Bestrafung Jasons zu opfern, selbst wenn dies sie selbst schwer trifft: „Under the current circumstances, There is nothing worth treasuring!

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Westlicher Geist im östlichen Körper? I will have Jason lose everything as I have! Until he’s lost last hope – his own children.“155

Da zuvor keine Rede von der Absicht des Kindermords war und ihre Rache auf diese hastige Weise umgesetzt wird, kann ihre Vorgehensweise nicht auf einem sorgfältigen Plan beruhen. Obwohl dieser zweite Verbannungsbefehl den Wendepunkt von ihrer Rolle als Opfer hin zur Täterin markiert, muss die eigentliche Ursache hierfür jedoch auf Jason zurückgeführt werden. Denn ihren Emotionsausbrüchen als Tatmotiv steht eine ganze Reihe seiner ungerechten und unmenschlichen Verhaltensweisen gegenüber, die bereits in der vorherigen Szene zutage getreten sind, indem er ihre Wohltaten mit Verrat und Undankbarkeit vergilt und den Wert und Nutzen von Frauen und Kindern nur im Fortbestand seiner Nachkommenschaft sieht und ihr letztlich sogar noch die beiden Kinder wegnehmen will. Zusammen mit dem Landesverweis durch Kreon entzieht er ihr damit jede Existenzmöglichkeit und gibt ihr dadurch indirekt den letzten Impuls, ihn mit sich in den Untergang zu reißen. Zweitens folgt im fünften Akt das Hin und Her zwischen den hervorbrechenden Muttergefühlen und dem Bewusstsein der bevorstehenden Ermordung der Kinder. Als sie von ihren mütterlichen Gefühlen überwältigt wird und deswegen ihr Vorhaben aufgibt, warnt sie der Bote in Jasons Auftrag vor der Verfolgung der Korinther und teilt ihr damit die Anweisung mit, seine Nachkommen in Sicherheit zu bringen. Dass er Medeas Existenz völlig außer Acht lässt und offenbar glaubt, ihre bedingungslose Mutterliebe zur Sicherung seiner Nachkommenschaft ausnutzen zu können, versetzt sie in Zorn und Hass, so dass sie ihr schreckliches Vorhaben erneut in die Tat umsetzen will. Es ist daher wiederum Jasons Missachtung und Anmaßung, die sie dazu veranlassen, gegen seine Wünsche und Interessen zu agieren. Drittens zeigt die nachfolgende Monolog-Szene, wie sie beim der Vollzug ihrer Rachetat noch einmal mit ihren Muttergefühlen kämpft. In diesem Moment wird die Verfolgung der Korinther durch Geschrei hinter den Bühnenkulissen signalisiert. Daraufhin legt sie sich eine neue Begründung zurecht, der zufolge sie lieber die Kinder selbst umbringt, als diese den Feinden zu überlassen. Danach gibt es kein Zurück mehr und die Ermordung wird auf der Bühne mit ihrem Zauberfächer als Tatwaffe ausgeführt. Unter Berücksichtigung ihrer Zauberkraft kann die Rache der Korinther nicht als eigentliches Tatmotiv gelten, da Medea wohl imstande sein müsste, die Kinder vor der Tötung durch die Feinde zu bewahren. Trotzdem ist dieses Argument für die Notwendigkeit des Kindermords konzi155

Auszug aus dem Bühnenskript, 4. Akt

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea piert, denn es wird in einer Szene eingesetzt, in der Medea wieder zögert, ihr schreckliches Vorhaben tatsächlich auszuführen. Durch das neue Argument wird sie wieder zu ihrem vorherigen Entschluss in Form des Kindermords gedrängt. Anhand dieser drei Schritte ist zu erkennen, dass ihr Kindermord vielmehr auf Grund der äußeren Umstände als durch eine Rachsucht aus innerem Antrieb vollzogen wird. Dabei ist Jasons menschenunwürdige Geringschätzung und Ausbeutung zum Zweck des Fortbestandes seiner Nachkommenschaft für sie ausschlaggebend, um ihn kinderlos zu machen und damit zu vernichten. Obwohl der zweite Landesverweis durch Kreon und die Verfolgung durch die Korinther vielmehr als Zeitverknappung fungieren, bilden sie zusammen mit Jasons Anmaßung eine Zwanghaftigkeit, die Medea immer mehr in die Enge treibt und ihr noch mehr Leid zufügt, so dass sie sich schließlich zum Handeln gezwungen sieht. Diese drei Zwänge stellen wichtige Faktoren bei der Klärung der Schuldfrage Medeas dar und müssen daher bei der Gesamtbeurteilung der Legitimation des Kindermordes berücksichtigt werden. Der Kindermord wird bei Euripides’ Version jedoch nicht als Notwehr dargestellt oder damit gerechtfertigt, sondern er gehört dort zu Medeas sorgfältigem Racheplan, den sie umzusetzen beginnt, nachdem sie sich einen Zufluchtsort für die Zeit nach dem Mord gesichert hat. Dabei ist es nicht Jasons Anspruch auf die Kinder, der den letzten Ausschlag zum Kindermord gibt, sondern Aigeus, der unter Kinderlosigkeit leidende König von Athen. Denn dieser bringt sie einerseits zu der Erkenntnis, welch große Bedeutung die Nachkommenschaft für die Männer hat; andererseits gewährt er ihr Asyl, wodurch sich die Situation zu ihren Gunsten wendet und sie sich vom Opfer zur Täterin wandelt. Die AigeusSzene wird aber in der chinesischen Aufführung gestrichen und stattdessen wird der zweite Landesverweis Kreons hinzugefügt, wodurch sie noch mehr in die Enge getrieben wird und somit den Weg zur Täterin einschlägt. Da die chinesische Medea für ihr weiteres Vorgehen nun nicht mehr die Fluchtmöglichkeit in Erwägung zieht bzw. diese auch nicht mehr in Aussicht steht, beruht ihre Instrumentalisierung der Kinder für die heimtückische GeschenkÜbergabe nicht auf einem Plan ohne Risiko des eigenes Lebens, sondern ist letztlich eine Verzweiflungstat. Denn im Angesicht der drohenden Verbannung bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Kinder in jenes Haus zu schicken, das ihnen den Tod bringen wird, um überhaupt eine Rache zu ermöglichen. Auf Grund dieses Umstandes erscheint die chinesische Medea trotz der Täterrolle immer noch bemitleidenswert. Das Rachemotiv des Kindermordes liegt bei Euripides’ Medea ihrem Charakter zugrunde, der nicht zuletzt von heroischem Be-

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Westlicher Geist im östlichen Körper? wusstsein und göttlicher Abstammung geprägt ist. Somit zeichnen sich die heroischen Motivationselemente in den zwei Begründungen ab, die sie jeweils nach der Aigeus-Szene dem Chor gegenüber und vor der Benachrichtigung des Todes der Königsfamilie abgibt, als sie mit den Kindern allein auf der Bühne ist. Nach der ersten Begründung soll sie keiner „für gering und schwach halten“ und sie will „schrecklich für die Feinde“ sein, denn nur solche Menschen haben ihrer Ansicht nach ein „ruhmvolles Leben“.156 Bei der letzten Begründung formuliert sie die Furcht vor dem Gelächter ihrer Feinde und der Feigheit, welche für sie Nachgiebigkeit gegenüber ihren mütterlichen Gefühlen darstellt. 157 Daraus geht hervor, dass die Kinder für ihre heroische Ehre und ihren Stolz geopfert werden. Dieses aus innerem Antrieb entspringende Rachemotiv wird jedoch bei der chinesischen Medea voll und ganz ausgeblendet. Ferner rücken die äußeren Umstände in Form von Jasons Anmaßung und Verfolgung der Korinther an die Stelle des heroischen Bewusstseins und treiben sie zum Mord an, so dass der innere Kampf auf die Schwankung zwischen den Muttergefühlen und den Zwängen von außen verlagert wird. Es stellt sich heraus, dass die Autonomie bzw. Verantwortung für die Freveltat durch die Ausfilterung der in chinesischen Augen negativen individuellen und charakterlichen Faktoren von Euripides’ Medea-Figur und die Ausdehnung der äußeren Umstände abgemildert wird. Schließlich spielt Medeas Göttlichkeit bei Euripides die entscheidende Rolle für die Motivation und Legitimation des Kindermordes. Indem Jasons Verletzung des heiligen Eids das göttliche Recht ignoriert und sich sein Vergehen als Hybris erweist, sieht sich Medea als Enkelin des Sonnengottes berufen, eine Sanktion an ihm zu verhängen, um die göttliche Ordnung der Gerechtigkeit wieder herzustellen. Die handlungsrelevante Integration des Sonnengottes Helios als Motivationselement lässt sich nicht nur in der Abstammung finden, sondern sie zeichnet sich auch in den Geschenken und dem rettenden Drachenwagen ab.158 Dass sie nach dem Kindermord wie ein Gott in den Himmel aufsteigt und triumphierend entflieht, verweist darauf, dass sie über die göttliche Legitimation für ihre exzessive Rachetat verfügt und ihre Selbstherrlichkeit der göttlichen Willkür gleicht.159 Im Unterschied dazu wird der göttliche Vorfahr (Helios) zwar in die chinesische Medea-Aufführung integriert, aber er wird nur an

156 157

Euripides: „Medea“, Zeile 807-810 Ebd., Zeile 1048-1051

158

Schmierer, Britta: Motivation in Medeatragödien der Antike und der Neuzeit, Würzburg 2005, S. 43ff Schlesier 1998, S. 7ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea zwei Stellen erwähnt, einmal im zweiten Akt vom Pädagogen bei der Vorstellung von Medeas Identität und einmal bei der GeschenkÜbergabe. Dabei zeigt sich, dass sowohl der Sonnenwagen als auch die verbalen Äußerungen in Form von Kritik an Jasons Hybris, die eigene Behauptung hoher Abstammung und die feste Überzeugung von göttlicher Beihilfe zur Durchführung der Rache ausgelassen sind. Infolgedessen verlieren die zwei noch übrig gebliebenen göttlichen Elemente die Anknüpfung an die göttliche Satzung und können daher nicht mehr dazu beitragen, ihre Rachetat zu motivieren oder zu legitimieren. Denn die auf die göttliche Berufung bezogene Aussage von Euripides’ Medea steht in Wechselwirkung mit der göttlichen Präsenz in Form von Geschenken und des Drachenwagens, wodurch der Kindermord als göttliche Sanktion erscheint. Entgegen der religiösen Anschauung des antiken Griechenland beruht der chinesische Glaube auf der gerechten Belohnung bzw. Bestrafung im Sinne der buddhistischen Karma-Vorstellung. Demzufolge wird die Gerechtigkeit durch Götter durchgesetzt – wenn nicht in dieser, dann in der nächsten Existenz – was ein passives Sich-Abfinden mit dem in diesem Leben zu erleidenden Unrecht fördert. Indem die chinesische Medea aber über die Inkompetenz der Götter klagt und verzweifelt Gerechtigkeit fordert, verdeutlicht sich, dass es nicht die göttliche Berufung, sondern vielmehr die Abwesenheit der Götter ist, die sie dazu berechtigt, aktiv zu handeln. Andererseits ist es auch nicht allein Jasons Eidbruch, der sie zum Kindermord motiviert, sondern seine weitere Anmaßung, welche zusammen mit Kreons Exil die patriarchalische Unterdrückung verkörpert. Indem sie durch solche massiven äußeren Zwänge zur Rache genötigt wird, stellt ihr im Kindermord mündender Widerstand ein verhängnisvolles Resultat dar. Überdies besteht das Endergebnis, anstatt in einem triumphierenden Abgang, in der Trauer um die beiden Kinder und der Bewachung der Leichen vor Jasons Annäherung,160 so dass letztendlich beide Parteien Verlierer sind. Auch wenn die Frage offen bleibt, ob sie für ihren Frevel von den Göttern bestraft wird, stellt der Kindermord jedoch bereits gleichzeitig eine Selbstbestrafung dar und sorgt somit für einen Ausgleich. Hinzu kommt, dass der Frauenchor im Schlusskommentar den Grund des tragischen Ereignisses auf die „göttliche Bestimmung“ zurückführt. Dies verweist auf die göttliche Ordnung, welche in Einklang mit dem chinesischen Glauben an Gerechtigkeit und Harmonie steht. Dies bedeutet, dass der Transformationsprozess von Euripides’ Medea in Bezug auf die Legitimation des Kindermords darin besteht,

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Siehe Anhang, Abb. 3

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Westlicher Geist im östlichen Körper? die göttliche Berufung bzw. Rachsucht aus ihren inneren Trieben herauszufiltern und stattdessen vielmehr auf die äußeren Umstände zu übertragen. Auf diese Weise lässt sich ihre Rachetat mit der Notwendigkeit und ihrem Verhängnis rechtfertigen, was sie unmittelbar von der Schuld entlastet. Die Hervorhebung ihres Leides unter dem Verlust der Kinder erweckt ihr gegenüber Verständnis und Mitleid, was durch den begleitenden Kommentar des Frauenchors zum Ausdruck gebracht wird. Dennoch bleibt fraglich, ob der Kindermord mit ihrer göttlichen Herkunft legitimiert werden kann. Während die antiken griechischen Götter den Menschen in ihrem Charakter ähneln und willkürlich nach eigenen Interessen handeln, besitzen die chinesischen Götter weder einen menschlichen Charakter noch menschliche Empfindungen, auch wenn viele Götter ursprünglich von Menschen abstammen.161 Angesichts der Heiligkeit und Unnahbarkeit der Götter gilt eine Heirat oder Fortpflanzung mit Menschen als Sakrileg, weshalb keine halbgöttlichen Wesen existieren.162 Ferner zeichnen sie sich durch ihre Selbstlosigkeit und Aufopferung für das Wohlwollen der Menschen aus und präsentieren sich gemäß der konfuzianischen Ethik als moralische Vorbilder.163 Da sie tolerant, barmherzig und gerecht sind, verüben sie keineswegs exzessive Strafen wie etwa einen Kindermord. Anders formuliert, sobald ein Gott einen Fehler begeht, wird er nach chinesischer Vorstellung vom Hauptgott, dem sog. „Himmelskaiser“ zu einem Dämonen oder Menschen degradiert, so dass die Götterwelt rein bleibt und die göttliche Gerechtigkeit über alle Zweifel erhaben ist.164 Daraus geht hervor, dass die chinesische Medea hinsichtlich ihrer halbgöttlichen Gestalt und exzessiven Rache eindeutig aus dem Rahmen der chinesischen Göttervorstellung fällt. Obwohl die individuellen Interessen und das Bewusstsein für Heldenruhm von Euripides’ Medea herausgefiltert werden, kann sie in der chinesischen Kultur in keiner Weise als Göttin anerkannt werden, sobald sie an Unschuldigen 161

Lu, Hui/Dong Xiao-fan: „Shanggu shenhua yu zhongguo gu shenhua lunli zhi bijiao“ („Vergleich zwischen der griechischen und chinesischen Mythologie unter dem Gesichtspunkt der Ethik“), in: Public Science, Nr. 19, 2007, S. 206

162

Zujishou (Künstlername): „Duibi dongxi fang shenhua shen kang zhongxi shengmei chayi“ („Durch den Vergleich der chinesischen und westlichen Mythologie, die ästhetischen Unterschiede zwischen Ost und West be-

163

trachtend“), in: http://article.hongxiu.com/a/2008-2-5/2541037.shtml [Stand: 05.02.2008] Zhang, Qin-wen: „Chinese and Greek Mythology reviewed from a modern

164

perspective“, in: Journal of Shaanxi University of Technology (Social Sciences), Vol. 25, No. 1, Feb. 2007, S. 12 Zujishou, a.a.O.

146

Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea willkürliche Rache verübt. Wohl in Anbetracht dieser unlösbaren Diskrepanz zwischen den religiösen Vorstellungen Chinas und dem antiken Griechenland, übernimmt der Regisseur Luo Jin-lin den griechischen Begriff „Rachegöttin“ 165 , um die Göttlichkeit seiner Medea-Figur auf sprachlicher Ebene zu rechtfertigen.166 Da sie aber nicht die Charakteristika der griechischen Götter besitzt, lässt sich folgern, dass Luos Bezeichnung als „Rachegöttin“ vielmehr dazu dient, die exzessive Rache der Fremdheit ihrer göttlichen Identität zuzuschreiben bzw. den Kindermord plausibel zu gestalten, als diese Tat zu legitimieren. Die dargelegte Analyse zeigt, dass der Transformationsprozess von Euripides’ Medea-Figur in der chinesischen Aufführung auf zwei scheinbar einander entgegen gesetzten Ebenen stattfindet: Einerseits wird Euripides’ Medea der chinesischen Theaterkonvention und Ästhetik so angepasst, dass durch die Unterstreichung ihrer positiven und tugendhaften Charakterzüge Sympathien geweckt werden. Auf der anderen Seite widersetzt sie sich der traditionellen Frauenrolle, indem sie zur Täterin wird und sie bricht damit gleichzeitig die Theaterkonventionen in Form der strikten Aufteilung der Rollentypen. Damit verkörpert sie ein neues Frauenbild, welches sich eindeutig von den konfuzianischen Moralvorstellungen unterscheidet. Dadurch, dass das Ende offen bleibt und weder (wie bei Euripides) eine triumphale Flucht noch eine (nach chinesischen Theaterkonventionen übliche) göttliche Sanktion stattfindet, bleibt das moralische Urteil über sie ambivalent, was letztlich doch Euripides’ Version nahe kommt. Dadurch konnte sich der Regisseur der traditionellen chinesischen Theaterkonvention in Form eines Happy Ends entziehen und die binäre Struktur von Opfer und Täter bzw. Gut und Böse ebenfalls durchbrechen, ohne bei den chinesischen Zuschauern Sympathien für seine Medea-Figur zu verspielen.

165

Die Bezeichnung „Rachegöttin“ geht zurück auf die in der griechischen Mythologie vorkommenden „Eumeniden“, die bei den Römern „Furien“ genannt wurden. In der chinesischen Kultur gibt es jedoch keine vergleichbaren Vorstellungen, weil die chinesischen Götter sowie Göttinnen absolute Gerechtigkeit verkörpern. Entsprechend konnte Luo nicht auf gleichbedeutende chinesische Begriffe zurückgreifen, sondern er musste sich auf chinesische Übersetzungen antiker griechischer Dramen und Mythen beziehen. Luo verweist darauf, dass er mit Medea eine „chinesische Rachegöttin“ schaffen wollte, die sich von den negativ besetzten Vorstellungen über griechische Rachegöttinnen unterscheiden soll. In der Tat wirkt seine Medea-Figur wesentlich sympathischer und damit positiver

166

als griechische Rachegöttinnen, die als launisch angesehen werden und eine dämonische Erscheinung besitzen. Vgl. Lu/Dong 2007, S. 207 Luo 2002, a.a.O.

147

II.2 LOULAN NÜ ALS MEDEA DER TAIWANESISCHEN REGISSEURIN LIN XIU-WEI II.2.1 Lin Xiu-wei und die Contemporary Legend Theater Company Die Vorgeschichte, die zur Aufführung von Euripides’ Medea als Loulan Nü führte, hängt mit der engen Beziehung der taiwanesischen Regisseurin Lin Xiu-wei und der Contemporary Legend Theater Company zusammen. Um den Hintergrund der Entstehung der taiwanesischen Aufführung von Euripides’ Medea als Loulan Nü (Loulan-Prinzessin, engl. Titel: The Princess of Lolan)167 zu erläutern, muss zunächst kurz die Biographie der Regisseurin Lin Xiu-wei und ihre Beziehung zur Theatergruppe Contemporary Legend Theater Company vorgestellt werden. Lin Xiu-wei erhielt eine Tanzausbildung durch den Choreographen Lin Huai-min, zu der unterschiedliche Tanzrichtungen wie die Martha Grahams, klassisches Ballett, Tai Chi, Yoga und der Kung-Fu-Stil der Peking-Oper gehörten. Nachdem sie zehn Jahre lang als Tänzerin für die Cloud Gate Dance Company unter der Leitung von Lin Huai-min gearbeitet hatte, nahm sie in New York an einer Weiterbildung für Choreographen teil. Der Aufenthalt in den USA brachte sie dazu, sich von allen Tanzstilen zu befreien und nach einer Einheit von Körper und Natur zu suchen.168 Daraufhin gründete sie 1988 in Taiwan das Tai-gu Tales Dance Theatre, mit dem sie sich nicht nur besonders auf das

167

168

Anmerkung: Loulan wird im englischsprachigen Programmheft als Lolan angegeben, weil in Taiwan ein anderes Umschriftsystem für romanische Buchstaben verwendet wird als in Festland-China. Da in Taiwan die englische Schreibweise für die Namen uneinheitlich auf zwei Systemen basiert, beziehe ich mich in dieser Arbeit ausschließlich auf das Umschriftsystem Festland-Chinas, um alle meine Übersetzungen zu vereinheitlichen. N.N.: „Biographie von Lin Xiu-wei“, in: http://www.cyberstage.com.tw/ troupe/troupe_page.asp?id=1111&ap=2 [Stand: 12.01.2006]

148

Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Yin-Yang-Prinzip konzentrierte, sondern auch auf den inneren Rhythmus des Körpers, um hierdurch nach eigener Aussage „universale Emotionen“ zum Ausdruck zu bringen, so dass ihr Tanzstil demnach als „archaisch“, „rituell“, „spirituell“ und „mysteriös“ beschrieben wird.169 Lin Xiu-wei choreographiert nicht nur für ihr eigenes Tanzensemble, sondern sie prägte mit ihrem archaischen Tanzstil auch fast alle interkulturellen Produktionen der Contemporary Legend Theater Company mit, welche ihr Mann Wu Xing-guo im Jahre 1986 gegründet hatte. Obwohl Loulan Nü ihre erste und einzige Regiearbeit für die Contemporary Legend Theater Company darstellt, spielen Wu Xing-guo und sein Ensemble für die Verknüpfung von PekingOper und westlichen Dramen jedoch eine wesentlich wichtigere Rolle als Lin Xiu-wei selbst, weshalb ich auf den Hintergrund, die Zielsetzung und die interkulturellen Produktionen der Beiden näher eingehen möchte. Wu Xing-guo wurde als Wusheng (männlicher Rollentyp für Kampf-Figuren) der Peking-Oper ausgebildet und arbeitete ebenso wie Lin Xiu-wei als Tänzer für die Cloud Gate Dance Company. Da er sowohl mit der Cloud Gate Dance Company als auch mit der traditionellen Peking-Oper-Theatergruppe Lugua auf Auslandstournee ging, hatte er Gelegenheit, die unterschiedlichen Reaktionen der westlichen Zuschauer aufzunehmen, wie er folgendermaßen beschreibt: „Während die ‚Cloud Gate Dance Company‘ als eine nicht festgelegte, professionelle Tanzgruppe angesehen wurde, wurde die traditionelle Peking-OperTheatergruppe aus reiner Neugier auf fremde Kulturen betrachtet. Dieser Vergleich und die unterschiedliche Bewertung brachten mich dazu, die PekingOper zu erneuen und weltweit zu verbreiten, damit ihr internationales Renommee als Kunstform gesteigert werden kann.“170

Durch diese Konfrontation mit den Wahrnehmungen der westlichen Zuschauer kam er zu der Erkenntnis, sich von der „reinen“ traditionellen Theaterkunst loslösen zu müssen, um sich von dem exotisierenden und neugierigen Blick zu befreien und auf der internationalen Bühne künstlerisch vollwertig anerkannt zu werden.

169

N.N.: „Einführung zur Tai-gu Tanztheatergruppe“, in: http://www.cyber-

170

stage.com.tw/troupe/troupe_page.asp?id=1111&ap=0 [Stand: 12.01.2006] Hu, Hui-zen: „Yuwang chengguo shinian, Wu Xing-guo huisou fei chuantong de yishi“ („Zehn Jahre ,The Kingdom of Desire‘ – Rückblick von Wu Xing-guo auf den Beginn der ,Nicht-Tradition‘“), in: Performing Arts Review, Nov. 1996, S. 24f

149

Westlicher Geist im östlichen Körper? Neben den Auslandserfahrungen trugen aber auch Probleme innerhalb der Peking-Oper selbst dazu bei, dass Wu Xing-guo nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen suchte. Diese bestanden in einer abnehmenden Zahl an Zuschauern, veralteten Inhalten der Peking-Oper und der Konkurrenz durch Fernsehen und Kino, weshalb die Peking-Oper-Schauspieler seit den 1970er Jahren immer weniger Zukunftsperspektiven hatten und die Peking-Oper immer mehr als „Museums-Kunst“ konserviert wurde.171 Um daher die PekingOper zu revitalisieren und ihr internationale Präsenz zu verschaffen, versuchte Wu Xing-guo nicht nur die alten Operndramen neu zu interpretieren, sondern auch westliche Dramen zu adaptieren. Um dies zu erreichen, strebte er eine neue Form von Gesang, Tanz und Theater an. Zu diesem Zweck wurden neue Inhalte auf der Grundlage der modernen Lebenserfahrung entwickelt, um dadurch das Interesse der jungen Generation zu wecken.172 Bevor die Contemporary Legend Theater Company gegründet wurde, entstanden bereits seit Ende der 1970er Jahre einige Peking-Oper-Theatergruppen, die eine Revitalisierung und Modernisierung der Peking-Oper anstrebten. Hierbei leistete besonders die Gruppe Yayin Xiaoji Pionierarbeit, die 1979 von Guo Xiao-zhuan gegründet wurde. So wurden bei den Aufführungen klassischer chinesischer Dramen moderne bzw. westliche Elemente in den Bereichen von Licht, Bühnenkulissen und Musik eingesetzt, wofür Yayin Xiaoji einerseits vom älteren Peking-Oper-Publikum heftig kritisiert wurde, andererseits aber auch immer mehr junge Zuschauer hinzugewinnen konnte. Somit wies der Erfolg beim jungen Publikum einen neuen Weg für die Weiterentwicklung der Peking-Oper, so dass andere Peking-Oper-Gruppen wie z.B. Shenlan oder Xing Sendai ähnliche Versuche unternahmen. 173 Während jedoch Yayin Xiaoji und andere Peking-Oper-Gruppen ausschließlich klassische chinesische Dramen mittels moderner Bühnenausstattung neu interpretierten, adaptierte die Contemporary Legend Theater Company eine Reihe westlicher Dramen und kombinierte sie mit der Peking-Oper, was es bis dahin in Taiwan noch nicht gegeben hatte. Die Folge dieser unterschiedlichen Herangehensweisen war, dass alle Gruppen, die weiterhin auf der Grundlage von klassischen chinesischen Dramen die Peking-Oper reformierten, im Ausland unbekannt geblieben 171

N.N.: „Einführung in die Contemporary Legend Theater Company“, in: http://www.cl-theatre.com.tw/inpage1.asp [Stand: 12.01.2006]

172

Programmheft zu „Medea – The Princess of Lolan“, Taipei u. Singapur 1996 Huang, Qian-ling: Kua wenhua gaibian de xiandai Taiwan xiqu (Transkul-

173

turelle Adaption des zeitgenössischen taiwanesischen Xiqu), Magisterarbeit in Theaterwissenschaft an der Taiwan National University 2001, S. 30ff

150

Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea sind, während die Contemporary Legend Theater Company dadurch bekannt wurde, indem sie westliche Dramen mit der Peking-Oper kombinierte. Obwohl das Repertoire der Contemporary Legend Theater Company aber auch zeitgenössische taiwanesische Theaterstücke sowie historische chinesische Dramen umfasst, konnte sie jedoch mit solchen Aufführungen bisher keine Auslandstournee absolvieren.174 Dies deutet darauf hin, dass die Kombination von westlichen Dramen und Peking-Oper ein vielversprechendes Konzept darstellt, um den Zugang zur internationalen Theaterbühne zu ermöglichen. Der erste Versuch der Contemporary Legend Theater Company bestand in einer Adaption von Shakespeares Macbeth, die unter dem Titel The Kingdom of Desire aufgeführt wurde. Seit der Uraufführung im Jahre 1986 konnte sie nicht nur in Taiwan einen Erfolg verbuchen, sondern auch bei internationalen Theaterfestivals wie in Großbritannien, Deutschland, Niederlande, Frankreich, Chile, Südkorea, Japan und USA. So entstanden weitere Adaptionen westlicher Dramen wie 1990 Revenge of the Prince (Shakespeares Hamlet), 1993 Loulan Nü (Euripides’ Medea), 1995 Oresteia (Aischylos), 2001 die Solo-Performance King Lear (Shakespeare), 2004 The Tempest (Shakespeare) und 2006 Waiting for Godot (Samuel Beckett). 175 Anhand dieser Auflistung wird ersichtlich, dass Shakespeares Stücke und die altgriechischen Tragödien eindeutig die am häufigsten adaptierten westlichen Dramen der Contemporary Legend Theater Company darstellen. Dabei erlangten vor allem die beiden Aufführungen der griechischen Tragödien Loulan Nü (1993) und Oresteia (1995) große Aufmerksamkeit in den taiwanesischen Medien. Hierfür spielt die Medea-Aufführung des japanischen Regisseurs Yukio Ninagawa, die im Jahre 1993 in Taipei gastierte, eine maßgebliche Rolle. Noch bevor das Gastspiel eintrat, erschien plötzlich die bis dahin in Taiwan weitgehend unbekannt gebliebene chinesische Übersetzung von Euripides’ Medea zu Promotionszwecken in sämtlichen Buchläden. Mit Begeisterung nahmen die taiwanesischen Zuschauer Ninagawas Aufführung auf und das Interesse an griechischen Tragödien stieg sprunghaft an. Anschließend fand noch im selben Jahr die Uraufführung von Loulan Nü in Taipei statt und die Medien konzentrierten sich insbesondere darauf, sie in jeder Hinsicht mit Ninagawas Medea zu vergleichen.176 Indem sich die Medien bei ihren Beschrei-

174

N.N.: „Einführung in die Contemporary Legend Theater Company“, in: http://www.cl-theatre.com.tw/inpage1.asp [Stand: 12.01.2006]

175 176

Ebd. Cao, Yun-yi: „,Loulan Nü‘ huwai xiu“ („,Loulan Nü‘ Open-Air Show”), in: Lianhe bao (Zeitung der Vereinigung), 27.06.1993

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Westlicher Geist im östlichen Körper? bungen, Kommentaren und Beurteilungen über Loulan Nü immer wieder darauf bezogen, rückte Euripides’ Medea in den Hintergrund und Ninagawas Medea-Aufführung scheint damit als das „Original“ zu gelten. Inwiefern diese Inszenierung von Ninagawa beeinflusst wurde, wird in Kapitel II.2.4 näher untersucht. Bei allen Inszenierungen klassischer westlicher Dramen der Contemporary Legend Theater Company führte Wu Xing-guo selbst Regie, jedoch mit Ausnahme der griechischen Tragödien. Dass er seiner Frau die Regiearbeit für die Aufführung von Euripides’ Medea“ überlässt, begründet er folgendermaßen: „The play has often been performed with a male lead and a male director. We wanted to have a woman’s perspective.“177 Zwar assistierten Lin Xiu-wei bei ihrem Regie-Debut noch drei männliche Co-Regisseure, jedoch sollte bei der taiwanesischen Medea-Adaption Loulan Nü nicht zuletzt durch die Rollenbesetzung der Medea mit der Peking-OperSchauspielerin Wei Hai-min ein deutlich feministischerer Akzent gegenüber Yukio Ninagawas Adaption gesetzt werden, bei der die weibliche Hauptrolle von einem Mann gespielt wurde.178 Diese Vorstellung geht implizit davon aus, dass eine Frau zwangsläufig eine feministische Ansicht vertreten würde, was m.E. jedoch fragwürdig ist. Denn eine feministische Anschauung bzw. ein patriarchalisches Denken sind nicht notwendigerweise fest an die jeweiligen biologischen Geschlechter gebunden. Inwiefern Lin Xiu-wei bei der Interpretation von Euripides’ Medea feministische Inhalte einbringt und diese in der Aufführung deutlich werden, ist daher bei der Aufführungsanalyse zu überprüfen. Lin Xiu-weis Biografie gibt zu erkennen, dass sie zuvor weder über Regie-Erfahrungen im Sprechtheater-Bereich verfügte noch sich mit antiken griechischen Dramen oder Theater beschäftigt hatte. Ihr Interesse an Euripides’ Medea geht stattdessen allein auf ihren Besuch der Medea-Aufführung von Yukio Ninagawa 1987 in New York zurück.179 Laut Lin Xiu-wei bestand die Zielsetzung für die Adaption von Euripides’ Medea von Anfang an darin, „für den Peking-Oper-Star Wei Hai-min eine Produktion zu kreieren, bei der sie ihr Schauspiel-Talent voll ausschöpfen kann“.180 Wei Hai-min selbst, die bereits im Jahre 1987 für die Medea-Rolle angefragt

177

Kennedy, Yvonne: „Taiwan Theater Company brings Chinese ,Medea‘ to life“, in: The China News, 04.05.1993

178

Chen, Wen-fen: „,Loulan Nü‘ qiangdiao dongfang xuanmiao secai“ („,Loulan Nü‘ bringt das Mysteriöse des Orients zum Vorschein“), in: Ziyou wanbao (Abendpost der Freiheit), 04.05.1993

179

Lu, Jian-ying: „Medea Revived by ,Contemporary Legend Theater Company‘“, in: Bazaar, Juli 1993, S. 66ff Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993

180

152

Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea wurde, lehnte dies damals jedoch ab. Dazu äußerte sie sich im Interview: „Als ich Euripides’ ‚Medea‘ las, merkte ich, dass Medea eine sehr böse Figur ist. Mir fiel es schwer, mich mit dieser Figur zu identifizieren. Andererseits befürchtete ich auch, dass die Darstellung solcher negativen Figuren meinem Image als Dan-Rolle [Frauenrolle] in der Peking-Oper schaden würde, weil die Dan-Rolle immer positive Frauen verkörpert.“181

Es zeigt sich, dass Euripides’ Medea-Figur von ihr negativ aufgefasst wird und deshalb bei ihr weder Mitleid noch Sympathie erwecken kann. Offensichtlich liegt für sie die Unzugänglichkeit dieser Figur sowohl an der Diskrepanz zur chinesischen Ethik als auch an der Divergenz zur Frauendarstellung der Peking-Oper. Was Wei Hai-min letztlich doch dazu bewegte, ihre Zusage für diese Rolle zu geben, war die Videoaufnahme von Ninagawas MedeaAufführung, die sie 1990 zu sehen bekam: „Als ich Euripides’ ,Medea‘ las, konnte ich mich nicht damit identifizieren, dass eine Mutter ihre Kinder ermordet. Aber nachdem ich vor drei Jahren ein Video von Ninagawas ,Medea‘ gesehen hatte, gaben mir der starke visuelle Eindruck und die psychische Empfindung den Anstoß, dass sich meine Ängste und Zweifel gegenüber dieser Rolle in die Sehnsucht danach verwandelten, die innere Welt Medeas auf die Bühne zu bringen.“182

Weis Rezeption von Ninagawas Aufführung zeigt, dass bei der Darstellung von Euripides’ Medea die visuellen Eindrücke und der emotionelle Ausdruck eindeutig im Vordergrund stehen, so dass die Interpretationsproblematik des Kindermordes offenbar irrelevant geworden ist. Bei der Schauspielerin als auch bei der Regisseurin ist somit zu erkennen, dass nicht Euripides’ Textvorlage, sondern die japanische Version von Euripides’ Medea wesentlich zum Ansatz und zur Entstehung von Loulan Nü beitrug. Zahlreiche Zeitungsberichte weisen darauf hin, dass sich Lin Xiu-wei und die Contemporary Legend Theater Company sehr um eine deutliche Unterscheidung der „taiwanesischen“ Version von der japanischen bemühten. Demnach sollte Ninagawas Medea in diesem Zusammenhang eher nur eine Quelle der Inspiration sein, die zu einer eigenständigen Adaption beitragen sollte. Es stellt sich daher die Frage, welche Parallelen sich zwischen den beiden Versionen

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Interview mit Wei Hai-min, Taipei 23.09.2005

182

Wu, Mei-guan: „Meidiya zouru Loulan guguo“ („Medea betritt das archaische Loulan-Reich“), in: Haiguang-Zeitschrift, Nr. 103, August 1993, S. 34ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

sich im Einzelnen finden lassen und wie deutlich diese zutage treten, in welchen Punkten sich die beiden Adaptionen tatsächlich voneinander unterscheiden und inwiefern sich Lins Inszenierung als „taiwanesisch“ bzw. „chinesisch“ charakterisieren lässt. Darüber hinaus ist zu untersuchen, welche Rolle in diesem Kontext dem griechischen Theater und den antiken griechischen Tragödien zukommt.

II.2.2 Lins „feministische“ Interpretation und dramaturgischer Aufbau Die Inszenierungen westlicher Dramen der Contemporary Legend Theater Company sind dadurch gekennzeichnet, dass die Geschichten in einem historischen chinesischen Kontext verortet werden. Bei der zu ihrer Pionier-Arbeit gehörenden Adaption von Shakespeares Macbeth wurde der Hintergrund der Geschichte in die chinesische Zhanguo-Zeit (die Zeit der Streitenden Reiche von 475-221 v.Chr.) versetzt und alle Figuren erhielten chinesische Namen, welche aber in keinerlei Weise historischen Figuren entsprechen. Dadurch wurde Macbeth in ein völlig neu erfundenes chinesisches HistorienDrama umgewandelt und trägt auch einen chinesischen Titel: Yuwang Chengguo (The Kingdom of Desire). Mit einer ähnlichen Herangehensweise suchten Lin Xiu-wei und Wu Xing-guo nach einem vergleichbaren historischen und kulturellen Kontext in der chinesischen Vergangenheit, um Euripides’ Medea zu einer „chinesischen“ Geschichte umzuwandeln. Somit wurde Euripides’ Medea in die chinesische Stadt Dunhuang zur Zeit der Han-Dynastie (206 v.Chr. - 220 n.Chr.) versetzt, während Medea aus der archaischen Königsstadt Loulan stammen soll. Das mit China benachbarte Königreich Loulan lag in der heutigen chinesischen Provinz Xinjiang im äußeren Nordwesten Chinas und war damals ein wichtiger Knotenpunkt der Seidenstraße zwischen China und dem Westen.183 Nach archäo183

Das kleine Königreich Loulan blieb China lange Zeit unbekannt und wurde erst durch Zhang Qian von den Chinesen entdeckt, der 138 v.Chr. vom chinesischen Kaiser Han Wu-di beauftragt wurde, das Königreich Da Yuezhi westlich der heutigen Provinz Xinjiang aufzusuchen, um gemeinsam gegen die Xiong-nu (die damalige chinesische Bezeichnung für die Mongolen) zu kämpfen. Erst 126 v.Chr. kehrte er zurück und übergab dem Kaiser seinen ersten Bericht, wodurch die zahlreichen westlich vom damaligen China gelegenen Länder (inklusive Loulan) sowie ihre Beziehungen zu den Mongolen in China bekannt geworden sind. Um den Verkehr entlang der Seidenstraße zu sichern, erklärte Kaiser Han Wu-di 108 v.Chr. den Krieg mit den Xiyu (eine allgemeine chinesische Bezeichnung

154

Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

logischen Forschungsergebnissen hat Loulan nur knapp 150 Jahre existiert, wobei der Grund für seinen schlagartigen Untergang bisher unklar geblieben ist.184 1980 wurde in den Loulan-Ruinen eine weibliche Mumie ausgegraben, die auf Grund der Trockenheit und Kälte der Wüste auch nach über ca. 3800 Jahren noch sehr gut erhalten ist. Sie soll im Alter von etwa 40 Jahren gestorben sein und wurde wegen ihrer Gesichtskonturen von den chinesischen Archäologen als Loulan-Schönheit bezeichnet. Da sie als bisher ältester Fund aus der Provinz Xinjiang gilt und im Unterschied zu ägyptischen Mumien auf natürliche Weise weitgehend intakt geblieben ist, gibt es ihr gegenüber bis heute noch ein anhaltendes Forschungsinteresse von Seiten der Archäologie und Medizin aus dem In- und Ausland.185 Der rätselhafte Tod sowie die unklare Identität der LoulanSchönheit und das mysteriöse Verschwinden der Königsstadt inspirierten Lin Xiu-wei und Wu Xing-guo, sie mit Euripides’ Medea zu verknüpfen. Sie verliehen Euripides’ Medea eine neue Identität, so dass sie nicht mehr die Königstochter aus Kolchis am Schwarzen Meer, sondern die Prinzessin der Königstadt Loulan verkörpert. Die Zerstörung der Königsstadt und die Beschädigung ihres Grabes in jüngster Zeit wurde als Tianqian (himmlische Bestrafung) interpretiert und diese göttliche Strafe wurde der neu erfundenen, fiktiven Figur der Loulan-Prinzessin zugeschrieben. Demnach habe sie ein unverzeihliches Verbrechen in Form des Kindermordes begangen,

184

185

für die Gebiete entlang der damaligen chinesischen West-Grenze, welche das heutige Xinjiang und Zentralasien umfasst). So besiegte er u.a. das Loulan-Reich und übernahm die Kontrolle über die Schlüsselposten der Seidenstraße. Siehe: An, Zuo-zhang: Lianhan yu Xiyu kuanxi shi (Die Geschichte der Beziehung zwischen der Han-Dynastie und den West-Regionen), Jinan 1959, S. 33ff Der Name Loulan ist in der chinesischen Geschichte nur für einen kurzen Zeitraum von noch nicht einmal fünfzig Jahren dokumentiert (von ca. 120-77 v.Chr.). Danach geriet Loulan so lange in Vergessenheit, bis im Jahre 1900 der schwedische Forscher Sven Hedin die Ruinen Loulans an der Westseite des Loupor-Sees in der heutigen Provinz Xinjiang entdeckte. Jedoch ist es unter Archäologen immer noch umstritten, ob es sich bei den von Sven Hedin entdeckten Ruinen tatsächlich um die Königstadt Loulan handelt. Dies deutet darauf hin, dass trotz einiger Funde immer noch sehr wenig über Kultur und Geschichte Loulans bekannt ist. Siehe: Lin, Mei-cun: The Western Regions of the Han-Tang Dynasties and the Chinese Civilization, Peking 1998, S. 279ff Zhang, Li-hong: „Laut DNA-Testergebnis stammt die ‚Loulan Schönheit‘ aus dem Kaukasus“, in: Xinhuanet, 16.05.2005, http://big5.xinhuanet. com/gate/big5/news.xinhuanet.com/newscenter/200505/16/content_2963316.htm [Stand: 12.12.2007]

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Westlicher Geist im östlichen Körper? so dass die Nachkommen Loulans für ihren Frevel teuer bezahlen mussten.186 Diese Interpretation steht im Gegensatz zu Euripides’ MedeaFigur, die trotz des Kindermordes mit Hilfe ihres Ahnengottes Helios triumphierend entfliehen kann. Dass die Loulan-Prinzessin dagegen für ihre Missetat büßen muss und ihre Bestrafung auf die nächste Generation übertragen werden kann, lässt sich auf den chinesischen Glauben an die gerechte Belohnung bzw. Bestrafung durch die Götter sowie die buddhistische Karma-Vorstellung zurückführen.187 Ferner wurden die Frauen insbesondere wegen ihrer Schönheit in der chinesischen Geschichtsschreibung für den Niedergang einer Dynastie oder eines Landes verantwortlich gemacht, wie z.B. bei der Geschichte von Yang Yu-huan, die in der Tang-Dynastie (618-907 n.Chr.) die Lieblingskonkubine des chinesischen Kaisers Tang Tai-Zhong war. Auch wenn die Loulan-Prinzessin nicht wegen ihrer Schönheit, sondern wegen des Kindermordes die Auslöschung der Königsstadt verursacht haben soll, knüpft diese Erklärung dennoch unmittelbar an solche traditionellen, frauenfeindlichen Geschichtsdarstellungen an. Es stellt sich daher heraus, dass die Regisseurin Euripides’ Medea von Beginn an als sündhafte und böse Figur auffasste bzw. verurteilte und ihr Ausgangspunkt sich auf das patriarchalische Denken stützt. Obwohl die Original-Namen aller Figuren von Euripides’ Medea in Loulan Nü beibehalten wurden, findet die Geschichte Medeas nicht mehr in Kolchis, sondern im Gebiet der Xiyu statt, womit China während der Han-Dynastie allgemein das Gebiet westlich der beiden chinesischen Grenzposten Yumen Kuan (Jade-Tor) und Dunhuang bezeichnete und das sich heute über die Provinz Xinjiang sowie den westlich davon gelegenen Teil Zentralasiens erstreckt.188 Da die damaligen Ländergrenzen nur vage dokumentiert sind, lassen sie sich anhand heutiger Landkarten auch nur grob darstellen.189 Somit stammt Jason in der Adaption Lins nicht mehr aus dem griechischen Jolkos, sondern er ist der Prinz des Königreichs Dawan. Ebenso wird auch Kreon, der König von Korinth, zum chinesischen Fürsten der Dunhuang-Präfektur und an die Stelle des Königs von Athen (Aigeus) tritt der König von Da Yuezhi. Weiterhin ist auch Pelias nicht mehr der usurpierte Onkel Jasons, sondern der König von Yutian. Während Loulan und Yutian in der heutigen Provinz Xinjiang in China liegen, gehören Dawan und Da Yuezhi zum heutigen Zen-

186 187

Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993 Zheng, Chuan-yin 2004, S. 276ff

188 189

An 1959, S. 8 Ebd., siehe: Landkarte 4, Die Abbildung der Verkehrswege zwischen China und den Westregionen in der Han-Dynastie

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea tralasien, waren aber in der Han-Dynastie nicht mit China benachbart.190 Auf dieser Grundlage rekonstruiert die Regisseurin eine neue Geschichte aus Euripides’ Medea: Die Loulan-Prinzessin (Medea) soll zweitausend Jahre nach ihrem Tod aus dem Grab auferstehen, sich an ihre schmerzhafte Vergangenheit erinnern und schließlich wieder in den Sarg unter die Erde zurückkehren.191 Während der Geschlechterkonflikt zwischen Jason und Medea bei Euripides als Analogie zum Gegensatz zwischen dem „Zivilisierten“ (Griechen) und der „Barbarin“ (Ausländerin aus Kolchis) dargestellt wird, 192 verliert dieses antagonistische kulturelle Verhältnis zwischen Jason und Medea bei Lin Xiu-wei an Bedeutung, da sowohl Dawan als auch Loulan für China gleich fremd und weitgehend unbekannt war.193 Diese „Westgebiete“ (Xiyu) waren zwar ein wichtiges Bindeglied zwischen China und dem Westen, aber die verschiedenen Kulturen sowie ihr Verhältnis zu China wurden nur wenig in der chinesischen Geschichte dokumentiert, wohingegen die damaligen Mongolen (Xiongnu) von großer Bedeutung waren, da sie nicht nur mit den Chinesen darum kämpften, die Kontrolle über die Xiyu zu erlangen, sondern auch ständig in das chinesische Grenzgebiet eindrangen, weshalb sie von den Chinesen als „Barbaren“ bezeichnet wurden. Aus diesen Gründen befinden sich die Protagonisten von Loulan Nü und Euripides’ Medea nicht in einem vergleichbaren kulturellen Spannungsverhältnis. Daher stellt sich die Frage, weshalb Lin Xiu-wei anstatt des damaligen Territoriums der Mongolen, der Xiongnu, das archaische Reich Loulan als kulturellen Kontext für ihre Medea-Version auswählte, obwohl es das chinesische Kulturgedächtnis kaum geprägt hat. Hierzu bemerkte sie selbst, dass der Grund ihrer Auswahl dar-

190

Siehe Karte zu Ost- und Zentralasien zur Han-Zeit (206 v. Chr-220 v.

191

Chr.) in: Bayerischer Schulbuchverlag (Hg.): Großer Historischer Weltatlas, Teil I: Vorgeschichte und Altertum, München 1972, S. 49 Zhong, Ming-de: „‚Dangdai chuanqi‘ xugou guguo chuanqi“ („Die Con-

192

temporary Legend Theater Company erfindet die Legende eines archaischen Reichs“), in: Lianhe Bao (Zeitung der Vereinigung), 3.7.1993 Hidalgo-Xirinachs 2002, S. 74

193

Die dürftigen Kenntnisse über die Kulturen der Westregionen zur Zeit der Han-Dynastie lassen sich dadurch belegen, dass einige taiwanesische Journalisten Dawan mit Xixia verwechselten und Jason als den Prinzen von Xixia der Song-Dynastie ausgaben, siehe z.B. Lin, Li-yun: „Qiannian qian Loulan Nü de shangkou ren tangzhe xinxian de xie“ („Aus Loulan Nüs Wunde von vor tausend Jahren fließt immer noch frisches Blut“), in: Gongshang Shibao (Zeitung der Industrie und Wirtschaft), 19.6.1993 und Qi-an: „‚Loulan Nü‘ kuangbao de fuchou nüzi“ („‚Loulan Nü‘ – eine stürmische, rachsüchtige Frau), in: New Idea Monthly, Juli 1993, S. 144

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Westlicher Geist im östlichen Körper? in besteht, dass Zeit und Raum Loulans mysteriös sind.194 Da nur wenige Erkenntnisse über Loulan gesammelt werden konnten, verweist dieser Umstand darauf, dass gerade die allgemeine Unwissenheit dazu beiträgt, Loulan als „kulturfreien Raum“ anzusehen. Dieser leere Raum bietet der Regisseurin somit größtmögliche Freiheit für ihre künstlerische Umsetzung, ohne mit traditionellen chinesischen Maßstäben und Vorstellungen konfrontiert zu werden.195 Dies hat jedoch zur Folge, dass die neu erfundene MedeaGeschichte weder einen wirklichen Bezug zur chinesischen noch zur griechischen Kultur aufweist. Da Lin Xiu-wei darauf aufmerksam macht, dass ihre Umschreibung auf Euripides’ Text basiert,196 ist zu fragen, inwiefern dieser inhaltlich adaptiert bzw. übernommen wurde und welche Funktion Euripides hierbei erfüllt. Um dies zu beantworten, muss zunächst erläutert werden, wie detailliert sich Lin Xiu-wei mit Euripides’ Medea auseinandergesetzt hat und welche Intention sie mit der Aufführung verbindet. Um Euripides’ Medea zu adaptieren, studierte Lin Xiu-wei unterschiedliche Rezeptionen von anderen Regisseuren und Choreographen. Demnach haben offenbar sowohl die Filmversion von Pier Paolo Pasolini als auch die Tanzperformance Cave of the Heart von Martha Graham neben Ninagawas Medea starke Eindrücke bei ihr hinterlassen.197 Beeinflusst von der Interpretation Martha Grahams, ist sie nach eigener Aussage zu der Ansicht gekommen, dass die Frau die Macht zur Befruchtung sowie zur Zerstörung besitzt und dass „die innere Einsamkeit der Frauen zum Kampf der Geschlechter und zur Zerstörung führt.“ 198 Während die Höhle in Martha Grahams Cave of the Heart zum zentralen Motiv der Aufführung gewählt wurde, inspirierte die fiktive historische Geschichte Lou-lan des japanischen Schriftstellers Yasushi Inoue die Regisseurin, so dass in ihrer Adaption die im Roman beschriebenen Elemente wie

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198

Deng, Zhi-lan: „Meidiya huasheng ‚Loulan Nü‘, Lin Xiu-wei xunzhao dongxue li gujue de dimu“ („Medea wandelt sich zur ,Loulan Nü‘ – Lin Xiu-wei sucht die einsame Erdmutter in der Höhle“), in: Zhongshi Wanbao (China Abendpost), 4.5.1993 Diamond, Catherine: Zuo-xi feng, kan-xi sha (Verrückte Theatermacher, törichte Zuschauer), Taipei 1998, S. 162 Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993 An-jing: „Yu ‚Dangdai chuanqi‘ xianyu – ‚Loulan Nü‘ de jingyang“ („Begegnung mit dem ,Contemporary Legend Theater‘ – Die wunderliche Schönheit von ,Loulan Nü‘“), in: Yishu zixun (Kunstmagazin), Aug. 1993, S. 52 Deng 1993, a.a.O.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Höhle, Wüste und Sandsturm zur Atmosphäre der Bühnenkulissen beitragen.199 Anstatt in den klassischen chinesischen Dramen nach ähnlichen Frauenfiguren zu suchen, griff Lin Xiu-wei auf FamilienTragödien in der heutigen taiwanesischen Gesellschaft sowie Ansichten chinesischer Schriftsteller über den Geschlechterkampf zurück, um die Ursachen und Motive einer rachsüchtigen Frau wie Euripides’ Medea zu verstehen. Da sie folglich davon ausging, dass Euripides’ Medea nicht mehr als eine Geschichte über Liebesverrat ist, stützte sie sich dementsprechend auf zahlreiche Berichte aus Zeitungen, Magazinen sowie zeitgenössischer chinesischer Literatur wie z.B. Waiyu (Seitensprung) der taiwanesischen Schriftstellerin Li Ang und Yinyang da liebian (Große Spaltung der zwei Geschlechter) des chinesischen Schriftstellers Su Xiao-kang, welches Ehebrüche in Festland-China dokumentiert. 200 Durch diese Recherchen kam sie zu der Überzeugung, dass „die Jugend der größte Feind aller Frauen sei.“201 Daher betont sie, dass Jason Medea und die beiden Kinder vielmehr wegen der Jugend und Schönheit der neuen Braut als auf Grund der bevorstehenden Vorteile verlässt. Hinzu konkretisierte sie den Konflikt zwischen Jason und Medea, indem sie den Satz von Su Xiao-kang in den Text Jasons integrierte, dass „Frauen nie den Mann bekommen werden, den sie geschaffen haben.“ Damit behauptet sie, dass das Schicksal aller sog. „Powerfrauen“ in der modernen Gesellschaft auf Grund ihres starken Willens nach Besitz und Kontrolle zwangsläufig zur Vereinsamung führt und in einer Tragödie endet.202 Demzufolge macht die Regisseurin generell den Besitz ergreifenden Charakter sowie die vergängliche Schönheit einer Frau für den Seitensprung des Ehemanns verantwortlich, während diese Erklärung von ihr gleichzeitig als „feministische“ Interpretation des Geschlechterkonflikts behauptet wird. Dabei lässt sich jedoch erkennen, dass dies eine bedingungslose Rechtfertigung der Untreue der Männer darstellt, welche mit dem traditionellen patriarchalischen Denken übereinstimmt, nach dem auf Grund des Polygamie-Systems Männern gegenüber nie der Anspruch nach Treue innerhalb der Ehe erhoben wurde und eine Ehefrau wegen ihrer Eifersucht rechtmäßig von ihrem Ehemann verstoßen werden durfte und sogar sollte. Damit gibt die Regisseurin unreflektiert die Sichtweise derjenigen Männer wieder, die ungeachtet der heutigen Folgen sozialer Umwälzungen, durch die sich die Frauen auf Grund ihrer finanziellen Unabhängigkeit nicht mehr den Männern unter-

199

Lu 1993, S. 66ff

200 201 202

Lin, Li-yun 1993, a.a.O. Lu 1993, S. 67 Ebd.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? werfen müssen, auch innerhalb des Monogamie-Systems weiterhin ihre sexuelle Freizügigkeit beanspruchen und die Frauen damit zu sexuellen Objekten degradieren wollen. Nicht zuletzt übernahm die Regisseurin die Interpretation des taiwanesischen Schriftstellers Bai Xian-yong, dass „nicht nur Eifersucht und Erniedrigung, sondern auch eine unerklärliche, mysteriöse Bindung mit Jason Medea zur grausamen Rache treibt.“ 203 Diese Interpretation, die unmittelbar der buddhistischen Vorstellung von Nienyuen (der vorherbestimmten, sündhaften Verbindung) entspricht, sowie die taoistische Weltanschauung der „himmlischen Bestrafung“, von „Wiedergeburt“ und Fatalismus möchte Lin Xiuwei in Loulan Nü einbringen.204 Damit wird die Beziehung bzw. der Konflikt zwischen Jason und Medea auf eine spirituelle Ebene zurückgeführt, wodurch die Frage nach der Ungleichheit des sozialen Status und der Rechte beider Geschlechter irrelevant bleibt. Infolgedessen wird die Loulan-Prinzessin, die die Charaktereigenschaften einer modernen „Powerfrau“ verkörpern soll, Lin Xiuwei zufolge auf Grund ihrer Eifersucht und unerklärlichen göttlichen Vorherbestimmung Jason zum Verhängnis. Hierbei wird weder eine rechtliche Grundlage oder Legitimation für Medeas Rache geschaffen noch lässt sich der Grund ihrer Rache auf einen kulturellen oder sozialen Kontext beziehen. Der Kindermord wird lediglich auf ihre persönlichen Emotionen zurückgeführt, so dass Medea dafür von den Göttern bestraft werden muss. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass nach Ansicht der Regisseurin, Medea nicht zur Rache an Jason berechtigt sein kann. Nichtsdestotrotz verwendete Lin Xiu-wei in zahlreichen Interviews den Begriff „Feminismus“ und insistierte, dass nur Frauen selbst Frauen besser verstehen können, ohne in Übereinstimmung damit konkrete inhaltliche Bezüge erkennen zu lassen.205 Dennoch erweckt diese essentialistische Begründung ihrer feministischen Gesinnung zusammen mit Euripides’ Medea-Figur den Anschein eines zeitgemäßen, modernen und fortschrittlichen Denkens. Letztendlich erweist sich diese jedoch als reines Lippenbekenntnis, indem der aus dem Westen übernommene Begriff „Feminismus“ sowie ihre Geschlechtszugehörigkeit als Deckmantel des patriarchalischen Urteils gegenüber einer starken, selbstbewussten und autonomen Frau wie Euripides’ Medea fungieren.

203 204 205

Es ist anzumerken, dass Bai Xian-yong in der Loulan Nü-Produktion einer der beiden Theaterberater war, siehe: An-jing 1993, S. 52 An-jing 1993, S. 52 Zhang, Xiao-hong: „Meidiya nüxing zhuyi ban“ („Medea – eine feministische Version“), in: Zhongguo shibao renjian fukan (China Post), 15.7.1993

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Darüber hinaus lehnt sich Lin Xiu-wei an die Rezeption anderer Regisseure und Schriftsteller an, anstatt sich direkt mit der antiken griechischen Kultur oder Euripides auseinanderzusetzen. Sie nahm zwar die taiwanesische Übersetzung von Zeng, Zhen-zhen und die chinesische Übersetzung von Luo Nian-shen als Textvorlage, aber das Bühnenskript wurde letztendlich durch die Proben festgelegt, so dass sowohl eine alltägliche Sprache als auch moderne Poesie verwendet werden.206 Obwohl Lin Xiu-wei die Geschichte ebenfalls mit Jasons Verrat beginnen lässt und die einzelnen Figuren auch in derselben Reihenfolge wie im originalen Drama auftreten, wurde nicht nur fast der ganze Text des Chors gestrichen, sondern die meisten Dialoge sind auch zum großen Teil gekürzt, so dass Euripides’ Medea nur noch schemenhaft zu erkennen ist. In Bezug auf den dramaturgischen Aufbau äußerte Lin Xiu-wei: „In der Diskussionsrunde über den dramaturgischen Aufbau haben wir zuerst überlegt, mit der Liebesgeschichte von Jason und Medea anzufangen. Wir wussten vom Hörensagen, dass die chinesische Version ,Medea und Jason‘ [von Lou Jin-lin] so anfängt. Jedoch befürchteten wir, dass die Darstellung der Vorgeschichte zu lange dauern würde, so dass kaum noch Zeit für das originale Drama übrig bleiben würde. Dann wies Wu Xing-guo darauf hin, dass die Eigenschaften des griechischen Theaters besser zum Vorschein kämen, wenn wir ,Medea‘ als einen Einakter inszenieren...“207

Somit entsprechen der Ablauf der Handlung und die Reihenfolge der Auftritte der einzelnen Figuren dem originalen Drama, bis auf das im Prolog und in der Schlussszene hinzugefügte Motiv eines Sarges. Ebenso wie bei Euripides wird die Handlungszeit auf einen Tag eingegrenzt und die Handlung selbst findet vor dem Haus Medeas statt, welches in Loulan Nü aber als eine Höhle bzw. ein Grab dargestellt wird. Euripides geht von einem für die Griechen allgemein bekannten Mythos über Jason und Medea aus und setzt die Geschichte dort an, als Jason Medea verließ, um die Tochter des korinthischen Königs Kreon zu heiraten. 208 Die Regisseurin folgt dieser Struktur, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass die Vorgeschichte zwischen Jason und Medea den taiwanesischen Zuschauern unbekannt ist und dass sie auf Grund des chinesischen Kontexts neue Zusammenhänge herstellen muss. Da sie weder im Programmheft erläutert noch durch die Erzählung der Amme ergänzt wird, bleibt die Vorgeschichte von Medea und Jason von Anfang an unklar. Insofern lässt sich feststellen, dass weder der griechische

206 207 208

Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993 Ebd. Euripides, in: von Arnim (Hg.) 1990, S. 63ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Mythos noch eine chinesische Geschichte über die Vergangenheit zwischen Medea und Jason als Anhaltspunkt genommen wird. Überdies kommt die Vorgeschichte zwischen Jason und Medea nur im ersten Dialog der Beiden ein wenig zum Vorschein. Bei dieser Auseinandersetzung erinnert Medea Jason an ihre Verdienste ihm gegenüber: „Damals hat dich dein Onkel verbannt, um den Thron zu usurpieren. Unter der sengenden Sonne überquertest du die Wüste und kamst in Loulan an. Wer hat dich aufgenommen? Mein Vater gab dir die Aufgabe, die Teufel zu zähmen und die Monster zu bekämpfen. Wer rettete dein Leben und half dir, den Goldenen Zweig zu bekommen? Ich war es, die Loulan-Prinzessin, Medea! Aus Liebe habe ich viele unschuldige Leute geschädigt. Aus Liebe bin ich mit dir geflohen. Aus Liebe habe ich meinen Königsvater verraten und meinen Bruder umgebracht. Ich habe König Yutian sogar dazu gebracht, dass er in den Armen seiner Tochter stirbt. Der Gott ist wütend über mich und meine ganze Familie und alle meine Freunde haben mich verlassen. All dies habe ich für dich getan, nur um dich von Sorgen und Not zu befreien...“ 209

Im Vergleich zu Euripides’ Text verkörpert Pelias in Loulan Nü nicht mehr Jasons Onkel, sondern den König von Yutian. Welches Verhältnis zwischen den Königreichen Dawan und Yutian besteht und aus welchem Motiv der König von Yutian ermordet wurde, wird jedoch nicht erzählt. Während bei Euripides Jason von seinem Onkel auf Grund des Goldenen Vlieses zum Königreich von Medea geschickt wurde, erteilt der Königsvater Medeas in Loulan Nü Jason die Aufgabe, den Goldenen Zweig zu gewinnen. Warum Jason ihn erwerben muss, und warum Medea und Jason nach der Erlangung des Goldenen Zweiges doch aus Loulan fliehen müssen, können die Zuschauer ebenso wenig erfahren. Alle durch die Veränderung entstandenen logischen Probleme bleiben unerklärt. Lin Xiu-wei hat die Geschichte des Euripides nur ansatzweise übernommen und diese willkürlich in einen chinesischen Kontext versetzt, ohne neue dramaturgische Zusammenhänge aufzubauen. Da Euripides’ Text stark gekürzt wurde und bruchstückhaft Texte zeitgenössischer chinesischer Schriftsteller hinzugefügt wurden, wirkt der gesamte dramaturgische Aufbau bei Loulan Nü wie eine Collage. Dadurch fallen die Handlungsstränge auseinander, so dass sich weder Euripides’ Medea noch eine klare „chinesische“ Weltanschauung erkennen lässt.210

209 210

Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993 Diamond 1998, S. 163

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

II.2.3 Kulturelles Konglomerat als neues Theatergenre Da sich feststellen lässt, dass bei Loulan Nü anhand der textlichen Bearbeitung und Interpretation der Regisseurin inhaltlich wenige Verknüpfungen mit Euripides’ Medea zu finden sind, ist weiter zu untersuchen, inwiefern die Darstellungsformen in der Aufführung in Bezug auf die Bühne eine Verbindung mit dem antiken griechischen Theater bzw. der griechischen Kultur zulassen. Darüber hinausgehend ist zu fragen, inwiefern die traditionellen Darstellungsformen wie die der Peking-Oper und chinesische bzw. taiwanesische Kulturelemente integriert wurden, um Loulan Nü als eine „taiwanesische“ Aufführung bezeichnen zu können. Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich im Folgenden nacheinander auf Kunstgenres, Bühne, Kostüme, Funktion des Chors sowie die Figur der Loulan-Prinzessin eingehen. Da die früheren Produktionen der Contemporary Legend Theater Company wie The Kingdom of Desire und The Revenge of a Prince in Bezug auf Gesang, Sprechweise, Tanz und Akrobatik immer noch auf den Peking-Oper-Darstellungstechniken basierten, wollte sich Lin Xiu-wei mit der Inszenierung Loulan Nü von den vorgegebenen Regeln und Einschränkungen der Peking-Oper befreien, um dadurch ein neues Theatergenre zu entwickeln. Dazu erklärte sie: „Wir wollen eine neue Ausdruckform von Gesang, Tanz, Sprechen und Akrobatik entwickeln, um die Ausdrucksformen der Peking-Oper zu ersetzen. Wir wollen unterschiedliche Darstellungstechniken absorbieren, sie verschmelzen und dadurch einen einzigartigen Mischling gebären. Das ist das Endziel der Contemporary Legend Theater Company.“211

Um durch die Verschmelzung von westlichen und östlichen Theatertraditionen eine neue Darstellungsform zu entwickeln, kombiniert sie bei der Inszenierung unterschiedliche Kunstgenres. Somit stammen die Darsteller in Loulan Nü aus unterschiedlichen Bereichen wie Modern Dance, Peking-Oper und Sprechtheater. Während die beiden Hauptdarsteller Wei Hai-min und Wu Xing-guo renommierte taiwanesische Peking-Oper-Superstars sind und weitere Rollen wie die des Pädagogen, Präfekten von Dunhuang (Kreon, König von Korinth bei Euripides) und des Königs von Da Yuezhi (Aigeus, 211

Jiang, Shi-fan: „Cong chuantong dao chuanqi: Dangdai chuanqi juchang jinju gaige zhi ru“ („Von der Tradition zur Legende: Der Weg der PekingOper-Reform der Contemporary Legend Theater Company“), in: Performing Arts Review, Juli 1993, S. 66ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? König von Athen) ebenfalls mit Peking-Oper-Schauspielern besetzt werden, stammen die Schauspielerinnen für die Rollen der Amme und der Tochter des chinesischen Fürsten von Dunhuang (Glauke, die Tochter Kreons) aus dem Sprechtheater. 212 Der Chor besteht aus sieben Männern und sieben Frauen, wobei die Hälfte von ihnen eine Ausbildung in Modern Dance erhielt und die anderen aus der Peking-Oper kommen. 213 Obwohl die Rollen überwiegend mit Peking-Oper-Schauspielern besetzt sind, wird in jeder Hinsicht auf die Ästhetik der Peking-Oper verzichtet, so dass nicht nur Musik und Gesang, sondern auch die rhythmische, poetische Sprache sowie die direkt mit den Zuschauern kommunizierenden Erzählformen wie z.B. Zibao Jiamen (Sich-selber-vorstellen) aufgegeben werden. Nicht zuletzt wird dabei von den Peking-Oper-Schauspielern verlangt, die Figuren mit naturalistischen Gesten und Sprechweisen darzustellen, so dass dadurch die stilisierte Schauspielkunst der Peking-Oper nahezu aufgegeben wird. Obwohl zumindest die für die Peking-Oper typischen tänzerischen Bewegungen wie zitternde Hände oder akrobatische Einlagen in die Choreographie des Chors integriert werden, steht jedoch der Modern Dance eindeutig im Vordergrund der gesamten Choreographie des Chors. Das angestrebte neue Theatergenre beruht daher vielmehr auf Sprechtheater und Modern Dance als auf der Peking-Oper.

II.2.3.1 FIKTION VON ZEIT UND RAUM II.2.3.1.1 Kostüme Da Lin Xiu-wei Handlungsort und -zeit von Euripides’ Medea in die chinesische Präfektur Dunhuang vor ca. zweitausend Jahren versetzt hat, ist zu untersuchen, wie Zeit und Raum durch die Kostüme und das Bühnenbild neu konstruiert werden und inwiefern sie mit der chinesischen bzw. taiwanesischen Kultur verbunden sind. In der Aufführung Loulan Nü spielt das Kostüm-Design die wichtigste Rolle, da es durch den prachtvollen und extravaganten Stil die größte Aufmerksamkeit der Zuschauer erlangt. Alle Kostüme wurden von Ye Jin-tian kreiert, der ansonsten für die Hongkonger Filmindustrie arbeitet. Für die Loulan Nü-Aufführung absorbierte er verschiedene volkstümliche Kleidungsstile aus China, dem mittelalterlichen Europa, der Insel Bali, der Mongolei, Tibet und Zentralasi212

213

Obwohl die künstlerischen Hintergründe der einzelnen Darsteller mit Ausnahme der beiden Hauptdarsteller nicht im Programmheft wiedergegeben werden, lassen sich diese in der Aufführung jedoch durch die Körpersprache rekonstruieren. Chang, Winnie: „Euripides at the Opera“, in: Free China Review, Feb. 1994, S. 70ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea en,214 wobei aber keine Elemente aus der antiken griechischen Kultur integriert wurden. Da die adaptierten Kulturen weit auseinander liegen und eine ausführliche Beschreibung jedes Kostüms der einzelnen Figuren zu weit vom Thema wegführen würde, möchte ich mich hierbei anhand von Beispielen nur auf die wesentlichsten Merkmale, die dramaturgische Bedeutung, kulturelle Symbolik und die Zusammenführung von Kostümen und Schauspielkunst konzentrieren. Durch die patchworkartige Zusammensetzung der vielfältigen kulturellen Elemente wurden alle Figuren Euripides’ zu phantasievollen Gestalten umgewandelt. Dies wird z.B. am Kostüm der Amme deutlich, deren hoch geraffter runder Rock, Kopfputz und Schürze im viktorianischen Kleidungsstil gestaltet sind. Darüber hinaus unterstreichen ihre lockigen Haarsträhnen an den Schläfen die Ähnlichkeit mit einem englischen Dienstmädchen zu dieser Zeit.215 Auf der anderen Seite entspricht ihr hoher Kragen jedoch der chinesischen Frauenkleidung aus der Qing-Dynastie (1644-1911) und die fast bis zum Boden hängenden dreieckigen Ärmel ähneln dem Kleidungsstil der Tang-Dynastie (618-907 n.Chr.).216 Weshalb die westlichen und chinesischen Elemente auf diese Art und Weise kombiniert werden, lässt sich jedoch nicht auf eine bestimmte ästhetische Grundlage bzw. Aussage zurückführen. Infolge der Zusammensetzung der unterschiedlichen „Kulturfassaden“, die nicht aus derselben Zeit und dem selben Ort stammen, lässt sich die Amme keiner bestimmten Kultur zuordnen und kann somit nur als eine rein fiktive Figur verstanden werden. Nach der Vorstellung des Kostümbildners Ye Jin-tian soll das Kostüm der Amme eine mütterliche alte Dame darstellen, wobei die Mütterlichkeit vor allem durch einen auf dem Kopfputz, angebrachten flauschigen Ball symbolisiert werden soll.217 Da aber unklar ist, aus welcher Kultur dieser stammen soll, kommt seine beabsichtigte dramaturgische Bedeutung nicht zum Vorschein. 218 Stattdessen verwandeln sie der seltsam und befremdlich anmutende Ball sowie die knallroten Kreise auf ihren Wangen in eine merkwürdige, clowneske Erscheinung, allerdings ohne jegliche Komik. Im Unterschied zur Absicht des Kostümbildners soll die Amme nach der Sichtweise des Co-Regisseurs Luo Bai-ang durch ihre alltägliche Körpersprache nicht als mütterliche Dame, sondern als ein

214 215 216

Diamond 1998, S. 169 Siehe Anhang, Abb. 4 Vgl. Yuan, Jie-ying: Zhongguo lidai fushi shi (Articles of Clothing in

217 218

China’s History), Peking 1994 Siehe Anhang, Abb. 4 sowie Chang 1994, S. 70ff Diamond 1998, S. 169

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Westlicher Geist im östlichen Körper? typisch taiwanesisches „Klatschweib“ dargestellt werden, um der Aufführung einen stärkeren taiwanesischen Charakter zu verleihen.219 Was das Wesen einer typisch taiwanesischen „Tratschtante“ ausmacht, sind v.a. ihre obszöne Sprache mit sexuell anzüglichen Witzen, ein pausenloser Redefluss, übertriebene Gestik und kitschige Kleidung. Im Gegensatz dazu verleiht das gewählte Kostüm der Amme ihr durch das Aussehen eines viktorianischen Dienstmädchens aber eher eine elegante Gestalt als die einer Frau ohne ästhetischen Geschmack. Zwar bedient sich die Ammen-Darstellerin einer trivialen Alltagssprache, aber ihr Inhalt bezieht sich immer noch auf Euripides’ Textvorlage, so dass er keine Witze oder sexuellen Anspielungen enthält. Während sie in der ersten Szene mit zurückhaltender Sprache die ernste Geschichte der Loulan-Prinzessin einführt, fuchtelt sie oft ungelenk mit beiden Händen herum, ohne diese Bewegungen mit der Intonation der Sprache zu koordinieren oder erkennbare Emotionen auszudrücken. Auch wenn diese naturalistische Darstellung mit übertriebenen Gesten an das typische Verhalten einer Tratschtante anknüpfen soll, fehlt es jedoch an der Entsprechung hinsichtlich Sprache und Kostüm, so dass die intendierte komische und witzige Gestalt nicht zur Geltung gebracht werden kann. Somit folgen das Kostüm, die naturalistische Schauspielkunst sowie der Text keiner einheitlichen Ästhetik, sondern sie widersprechen einander sogar und behindern sich gegenseitig. 220 Die Divergenz zwischen den unterschiedlichen Intentionen des Kostümdesigners und des Co-Regisseurs verdeutlicht, dass die Charakterisierung der Figur vorher nicht durchdacht worden ist und die verschiedenen Elemente und Symboliken prinzipienlos kombiniert wurden, so dass die dramaturgische Bedeutung durch diesen Widerspruch ins Leere geht. Weiterhin ist zu untersuchen, inwiefern sich die Kostüme mit der Peking-Oper-Schauspielkunst in Einklang bringen lassen, was ich nun am Beispiel der Medea-Darstellerin Wei Hai-min erläutern möchte. Obwohl die Regisseurin von Wei Hai-min verlangt, anstatt der Peking-Oper-Schauspielkunst eine naturalistische Schauspielkunst zu verwenden,221 weist sie darauf hin, dass sie die Schauspielkunst der Peking-Oper in die Darstellung Medeas integriert: „If you watch our play carefully, you would have noticed that every gesture we used was taken from traditional Chinese theater. [...] Often, I borrowed a basic

219

Pan, Ya-jun: „Taiwan ban de Meideya: ‚Loulan Nü‘“ („Taiwanisierte Medea

220 221

– ‚Loulan Nü‘“), in: Ziyou Shibao (Zeitung der Freiheit), 4.7.1993 Diamond 1998, S. 169 Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea pose from Peking opera to balance my body, or I shook my hands as if I were shaking the flowing sleeves of a traditional theater costume.“222

Bei allen drei Kostümen, die Wei Hai-min jeweils beim ersten und zweiten Auftritt Jasons auf der Bühne trägt, wurden nach Anweisungen des Kostümbildners Ye Jin-tian viele Elemente traditioneller Peking-Oper-Kostüme integriert. 223 Jedoch wurden sie entweder soweit transformiert, dass ihre ursprüngliche Form nicht mehr erkennbar ist, oder es wurden ganz neue Elemente erfunden, welche die für die stilisierten Bewegungen der Peking-Oper zuständigen Elemente ersetzen sollen. Dies lässt sich am besten an ihrem ersten Kostüm beobachten. Das fast bis zu den Knien reichende, dunkellilafarbene Gewand, dessen rechtsseitige Öffnung mit zwei sog. „Blumenknöpfen“ zugeknöpft ist, entspricht vom Schnitt her einem traditionellen mongolischen Frauenkleid.224 Darunter befindet sich ein bis knapp über den Boden reichender Rock, der aus einem glänzenden, silberfarbenen Stoff besteht, welcher offensichtlich keiner traditionellen mongolischen oder chinesischen Kleidung entspricht. Nicht zuletzt werden die mongolischen, rohrförmigen Ärmel durch zwei dreiecksförmige chinesische Ärmel ersetzt. Am unteren Ende des weitläufigen Ärmelaufschlages ist jeweils ein Schwert befestigt, von dem nur der Griff zu sehen ist. Hinter den beiden Schwertern hängt jeweils eine lange Schleife, die aus einen mehrer Meter langen goldfarben, glänzenden und halb transparenten Stoff besteht.225 Die in den Ärmeln versteckten Schwerter, welche Ye Jintian der berühmten doppelstöckigen Waffe (jap. Nunchaku, chin. Xuan-je-gun) nachempfunden hat, die im Westen v.a. durch Bruce Lee (1940-1973) bekannt wurde, sollen die Wasserärmel der PekingOper ersetzen und dazu beitragen, die Emotionen Medeas visuell noch eindrucksvoller in Szene zu setzen.226 Jedoch muss die Peking-Oper-Schauspielerin bei jeder Drehung die beiden Schwertgriffe packen und die langen Schleifen hinter sich her ziehen, um nicht darüber zu stolpern. Bei direkter Verwendung der Schwerter lehnt Wei Hai-min sich aber weder an Bruce Lees Kampfstil noch an die stilisierten Schwertkampfbewegungen der Peking-Oper an. Sie versucht stattdessen, die stilisierten Bewegungen, die normalerweise mit den Wasserärmeln ausgeführt werden auch, auf den Einsatz

222

zit. nach Chang 1994, S. 75

223

Deng, Zhi-lan: „‚Loulan Nü‘ zai jinju xiandai wudao yuanshu zhijian jiaoli“ („,Loulan Nü‘ ringt mit den Elementen von Peking-Oper, Modernem Theater und Tanz“), in: Zhongshi Wanbao (China Abendpost), 4.7.1993

224 225 226

Yuan 1994, S. 84 Siehe Anhang, Abb. 5 Chang 1994, S. 75

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Westlicher Geist im östlichen Körper? der Schwerter zu übertragen. So schwingt sie manchmal die Schwerter von hinten nach vorne und wickelt dabei die Schleifen um die Schwerter herum, anstatt die Wasserärmel mit Handbewegungen hoch zu wirbeln. Manchmal hebt sie auch die beiden Schwerter nach oben, anstatt die Wasserärmel hinter den Körper zu werfen. So lässt sich beobachten, dass trotz ihrer Bemühungen die beiden Schwerter einzusetzen, diese auf Grund ihrer Unflexibilität sowie ihres Gewichts im Vergleich zu den Wasserärmeln weniger Ausdrucksmöglichkeiten für den inneren Gemütszustand der Figur bieten und dadurch sogar den tänzerischen Ausdruck behindern. Die beiden Schwerter, die eigentlich als Ersatz der Wasserärmel fungieren sollten, schränken daher nicht nur die Bewegungen der Peking-Oper-Schauspielerin ein, sondern sie wirken sogar konträr zu den chinesischen Konventionen. Dies ist z.B. in der Dialog-Szene zwischen der Loulan-Prinzessin und dem chinesischen Fürsten von Dunhuang (bei Euripides Kreon, der König von Korinth) zu beobachten, in welcher der chinesische Fürst seinen Entschluss für die Verbannung Medeas und ihrer beiden Kinder damit begründet, dass Medea auf Grund ihrer Klugheit und Zauberkraft eine potentielle Gefahr für ihn und seine Tochter darstelle. Um von der Verbannung verschont zu werden bzw. einen Tag Aufschub zu erhalten, geht Wei Hai-min bei ihrer klagenden Anflehung in drei Schritten vor: Zuerst geht sie auf die Knie und fasst mit beiden Händen seinen Rücken an, wobei der Fürst ihr sofort ein Fußtritt versetzt, so dass sie mit dem Gesicht nach unten auf den Boden fällt. Beim zweiten Mal zieht sie an seinem rechten Ärmel und wird ebenso von ihm zu Boden gestoßen. Letztendlich hebt Wei hai-min die beiden Schwerter nach oben und rutscht auf den Knien zu ihm, ohne weiteren direkten Körperkontakt mit ihm zu haben. Das Gerangel sowie das grobe Wegstoßen sollen die Erniedrigung Medeas und die Unbarmherzigkeit des chinesischen Fürsten unterstreichen, jedoch widerspricht diese überzogen naturalistische Darstellung den Konventionen der chinesischen Kultur, so dass die Darstellung dieser Konfrontation in Wirklichkeit unrealistisch erscheint. Es ist nämlich nicht glaubwürdig, dass ein chinesischer Fürst ohne Schutz von Garden alleine eine Ausländerin besucht, die weder einen politischen Rang noch einen gewissen sozialen Status besitzt und dass er sie mit zwei unübersehbaren Schwertern in seine Nähe lässt bzw. sogar Körperkontakt mit ihr erlaubt, obwohl er sie bereits als bedrohliche Gegnerin bezeichnete.227 Dies verweist

227

Nach konfuzianischer Etikette war im alten China außerehelicher Körperkontakt zwischen Mann und Frau fast undenkbar. Nur Berührungen zwischen Mutter und Sohn oder Vater und Tochter sind im traditionellen chinesischen Theater zu sehen. Siehe: Hwang, Wen-lung 1998, S. 231ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea darauf, dass die unterschiedlichen kulturellen, sozialen und politischen Hintergründe der Figuren überhaupt nicht berücksichtigt wurden. Die Vereinfachung der Charaktere hat somit zur Folge, dass die Darstellung der Figuren nicht mehr überzeugend ist. Die Bewegungen bei der dritten Anflehung Medeas beruhen zwar auf den stilisierten Bewegungen der Peking-Oper, aber anstatt die Wasserärmel hinter den beiden hoch gehobenen Armen hängen zu lassen, muss Wei hai-min die beiden Schwerter ergreifen und diese hoch heben, obwohl das Ergreifen von Waffen in einer KonfliktSituation eine unmittelbare Kampfbereitschaft signalisiert. Auf Grund dieses Widerspruchs können die beiden Schwerter nicht als reale Waffen betrachtet werden und das Ergreifen der Schwerter auch nicht als Kampfbereitschaft. Da ihre praktische Bedeutung nicht haltbar ist, tragen sie somit nur noch auf einer abstrakten Ebene als Hilfsmittel zur Verstärkung des visuellen Ausdrucks bei. Demnach richtet Wei Hai-min z.B. die beiden Schwerter in einer Weise auf, dass sich die daran hängenden Schweife wie zwei Flügel ausbreiten. Dadurch wird nicht nur ihre Wut visualisiert, sondern es entsteht auch der Eindruck, dass sie Flügel besitzt, die einer Fledermaus ähneln. Inwiefern diese animalische Gestalt mit der Charakterisierung der Loulan-Prinzessin und der chinesischen Kultur zusammenhängt, ist nicht ersichtlich. Da die Fledermaus in der chinesischen Kultur Glück symbolisiert, ist es offensichtlich, dass in der Aufführung nicht diese Bedeutung haben kann. Insofern kann man nur feststellen, dass die neu erfundenen Elemente, die sich der Peking-Oper-Schauspielkunst und den chinesischen kulturellen Konventionen entgegensetzen, weniger zur Hervorbringung der schauspielerischen Darstellung sondern vielmehr dazu beitragen, eine außergewöhnliche visuelle Ästhetik zu erschaffen und die Loulan-Prinzessin in eine mysteriöse und fiktive Gestalt zu verwandeln.228 Darüber hinaus bestehen die meisten Kostüme der Schauspieler aus mehreren Stoffschichten, wodurch die Körper selbst und die Körpersprache kaum wahrnehmbar werden und die Figuren steif und statisch wirken. So sind z.B. die beiden Arme des chinesischen Fürsten in zahlreiche silber- und goldfarbene Stoffe eingehüllt, die eine viereckige, wulstige Form haben und durch ihre unterschiedliche Größe drei Stufen bilden. Durch diese sich von seinen Handgelenken bis zu den Oberarmen stufenweise verkleinernden Stoffbahnen werden die Arme so gestützt, dass sie die ganze Zeit statisch

228

Das Kostüm, das der Schauspielerin eine tierhafte Gestalt verleiht, steht in Analogie zu dem ersten Kostüm von Ninagawas Medea, auf die ich in Unterpunkt 2.4.1 eingehen werde.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? festgehalten werden und die Arme seitlich vom Körper abstehen.229 Obwohl er die aus der Peking-Oper stammenden hohen Stiefel mit flachen Absätzen trägt und seine Schritte dem Gang einer Wusheng-Rolle (männliche Kampf-Rolle in der Peking-Oper) entsprechend nachempfindet, wirken seine Bewegungen durch die eckig geformten Ärmel mechanisch und puppenhaft. Die wulstigen Stoffbahnen erstrecken sich noch weiter auf beiden Seiten der viereckigen Halterung nach oben, welche der chinesische Fürst auf seinen Schultern trägt. Am oberen Teil der Halterung sind einige Schmuckketten befestigt, was eine Adaption der Krone eines chinesischen Kaisers nahe legt.230 Während die aus Jade-Kugeln bestehenden Ketten der kaiserlichen Krone hinter bzw. vor dem Kopf hängen, sind die beiden Enden der Kette hinter dem Kopf des Darstellers an der Halterung befestigt, so dass sie vielmehr wie ein chinesischer Abakus (Rechenbrett mit Kugeln) aussehen.231 Da die ursprüngliche Form auf diese Art und Weise stark verfremdet wird, lässt sich diese Symbolik für die politische Macht Chinas kaum noch erkennen. Daher trägt ihre Kombination mit den eckigen Ständern und den mehrfachen Stoffbahnen, die keinen Bezug zu Peking-Oper-Kostümen oder zu historischer chinesischer Kleidung aus der Han-Dynastie haben, nur noch zur Verfremdung der Figur bei. Darüber hinaus ist sein knallrot geschminktes Gesicht eindeutig eine Adaption sowie eine beabsichtigte Abweichung von der Gesichtsbemalung der Peking-Oper. Roter Farbe wird in der PekingOper Loyalität und Mut zugeschrieben, 232 was jedoch nicht dem Charakter des chinesischen Fürsten bzw. Euripides’ König Kreon entspricht. Im Unterschied zur Peking-Oper, bei der die Augenbrauen und Augen durch schwarze Linien betont werden, sind die Randflächen von Augen, Nase und Mund beim chinesischen Fürsten ungeschminkt, so dass die Sinnesorgane kaum wahrnehmbar sind und nur die vier auf das Gesicht verteilten roten Flächen für den 229 230

Siehe Anhang, Abb. 6 Die chinesische Krone wird auf Chinesisch als Mian bezeichnet und ihr späteres Aussehen hatte sich bereits in der Zhou-Zeit (1111-222 v.Chr.) herausgebildet. Sie besteht aus einem runden Hut, auf dem sich ein viereckiges, 27cm langes Holzbrett befindet, das der Länge nach von hinten nach vorne ausgerichtet ist. An beiden Enden hängen jeweils zwölf Ketten, die aus zahlreichen Jadekugeln bestehen, wobei die Anzahl der Jadekugeln für einen chinesischen Kaiser auf 288 festgelegt worden ist. Somit hängen die Ketten vor und hinter dem Kopf eines chinesischen Kaisers, wodurch den Untertanen Ehrfurcht eingeflößt werden soll. Siehe: Li, Ting-zhi (Hg.): Zhongguo fushi dacidian (Das große Wörterbuch der

231 232

chinesischen Kostüme), Taiyuan 1992, S. 325 Yuan 1994, S. 284ff Zung, Cecilia, S.L.: Secrets of the Chinese Drama, Schanghai 1937, S. 41

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Zuschauer deutlich zu sehen sind. Durch eine solche Abweichung verlieren die rote Farbe und das Muster aber ihre originäre Bedeutung, so dass man anhand des rot bemalten Gesichts keinen klaren Charakter und keine bestimmte Symbolik erkennen kann. Alles in allem erscheint der chinesische Fürst auf diese Weise als eine undefinierbare und fiktive Figur. Nicht nur die zahlreichen Stoffbahnen, sondern auch die überdimensionalen Kopfbedeckungen belasten die Körper der Schauspieler auf Grund ihres schweren Gewichts und behindern die Bewegungen.233 Während der Probe beklagte sich Wei Hai-min über die mehr als zehn Kilo wiegenden Kostüme, die ihr Rückenschmerzen verursachten.234 Dies lässt sich vor allem beim zweiten Kostüm der Loulan-Prinzessin für den Zuschauer erahnen. Die Kopfbedekkung, die deutlich größer als ihr Kopf ist, hat eine dreieckige Form und wirkt mit ihren vierfachen Falten wie eine aufgefaltete Lotusblüte. Die Krempe ist mit zahlreichen silbernen Troddeln dekoriert und in der Mitte ist ein Kreis markiert, der mit einigen Muscheln und Baumwurzeln dekoriert ist. Während die mittlere Spitze der blumenförmigen Kopfbedeckung aus einem glänzenden, weißen Stoff angefertigt ist, sind die letzten zwei unteren Falten aus roten, weinroten, gelben und grünen Farbstreifen gemustert, was traditioneller tibetischer Kleidung ähnelt.235 Nach der Auffassung des Kostümbildners Ye Jin-tian beruht diese Art der Kopfbedeckung auf dem Peking-Oper-Kopfschmuck der Figur Yang Yu-huan, welche die Lieblingskonkubine des chinesischen Kaisers Tang Tai-Zhong in der Tang-Dynastie (618-907 n.Chr.) war.236 Jedoch besteht weder eine kulturelle Gemeinsamkeit noch eine charakterliche oder geschichtliche Analogie zwischen Yang Yu-huan und Medea, so dass die Bedeutung dieser von Ye Jin-tian genannten Verknüpfung nicht ersichtlich ist. Außerdem unterscheiden sich auch das Material, die Form und das Farbmuster der Kopfbedeckung Medeas stark vom Kopfschmuck Yang Yu-huans, da der Kopfschmuck Yang Yu-huans halbkreisförmig ist und über und über mit Perlen dekoriert ist, so dass auch keine visuelle Verbindung zwischen Beiden zu finden ist.237 Aus demselben tibetischen Farbmuster wie die Kopfbedeckung bestehen auch die zwei hornartig versteiften Schulterbedeckungen. Da ihre Breite größer als die der Armlänge ist und ihre Spitzen nach unten verlaufen, scheint der Körper der Schauspielerin zwischen

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Diamond 1998, S. 169 Chang 1994, S. 75

235 236 237

Siehe Anhang, Abb. 4 Chang 1994, S. 70 Zhang, Liang 2000, S. 87

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Westlicher Geist im östlichen Körper? zwei riesigen Schnäbeln eingeklemmt zu sein. Im Unterschied zu diesem eigenartigen und kulturell undefinierbaren Ornament entspricht der große silberne Halsring, in dessen Mitte sich einige silberne Ketten befinden, dem Schmuckstil des chinesischen Minderheitsvolkes der Miao.238 Da der Kopf der Schauspielerin durch die überdimensionale Kopfbedeckung und den Halsring eingerahmt wird, scheint der Kopf durch die breiten Schulterbedeckungen vom Körper getrennt zu sein. Dazu bedeckt ein weißes Cape den ganzen Oberkörper von Wei Hai-min bis zur Hüfte, wobei zwei röhrenförmige Ärmel auf Brusthöhe angenäht sind. Da die Schultern durch diese Anordnung nicht mehr zu sehen sind und die Arme, anstatt normalerweise seitlich vom Oberkörper, nun eng vor dem Körper positioniert sind, erscheinen die Arme so unnatürlich wie zwei angehängte Prothesen ohne Schultergelenke. 239 Außerdem sind die beiden Hände der Schauspielerin auf Grund der Länge der Ärmel kaum noch zu sehen. Jeweils an beiden Seiten der Krempe des weißen Capes ist noch ein dreifacher, grüner Volant angenäht, der bis über den Boden fällt. Während die Ärmel, Kopf- und Schulterbedeckungen tibetische Motive enthalten, ähneln das Cape, der dekorative Volant und der weiße Rock ohne Unterrock der europäischen Mode aus der zweiten Hälfte des 18. Jh.240 Somit verweist das Kostüm weder auf eine bestimmte Kultur noch auf eine bestimmte Zeit. Da es auch keine Anspielungen auf den Charakter der Loulan-Prinzessin erkennen lässt, ist festzustellen, dass das Kostüm als reine Dekoration fungiert. Da kein Element der Peking-Oper bei diesen Kostümen integriert wurde, versucht Wei Hai-min, den dreifachen Volant unter

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Das in China lebende nationale Minderheitenvolk der Miao ist bekannt für seinen kunstvollen Silberschmuck. Die Verehrung für Silber steht in Verbindung mit der Verehrung der weiblichen Fruchtbarkeit, weshalb der Silberschmuck den Frauen vorbehalten ist. Die zahlreichen silbernen Halsreifen und die überdimensionalen, prächtigen silbernen Kopfbedeckungen, die von einer Frau allein getragen werden, können bis zu zehn Kilogramm wiegen. Siehe: Yang, Juan-guo: Miao-zu fushi: fuhao yu xiangzheng (Die Zeichen und Symbole bei der Kleidung des Miao-Volks), Guiyang 1997 S. 260ff. Ye Jin-tian weist auch selbst darauf hin, dass er sich auf den Kleidungsstil der Miao bezogen hat. Siehe: Huang, Fu-mei: „Shengmi qiyue ‚Loulan Nü‘: Taiwan ban Meidiya dengchang“ („Der my-

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steriöse Juli: ,Loulan Nü‘ – der Auftritt der taiwanesischen Medea“), in: Zhongyang Ribao (Zentral-Zeitung), 3.7.1993 Diamond 1998, S. 169 Siehe Anhang, Abb. 4 sowie Thiel, Erika: Geschichte des Kostüms: Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1980, S. 321ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea dem weißen Cape als Ersatz für die Wasserärmel der Peking-Oper zu verwenden. Da die Stoffe jedoch schwerer als die sonst üblichen Wasserärmel sind und ihre stufige Form keine fließenden Bewegungen zulässt, kann Wei Hai-min sie nur noch mit den Händen greifen und entweder nach vorne oder nach hinten schwingen. Somit ist der Bewegungsspielraum durch den dreifachen Volant nicht nur auf den Unterleib der Schauspielerin beschränkt, sondern die Bewegungen sowie der damit ausgedrückte Gemütszustand erscheinen auch träge im Vergleich zu den Wasserärmeln, welche in jede Richtung geworfen werden können, was zudem flink und geschickt ausgeführt werden kann. Das Kostüm erschwert nicht nur die stilisierten Bewegungen der Peking-Oper, sondern hat auch zur Konsequenz, dass der Körper und die ganze Körpersprache unter den zahlreichen Stoffschichten und komplizierten Kostümen verschwindet, wie auch folgende Äußerung von Wei Hai-min bestätigt: „Under those long, heavy, layered garments, the audience would find it hard to perceive the way we moved.“241 Daher stellt sich die Frage, welche dramaturgische Bedeutung und Funktion dieses Kostüm überhaupt hat. Wei Hai-min wechselt das erste Kostüm auf der Bühne mit Hilfe der Chöre, als sie von diesen erfährt, dass Jason sie zum ersten Mal nach seinem Liebesverrat besuchen kommt. Im Unterschied zum ersten Kostüm, dessen Farbe ein dunkles Lila ist und auf die Traurigkeit und Niedergeschlagenheit Medeas hinweist, soll das zweite Kostüm, das überwiegend weiß ist, ihre Unschuld und Zärtlichkeit darstellen.242 Lin Xiu-wei begründet den Kostümwechsel damit, dass die LoulanPrinzessin auf Grund ihres weiblichen Instinkts ihre Traurigkeit vor Jason verbergen und ihre Würde bewahren möchte.243 Dabei lässt die Regisseurin jedoch einen wichtigen Punkt außer Acht. Das erste Kostüm verweist nämlich nicht nur auf den trübseligen Gemütszustand, sondern verleiht ihr auch durch die in den Unterärmeln ver241 242

Chang 1994, S. 70ff Po-Yun: „‚Loulan Nü‘ de fuzhuang yishu“ („Das Kostüm-Design von ,Loulan Nü‘“), in: Yishu Zhixun (Kunstmagazin), Aug. 1993, S. 54. Die Tibeter verehren die Farbe Weiß, da sie Gerechtigkeit, Güte, Erhabenheit, Reinheit, Frieden, Glück und Feierlichkeit symbolisiert. Außerdem wird Weiß im tibetischen Glauben auch als ein Zeichen der Göttlichkeit betrachtet, welches magische Kraft besitzt. Siehe: Li, Tao: Tibetan Costumes, Peking 2003, S. 85f. Ob Ye Jin-tian diese tibetische Symbolik beim weißen Kostüm Medeas berücksichtigt hat, lässt sich zwar nicht feststellen, aber dass Weiß in der westlichen Kultur ebenso Reinheit und Unschuld symbolisiert, ist allgemein bekannt. Insofern lässt sich folgern,

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dass das weiße Kostüm auf die Reinheit und Unschuld Medeas verweisen soll. Lu, Jian-ying, 1993, S. 66ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? steckten Schwerter sowie die als zwei Flügel erscheinenden Schweife eine gefährliche, mysteriöse Gestalt. Indem sich die LoulanPrinzessin durch den Kostümwechsel von einer rachgierigen zu einer unschuldigen Frau verwandelt, kann man dabei nicht von Bewahrung der Würde sprechen. Anhand der bisher beschriebenen Beispiele ergibt sich, dass keines der Kostüme auf die kulturellen Hintergründe der Figuren oder auf Zeit und Raum der Handlung verweist. Daher stellt sich die Frage, wie der Kostümbildner Ye Jin-tian die Figuren bei Euripides interpretiert, was er mit den Worten erläutert: „Im ganzen Stück von Euripides ist Jason die einzige Person die real ist, weil keine der Figuren außer Jason ihre Innenwelt entlarvt und alle nur dazu dienen, die Handlung voranzutreiben.“244 Obwohl er Jason als einzige reale Figur betrachtet, weisen aber das Kostüm und das Make-up des Jason-Darstellers ebenso wenig wie bei allen anderen Figuren auf den wirklichen Hintergrund und Charakter hin. Somit entsprechen die hohen Stiefel mit flachem Absatz zwar dem Kostüm des Wusheng-Rollentyps (der männlichen Kampffigur) der Peking-Oper und die langen gelben Ärmel repräsentieren die historische chinesische Kleidung aus der Han-Zeit (206 v.Chr. - 220 n.Chr.),245 aber die an Laternen erinnernde rote Hose und die zwei dreieckigen roten und silbernen Schulterpolster ähneln eher einem zentralasiatischen Kleidungsstil. Die Schulterpolster bedecken den Oberkörper bis zur Taille, wobei jeweils ein rotes Band an den nach außen zeigenden beiden Spitzen der Schulterpolster über die Schulter hängt und einige unterschiedlich lange rote Bänder an ihrer Rückseite befestigt sind. Der Kopfschmuck besteht aus einer halbrunden silbernen Scheibe, wie die Form der Sonne bei einem Sonnenaufgang. Dahinter ist ein turmähnliches Ornament mit einem quadratischen Dach befestigt, an dem einige silberne Kugeln jeweils davor und dahinter über den Kopf herabhängen.246 Dies lässt sich mit den Perlenketten am Kopfschmuck der chinesischen Kaiser assoziieren, was laut Ye Jin-tian auch auf die Machtgier Jasons hindeuten soll. 247 Auf Grund der Zusammensetzung unterschiedlicher Kulturelemente sowie der neu erfundenen Elemente wie der roten Bänder und der silbernen Scheibe lässt sich aber nicht die kulturelle Identität bzw. der soziale Status Jasons feststellen. Vor allem im Gegensatz zu der beabsichtigten „realen“ Gestaltung erscheint er durch sein vollkommen goldfarben geschminktes Gesicht eher als ein übernatürli-

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Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Yuan 1994, S. 284ff Siehe Anhang, Abb. 7 Chang 1994, S. 70ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea ches Wesen, weil die goldene Farbe in der Schminkkunst der Peking-Oper nur für Götter, Geister oder andere spirituelle Wesen verwendet wird.248 Daher wird Jason also letztendlich als eine ebenso fiktive und imaginäre Figur dargestellt wie alle anderen. Da die Aufführung Loulan Nü mit der Wiederauferstehung einer verstorbenen Frau beginnt, versteht Ye Jin-tian die Geschichte als die Erinnerung eines Geistes und betrachtet insofern alle Figuren als fiktiv. Dementsprechend begründet Ye Jin-tian seine Gestaltung der Figuren wie folgt: „...ich versuche den dramaturgischen Faktor mit der Figur neu zu kombinieren. Darunter verstehe ich, dass die Emotion das Allerwichtigste ist, das zum Ausdruck gebracht werden muss. In der Ausdrucksform baue ich zuerst eine wunderliche und reale Welt auf, in der sich die Gestalten aller Figuren von den Erinnerungen (Medeas) unterscheiden und verschwommen sind, wie z.B. die Amme, der Pädagoge, der chinesische Fürst, Jason, die Tochter des Fürsten usw.“249

Daran wird deutlich, dass er durch die Mischung von Fiktion und Realität die Identität der Figuren verwischt, um so die Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Meiner Ansicht nach ist es jedoch fraglich, wie den Zuschauern die Gefühle der Figuren vermittelt werden können, wenn die Identitäten bzw. sozialen und kulturellen Hintergründe der Figuren nicht feststellbar sind. Seine Aussage deutet darauf hin, dass die Emotionen für ihn eben nicht durch die Darstellung der Charaktere, sondern durch die mit den Kostümen geschaffenen visuellen Eindrücke sowie der jeweiligen Atmosphäre hervorgebracht werden. Ferner behauptet er, in Anlehnung an die ästhetischen Prinzipien der Peking-Oper viele Symbole verwendet zu haben, um hierdurch die Charaktere hervorzuheben.250 Somit soll z.B. der wollige Ball der Amme auf ihre Mütterlichkeit hindeuten, der einer Mondsichel ähnelnde Hut des Pädagogen auf seine Intelligenz und das wie ein Turm aussehende Ornament Jasons auf seine Machtgier. Jedoch werden die entnommenen Symbole so weit transformiert und verfremdet, dass ihre ursprüngliche Form und Bedeutung kaum noch nachzuvollziehen sind und dadurch die Figuren in befremdliche, komische, absurde und fiktive Gestalten verwandelt werden. Um den Figuren jeglichen kulturellen und sozialen Kontext zu entziehen, werden verschiedene Elemente und Symbole aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen und beliebig kombiniert. Hierdurch wird vielmehr Verwirrung gestiftet, als neue Bedeutun248 249 250

Zung 1937, S. 41 Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993 Chang 1994, S. 70ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? gen entstehen. Außerdem trägt zu weiterer Irritation bei, dass die Schauspielerei der Symbolik widerspricht, wie es z.B. bei der Amme und dem Pädagogen der Fall ist.251 Da die rekonstruierten Ornamente weder einer bestimmten Kultur zugeordnet werden können noch auf die inhaltlichen Zusammenhänge verweisen, fungieren sie zusammen mit den prächtigen, überdimensionierten visuellen Erscheinungen nur noch als beeindruckende aber sinnentleerte Dekoration. Dies weist nicht zuletzt darauf hin, dass die entnommenen chinesischen sowie anderen undefinierbaren kulturellen Symbole auf einer oberflächlichen Ebene adaptiert und lediglich auf Grund einer ausschweifenden Phantasie verfremdet worden sind. Es stellt sich weiterhin die Frage, inwiefern Ye Jin-tian sich um eine Annäherung von chinesischer und griechischer Kultur bemüht hat und dies durch die Kostüme zu erkennen gibt. Wie bereits anhand der Untersuchungsergebnisse dargelegt, dient das archaische Reich Loulan in erster Linie dazu, als kulturfreier Raum zu fungieren, welcher der Regisseurin künstlerische Freiheit ermöglicht. Unter dieser Voraussetzung nutzt auch der Kostümbildner das allgemein unbekannte Loulan als eine Projektionsfläche für eigene Phantasievorstellungen. Dazu äußert er sich folgendermaßen: „Loulan Nü gibt mir ein sonderbares Gefühl und sie [die Geschichte] darf nicht nach den üblichen Regeln und Normen kreiert werden. Um die chinesische und westliche Kultur zu vermischen, ist ein Prozess der Romantisierung notwendig. Der Grund besteht darin, dass sich die Beziehung zwischen Menschen und Göttern in den griechischen Tragödien stark von der traditionellen chinesischen Einstellung unterscheidet und die griechischen Tragödien eine geheimnisvolle Zone – den Chor – enthalten können.“252

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In der Aufführung Loulan Nü wird der Pädagoge wie ein Schurke dargestellt, was im Widerspruch zu seiner Tugend und Intelligenz verkörpernden Rolle steht. Bereits in der Dialogszene mit der Amme schmäht er Medea als eine unkluge Frau, die selbst Schuld am Liebesverrat Jasons sowie ihrer Notlage durch die Verbannung sei. Als er aber die klagende Stimme Medeas aus dem Hintergrund hört, bekommt er Angst und flieht sofort. Als Medea mit Gedanken an den Kindermord kämpft, tritt er noch einmal auf. Einerseits lobt er Medea, dass sie endlich zur Vernunft kommt und sich mit Jasons Liebesverrat abfindet. Andererseits versucht er übermütig, Medea dazu zu überreden, dass sie als Barbarin ruhig noch einmal heiraten kann. Ein solches gesinnungsloses und schadenfrohes Verhalten trägt dazu bei, dass der Pädagoge wie ein hinterhältiger

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Schurke erscheint, so dass sich feststellen lässt, dass die schauspielerische Darstellung nicht mit der Bedeutung des Kostüms übereinstimmt. Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Nach dieser Aussage differenziert er also nicht zwischen westlicher und antiker griechischer Kultur. Seine Aussage verweist vielmehr auf die zentrale Problematik bei seiner Adaption bzw. bei chinesischen Adaptionen griechischer Tragödien im Allgemeinen, die in der Diskrepanz der Religionen und dem griechischen Chor besteht. Dadurch, dass die Kluft zwischen chinesischer und antiker Kultur allein durch die „Romantisierung“ überwunden werden soll, lässt sich nachweisen, dass er keine Schnittmenge sieht und somit bei den Kostümen keine Verknüpfung der Kulturen erkennen lässt. Darüber hinaus werden die kulturellen Gegensätze auch nicht im Rahmen des dramaturgischen Konflikts aufgegriffen. Dies zeigt, dass er, anstatt sich mit den kulturellen Differenzen auseinanderzusetzen, die Unzugänglichkeit und Diskrepanz als Vorwand für seine künstlerische Freiheit nutzt, um sich dadurch allen bestehenden Regeln und Normen entziehen zu können. Demnach folgen seine Kostüme weder den ästhetischen Prinzipien der traditionellen chinesischen Peking-Oper-Kostüme noch den Grundsätzen des realistischen westlichen Sprechtheaters. Dass die Kostüme weder auf einen bestimmten, einheitlichen kulturellen Kontext verweisen noch mit der Charakterisierung der Figuren übereinstimmen, setzt sich überhaupt jeglichen ästhetischen Prinzipien des Theaters entgegen. Ferner besteht die „Romantisierung“ in erster Linie aus seinen eigenen, Phantasiebildern, denn er greift nicht auf die kollektiven, romantisierenden Vorstellungen der Chinesen über Griechenland bzw. die antike griechische Kultur zurück. Ein Indiz hierfür ist, dass bei seinem breiten Spektrum an kulturellen Elementen und Symbolen keinerlei antiken griechischen Kleidungselemente integriert worden sind. Das einzige Element, das noch als „griechisch“ aufgefasst werden könnte, scheint der Chor zu sein. Da jedoch der griechische Chor nach Aussage Yes „geheimnisvoll“ bleiben soll, wird ebenfalls deutlich, dass es ihm nicht darum geht, dessen theatrale Ausdrucksform in die Dramaturgie zu integrieren, sondern vielmehr darum, diesen zu mystifizieren.253 Sowohl seine Herangehensweise als auch seine Kreationen geben somit Aufschluß darüber, dass keinerlei konkrete Verbindung zwischen chinesischer und griechischer Kultur hergestellt wird. Da der Exotismus im Allgemeinen als ein romantisches Phänomen des 18. und 19. Jh. verstanden wird und ausschließlich auf die Faszination für ferne Länder bzw. den Orient zurückgeht, 254 verweist der Ausdruck „Romantisierung“ unmittelbar auf die „Exotisierung“ des Orients. Dementsprechend bedient sich Ye Jin-tian

253 254

Auf die Kostüme des Chors werde ich in Unterpunkt 2.3.3 noch ausführlicher eingehen. Pochat 1970, S. 15ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? verschiedener Kulturelemente, die weder einen Bezug zur antiken griechischen Kultur noch zu den Xiyu-Kulturen (der heutigen Provinz Xinjiang) der Han-Dynastie haben. Bei seinen Kreationen für Loulan Nü stehen überwiegend die fremdartigen Elemente des volkstümlichen Kleidungsstils nationaler Minderheiten in China wie z.B. der Tibeter, Miao, Dai usw. im Vordergrund. Da diese jedoch kaum etwas mit den Xiyu-Kulturen bzw. der heutigen Provinz Xinjiang gemeinsam haben, dienen sie lediglich dazu, den Figuren eine fiktive und imaginäre visuelle Erscheinung zu verleihen. Dabei wird besonders die barbarische und mysteriöse Aura der Loulan-Prinzessin durch entsprechende Kulturelemente der Minderheitenvölker herausgearbeitet. Wie bereits dargelegt, werden die chinesischen Elemente so weit abgewandelt und verfremdet, dass sie nicht mehr auf ihre ursprüngliche Symbolik zurückgeführt werden können, wodurch die Figuren sowohl einem chinesischen als auch ausländischen Publikum fremdartig erscheinen. Eine solche Selbstverfremdung erzeugt jedoch den visuellen Eindruck einer spektakulären, mysteriösen, „exotischen“ bzw. „orientalischen“ Welt. Andererseits werden Elemente und Stoffe verwendet, die an historische westliche Mode angelehnt sind und ebenfalls in sich bzw. durch ihre Kombination mit östlichen Elementen verfremdet werden. Wenngleich eine solche „Exotisierung“ westlicher Kultur hauptsächlich auf das zweite Kostüm der Loulan-Prinzessin, das Kostüm der Amme sowie der Tochter des chinesischen Fürsten255 beschränkt bleibt, dienen solche eklektizistischen Kombinationen dazu, den Anschein einer kulturellen Verschmelzung von Ost und West bzw. eines gleichwertigen Status von östlichen und westlichen Kulturen zu erwecken. Es lässt sich zusammenfassen, dass die Kostüme in der Aufführung Loulan Nü auf Grund der komplizierten Formen, vielschichtigen Stoffe und des Gewichts nicht nur die Körper der Schauspieler kaschieren, sondern auch ihre Bewegungen behindern. Sie stehen in vielerlei Hinsicht weder im Einklang mit der Dramaturgie noch bringen sie Handlungszeit und -raum der Figuren zum Vorschein. Demnach dienen sie nicht mehr dazu, auf die Identität und Charaktere der Figuren hinzuweisen oder als Hilfsmittel für die schauspielerische Darstellung, sondern ausschließlich dazu, prachtvolle und phantasievolle Gestalten hervorzubringen. Ihre überdominante Position in der Aufführung verweist darauf, dass sie von der dramaturgischen Bedeutung unabhängige, eigenständige Kunstwerke

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Siehe Anhang, Abb. 7. Anmerkung: Die Tochter der chinesischen Fürsten zeigt sich in einem ganz weißen Kostüm, das an den europäischen Barock-Stil angelehnt ist.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea darstellen. Durch die extravagante Verfremdung und Zusammensetzung der zahlreichen Kulturelemente erschaffen die Kostüme eine exzentrische und wundersame Welt für sich, die aus starken visuellen Eindrücken eines orientalischen Spektakels besteht. Sie präsentieren somit eine höchste hybride und exotische Kultur, die sich nicht mehr in der kulturellen Kartographie verorten lässt. II.2.3.1.2 Bühne Ebenso wie Ye Jing-tian verzichtet auch der Bühnenbildner Nie Kuan-hai ganz auf die Peking-Oper-Tradition. Stattdessen lehnt er sich an das griechische Proszenium an, indem er die Spielfläche bis zum Orchestergraben ausdehnt und eine Treppe zum Zuschauerraum hinzufügt, so dass sich der Chor zwischen dem Zuschauerraum und der Bühne hin und her bewegen kann.256 Während das Zentrum der Bühne leer steht, nehmen die vier Treppenstufen im hinteren Bereich etwa die Hälfte des Bühnenraums ein. Die ersten bzw. untersten Stufen der Treppe bilden an beiden Seiten einen Bogen nach vorne in einem Winkel von ca. 45 Grad, wohingegen alle anderen drei Stufen waagerecht sind. Auf jeder ersten der drei Etappen befindet sich jeweils links und rechts ein großer Felsbrokken. Die insgesamt sechs Felsbrocken können in waagerechter Richtung bewegt werden, wobei sie sich mit Hilfe einer Computersteuerung öffnen und schließen lassen, was wiederum mit den Bewegungen der Schauspieler koordiniert werden soll.257 Lin Xiu-wei verweist darauf, dass das zentrale Motiv der Kulissen eine Höhle ist, welche die innere Einsamkeit Medeas unterstreichen soll.258 Auch Nien Kuan-hai erklärt, dass die Treppenstufen dazu beitragen sollen, eine mysteriöse, finstere und feuchte Höhle darzustellen. Aber inwiefern die Höhle mit Zeit und Ort der Handlung zusammenhängt, wird weder von der Regisseurin noch von dem Bühnenbildner erläutert. Dies macht deutlich, dass die Handlung nicht zwangsläufig mit dem Einsatz der Kulissen in Verbindung stehen muss. Obwohl die Bühnenkulissen überwiegend aus Treppen bestehen, werden aber hauptsächlich nur die in der Mitte freigelassene Fläche und die erste Stufe der Treppe genutzt. Während die Loulan-Prinzessin von der Mitte der Treppe auf- und abtritt, benutzen alle andere Figuren nur die rechte Seite der ersten Treppenstufen für ihren Auf- und Abgang. Bei der Peking-Oper ist

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Pai, Maggie: „A Chinese Medea“, in: Artention International, Oktober 1993, S. 60 Ebd. Lan, Xun: „‚Dangdai chuanqi juchang‘ yanchu ‚Loulan Nü‘“ („Die ,Contemporary Legend Theater Company‘ führt ,Loulan Nü‘ auf“), in: Zhili Zhaobao (Unabhängige Zeitung), 04.05.1993

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Westlicher Geist im östlichen Körper? die traditionelle Bühne leer und flach, wobei die Schauspieler mit stilisierten Gangarten imaginäre Türschwellen oder Treppen sichtbar machen. Im Vergleich dazu erschwert die reale Treppe jedoch die Bewegungen der Schauspieler,259 nicht nur weil alle männlichen Rollen bei Loulan Nü die Stiefelschuhe der Peking-Oper mit hohen Absätzen tragen, sondern auch weil die Kostüme aus mehreren Stoffschichten bestehen und ein hohes Gewicht haben. Solche Schwierigkeiten erklären wiederum, weshalb kaum die gesamte Treppe verwendet wird. Hieraus ergibt sich, dass Bühnenkulissen und Kostüme, anstatt sich zu ergänzen, in Wirklichkeit einander entgegengesetzt sind. Die gesamte Treppe wird nur für Anfang und Schluss verwendet, wobei die sechs bewegbaren Felsen erst am Ende eingesetzt werden. Durch das Öffnen und Schließen fungieren sie als Tore bzw. bilden drei Mauerstufen, wenn sie geschlossen bleiben. Bei Euripides findet die gesamte Handlung vor dem Haus Medeas statt, wohingegen die sechs Felsen zwar eine Trennung zwischen Innen und Außen markieren, jedoch unklar ist, was die getrennten Räume eigentlich darstellen sollen. Die Verwirrung bezüglich der Räumlichkeiten lässt sich außerdem anhand verschiedener Kritikeraussagen bestätigen: Lu Jian-zhong begreift die Kulissen als das Haus der Loulan-Prinzessin und kritisiert die unlogische Verwendung der Räume, da die Loulan-Prinzessin vor dem Haus zweimal die Kostüme wechselt.260 Im Unterschied dazu versteht Catherine Diamond die Felsen als Stadtmauer von Dunhuang sowie als eine Hervorhebung der Heimatlosigkeit Medeas. Somit kritisiert sie auch die widersprüchliche Raumnutzung, weil Jason in der Schlussszene doch vor der Mauer ausgeschlossen wird.261 Indem die sechs Felsen als geschlossene Tore nur am Anfang und am Schluss eingesetzt werden, scheinen sie vielmehr als Grenze zwischen Diesseits und Jenseits zu fungieren statt als reale räumliche Trennung. Als sich die Felsen im Prolog öffnen und sich der Sarg der Loulan-Prinzessin auf der dritten Treppenstufe erhebt, erscheint die Kulisse wie ein Grab, aus dem sie wiederaufersteht. In der Schlussszene erhebt sich der senkrecht aufgerichtete Sarg abermals im Hintergrund auf der Treppe, als die Loulan-Prinzessin darauf mit den beiden Kinderköpfen in der Hand steht. Als Jason sich ihr nähert, schließen sich die zwei Felsen auf der ersten Treppenstufe, wodurch er von ihr getrennt wird. Auf diese Weise soll die Loulan-Prinzessin, anstatt wie Medea bei Euripides, die mit einen

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Diamond 1998, S. 173

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Lu, Jian-zhong: „‚Loulan Nü‘ hequ hecong?“ („Woher kommt und wohin geht ,Loulan Nü‘?“), in: Performing Arts Review, Sept. 1993, S. 106 Diamond 1998, S. 173

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea Drachenwagen in die Himmel flieht, mit dem Sarg in die Erde entkommen, so dass die Felsen lediglich als Trennung zwischen Jenseits und Diesseits fungieren. Da die Regisseurin die Bühne offenbar nicht als realen, sondern als „spirituellen“ Raum nutzen wollte und den Handlungsort dadurch außer Acht gelassen hat, trägt ihre Raumnutzung zusätzlich zur Verwirrung des Publikums bei. Letztlich lässt sich die Frage stellen, welche Funktion die Bühnenkulissen insgesamt erfüllen. Zunächst wird durch Kombination mit dem Licht eine visuell beeindruckende, mysteriöse Atmosphäre hergestellt. Vor allem ist der gesamte Boden vor der Treppe mit unregelmäßigen braunen Kreisformen bemalt, so dass er wie der Boden einer feuchten Höhle aussieht. Durch die Beleuchtung wird nicht nur ein dreidimensionaler Eindruck vermittelt, sondern es werden auch unterschiedliche visuelle Effekte ermöglicht. Einmal verwandelt sich die Spielfläche in der Mitte durch das spiralförmige blaue Licht zur Wasseroberfläche eines Sees, ein anderes Mal verwandelt sie sich durch das grüne Licht zu einer mysteriösen, traumhaften Welt. Nicht zuletzt wird die gesamte Treppe durch das rote Licht, welches unter der Treppe hindurch strahlt, in den Eingang der Unterwelt umgewandelt. Durch den massiven Einsatz der bombastischen Lichteffekte werden die Schauspielkunst und die Handlung in den Hintergrund gedrängt, so dass sich die Schlussfolgerung ziehen lässt, dass die Bühnenkulissen, anstatt sich auf die inhaltliche Handlung zu beziehen, allein der Herstellung einer bestimmten Atmosphäre der Aufführung dienen.262 Da sie nicht auf konkrete Zeiten, Räume und Kulturen hinweisen, ist die Bühne damit praktisch ein fiktiver, abstrakter und undefinierter Raum. Obwohl die Bühne bei der Peking-Oper ebenfalls fiktiv bleibt, wird sie durch die stilisierte Darstellung sowie die Erzählung der Schauspieler immer wieder neu definiert. Dieses ästhetische Prinzip der Peking-Oper wird in der Raumnutzung der Loulan Nü-Aufführung jedoch nicht integriert, weil dabei auf sämtliche Stilisierungen der Peking-Oper verzichtet werden und stattdessen auf die realistische und naturalistische Schauspielkunst zurückgegriffen wird. Folglich stellt die Bühne sowohl reale als auch imaginäre Räume dar, was auf Grund der fehlenden Hinweise auf den Handlungsort bei den Zuschauern zwangsläufig Irritationen hervorruft. Ebenso wie die Kostüme, dominiert auch das Bühnenbild über die schauspielerische Darstellung und sorgt zusammen mit den Lichteffekten für eine variable, überwiegend mysteriöse Atmosphäre.

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Diamond 1998, S. 173ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

II.2.3.2 SPRACHE UND MUSIK Obwohl die Peking-Oper-Schauspieler im Zentrum der Aufführung Loulan Nü stehen, wird auf weitere Elemente der Peking-Oper wie Sprache, Gesang und Musik verzichtet. Dies begründet die Regisseurin Lin Xiu-wei wie folgt: „Wir haben am Anfang versucht, die gereimte Xiqu-Sprache zu verwenden und merkten, dass die Sanftheit des Falsettes der Dan-Rolle eine Folge der patriarchalischen Unterdrückung ist. Daher kann das Falsett einerseits nicht die wütenden und stürmischen Emotionen Medeas ausdrücken, andererseits bringt es die Zuschauer wieder zurück zu allgemein bekannter Zeit und Räumlichkeit. Außerdem muss die gereimte Xiqu-Sprache von einem Peking-Oper-Orchester und einer Peking-Oper-Gesangsmelodie begleitet werden, so dass Bühne, Musik und Kostüme auch entsprechend volkstümlich erscheinen müssen. All dies führt jedoch unmittelbar zur Einschränkung der Kreativität. In der Aufführung ,The Kingdom of Desire‘ haben wir ein traditionelles Peking-Oper-Orchester und eine traditionelle Gesangsmelodie beibehalten, aber wir möchten uns jedoch weiter entwickeln und mehr Risiko wagen, um unser Ziel, ,ein chinesisches Theater mit taiwanesischem Geist‘, zu erreichen.“263

M.E. ist es jedoch fragwürdig, die Falsett-Stimme als patriarchalische Unterdrückung der Frauen durch die Peking-Oper zu betrachten, da nicht nur die Dan-Rolle, sondern auch die Xiaosheng-Rolle (männliche Rolle als junger Gelehrter) die Falsettstimme verwendet. Um die turbulenten Emotionen der Medea zum Ausdruck zu bringen, und um die allgemein bekannte Zeit und Räumlichkeit zu vermeiden, soll die natürliche Stimme die Falsettstimme ersetzen. Da aber die erwähnten Nachteile der Falsettstimme der Dan-Rolle durch die Verwendung der Sprechtechnik der anderen Rollentypen der Peking-Oper gelöst werden können und da allein die Verwendung der natürlichen Stimme nicht gleich als unmittelbarer Ausdruck der Emotionen interpretiert werden kann, ist ihre Begründung nicht stichhaltig. Darüber hinaus ersetzt Lin Xiu-wei die gereimte und poetische Sprache der Peking-Oper durch eine Mischung aus alltäglicher Sprache und moderner Poesie, damit die taiwanesischen Zuschauer keine Unter- bzw. Übertitel brauchen.264 Die Verwendung der alltäglichen Sprache soll offenbar einen aktuellen Bezug und damit eine Verbindung mit der heutigen Zeit herstellen. Jedoch täuscht hierbei die äußere Form der Sprache darüber hinweg, dass verbal keine zeitgemäßen, fortschrittlichen Inhalte

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Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993 Su, Hui-zhao: „‚Loulan Nü‘ daijia xin qiqi“ („Loulan Nü kurz vor der Premiere »), in: Taiwan Shibao (Taiwanesische Zeitung), 03.07.1993

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea vermittelt werden. Vielmehr findet sich eine Übereinstimmung zwischen dieser banalen Ausdrucksweise und der Auseinandersetzung zwischen Medea und Jason, der auf diese Weise als ebenso gewöhnlicher Ehestreit erscheint. Letztlich erweist sich Lin Xiu-weis Argument für die Notwendigkeit des Verzichts auf Gesang und Musik der Peking-Oper als widersprüchlich, da Gesang und Musikorchester der Peking-Oper in der Aufführung The Kingdom of Desire beibehalten wurden, obwohl weder Bühnenbild noch Kostüme der PekingOper entsprachen. Nicht zuletzt ist es fraglich, inwiefern der gänzliche Verzicht auf die Sprache und Musik der Peking-Oper zur Weiterentwicklung eines „neuen chinesischen Theaters mit taiwanesischen Geist“ beitragen kann, wenn doch keine erkennbaren „taiwanesischen“ Elemente in die Aufführung Loulan Nü integriert worden sind. Insofern kann argumentiert werden, dass die feministische Intention und die Artikulation eines „neuen Theaters“ als Vorwand dienen, damit eine Befreiung von den Einschränkungen der PekingOper erfolgen und künstlerische Freiheit zugelassen werden kann. Obwohl durch die Verwendung der alltäglichen Sprache und natürlichen Stimme keine Über- bzw. Untertitel für die taiwanesischen Zuschauer benötigt werden, treten trotzdem Verständigungsprobleme auf, nicht nur weil die Musik oft die Dialoge übertönt, sondern auch weil die Schauspieler auf Grund ihrer unterschiedlichen Ausbildung über keine einheitliche Aussprache und Intonation verfügen. Vor allem sprechen die dreizehn Chormitglieder auf Grund ihrer ungeschulten Stimme mit schlechter Aussprache ohne klare Betonung, wobei sie die Texte oft nicht synchron genug vortragen.265 Nicht zuletzt geht die präzise Zusammenführung von Sprache und Bewegungen der Peking-Oper in der Aufführung Loulan Nü ganz verloren.266 Überdies sind viele Dialoge zu hören, die der alltäglichen Sprache in Fernsehserien ähneln,267 wodurch der Text von Euripides stark simplifiziert wird und seine Figuren zu oberflächlichen, trivialen und klischeehaften Figuren verwandelt werden. Somit erscheint z.B. der Streit zwischen Jason und Medea wie der Streit eines gewöhnlichen Ehepaars.268

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Die Besetzung des Chors und die Ausbildung der Chormitglieder werden

266 267

in diesem Kapitel, Unterpunkt 2.2.3 beschrieben. Dies wurde bereits in diesem Kapitel, Unterpunkt 2.2 dargelegt. Lin, Gu-fang: „Shengming linian zhuanhuan yu meixue shoufa ronghe: ‚Loulan Nü‘ yinfa de dandai juchang keti“ („Transformation des Logos und Verschmelzung der Ästhetiken: die von ,Loulan Nü‘ ausgelöste Problematik und Aufgabe des zeitgenössischen Theaters“), in: Lianhe Bao

268

(Zeitung der Vereinigung), 13.07.1993 Lin, Yuen-shan: „Wo kan ‚Loulan Nü‘“ („Wie ich Loulan Nü betrachte‘“), in: Minsheng bao (Zeitung des Volkslebens), 09.07.1993

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Während der Gesang einen wesentlichen Bestandteil bei der PekingOper darstellt, wird der Anteil des Gesangs in der Aufführung Loulan Nü insgesamt auf nur vier Lieder reduziert, deren Text die Regisseurin selbst geschrieben hat.269 Somit singt Wu Xing-guo in der Rolle als Jason ein Jagdlied, das wie die Musik des chinesischen Kaiserhofs klingt. Hingegen singt Wei Hai-min die anderen drei Lieder Wiegenlied, Göttin des Loupor-Sees, und Trauer um die Kinder, die im volkstümlichen Musikstil der Mongolei komponiert worden sind, wodurch der Kontrast zwischen dem zivilisierten Jason und der barbarischen Medea zum Ausdruck gebracht werden soll. Obwohl Wei Hai-min mit ihrer natürlichen Stimme sowohl singt als auch spricht, wird darauf hingewiesen, dass ihre typische PekingOper-Gesangsstimme dennoch immer wieder zwangsläufig zum Vorschein kommt: „Wei also says she did not entirely give up the high-pitched opera voice for which she is so well-known, either in this scene [die Szene vor dem Kindermord, in der sie das Lied ,Trauer um die Kinder‘ singt] and throughout the play. Often, after allowing her natural voice to reach a high pitch, she would switch to the operatic falsetto right at the very end of a particular speech... She says she would never have been able to switch her voice as freely as she did in playing Medea if not for her Peking-Oper voice training.“270

Für die gesamte Musik und die Klangeffekte in Loulan Nü“ ist der taiwanesische Komponist Xu Bo-yun zuständig. Er weist darauf hin, dass die Aufführung Loulan Nü die buddhistische Weltanschauung von „Sühne und Versöhnung“ vermittelt, wodurch sie sich von Ninagawas Medea-Aufführung unterscheidet, welche sich seiner Meinung nach einseitig auf die Darstellung des Hasses einer Frau konzentriert.271 Während Yukio Ninagawa zwei Titel aus der Filmmusik von Stanley Kubricks (1928-1999) Barry Lyndon als roten Faden seiner Medea-Aufführung übernimmt,272 komponierte Xu Bo-yun hingegen eigens über zehn Musikstücke für Loulan Nü. Seiner Ansicht nach ähnelt die Kultur Loulans der des Reiches Xixia273 269 270

Zhong, M. 1993, a.a.O. Chang 1994, S. 75

271 272

Cao, Yun-yi: „Xu Bo-yun wei ‚Loulan Nü‘ bianqu” („Xu Bo-yun komponiert ,Loulan Nü‘“), in: Lianhe Bao (Zeitung der Vereinigung), 03.07.1993 Die beiden Filmmusiktitel sind Sarabande von Georg Friedrich Händel

273

(1685-1759) und Mná na h-Éireann (Women of Ireland) von Seán Ó Riada (1931-1971). Das Reich Xixia (1038-1227 n.Chr.) war in der Song-Dynastie ein Nachbarland Chinas und sein Territorium erstreckte sich in seiner Blütezeit um 1041 von der heutigen Provinz Shanxi bis zum Jade Tor in der Provinz Gansu. Es wurde im Jahr 1227 von Mongolen erobert. Siehe: Lu, Qin:

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea und der wesentliche Kern von Euripides’ Medea geht in den indischen Glauben an Shiva über, weshalb er auf den musikalischen Regelkanon des Westens verzichtet und sich auf die spirituelle Dimension der Musik konzentrieren möchte.274 Das Reich Xixia befand sich zwar wie Loulan in der Provinz Xinjiang, aber die Musik von Xixia ist heute ebenso völlig unbekannt, so dass man nicht überprüfen oder dagegen argumentieren kann, ob sich seine Musikkomposition wirklich auf Xixia zurückführen lässt. Auf Grund der Unwissenheit können heute die Kulturen der Reiche Xixia und Loulan nicht voneinander unterschieden werden und stellen somit nichts weiter als eine Projektionsfläche dar. Diese unnötige Verknüpfung von beiden Kulturen dient hier lediglich dazu, den Anschein zu erwecken, als ob man die Musik von Loulan tatsächlich rekonstruieren könne. Außerdem ist es eindeutig zu weit hergeholt, dass Euripides’ Medea, die das Enkelkind des Sonnengottes Helios ist, von ihm mit der indischen Gottheit Shiva verbunden wird. Seine Interpretation, die nicht auf belegbaren historischen Tatsachen basiert, bezweckt somit nur, die künstlerische Freiheit für seine Kombination der verschiedenen Musikrichtungen zu legitimieren. Demnach verwendet er über siebzig verschiedene ethnische Musikinstrumente wie z.B. Sheng, Qin, Xylophon, usw.275 Durch die damit erzeugten Klangeffekte sollen beim Zuschauer Assoziationen mit der weiten, öden Wüstenlandschaft im Westen Chinas erweckt werden, wodurch wiederum auf Loulan und Dunhuang verwiesen werden soll.276 Somit verleihen ihre fremdartigen bzw. archaischen Klänge der Aufführung einen „exotischen“ Eindruck und begünstigen die romantischen Vorstellungen über eine Wüstenlandschaft, wobei aber keine konkreten zeitlichen oder geographischen Bezüge erkennbar sind. Um eine spirituelle Atmosphäre herzustellen, übernimmt er außerdem Gebete und Musik des tibetischen Buddhismus. Da er sich hierfür jedoch nicht auf den chinesischen Buddhismus bezieht, was eher dem chinesischen Dunhuang entsprochen hätte, weist dies darauf hin, dass die tibetischen Musikelemente offenbar durch ihre fremdartige und exotische Wirkung zur Erzeugung einer mysteriösen Atmosphäre beitragen sowie Assoziationen an ein fernes und unbekanntes Land wecken sollen. Trotz der Unterstreichung seiner „nicht-westlichen“ Musikkomposition benutzt „Huaxia wenming de zucheng zhiyi – xixia wangchao“ („Ein Bestandteil der chinesischen Zivilisation – Das Reich Xixia“), in: Grand Garden of 274

275 276

Science, Nr. 04, 2006, S. 31 Ji, Hui-lin: „Xu Bo-yun wei ‚Loulan Nü‘ qiaocui“ („Xu Bo-yun ist erschöpft wegen ,Loulan Nü‘“), in: Mingshen Bao (Zeitung des Volkslebens), 24.06.1993 Cao, Yun-yi, 03.07.1993, a.a.O. Chang 1994, S. 75

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Westlicher Geist im östlichen Körper? er jedoch überwiegend Synthesizer,277 so dass seine hybride Musik sowohl archaische als auch moderne Elemente einschließt und somit zeitlos wirkt.

II.2.3.3 AMBIVALENTE IDENTITÄT DES CHORS In der Aufführung Loulan Nü besteht der Chor aus sieben Männern und sieben Frauen, wobei die Hälfte von ihnen aus der Peking-Oper stammt und die andere Hälfte über eine Ausbildung in Modern Dance verfügt. Sie tragen alle dunkelgrüne Gewänder aus Leinen, welche der Kostümbildner Ye Jin-tian nach den traditionellen Kostümen des chinesischen Minderheitsvolks Dai in der Provinz Yünnan adaptiert hat. 278 Über den Gewändern tragen sie ein breites Netz aus Leinen, so dass sie wie eine in einem Fischernetz gefangene unbekannte Spezies erscheinen.279 Auf Grund der einheitlichen Kostüme sowie der Eliminierung der Körperkonturen lassen sich die beiden Geschlechter optisch nicht voneinander unterscheiden. Darüber hinaus lässt sich Ye Jin-tian von Nuoxi280 inspirieren, einer traditionellen Theaterform aus der chinesischen Provinz Guizhou, die nur im Zusammenhang mit religiösen Zeremonien stattfindet. Dementsprechend wird bei allen Chormitgliedern der ganze Kopf von einem schwarzen Tuch und einer weißen Maske verhüllt.281 Die traditionellen Masken des Nuoxi symbolisieren nicht nur die Götter, sondern sie werden auch als ein Mittel betrachtet, um die unterschiedlichen Sphären von Menschen, Göttern und Geistern zu überwinden. Somit verweisen sie unmittelbar auf das Jenseits und verkörpern durch ihre stilisierte Bemalung immer konkrete Stereotypen. 282 Im Unterschied dazu besitzen die vollkommen weißen Masken des Chors jedoch nur grobe menschliche Gesichtszüge ohne Mund- und Augenöffnungen oder irgendwelche Gesichtskontu277 278 279

Yan, Hong-ya: „Loulan Nü“, in: Zhongguo shibao (China Post), 01.07.1993 Chang 1994, S. 77 Ji, Hui-lin: „‚Loulan Nü‘ yunyu chengshu le“ („‚Loulan Nü‘ ist vollendet), in:

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Minsheng Bao (Zeitung des Volkslebens), 04.05.1993 Nuo bedeutet, böse Geister und Krankheiten zu vertreiben. Deshalb geht das Nuoxi-Theater auf das Ritual zurück, bei dem ein Priester mittels einer Maske in die Rolle eines Gottes oder guten Geistes schlüpft, um Unheil abzuwenden sowie um göttliche Segnung und die Erfüllung von Wünschen zu bitten. Im heutigen Nuoxi (Nuo-Theater) werden Geschichten über Götter aufgeführt, wobei die Masken durch die stilisierten Bemalungen konkrete Charakterzüge besitzen, so dass die Rollen von Guten und Bösen sowie Geistern und Göttern erkennbar sind. Siehe: Tuo,

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Xiu-ming: Nuoxi, Nuo Wenhua (Nuoxi, die Nuo-Kultur), Peking 1990, S. 38 Cao, Yun-yi, 27.06.1993, a.a.O. Tuo 1990, S. 38

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea ren, so dass weder das Geschlecht erkennbar ist noch ob es sich um Götter oder Geister handelt. Die Masken werden somit nicht direkt vor dem Gesicht getragen, sondern vielmehr auf dem Kopf, so dass die Chormitglieder durch die über ihre Gesichter hängenden Netztücher sehen und sprechen können.283 Dadurch, dass bei den Masken auf die stilisierten Stereotypen der Nuoxi-Masken verzichtet wurde, fehlen auch die damit verbunden Symboliken und Charakterzüge, so dass sie lediglich als optischer Effekt fungieren, um den Chor als eine Einheit unbekannter und mysteriöser Wesen erscheinen zu lassen. Dementsprechend erklärt Ye Jin-tian seine Auffassung des Chors: „Der Chor existiert zwischen den Menschen und Göttern und gehört zu keinem von Beiden. In Loulan Nü tritt er mit Medea in eine konkrete Interaktion. Die Gestaltung seines Organismus verweist auf seine imaginäre Existenz.“284 Da der Chor durch Imagination und Unbestimmtheit gekennzeichnet ist, lässt sich seine Identität weder feststellen noch definieren. Im Gegensatz dazu stellt sich Euripides’ Chor als eine homogene Gruppe dar, die als „Frauen von Korinth“ von Anfang an auf Medeas Seite stehen. Als dramatis persona, führt er dabei Dialoge mit Figuren wie der Amme und Medea, wodurch die Handlung vorangetrieben wird und Medeas Charakter sowie ihre Motivation des Kindermordes zum Vorschein gebracht wird. Andererseits nimmt er die Rolle des Zuschauers ein, verfolgt und kommentiert das Geschehen, wodurch sein Mitleid gegenüber Medea, aber zugleich auch seine Furcht vor ihr zum Ausdruck gebracht wird. 285 Der Chor befindet sich somit in einem Spannungsfeld zwischen handelnder Figur und Zuschauer und reflektiert dabei die Sichtweisen beider Seiten. Es stellt sich daher die Frage, wie sich der Chor gegenüber Loulan Nü positioniert – die nach Ye Jin-tian eine „Weder-Noch“-Identität (weder Mensch noch Gott) besitzt – wie er mit den Figuren kommuniziert, welche Funktion er dabei erfüllt und inwiefern er sich hinsichtlich seiner Rolle, Funktion und Wirkungsweise mit dem griechischen Chor, der Peking-Oper sowie der taiwanesischen Kultur verknüpfen lässt. Um die Geschichte der verstorbenen Loulan-Prinzessin mit der griechischen Medea-Figur zusammenzubringen, wird eine Prolog283

284 285

Siehe Anhang, Abb. 7. Anmerkung: In einigen Szenen setzen manche Chormitglieder die Masken auch auf den Hinterkopf und bewegen sich dabei vorwärts bzw. von den Zuschauern aus betrachtet nach hinten. Diese Verdrehung des Körpers unterstreicht zusätzlich die groteske, mysteriöse und verfremdete Erscheinung des Chors. Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993 Die Funktion des griechischen Chors wurde bei der Analyse der chinesischen Medea-Aufführung von Luo Jin-lin herausgearbeitet. Siehe: Kap. II.1.2.3

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Szene vor dem Auftritt der Amme hinzugefügt. Während sechs Chormitglieder von der obersten Treppenstufe einen Sarg auf die freie Bühnenfläche hinunter tragen, werden sie hinter sich von den anderen sieben Chormitgliedern begleitet, so dass sie einen Umzug bilden. Dazu erklingt tibetisch-buddhistische Trompeten-Musik und sie werden in ein rotes Licht getaucht, während sie um den Sarg herum schreiten. Als ein Chormitglied ein Schwert in den Sarg steckt, fangen alle wie in Trance an zu hüpfen, wodurch der senkrecht aufgestellte Sarg heftig ins Wanken gerät. Diese Choreographie beruht auf einer Sitte der taiwanesischen Volksreligion, die als Tai Shenjiao (göttliche Sänfte tragen) bezeichnet wird. Nach den Konventionen dieser Sitte wird eine Sänfte, in welcher sich eine verehrte Götterstatue befindet, von den Gläubigen abwechselnd während des Straßen-Umzugs getragen und dabei heftig zum Schwanken gebracht, um dadurch die Gottheit zu erwecken und von ihr gesegnet zu werden. Dies wird oft von religiöser Musik des Taoismus begleitet (auf Trommeln, Gongs, Zimbeln usw.) und die die Sänfte tragenden Personen müssen dabei über angezündete Knallfrösche laufen, als ob sie wegen der göttlichen Segnung unverletzbar wären.286 Nach Aussage der Regisseurin soll durch die Integration dieses Rituals Medea, die eine Enkelin des griechischen Sonnengottes Helios ist, sowohl zur chinesischen bzw. taiwanesischen Gottheit „Erdmutter“ (chin. Dimu) als auch zur verstorbenen LoulanPrinzessin transformiert werden.287 Im Vergleich zum konventionellen Brauch wird bei der Choreographie statt einer sakralen Sänfte jedoch ein Sarg eingesetzt und tibetisch-buddhistische anstelle chinesisch-taoistischer Musik, so dass letztlich nur die tänzerischen Bewegungen der Sitte entsprechen. Nach dieser fast zehnminütigen Tanzvorführung stößt der Chorführer mit einem Schwert mitten in den Sarg. Dabei rufen alle Chormitglieder mehrmals laut aus: „Medea ist wieder auferstanden“ und sie tragen den Sarg anschließend wieder zurück, wo er hergekommen ist. Dadurch, dass der Chor aber keinen Zusammenhang zwischen Medea und der Loulan-Prinzessin herstellt und nur Medeas Auferstehung ankündigt, bleibt den Zuschauern unklar, um wessen Sarg es sich dabei handelt, wer Medea überhaupt ist, woher sie kommt und warum sie wiederaufersteht. 288 So wird den Zu286

Liu, Huan-yue: Taiwan de suje jisi (Taiwanesische Sitten und Rituale), Taipei 1991, S. 67ff

287

Luo, Ren-lin: „Dangdai ban Meidiya: Lin Xiu-wei wei ‚Loulan Nü‘ xie chuanqi“ („Moderne Medea: Lin Xiu-wei schreibt eine Legende für ,Loulan Nü‘“), in: Youshi Wenyi (Youshi Literatur und Kunst), Vol. 475, Juli 1993,

288

S. 81 Jian, Si-fan: „‚Loulan Nü‘ de meixue xinshi“ („Die Ästhetik der Form von ,Loulan Nü‘“), in: Zhongguo Shibao (China Post), 21.05.1996

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea schauern erst bei der Konfrontationsszene zwischen Jason und Medea durch ihre eigene Aussage mitgeteilt, dass sie selbst die LoulanPrinzessin ist. Ferner handelt sich bei diesem taiwanesischen Ritual um eine Anrufung der Götter, um diese um Segnung zu bitten, wobei alle Götterstatuen einschließlich der Erdmutter in der Sänfte getragen werden. Im Gegensatz dazu symbolisiert ein Sarg in der chinesischen und taiwanesischen Kultur den Tod oder die Unterwelt und signalisiert ein schlechtes Omen, Unglück und Furcht, so dass ein Sarg nicht mit der Erdmutter assoziiert werden kann. Hierdurch ist es nahe liegend, dass die Loulan-Prinzessin einerseits als Unheil verkündender Geist, andererseits durch das volkstümliche Ritual aber auch als Gottheit erscheinen soll. Da aber die Adaption des Rituals in Form einer Gottes-Anbetung mit den Requisiten in Widerspruch gerät, lässt sich keine schlüssige Verbindung zwischen Erdmutter und Loulan-Prinzessin herstellen. In dieser Situation der Unentscheidbarkeit bleibt folglich die Frage ungeklärt, ob die Loulan-Prinzessin eine Göttin, einen Geist oder eine lebende Tote verkörpern soll. Außerdem betritt die Amme nach dieser rituellen Anrufung und Widerauferstehung Medeas alleine die Bühne, so dass die Szene dort fortgeführt wird, wo die Geschichte bei Euripides anfängt. Man ist erneut überrascht bzw. irritiert, dass trotz der Ankündigung des Chors nicht Medea erscheint, sondern eine andere Figur – die Amme. Dies verweist darauf, dass der Chor auf Grund der fehlenden Erzählfunktion nicht als Bindeglied für die Zusammenführung der verschiedenen adaptierten Elemente eingesetzt wird, so dass die Geschichte und die Bedeutung der eingesetzten Elemente schwer nachvollziehbar und rätselhaft ist. Dadurch, dass die Geschichtserzählung über die Loulan-Prinzessin fehlt, Handlungsort und -zeit nicht feststellbar sind, die Identität des Chors undefiniert bleibt und der taiwanesische Ritus aus dem ursprünglichen Kontext herausgerissen und mit anderen Elementen auf widersprüchliche Weise zusammengesetzt wird, ist der von der Regisseurin beabsichtigte dramaturgische Zusammenhang nicht ersichtlich. Daher dient der Chor ebenso wie das traditionelle Ritual der taiwanesischen Volkesreligion in erster Linie dazu, eine geheimnisvolle, spirituelle Atmosphäre zu schaffen, statt die Geschichte zu erzählen. Weiterhin ist zu untersuchen, wie der Chor bei Loulan Nü mit den Figuren interagiert. Bei Euripides wird der Chor zum ersten Mal eingesetzt, nachdem die Amme im Gespräch mit dem Pädagogen ihm gegenüber die Notlage Medeas und ihren Hass gegenüber den beiden Kindern ausgesprochen hat. Dann führt der Chor einen Dialog mit der Amme und bittet sie darum, Medea aus dem Haus zu holen, um sie zu trösten. Dadurch wird den Zuschauern nicht nur

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Westlicher Geist im östlichen Körper? die Stellungnahme des Chors vermittelt, sondern dies gibt auch Anlass für den Auftritt Medeas. Im Gegensatz dazu findet bei Loulan Nü kein Dialog zwischen dem Chor und der Amme statt und die Loulan-Prinzessin erscheint ohne weitere Ankündigung in Begleitung von allen Chormitgliedern. Dabei sammeln sie sich zunächst um die Loulan-Prinzessin, so dass sie aus dieser einem Hügel ähnelnden Menschenmenge ausbrechen muss. Dadurch wird angedeutet, dass der Chor Felsen oder Steine darstellt, jedoch wechselt der Chor im nächsten Moment seine Identität zu einer undefinierten Frauengruppe, als die Loulan-Prinzessin ihn mit dem allgemeinen Begriff „Schwestern“ anspricht, womit im Chinesischen sowohl die leiblichen Schwestern als auch die weiblichen Mitglieder einer religiösen Gemeinde oder auch enge Freundinnen gemeint sein können. Medea versucht bei Euripides in dieser Dialog-Szene, mit dem Argument und der Klage über den niedrigen sozialen Status der Frauen, die Korintherinnen auf ihre Seite zu ziehen. Dadurch erscheint ihr Eheproblem nicht mehr nur als ihre persönliche Angelegenheit, sondern es wird als eine allgemeine Unterdrückung der Frauen dargestellt. Im Vergleich dazu klagt die Loulan-Prinzessin zwar über die unterlegene soziale Position der Frauen, jedoch hat dies nicht die Funktion, den Chor auf ihre Seite zu ziehen, da dieser zum Teil ihren Text übernommen hat. Währenddessen schließt der Männerchor mit „Ihr Frauen“ und der Frauenchor mit „Wir Frauen“ an ihre Rede an, wobei der Männerchor zugleich den auf dem Boden knienden Frauenchor schlägt, um den Geschlechterkonflikt und die Unterdrückung der Frauen realistisch darzustellen. Trotzdem vertraut die Loulan-Prinzessin in dieser Szene anschließend im Namen der Frauen allen Chormitgliedern ihre Racheabsicht an, als ob der die Frauen unterdrückende Männerchor zur Gruppe der Frauen gehören und auf Medeas Seite stehen würde. Dies verweist darauf, dass der Chor nicht an eine bestimmte Identität gebunden ist und je nach Bedarf in Szene gesetzt, in zwei Gruppen aufgespaltet und wieder vereinigt wird. Jedoch werden durch den Wechsel der Identitäten und die Art der Darstellung, die in dieser Szene auf realistischer und naturalistischer Schauspielkunst basiert, beim Zuschauer Irritationen hervorgerufen. Nachdem die Loulan-Prinzessin den Chor um Schweigen bittet, agiert er wiederum als eine Einheit und spricht mit langsam steigender und immer kräftiger werdender Stimme den folgenden Text: „Medea, wir geben dir unser Wort, dein Geheimnis zu verschweigen. Uns überrascht es nicht, dass du solche Gedanken hast. Du hast Recht. Wenn der Him-

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea mel deinen Mann nicht bestraft, sollst du dich rächen. Ja genau, du sollst dich rächen.“289

Gleichzeitig nähern sich ihr alle Chormitglieder von hinten und umkreisen sie schließlich. Während der Chor die Racheabsicht der Loulan-Prinzessin zweimal unterstützt, heben alle ihren rechten Arm mit geballter Faust und richten ihren Zeigefinger gen Himmel, als ob sie an sie appellieren würden. Im Unterschied dazu steht an dieser Stelle bei Euripides’ der folgende Text: „Tu’s nur. Gerecht ist es, dass du dich an deinem Gatten rächst und ich verstehe vollkommen deinen Kummer [...]“290 Anhand dieser Passage ist zu erkennen, dass es sich bei dem adaptierten Text nicht mehr nur um passive Unterstützung handelt, sondern dass durch die Verstärkung der Gesten und des begeisterten Tonfalls hieraus ein aktiver Appell resultiert, als ob er sie zur Rache aufhetzen würde.291 Dabei wird die Aussage der Loulan-Prinzessin ohne Distanz und eigene Stellungnahme automatisch wiederholt, ihre Aussagen werden realistisch nachspielt und ihre Emotionen mit Gesten und Lautäußerungen unterstrichen, so dass er in Wirklichkeit keinen Dialog mit ihr führt. Da der Chor somit die Sichtweise der Loulan-Prinzessin nicht reflektiert, gibt er seinerseits keine Anhaltspunkte für eine Rechtfertigung ihrer Racheabsicht oder seines Mitleids gegenüber ihr zu erkennen. Dies verdeutlicht sich noch mehr in der ersten Konfrontationsszene zwischen der Loulan-Prinzessin und Jason. Während sich die Beiden in der Mitte der freien Bühnenfläche befinden und miteinander streiten, hocken alle Chormitglieder hinter ihnen in Form eines Halbkreises auf dem Boden und schauen zunächst unbeteiligt zu. Während die Loulan-Prinzessin Jason seinen Verrat vorwirft und ihm in Erinnerung ruft, welche verbrecherischen und abstoßenden Taten sie aus Liebe zu ihm begangen hat,292 wiederholt der Frauenchor dreimal ihr Textfragment „aus Liebe“. Anschließend verteidigt sich Jason gegen die Loulan-Prinzessin und der Männerchor unterstützt ihn dabei:

289 290

Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993 Euripides: Medea Zeile 267-270

291

Laut Regieanweisung des Bühnenskripts in dieser Szene, soll der Chor einen aufgewiegelten Mob darstellen. Siehe: Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993

292

Inwiefern der negative Charakter der Loulan-Prinzessin durch ihre Erzählung und schauspielerische Darstellung hervorgebracht wird, werde ich in Unterpunkt 2.3.4 dieses Kapitels ausführlich behandeln.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Jason: „Meiner Meinung nach lässt du dir selber die Liebe über den Kopf wachsen. Ich möchte dich fragen: Wer hat dich vom barbarischen Loulan zum zivilisierten Dunhuang gebracht?“ Männerchor: „Das war ich.“ Jason: „Wer hat dich dazu gebracht, die lächerlichen barbarischen Kleider auszuziehen?“ Männerchor: „Das war ich.“ Jason: „Wer hat dir den eleganten Umgang beigebracht?“ Männerchor: „Das war ich.“ Jason: „Wer hat dir geholfen, dich von teuflischer Zauberei zu verabschieden und einen guten Ruf der Weisheit und Tüchtigkeit zu erlangen?“ Männerchor: „All das war ich.“293

Während sie ihre wechselseitigen Anschuldigungen fortsetzen, wiederholt jeweils der Frauenchor den letzten Satz Medeas und der Männerchor den letzten Satz Jasons und sie schlagen zugleich mit der Hand auf den Boden. Da sich der Wortwechsel und die Schläge beschleunigen, lässt sich der Dialog immer weniger verstehen. Schließlich wird die Stimmung so angeheizt, als ob das streitende Ehepaar jeden Moment handgreiflich werden könnte. Dadurch, dass all ihre „Verdienste“ gegenüber Jason gegen die chinesische Ethik verstoßen (wie sie selbst auch bekennt), erscheint sie als eine von Emotionen geleitete Verbrecherin, die weder über Moral noch Anstand verfügt und ebenso wenig Vernunft besitzt. Dass eine verbrecherische Tat dennoch als Verdienst anerkannt werden kann, setzt voraus, dass diese im Einklang mit der konfuzianischen Ethik und zugunsten des Gemeinwohls verübt wird. Obwohl Loyalität eine der wichtigsten konfuzianischen Tugenden darstellt, werden die Verbrechen der Loulan-Prinzessin nicht auf „Loyalität“ gegenüber Jason, sondern auf ihre persönlichen Gefühle zurückgeführt. Auf diese Weise wird ihr somit die moralische Grundlage ihres Handelns entzogen, weshalb ihre „Wohltaten“ gegenüber Jason nicht als „Verdienst“ anerkannt werden können, wohl aber als Verbrechen. Auf Grund der fehlenden Legitimation ihres Handelns und ihrer Eifersucht stellt sie aus chinesischer Sichtweise keine bemitleidenswerte Frau dar, auch wenn sie von ihrem Mann verlassen wurde. Indem der Frauenchor ihren Ausspruch „aus Liebe“ wie ein Echo wiederholt, trägt er nicht dazu bei, ihr gegenüber Mitleid zu erwecken, sondern im Gegenteil, den negativen Charakter ihrer Emotionen hervorzuheben. Daher erscheint es umso aussagekräftiger, wenn Jason sie als unzivilisierte und eifersüchtige Barbarin bezeichnet und es wirkt umso verständlicher, dass er sich dazu entschlossen hat, sie zu verlassen. Dadurch, dass sie nach chinesischer Auffassung in rechtlicher und moralischer Hin293

Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea sicht bereits unterlegen ist, unterstreicht der massive Einsatz des Männerchors, dass Jason mit seinem Handeln im Recht ist. Damit erscheint diese Szene wie ein Triumph männlicher Macht. Im Vergleich zu Euripides wirkt die Darstellung dieser Konfrontationsszene umso einseitiger, da bei ihm der Chor so lange unbeteiligt bleibt, bis er am Schluss Jasons Argumente verurteilt und eindeutig für Medea Partei ergreift, wohingegen die Loulan-Prinzessin auf die ungeteilte Zustimmung des Chors verzichten muss.294 Überdies lässt sich erkennen, dass der Chor keinen eigenen Standpunkt vertritt, sondern nur an die Positionen Jasons bzw. Medeas anknüpft, indem er den Text der Figuren fragmentarisch wiederholt. Somit stellt der Chor keine dramatis persona im Sinne der griechischen Tragödie dar und ist in dieser Szene nicht von textlich-inhaltlicher Bedeutung. Vielmehr fungiert er dabei als „Effekt“, um zur Emotionalisierung des Konflikts beizutragen und dadurch die dramatische Spannung zu steigern. Weiterhin ist zu untersuchen, wie die Interaktion zwischen dem Chor und der Loulan-Prinzessin auf der Textebene in Szene gesetzt wird und welche Funktion der Chor dabei erfüllt. Nach dieser oben beschriebenen, ersten Konfrontationsszene des Ehepaars gibt es nur zwei weitere Szenen, in denen der Chor mit einem Textumfang von jeweils acht Zeilen verbal mit der Loulan-Prinzessin kommuniziert. Eine der beiden Szenen findet vor der zweiten Konfrontationsszene des Ehepaars statt, als die Loulan-Prinzessin dem Chor ihr Vorhaben in Form des vergifteten Geschenkes an die Braut sowie des Kindermordes verrät. Dabei steht sie allein auf der Mitte der dritten Treppenstufe und reißt sich stückweise ihr zweites Kostüm vom Leib. Währenddessen treten alle Chormitglieder, die gleichmäßig auf die erste Reihe des Zuschauerraums aufgeteilt sind, auf die Bühnenrampe und nähern sich ihr mit in der Luft herum gestikulierenden Händen und ausgebreiteten Fischernetzmänteln. Mit schmerzerfüllter Stimme und die Masken auf dem Hinterkopf tragend, schreien sie ihr zu: „Hör auf, zu sprechen!“ Der größte Teil des Textes in dieser Dialogszene ist an Euripides’ Vorlage angelehnt, wobei nur ein Drittel direkt von ihm übernommen wurde. Hier wurden vor allem die Passagen über die stolzen, heroischen und autonomen Charakterzüge Medeas sowie die Stellungnahme des Chors herausgefiltert. Somit begründet die LoulanPrinzessin ihren Kindermord nicht mehr wie bei Euripides’ Medea damit, dass sie keine Demütigung duldet (Zeile 807-810), sondern

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Lu, Jian-zhong, 1993, S. 107

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Westlicher Geist im östlichen Körper? mit der Karma-Vorstellung. 295 Ihre Pervertierung der buddhistischen Karma-Vorstellung zur Rechtfertigung des Kindermordes wird jedoch vom Chor nicht kommentiert und stattdessen schreien alle Chormitglieder zunächst mit entsetzter Stimme auf. Sie fuchteln weiterhin mit beiden Händen in der Luft herum und zucken mit ihrem ganzen Körper im Rhythmus der eingespielten Trommelschläge. Während sie sich auf dem Boden herum wälzen, erwidern sie der Loulan-Prinzessin gleichzeitig in emotionalem Tonfall: „Denke an den erbärmlichen Tod der Kinder!“ Deine Hand, Dein Herz. Hast du wirklich den Mut, das schwache Leben zu zerstören? Wenn du das Lächeln der Kinder erblickst, kannst du den Mord vollziehen, ohne ein Träne zu verlieren? Wenn die Kinder dich um Schonung anflehen, wie kannst du noch so grausam sein, dein Gesicht mit ihrem Blut zu besudeln? Medea, denke an das Blutvergießen der Kinder! Schmerzt es dich nicht?“296

Obwohl diese Passage von Euripides’ Text (Zeile 856-866) übernommen wurde und der Kindermord darin in Frage gestellt wird, kann der Chor durch den achtzeiligen Text keine wirkliche, interaktive Kommunikation mit Medea entwickeln. Damit unterscheidet er sich von Euripides’ Chor, der sich in dieser Szene von Medea distanziert und immer wieder versucht, sie umzustimmen. Außerdem ist der Text in dieser Szene kaum hörbar, da sich der Chor schreiend auf dem Boden herumwälzt und gleichzeitig massiv Musik in Form des tibetischen Mantras Om eingesetzt wird, so dass die inhaltliche Bedeutung zugunsten des dramatischen Effekts zurückgedrängt wird. Folglich stehen die Choreographie und die Musik vielmehr im Vordergrund als die Dialoge. Eine weitere Szene, in der der Chor mit der Loulan-Prinzessin einen Dialog führt, findet nach der erfolgten Ermordung von Jasons neuer Braut und des chinesischen Fürsten statt. Während sich der ganze Chor auf der dritten Treppenstufe befindet, steht die LoulanPrinzessin mit den beiden Kindern mitten auf der Rampe den Zuschauern gegenüber. Hier übernimmt ein Chormitglied die Rolle des Boten und teilt ihr die Nachricht vom Tod der Beiden und von der Verfolgung ihrer Feinde mit. In abgeklärtem Tonfall antwortet sie in drei Zeilen darauf, dass sie keine Zeit habe und ihre Kinder um-

295

Wie die Loulan-Prinzessin den Kindermord mit der Karma-Vorstellung

296

begründet und inwiefern hierdurch ihre Motivation gerechtfertigt werden kann, werde ich in Unterpunkt 2.3.4.3 dieses Kapitels noch erläutern. Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea bringen müsse, damit sie der Verfolgung entkommen könne und die Kinder nicht in die Hände der Feinde geraten würden. Ohne jeglichen Ausdruck von Zögern, Zweifeln oder Leiden, wendet sie sich von der freien Bühnenfläche ab und schreitet mit den beiden Kindern zur Treppe, um den Kindermord zu vollziehen. In diesem Moment strahlt aus dem Hintergrund ein rotes Licht durch die Treppenspalten nach vorne, so dass der ganze Treppenbereich wie ein Tor zur Unterwelt erscheint.297 Gleichzeitig wird nicht nur erneut massiv die tibetische Musik eingesetzt, sondern der Chor rezitiert auch gemeinsam mehrmals einen Sutra-Text, um die LoulanPrinzessin vor ihrem Frevel zu mahnen: „Die Sitten und die Moral sind nicht echt. Die süße Liebe führt zur Trennung. Das Leiden ist so endlos wie ein bitteres Meer. Wenn Du jetzt zurückkehrst, ist das Ufer noch zu erlangen! Verabschiede dich von der Liebe und lass dir das verstaubte Herz säubern. Gott hat großes Mitleid und Erbarmen. Die Existenz des Lebens ist wie Feuer, Wind, Blitz und Illusion. Sündige nicht! Bewahre dich vor Ärger, Wut, Sehnsucht und Mord!“298

Anhand der Formulierung, dass sie sich von der Liebe verabschieden und vor Zorn und Mord bewahren lassen soll, lässt sich nicht zuletzt herauslesen, dass sie allein für das tragische Geschehen verantwortlich gemacht wird. Darüber hinaus richtet sich ein solcher Sutra-Text, der normalerweise von buddhistischen Mönchen und Nonnen vorgetragen wird, an schwere Verbrecher bzw. böse Geister oder Dämonen, um sie vor einer möglichen Sünde zu mahnen und die Seele zu retten. Dies führt unmittelbar dazu, dass die Loulan-Prinzessin als eine ebensolche Verbrecherin bzw. Dämonin verurteilt wird. Weiterhin ist eine Verknüpfung dieses Geschlechterkonfliktes mit buddhistischen Vorstellungen generell problematisch, da der Buddhismus grundsätzlich eine abwertende Haltung gegenüber Frauen einnimmt und somit keine neutrale moralische Instanz darstellt. So wird im Buddhismus davon ausgegangen, dass Frauen für den (zu überwindenden) Kreislauf der Wiedergeburt (Samsara) verantwortlich gemacht werden, da sie neues Leben gebären und somit neues Leiden verursachen.299 Daher ist es bereits ein Zeichen von niedrigerem Karma, überhaupt als Frau geboren zu sein und speziell im tibetischen Vajrayana-Buddhismus, dessen

297

Laut Bühnenskript soll die massiv eingesetzte rote Beleuchtung die Treppe in einen Opferaltar verwandeln. Siehe: Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993

298 299

Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993 Vgl. Paul, Diana Y.: Die Frauen im Buddhismus. Das Bild des Weiblichen in Geschichten und Legenden, Hamburg 1981, S. 183

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Musik in dieser Szene eingesetzt wird, ist die Unterdrückung und Beherrschung des weiblichen Prinzips und der Glauben an die Existenz einer Vielzahl grausamer weiblicher Geister und Dämonen besonders stark ausgeprägt.300 Der vom Chor vorgetragene Sutra-Text, kann zwar auch an Männer gerichtet werden, in diesem Zusammenhang werden jedoch die buddhistischen Vorurteile gegenüber Frauen offensichtlich, da demnach die Sünden der Frauen aus ihrer Eifersucht resultieren sollen.301 So kann Jasons Vorwurf der Eifersucht gegenüber Medea mit ihrer (angeborenen) Sündhaftigkeit gleichgesetzt werden. Der Kindermord lässt sich daher als logische Konsequenz dieser Sündhaftigkeit verstehen, so dass die Ursache dieser Racheabsicht alleine auf ihr biologisches Geschlecht zurückgeführt wird und nicht auf das Verhalten Jasons. Nach der bisherigen Analyse der verbalen Ausdrucksmöglichkeiten des Chors verdeutlicht sich, dass er keine Erzählfunktion erfüllt, nur selten interaktiv mit den Figuren kommuniziert und wenige Kommentare abgibt, so dass sein Text kaum in die Handlung eingebunden ist. Seine Äußerungen dienen hauptsächlich dazu, die Emotionen der Figuren zu verstärken und die jeweilige Stimmung hervorzuheben. Während sich die verbalen Ausdrucksmöglichkeiten des Chors überwiegend auf akustische Effekte beschränken, steht eindeutig die Choreographie im Vordergrund. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass sich die Kreativität der Regisseurin in der Darstellung des Chors erschöpft, was auch ihren persönlichen Hintergrund widerspiegelt. Dabei lassen sich insgesamt drei Funktionen zusammenfassen, welche der Chor durch den intensiven choreographischen sowie akustischen Einsatz hervorbringt: Erstens

300 301

Vgl. Trimondi, Victor und Victoria: Der Schatten des Dalai Lama, Düsseldorf 1999, S. 51ff Diese Vorstellung lässt sich z.B. auf die buddhistische Schrift Ahan erklärt mündlich die zwölf Kausalitäten des Karmas zurückführen, in der sich folgende Passage finden lässt: „Ahan konnte mit seinen himmlischen Augen die Hölle betrachten und sah insbesondere viele Frauen in der Hölle leiden. Er fragte Buddha nach dem Grund. Buddha nannte vier Gründe: 1. Gier nach Schätzen und schönen Kleidern, 2. Eifersucht, 3. Redeschwall und 4. Eine verführerische und obszöne Attitüde.“ Es gibt noch weitere buddhistische Schriften in Zusammenhang mit der Sündhaftigkeit der Frauen. Auch wenn sich ihre Begründungen hierfür voneinander unterscheiden, wird die Eifersucht der Frauen immer wieder als einer der wichtigen Gründe genannt, weshalb sie in der Hölle landen. Siehe N.N.: Ahan kuije shier yinyuan jin (Ahan erklärt mündlich die zwölf Kausalitäten des Karmas) Band 1, Peking 2000, S. 308ff sowie Xian-yin Fashi (Buddhistischer Meister Xian-yin): „Das Karma der Frauen“, 31.03.2006, in: http://www.tiefosi.net/bbs/read.php?tid=159&page=e [Stand: 24.02.2008]

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea werden die Chormitglieder flexibel als Objekte für gegenständliche Darstellungen sowie zur Herstellung der visuellen Ästhetik eingesetzt, indem sie sich in verschiedene Naturelemente wie Steine, Felsen, Wind, Fluss, Blumen usw. verwandeln.302 Dabei krümmen sie sich z.B. zusammen, so dass sie wie ein großer Felsen wirken, auf dem die Loulan-Prinzessin liegt, oder sie bilden eine Mauer, um die Figuren zu behindern. Außerdem lassen sie die Loulan-Prinzessin sich auf sie stützen oder heben sie hoch, um dadurch ästhetische Bilder herzustellen. So wird Jason z.B. am Schluss vom zusammengeschlossenen Chor aufgehalten, als er sich mit einem Schwert der Loulan-Prinzessin zu nähern versucht, die triumphierend auf dem senkrecht aufgestellten Sarg über ihn lacht. Zweitens stellt der Chor durch seine geisterhafte Erscheinung und seinen rituellen Tanz eine „primitiv“ anmutende, mysteriöse Atmosphäre her, wie in der bereits beschriebenen Prolog-Szene. Drittens begleitet er den gesprochen Text oder den Gesang der Figuren mit tänzerischen Bewegungen, um den Inhalt des Textes zu visualisieren oder um die Emotionen der Figuren zu verdeutlichen. Als z.B. die Loulan-Prinzessin den Satz spricht „Lieber will ich dreimal in den Krieg ziehen als einmal Kinder zur Welt zu bringen“, schlagen alle Frauen kräftig auf den eigenen Bauch, um den Hass auf das Gebären auszudrücken. Als Jason bei seinem ersten Auftritt ein Jagdlied singt und mit Peking-Oper-Bewegungen den Gesang unterstreicht, stehen die Männer hinter ihm und begleiten ihn synchron mit den selben Bewegungen, wodurch die Hochstimmung Jasons verstärkt wird. Obwohl die Choreographie zum großen Teil an den Modernen Tanz angelehnt ist, integriert die Regisseurin auch die stilisierten Gesten und akrobatischen Bewegungen der Peking-Oper.303 Das beste Beispiel hierfür ist eine Szene, die nicht bei Euripides vorkommt und zwischen dem ersten Abgang Jasons und dem Auftritt des Königs von Da Yuezhi (bei Euripides Aigeus, der König von Athen) hinzugefügt ist. Nach dem heftigen Streit verlässt Jason die LoulanPrinzessin wutentbrannt und der Chor bleibt mit ihr auf der Bühne zurück. Gleichzeitig verwandelt sich die Bühne durch das blaue und spiralförmige Licht zu einer Wasseroberfläche, wobei es sich um eine Anspielung auf den Loupor-See handelt, an dem das archaische Loulan-Reich angeblich gelegen haben soll. 304 Dies wird auch durch folgende Ankündigung des Frauenchors in dieser Szene verdeutlicht: „Medea, kehr zu deinem Ursprung zurück! Die Göttin des Loupor-Sees segnet dich.“ Anschließend singt die Loulan-

302 303 304

Yan 1993, a.a.O. Chang 1994, S. 77 Siehe Anhang, Abb. 9

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Prinzessin ein mongolisches Lied über die Schönheit ihrer Heimat und die Göttin des Loupor-Sees, um ihrem Heimweh Ausdruck zu verleihen. Als der Chor auf dem Boden hockt und alle ihre Arme mit den Orchideen-Händen305 nach oben ausstrecken, wandert die Loulan-Prinzessin abwechselnd mit den Händen vor dem Körper, als ob sie sich den Weg durch ein Blumenfeld bahnen würde. Als sie die beiden ausgebreiteten Hände zitternd vor das Gesicht hält, um ihre Trauer und ihren Schmerz auszudrücken, umgibt sie der Chor von hinten und führt dieselbe Geste aus, wodurch der Ausdruck der Trauer Medeas verstärkt wird. Obwohl die Göttin des Loupor-Sees bzw. Loulans erwähnt wird, wird sie weder mit der Zauberkraft oder dem Glauben der LoulanPrinzessin noch mit ihrer Vergangenheit verknüpft. Somit führt diese Szene weder die Handlung fort noch gibt es darin informative Hinweise für die Figuren. Da diese Szene keine dramaturgische Bedeutung beinhaltet und keine bestimmte Identität des Chors erkennen lässt, bezieht sich der Ausdruck der Peking-Oper-Gesten, wie der Orchideen-Hände und der zitternden Hände, nicht auf seine inneren Emotionen, sondern auf die der Schauspielerin. In der Peking-Oper werden Gesten wie die Orchideen-Hände und zitternden Hände mit der Sprache zusammengeführt, um den Gemütszustand der Figuren hervorzubringen. Im Unterschied dazu werden sie jedoch in Loulan Nü ohne Sprache in die Gruppen-Choreographie integriert, so dass die Peking-Oper-Gesten als rein dekorative Elemente eingesetzt werden, um eine visuelle Ästhetik zu schaffen und die Atmosphäre zu verdichten. Ebenso wie bei dem chinesischen Regisseur Luo Jin-lin beabsichtigte Lin Xiu-wei, die Funktionen des Longtao aus der PekingOper in den Chor zu integrieren.306 In der Peking-Oper verkörpert der Longtao eine anonyme Gruppe wie z.B. ein Gefolge, Hofdamen oder Soldaten, deren Identität durch die Kostüme und Formationen eindeutig definiert ist, weshalb durch den Auftritt des Longtao Handlungsort und -zeit auf einer leeren und fiktiven Bühne immer wieder neu hergestellt werden können.307 Im Gegensatz dazu wird der Chor bei Loulan Nü flexibel in verschiedenen Szenen eingesetzt. Da er dabei keine eindeutige Identität zu erkennen gibt, kann diese nur aus dem Zusammenhang der Handlung vermutet werden: So könnte er z.B. in einer Szene die Freundinnen der Loulan-Prinzessin darstellen, die sie als „Schwester“ anreden, in einer anderen Szene das Gefolge des chinesischen Fürsten verkörpern, oder in die Rolle

305

Dies bedeutet, dass der Mittelfinger den Daumen berührt und dadurch

306 307

die Hand wie eine Orchidee aussieht. Chang 1994, S. 77 Huang, Ke-bao 1988, S. 28ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea von Dienstmädchen geschlüpft sein, wenn der Chor der LoulanPrinzessin beim Kostümwechsel auf der Bühne behilflich ist. Da die Schauspielkunst in der Aufführung Loulan Nü überwiegend auf realistischer und naturalistischer Darstellung beruht, ruft die stilisierte Darstellung des Chors zwangsläufig Irritationen hervor, weil nicht an die zum Verständnis notwendigen Konventionen angeknüpft wird. So trägt der ständige Wechsel der Identität nicht selten zur Verwirrung der Zuschauer bei, z.B. nachdem der Chor der Loulan-Prinzessin sein Wort gibt, ihre Racheabsicht geheim zu halten, kurz darauf aber den chinesischen Fürsten auf der Bühne empfängt. Somit wechselt er ohne jegliche Stilisierung seine Rolle als Vertrauter der Loulan-Prinzessin hin zum Gefolge ihres Feindes. Da somit beim Chor auf die zum Verständnis unerlässlichen Symbole und Konventionen sowie die Stilisierung und ästhetischen Prinzipien der Peking-Oper verzichtet wurde, zeigt sich, dass sich der Chor hinsichtlich seiner Darstellung und Funktion nicht auf den Longtao zurückführen lässt und die einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass beide eine flexibel eingesetzte anonyme Gruppe darstellen. Daher lässt sich zusammenfassen, dass der Chor keine feststellbare und festgelegte Identität besitzt und als Gruppe undefinierter, fiktiver Wesen überwiegend dazu dient, durch seine akustischen und intensiven choreographischen Einsatzmöglichkeiten in Zusammenwirkung mit Musik, Bühnenkulissen und Licht eine spirituelle, mysteriöse Atmosphäre und eindrucksvolle visuelle Ästhetik hervorzubringen. Auch wenn der Chor stets auf die Emotionen der Figuren reagiert, trägt dies jedoch auf Grund der Reduktion der verbalen Ausdrucksmöglichkeiten vielmehr zur Verdichtung der Stimmung bei als zur Entwicklung der Dramaturgie oder der Charakterisierung der Figuren. Obwohl nach Aussage der Regisseurin Mitleid gegenüber der Loulan-Prinzessin zum Ausdruck gebracht werden soll, kann dies jedoch allein durch die Ausdehnung ihrer Emotionen und ohne rechtliche Grundlage für ihr Handeln nicht gelingen. Im Gegenteil, je mehr der Chor die Emotionen der Loulan-Prinzessin unterstreicht, desto weniger bemitleidenswert erscheint sie in Wirklichkeit. Dieser Umstand verweist somit vielmehr auf die Diskrepanz zwischen der antiken griechischen und chinesischen Kultur, als auf die Überwindung dieser Diskrepanz. Es lässt sich daher feststellen, dass sich der Chor bei der Aufführung Loulan Nü hinsichtlich seiner Identität, Funktion und Auswirkung von Euripides’ Chor unterscheidet, indem der griechische Chor ebenso wie die Peking-Oper nur auf einer oberflächlichen Ebene in die Darstellung des Chors bei Loulan Nü adaptiert wird und vorrangig zur Herstellung einer akustischen und visuellen Atmosphäre dient, um dadurch spektakuläre Effekte zu erzielen.

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

II.2.3.4 DIE LOULAN-PRINZESSIN ALS „TAIWANESISCHE“ MEDEA Da die Geschichte des Euripides in einen historischen chinesischen Kontext versetzt wird, stellt sich die Frage, inwiefern versucht wird, einen Zusammenhang zwischen Euripides’ Medea-Figur und der sog. Loulan-Schönheit herzustellen und inwiefern sich die Darstellung von Euripides’ Medea mit einer taiwanesischen Frauengestalt verbinden lässt. Um diese Frage zu beantworten, möchte ich nachfolgend auf drei Aspekte der Darstellung der Loulan-Prinzessin eingehen: ihre Identität, Charakterisierung und Motivation des Kindermordes. II.2.3.4.1 Ambivalente Identität Wie bereits bei der Analyse des Chors dargelegt, soll der rituelle Tanz des Chors in der Prologszene die verstorbene LoulanPrinzessin wieder zum Leben erwecken. Gemäß des taoistischen Glaubens sowie den traditionellen Theaterkonventionen kehrt ein weiblicher Geist, der das Gute verkörpert und die göttliche Gerechtigkeit repräsentiert, in die irdische Welt zurück, um eine offene Rechnung zu begleichen oder ihrem Geliebten zu helfen.308 Da die verstorbene Loulan-Prinzessin bereits ihre Rache an Jason vollzogen hat und da sie laut Programmheft von den Göttern bestraft worden ist, lässt sich der Grund ihrer Wiederauferstehung jedoch nicht mit einem weiblichen Geist aus den chinesischen Dramen verknüpfen. Auf Grund der fehlenden Erläuterungen weist die Prologszene durch die mysteriöse Atmosphäre und die Zurschaustellung des Sarges lediglich darauf hin, dass Medea ein Geist sein könnte.

308

Die Vorstellung, dass ein weiblicher Geist ins Diesseits zurückkehrt, lässt sich in zahlreichen klassischen chinesischen Dramen finden. Es kann in diesem Zusammenhang eine Analogie zu solchen Geister-Geschichten wie über die weibliche Geistergestalt Yao Gui-yin aufgebaut werden, die sich das Leben nimmt, weil ihr Geliebter ihre Liebe verraten hat, und als Geist ins Diesseits zurückkehrt, um sich an dem Mann zu rächen. Dass ihre Rache erst vollzogen werden kann, nachdem sie sich in einen Geist verwandelt hat, liegt an zwei Gründen. Erstens stellt der Liebesverrat eines Mannes nach chinesischer Ethik kein Verbrechen dar, weshalb sie in der irdischen Welt kein Recht bekommen kann. Zweitens besteht für eine tugendhafte Frau nach allgemeinem Verständnis keine Möglichkeit, sich selbst an ihrem Ehemann oder Geliebten zu rächen, ohne dadurch ihr gesellschaftliches Ansehen (Sympathie) zu verlieren oder selbst bestraft zu werden. Somit ist es ihr erst durch den Selbstmord und die Verwandlung in einen Geist möglich, hierfür die magischen Kräfte zu erhalten und von der konfuzianischen Orthodoxie abweichen zu können. Siehe: Zheng, Chuan-yin 2004, S. 280

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

Nach dem Prolog führt die Amme in die Geschichte ein, ohne an die Ankündigung des Chors anzuknüpfen, sondern sie lehnt sich stattdessen an Euripides’ Text an, wobei die Geschichte jedoch nicht in der Gegenwart, sondern im neuen Kontext der Han-Dynastie fortgeführt wird. Demnach scheint die Loulan-Prinzessin jedoch kein Geist in der Gegenwart, sondern eine Frau vor zweitausend Jahren zu sein. Demzufolge drängt sich die Frage auf, wozu anfangs die Wiederauferstehung dargestellt wurde, wenn die Geschichte letztendlich doch in der Vergangenheit (zu ihren angeblichen Lebzeiten) stattfinden soll? Zur unklaren Identität äußert sich der Kostümbildner Ye Jin-tian wie folgt: „Medea kämpft zwischen einer realen und einer mysteriösen, emotionalen Welt, deshalb ist sie manchmal real und manchmal fiktiv.“309 Indem sich die Identität der LoulanPrinzessin zwischen Realität und Fiktion befindet, bleibt sie daher ein undefiniertes bzw. undefinierbares Wesen. Damit unterscheidet sich ihre Identität deutlich von Euripides’ Medea-Figur, die sich zwischen Mensch und Gott, Mann und Frau, Barbarin und Zivilisierter sowie Mensch und Tier befindet. Während Euripides’ MedeaFigur zwar ebenfalls sehr ambivalent ist, bezieht sich bei ihm die Doppeldeutigkeit jedoch auf reale und definierbare Faktoren, wohingegen bei der Loulan-Prinzessin die Ambivalenz zwischen Realität und Fiktion besteht, so dass ihr letztendlich überhaupt keine eindeutig reale Identität zugeschrieben werden kann. Obwohl die Geschichte nach Ye Jin-tian nur auf der Erinnerung Medeas basieren soll, 310 wird sie aber nicht in Form einer IchErzählung von der Loulan-Prinzessin eingeführt, so dass weder die Perspektive der persönlichen Erinnerung Medeas noch ihre GeisterIdentität nachvollziehbar erscheint. Daraufhin ist der Text der Amme an Euripides angelehnt und die Vorgeschichte zwischen Medea und Jason wird grob dargestellt. Man erfährt nun, dass Medea „aus Liebe“ (die Amme betont die Liebe Medeas) zu Jason ihren Vater verraten, den eigenen Bruder ermordet hat, mit ihm nach Dunhuang geflohen ist und schließlich von ihm wegen seiner Heirat mit der Tochter des chinesischen Fürsten verlassen wird. Aber dass Jason der Prinz aus Dawan ist und Medea die Prinzessin aus der Königsstadt Loulan sein soll, lässt sich erst bei der ersten Konfrontationsszene zwischen den Beiden erkennen. Da die Verknüpfung zwischen Euripides’ Medea und der Loulan-Prinzessin auf einer frei erfundenen Geschichte beruht und der kulturelle Hintergrund der beiden Protagonisten sowohl bei der Erzählung als auch bei den Kostümen ausgeblendet wird, lässt sich die kulturelle Identität Medeas als Loulan-Prinzessin nicht rekonstruieren.

309 310

Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993 Ebd.

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

Auf Grund dieser verschwommenen Identität stellt sich die Frage, über welche Möglichkeiten sie verfügt, um die Rache vollziehen zu können. Ebenso wie bei Euripides’ Medea soll die Loulan-Prinzessin eine Hexe sein. Dies wird jedoch lediglich vom chinesischen Fürsten erwähnt, um damit seinen Verbannungsbefehl zu begründen. Selbst als die Loulan-Prinzessin gegenüber dem Chor ihren Racheplan erörtert, spricht sie nicht von ihrer Zauberkraft, sondern nur von einem geheimen Giftrezept, das von Generation zu Generation im Königreich Loulan weitergegeben wird. Erst in der Schlussszene wird sie durch den wie von Geisterhand aufsteigenden Sarg, das übernatürlich wirkende rote Licht und das durchdringende, hämische Lachen in eine Furcht erregende Hexe oder Dämonin verwandelt, die mit Hilfe ihrer Zauberkraft unter die Erde entfliehen können soll. 311 Daran verdeutlicht sich, dass ihre Identität als Hexe ausschließlich durch die audiovisuellen Effekte hervorgebracht wird. Infolge der fehlenden schauspielerischen Darstellung für die Gestaltung einer Hexenfigur bleibt es in der Aufführung durchgehend unklar, worin ihre Zauberkraft besteht und wie wirkungsvoll ihre Zauberei ist, so dass die Hexen-Identität nicht als bestimmender Faktor ihres Handelns gelten kann. Es lässt sich daher feststellen, dass sich die Identität der Loulan-Prinzessin lediglich auf die Ambivalenz zwischen Realität und Fiktion stützen lässt. Während sie als fiktives Wesen weder Geist noch Hexe ist, ist ihre „reale“ Identität als Loulan-Prinzessin auf Grund der Ausblendung der kulturellen Identität ebenso fiktiv und ungreifbar. II.2.3.4.2 Charakterisierung Weiterhin ist zu untersuchen, wie die Loulan-Prinzessin charakterisiert wird, inwiefern sie an Euripides’ Medea-Figur anknüpft bzw. davon abweicht und mit welchen Stereotypen chinesischer bzw. taiwanesischer Frauengestalten sie sich verbinden lässt. Um die Charakterzüge der Loulan-Prinzessin zu skizzieren, möchte ich auf zwei Aspekte eingehen: Zum einen, wie die Schauspielerin Wei Hai-

311

Laut Programmheft soll die Loulan-Prinzessin die Zauberkraft bzw. besondere Fähigkeit besitzen, unter der Erde zu entfliehen, was man als Didun bezeichnet. Die Vorstellung, sich mit Didun unter der Erde bewegen zu können, ist in der chinesischen bzw. taiwanesischen Kultur allgemein bekannt. Dennoch gibt es in der Aufführung selbst keine Hinweise darauf, dass die Loulan-Prinzessin solch eine sonderbare Fähigkeit besitzt, weshalb unklar ist, ob sie nicht doch noch in die Unterwelt gelangen oder sich in einen Geist verwandeln kann. Siehe: Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993

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min die Loulan-Prinzessin im Hinblick auf Text und Schauspielkunst darstellt und zum anderen, wie sie die übrigen Figuren wie Jason, die Amme und den Pädagogen präsentiert. Da die LoulanPrinzessin keine Monologszene hat, lässt sich ihr Selbstverständnis nur anhand ihrer Dialoge mit den anderen Figuren rekonstruieren, so dass sich ihre Selbstdarstellung mit der Darstellung der anderen Figuren abwechselt. Um festzustellen, inwiefern sich ihre Selbstdarstellung von der Darstellung der anderen Figuren über sie unterscheidet, werden die beiden Aspekte abwechselnd beleuchtet und miteinander verglichen. Der erste Dialog zwischen der Loulan-Prinzessin und dem Chor lässt bereits deutliche Rückschlüsse auf ihre Selbstdefinition zu, indem sie über Jasons Untreue klagt: „Einen treuen Mann zu heiraten, war mein einziger Zukunftstraum. Aber wer hätte gedacht, dass mein Mann ein Feigling ist?“ 312 Damit stellt sie sich als eine Frau dar, deren Existenz und Lebenssinn von ihrem Ehemann abhängig ist, was mit dem traditionellen chinesischen Frauenbild übereinstimmt. In dieser Szene klagt sie aber auch über die Ungleichheit der beiden Geschlechter und spricht sich gegen das patriarchalische Vorurteil gegenüber den Frauen aus. Sie beteuert, dass „sie lieber dreimal ins Schlachtfeld ziehen will als einmal zu gebären“. Nach dieser Passage erscheint sie als eine mutige, selbstbewusste und autonome heroische Gestalt, was sich jedoch nicht mit ihrer vorherigen Selbstdarstellung einer abhängigen Frau vereinbaren lässt. Die widersprüchliche Selbstdarstellung der Loulan-Prinzessin lässt sich in den zwei darauf folgenden Szenen noch deutlicher beobachten, in denen sie eine Auseinandersetzung mit dem chinesischen Fürsten (bei Euripides Kreon, der König von Korinth) und Jason hat (bei Euripides’ Medea, Zeile 280-355). Dabei verbannt sie der chinesische Fürst mit folgender Begründung: „Weil du aus einem barbarischen Land kommst und Zauberei beherrschst. Jetzt fällst du in Ungnade und das Feuer der Eifersucht brennt in dir. Außerdem bist du hinterlistig. Ich habe bereits gehört, dass du deine Rache planst. Wenn ich dich nicht verbanne, würdest du wohl auch an mich Hand anlegen.“ 313

Während er die Loulan-Prinzessin als eine gefährliche, heimtückische und barbarische Hexe darstellt, präsentiert sie sich gegenüber ihm als eine schwache, harmlose und hilflose Frau, indem sie weinend auf die Knie geht und ihn unter einem Vorwand um einen Tag Aufschub bittet. Nach seinem Abtritt klärt sie den Chor darüber 312 313

Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993 Ebd.

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auf, dass ihre schmeichelhaften Worte und ihre Selbsterniedrigung gegenüber ihm gespielt seien, um dadurch ihre Rache durchführen zu können. Nicht zuletzt vertraut sie dem Chor ihren listigen Plan an, nach dem ihre drei Feinde, nämlich der Fürst, seine Tochter und ihr Mann ermordet werden sollen. Ihre ambivalente Selbstdarstellung bestätigt sowohl die Befürchtungen und den Verdacht des chinesischen Fürsten als auch seine Charakterisierung über sie. Während dieser Dialog zwischen der Loulan-Prinzessin und dem chinesischen Fürsten grob an Euripides’ Text (Zeile 280-355) angelehnt ist, stammt der Text für die nächste Dialogszene mit Jason jedoch zum großen Teil von der Regisseurin und zu einem kleineren Teil vom chinesischen Schriftsteller Su Xiao-kang, wodurch der Loulan-Prinzessin deutlich andere Charakterzüge als Euripides’ Medea verliehen werden. In der ersten Auseinandersetzung zwischen der Loulan-Prinzessin und Jason zählt sie alle Verdienste ihm gegenüber auf, um ihm seinen Verrat vorzuwerfen. Mit wehmütiger und fast weinender Stimme spricht sie zu ihm: „Damals verbannte dich dein Onkel aus dem Land, um die Krone zu usurpieren. Du verliefst dich in der Wüste und kamst nach Loulan. Wer hat dich aufgenommen? Mein Königsvater gab dir die Aufgabe, den Dämon zu bewältigen und den Teufel zu zähmen. Wer hat dein Leben gerettet und dir geholfen, den goldenen Zweig zu erlangen? Ich war es! Die imposante Loulan-Prinzessin, Medea. Wegen dir habe ich vielen unschuldigen Leuten geschadet. Aus Liebe verriet ich meinen Vater und ermordete meinen Bruder, um dir zu folgen. Aus Liebe veranlasste ich auch, dass der König aus Yutian314 von seiner Tochter ermordet wird. Aus Liebe reizte ich die Götter zum Zorn und alle nahe stehenden Freunde verließen mich. Aus Liebe habe ich Frevel begangen [...] Jetzt vergiltst du dies mir damit, dass du eine andere Frau auf mein Bett steigen lässt.“315

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315

Der König von Yutian soll, wie bei Euripides, König Pelias (Jasons Onkel) verkörpern. Da aber der taiwanesische Jason nicht aus dem Land Yutian, sondern aus Dawan stammen soll, verliert die Geschichte des Königs von Yutian jeglichen Zusammenhang, so dass sie unverständlich bleibt. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Geschichte von Euripides’ „Medea“ und die Namen der Länder aus der Xiyu-Region willkürlich miteinander in Verbindung gebracht werden, ohne logische Zusammenhänge aufzubauen. So trägt die Erzählung an dieser Stelle nicht zur Klarheit über die Vorgeschichte bei, sondern dies hat stattdessen zur Folge, dass der Loulan-Prinzessin keine Sympathien entgegengebracht werden können. Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

Da diese Vorgeschichte nur sehr grob und kurz erzählt wird, bleiben viele Fragen offen. Z.B. warum Jason nach Loulan gekommen ist, wieso der König von Yutian getötet wird, was der goldene Zweig mit Jason zu tun hat und vor allem, wie sie ihm damit geholfen hat. Dadurch bleiben sowohl ihre Fähigkeiten als auch ihre Verdienste für Jason unklar.316 Da der Verrat des Vaters und die Ermordung des Bruders jedoch gegen das höchste konfuzianische Gebot verstößt, kann ihre Loyalität und Selbstaufopferung für Jason nicht als Verdienst anerkannt werden. Im Gegenteil verdient sie sogar eine göttliche Strafe, da sowohl Taoismus als auch chinesischer Buddhismus auf der konfuzianischen Sittenlehre beruhen, welche als göttliches Gebot gilt. 317 Demnach verstößt die Loulan-Prinzessin sowohl gegen die moralischen und sozialen chinesischen Grundsätze als auch gegen das göttliche Gesetz, weshalb sie sich selber schuldig bekennt. Im Unterschied dazu beruht bei Euripides Medeas Klage gegenüber Jason auf dem göttlichen Gesetz, indem sie seinen Eidbruch als Hybris bezeichnet. Da Jasons Verrat bei Loulan Nü ausschließlich mit dem Liebesverrat begründet und da der moralische Anspruch nach Treue in einer chinesischen Ehe nur für Frauen galt, verstößt er mit seinem Liebesverrat gegen keinen moralischen Grundsatz. Insofern lässt sich der Vorwurf der Loulan-Prinzessin gegenüber Jason weder auf eine rechtliche oder moralische Grundlage noch auf ein göttliches Gesetz beziehen. Indem sämtlichen rationalen Argumenten und Anschuldungen die Legitimation fehlt, beruht ihre Klage über Jasons Untreue somit lediglich auf ihren verletzten und verbitterten Gefühlen. Das bereits hergestellte Bild einer gekränkten, schwachen und um Liebe bettelnden Frau kommt noch deutlicher zum Vorschein, als sie sich ihm nach ihren Vorwürfen nähert und mit bittendem Tonfall spricht: „Schau mich an! Weißt du nicht mehr, wie zart und liebevoll du mich damals angeschaut und bewundert hattest, als du noch etwas von mir wolltest?“ 318 Währenddessen greift sie seine 316

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Bei Euripides’ Medea weist die Vorgeschichte zwischen Medea und Jason darauf hin, dass Medea nicht nur die Fähigkeit und den Mut besitzt, Drachen zu töten, sondern auch die Intelligenz, Pelias durch eine Intrige von seiner Tochter töten zu lassen, so dass sie als eine heroische Gestalt erscheint, die den antiken griechischen Helden ähnlich ist. Solche Eigenschaften bieten nicht zuletzt auch eine wichtige Verständnisgrundlage für Medeas Kindermord. Auf Grund dieser groben Darstellung der Vorgeschichte, bezeichnet der taiwanesische Kritiker Lu Jian-zhong die LoulanPrinzessin als eine Frau ohne Vergangenheit, was wiederum ihrer verschwommenen Identität entspricht. Siehe: Lu, Jian-zhong 1993, S. 105ff Zheng, Chuan-yin 2004, S. 275 Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Hand und streichelt damit ihren Körper, von ihrer Hand über ihren Arm und das Gesicht bis zu ihrer Brust. Der Männerchor steht nahe hinter dem Ehepaar und begleitet ihre Verführung Jasons mit moderner Poesie: „Oh! Deine Hände, Dein Gesicht, Deine verführerischen Augen, Deine weißen Wangen und die wie Hügel gewölbte Brust sind die Liebe und Verehrung meines Lebens.“ 319 Anschließend schüttelt Jason ihre Hand ab und weist damit ihre Zärtlichkeit zurück. Dieser Text sowie die naturalistische Darstellung durch direkten, unverhohlenen und intimen Körperkontakt zeigen, dass die Loulan-Prinzessin versucht, die Liebe Jasons mit Hilfe sexueller Verführung zurück zu gewinnen. Damit stellt sie sich als eine Frau dar, die sich ohne Stolz und Würde der Liebe unterwirft und sich damit erneut demütigen lässt. Da diese Selbsterniedrigung jedoch nicht auf einen hinterlistigen Racheplan abzielt, ist es auszuschließen, dass sie mit dieser Selbstdarstellung Jason etwas vortäuschen will. Damit widerlegt sie nicht nur ihren Entschluss, Jason zu ermorden, sondern widerspricht auch dem in der vorherigen Szene vermittelten Bild einer heimtückischen, gefährlichen und listigen Frau. Daraufhin reflektiert Jason ihre Charakterzüge, die für ihn eher mit der letztgenannten Selbstdarstellung der Loulan-Prinzessin übereinstimmen und weist ihre Hand ab, indem er in einem verächtlichen und umgangssprachlichen Ton zu ihr spricht: „Mir reicht’s! Meiner Ansicht nach steigertest du dich damals selbst zu sehr in die Liebe hinein. Ich habe genug davon, dass du mich über zehn Jahre lang immer wieder an deine Verdienste erinnerst. Eine Frau wird nie den Mann bekommen, den sie geschaffen hat.“320

Anstatt ihre Wohltaten gegenüber ihm anzuerkennen, stellt er sie als Nörglerin dar, die ständig auf ihre Verdienste pocht. Dadurch wird nicht nur ihre Aufopferung für ihn herabgewürdigt, sondern darüber hinaus sein Liebesverrat legitimiert. Nicht zuletzt erweckt diese Formulierung Assoziationen mit dem chinesischen Klischee einer bestimmten Art von Ehefrau, die als Huanglian Po (Frau mit gelbem Gesicht) bezeichnet wird, da sie nicht nur den Männern durch ihre Meckerei auf die Nerven geht, sondern auch durch die Vernachlässigung ihres Äußeren nicht mehr begehrenswert aussieht. Dieser von den Männern verhasste Stereotyp der Ehefrauen wird in der gegenwärtigen taiwanesischen Gesellschaft oft als

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Ebd. Ebd.

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Rechtfertigung für die Seitensprünge der Ehemänner verantwortlich gemacht.321 In der Dialog-Szene zwischen der Loulan-Prinzessin und dem König von Da Yuezhi (dem König von Athen Aigeus bei Euripides) weist sie auf den Grund von Jasons Verrat hin: Loulan-Prinzessin: „Jason hängt jetzt nur an der Jugend und Schönheit der Braut.“ König von Da Yuezhi: „Das Vergehen von Jugend und Schönheit führt zum Tod der Liebe. Das ist Trauer und Jammer für alle Zeiten.“322

Der König von Da Yuezhi drückt damit zwar sein Mitleid mit ihr aus, aber zugleich betrachtet er es auch als ein Naturgesetz, dass die Männer immer Ausschau nach einer jüngeren und attraktiveren Frau halten. Damit vertritt er die patriarchalische Einstellung, legitimiert implizit Jasons Liebesverrat und verweist nicht zuletzt auch darauf, dass die Loulan-Prinzessin eine dem Klischeebild der Huanglian Po entsprechende, alte und hässliche Frau sein soll, was sich aber schwerlich mit ihrem prachtvollen, weißen Kostüm vereinbaren lässt. Indem die Loulan-Prinzessin seiner Ansicht durch ihr Schweigen indirekt zustimmt, zeigt sich, dass sie damit das patriarchalische Denken in keiner Weise herausfordert. Da die soziokulturellen Faktoren nicht mit einbezogen werden und die Ursachen für den Konflikt zwischen Jason und der Loulan-Prinzessin lediglich auf ihre persönlichen Emotionen (in Form seines „berechtigten“ Begehrens einer Anderen und ihrer „unberechtigten“ Eifersucht) zurückgeführt werden, erscheint der Konflikt der Beiden als gewöhnlicher Ehestreit. Überdies bringt das Gespräch zwischen der Amme und dem Pädagogen kurz vor dem Auftritt der Loulan-Prinzessin die Charakterzüge der Loulan-Prinzessin hervor: Pädagoge: „Wie du so erzählst, sind ihr Groll und ihre Trauer immer noch nicht beschwichtigt. Ai! Redet ihr doch mal zu! Die Liebe ist verwelkt. Selbst wenn man sie mit Tränen gießt, wird wohl nichts mehr wachsen. Wenn sie weiter solchen Unfug macht, kommt am Ende nichts Gutes dabei heraus.“ Amme: „Ich habe meiner Herrin auch so zugeredet. Selbst wenn sie Unfug macht und Unruhe stiftet, kann sie den untreuen Mann auch nicht zurück gewinnen.“323

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Gu, Li-chen: Zhongguo funü shenghuo shihua (Geschichte über das Leben der chinesischen Frauen), Taipei 1983, S. 41ff Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993 Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Der Groll und die Trauer der Loulan-Prinzessin über die Untreue ihres Mannes, wird hier von den beiden Figuren als „Unfug machen“ bezeichnet. Solche Formulierungen erwecken Assoziation mit den sog. drei „Geheimwaffen“ chinesischer Frauen, mit denen sie ihre untreuen Männer zurück gewinnen könnten: „Erstens: Weinen, zweitens: Zetern und ‚Unfug machen‘ und drittens: Drohung mit Selbstmord.“324 Da solche Gegenmittel nicht zum Anstand und zur Tugend einer Frau aus vornehmer Familie gehören, werden sie nur den ungebildeten, wilden, unkontrollierten, unvernünftigen und eifersüchtigen „Hausdrachen“ (Ehefrauen) zugeschrieben.325 Indem die Loulan-Prinzessin durch diesen Kommentar mit solchen Klischeebildern verknüpft wird, wird sie, noch bevor sie auftritt und ihre Racheabsicht äußert, bereits von den beiden Figuren als unwürdige, unvernünftige und eben nicht-bemitleidenswerte Frau verurteilt, nicht nur weil sie sich mit der Untreue des Mannes nicht abfinden will, sondern auch weil sie nach der Annahme der beiden Figuren mit unvernünftigen Mitteln die Liebe ihres Mannes zurück gewinnen wolle. Solche Annahmen und Urteile werden wiederum durch die Selbstdarstellung der Loulan-Prinzessin bestätigt, als sie in ihrer ersten Konfrontationsszene mit Jason tatsächlich den Versuch unternimmt, durch den verführerischen und intimen Körperkontakt seine Liebe zurück zu gewinnen. Es lässt sich zusammenfassen, dass die Selbstdarstellung der Loulan-Prinzessin die folgende Entwicklung nimmt: Sie präsentiert sich zuerst in Anlehnung an Euripides’ Medea-Figur als eine von Hass erfüllte, eifersüchtige, rachsüchtige und selbstbewusste Frau. Ab dem ersten Auftritt Jasons schlägt dieses Bild um und sie verwandelt sich in eine gekränkte, unschuldig wirkende und herumjammernde verlassene Frau, die weder Stolz noch Anstand besitzt. Diese widersprüchliche Darstellung verweist auf die Diskrepanz zwischen Euripides’ Medea-Figur und der Loulan-Prinzessin Lin Xiuweis. Nach Auffassung der Regisseurin wirkt Medea zwar nach Außen als eine starke und selbstbewusste Frau, die aber in ihrem tiefen Inneren vereinsamt und liebesbedürftig ist, weshalb in der Aufführung die innere Verletzlichkeit einer von ihrem Mann verlassenen Frau zum Ausdruck gebracht werden soll.326 Daher lässt sich erkennen, dass die Regisseurin Medea als eine gewöhnliche Frau betrachtet. Im Unterschied dazu überlistet Euripides’ Medea-Figur jedoch durch die Selbstdarstellung einer schwachen und hilflosen Frau ihre Feinde und offenbart andererseits durch ihre Monologe

324 325 326

Gu 1983, S. 33 Ebd., S. 33ff Lu, Jian-ying 1993, S. 68

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

und Dialoge mit dem Chor ihr wahres Inneres als heroischer Charakter. 327 Damit weist die Darstellung der Loulan-Prinzessin eine Umkehrung von inneren und äußeren Charakterzügen von Euripides’ Medea-Figur auf. Ihr Vorwurf gegenüber Jason beruht dabei weder auf irgendeinem göttlichen Gesetz noch auf moralischer Ethik, sondern ausschließlich auf ihren persönlichen, verletzten Gefühlen, so dass keine rechtliche Grundlage für ihre Klage vorhanden ist. Indem sie sich in ihren Kommentaren außer gegenüber dem chinesischen Fürsten implizit mit dem Klischeebild der eifersüchtigen Frau in Form der Huanglian Po verbinden lässt, erscheint sie als eine von Emotionen geleitete, unvernünftige und nörglerische Frau. Dies verweist nicht nur darauf, dass die Loulan-Prinzessin nichts mehr als eine gewöhnliche, eifersüchtige Frau darstellt, sondern auch darauf, dass sie, noch bevor sie die Rache vollzieht, bereits wegen dieser einzigen Eigenschaft verurteilt wird. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass sie ebenso wie andere Frauen keinerlei Recht hat, eifersüchtig zu sein.328 Diese Charakterisierung der Loulan-Prinzessin kann insofern als eine Dekonstruktion von Euripides’ Medea-Figur verstanden werden, da eine Legitimation der patriarchalischen chinesischen Machtverhältnisse geschaffen wird, die sich in der erlaubten Untreue der Männer äußert. II.2.3.4.3 Die Motivation des Kindermordes Weiterhin stellt sich die Frage, wie der Kindermord begründet wird, inwiefern dieser sich mit ihren Charakterzügen vereinbaren lässt und ob ihre Rache als ein Ausdruck des Widerstandes gegen die patriarchalischen Machtverhältnisse aufgefasst werden kann. Nachdem die Loulan-Prinzessin Asyl beim König von Da Yuezhi zugesichert bekommen hat, klärt sie die Amme über die Motivation ihrer Rache auf, wobei noch keine Rede von ihrem späteren Kindermord ist: Amme: „Jason liebt dich nicht mehr. Wieso lässt du ihn nicht los und willst unbedingt mit ihm einen Krieg führen?“ Loulan-Prinzessin: „Amme, ich kann dieses Unrecht nicht dulden. Er hat die zweite Hälfte meines Lebens zerstört. Ich will, dass er mit mir leidet.“ Amme: „Medea, die Ehe ist gestorben, wozu hängst du noch an ihrem Grab. Wieso steigst du nicht rechtzeitig aus diesem Käfig? Die Liebe zwischen Mann und Frau ist rätselhaft. Nur die große Liebe [Nächstenliebe] ist das, was man überall durchführen kann.“

327 328

Foley 1989, S. 76ff Siehe Kap. II.1.2.4

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Loulan-Prinzessin: „Amme, wenn du dich selbst als Mutter von Loulan betrachtest, wirst du nicht zulassen, dass ich eine solche Demütigung erleide. Wir Frauen sollen den Männern zeigen, welche Folgen der Liebesverrat nach sich zieht. Geh, hol mir Jason her.“329

Anhand dieses Dialoges zeigt sich, dass in der Aufführung Loulan Nü weder der Reichtum noch die königliche Macht oder die Sippenpolitik eine Rolle für Jasons Verrat spielt. Stattdessen wird betont, dass er lediglich aus Liebe zu einer anderen Frau die LoulanPrinzessin verlässt. Indem die Loulan-Prinzessin dafür plädiert, dass die Frauen die Männer auf Grund ihres Liebesverrates bestrafen sollen, unterscheidet sie sich von den traditionellen tugendhaften Frauen, die sich mit dem Verstoß des Mannes abfinden. Damit wird der moralische Anspruch gegenüber den Frauen jedoch nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil vertritt die Amme genau diese traditionelle Ansicht und verurteilt Medea als eine unvernünftige und unmoralische Frau, die Liebe erzwingen will. Dass Jason ihre Selbstaufopferung für ihn mit Verrat vergilt und dass sie durch seinen Verrat in eine ausweglose Situation gedrängt wird, wird hingegen nicht thematisiert. Demnach erweist sich die Loulan-Prinzessin als eine schlechte Verliererin im Kampf um die Liebe ihres Mannes und ihre Rache erscheint durch die fehlende rechtliche und moralische Grundlage als irrational und widersinnig. Nach diesem Dialog mit der Amme verrät die Loulan-Prinzessin dem Chor ihren Racheplan und erklärt ihre Motivation für den Kindermord: „Ich kann meine Kinder nicht den Feinden überlassen. Ich will lieber selber die Kinder umbringen. Ich weiß, dass es ein schrecklicher Frevel ist, aber ich kann die Schmach der Feinde nicht mehr ertragen, ich kann nur die Dinge geschehen lassen. Mein Leben hat keinen Sinn mehr, ich habe keine Heimat, kein zu Hause, keine Familie und keine Freunde. Als ich auf Jason hörte und Loulan verließ, habe ich bereits den falschen Weg des Schicksals eingeschlagen. Mit der Hilfe und dem Schutz des Himmels ist die Zeit gekommen, es [seinen Verrat] ihm heimzuzahlen. Was ich den Kindern schulde, kann ich nur in der nächsten Existenz wieder gut machen. Nur so, nur so kann ich Jason mit mir in die Hölle ziehen.“330

Anhand dieser Aussage ist zu erkennen, dass ihre Motivation des Kindermordes auf dreifache Weise begründet wird: Erstens will sie aus mütterlicher Liebe lieber ihre Kinder eigenhändig umbringen, als diese den Feinden zu überlassen. Zweitens könne sie die durch

329 330

Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993 Ebd.

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die Feinde zugefügte Schmach nicht ertragen. Drittens will sie nicht nur selbst Jason das Leben zur Hölle machen, sondern er soll auch wie sie von den Göttern bestraft werden. Die letzte Begründung entspricht ihrer vorherigen Absicht, Jason seinen Liebesverrat heimzuzahlen, so dass die Eifersucht als Motiv für ihre Rache im Vordergrund steht. Die Ausdrücke „Wiedergutmachung in der nächsten Existenz“ und „Hölle“ verweisen auf die Verknüpfung mit dem chinesisch-buddhistischen Glauben. Demnach wird die göttliche Belohnung oder Strafe entweder in der Gegenwart oder in der nächsten Existenz durch die Wiedergeburt stattfinden, so dass für ein Opfer keine Notwendigkeit besteht, selbst um Gerechtigkeit zu kämpfen. Indem sich die LoulanPrinzessin bereit erklärt, für ihre Schuld gegenüber den beiden Kindern zu büßen, beruht ihr Schuldbewusstsein auf der buddhistischen Vorstellung des Karmas, was aber gleichzeitig auch eine Pervertierung dieser Karma-Vorstellung darstellt, da dieses Konzept nicht zur Legitimation eines Verbrechens dienen soll. Weiterhin besteht ihr Ausgangspunkt darin, dass Jason zusammen mit ihr in der Hölle bestraft werden soll, womit sie sich grundsätzlich von Euripides’ Medea unterscheidet, welche selbst als eine göttliche Instanz andere straft. Auch argumentativ ist es nicht überzeugend, dass Jason auf diese Weise ebenfalls bestraft werden wird, da er nach allgemeiner Auffassung gegen kein Gesetz verstoßen hat, so dass nach diesem Verständnis die Loulan-Prinzessin letztendlich doch als einzige bestraft werden müsste. Auch dass der Kindermord für ihn eine schwere Strafe darstelle, ist nicht ersichtlich, da Jason die Kinder zusammen mit ihrer Mutter ins Exil gehen lässt und er mit einer anderen Frau wieder Nachkommen haben kann. Nach der zweiten Motivation geht die Loulan-Prinzessin davon aus, dass sie von ihren Feinden ausgelacht würde, wenn sie die Ermordung der beiden Kinder nicht vollziehen würde. Da dieser Ausgangspunkt nicht auf die chinesischen Konventionen zurückzuführen ist, bedarf die Kausalität einer Erklärung oder einer Verständnisgrundlage, welche jedoch nicht mitgeteilt wird. Hinter dieser Aussage soll offenbar ein stolzer Charakter zum Vorschein kommen, wohingegen die Loulan-Prinzessin in der gesamten Aufführung vielmehr als eine Frau dargestellt wird, die ohne Stolz und Würde die Liebe ihres untreuen Mannes zurück zu gewinnen versucht. Durch die Widersprüche der Argumentation und die unklare Charakterisierung liefert auch der zweite Grund keine Anhaltspunkte und erscheint daher unglaubhaft. Zwar verweist die erste, rationale Begründung auf ihre mütterliche Liebe und ihren Verstand, jedoch wird bereits bei ihrem ersten Auftritt das Gegenteil deutlich. Als sie nach dem Gespräch zwischen der Amme und dem Pädagogen anschließend zusammen mit dem

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

Chor auf der höchsten Treppenstufe auftaucht, befindet sich die Amme mit den zwei Kindern auf der Hauptbühne unterhalb der Treppe und beschimpft die Kinder in deren Gegenwart: Loulan-Prinzessin: „Ihr zwei verdammten Dinger, fahrt mit eurem Vater zur Hölle! Ich hasse euch und ich brenne darauf, dass die ganze Familie stirbt.“ Amme: „Ai! Du hast wohl zu viel geweint, dass du den Verstand verlierst?! Die Angelegenheiten der Erwachsenen gehen doch die Kinder gar nichts an. Wieso willst du, dass sie für die Schuld ihres Vaters büßen?“ Loulan-Prinzessin: „Ich bereue, die zwei Bastarde geboren zu haben. Sobald ich sie sehe, erinnern sie mich an den verhassten Mann.“ Amme: „Denk dran, wie lieb du sie früher hattest. Jetzt bist du aber so.“ Loulan-Prinzessin: „Nein, ich hasse sie. Kinder! Ich hasse euch. Ihr von einer hassenden Mutter geborenen Bastarde. Kinder! Ich hasse euch. Ich verfluche euch. Ich verfluche euren Vater. Ich wünsche, dass dieser Palast zusammenfällt und alles vernichtet wird.“331

Durch die mehrfache Verfluchung der beiden Kinder präsentiert sich die Loulan-Prinzessin als eine Mutter, die auf Grund von Eifersucht und Hass ihre mütterliche Liebe verloren hat und nicht bei vollem Verstand ist, wodurch ihre Charakterisierung und ihre Motivation für den Kindermord widersprüchlich erscheinen. Da sie ihrer Eifersucht und ihrem Hass gegenüber Jason und den beiden Kindern ausführlich Ausdruck verleiht und da die anderen Figuren wie die Amme, der Pädagoge und Jason sie als eine unvernünftige Mutter darstellen, die ihren Verstand verloren hat, ist diese Begründung nicht stichhaltig. Dass Jason durch den Kindermord Schmerz zugefügt werden soll, widerspricht nicht zuletzt ihrem Vorwurf in der Schlussszene, als er sie wütend und mit einem Schwert in der Hand aufsucht, um sich nach den beiden Kindern zu erkundigen. Dabei steht sie auf dem senkrecht aufgestellten Sarg, hebt die Köpfe der beiden Kinder hoch und lacht triumphierend.332 Loulan-Prinzessin: „Du warst versessen auf die neue Schönheit. Hast du dich jemals um die Kinder gekümmert? Um Reichtum und Macht zu bekommen, willst du sie sogar aus deinem Haus jagen. Gibt es einen Vater, der noch unmenschlicher ist als du? Du bist ein Biest in Menschengestalt. Ein Übel! Dein Herz ist wohl von den Hunden aufgefressen worden. Kalt und herzlos bist du! Wie kannst du es jetzt noch wagen, mich nach den Kindern zu fragen? Also, gut! Ich werde dir zeigen, welche Sünde du begangen hast. Das ist die Folge davon, dass du deinen Schwur gebrochen hast.“333

331 332 333

Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993 Siehe Anhang, Abb. 10 Bühnenskript zu Loulan Nü, Taipei 1993

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

Indem Jason als ein herzloser Vater dargestellt wird, der seine Kinder wegen seiner Begierde und seiner eigenen Interessen preisgeben kann, kann der Tod der Kinder ihn nicht tief treffen. Außerdem gibt es davor auch keine Hinweise, dass die Kinder für ihn wichtig wären und er erwidert ihr in dieser Szene in einer trivialen Umgangssprache eine Reihe von Beschimpfungen, indem er sie als „Schlampe“, „Bösewicht“, „unverschämte Frau“, „grausame Mutter, die aus Liebe ihre eigenen Kinder umbringt“ und „Hexe, die den Verstand verloren hat“ bezeichnet. Der Hass ihr gegenüber übersteigt dabei die Trauer um die Kinder, so dass er wiederum ihren Vorwurf zu bestätigen scheint. Da die Begründung für den Kindermord keinen Anhaltspunkt hat und da die triumphierende Präsentation der Kinderköpfe, die roten Scheinwerfer und das mit einem Halleffekt verstärkte Lachen die Loulan-Prinzessin in eine grausame Hexe bzw. Dämonin verwandeln, entspricht sie nicht zuletzt auch Jasons Urteil einer „grausamen Mutter“, die aus Eifersucht und Hass ohne Verstand ihre eigenen Kinder ermordet. Demzufolge sind die Kinder weder für Jason noch für die Loulan-Prinzessin lieb und teuer und sie werden als Spielball von Lust und Laune der Beiden dargestellt. Dies widerspricht offensichtlich sowohl dem ersten als auch dem dritten Grund, so dass der Kindermord sinnlos erscheint. Angesichts der beschriebenen Widersprüche zwischen der Motivation und der Charakterisierung der Loulan-Prinzessin lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass keine kausale Stringenz für den Kindermord vorhanden ist. Diesbezüglich versteht die Regisseurin nach eigener Aussage unter Medeas Kindermord „eine Metapher für die verlorene Unschuld“.334 Die Formulierung „verlorene Unschuld“ ist im Chinesischen ein Begriff für die verlorene Keuschheit einer Frau, welche sich auf den strikten moralischen Anspruch während der Ming- und Qing-Dynastie nach absoluter Treue der Frauen gegenüber ihren Ehemännern zurückführen lässt.335 Gemäß diesem Beharren auf der Forderung nach Jungfräulichkeit wird die Wiederheirat als eine Schande betrachtet und der Verstoß durch den Mann bedeutet für die Frau Ausweglosigkeit. Auch wenn es nur eine Metapher sein soll, erklärt dies jedoch nicht, warum sie anstatt eines Selbstmordes, durch den die chinesischen Frauen gemäß der 334 335

Kennedy 1993, a.a.O. Der Satz des Neo-Konfuzianisten Cheng Yin aus der Song-Dynastie in Jingsi Lu (Sammlung des Denkens), Band 8: „Zu verhungern ist nicht so schlimm wie der Verlust der Treue“ wurde in der Ming- und Qing-Dynastie zum strikten Moralgesetz für Frauen, die vor der Ehe ebenso wie nach dem Tod des Mannes oder Verlobten enthaltsam leben sollten. Durch die auf kaiserliche Anordnung errichteten Zhenjie Paifang (Gedenkbögen für die Enthaltsamkeit) waren viele Frauen zu jener Zeit bereit, für ihre Keuschheit zu sterben. Siehe: Huang, Shi-zhong 2000, S. 140ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

Konvention ihre Würde wiederherstellen, die Ermordung der Kinder wählt und zu welchem Zweck diese Tat dienen soll. Ferner wird der Selbstmord der „Loulan-Prinzessin“ überhaupt nicht thematisiert, obwohl dies ebenso bei Euripides’ Medea-Figur (Zeile 145-148) als auch bei den verlassenen Frauen in der chinesischen Tradition die erste logische Reaktion für das Verlassenwerden darstellt. Dass die Loulan-Prinzessin stattdessen bei ihrem ersten Auftritt direkt ihre beiden Kinder verflucht, lässt sie viel eher als eine unsympathische und hysterische Frau erscheinen statt als eine Rebellin. Ihr Kindermord, der sich auf keinerlei göttliche Legitimation oder moralische bzw. rechtliche Grundlage berufen kann und gegen jeglichen gesunden Menschenverstand verstößt, erscheint somit als eine Tat aus grundloser Eifersucht und blindem Hass. So wird die Loulan-Prinzessin in Übereinstimmung damit bereits vor ihrer Rachetat auf Grund ihrer Eifersucht als verwerfliche und anstößige Frau angesehen, indem durch den vom Chor vorgetragenen SutraText allein ihre Liebeshaltung für das tragische Geschehen verantwortlich gemacht wird. Da sie letztlich im Unterschied zu Euripides’ Medea-Figur doch von den Göttern bestraft werden soll, leistet sie mit dem aus Eifersucht begangenen Kindermord keinen Widerstand gegen die buddhistischen Vorurteile und die patriarchalische Unterdrückung gegenüber chinesischen Frauen. Im Gegenteil bestätigt sie nicht nur den buddhistischen Glauben, dass der Ursprung der durch Frauen begangenen Sünden tatsächlich in ihrer Eifersucht liegt, sondern auch das patriarchalische Denken, dass eine eifersüchtige Frau es verdient hat, verstoßen zu werden. Somit stellt sich heraus, dass Euripides’ Medea dank seiner feministischen Aura in Loulan Nü lediglich als Deckmantel dient, um die patriarchalischen Machtverhältnisse in der modernen taiwanesischen Gesellschaft zu überdecken.336

II.2.4 Analogie zu Ninagawas Medea-Aufführung Da in diesem Zusammenhang Yukio Ninagawas Medea-Aufführung von ausschlaggebender Bedeutung für die Entstehung der Aufführung Loulan Nü ist, wie bereits in Unterpunkt 2.1 dieses Kapitals dargelegt wurde, ist nachfolgend der ästhetische und konzeptuelle Einfluss Ninagawas noch näher zu untersuchen, um die Analogien zwischen den beiden Aufführungen zu analysieren. Da es den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, Ninagawas Medea-

336

Hu, Jin-Yuen: „Huigui shenti – Loulan Nü“ („Rückkehr zum Körper – Loulan Nü“), in: Yishu Zhixun (Kunstmagazin), Aug. 1993, S. 56

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

Aufführung detailliert zu analysieren, werde ich mich im Folgenden auf die wesentlichen Merkmale konzentrieren, die für die Aufführung Loulan Nü relevant sind. Hierfür wird zunächst die taiwanesische Rezeption des Gastspiels 1993 in Taipei untersucht, um die Besonderheiten von Ninagawas Ästhetik herauszuarbeiten und nachfolgend, inwiefern sich diese Ästhetik in Lin Xiu-weis Aufführung Loulan Nü fortsetzt. So erklärt beispielsweise Peng Yia-lin, worin die Begeisterung der taiwanesischen Zuschauer besteht: „[M]it seiner ,Medea‘-Aufführung erlebt er auf internationaler Bühne einen sensationellen Erfolg: Ninagawa realisiert hier seine Darstellungsform der ‚Vereinigung dreier Theaterelemente‘ [Noh, Kabuki und Stanislawski-Methode]. Er lässt die Shamisen-Musik neben der Barock-Musik koexistieren und verbindet die große westliche Busenattrappe im selben Kostüm mit östlichen Wasserärmeln. Das Bühnenbild ist ein antikes griechisches Amphitheater und der in den Himmel fliegende Drachenwagen in der Schlussszene ist eine Kombination von typischer Broadway-Technik und speziellen Lichteffekten. All dies gibt den Zuschauern einen visuellen ästhetischen Genuss, den sie nie zuvor erlebt haben.“337

Dies verdeutlicht, dass die verschiedenen östlichen und westlichen Kultur- und Theater-Elemente, die man zuvor als inkompatibel betrachtet hatte, auf gewagte Weise so miteinander kombiniert werden, dass sie parallel nebeneinander existieren. Die daraus geschaffene, beeindruckende visuelle Ästhetik bedeutet ein spektakuläres Erlebnis und eine sinnliche Erfahrung. Diesen Aspekt vertieft Huang Jian-ye anhand folgender Beschreibung: „Die Einzigartigkeit von Ninagawas Theater besteht zweifellos darin, die Modernisierung der traditionellen japanischen Theaterästhetik durch die Interpretation klassischer westlicher Werke zu erzielen. Medea bietet in der Tat eine eigenartig verfremdete Sinnlichkeit: So bewegt sich Mikijiro Hira [MedeaDarsteller] im dramatischen Kabuki-Stil und schreit dabei fortwährend mit männlicher Stimme den Hass als Frau heraus. Er kann sich trotz des großen Gewichts der drei Kostüm-Schichten noch bewegen und drehen, so dass die Zuschauer schon zutiefst von seiner Technik und körperlichen Leistung beeindruckt sind, noch bevor die Hälfte der Aufführung vergangen ist. Auch der Chor, der in einem zweifarbigen Umhang [auf beiden Seiten des Umhangs] Shamisen [dreisaitige japanische Laute] spielt, besingt seine Hilflosigkeit und Furcht. Dies stellt nicht nur die visuelle Atmosphäre für das ganze Szenarium her, sondern auch der Gemütszustand Medeas wird durch die ständige Ände-

337

Peng, Yia-lin: „Ninagawas Theater – die ewige Bewunderung“, in: Performing Arts Review, April 1993, S. 72

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Westlicher Geist im östlichen Körper? rung seiner kollektiven Formation hervorgebracht. In der Darstellung von ‚Medea‘ zeigt sich Ninagawas ganze Kreativität.“ 338

Daraus geht hervor, dass die Verknüpfung der Kabuki-Schauspielkunst mit eigenartigen Kostümen sowie der Choreographie des Chors neben dem Spezial-Effekt mit dem Drachenwagen für die Zuschauer die interessantesten Merkmale dieser Inszenierung darstellen. Deshalb möchte ich nun die Analogien zwischen den beiden Aufführungen anhand der drei Aspekte „Kostüme“, „traditionelle Schauspielkunst“ und „Chor“ näher untersuchen.

II.2.4.1 KOSTÜME Der auffälligste und kostenaufwändigste Teil der gesamten Aufführung von Ninagawas Medea besteht im Kostümdesign, welches sich als außergewöhnlich, pompös, extravagant, prächtig und phantasievoll kennzeichnen lässt. Dass die Kostüme im Vordergrund dieser Aufführung stehen, wird nicht zuletzt auch vom Regisseur selbst bestätigt, denn er äußerte in einem Interview, dass sich seine Inszenierung an den Kostümen von Jusaburo Tsujimura orientiert, 339 der üblicherweise Puppen bzw. Kostüme für Puppen kreiert. 340 Auch bei Loulan Nü zeigt die detaillierte Aussage im Programmheft über die Intention des Kostümbildners Ye Jin-tian auf, dass die Kostüme eindeutig im Mittelpunkt der Aufführung stehen.341 Während Ninagawas Medea-Darsteller Mikijiro Hira, 342 der in der Onnagata-Rolle (Frauenrolle) des traditionellen japanischen Kabuki-Theaters ausgebildet ist, drei Schichten von Kostümen trägt, wechselt die Peking-Oper-Schauspielerin Wei Hai-min auf der Bühne zweimal die Kostüme. Im Unterschied zur Peking-Oper, bei der der Kostümwechsel kaum zu sehen ist, spielt dieser im KabukiTheater eine wichtige Rolle, da hierdurch die Transformation eines 338

339 340 341 342

Huang, Jian-ye: „Benwen de beipan yu zhongshi de quanshi: jiantan sange Xila zuopin de yanchu“ („Die Treue zur und die Abkehr von der Interpretation des Originals: über drei Aufführungen griechischer Tragödien“), in: Performing Arts Review, Sept. 1993, S. 100 Peng 1993, S. 71ff Saiki, Yukari: „Jusaburo’s Puppet Museum“, Jan. 2003, in: http://www. koinshi.co.jp/jusaburo/ [Stand: 10.09.2006] Programmheft zu Loulan Nü, Taipei 1993 Obwohl zunächst der Schauspieler Tokusaburo Arashi die Titel-Rolle der Medea übernommen hatte, ist Mikijiro Hira sowohl der Medea-Darsteller meines Video-Materials des Gastspiels von 1986 in Athen als auch des Gastspiels von 1993 in Taiwan, weshalb ich mich in meiner Aufführungsanalyse auf ihn beziehe.

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

Charakters oder der veränderte Gemütszustand einer Figur sichtbar gemacht wird.343 Der vor den Augen des Publikums vollzogene Kostümwechsel gehört somit neben der aufwändigen Bühnenausstattung zu den faszinierendsten dramatischen Komponenten des Kabuki-Theaters. Die Onnagata-Schauspieler tragen mehrere Kimonos übereinander, was einem Gewicht von fünfzig bis zum sechzig Pfund entsprechen kann. Bei der Onnagata-Rolle wird der Kostümwechsel durch das sog. Hikinuki-Verfahren vollzogen, nach welchem jeweils der oberste Kimono mit Hilfe der an der Handlung unbeteiligten Bühnenassistenten (jap. Kurumbo) von hinten blitzschnell entfernt wird, wodurch der Effekt einer spektakulären Verwandlung erzielt werden kann. 344 Der Kostümierung der Onnagata-Rolle kommt eine große Bedeutung zu, da sie die Codes zur Darstellung entsprechender Rollentypen wie Kurtisanen, Prinzessinnen, Feen und Ehefrauen beinhaltet. Dabei tragen alle Elemente des Onnagata-Kimonos wie Ärmel, Kragen, äußere Robe, Obis (breite KimonoGürtel) usw. dazu bei, Sinnlichkeit und Erotik hervorzubringen.345 Dabei schränken das große Gewicht und der Schnitt der Kimonos die Bewegungen der Schauspieler ein, wodurch die Körpersprache minimalisiert und eine hoch stilisierte Form von Feminität entwikkelt wird. Im Vergleich zu den Onnagata-Kimonos, lassen sich die drei Schichten des Medea-Darstellers Mikijiro Hira auf folgende Weise beschreiben: Die äußerste Schicht bildet ein Umhang mit fächerförmiger Schleppe und zwei bis auf den Boden fallenden Ärmeln, welche der Kostümbildner aus mehreren antiken Obis zusammen geschnitten hat. Die zwei patchworkartigen Ärmel lassen sich wegen der glänzenden und bunten Brokatstoffe der Obis und ihre einem Kamm ähnelnde Form mit einem Chamäleon assoziieren. Die zweite Schicht besteht aus einer weißen Brustattrappe und besitzt außerdem noch zwei große weiße Puffärmel sowie den mit einem Muster im Jugendstil verzierten weißen Rock, wobei diese beiden Komponenten in ihrer Form an das „Empirekleid“ aus der Napoleonzeit angelehnt sind. Die dritte Schicht bildet eine schlichte rote einteilige Unterkleidung mit einer langen Schleppe. Diese Unterkleidung ist am Oberkörper hauteng, wohingegen der untere Teil aus einem breiten Rock besteht, was vielmehr an das Kostüm von Martha Grahams Choreographie Letter to the World (1940) angelehnt zu

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Earle, Ernst: The Kabuki Theatre, Honolulu 1956, S. 108 Ebd. Mezur, Katherine: „Undressing the Onnagata: Kabuki’s Female Role Specialists and the Art of Costuming“, in: Scholz-Cionca, Stanca/Leiter, Samuel L. (Hg.): Japanese and the international stage, Leiden/Boston/ Köln 2001, S. 194

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

sein scheint, als an traditionelle japanische Frauenkleidung.346 Der auffälligste Teil des gesamten Kostüms ist jedoch der widderhornförmige Kopfschmuck, der mit vielen glänzenden Silbermünzen und einer daran hängenden Perlenkette geschmückt ist.347 Alles in allem beträgt das Gewicht der drei Kostümschichten vierundvierzig Pfund. Hiras Kostüme sind demnach vielmehr an westliche als an japanische Kleidungsstile angelehnt und stimmen nur in zwei Aspekten mit den Onnagata-Kimonos überein, indem sie aus mehreren Schichten bestehen und äußerst schwer und prachtvoll sind. In Analogie dazu lassen sich solche Merkmale wie das schwere Gewicht sowie mehrere Schichten und Schleppen auch bei den Kostümen der Peking-Oper-Schauspielerin Wei Hai-min beobachten. Während ein solches Kostümdesign bei Ninagawas Produktion den ästhetischen Prinzipien des Kabuki-Theaters entspricht, widerspricht die damit einhergehende Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit jedoch eindeutig den ästhetischen Prinzipien der Peking-Oper, in der „jede Bewegung ein Tanz und jeder Ton ein Gesang ist“.348 Ferner lassen sich bei den Medea-Kostümen beider Aufführungen auffällige Übereinstimmungen durch die Verwendung von Tiermotiven beobachten. So lässt sich das erste Kostüm der LoulanPrinzessin mit den Flügeln einer Fledermaus in Verbindung bringen, wenn die zwei silbrig glänzenden Schleppen durch die beiden hoch gehobenen Schwerter ausgebreitet werden. 349 In Ninagawas Version ist bei den Kopfbedeckungen der ganzen Familie Medeas eine Anspielung auf das Goldene Vlies zu sehen, da Medea und Jason jeweils einen widderhornförmigen Kopfschmuck und die beiden Kinder weiße, lockige Perücken aus Wolle tragen.350 Beim zweiten Kostüm der Loulan-Prinzessin verleihen ihr die zwei plastischen Hängeärmel in Sensenform ebenfalls eine tierähnliche Gestalt, indem sie wie die langen und spitzen Hörner eines Steinbocks aussehen.351 Im Unterschied zu Ninagawas Kostümen verweisen sie je346 347

348 349 350 351

Siehe Video: „Martha Graham: Dancer Revealed“, USA 1994 Während die Widderhornform auf das Goldene Vlies hindeutet, verweisen die Kette und die Münzen auf die Tränen Medeas, da zusätzlich noch weitere Perlenketten unter die Augen Hiras geklebt sind, um die Tränen Medeas sichtbar zu machen. Die Verwendung von Perlenketten sowie das wie Tränen aussehende Makeup sind auch bei der Kostümierung der Loulan-Prinzessin zu finden. Zheng, Chuan-yin 2004, S. 23ff Siehe: Kap. II.2.3.1.1 Huang, Jian-ye 1993, S. 101 Nicht nur der Volant-Rock stammt aus der westlichen Mode, sondern auch die zwei Hängeärmel des zweiten Kostüms, die an der Schulter befestigt und fast genau so lang wie die Arme sind, scheinen von den Hän-

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

doch nicht auf den Inhalt, da das Goldene Vlies bei Loulan Nü durch einen „Goldenen Zweig“ ersetzt wurde. Da sich solche außergewöhnlichen Elemente bei Loulan Nü somit weder mit der Handlung verknüpfen noch auf die Identität oder den Charakter der Figuren beziehen lassen, fungieren sie somit ausschließlich als reine Dekoration.352 Eine weitere Analogie des Kostümdesigns der beiden Aufführungen besteht nicht zuletzt in der Kombination von westlicher und östlicher Mode. Somit ist das zweite Kostüm der Loulan-Prinzessin wie die zweite Schicht von Hiras Kostüm ebenfalls weiß und neben den tibetischen Elementen wurde die englische Mode aus der Zeit von Elisabeth I. integriert.353 Während das Kostümdesign von Loulan Nü ein breites Spektrum an historischer westlicher Mode, verschiedenen kulturellen Elementen chinesischer Minderheitsvölker sowie Zentralasiens umfasst, entstehen pompöse, prächtig geschmückte und extravagante Kostüme, die bei Ninagawa ebenfalls durch die Kombination von japanischen und verschiedenen anderen kulturellen Elementen zu finden sind. Somit stammt bei Ninagawa die Pumphose Jasons aus der Türkei, aber seine goldenen Absatzschuhe sowie der wie ein Panzer aussehende goldene Mantelumhang jedoch aus Europa. Die Sandalen des Boten erinnern an solche des Alten Rom, während die Hose aus dem Vorderen Orient zu stammen scheint. Da sich die Figuren somit keiner bestimmten Kultur oder Zeit zuordnen lassen, können sie weder auf die kulturelle Identität der Figuren noch auf einen konkreten historischen bzw. kulturellen Hintergrund der Handlung verweisen. Somit stellen die hybriden Kostüme bei Ninagawas Produktion ein visuelles Szenarium her, das unzweifelhaft als Vorlage für die Aufführung Loulan Nü gedient hat und aus dem ein „orientalisches“ Spektakel hervorgeht.

II.2.4.2 SCHAUSPIELKUNST UND ROLLE DES CHORS Um die Analogie der Herangehensweise mit der Theatertradition zwischen den beiden Aufführungen zu erläutern, soll hier zunächst die mögliche Bezugnahme Ninagawas auf das Kabuki-Theater überprüft werden.

352 353

geärmeln bzw. falschen Ärmeln der europäischen Mode des 15.-17. Jh. abgewandelt zu sein. Siehe: Loschek, Ingrid: Reclams Mode- & Kostüm Lexikon, Stuttgart 1999, S. 231 sowie Anhang, Abb. 4 Huang, Jian-ye 1993, S. 101 Siehe: Kap. II.2.3.1.1

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

Das Wort Kabuki beinhaltet drei Kanji-Zeichen (bzw. chinesische Zeichen), die jeweils „Gesang“, „Tanz“ und „Geschicklichkeit“ bedeuten. Dies verweist auf die zwei wichtigsten Komponenten des Kabuki-Theaters, nämlich die Geschichtserzählung durch den ChoboGesang und die Tanzvorführung der Schauspieler. Unter Chobo versteht man die Geschichtserzähler und Shamisen-Spieler, deren Ursprung auf das Puppentheater zurückgeht. Wie im Puppentheater sitzt der Chobo mit allen anderen Musikern zusammen auf einem Podest, das sich normalerweise auf der linken Seite der Hinterbühne befindet und die pantomimische und tänzerische Darstellung der Kabuki-Schauspieler begleitet bzw. man könnte umgekehrt sagen, dass die meisten Kabuki-Tanzvorführungen eigentlich tänzerische Darstellungen des Chobo-Gesangs sind. 354 Obwohl oft Analogien zwischen Chobo und griechischem Chor gezogen werden, besteht jedoch nur die Gemeinsamkeit, dass beide als eine einheitliche Stimme ihre individuelle Stellungnahme zum Verhalten der Figuren und der Handlung offenbaren. Da der Chobo weder aus Schauspielern noch Tänzern besteht, sondern aus anonymen Erzählern, die sich außerhalb der Handlung befinden, verkörpert hingegen der griechische Chor als dramatis persona eine bestimmte soziale Gruppe oder Identität und nimmt aktiv an der Handlung teil. Während der Chobo als allwissender Erzähler gilt, verfolgt der griechische Chor das ganze Geschehen der Handlung und hat deshalb den gleichen Wissensstand wie die Zuschauer. Außerdem übernimmt der Chobo gelegentlich den Text der Kabuki-Schauspieler, was aber beim griechischen Chor nie vorkommt.355 In Ninagawas Medea-Aufführung besteht der Chor aus 16 Männern und verkörpert wie bei Euripides’ Chor die Frauen aus Korinth. Im Unterschied zum Chobo nimmt er an der Handlung teil und trägt Euripides’ Text nicht in Form von Gesang, sondern durch Sprechen vor. Auch wenn er seinen Vortrag mit Shamisen begleitet, wird dies jedoch nur in der Anfangsszene und am Schluss eingesetzt, wobei er aber nicht wie üblich mit einem Holzbrett spielt, sondern mit bloßer Hand die Saiten zupft, wie bei einer Gitarre. Somit erweckt er durch die Verwendung der Shamisen zwar den Anschein einer Verknüpfung mit dem Kabuki-Theater, aber in Wirklichkeit lässt sich seine Präsentation und Funktion nicht auf den Chobo zurückführen. Indem aber alle Rollen in Ninagawas MedeaAufführung entsprechend der Konvention des Kabuki-Theaters mit

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Ernst 1992, S. 113. Es ist anzumerken, dass es sich bei vielen Fotodokumenten und Videoaufnahmen über das Kabuki-Theater beobachten lässt, dass sich das Orchester auch oft auf der rechten Seite der Bühne befindet. Ebd., S. 117ff

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

männlichen Darstellern besetzt sind, könnte dies den Anschein erwecken, als ob alle aus der traditionellen Theater-Szene stammen würden, obwohl nur der Medea-Darsteller Mikijiro Hira als Onnagata-Schauspieler eine traditionelle Theaterausbildung besitzt.356 Die Onnagata-Schauspieler schaffen üblicherweise durch die verfeinerten bzw. minimalisierten Bewegungen, die Falsettstimme und Kimono-Kostüme solche Frauengestalten, die als weiblicher und erotischer gelten als wirkliche Frauen, weshalb sich der Onnagata als das ideale Frauenbild japanischer Männerphantasien auffassen lässt. 357 Dadurch hingegen, dass der Kabuki-Schauspieler Mikijiro Hira in seiner Rolle als Euripides’ Medea-Figur seine männliche Stimme und männliche Bewegungen verwendet, unterscheidet sich seine Darstellung somit erheblich von der des Onnagata. Dass seine Körperhaltung und einige seiner Bewegungen dennoch etwas an die Onnagata-Rolle erinnern, liegt hauptsächlich daran, dass der Körper des Schauspielers so tief von der strikten, traditionellen Schauspieldisziplin geprägt ist, dass er sie nicht vollkommen verleugnen kann. Diese Herangehensweise an die traditionelle Schauspielkunst stimmt mit der Darstellung der Peking-Oper-Schauspielerin Wei Hai-min als Loulan-Prinzessin überein, von der die Regisseurin verlangt, auf die charakteristische Falsett-Stimme zu verzichten und in naturalistischer Darstellung zu agieren. 358 Damit findet in beiden Aufführungen eine Kombination von östlichen und westlichen Theaterformen statt, wobei die realistische westliche Schauspielkunst als Fundament dient und die traditionelle östliche Schauspielkunst durch den Verzicht auf die stilisierte Darstellung weitgehend eliminiert wird. Es ist auffällig, dass Lin Xiu-wei, ihr Co-Regisseur, der Komponist usw. vor ihrer Aufführung in interpretatorischer und konzeptu-

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Während der Herrschaft Tokugawa Shogunates (1603-1868) wurde es im Jahre 1629 Frauen aus moralischen Gründen verboten, im Kabuki-Theater aufzutreten, weshalb seitdem diese Theaterform ausschließlich zur männlichen Domäne gehört. Siehe: Mezur, in: Scholz-Cionca/Leiter (Hg.) 2001, S. 196ff Griffith, Paul/Cavaye, Ronald/Akihiko, Senda: A Guide to the Japanese Stage: From Traditional to Cutting Edge, Tokio 2004, S. 27 Der taiwanesische Theaterwissenschaftler Wang An-qi spricht von seiner Bewunderung für Wei Hai-min, deren Bewegungen trotz des Verzichts auf die Stilisierung und der komplizierten Kostüme, ihre Herkunft aus der Peking-Oper entlarven. Dies entspricht nicht zuletzt auch den von Huang Jian-ye genannten Gründen für seine Begeisterung über den japanischen Medea-Darsteller Hira. Siehe: Wang, An-qi: Yanchu xijushi: „Cong ‚Beijing jingju tuan‘ dao ‚Dangdai chuanqi‘“ („Die Theatergeschichte aufführen: Vom ,Peking-Oper Theater‘ bis zur ,Contemporary Legend Theater Company‘“), in: Performing Arts Review, Sept. 1993, S. 103

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eller Hinsicht großen Wert auf eine Differenzierung zu Ninagawas Produktion legten, so dass sich ihren Angaben zufolge Loulan Nü deutlich von der japanischen Version unterscheiden soll, obwohl sich die Inszenierung jedoch in wesentlichen Punkten immer wieder auf Ninagawa bezieht. So besteht nicht zuletzt eine Gemeinsamkeit der beiden Interpretationen von Euripides’ Medea-Figur auch darin, dass die Racheabsicht auf die Eifersucht und den Hass Medeas zurückgehen. Dass dabei Euripides’ Medea nichts weiter als ein gewöhnliches Liebesdrama sei, wird nicht nur von der taiwanesischen Regisseurin Lin Xiu-wei postuliert, sondern auch von Seiten Yukio Ninagawas selbst in einem Interview bestätigt: „Vor der Aufführung erklärte ich den Schauspielern, dass sie sich die Geschichte als eine Dreiecksbeziehung in moderner Zeit vorstellen sollen. Sie [diese Geschichte] mag außergewöhnlich erscheinen, aber eigentlich ist eine solche Dreiecksbeziehung ziemlich üblich.“359

Es stellt sich die Frage, inwiefern die Darstellung der Loulan-Prinzessin mit der des japanischen Kabuki-Schauspielers Mikijiro Hira in der Rolle Medeas zusammenhängt. Um die schauspielerische Analogie einschränkend zu erläutern, werden die folgenden drei Szenen bei Ninagawa als Beispiele angeführt und mit der Inszenierung von Loulan Nü verglichen: Medeas erste Äußerung ihrer Racheabsicht, ihre zweite Aussage über ihren Racheplan einschließlich des Kindermordes sowie ihr Triumph nach dem Kindermord. Dabei sollen vor allem drei Aspekte genauer untersucht werden: Wie wird der Kostümwechsel zur Charakterisierung Medeas eingesetzt, inwiefern interagiert der Chor mit den Medea-Darstellern, welche Funktion erfüllt er dabei und wie wird moderne Technik mit traditioneller Schauspielkunst kombiniert? Bei beiden Aufführungen gibt es je zwei Kostümwechsel auf der Bühne, wobei der zweite Wechsel eine wesentlich signifikantere Rolle spielt und von beiden Medea-Darstellern zur Entlarvung des gesamten Racheplans einschließlich des Kindermordes vorgeführt wird. Dies lässt sich bei dem japanischen Medea-Darsteller Hira beobachten, der in dieser Szene zunächst noch die zweite Kostümschicht trägt. Das weiße Kostüm, das eine Mischung von künstlichen Busen, Puffärmeln des Napoleon-Empirekleids und einem Jugendstil-Rock darstellt, spielt auf eine edle Dame und unschuldige Frau an. Nachdem ihm der König von Athen Aigeus Asyl verspricht, vertraut der Medea-Darsteller dem Chor und der Amme den gesamten Racheplan einschließlich des Kindermordes an. Er geht zum Chor, der an der Rampe steht. Als Hira vom Kindermord spricht, 359

zit. nach Shi, Qiong-yu, Juni 1993, S. 106

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

reagiert der Chor mit einem entsetzten Ausruf und positioniert sich in einer schnellen Bewegung hinter ihm in einer Reihe. Danach bildet er wiederum einen Halbkreis, der ihm gegenüber steht. Währenddessen nimmt der auf der Bühnenmitte stehende Hira seinen widderhornförmigen Kopfschmuck ab und wirft ihn auf die Treppe, die sich am hinteren Teil der Bühne befindet. Als er seinen Kindermord begründet, stellt sich der Chor wiederum auf die oberste Treppenstufe in einer Reihe auf, als ob er ihm gegenüber seine Vorbehalte und Distanzierung ausdrücken wollte. Daraufhin reißt er mit Hilfe der Amme in einer Bewegung sein weißes Kostüm von der Vorderseite nach unten ab, so dass allmählich seine rote, einteilige Unterkleidung zum Vorschein kommt. Diese verhüllt hauteng seinen Hinterkopf und Oberkörper und besteht aus einem breiten Rock sowie einer langen Schleppe, so dass sie wie eine zweite Haut erscheint. Überdies fällt er gleich bei der Entkleidung auf den Boden, als ob er darüber gestolpert wäre. Indem er sich auf dem Boden den Rest des weißen Kostüms abstreift, erscheint der Vorgang wie die Häutung einer Schlange. Dadurch, dass er im Folgenden vom Kindermord spricht, ist es unmissverständlich, dass die rote Farbe dieses Kostüms nicht nur Hass, sondern auch das kommende Blutvergießen symbolisiert. Bei Loulan Nü wird der Kostümwechsel in derselben Szene wie bei Ninagawa eingesetzt, wobei die Peking-Oper-Schauspielerin Wei Hai-min auf der zweiten Treppenstufe ihr Kostüm aus einer Mischung von englischer und tibetischer Mode wechselt, das zunächst ebenfalls weiß ist und ihre Unschuld impliziert. Während sie dem Chor ihren gesamten Racheplan anvertraut, steigt der Chor langsam von der ersten Reihe des Zuschauerraums auf die Rampe und nähert sich ihr mit in der Luft herum geschwungenen Händen. Dabei reißt sie sich stückweise ihr zweites, weißes Kostüm vom Leib und wirft die Fetzen abwechselnd nach rechts und links. Letztendlich bleibt nur noch ihre silbrig glänzende einteilige Unterkleidung übrig, welche einen mandschurischen Seiten-Ausschnitt und Blumenknöpfe aufweist. Als sie anschließend weinend und wimmernd über ihren Entschluss des Kindermordes spricht, zieht sie vom Rand des weißen, lotusblütenförmigen Kopfschmucks mit beiden Händen rote Seidenbänder heraus, so dass jeweils zwei Bänder von beiden Seiten des Kopfschmucks herunterhängen. Indem sie laut weinend und schreiend über ihre seelischen Schmerzen klagt, legt sie den Kopfschmuck ab und hebt ihn über den Kopf. Gleichzeitig hebt sie der um sie in Form eines Hügels versammelte Chor hoch,360 und schreit mit ihr zusammen in dramatisch-schmerzhaftem Ton. Nachdem der Chor sie auf den Boden abgesetzt hat, legt

360

Siehe Anhang, Abb. 8

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

sie den Kopfschmuck auf der Rampe ab, richtet ihren rechten Zeigefinger direkt auf ihren Kopf und sagt in ruhigem Ton: „Lass das Gehirn aufhören, nachzudenken.“ In diesem Moment tritt Jason zum zweiten Mal von der rechten Seite der Bühne auf und sie geht, den Rücken den Zuschauern zugewandt, zur linken Seite der Bühne, so dass der Chor ihr noch schnell einen neuen Kopfschmuck und einen dunkellilafarbenen Mantel mit einer schwanzförmigen langen Schleppe über ihre Unterkleidung anziehen kann. Da die Schleppe dem Schwanz eines Skorpions nachempfunden ist, scheint sie sich zu einer sog. Shexie Nü (Schlangen- bzw. Skorpionfrau) verwandelt zu haben, welches im Chinesischen eine Metapher für hinterhältige und grausame Frauen darstellt.361 Anhand dessen lässt sich erkennen, dass der Kostümwechsel in beiden Aufführungen an derselben Stelle als dramaturgische Entwicklung zum Zweck der Metamorphose Medeas eingesetzt wird. Obwohl sich die beiden Unterkleidungen durch Schnitt und Farbe unterscheiden, besitzen beide jedoch die Gemeinsamkeit, dass sie aus einem einteiligen, engen Oberteil sowie einem Rock bestehen. Allerdings läuft der Kostümwechsel bei Wei Hai-min in einer anderen Reihenfolge ab als bei Mikijiro Hira. Durch den Ablauf von der obersten zur untersten Schicht erscheint die Entkleidung bei Mikijiro Hira wie eine Befreiung von der alten Identität und er verwandelt sich gleichzeitig durch die Enthüllung der roten Unterkleidung zu einem neuen Charakter, welcher sich mit einer hinterlistigen und gefährlichen Schlange assoziieren lässt. Im Unterschied dazu repräsentiert Wei Hai-min zwar auch eine Befreiung durch das wechselseitige Abreißen des Kostüms, aber ihre prachtvolle, silbrig glänzende Unterkleidung lässt sich nicht mit Rache oder Blut assoziieren. Erst nachdem sie später den lilafarbenen Mantel mit der schwanzförmigen Schleppe darüber anzieht, ist ihre Umwandlung in einen „Skorpion“ vollendet.362 Überdies wird das Absetzen ihres weißen Kopfschmucks als letzter Akt der Entkleidung vorgeführt, indem er vorsichtig aufrecht auf den Boden hingestellt wird, so als ob die Loulan-Prinzessin damit all ihre Gedanken ablegen würde, was auch ihrem Text in dieser Szene entspricht. Diese Hervorhebung des Kopfschmucks verweist insofern nicht auf eine Verwandlung ihres Charakters, sondern vielmehr darauf, dass das Vollziehen des Kindermordes nur mit der

361 362

Po-yun 1993, S. 54 Ebd. Anmerkung: Da weder das silberne Glänzen noch die Farbe Lila eine symbolische Bedeutung in der Handlung besitzt, tragen sie nicht zum Verständnis der durch den Kostümwechsel symbolisierten Verwandlung bei.

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Ausschaltung des Verstandes möglich ist. Obwohl sich der Vorgang des Kostümwechsels bei der Peking-Oper-Schauspielerin von dem beim Kabuki-Schauspieler unterscheidet und sich daraus auch eine andere dramaturgische Bedeutung ergibt, zeigt sich durch die Darstellung bzw. den Zweck des Kostümwechsels sowie durch die Transformation zu einem Tier bei beiden Medea-Figuren eine Analogie. Eine weitere Analogie dieser Szene zu Ninagawas Version besteht in der Verwendung der Satinbänder und der Choreographie des Chors, welche aus der Szene von Medeas erster Äußerung über ihre Racheabsicht entnommen sind. Nachdem König Kreon Medea einen Tag Aufschub gewährt hat, ergreift der Medea-Darsteller Mikijiro Hira ein Schwert und steckt es mitten auf der Rampe in den Boden, um seinem Entschluss zur Rache Nachdruck zu verleihen. Nachdem er dem Chor seine sorgfältigen Überlegungen über den Racheplan erzählt, bilden die sechzehn Chormitglieder um ihn herum eine Kreuzformation, so dass er sowohl im Zentrum dieses Kreuzes als auch der Bühne steht. Er verdeckt dabei mit dem wie ein Kamm aussehenden Ärmel seinen Mund, dreht sich um und zieht langsam ein rotes Satinband aus dem Mund, während ihm alle Chormitglieder Mitleid und Verständnis für die Racheabsicht aussprechen und ebenfalls ein rotes Satinband aus ihrem Mund ziehen, als ob Medeas Rache auch ihre eigene wäre.363 In Verbindung mit der gleichzeitig erklingenden Sarabande von Georg Friedrich Händel (1685-1759) und seiner ununterbrochenen, langsamen Drehung scheint das aus dem Mund herausgezogene Satinband endlos lang zu sein. Als er schließlich das ganze Band um seine Hand gewickelt hat, hebt er seine beiden Arme hoch und dreht sich schwungvoll um. Darauf reagieren alle Chormitglieder, indem sie parallel zu seiner Körperdrehung entgegen dem Uhrzeigersinn um ihn herum laufen, ohne dabei die Kreuzformation zu verlieren. Als die dramatische Musik zu Ende ist, stellt sich der Chor in vier Reihen auf, während der Medea-Darsteller weiterhin im Zentrum der Bühne steht. Die so entstandene, geometrische und kollektive Formation des Chors lässt sich mit einer Kriegsfront assoziieren und der hinter dem aufgestellten Schwert positionierte Medea-Darsteller erscheint somit als Anführer eines Feldzuges. Indem Jason gleich darauf von der rechten Seite der Hinterbühne auftritt, schreitet der Chor sofort hinter den Medea-Darsteller, hockt in einer halbkreis-

363

In dieser Szene verdeutlicht sich, dass die an ein Chamäleon erinnernden Merkmale an den Ärmeln auch in der Darstellung zu finden sind, da das Chamäleon sowohl für seine äußerliche Wandlungsfähigkeit bekannt ist als auch für seine sehr lange Zunge, so dass das aus dem Mund gezogene lange rote Band wie eine lange Zunge erscheint.

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

förmigen Formation auf dem Boden und beobachtet die Konfrontation zwischen den Beiden, als ob er in dieser Streitszene Medea Rückendeckung geben würde. Während Jason seine Wiederheirat verteidigt und seine Wohltaten gegenüber Medea betont, drehen die in einer Reihe hinter ihm stehenden Chormitglieder ihren Umhang um, so dass die rote Unterseite zum Vorschein kommt. Damit unterstreicht er wortlos den Gemütszustand Medeas in diesem Moment – Hass und Rachgier. Anhand der zwei beschriebenen Szenen von Medeas Äußerung des Racheplans lässt sich erkennen, dass der Chor sowohl auf verbaler als auch auf choreographischer Ebene mit dem MedeaDarsteller in Interaktion steht. Er dehnt dabei nicht nur die Emotionen Medeas aus, sondern verweist auch immer wieder auf seine klare Stellungnahme, dass er als Einheit einer Frauengruppe ganz auf Medeas Seite steht und sich erst bei ihrer Absicht des Kindermordes von ihr distanziert. Durch das Wenden des doppelfarbigen Umhangs und die ständige Änderung seiner Formation erschafft er eine visuelle Atmosphäre und verleiht hierdurch der gesamten Aufführung eine dramatische Dynamik. So lässt sich auch die halbkreisförmige Formation bei Loulan Nü wieder finden, als der Kindermord entlarvt wird und der Chor gegenüber Medea die Position von Zuschauern einnimmt, mit Lautäußerungen und choreographischen Elementen ständig auf die Emotionen Medeas reagiert usw. Dadurch, dass er hier aber keine feste Identität besitzt, sich manchmal in zwei Gruppen aufspaltet, auch die Emotionen Jasons unterstützt sowie weniger verbale Äußerungen und mehr choreographische Ausdrucksmittel verwendet, unterscheidet er sich von Ninagawas Chor. Dennoch lässt sich erkennen, dass der Chor bei Loulan Nü ebenfalls zur Herstellung der visuellen Atmosphäre und Ausdehnung der Emotionen Medeas eingesetzt wird. Es lässt sich daher folgern, dass sich die Regisseurin Lin Xiu-wei bei der Darstellung des Chors einerseits an Ninagawas Konzept anlehnt, andererseits aber auch versucht, sich dabei von ihm zu distanzieren. Ferner zeigt sich in dieser Szene bei der Äußerung vom Vorhaben des Kindermordes noch eine weitere auffällige Ähnlichkeit mit Ninagawa bei der Anwendung des roten Satinbandes auf. Das rote Satinband verweist in diesem Zusammenhang bei Ninagawa zweifelsohne auf die blutige Rache Medeas. 364 Gemäß den KabukiKonventionen stecken dabei die Figuren, einschließlich der Onnagata-Rolle, üblicherweise eine Ecke des Ärmels, ein Handtuch oder ein

364

Smethurst, Mae: „The Japanese Presence in Ninagawa’s Medea“, in: Hall, Edith/Macintosh, Fiona/Taplin, Oliver (Hg.): Medea in Performance 15002000, Oxford 2001, S. 198

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

Band in den Mund, um die unterdrückten Emotionen darzustellen. 365 Durch die Umkehrung dieser Konvention werden demnach die Gefühle Medeas in Form von Wut und Rachsucht nicht mehr unterdrückt, sondern herausgelassen.366 Im Unterschied dazu lassen sich solche roten Satinbänder bzw. deren Anwendung auf den schauspielerischen Ausdruck nicht auf die Peking-Oper beziehen, so dass hierbei keine symbolische Bedeutung existiert. Lediglich bei traditionellen chinesischen Hochzeitszeremonien wird ein großes, breites und rotes Seidenband verwendet, das in der Mitte einen blumenförmigen Knoten enthält. Dieses wird an beiden Enden jeweils von der Braut und dem Bräutigam in der Hand gehalten, so dass es die neue eheliche Verbindung symbolisiert. Nicht zuletzt symbolisiert die rote Farbe in der chinesischen Kultur Festlichkeit, Glück und Ehre. Da die vier Satinbänder von Wei Hai-min nur ungefähr mundbreit sind, entsprechen sie jedoch nicht den chinesischen Seidenbändern bei einer Hochzeit, sondern vielmehr denen von Ninagawas Aufführung. Dabei werden sie allerdings nicht wie bei Mikijiro Hira aus dem Mund gezogen, sondern aus dem weißen Kopfschmuck der Loulan-Prinzessin und bleiben letztendlich auch am Rand des Kopfschmucks hängen. 367 Somit lässt sich die Verwendung der Satinbänder bei Wei Hai-min weder mit der japanischen Kabuki-Konvention noch mit der chinesischen Symbolik in Form einer ehelichen Verbindung verknüpfen. Dadurch können sie letztlich nur als zusätzliche Dekoration des Kopfschmucks gelten und ihr Einsatz erweist sich somit als sinnentleert. Diese Analogie verweist darauf, dass die Anwendung der Satinbänder Ninagawas bei der Regisseurin Lin Xiu-wei einen so starken visuellen Eindruck hinterlassen hat, dass sie ebenfalls ein solches visuelles Szenarium herzustellen beabsichtigte, um eine vergleichbare Atmosphäre herzustellen. Ein weiteres Merkmal der Analogien zwischen der japanischen und der taiwanesischen Produktion besteht in der Anwendung der filmischen Mittel bzw. modernen Bühnentechnik bezüglich des Einsatzes von Maschinen, Licht- und Klangeffekten. Das beste Beispiel hierfür ist die Schlussszene, in der bei Euripides’ Medea nach dem Kindermord mit dem von ihrem Ahnengott Helios gesendeten Drachenwagen entflieht. Nachdem ein Donnerlaut ertönt, taucht der 365

366 367

Ebd. Z.B. steckt bei der Darstellung der hochrangigen Kurtisane Takao der Schauspieler eine Ecke des rechten roten Ärmels in den Mund, wodurch die Unterdrückung der Tränen und der Trauer sichtbar gemacht wird. Die Aufzeichnung Takao wurde von Bando Tamasaburo im Januar 1994 aufgeführt, siehe: „Kabuki Dance III Bando Tamasaburo“ DVD, Tokio 2003 Smethurst, in: Hall/Macintosch/Taplin (Hg.) 2001, S. 198 Siehe Anhang, Abb. 8

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

japanische Medea-Darsteller auf einem Drachenwagen auf, der über der Bühne zu schweben scheint. In Begleitung von Händels Sarabande, die sich bis zum Ende dieser Szene ununterbrochen (anfangs sehr laut, aber nach dem Abgang Medeas sehr leise) wiederholt, präsentiert er mit triumphierendem Lachen dem unter ihm stehenden Jason die zwei abgeschlagenen Kinderköpfe. Während des Dialoges zwischen Medea und Jason schwingt in dieser Szene der auf der Bühne verteilte Chor in Zeitlupenbewegungen beide Arme in der Luft herum, um hierdurch seine Trauer auszudrücken. Nachdem Jason vergeblich versucht, auf die Stadtmauer zu klettern und die im Himmel schwebende Medea zu erreichen, geht er zur Bühnenmitte und fällt dort voller Trauer zu Boden, als ob er ohnmächtig geworden wäre. Währenddessen spielt der Chor gleichzeitig zu Händels Musik die japanische Laute Shamisen, geht währenddessen in zwei diagonal gekreuzten Reihen von der Bühne ab und lässt Jason allein und einsam auf der Bühne zurück. Im Gegensatz zum japanischen Medea-Darsteller, der mit dem Drachenwagen in den Himmel fliegt, soll die Loulan-Prinzessin in ihren Sarg zurückkehren und mit Hilfe ihrer Zauberkraft unter der Erde entfliehen. Somit erscheint die Loulan-Prinzessin in rotem Licht auf einem senkrecht aufgestellten und aufsteigenden Sarg, der sich an der Hinterbühne befindet. Ebenso wie der japanische Medea-Darsteller hebt sie mit ihren Händen die zwei abgeschlagenen Kinderköpfe hoch und präsentiert sie Jason, der unter ihr auf der Bühne steht. Statt westlicher Musik wird bei Loulan Nü religiöse tibetische Musik mit Trompeten, Trommeln und Becken eingesetzt, wobei das regelmäßige Trommeln in seiner dramatischen Wirkung den kontinuierlichen Paukenschlägen bei Händels Sarabande stark ähnelt und sich dabei auch die massive Wiederholung der Musik nicht sehr von Ninagawa unterscheidet. Ferner wird das triumphierende Lachen des japanischen Medea-Darstellers bei der LoulanPrinzessin erweitert, indem die mit einem Halleffekt verstärkten Peking-Oper-Laute 368 zusätzlich zur tibetischen Musik eingeblendet werden. Dieser Klangeffekt wird insgesamt dreimal in dieser Szene wiederholt: als die Loulan-Prinzessin nach dem Kindermord auf dem Sarg erscheint, als sie die zwei abgeschlagenen Kinderköpfe in den Händen hält und zum letzten Mal, als sie am Schluss durch die Verdunkelung der Hinterbühne verschwindet. Während Ninagawas Chor überall auf der Bühne zerstreut ist und in Zeitlupenbewegungen die beiden Hände herum schwingt, sind bei Loulan Nü ebenfalls alle Chormitglieder auf der ganzen Bühne verteilt, wobei sie regungslos verschiedene Körperhaltungen einnehmen, so als ob sie wie bei einem Standbild im Film „eingefro-

368

Vgl. Kap. II.2.3.2

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Aufführungsanalyse zweier Adaptionen von Euripides’ Medea

ren“ wären. In Abwandlung zu Ninagawas Version, versucht Wu Xing-guo als Jason sich Medea mit einem Schwert zu nähern. Schließlich rückt der eine Menschenmauer bildende Chor nach hinten auf die Treppe und dem Sarg entgegen und lässt dabei zwischen sich und Jason die zwei Kulissenwände sich jeweils von rechts und links zusammenschließen, so dass Jason letztendlich allein auf der Bühne vergeblich gegen die Wand schlägt. Auch wenn bei Loulan Nü die spirituelle und mysteriöse Atmosphäre noch deutlicher im Mittelpunkt steht, wird jedoch in vielerlei Hinsicht mit denselben dramaturgischen Komponenten wie dem triumphierenden Lachen, den abgeschlagenen Kinderköpfen und dem Einsatz von Maschinen gearbeitet, um den Gegensatz zwischen der siegreichen Medea und dem vereinsamten Jason darzustellen. Auf ähnliche Weise wird nicht nur filmische Ästhetik in Form des Zeitlupen- bzw. Standbild-Effekten eingesetzt, sondern auch moderne Bühnentechnik sowie Licht- und Klangeffekte, um hierdurch eine audiovisuell hervorgerufene Atmosphäre und spektakuläre Eindrücke herzustellen. Hierbei steht besonders die visuelle Ästhetik im Vordergrund, während die traditionelle Schauspielkunst so stark zurückgedrängt wird, dass sie praktisch irrelevant geworden ist. Anhand der bisherigen Analyse lässt sich zusammenfassen, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Aufführungen in folgenden Merkmalen bestehen: patchworkartige Kostüme, Darstellungsmittel aus östlicher Schauspielkunst und Stanislawski-Methode, Chor als audiovisueller und dramatischer Effekt, hybride Musik aus östlichen und westlichen Komponenten und Einsatz von moderner Technik im filmischen Stil. Auf Grund dieser zahlreichen und z.T. sehr speziellen Analogien ist unbestreitbar, dass die Regisseurin Lin Xiu-wei sich vielmehr an Ninagawas Version als an Euripides’ Medea anlehnt. Aus diesem Grund kann die Aufführung Loulan Nü vielmehr als eine „taiwanesische“ Rezeption und Reproduktion von Ninagawas Medea-Aufführung aufgefasst werden als eine Adaption von Euripides’ Medea.

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III Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen als kulturpolitische Strategie

III.1 TRANSFORMATION GRIECHISCHER TRAGÖDIEN ZUR INTERNATIONALEN

ANERKENNUNG

Weiterhin ist zu untersuchen, welche Konzepte die beiden Regisseure Lin Xiu-wei und Luo Jin-lin verwenden, welchem Zweck diese dienen sollen und inwiefern diese von westlicher Seite beeinflusst wurden? Außerdem soll auch auf die Rezeption der Zuschauer bzw. auf die divergierenden Reaktionen im In- und Ausland eingegangen werden.

III.1.1 Hybridität als Exotisierung In der dargelegten Analyse der taiwanesischen Aufführung Loulan Nü wurde gezeigt, dass die Peking-Oper-Kunst innerhalb dieser kaleidoskopartigen Aufführung einen weitgehend irrelevanten Faktor darstellt, weshalb die ursprünglich von Wu Xing-guo bei der Gründung der Contemporary Legend Theater Company angegebene Zielsetzung in Form einer Wiederbelebung und weltweiten Verbreitung der Peking-Oper hierbei nicht in die Tat umgesetzt werden konnte. Vielmehr wird dabei ein neuer Akzent der Regisseurin deutlich, indem sie davon spricht, dass das Endziel der Contemporary Legend Theater Company darin bestehe, durch die Absorbierung der verschiedenen, inkompatiblen Performance-Systeme eine neue Darstellungstechnik zu entwickeln, um die Stilisierung der Peking-Oper zu ersetzen, und dadurch einen „einzigartigen Mischling zu gebären“.1 Daher lässt sich fragen, welchem Zweck ein solcher „einzigartiger Mischling“ dienen soll, weshalb dabei aber dennoch der Anschein traditioneller Schauspielkunst gewahrt bleiben muss und weshalb man sich explizit auf Euripides’ Medea bezieht bzw. beziehen muss, wenn diese beiden wesentlichen Faktoren in der Aufführung praktisch bedeutungslos sind? Zuvor muss jedoch auf Grund der engen Verbindung mit Yukio Ninagawas Medea-Produktion zunächst dessen Konzept erläutert werden, um all diese Fragen zu klären.

1

Jiang 1993, S. 66

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

III.1.1.1 NINAGAWAS KONZEPT Der japanische Regisseur Yukio Ninagawa (geb. 1935) stammt ursprünglich aus der experimentellen Theaterszene Shogekijo undo (Little Theatre Movement), wechselte aber im Jahre 1974 zur kommerziellen Theaterszene, nachdem sein jetziger Produzent Tadao Nakane der Unterhaltungsfirma Tôhô ihm eine Zusammenarbeit mit dem „großen Theater“ angeboten hatte, aus der eine Reihe von Adaptionen westlicher Klassiker hervorgehen sollte.2 Mit starker finanzieller Unterstützung Tôhôs inszenierte er seit 1974 eine Reihe von klassischen westlichen Werken (1974 Romeo und Julia, 1975 König Lear, 1976 Ödipus Rex, 1978 Hamlet und Medea)3, so dass seitdem seine Aufführungen von griechischen Tragödien neben den Shakespeare-Inszenierungen zu den repräsentativsten Werken seines Stils gehören. Seine Medea-Aufführung wurde 1983 in Athen erstmals mit großem Erfolg aufgeführt und tourte seitdem durch Europa, die USA und Kanada.4 Diese in westlichen Ländern gefeierte Produktion kennzeichnet Ninagawas Aufstieg auf die internationale Bühne, so dass er seitdem u.a. in Großbritannien zu einem der im Ausland beliebtesten japanischen Regisseure zählt und sein Stil als Ninagawas Ästhetik bezeichnet wird.5 Obwohl er in Japan auch für die Inszenierungen zeitgenössischer japanischer Dramen bekannt ist, beschränken sich die ins Ausland eingeladenen Produktionen auf seine Adaptionen westlicher Klassiker, insbesondere auf Dramen Shakespeares sowie griechische Tragödien.6 Nach einer Untersuchung von Ninagawas Shakespeare-Aufführungen charakterisierte der japanische Theaterkritiker und -wissenschaftler Senko Akihiko seinen Stil auf folgende Weise, die auch in Bezug auf die Medea-Aufführung zutreffen könnte. Erstens respektiere er den Originaltext, kürzen ihn so wenig wie möglich und ändere nie die Namen der Figuren. Zweitens sei sein Theater viel-

2 3

4 5

6

Wang, Mo-lin: „Quanchuan de xiandai juchang zhi lu“ („Ninagawas Weg zum modernen Theater“), in: Performing Arts Review, April 1993, S. 70 Lee, Sang-Kyong: Ostasien und Amerika – Begegnungen in Drama und Theater, Würzburg 1998, S. 178 u. Barnes, Peter: „Working with Yukio Ninagawa“, in: New Theatre Quarterly, Nr. 32, Nov. 1992, S. 389 N.N.: Press Release: „Yukio Ninagawa’s ‚Oedipus Rex‘ at the Herod Atticus Odeon“, 28.06.2004, in: www.cultural-olympiad.gr [Stand: 23.10.2007] Hasebe, Hiroshi: „Profile: Yukio, Ninagawa“, in: Performing Arts Network Japan, 18.08.2005. Siehe: http://www.performingarts.jp/E/art_interview/ 0508/1.html [Stand: 04.01.2007] Delgado, Maria M./Heritage, Paul: „Yukio Ninagawa”, in: Dies. (Hg.): In Contact with The Gods: Directors Talk Theatre, New York 1996, S. 193

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen

mehr an ein Massenpublikum als an die intellektuelle Elite gerichtet und solle leicht verständlich sein, denn er strebe nach eigener Aussage ein Theater an, „das selbst seine alte Mutter verstehen könne“. Dabei solle der Einsatz bekannter Stars dazu beitragen, ein breites Publikum zu erreichen. Drittens verorte er seine Produktionen oft in traditionelle japanische Kulissen und verwende traditionelle japanische bzw. asiatische Kostüme, um einen „japanisierten Shakespeare“ hervorzubringen. Gleichzeitig schaffe er durch die Verwendung von viel Hintergrundmusik und des Kabuki-Stils „pulsierende und bunte Spektakel“.7 Entsprechend dieses Konzepts für Shakespeare-Inszenierungen wird Euripides’ Text ebenso fast ohne Kürzungen und Änderungen im Original aufgeführt.8 Angesichts der „werktreuen“ Herangehensweise in Bezug auf den Originaltext stellt sich unmittelbar die Frage, wie ohne große Umtextungen auf die Diskrepanz zwischen der japanischen und der westlichen Kultur eingegangen werden kann und wie seine Aufführungen für alle Zuschauer aus der ganzen Welt zugänglich sein können. Diesbezüglich kommentierte der amerikanische Kritiker Mel Gussow die Medea-Aufführung von 1986: „The play is performed in Japanese, without translation; though one misses the Euripidean poetry (in one of the various English translations), there is no difficulty in following the emotions of the eternal story.“9 Dass die Aufführung nach dieser Aussage trotz der fehlenden Übersetzung für das amerikanische Publikum verständlich ist, spricht dafür, dass der Textinhalt eigentlich keine relevante Rolle für das intellektuelle Verständnis spielt. Aber wodurch wird dann der Zugang ermöglicht bzw. werden die Emotionen der Zuschauer ausgelöst? In diesem Zusammenhang weist die taiwanesische Kritikerin Peng Yia-lin darauf hin, dass die einzigartige Mischung von östlichen und westlichen Elementen sowie die beeindruckende visuelle Ästhetik Ninagawas die Zuschauer so sehr mitreißt, dass sie problemlos in die Atmosphäre eintauchen können, auch wenn die Handlung für sie vormals als schwer nachvollziehbar galt.10 Dass die Problematik in Bezug auf den Originaltext durch seine visuelle Ästhetik „überwunden“ werden kann, stimmt dabei mit der Aussage der Peking-Oper-Schauspielerin Wei Hai-min überein, die die Rolle

7

Akihiko, Senda: „Shakespeare Performance“, japanische Originalversion in: Shakespeare News, 44:1, Sept. 2004, sowie in englischer Übersetzung in: http://momi.jwu.ac.jp/~shirazu5/senda.html [Stand: 28.08.2007] 8 Lu, Jian-zhong 1993, S. 104ff 9 Gussow, Mel: „All-Male, Japanese ‚Medea‘“, in: New York Times, 5. Sept. 1986 10 Peng 1993, S. 71

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der Loulan-Prinzessin erst nach dem Ansehen der Videoaufnahme akzeptierte. 11 Demzufolge wird die Zugänglichkeit hauptsächlich durch die Bühneneffekte ermöglicht und die Frage, inwiefern die kulturelle Diskrepanz innerhalb des Textes verarbeitet und überbrückt wird, bleibt insofern irrelevant und unbeachtet. Diesbezüglich kritisiert der taiwanesische Theaterwissenschaftler Huang Jian-ye Ninagawas Herangehensweise mit folgenden Worten: „Ninagawas Medea-Aufführung erschüttert die taiwanesische Theaterszene und die Zuschauer. Aber für mich ist es eine erfolgreiche Performance, deren äußere Form über der inneren Qualität steht. Denn sie bringt keine wirkliche tiefgründige Rührung hervor. […] Die Interpretation Ninagawas verwendet die Kabuki-Körpersprache, stilisierte Kostüme, Make-up und den aus beinahe hysterischem Geschrei hergestellten Gemütszustand. All dies verwandelt Medeas Willenskraft der Rache zu trivialer, oberflächlicher Eifersucht und Hass. Sie bringt aus dem Originaltext prachtvolle, äußerliche Dynamik hervor, aber sie verliert auch die innere Kraft und tiefgründige Rührung. […] Ich bin nicht der Meinung, dass sich eine Interpretation gänzlich treu an [den Geist des] Originals halten soll. Aber wenn ein zeitgenössischer Regisseur nur auf einer oberflächlichen Ebene nach etwas Neuem sucht und sich vom Original abkehrt, müssen wir fragen, ob die von ihm geschaffene neue Bedeutung ausreichend ist, um den Teil, auf den er verzichtet hat, zu kompensieren. Sonst hat er es eigentlich nicht nötig, so ein bedeutendes klassisches Werk zu nehmen.“12

Nach Huangs Ansicht wurde Euripides’ Medea-Figur von einer heroischen Figur mit einer außergewöhnlichen Willensstärke in eine „hysterische“ Frau verwandelt, die sich aus Eifersucht und Hass willkürlich rächt. Auch wenn man darüber diskutieren kann, worin die Originalität des Euripides besteht, geht aus seiner Kritik hervor, dass gerade die oberflächliche, „werktreue“ Herangehensweise aufzeigt, dass es weniger darum geht, durch die Auseinandersetzung mit dem Inhalt eine neue Bedeutung bzw. Aussage hervorzubringen. Nach dieser Auffassung würde aber keine Notwendigkeit bestehen, die antiken Klassiker zu adaptieren und stattdessen steht vielmehr die Suche nach einer „neuen“ Form im Vordergrund. In der Tat strebe Ninagawa danach, die Barrieren von verschiedenen Formen zu brechen, indem er „Rituale, Naturalismus, Kabuki, Noh, Hollywood Musicals und westliche Filme“ miteinander kombiniert. Dieses Hybriditätskonzept sei aber nichts „Neues“, da es im Westen längst angewandt wurde; dennoch müsse man zugeben, dass Ninagawas Stil eine gewisse Einzigartigkeit aufweise, so

11 Siehe Kap. II.2.1 12 Huang, Jian-ye 1993, S. 100

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der britische Filmregisseur und Dramatiker Peter Barnes. 13 Demnach wird seine spezifische Ästhetik in westlichen Publikationen auf folgende Weise charakterisiert: „Brash conceptual frameworks, an expansive stage bathed in colour and light, operatic performances of inspiring precision, imagistic splendour, rich Oriental imagery, a superb orchestration of expansive casts, and a delicate underscoring of the action with key classical pieces, characterised Ninagawa’s productions with Nakane (Tadao Nakane, the successful producer of the Toho Group of Ninagawa’s Company). All proved captivating theatrical experiences as well as sophisticated commentaries on the contradictory cross-currents co-existing in contemporary Japan.“14

Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass nicht die Interpretation der westlichen Klassiker, sondern vielmehr die durch kostenaufwändige und pompöse Bühneneffekte hergestellten orientalischen Spektakel im Wesentlichen Ninagawas Ästhetik ausmachen. Indem der amerikanische Journalist Mel Gussow ausdrücklich darauf hinweist, dass die Tôhô Company 300.000 US-Dollar in die Medea-Produktion investiert habe, wird ersichtlich, dass die hohen Kosten ein wesentliches Element des spektakulären Ereignisses darstellen.15 Während sich die Integration der japanischen Theatertradition auf visuelle Elemente wie Kostüme und Bühnenausstattung beschränkt, beruht die gesamte Darstellungsform auf dem westlichen Realismus. Auch wenn immer Star-Schauspieler aus den traditionellen Theaterdisziplinen Noh oder Kabuki mitwirken, weichen sie dennoch erheblich von der traditionellen Schauspielkunst ab und nähern sich vielmehr der Stanislawski-Methode an,16 wie Mitsuya Mori in Bezug auf die selbe Herangehensweise bezüglich der traditionellen Schauspielkunst bei Suzuki Tadashi und Yukio Ninagawa beschreibt: „Suzuki or Ninagawa’s Japanese-style productions of Greek tragedy or Shakespeare are stunning. But here, too, if you look closely at the acting style, you can see a clear shingeki [japanischer Begriff für das realistische Theater] tradition, that is, a combination of superficial imitation (we say, ,monkey imitation‘) of Western realism and kabuki style. It becomes particularly evident when they speak. The poorly disciplined speaking and the severely disciplined dance-like

13 14 15 16

Barnes 1992, S. 389 Delgado/Heritage 1996, S. 71 Gussow 1986, a.a.O. In einem Interview äußerte Yukio Ninagawa: „Meine Werke bestehen immer aus drei Elementen: Noh-, Kabuki- und dem westlichen Theater (Stanislawski-Methode)“, zit. nach Peng 1993, S. 71

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Westlicher Geist im östlichen Körper? movements are peculiarly incongruous. No wonder that kabuki actors look much better than shingeki actors, even in modern productions. In fact, a kabuki onnagata, Bandô Tamasaburô V, is the most daring and, indeed, the most successful actor in this field of intraculturalism.“17

Demzufolge beschränkt sich der Rückgriff auf die traditionelle Schauspielkunst ausschließlich auf die Körperlichkeit der Schauspieler. Die Formulierung „look much better“ verweist somit darauf, dass das Zurückgreifen auf traditionelle Schauspieler in erster Linie der visuellen Ästhetik dient. Dies lässt sich z.B. in der MedeaAufführung beobachten, in der die traditionelle Ästhetik des Kabuki-Theaters ebenso wie die Kimono-Obis zerstückelt und mit anderen kulturellen Elementen kombiniert werden, so dass sie letztlich nur fragmentarisch zu finden sind. Somit dient die japanische Theatertradition in Form von Shamisen, Obis, Rollenbesetzung mit Männern und Onnagata-Schauspielern hierbei als Fassade, um den Anschein eines japanischen Stils zu erwecken. Diesbezüglich verweist Senko Akihiko darauf, dass Ninagawas Stil im Inland zunehmend als naive Japonisme kritisiert wird.18 Dennoch soll er gerade deswegen im Ausland großen Anklang gefunden haben und die zwiespältige Rezeption verdeutlicht sich bei folgender Darstellung: „[T]he Japanese director Yukio Ninagawas inventive and visually audacious productions of Western classics, Mishima and Noh dances have delighted European festival audiences throughout the eighties. Shrewdly providing a mergence of Eastern and Western traditions, his captivating kaleidoscopic ventures have survived in the commercial theatrical climate of Tokyo as well as the discerning international festival circuit, despite being denounced by a number of Japanese writers and directors, like Hideki Noda, for supposedly pandering to a foreign penchant for the exotic.“19

Somit wird sein langjähriger Erfolg auf europäischen Festivals in Japan darauf zurückgeführt, dass er eine Reihe westlicher Klassiker in patchworkartiger, multikultureller Ästhetik inszeniert, um den exotischen Vorstellungen der westlichen Zuschauer entgegenzukommen. Anders formuliert, die von japanischer Seite geäußerte Kritik zielt darauf ab, dass Ninagawa mit der Adaption westlicher Klassiker und der Hervorbringung solcher exotischer Szenarien auf

17 Mori, Mitsuya: „Thinking and Feeling: Characteristics of Intercultural Theatre“, in: Scholz-Cionca, Stanca/Leiter, Samuel L. (Hg.): Japanese theatre and the international stage, Leiden/Boston/Köln 2000, S. 361 18 Akihiko 2004, a.a.O 19 Delgado/Heritage 1996, S. 192

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den globalen Markt, d.h. zu internationalen Theaterfestivals gelangen will. Um diese Problematik zu veranschaulichen, d.h. ob Ninagawas Stil eine Anpassung an europäische Vorlieben gegenüber einem „exotischen“ Asien bzw. Japan darstellt, lässt sich anhand der Rezeption seiner Aufführung Tango at the End of Winter beim Edinburgh-Festival 1991 verdeutlichen. Im Gegensatz zu seinem üblichen Konzept, stammte der Text diesmal vom zeitgenössischen japanischen Schriftsteller Kunio Shimizu und wurde von englischen Schauspielern in englischer Sprache aufgeführt. Somit war einerseits die Handlung nicht vertraut, während andererseits die Schauspieler für das englische Publikum nicht fremd oder exotisch wirkten. Nicht zuletzt verliehen die modernen, realistischen Kostüme und Kulissen weder eine pompöse visuelle Ästhetik noch erweckten sie exotische Eindrücke. Aus diesen Gründen waren die Londoner Zuschauer dermaßen enttäuscht, dass der Regisseur seine erste Niederlage im Ausland verbuchen musste, so die taiwanesische Journalistin Peng Yia-lin.20 Es mögen zwar auch noch andere Faktoren für das Scheitern dieser Produktion eine Rolle gespielt haben, jedoch scheint es, dass sich die Erwartungen der westlichen Zuschauer hauptsächlich auf seine exotisierende und extravagante visuelle Ästhetik konzentrierten und die Kombination von japanischer Textvorlage und britischen Schauspielern weniger reizvoll für die westlichen Zuschauer war, als umgekehrt diejenige von westlichen Klassikern und japanischen Schauspielern aus der traditionellen Theaterszene gewesen wäre. Ninagawas Aufführung westlicher Klassiker lässt sich daher letztlich auf ein kalkuliertes Konzept der größten japanischen Unterhaltungsfirma Tôhô Company zurückführen, deren Interesse dabei offenbar ausschließlich der Präsenz auf dem globalen Markt gilt. Hierfür lassen sich bei Ninagawas Produzenten der Tôhô Company, Tadao Nakane, zwei Indizien finden, wodurch ihm in diesem Zusammenhang eine Schlüsselposition zukommt: Zum einen trat Ninagawas Wendepunkt, wie bereits erwähnt, im Jahre 1974 ein, als Tadao Nakane ihm seine Zusammenarbeit anbot und ihn darum gebeten hatte, eine Reihe westlicher Klassiker zu inszenieren. Hieraus geht eindeutig hervor, dass die Adaption des westlichen Kanons ursprünglich bereits vom Produzenten stammt und nicht etwa vom Regisseur selbst. Zweitens unterstützt Tadao Nakane Inszenierungen westlicher Klassiker (einschließlich von ShakespeareStücken und griechischen Tragödien) durch die taiwanesische Theatergruppe Contemporary Legend Theater Company, indem er auch als Vermittler zwischen ihr und internationalen Theaterfesti-

20 Peng 1993, S. 71ff

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vals in Europa fungiert. Deshalb soll seine Beziehung zur Contemporary Legend Theater Company und seine konzeptuelle Analogie zwischen den beiden Medea-Produktionen im nächsten Punkt in Zusammenhang mit der taiwanesischen Rezeption näher erläutert werden, um die eigentliche Zielsetzung des taiwanesischen Ensembles durch die Fusion von griechischen Tragödien mit der PekingOper-Schauspielkunst herauszuarbeiten.

III.1.1.2 KONZEPT UND REZEPTION DER AUFFÜHRUNG LOULAN NÜ Im Vergleich zu Ninagawas Konzept verfolgt die Regisseurin Lin Xiuwei zwar keine „werktreue“ Bearbeitung des Textes, aber es bestehen Ähnlichkeiten hinsichtlich folgender drei Aspekte: Erstens wird eine griechische Tragödie mit einer östlichen (chinesischen) Theatertradition und der Huaju-Form kombiniert. Zweitens stehen dabei Star-Schauspieler aus der traditionellen Theaterszene im Vordergrund, die sich aber einer naturalistischen und realistischen Darstellungsform anpassen, so dass die traditionelle Schauspielkunst auf die Körperlichkeit reduziert wird. Drittens wird durch die Hybridisierung der verschiedenen kulturellen Elemente, insbesondere in Bezug auf das Kostümdesign, ein kostenaufwendiges, pompöses und spektakuläres Szenarium hergestellt, das einen diffusen „chinesischen“ bzw. „orientalischen“ Eindruck vermittelt. Angesichts der offensichtlichen Anlehnung an Ninagawas Konzept löste die Aufführung Loulan Nü in Taiwan große Kontroversen aus. Die Rezeption bezieht sich dabei auf verschiedene Gesichtspunkte wie ästhetische Kriterien, Verwendung der chinesischen Theatertradition bzw. Peking-Oper-Schauspielkunst, Analogien zu Ninagawas Stil sowie Texttreue. So lässt sich feststellen, dass beim Aspekt der „Werktreue“ die Meinungen zwiespältig sind, wobei die Mehrheit der Ansicht war, dass Loulan Nü vom Original abweicht. So übt z.B. Lu Jian-zhong21 in Bezug auf die Bearbeitung des Textes, der Charakterisierung der Medea-Figur und Rolle des Chors die Kritik aus, dass im Gegensatz zu Ninagawas Version, bei der der Inhalt bis auf wenige Änderungen komplett erhalten geblieben sei, bei Loulan Nü soviel gekürzt wurde, dass die Geschichte nur fragmentarisch erhalten geblieben sei. Während einerseits die Erzählung lückenhaft sei, würden andererseits die Zuschauer mit starken Emotionen überhäuft. Dabei werde Medea auf Grund der Ausblendung des mythologischen Hintergrundes zu „einer Frau ohne Vergangenheit“ reduziert und die 21 Lu, Jian-zhong ist Professor am Foreign Language Institute an der taiwanesischen Dong-wu Universität und Übersetzer von Sophokles’ Antigone und Aischylos’ Agamemnon.

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Charakteristika von Euripides’ Medea wie Hinterlistigkeit, Klugheit und Intelligenz seien bei Loulan Nü nur bruchstückhaft zu erkennen. Indem sich die Loulan-Prinzessin auf Grund ihrer gekränkten Gefühle und ihrer Notsituation rächt, lasse sich ihr Kindermord nicht nachvollziehen. Überdies werde bei Loulan Nü die zentrale Thematik völlig ausgeblendet, welche für Lu darin besteht, dass Gerechtigkeit, Ethik und Moral auf Grund der Willkür der Götter verschwunden seien, da Medea trotz ihrer persönlichen Rache nicht bestraft und stattdessen vom Sonnengott in Schutz genommen wird. Das Entscheidende bei der ganzen Inszenierung, die von Lu als „gescheitert“ beurteilt wird, bestehe im Einsatz des Chors. Dadurch, dass der Chor kaum noch über Text verfügt, werde er zum „stummen Schauspieler“ degradiert und zusätzlich bleibe seine Rolle unklar definiert bzw. stehe er sogar auf Jasons Seite. Dadurch unterscheide er sich grundsätzlich von Euripides’ Chor, welcher eindeutig Medea Mitleid entgegenbringe. Lu kommt daher zu seiner Schlussfolgerung, dass Loulan Nü erheblich vom „Geist des Originals“ abweiche.22 Im Gegensatz dazu bewertet Zheng Pei-kai 23 die Aufführung Loulan Nü als „sehenswert“, denn abgesehen von der Nachahmung von Ninagawas Version sei sie „weder chinesisch noch westlich, weder zeitgenössisch noch archaisch und sie befolge weder den Gesangsstil des Xiqu noch strebe sie nach der avantgardistischen Kreativität eines experimentellen Theaters. Jedoch repräsentiere sie ziemlich angemessen den „Geist des Originals“, indem sie präzise den inneren Konflikt der eigenwilligen Medea während des Verlassenwerdens und der Rache ausgedrückt habe.“ Dabei lobt er ausschließlich die Schauspielkunst Wei Hai-mins, da sie trotz des Verzichts auf die Stilisierung der Peking-Oper in der Huaju-Form allein durch die Intonation der Sprache die Emotionen Medeas vermitteln könne.24 Während sich die meisten Kritiker auf das Original berufen und dabei geteilter Meinung sind, stellt sich für Lin Gu-fang25 die Frage nach der „Werktreue“ jedoch nicht:

22 Lu, Jian-zhong 1993, S. 108 23 Zheng Pei-kai ist Professor am Literatur-Forschungsinstitut der taiwanesischen Qing-hua Universität. 24 Zheng, Pei-kai: „,Loulan Nü‘ tuoshan chengxian yuanju jinsheng, Wei Haimin yanchu liren jishang“ („,Loulan Nü‘ repräsentiert angemessen den Geist des Originals und der Auftritt von Wei Hai-min ist bewundernswert“), in: Lianhe bao (Zeitung der Vereinigung), 06.07.1993 25 Kulturkritiker und Leiter des Graduate Institute of Art Studies der taiwanesischen Fo Guang Universität

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Westlicher Geist im östlichen Körper? „,Loulan Nü‘ rief seit der Premiere zwiespältige Reaktionen hervor, denn dies war die wahrscheinlichste Reaktion auf eine neue Form. Vom Standpunkt des Schöpfers aus betrachtet, ist es zwar verständlich, dass es für ihn schwer annehmbar ist, wenn man sich auf die Konventionen oder frühe Wahrnehmungsangewohnheiten stützt und Kritik daran ausübt. Aber aus der künstlerischen Perspektive ist es selbstverständlich, dass die Zuschauer den Anspruch erheben, dass eine Aufführung den kompletten Inhalt umfasst. Insbesondere da die ,Contemporary Legend Theater Company‘ die ,kulturelle Verortung‘ proklamiert, können sich die Initiatoren umso weniger mit dem ,Neuen‘ herausreden und all den Erwartungen und Kritiken ausweichen [...].“26

Es zeigt sich, dass die Kategorisierung als etwas „Neues“ als Vorwand benutzt wird, um sich vor unliebsamer Kritik zu verschonen. Da sich das „Neue“ lediglich über die Verabschiedung von alten Vorgaben und Maßstäben definiert, ist es als ästhetisches Kriterium eine nicht-fassliche und nicht angreifbare Kategorie, die sowohl für Innovation als auch für Beliebigkeit offen ist. Indem das „Neue“ als einziges ästhetisches Kriterium gilt, kann das beliebige Zusammenwerfen von verschiedenen Elementen als „Neuheit“ bezeichnet werden, so dass unter solchen Umständen das „Neue“ nichts mit wirklicher künstlerischer Innovation oder Hervorbringung einer kulturellen Verschmelzung zu tun hat, sondern das Hybriditätskonzept vielmehr als Strategie und Technik der Reproduzierbarkeit verwendet wird, wie bereits im theoretischen Teil des Kapitels I.2.3 dargelegt wurde. Die Problematik der „neuen Form“ der Contemporary Legend Theater Company verdeutlicht sich umso mehr, als Lin Gu-fang seine Kritik an Loulan Nü mit dem Anspruch nach „kultureller Verortung“ ausübt, welchen die Company selbst erhebt: „Dadurch, dass die ,Contemporary Legend Theater Company‘ mehrmals den westlichen Kanon adaptierte und ihn aber nicht in der Originalform [HuajuForm] präsentierte, soll sie [die Company] sich mit der zentralen Aussage des Stückes auseinandersetzen und der Problematik einer neuen Interpretation fest ins Auge sehen, gleichgültig ob sie dafür ein [kulturelles] Bewusstsein entwickeln will oder nicht. Indem sich die ,Contemporary Legend Theater Company‘ unter der Bezeichnung ,Chinesisches Theater‘ vermarktet, muss die Frage darauf gerichtet werden, wie man als Chinese darauf reagiert‚ wenn einem das gleiche Schicksal zustoßen würde? Wenn der Künstler in diesem entscheidenden Punkt keine tiefgründige Selbstreflexion und Verinnerlichung durch die kulturelle Transformation hervorbringen kann, dann kann das Stück auch ruhig im Original repräsentiert werden. Denn es besteht eigentlich keine Notwendigkeit, das Stück [Euripides’ Medea] mit den im Inland allgemein bekannten,

26 Lin, Gu-fang 1993, a.a.O.

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen volkstümlichen Künsten zu schmücken oder den Hintergrund in ein verschwundenes Reich zu versetzen, das frei erfunden werden kann.“27

Obwohl sich die Contemporary Legend Theater Company als „chinesisches Theaterensemble“ bezeichnet und westliche Klassiker wie Shakespeare sowie griechische Tragödien adaptiert, ist nach Lin Gu-fang bisher eine grundlegende Auseinandersetzung mit der kulturellen Diskrepanz ausgeblieben. Im Fall von Loulan Nü werde der Text lediglich mit traditionellen Künsten geschmückt, ohne sie mit der chinesischen Kultur zu verknüpfen, was wie eine Art von „kultureller Transplantation“ erscheine. Da keine kulturelle Aneignung stattfinde, könne eine solche Adaption der westlichen Kultur nicht für die eigene Kultur fruchtbar gemacht werden. Eine ähnliche Meinung vertritt auch Wang An-qi,28 als sie darauf verweist, dass die Verknüpfung mit dem Königreich Loulan, der chinesischen Stadt Dunhuang oder jeglicher chinesischer Kultur vollkommen aus der Luft gegriffen sei und höchstens noch die Körperlichkeit von Wei Hai-min mit der Peking-Oper in Verbindung gebracht werden könne. Da dieser Anteil lediglich auf die Persönlichkeit der Schauspielerin zurückgehe und die traditionelle Theaterkunst de facto in der gesamten Aufführung fehle, kritisierte Wang, dass bei Loulan Nü kein ernsthafter Versuch unternommen wurde, die Peking-Oper-Schauspielkunst zu integrieren, obwohl der Ankündigung zufolge durch die Fusion von Xiqu und modernem Theater ein neues Theatergenre entwickelt werden sollte.29 Indem sich die Contemporary Legend Theater Company weder mit der Differenz zwischen Ost und West auseinandersetzt noch nach kultureller Verschmelzung strebt, ist unklar, worin aus Sicht des Theaterensembles überhaupt die Notwendigkeit besteht, den westlichen Kanon zu adaptieren und die Fusion mit der traditionellen Schauspielkunst voranzutreiben. Im Zusammenhang mit der Problematik von Adaptionen ausländischer Dramen äußerte der verstorbene taiwanesische Theaterwissenschaftler Yiao Yi-wei, der sich langjährig dem Schreiben eigener zeitgenössischer Theaterstücke widmete und auch als Theatermacher in Taiwan hoch angesehen ist, in Bezug auf Loulan Nü sein Verständnis dafür, dass man aus kommerziellen Gründen bekannte westliche Dramen adaptiert, da ihr Prestige in der Tat einen bestimmten Kassenerfolg garantieren könne. Damit übt er zwar keine direkte Kritik aus, aber er legt

27 Lin, Gu-fang 1993, a.a.O. 28 Wang, An-qi ist Professorin am Literatur-Forschungsinstitut der taiwanesischen Qing-hua Universität mit den spezifischen Forschungsgebieten klassisches Xiqu und zeitgenössisches Xiqu. 29 Wang, An-qi 1993, S. 103

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Westlicher Geist im östlichen Körper? damit nahe, dass die Auswahl westlicher Klassiker durch die Contemporary Legend Theater Company – seien es solche von Shakespeare oder griechische Tragödien – vielmehr auf ökonomische Überlegungen zurückgehe als auf inhaltliche Interessen. Dies stimmt nicht zuletzt auch mit der Äußerung Wu Xing-guos überein, der folgendermaßen begründete, weshalb die Fusion von westlichen Klassikern und Peking-Oper eine unentbehrliche Entwicklung dafür sei, die Peking-Oper für die junge Generation des taiwanesischen Publikums attraktiver zu machen: „Wenn die traditionelle Theaterkunst nicht den Weg eines kommerziellen Managements wie das des Broadway-Theaters eingeschlagen hätte, wären ihre Aussichten sicherlich immer schlechter geworden.“ Als Konsequenz hiervon trat er aus dem Lu-kuan (National-Theaterensemble) aus, gründete die Contemporary Legend Theater Company und adaptierte bzw. benutzte die westlichen Klassiker in der Hoffnung, durch sie vor der Kritik aus der traditionellen, konservativen Peking-Oper-Szene verschont bleiben zu können. Nach eigener Aussage beabsichtigte er weder, westliches Theater zu machen noch Shakespeare-Interpret zu werden, sondern er habe immer danach gestrebt, die Ästhetik der chinesischen Schauspielkunst bei der Adaption der westlichen Klassiker zum Ausdruck zu bringen.30 Demnach liegt Wus Entscheidung zugunsten westlicher Klassiker nicht darin begründet, dass ihn Shakespeare-Texte besonders ansprechen. Der westliche Kanon dient somit nicht nur dazu, im Inland einen kommerziellen Erfolg zu garantieren, sondern auch als „Gütesiegel“ zu fungieren, um sich vor Tadel und Kritik zu bewahren, woraus hervor geht, dass er in Taiwan einen unanfechtbaren Status besitzt. Obwohl sich Wus Aussage diesbezüglich ausschließlich auf Shakespeare-Stücke bezieht und Loulan Nü auf einem anderen Konzept basiert als seine Shakespeare-Aufführungen, fungiert Euripides’ Medea nach Catherine Diamond ebenfalls als Qualitätsgarant: „The use of a foreign text not already inscribed in the Chinese literary canon or historical consciousness allowed Lin more freedom to project her own interpretation without having to battle against preconceived Chinese notions, nor did she have to be overly concerned with comparison of representations of Medea

30 Jiang, Hui-xian: „Youzou zai chuantong yu xiandai xiaozuo de shikong: zhuanfan jingju zhong de ‚Aoruisitiya“ („Wandern zwischen Tradition und Moderne: Interview mit den Künstlern der Aufführung ,Orestie‘ in der Peking-Oper-Form“), in: Pots, Nr. 10, 11.03.1995, S. 16

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen in the West. Therefore, Medea was essentially a new text but one that came with two thousand years worth of credit in Western esteem and status.“31

Diamonds Kritik ist insofern berechtigt, als sich Lin Xiu-wei weder mit den Gemeinsamkeiten noch mit den Differenzen zwischen der chinesischen und der antiken griechischen Kultur auseinandersetzt. Dennoch ist anzuzweifeln, dass Euripides’ Medea als „Gütesiegel“ vorrangig in Bezug auf den Inlandserfolg fungieren soll, da Euripides’ Medea im Unterschied zu Shakespeares Werken in Taiwan kaum bekannt ist bzw. erst durch Ninagawas Gastspiel im Jahre 1993 einem größeren Publikum bekannt geworden ist. Daher muss erneut die Frage aufgeworfen werden, welches Ziel die Contemporary Legend Theater Company mit der Adaption der griechischen Tragödie eigentlich erreichen wollte bzw. was sie letztendlich dazu veranlasst hatte, die Tragödie zu adaptieren. Diese Frage lässt sich unter folgenden Aspekten erörtern: Die Entstehungsgeschichte von Loulan Nü, die Zusammenarbeit mit Ninagawas Produzent Tadao Nakane, die Berichte über die Aussicht auf eine Teilnahme an internationalen Theaterfestivals in Europa und die Aussage Lin Xiu-weis über die „kulturelle Verortung“ auf internationaler Bühne. Wie bereits bei der Aufführungsanalyse dargelegt, wurde Lin Xiu-weis und Wu Xing-guos Interesse an einer Adaption von Medea nicht durch Euripides’ Textvorlage, sondern durch den Besuch des 1987er Gastspiels von Ninagawas MedeaAufführung in New York geweckt. Dass die Schauspielerin Wei Haimin erst nach der Sichtung des Videomaterials von Ninagawas Medea die Rolle akzeptierte, ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Text für sie unzugänglich war. Zwar lässt sich hieraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Entscheidung zugunsten von Euripides’ Medea auf den Zugang zur internationalen Bühne abzielen musste, aber dennoch lässt sich diese eigentliche Zielsetzung insbesondere anhand der Zusammenarbeit mit Ninagawas Produzent Takao Nakane nachweisen. Als Loulan Nü auf massive Kritik stieß, dass sie in jeder Hinsicht, d.h. einschließlich Dramaturgie, Kostüme, Bühnenkulissen, Choreographie und Schauspielkunst, eine Reproduktion von Ninagawas Medea-Aufführung darstelle, wird Tadao Nakane vom Komponisten Xu Bo-wen gebeten, in der Presse hierzu Stellung zu nehmen, woraufhin er überraschend erklärt, dass keine Ähnlichkeiten zwischen den beiden Aufführungen bestünden. Dass die Auffüh-

31 Diamond, Catherine: „Cracks in the Arch of Illusion: Contemporary Experiments in Taiwan’s Peking Opera“, in: Theatre Research International, Vol. 20, Nr. 3, 1995, S. 243

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Westlicher Geist im östlichen Körper? rung Loulan Nü im Inland zu Kontroversen führe, sei nicht verwunderlich, denn auch Ninagawas Medea-Aufführung sei in Japan anfangs auf Grund ihrer „Fremdartigkeit“ nicht akzeptiert worden, was sich durch die internationale Anerkennung jedoch geändert habe.32 Ferner unterbreitete er einige Vorschläge zur Verbesserung der Produktion wie z.B. der Hervorhebung eines „chinesischen Stils“ und sprach von seiner Überzeugung, dass die Aufführung Loulan Nü auf Grund ihrer „Exotik“ auf jeden Fall gute Aussichten habe, auf Welttournee gehen zu können.33 Tadao Nakane, der zuvor bereits im Jahre 1990 das Gastspiel der Macbeth-Inszenierung der Contemporary Legend Theater Company in Großbritannien ermöglicht hatte und sie nun, drei Jahre später, nach Japan einlud, versprach auch diesmal, Loulan Nü beim Avignon-Festival weiterzuempfehlen.34 Dass Tadao Nakane in der Nachahmung von Ninagawas Ästhetik keinerlei Probleme sah und im Gegenteil die offensichtlichen Analogien sogar verleugnete, lässt erkennen, dass sein Interesse vor allem darin bestand, die taiwanesische Produktion auf die internationale Theaterbühne zu bringen, was sich auch dadurch nachweisen lässt, dass er zwischen der Contemporary Legend Theater Company und den europäischen Festivals als Vermittler fungierte. Aus seiner Aussage geht nicht zuletzt auch hervor, dass der ChinoiserieStil bzw. die Exotisierung der chinesischen Kultur diesen Zweck begünstigen und dass die Internationalisierung bzw. ausländische Anerkennung die kritischen Meinungen im Inland besänftigen kann. Somit ist festzustellen, dass die beiden Produktionen ein ähnliches, verallgemeinertes Asien-Bild präsentieren. Während Ninagawas Medea wie zum Beispiel bei Catherine Diamond, den Eindruck eines „non-specific oriental setting, redolent of Central Asian barbaric splendour“35 erweckt, stellt Luolan Nü durch die tibetische Musik, Mantras, Masken, volkstümlichen Kostüme, ekstatische Choreographie usw. ebenfalls einen primitiven, barbarischen, spirituellen, geheimnisvollen, mysteriösen bzw. bedrohlichen Orient her.

32 Yi-Xuen: „Zai baobian zhijian: ‚Loulan Nü‘ you hua yao shuo“ („Zwischen Lob und Tadel: ,Loulan Nü‘ hat etwas zu sagen“), in: Wenxin Yifan (Literatur- und Kunst-Salon), 17.07.1993 33 Zao, Yun-yi: „,Loulan Nü‘ ju guoji meixian“ („,Loulan Nü‘ hat gute Aussichten für die internationale Bühne‘), in: Lianhe Bao (Zeitung der Vereinigung), 09.07.1993 34 Cheng, Hui-lin: „,Loulan Nü‘ luhuo yanxin“ („,Loulan Nü‘ erobert die ausländischen Herzen“), in: Dacheng Bao (The Great News), 09.07.1993 35 Diamond, Catherine: „The Floating World of Nouveau Chinoiserie: Asian Orientalist Productions of Greek Tragedy“, In: New Theatre Quarterly, Vol. XV, Nr. 58, May 1999, S. 148

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Während die Aussage Tadao Nakanes auf den „Geschmack“ der internationalen Theaterfestivals Europas verweist, legen die taiwanesischen Zeitungsberichte ebenfalls nahe, dass sich die FestivalManager aus Europa weniger an der Popularität einer Aufführung in ihrem jeweiligen Ursprungsland orientieren als vielmehr gezielt danach Ausschau halten, was ihren eigenen Vorstellungen, Erwartungen und Kriterien entspricht. Denn es wurde bereits vor der Premiere bekundet, dass zahlreiche Festivalmanager aus Europa großes Interesse an Loulan Nü gezeigt hätten und aus diesem Anlass nach Taiwan kommen würden. Nach der Aufführung bzw. im Zusammenhang mit den kontroversen Bewertungen wurde nicht zuletzt auch berichtet, dass Loulan Nü für 1994 bereits eine Einladung zu einem Theaterfestival in Österreich erhalten habe und auch eine Teilnahme an Festivals in Hongkong, Belgien, Großbritannien und Japan bevorstünden. 36 Entgegen dieser Darstellung gab es aber bisher insgesamt nur neun Vorstellungen, wovon 1996 wiederum nur zwei in Singapur, und damit in einem internationalen Rahmen, stattfanden.37 Dass Lin Xiu-weis Fusion von griechischer Tragödie und PekingOper-Schauspielkunst auf den globalen Markt, d.h. die Teilnahme an internationalen Theaterfestivals abzielt, verdeutlicht sich umso mehr, indem sie ihr hybrides Konzept auf folgende Weise begründet: „Ganz einfach gesagt, um für das zeitgenössische taiwanesische Theater die kulturellen Koordinaten auf der Weltkarte der Kunst zu verorten, wird entweder vorausgesetzt, die eigene Kultur und Tradition aufzubewahren oder eine unbestimmte Kultur zu präsentieren. Man kann durch letzteres leichter zum Ziel der Internationalisierung gelangen, denn es gibt auf Grund der inhaltlichen Transformation bei der ersteren mehr Einschränkungen.“38

Daraus geht hervor, dass es sich um zwei verschiedene Strategien handelt, um die Präsentation der eigenen Kultur auf internationaler Theaterbühne zu ermöglichen. Zwar äußert sie sich nicht ausdrücklich über den Stellenwert der griechischen Tragödie, jedoch zielt ihre Aussage innerhalb dieses Kontextes darauf ab, dass die Fusion von westlichen und östlichen Kulturen die Voraussetzung für die beiden Konzepte darstellt. Indem für sie die Vorzüge der Herstellung dieser „unbestimmten Kultur“ in der Befreiung von inhaltlichen Einschränkungen bestehen, stellt sich heraus, dass es 36 Wu, Mei-guan 1993, S. 37 37 Li, Yi-xing: „Guonei shou zhenyi, que shou guowai yishu jie qinlai“ („Umstritten im Inland, bewundert von ausländischen Festival-Veranstaltern”), in: Zhongguo Shibao (China Post), 09.07.1993 38 Lin, Xiu-wei: „Xunzhao xin de wenhua zuobiao“ („Suche nach neuen kulturellen Koordinaten“), in: Zhongguo Shibao (China Post), 26.06.1993

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Westlicher Geist im östlichen Körper? sich bei ihrer Adaption der griechischen Tragödie und dem Rückgriff auf die chinesische Theatertradition um eine einfache und effektive Reproduzierbarkeit auf der Grundlage der HybriditätsStrategie handelt. Diese ermöglicht ihr jegliche künstlerische Freiheit, um eine „neue“ und undefinierbare Kultur zu erfinden, ohne sich mit den kulturellen Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem antiken Griechenland und der chinesischen Kultur auseinandersetzen zu müssen. Obwohl Lin hierbei nicht explizit von „Exotismus“ spricht, zielt ihre Formulierung von der Herstellung einer „unbestimmten Kultur“ jedoch darauf ab. Dass dies ihrer Auffassung nach eine effektive Strategie darstellt, um international erfolgreich zu sein, hängt offenbar mit zwei Eigenschaften des Exotismus zusammen: Zum einen, entziehe sich das Exotisierte nach Götz Pochat jeglichen ästhetischen und ethischen Beurteilungen und der Wahrheitsgehalt spiele dabei ebenfalls keine Rolle, weil die Qualität des Kunstwerks nicht unabdingbar für die Wirkung des Exotischen sei und Sensation in schlechter Form ebenso gut Faszination beim Publikum auslösen könne.39 Zum anderen stammen die für eine Exotisierung besonders geeigneten Objekte nach Tzvetan Todorov aus denjenigen Kulturen, über die das Publikum am wenigsten Kenntnisse besitzt, da sich das Wissen dem Exotismus diametral entgegen setzt.40 Diese beiden Aussagen lassen sich dahingehend interpretieren und zusammenfassen, dass gerade das fehlende Wissen es dem exotischen Objekt ermöglicht, beim Publikum Faszination und Bewunderung auszulösen. Diese Erklärung verdeutlicht, weshalb Lin Xiu-wei gerade das Loulan-Reich, dessen Kultur weder den chinesischen bzw. taiwanesischen Zuschauern noch dem westlichen Publikum bekannt ist, als „neue“ kulturelle Verortung für Euripides’ Medea ausgesucht hatte. Lin Xiu-weis Begründung ihres Konzepts bestätigt somit das Ergebnis der Analyse, dass die kulturelle Differenz in der Aufführung Loulan Nü nicht zur Reflexion der sozialen Problematik dient, sondern lediglich darauf abzielt, mit Hilfe des internationalen „Aushängeschildes“ in Form einer griechischen Tragödie und der Schaffung einer unbestimmten, d.h. exotisierten Kultur, Aufmerksamkeit und Faszination zu erlangen. Indem Euripides’ Medea-Figur ausschließlich auf Grund chinesischer Moral-Maßstäbe als Übeltäterin verurteilt wird, werden lediglich die in China dominierenden patriarchalischen Vorurteile gegenüber den Frauen bestätigt, so dass für die Vermittlung dieser Aussage jedoch keine Notwendigkeit besteht, Euripides’ Medea zu adaptieren. Ebenso wenig kommt die Ästhetik

39 Pochat 1970, S. 17 40 Todorov, Tzvetan: On human diversity, Cambridge/Mass. 1993, S. 265

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen der chinesischen Theatertradition zur Geltung, indem sie lediglich auf die Körperlichkeit der Schauspielerin Wei Hai-min reduziert wird. Die verschiedenen volkstümlichen chinesischen Elemente werden dabei prinzipienlos mit solchen von historischer westlicher Mode kombiniert, um ein Chinoiserie-Szenarium zu erschaffen sowie den Anschein einer Grenzüberschreitung zwischen östlichen und westlichen Kulturen zu erwecken. Loulan Nü stellt daher eine exotisierte, hybride Kulturidentität dar, die weder als „griechisch“ noch als „chinesisch“ charakterisiert und damit weder einer westlichen noch einer östlichen Kultur zugeordnet werden kann. Eine solche kulturelle Verortung in Form der Herstellung einer „unbestimmten“, exotisierten Kultur entpuppt sich als kulturelle Desorientierung, die vielmehr zu kultureller Wurzellosigkeit als zur Weitergabe bzw. Weiterentwicklung der eigenen Kulturtradition beiträgt. All diese Indizien weisen darauf hin, dass sowohl die griechische Tragödie als auch die chinesische Theatertradition als Deckmantel für wirtschaftliche Interessen fungieren, die auf den globalen Markt in Form der internationalen Theaterbühne abzielen. Diese einseitige Anpassung an den westlichen „Geschmack“ widerspricht somit der Argumentation wie sie z.B. von Edith Hall vertreten wird, dass dabei das kulturelle Selbstbewusstsein Taiwans oder das angebliche westliche Interesse am kulturellen Bewusstsein östlicher Länder im Vordergrund stünde. Dadurch, dass Luo Jin-lin im Unterschied hierzu das Konzept verfolgt, ausländischen Zuschauern ein „authentisches“ chinesisches Theater zu präsentieren, entspricht seine Medea-Aufführung der zweiten Strategie als „Aufbewahrung der Tradition“. Es muss daher in einem weiteren Unterpunkt untersucht werden, inwiefern sich Luo Jin-lins Absicht mit Lin Xiu-weis Interesse überschneidet, mit Hilfe von Euripides’ Medea die Einladung zu internationalen Theaterfestivals zu erreichen und welchen Zweck hierbei die chinesische Medea zu erfüllen hat.

III.1.2 „Authentizität“ als reformierte Tradition Während die taiwanesische Regisseurin Lin Xiu-wei in Anlehnung an Ninagawas Konzept der Hybridität die chinesische Kultur fragmentiert, dekontextualisiert und undifferenziert mit japanischen, westlichen sowie anderen Elementen kombiniert, präsentiert der chinesische Regisseur Luo Jin-lin die chinesische Tradition in seiner „Ganzheit“ und eignet sich das antike griechische Theater nach den ästhetischen Prinzipien des Xiqu an. Wie in der Aufführung Luo Jin-lins aus der Integration des griechischen Chors und der Ver-

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Westlicher Geist im östlichen Körper? wandlung von Euripides’ Medea-Figur hervorgeht, findet dabei die Transformation der chinesischen Medea-Aufführung in zwei Richtungen statt, indem sowohl die antike Theaterform als auch das Xiqu umgewandelt wird. Angesichts der thematischen Analogie zu klassischen chinesischen Dramen wie Qin Xiang-lian, wird diese kulturelle Gemeinsamkeit als Bindeglied für die Transformation von Euripides’ Medea verwendet. Somit wird Medea in den ersten drei Akten in die chinesische Frauenfigur Qin Xiang-lian transformiert, wobei der bei Euripides fehlende Grund für Jasons Verrat mit dem chinesischen Drama verknüpft wird. Indem die chinesische Medea (mit Ausnahme des Kindermordes) als moralisch makellose Frau auftritt, die mit dem konfuzianischen Verständnis von Rechtschaffenheit (Yi) ihre Rache legitimieren kann, kann sie bei den chinesischen Zuschauern Mitleid erwecken, was andernfalls nach Euripides’ Text unmöglich wäre. Obwohl selbst das offene Ende darauf hindeutet, dass es keinen Gewinner, sondern nur Verlierer geben kann, erscheint ihr Kindermord nichtsdestoweniger als Widerstand gegen die patriarchalische Gesellschaft, weil sie sich im Unterschied zu Qin Xiang-lian aktiv für ihr Recht einsetzt und sie den Kampf um die Nachkommenschaft ins Zentrum des Geschlechterkonflikts rückt. Es stellt sich die Frage, aus welcher Motivation heraus Luo Jinlin gerade Euripides’ Medea ausgewählt und transformiert hat, um daraus eine chinesische „Rachegöttin“ zu erschaffen. Gegenüber der griechischen Presse begründete er seine Auswahl von Euripides’ Medea mit dem darin enthaltenen Geschlechterkonflikt damit, dass seiner Meinung nach in China noch keine Gleichberechtigung zwischen den beiden Geschlechtern hergestellt sei und die Männer alles „verkaufen“ und verraten könnten, um Macht zu erlangen.41 Im Unterschied hierzu erklärte er jedoch 2002 bei der zweiten Wiederaufnahme gegenüber der Hebei Bangzi-Theatergruppe aus Peking, dass das Verhältnis der Geschlechter bei Euripides’ Medea zwar dem sozialen Umfeld aus der feudalistischen Zeit Chinas ähnele, aber die Problematik hinsichtlich der unterlegenen sozialen Position der Frauen heute nicht mehr relevant sei. Deshalb solle die Thematik stattdessen darauf konzentriert werden, dass Jason wegen seines Strebens nach Macht und Reichtum alles verrate, so dass der Kindermord der chinesischen Medea für ihn keine Herausforderung des Patriarchats darstelle, sondern sein Anliegen vielmehr in einer Re-Etablierung der konfuzianischen Moral in der modernen, kapita-

41 Kekeliadis, Kostas: „Die antike Tragödie ist zeitlos“, Interview mit dem Regisseur Luo Jin-lin, in: Agelioforos, 27.04.1998, übersetzt von Siouzouli, Natascha

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen listischen Gesellschaft bestehe.42 Es lässt sich zwar nicht generell beantworten, warum Luo gegenüber der griechischen Presse eine solche Begründung zur Auswahl von Medea äußert, die nicht mit seiner Argumentation innerhalb Chinas übereinstimmt, aber es ist nahe liegend, dass er hiermit der westlichen Sichtweise entgegen kommt, nach der Euripides’ Medea als feministisch eingestuft wird. Somit kann schwerlich argumentiert werden, dass das Interesse des Regisseurs darin besteht, mit Hilfe von Euripides’ Medea die Frauenemanzipation in China zu propagieren, obwohl seine MedeaAufführung sowohl an das traditionelle Frauenideal in China anknüpft als auch sich diesem gleichzeitig entgegensetzt. Da seine intendierte künstlerische Aussage, nämlich die konfuzianische Ethik wieder zu beleben, mit der des klassischen chinesischen Dramas Qin Xiang-lian übereinstimmt, besteht somit in Bezug auf die Thematik für ihn kein Anlass, Euripides’ Medea zu adaptieren. Überdies behauptet er, dass die Zielsetzung seiner Adaption darin bestehe, durch die Kombination von Xiqu und griechischer Tragödie den ausländischen Zuschauern ein „authentisches chinesisches Theater“ und den chinesischen Zuschauern ein „reformiertes Xiqu“ zu präsentieren. Aber wenn es lediglich darum ginge, den ausländischen Zuschauern ein „authentisches chinesisches Theater“ zu präsentieren, stellt sich zwangsläufig die Frage, wieso er anstatt auf das chinesische Repertoire auf die griechische Tragödie bzw. Euripides’ Medea zurückgreift. Dass er andererseits das Xiqu reformieren will, wirft ebenfalls die Frage auf, welche Veranlassung hierbei besteht, dieses Vorhaben ausgerechnet mit Hilfe des antiken Theaters umzusetzen bzw. inwiefern dies den Bedürfnissen der chinesischen Zuschauer entspricht. Vor allem stellt sich auch die grundlegende Frage, weshalb er überhaupt das Ziel und Konzept verfolgt, ein „authentisches“ chinesisches Theater bzw. ein reformiertes Xiqu präsentieren zu wollen. All diese Fragen lassen sich im Folgenden anhand einer detaillierten Untersuchung der Rezeption in China und Griechenland erläutern.

III.1.2.1 REZEPTION IN CHINA Obwohl Luos Medea-Aufführung sowohl den Wendepunkt seines Schaffens vom Huaju zum Xiqu als auch seinen beruflichen Aufstieg auf die internationale Bühne markiert, erlebte er umgekehrt genau damit in China seine erste Niederlage, wohingegen seine beiden Aufführungen in der Huaju-Form (König Ödipus und Antigone) in China viel größeren Anklang fanden als seine Medea-Aufführung. So wurde Luos König Ödipus vom zentralen chinesischen Fernseh42 Interview mit Luo Jin-lin, Peking am 12.10.2005

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Westlicher Geist im östlichen Körper? sender CCTV ausgestrahlt und es fand zugleich auch ein Symposium statt.43 Seine Antigone konnte ebenfalls eine positive Resonanz auslösen, was zum Beispiel aus dem Kommentar von Huang Wenjun hervorgeht: „Ich spüre die einzigartige, mysteriöse, seelenreinigende und erschütternde Kraft der griechischen Tragödie. Eine solche Tragik, die ohne Tränen und Trauer stattfindet, bringt eine Art von unwiderstehlicher Wirkung der [ethischen] Erhabenheit hervor“.44

In Anbetracht von Luos Integration ästhetischer Xiqu-Prinzipien in die Huaju-Form bezeichnet Huang seine Antigone als „brillante und gelungene Aufführung, die sowohl den chinesischen Charakter als auch das Wesen der griechischen Tragödie in sich vereinigt habe.“45 Im Gegensatz dazu stieß Luos Medea-Aufführung bei chinesischen Journalisten, Theatermachern und -kritikern lange Zeit auf Desinteresse, was sich sowohl an der spärlichen Berichterstattung als auch an der geringen Anzahl an Vorstellungen erkennen lässt. So wurde sie bis zur zweiten Wiederaufnahme 2002 in Peking lediglich zweimal präsentiert und erst seit 1995 gab es mehr Kritiken und eine größere Resonanz.46 Die Entwicklung der Rezeption lässt sich dabei an den bislang dazu veranstalteten beiden Symposien beobachten: Obwohl sich der internationale Erfolg der MedeaAufführung seit dem Gastspiel von 1991 in Griechenland nicht anzweifeln lässt, wurde erst 1995 von der Hebei Bangzi-Gruppe aus der Hebei-Provinz und dem Theaterverein aus der Provinz Hebei in Shi Jiazhuang47 ein Symposium im Inland veranstaltet. Daran nahm

43 Zhou Ting: „Zhongguo xiju jia zai xila yanchu ‚edipusi wang‘“ („Chinesischer Theatermacher präsentiert ,König Ödipus‘ in Griechenland“), in: China Today, Nr. 9, 1986, S. 55 44 Huang, Wen-jun: „Renxin de lizan – wo kan ‚Andigani‘“ („Lob der Humanität – Besuch der Aufführung ,Antigone‘“), in: Chinese Theatre, Nr. 7, 1988, S. 43 45 Ebd., S. 44 46 Luo, Jin-lin 2002, a.a.O. Es ist anzumerken, dass die Gesamtzahl an Vorstellungen im Inland leider nicht in Erfahrung gebracht werden konnte. Dennoch ist die Tatsache, dass sie bis dahin nur zweimal in Peking aufgeführt wurde, ein eindeutiges Indiz dafür, dass sie im Inland keinen vergleichbaren Erfolg wie im Ausland verbuchen konnte. Nicht zuletzt verweist Luos Begründung für die zweite Wiederaufnahme von 2002 auch darauf, dass es hierbei vielmehr darum ging, die Medea-Aufführung weiterhin zu exportieren, als darum, der Nachfrage aus dem Inland entgegenzukommen. 47 Shi Jiazhuang befindet sich westlich von Peking und ist Sitz der Hebei Bangzi-Gruppe aus der Hebei-Provinz.

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen jedoch kaum jemand außerhalb der beiden Organisationen teil und das Ergebnis beschränkte sich lediglich auf ein einseitiges Dokument.48 Im Unterschied dazu wurde das zweite Symposium 2002 in Peking gemeinsam vom Pekinger Kulturbeauftragten, dem Pekinger Kunst-Forschungsinstitut sowie der Hebei Bangzi-Gruppe aus Peking veranstaltet und es wurden zahlreiche hochrangige Vertreter aus verschiedenen Bereichen wie dem Huaju-Theater, Xiqu, Kunst, Medien usw. eingeladen.49 Anhand des Umfangs und Ortes sowie der Position und Bedeutsamkeit der Veranstalter und Teilnehmer ist ersichtlich, dass das zweite Symposium eine einschneidende Änderung gegenüber der Bewertung von Luos Medea markiert. Auch der Titel des Protokolls spricht dafür, dass der Medea-Aufführung eine größere Beachtung geschenkt wurde als zuvor, denn er verweist dementsprechend auf den „Erfolg und künstlerischen Stellenwert der Medea-Aufführung“, sowie darauf, dass ihr Stellenwert erneut überprüft und sie offiziell im Inland als Erfolg anerkannt wurde.50 Daher stellt sich die Frage, weshalb sie zunächst im Inland abgelehnt wurde und erst nach dreizehn Jahren einen Triumph feiern konnte. Dieser Frage soll unter Berücksichtigung folgender möglicher Faktoren nachgegangen werden: Kunstfertigkeit der Schauspieler, Bewertungskriterien im Spannungsfeld zwischen Anspruch nach „authentischem“ Xiqu und „Werktreue“ zu Euripides sowie politische Interessen. So besteht nach Aussage des Regisseurs der größte Unterschied zwischen den drei verschiedenen Versionen in der Rollenbesetzung mit verschiedenen Schauspielern, wobei die schauspielerische Interpretation der ersten Medea-Darstellerin Peng Hui-heng seiner Meinung nach über derjenigen der zweiten MedeaDarstellerin Liu Yu-lin steht. Dass die schauspielerische Qualität Peng Hui-hengs bei der Darstellung der Medea-Figur auch von chinesischen Kritikern wie Sun Zhi-yin sowie Liu Yu-lins persönlich

48 Zhi-Yin: „Heibei Shen juxie zhaokai hebei bangzi xi ‚meidiya‘ zuotanhui“ („Der Theaterverein aus der Hebei-Provinz eröffnet das Symposium über Hebei Bangzis‚Medea‘“), in: Da Wutai (Große Bühne), Nr. 3, 1995, S. 42 49 Zhang, Yan-yin: „Meideya Yanchu chengong yu yishu jiazhi – baijing heibei bangzi jutuan ‚meideya‘ yantaohui congshu“ („Erfolg und künstlerischer Stellenwert der ,Medea‘-Aufführung: Zusammenfassung des Symposiums über ,Medea‘ der Hebei Bangzi-Gruppe aus Peking“), in: Journal of College of Chinese Traditional Opera, Vol. 24, Nr. 1. Feb. 2003, S. 1-5 50 Es wurde im Symposium mitgeteilt, dass die gesamten Kosten für die Wiederaufnahme der Medea-Aufführung vom Pekinger Kulturbeauftragten übernommen wurden. Die Höhe der Summe wurde nur grob mit „über 100.000“ Renminbi (über 10.000 Euro) beziffert, was darauf verweist, dass die Medea-Aufführung als kulturpolitisches Programm eingestuft wurde. Siehe: Ebd., S. 1

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Westlicher Geist im östlichen Körper? hoch geschätzt wurde,51 verdeutlicht, dass die ablehnende Haltung gegenüber Luos Medea vor 2002 in keinem Zusammenhang mit den Fähigkeiten der Schauspielerinnen steht. Nach der Rezeption der zweiten Version (1995) zu urteilen, stützt sich die Bewertung der Medea-Aufführung entweder auf die Kriterien des Xiqu oder, in Übereinstimmung mit Griechenland, auf den Anspruch nach „Werktreue“. Nach der ersten Version (1989) wurden zwar in künstlerischer Hinsicht das Bühnenskript und die Musikkomposition wegen ihres mangelhaften Xiqu-Niveaus bemängelt, aber insbesondere die Integration des griechischen Chors in die Xiqu-Kunst wurde positiv aufgenommen und in inhaltlicher Hinsicht wurde die aktive Rache von Euripides’ Medea-Figur, abgesehen vom Kindermord, als akzeptabel aufgefasst.52 Indem die zwei wesentlichen Differenzen zu den Gepflogenheiten des Xiqu – die Integration des griechischen Chors und der Umsturz der idealen chinesischen Frauenfigur – erkannt und befürwortet wurden, ist festzustellen, dass die Ablehnung gegenüber der Medea-Aufführung weniger mit dem „reformierten Xiqu“ zusammenhängt, als vielmehr mit dem Kriterium der „Werktreue“, so dass sie von vielen chinesischen Kritikern als Abkehr vom Original aufgefasst und verworfen wurde.53 Beispielsweise besteht für Cai Yi das Geheimnis des Erfolgs der Aufführung darin, Euripides’ Medea-Figur zum idealen Frauenbild Xianqi Liangmu (tugendhafte Frau und liebevolle Mutter) der chinesischen Tradition zu verwandeln, weil dadurch diese Figur den chinesischen Zuschauern zugänglich geworden sei. Allerdings verurteilt er genau aus diesem Grund die Aufführung als gescheiterte Adaption, weil sie nicht werktreu sei. Ihm zufolge lässt sich Medeas Rache allein auf ihre inneren Gefühle zurückführen, aber nicht auf die sozialen Ursachen. Vor allem eliminiere der Maßstab chinesischer Moral die Aspekte von Medeas „verrückter und perverser Rache“ sowie ihrer „erschütternden Widerstandskraft“, so dass die Aufführung aus Gefälligkeit gegenüber den chinesischen Zuschauern nicht mehr zum „Nachdenken über die tiefgründige Philosophie des Originals“ anregen könne.54 Dementsprechend bedauert Chen Jian-zhong, dass „der Geist des westlichen Humanismus“ durch die 51 Sun, Zhi-yin: „Shiyun Heibei bangzi Meidiya de wutai siwei“ („Erörterung der philosophischen Aussage von Hebei Bangzis Medea“), in: Da Wutai (Große Bühne), Nr. 3, 1995, S. 33 und persönliches Interview der Autorin mit Liu Yu-lin, Peking am 20.10.2005 52 Zhu, Xin-yan 1996, S. 71 u. Sun 1995, S. 33ff 53 Sun 1995, S. 33 54 Cai, Yi: „Ciantan Hebei Bangzi ‚Meideya‘ gaibian de de yu shi“ („Über die Vor- und Nachteile der Adaption von Hebei Bangzis ,Medea‘“), in: Da Wutai (Große Bühne), Nr. 3, 1996, S. 68

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Assimilation mit der chinesischen Tradition in Luos Aufführung zur „Interpretation des Feudalismus“ degradiert wird. Weiterhin klagt er darüber, dass die „Schönheit des Schreckens“ Medeas und „das Mysterium und die rituelle Bedeutung der antiken Mythologie“ durch die moralische Bewertung von Medeas Verhalten und Bezugnahme zur sozialen Realität untergegangen seien. Trotz allem äußert er schließlich dennoch seine Zustimmung dafür, dass die Aufführung die Kunst des Xiqu auf der Weltbühne präsentiere.55 Somit richtet sich der Vorwurf der beiden Kritiker darauf, dass der „Geist“ bzw. das „Mysterium“ der griechischen Tragödie durch die Wichtigkeit, die dem auf der chinesischen bzw. konfuzianischen Ethik basierenden moralischen Urteil in Luos Aufführung beigemessen wird, verloren gegangen seien. Sie übersehen dabei allerdings meines Erachtens, dass erst die Verwandlung von Euripides’ Medea zu einer idealisierten traditionellen chinesischen Frau ermöglicht, dieses Frauenbild wiederum mit Hilfe von Euripides’ Medea umzustürzen. Auf diese Weise wird die chinesische Ethik hinterfragt und die Xiqu-Konvention des Happy Ends gebrochen, weshalb es Medea trotz der Ausblendung ihrer negativen Charakterzüge nicht an Widerstandskraft innerhalb des chinesischen KulturKontexts fehlt und dies auch nicht als einseitige Anpassung an die chinesische Anschauung und Wahrnehmung verstanden werden kann. Dass sich die beiden gegen die Anknüpfung an den sozialen chinesischen Kontext aussprechen und allein wegen der chinesischen Moralvorstellungen die Aufführung ablehnen, wirft die Frage auf, ob ihr Anspruch nach „Werktreue“ nicht einen Vorwand gegen die Kombination von Xiqu und griechischer Tragödie darstellen könnte. Der eigentliche Grund für die Ablehnung der Medea-Aufführung kristallisiert sich indirekt aber vor allem heraus, als Tang Xiao-bai die von Luo gewählte Form verteidigt: Erstens solle die Bedeutung des kulturellen Austauschs nicht im Anspruch nach „Werktreue“, sondern in der gegenseitigen Befruchtung bestehen. Unter diesem Aspekt kann die Integration des griechischen Chors in das Xiqu als gelungener Austauschprozess aufgefasst werden. Zweitens sei es sinnlos und vergeblich, das antike griechische Theater in seinem Originalzustand wieder herzustellen. Drittens könne man auf Grund der kulturellen und ästhetischen Differenzen nicht von der Hebei Bangzi-Oper erwarten, dass sie die „Anziehungskraft des Mysteriums“, „Schönheit des Schreckens“ oder „rituelle und religiöse Atmosphäre“ des antiken griechischen Theaters hervorbringe. Denn

55 Chen, Jian-zhong: „Huidao Xila: guanyu Hebei bangzi ‚Meidiya‘ de duanxian“ („Rückkehr nach Griechenland: Gedanken über ,Medea‘ von Hebei Bangzi“), in: Da Wutai (Große Bühne), Nr. 6, 1995, S. 23

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Westlicher Geist im östlichen Körper? es sei unvermeidlich, dass die tragische Atmosphäre der griechischen Tragödie durch die bunten Kostüme und die Trommel-Musik des Xiqu eliminiert werde und dass die chinesische Denkweise bzw. konfuzianische Ethik samt der daraus resultierenden moralischen Urteile in die Interpretation des Originals einfließe.56 Hierbei wird deutlich, dass sich der Anspruch nach „Werktreue“ weniger auf den Inhalt als auf die Darstellungsform bezieht und die Erwartungen an Aufführungen antiker Dramen auf exotisierende Vorstellungen über das antike griechische Theater zurückgehen. Auch wenn sich keiner der Kritiker direkt gegen die Anwendung der Xiqu-Kunst ausspricht, ist ersichtlich, dass das Xiqu untrennbar mit der Ethik des Konfuzianismus verbunden ist und deshalb unmöglich ein solches Bedürfnis erfüllen kann. Ferner wird Euripides’ Medea von Chen Jian-zhong, ohne die kontroverse Handlung in Betracht zu ziehen, mit dem „westlichen Humanismus“ gleichgesetzt, was unmittelbar auf eine Idealisierung der westlichen Kultur verweist, so dass für ihn die antiken Dramen sowie die westliche Kultur im Allgemeinen über der eigenen Theatertradition zu stehen scheinen. Denn seine abwertende Äußerung „Interpretation des Feudalismus“ deutet darauf hin, dass das Xiqu als eine Theaterform aus feudalistischer Zeit nicht adäquat dafür wäre, damit eine griechische Tragödie aufzuführen bzw. die humanistische Botschaft der westlichen Kultur zum Ausdruck zu bringen. Obwohl unklar ist, inwiefern seine Meinung repräsentativ ist, steht sie dennoch Luos ursprünglicher Ansicht nahe, dass die Huaju-Form besser zur Interpretation griechischer Tragödien geeignet sei als das Xiqu. Daher kann festgestellt werden, dass der Anspruch nach „Werktreue“ einen Vorwand darstellt und der Grund für Luos erste Niederlage im Inland als auch für seinen internationalen Erfolg identisch ist und im Verzicht auf das Huaju und der damit einhergehenden Hinwendung zur eigenen Theatertradition besteht. Im Gegensatz dazu konnte die dritte Version der MedeaAufführung im Jahre 2002 große Aufmerksamkeit in den Medien erlangen, die sich jedoch fast ausschließlich auf die Schauspieler konzentrierte. So wurde Liu Yu-lin dafür bewundert, dass sie noch im Alter von 55 Jahren die vielseitigen Charakterzüge Medeas verkörpern und die verschiedenen Gesangsstile wie Hebei Bangzi, Volkslieder und westliche Oper in einer Person vereinen konnte. Weiterhin wurde geschrieben, dass sie in der Medea-Rolle ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht haben soll, 57 wobei Euripides’

56 Tang, Xiao-bai, in: Da Wutai 1996, S. 46 57 Xiao-Bai (Pseudonym): „Zhongguo de fuchou nüshen: Hebei Bangzi ‚Meidiya‘“ („Die chinesische Rachegöttin – Hebei Bangzis ,Medea‘“), in: Yinyue Zhoubao (Musik Wochenzeitung), 13.12.2002

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Medea bzw. die griechische Mythologie über das „Goldene Vlies“ in den meisten Berichten nur grob erwähnt wird. Es gab hierbei weder Einwände gegen die Hinwendung zur chinesischen Ethik und Moral noch war die Rede von der „Erhabenheit“ der Tragödie oder dem Anspruch nach der „mysteriösen und rituellen Atmosphäre“ des antiken Theaters. Im Gegenteil wurden eher solche Ansichten wie die folgende von Ding Ru-jin vertreten: „Nur wenn das Original, abgesehen von seinem kanonischen Status, mit der chinesischen Logik und moralischen Sichtweise interpretiert wird, kann sich eine sinnvolle Adaption ergeben.“ 58 Dementsprechend konstatiert der renommierte Dramaturg Zhu Xin-yan, dass es sowieso unmöglich sei, das Original zu „klonen“, weshalb man sich nicht vom Original einschränken lassen solle. 59 Obwohl die Medea-Aufführung bejubelt wurde und kaum Ansprüche nach „Werktreue“ erhoben wurden, bemängelten einige Kritiker die Adaption insbesondere in Bezug auf die Motivation des Kindermordes. So äußerten Zhu Xin-yan sowie die stellvertretende Direktorin des Pekinger Kunst-Forschungsinstituts Xue Xiao-jin die Kritik, dass Medeas Rache besser auf Jasons Liebesverrat sowie ihre bösen und unzähmbaren Charakterzüge bzw. ihre Verrücktheit zurückgeführt werden solle, da sonst der Kindermord unlogisch und nicht plausibel wäre.60 Dies begründet Xue Xiao-jin mit den Worten: „Die chinesische Medea knüpft an die klassischen chinesischen Dramen über die Thematik des Ehebruchs an, aber es ist in der chinesischen Geschichte noch nie vorgekommen, dass eine Frau eine solche Rache verübt.“ 61 Der Einwand richtet sich somit nicht darauf, dass der Kindermord vollzogen wird, sondern darauf, wer dieses „skandalöse Verbrechen“ begeht und warum. Dass Medea auf Vorschlag von Zhu Xin-yan ihre negativen Charakteristika beibehalten soll und letztlich vom Sonnengott Helios bestraft werden soll, verweist deutlich darauf, dass der Grund für die Inakzeptanz des Kindermordes für ihn u.a. darin liegt, dass nicht Euripides’ Medea-Figur, sondern eine traditionelle und tugendhafte chinesische Frau diese Tat vollzieht und ihre Ra58 Zhang, Yan-yin 2003, S. 5 59 Zhu, Xin-yan: „Cong xila jitan feidao shenzhou wutai de ‚Meidiya‘“ („Die von einem griechischen Altar auf die chinesische Bühne geflogene ,Medea‘“), in: Journal of College of Chinese Traditional Opera, Vol. 24, No. 2, Mai 2003, S. 53 60 Ebd., S. 55 61 Xue, Xiao-jin: „Yong Zhongguo xiqu buzhou xila beiju jingsui: ping Hebei bangzi ‚Meidiya‘“ („Mit chinesischem Xiqu das Wesen der Kunst der antiken griechischen Tragödie verstehen: Kritik an Hebei Bangzis ,Medea‘“), in: Journal of College of Chinese Traditional Opera, Vol. 24, Nr. 1, Feb. 2003, S. 80. Fünf Teilnehmer des Symposiums von 2002 vertraten dieselbe Ansicht wie Xue Xiao-jin und Zhu Xin-yan. Siehe: Zhang, Yan-yin 2003, S. 2ff

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che sogar mit der konfuzianischen Moral gerechtfertigt werden kann.62 Diese von den beiden Kritikern getadelte „Fehlinterpretation“ ist allerdings genau der Grund, weshalb die Journalistin Wu Shuang hingegen ihre Begeisterung zum Ausdruck bringt. So bezeichnet sie Medea als „westliche Qin Xiang-lian“ und weist darauf hin, dass diese sich auch insofern von der chinesischen Qin Xiang-lian unterscheidet, als sie neben den Eigenschaften Schönheit und Klugheit noch ihren ganzen Stolz und ihre unantastbare Würde besitzt und keine Misshandlung duldet:63 „Gleichgültig ob in Ost oder West, müssen wohl die Umstände auf der Welt im Großen und Ganzen ähnlich sein, da sonst den beiden Frauen aus völlig verschiedenen Orten nicht dasselbe Schicksal zustoßen würde. Dennoch bestimmen der historische und kulturelle Hintergrund die Weltanschauung, so dass sie auf zwei verschiedene Weisen damit umgehen. Was die westliche ,Qin Xiang-lian‘ tut, scheint besser den Unmut zu befriedigen. Als Medea die Feinde und die eigenen Kinder ermordet und nach Westen verschwindet, empfinden wir keinerlei Hass gegenüber ihrem Verhalten, aber Mitleid mit ihr und erkennen ihren neuen, grausamen aber schönen Namen an: ‚Rachegöttin‘.“64

Nach Wus Rezeption sorgt die Verknüpfung mit Qin Xiang-lian den chinesischen Zuschauern gegenüber für Zugänglichkeit und zugleich wird durch die Aneignung der starken und selbstbewussten Charakterzüge von Euripides’ Medea-Figur eine neue heroische Frauenfigur geschaffen. Indem die chinesische Medea weder wegen des Liebesverrats oder ihrer Wildheit bzw. Verrücktheit willkürlich Rache verübt noch wie Qin Xiang-lian die Wiederherstellung der Gerechtigkeit einem Richter (also einem anderen Mann) überlässt, kann sie bei den chinesischen Zuschauern Mitleid erlangen, aber zugleich auch den Anstoß zur Reflexion ihrer eigenen Kultur geben. Schließlich würdigt Wu Shuang das Werk, den Regisseur und die Schauspielerin gleichermaßen, ohne dabei eine kulturelle Hierarchie aufzubauen oder neue Grenzen zu ziehen, so dass man in diesem Sinne von fruchtbarer Zusammenarbeit und einem gleichberechtigten kulturellen Austausch sprechen kann. Dennoch ist fraglich, ob der Wendepunkt von 2002 durch einen solchen Anklang bzw. eine Veränderung der Zuschauerbedürfnisse

62 Im Unterschied dazu schlagen die chinesischen Zuschauer Luo Jin-lin immer wieder vor, dass Medea die beiden Kinder verschonen solle. Dies beweist wiederum, dass die Inakzeptanz der Aufführung darin liegt, dass der Kindermord der chinesischen Ethik widerspricht. Vgl. Luo 2002, a.a.O. 63 Wu, Shuang: „Jingcai! Zhongguo de ‚Meidiya‘“ („Brilliant! Die chinesische ,Medea‘“), in: Beijing ribao (Pekinger Tageszeitung), 05.01.2003 64 Ebd.

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eingetreten ist, da hierbei auffällt, dass einerseits das Interesse an Euripides’ Medea zurückging und das Xiqu eindeutig aufgewertet wurde. Beim zweiten Symposium vertritt niemand eine solch positive Ansicht wie Wu Shuang, sondern stattdessen gibt es in Bezug auf die inhaltliche Transformation bei fünf von insgesamt 21 Meinungsäußerungen eine ähnliche Kritik wie bei Xue Xiao-jin und Zhu Xin-yan, nämlich dass es der Aufführung nicht gelingt, die Verwandlung von Euripides’ Medea-Figur zum traditionellen chinesischen Frauenideal zu vollziehen. Dies deutet darauf hin, dass die Aufwertung der Medea-Aufführung nicht so sehr auf eine überzeugende Darstellung der inhaltlichen Transformation zurückgeht und man könnte sogar zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Verknüpfung von Euripides’ Medea mit dem chinesischen Frauenideal als subversive Herausforderung der eigenen Kultur weiterhin abgelehnt wird. Hierzu bemerkte der Moderator Qin Hua-shen (Leiter des Pekinger Kunst-Forschungsinstituts) in seiner Ansprache anlässlich des Symposiums, dass „die Verknüpfung von beiden Theatertraditionen im neuen Jahrhundert insbesondere deswegen große Bedeutung habe, als seit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization) dafür plädiert wird, die chinesische Kultur in die Welt zu tragen.“65 Demnach orientiert sich das Symposium weniger an der Frage, wie die griechische Tragödie im Inland vorgestellt werden soll, als vielmehr daran, wie das Xiqu auf die Weltbühne gelangen kann. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Medea-Aufführung, und vor allem die lokale Opernform Hebei Bangzi, aufgewertet und anerkannt, weil sie neben der Adaption von Shakespeare-Stücken auf einen Weg weist, die kulturelle Präsentation im Ausland zu ermöglichen. 66 Dass die Hebei BangziGruppe aus Peking im Anschluss an die Teilnahme zur Cultural Olympiad mit der Aufführung von Theben Stadt mit großer finanzieller Unterstützung des Pekinger Kultusministeriums die dritte Version von Medea herausbringt, ist ebenfalls ein Indiz dafür, dass Luos Medea nicht auf Grund der Nachfrage im Inland, sondern

65 Zhang, Yan-yin 2003, S. 1. Anmerkung: Nach vierzehnjährigen Verhandlungen mit den USA und der EU ist China schließlich im Jahre 2001 der WTO beigetreten, wodurch eine Intensivierung der Handelsbeziehungen zwischen China und dem globalen Markt stattgefunden hat. Siehe: Höffner, Eckhard: „Chinas Außenhandel und die WTO“, 22.08.2005, in: http:// www.fifoost.org/allgemein/China/aussenhandel/ [Stand: 29.05. 2007] 66 Zhang, Yan-yin 2003, S. 3. Anmerkung: Worin dieser Weg besteht, soll im nächsten Unterpunkt (Kap. III.1.2.2) in Zusammenhang mit der griechischen Rezeption behandelt werden.

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vielmehr als wichtiger „Exportartikel“ wieder aufgenommen und gefördert wurde.67 Dies wirft jedoch erneut Fragen auf, nämlich wieso dieser neue kulturpolitische Akzent erst nach dem Beitritt zur WTO gesetzt wird, obwohl der internationale Erfolg der Medea-Aufführung längst bekannt war und vor allem, warum überhaupt die griechische Tragödie adaptiert werden soll, wenn es nur darum geht, das Xiqu auf die internationale Bühne zu bringen, und welchen Stellenwert und welche Funktion die griechische Tragödie dabei zu erfüllen hat. Zur ersten Frage konkretisiert der stellvertretende Chefredakteur der Chinesischen Kulturzeitung Xu Shi-pei, der die Adaption griechischer Tragödien in der Hebei Bangzi-Opernform aus politischer Sicht befürwortet und für ihre Umsetzung plädiert, die Zielsetzung einer solchen Adaption und ihren Hintergrund wie folgt: „Angesichts Chinas Öffnung gegenüber dem globalen Markt und der Intensivierung des multilateralen Handelsprozesses sowie des kulturellen Austauschs besteht die neue Aufgabe darin, wie Theaterkunst als eine Art von gemeinsamer weltweiter ‚Sprache‘ dafür zur Entfaltung gebracht werden kann, die Barrieren von kulturellem Hintergrund und verbaler Kommunikation zu überwinden und die traditionelle chinesische Kunst und Kultur im Ausland vorzustellen, so dass sich der Markt für chinesische Kunstprodukte und den kulturellen chinesischen Einfluss erweitern kann.“68

Hieran ist deutlich zu erkennen, dass Kunst und Kultur mit den Handelsbeziehungen und der (Außen- und Wirtschafts-)Politik miteinander in Verbindung gebracht werden. Indem durch die Öffnung des Landes der Einfluss von Außen erheblich zugenommen hat, ist es umso dringlicher, die traditionelle Kunst und Kultur zu fördern und sie auf der internationalen Bühne zu präsentieren, damit auch der eigene kulturelle Einfluss nach Außen gelangen kann. Für diese Aufgabe spiele nach Xu Shi-pei die Theaterkunst eine entscheidende Rolle, weil sie über das Potential verfüge, die Problematik der Kommunikation bzw. der kulturellen Übersetzbarkeit zu bewältigen. Obwohl er Theaterkunst als „eine Art von gemeinsamer weltweiter Sprache“ bezeichnet, bezieht er sich dabei nicht auf eine spezifische Form von Theaterkunst, d.h. diese Formulierung gilt weder allein für die chinesische Theatertradition noch allein für die griechische Tragödie. Auch wenn hiermit die Kombination der beiden Theater67 He, Lu-lu: „‚Sanduo meihua‘ zuowan pengchu ‚Meidiya‘“ („,Die drei Pflaumenblüten‘ präsentierten gestern Abend ,Medea‘“), in: Beijing Chengbao (Pekinger Morgenpost), 16.12.2002 68 Xu, Shi-pei: „Cong Hebei Bangzi shuokai qu“ („Der Ansatz von Hebei Bangzis ,Medea‘“), in: Zhongguo Wenhuabao (Chinesische Kulturzeitung), 23.01.2003

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traditionen gemeint sein könnte, fasst er diese Fusion jedoch keineswegs als universale Sprache auf. Denn er konstatiert schließlich, dass sog. „doppelsprachige Versionen“ für dasselbe Repertoire unentbehrlich sind, um jeweils den unterschiedlichen Bedürfnissen des In- und Auslands entgegen zu kommen. Übrigens wurde derselbe Vorschlag ebenfalls von zwei anderen Teilnehmern des Symposiums unterbreitet, so dass Xu Shi-pei nicht der einzige ist, der davon ausgeht, dass sich die Bedürfnisse beider Seiten nicht miteinander vereinbaren lassen. Daher kann gesagt werden, dass es beim Plädieren für die Adaption griechischer Tragödien in der XiquForm nicht darum geht, eine universale Sprache zu schaffen, sondern darum, eine kulturpolitische Strategie zu entwickeln, um die Barrieren zum Eintritt auf den globalen Markt zu brechen bzw. traditioneller Kunst und Kultur den Zugang zur internationalen Bühne zu eröffnen. Bereits 1998, nach dem Gastspiel beim 6. Internationalen Iberoamerikanischen Theaterfestival von Bogotá in Kolumbien antwortete Li Jiu-yuan (Leiter der Hebei Bangzi-Gruppe aus der Hebei-Provinz) darauf, wie das Xiqu zur Erlangung dieses Ziels entsprechend den Bedürfnissen der Zuschauer aus aller Welt bzw. der westlichen Zuschauer reformiert werden müsse: „Um die chinesische Theaterkunst in die Welt zu tragen und einen bestimmten Anteil auf dem globalen Markt einnehmen zu können, ist es unabdingbar, möglichst auf die lokalen Inhalte zu verzichten und stattdessen solche Dramen für das Repertoire einer Auslandstournee auszuwählen, die im Ausland einflussreich und beliebt ist. Da ,Medea‘ als griechische Mythologie im Westen überall bekannt ist, kann die Aufführung trotz der fehlenden Untertitel von den Festival-Zuschauern verstanden werden. Hinzu kommt die herausragende schauspielerische Darstellung, so dass die Zuschauer in rührende Emotionen versetzt werden können.“69

Dass den im Westen bekannten Dramen im Vergleich zu den lokalen hierbei eine höhere Priorität eingeräumt wird, verweist auf mögliche Hindernisse durch die Differenzen der kulturellen Hintergründe und Sprachen, aber andererseits auch auf die Bedürfnisse der westlichen Zuschauer nach Exotik. Die fehlenden Untertitel bei der Medea-Aufführung beweisen ihm zufolge zwar, dass die Problematik der kulturellen Übersetzbarkeit überwunden werden kann, aber dies stellt zugleich auch eine Ausblendung der neuen inhaltlichen Interpretation dar, denn es ist fraglich, ob und wie den FestivalZuschauern eine neue Aussage ohne Untertitelung tatsächlich ver69 Li, Jiu-yuan: „Shijie renmin xihuan Zhongguo xiju yishu“ („Weltbürger mögen die chinesische Theaterkunst“), in: Da Wutai (Große Bühne), Nr. 3, 1998, S. 57

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mittelt werden kann. Das Ausbleiben der Übersetzung verweist vielmehr darauf, dass die Medea-Aufführung bei Festival-Veranstaltungen grundsätzlich als Repräsentation des originalen Werks aufgefasst wird. Wenn das Xiqu, wie Li beschrieb, beim Festival nur auf der Ebene der Sinnlichkeit wahrgenommen wird, bedeutet das Xiqu bei dieser Art der Fusion für die Festival-Zuschauer nichts weiter, als dass das Original ein „neues Gewand“ erhält.70 Dies stellt eine deutliche Nähe zur Rezeption in Griechenland dar71 und zeigt auf, dass das Interesse an der chinesischen Theatertradition hauptsächlich einer äußerlichen ästhetischen Form gilt. Der Äußerung Li Jiu-yuans ist zu entnehmen, dass die Anpassung an die Bedürfnisse der westlichen Zuschauer und FestivalVeranstalter einen notwendigen Prozess für den Eintritt auf die internationale Theaterbühne darstellt. Dabei erkennt Li Jiu-yuan zwar, dass die Auswahl der Dramen eine entscheidende Rolle spielt, aber die Auswahlkriterien hängen für ihn allein von der Beliebtheit und Bekanntheit der Dramen in den westlichen Ländern ab, so dass die griechische Tragödie und ihr Stellenwert hierbei unerwähnt bleiben. Im Unterschied dazu bezeichnet Xu Shi-pei die antiken griechischen Klassiker als „Genbank der westlichen Kultur“ und er plädiert für die „Kreuzung“ der chinesischen und westlichen Kultur, von der seiner Meinung nach beide Seiten des Publikums profitieren können. Dabei konkretisiert er, weshalb die Adaption griechischer Tragödien in der lokalen Xiqu-Form im Vergleich zu den chinesischen Dramen ein effektiveres Mittel sei, um auf die Weltbühne zu gelangen: „Indem das Xiqu die längst auf die Textform beschränkten, antiken griechischen Klassiker adaptiert und aufführt, werden sie auf heutigen Bühnen zur ,lebendigen‘ Kunst verwandelt. Sie [die Fusion bzw. die wiederbelebte Kunst] hat wesentlich größere Chancen, sich auf dem Markt zu behaupten, als wenn wir den ausländischen Zuschauern direkt unsere eigenen Kunstwerke vorstellen, weil sie im Hinblick auf den kulturellen Hintergrund, die Handlung, Weltan-

70 Li berichtet hier, dass die Festival-Zuschauer darauf gedrängt haben, sich zusammen mit den chinesischen Schauspielern fotografieren zu lassen und die traditionellen chinesischen Kostüme anzuprobieren, woran sich erkennen lässt, dass die Neugier und Begeisterung der Festival-Zuschauer auf einen exotisierenden Blick zurückgeht. Siehe: Ebd., S. 55. Auch Luo Jin-lin nennt ein solches Beispiel aus Griechenland, dass nämlich einmal nach einem Gastspiel sämtliche Kostüme der Hebei Bangzi-Theatergruppe von einem Griechen zu einem hohen Preis abgekauft wurden. Dies belegt, dass die traditionellen Kostüme die ausländischen Zuschauer besonders beeindruckt haben, weshalb er viel Wert darauf legt, die prachtvollen und kostenaufwendigen Kostüme mit chinesischen Handstickereien eigens für die Auslandstournee anfertigen zu lassen. Siehe: Jia-wei 2002, a.a.O. 71 Siehe Kap. III.1.2.2

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen schauung usw. für sie zugänglicher ist. Hinzu kommt noch ihre Neugier [der ausländischen Zuschauer] und ästhetische Erwartungshaltung gegenüber der fremdländischen Kunst.“72

Somit meint Xu Shi-pei, dass das Xiqu zur Wiederbelebung der antiken griechischen Tragödie beiträgt und er schließt sich Lis Einschätzung an, dass der Reiz dieser Kombination für die westlichen Zuschauer darin liegt, dass das exotische Begehren befriedigt werden kann und die Konfrontation mit der kulturellen Differenz ausbleibt bzw. die westliche Perspektive bestätigt wird. Dennoch sind für Xu die Adaptionen griechischer Tragödien nicht nur deswegen vorteilhaft, weil sie als Mittel zum Zweck dienen, sondern auch weil die chinesische Zivilbevölkerung und die lokalen Xiqu-Formen „neue Nahrung“ von der „kulturellen Wurzel des Westens“ bekämen, so dass sich eine neue chinesische Kultur und Kunstform positiv entwickeln könne.73 Aus diesem Grund erläutert er seine Vorstellungen über „doppelsprachige Versionen“: „Bei der Inlands-Version soll Wert darauf gelegt werden, wie der historische westliche Hintergrund und die westliche Kultur unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der chinesischen Zuschauer erklärt und interpretiert werden können. Bei der Auslands-Version soll hingegen das Problem gelöst werden, wie die antiken griechischen Klassiker durch die Xiqu-Form repräsentiert werden, so dass die Kunst ihre Anziehungskraft auf die westlichen Zuschauer entfalten kann.“ 74

Demnach ist die Inlands-Version auf die inhaltliche Transformation in den eigenen kulturellen Kontext gerichtet, während die AuslandsVersion nur eine oberflächliche Übersetzung der Tragödie mit traditioneller Ästhetik darstellt. Die Adaption griechischer Tragödien wird insofern befürwortet, indem die Tragödien als Mittel zum Zweck dienen bzw. als Ursprung der westlichen Kultur aufgefasst werden. Wenn auch Xu Shi-pei das von griechischer Seite initiierte Konzept nun positiv bewertet, ist dennoch ersichtlich, dass diese hybride Form für das Xiqu zwar den Zugang zur internationalen Bühne ermöglichen kann, aber gleichzeitig auch eine zwangsläufige Unterwerfung unter den Status der Tragödie als „kulturelle Wurzel des Westens“ bedeutet. Weiterhin stellt sich die Frage, wieso die Anzahl von Adaptionen griechischer Tragödien trotz des Interesses am Eintritt auf den globalen Markt seit 2002 nicht forciert wurde. Im Gegensatz dazu wer-

72 Xu 2003, a.a.O. 73 Ebd. 74 Ebd.

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den aber seit Mitte der 1980er Jahre zahlreiche ShakespeareStücke aufgeführt, so dass sie zu den am meisten adaptierten westlichen Dramen in der Xiqu-Szene avanciert sind. Es ist offensichtlich, dass man bei der Kombination von westlichen Dramen und der chinesischen Theatertradition Shakespeare gegenüber den griechischen Tragödien bevorzugt. Im Kommentar über die MedeaAufführung begründet Zhu Xin-yan, weshalb sich Euripides’ Medea schwieriger für die Xiqu-Form adaptieren lässt als ShakespeareStücke. So soll es ihr an mehreren günstigen Faktoren fehlen, die Shakespeare hingegen bieten kann: „[K]lare Charakterisierung der Figuren, spannende Handlung und Konflikte sowie eine strenge dramaturgische Struktur“. Für Zhu gehört Euripides’ Medea somit zum Werk aus der „Wiegezeit des Theaters der Menschheit“, wohingegen Shakespeare-Stücke aus der „Reifezeit des Theaters ab der europäischen Renaissance“ stammen. Er bemängelt darüber hinaus an Euripides’ Medea, dass „die Charakterisierung der Figuren und die Kausalität des Geschehens unklar und rätselhaft ist, die Handlung langsam voran schreitet und die Entfaltung des Konflikts vom lästigen Text des Chors eingeschränkt wird“. Somit zeige Euripides’ Medea im Vergleich zu Shakespeare die „nachlässige und grobe Eigenschaft aus der frühen Phase der Entwicklung des Theaters“.75 Zhu geht allerdings nicht auf die Unterschiede zwischen griechischen Tragödien und Shakespeare-Stücken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Ästhetik der Xiqu-Kunst und der chinesischen Kultur ein, sondern stattdessen beruht seine Begründung allein auf der kulturellen Entwicklung, die auf den kolonialen Diskurs über die lineare Entwicklung der Zivilisation zurückgeht. Der von Zhu behauptete unterschiedliche Stellenwert hängt dabei allein von der Entstehungszeit ab, so dass Shakespeare „reifer“, fortgeschrittener und moderner als Euripides sei. Daraus geht hervor, dass gerade weil die antiken Dramen in der Kolonialzeit vom Westen als „Wiege der Menschheit“ definiert wurden, sie von Zhu als „unausgereift“ verstanden werden. Inwiefern diese „Unreife“ der antiken Dramen eine relevante Rolle für die geringe Anzahl von Adaptionen griechischer Tragödien in der Xiqu-Form spielt, deutet sich bei folgender Aussage an, mit welcher der Philosophie-Professor Liu Xiao-feng76 bei seinem Gedenken an den chinesischen Übersetzer Luo Niansheng 77 das generelle Desinteresse der Chinesen an der antiken griechischen Kultur erläuterte:

75 Zhu 1996, S. 70 76 Liu Xiao-feng ist Doktor der Theologie an der Universität Basel und Philosophie-Professor an der Zhong-Shang Universität. 77 Luo Nian-sheng widmete sein ganzes Leben der Übersetzung antiker Dramen ins Chinesische, wurde aber in China erst dann gewürdigt, nachdem

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen „Es ist schon über hundert Jahre her, als wir dem westlichen Denken begegneten. Aber bisher hat man immer noch das Gefühl, die westliche Kultur und Weltanschauung nicht grundlegend verstanden zu haben. Unsere Landsleute lernen das moderne Denken viel leidenschaftlicher als die westlichen Klassiker. Dies ist nicht schwer nachzuvollziehen, denn der Antrieb für die chinesischen Intellektuellen, das westliche Denken leidenschaftlich zu studieren, besteht darin, das Land zu modernisieren und die Nation zu stärken. Die griechische Geisteshaltung wird von der Aufklärung als ‚das wunderschöne Kindesalter der Menschheit‘ dargestellt, als ob das moderne Denken im Gegensatz dazu reif wäre. Viele Intellektuelle übernahmen diese Ansicht und interpretierten die griechische Gesinnung als ‚zurückliegende Kindheit‘, die mit der Modernisierung des Landes und der Stärkung der Nation nichts zu tun hat.“78

Lius Äußerung erläutert demnach den Hintergrund für Zhus Auffassung, dass die antiken Dramen als „frühe Phase“ und die Shakespeare-Stücke als „Reife-Phase“ darstellen und dies verweist auf die Tatsache, dass die chinesischen Intellektuellen von den kulturellen Modellen aus der Kolonialzeit geprägt sind. Die Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur war und ist immer noch unabdingbar für ihre zentrale Zielsetzung, die im Modernisierungsprozess und in der Stärkung der Nation besteht. Aus diesem selben politischen Grund wurde das Huaju (westliches Sprechtheater) Anfang des 20. Jh. in China eingeführt, Shakespeare-Stücke leidenschaftlich erforscht und in der Huaju- und Xiqu-Form aufgeführt, während die antiken Dramen vernachlässigt wurden. Angesichts dieser in China vorherrschenden Bevorzugung der Auseinandersetzung mit Shakespeare bzw. der westlichen Moderne scheint es nahe liegend, dass von griechischer bzw. westlicher Seite ein größeres Interesse an der Kombination von griechischen Tragödien und östlichen Theatertraditionen besteht als von chinesischer Seite. Daher soll nun im nächsten Punkt anhand der griechischen Rezeption der Frage nachgegangen werden, ob dies durch die Kritiken bestätigt werden kann und wenn ja, wodurch eine mögliche Befürwortung zu begründen wäre bzw. aus welchen Gründen diese Kombination aus griechischer Sicht erwünscht sein könnte.

Griechenland ihm einen Preis für sein Lebenswerk verliehen hatte. Siehe: Liu, Xiao-feng: „Zhege nühai de yanjing wei wo kanlu: jinian Luo Niansheng xiansheng shishi shizhounian“ („Die Augen dieses Mädchens weisen mir den Weg (Zitat aus Sophokles’ Antigone): Gedenken an Luo Nian-sheng an seinem zehnten Todestag“), in: Reading, Nr. 12, 2000, S. 50ff 78 Liu, Xiao-feng 2000, S. 54

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III.1.2.2 REZEPTION IN GRIECHENLAND Zwar stellte Luos Adaption von Euripides’ Medea bereits seine dritte Inszenierung einer griechischen Tragödie dar, jedoch ist es in diesem Zusammenhang relevant, dass genau diese Aufführung für ihn einen wichtigen Wendepunkt darstellt, indem sie eine Abkehr von der westlichen Sprechtheaterform und eine Hinwendung zur eigenen Theatertradition bedeutet. So erscheint diese Rückbesinnung auf die Tradition zunächst als Entwicklung seines kulturellen Selbstbewusstseins, allerdings ging hierbei die Initiative eindeutig vielmehr von griechischer Seite aus als von ihm selbst, da wie bereits in Kapitel II.1.2 erwähnt, der Vorschlag, die griechischen Tragödien in der chinesischen Theatertradition aufzuführen vom damaligen künstlerischen Leiter des European Cultural Centre of Delphi, Theodoros Terzopoulos, stammte. Bevor ich auf die griechische Rezeption der Medea-Aufführung eingehe, soll im Folgenden zunächst dargelegt werden, wie dieser Wendepunkt in Luos Karriere eingetreten ist und welche Interessen damit in Verbindung stehen. Als Luos Aufführung König Ödipus 1986 zum International Meeting of Ancient Greek Drama in Delphi eingeladen wurde und als erste chinesische Aufführung einer griechischen Tragödie im Ausland bekannt wurde, richteten die Festival-Zuschauer bei der Diskussionsrunde ihre Kritik auf seine westliche Sprechtheaterform und die sehr treu an die antiken Marmor-Statuen angelehnten, klassischen griechischen Kostüme. Obwohl Luos „authentischer“ antiker Stil als Respekt und Verehrung für die antike Kultur positiv aufgenommen wurde, wurde ihm dennoch vorgeschlagen, zwar den Text ohne Änderungen aufzuführen, aber eine „freiere“ Darstellungsform wie z.B. die der Peking-Oper zu verwenden, welche eher einen „chinesischen Charakter“ aufweise.79 Dies lehnte Luo damals zunächst noch mit der Begründung ab, dass die griechischen Tragödien im Unterschied zu Shakespeares Stücken in China noch zu unbekannt seien, um sie den chinesischen Zuschauern in der traditionellen Theaterform vorzustellen. Anhand dieser verschiedenen Meinungen zwischen Luo und den Organisatoren des Festivals zeigt sich, dass seine Zielgruppe ursprünglich vor allem aus chinesischen Zuschauern bestand. Deren Bedürfnisse unterschieden sich jedoch von denen der FestivalBesucher, die sich nach einer „chinesischen“ Darstellungsform sehnten und damit offenbar das traditionelle chinesische Theater meinten. Ferner gibt der Anspruch nach „Werktreue“ – erkennbar an der Forderung nach Beibehaltung des Originaltextes – bei gleichzeitiger Verbindung mit der Ästhetik der traditionellen chinesischen 79 Wu, Ji-cheng 1986, S. 59

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Theaterform zu erkennen, dass zwar das Interesse besteht, die griechischen Tragödien in traditioneller chinesischer Schauspielkunst aufzuführen, ohne dabei jedoch die Frage zu stellen, ob sie überhaupt mit der traditionellen chinesischen Theaterästhetik in Einklang gebracht werden können. An dieser Anspruchshaltung der Festival-Besucher ist somit zu erkennen, dass sie davon keine Kenntnis hatten oder nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dass sich heutzutage in China genauso wie in Griechenland längst das realistische und naturalistische Theater als dominierende Theaterform etabliert hat. Außerdem wird dabei auch die Notwendigkeit der Einbeziehung traditioneller chinesischer Ethik- und Moralvorstellungen missachtet, wenn lediglich äußerlich auf die traditionelle chinesische Schauspielkunst zurückgegriffen werden soll. Indem dies von den Zuschauern nicht berücksichtigt wird, zeigt sich, dass deren Interessen einerseits eigenen Vorstellungen über die chinesische Realität entspringen und andererseits auf eine rein oberflächliche Repräsentationsform traditioneller chinesischer Schauspielkunst konzentriert sind, so dass deren Augenmerk weder auf die inhaltliche Interpretation noch auf eine Verbindung der strukturellen und ästhetischen Gemeinsamkeiten gerichtet ist, als vielmehr auf die äußere Differenz. Somit liegt der Ausgangspunkt für die Kombination von griechischen Tragödien und chinesischer Theatertradition nicht in der Berücksichtigung ästhetischer Gemeinsamkeiten oder Strukturen, sondern in der reinen Neugier gegenüber den östlichen Theatertraditionen, wie Li Jiu-yuan deutlich an den Interessen und am Verhalten der ausländischen Zuschauer beobachten konnte.80 Obwohl Luos nächste Inszenierung Antigone trotz ihrer HuajuForm 1988 nach Griechenland eingeladen wurde, konnte er erst mit seiner Medea-Aufführung einen internationalen Erfolg erzielen. Wie bei der Darstellung über die chinesische Rezeption gezeigt wurde, waren seine beiden ersten Adaptionen Ödipus und Antigone, in China ein großer Erfolg, während er mit Medea in seiner Heimat weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Umgekehrt bezeichnete der griechische Kritiker Kostas Georgoussopoulos Luos erste Adaptionen abwertend als „westliche Melodramen“, während er seinen Wendepunkt mit folgenden Worten begrüßte: „Der damalige ,Ödipus‘ war ein naiv-bewegendes, westlich angehauchtes Melodrama. Inzwischen gab es auch eine ähnlich geartete ,Antigone‘ und nun kam dieses Jahr die Lösung, eine selbstverständliche, eine natürliche, einfach wie ein Atemzug. Luo Jin-lin hat in der strengen aber fruchtbaren Tradition seines

80 Li, Jiu-yuan 1998, S. 55

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Landes die Sprache und die traditionellen Gepflogenheiten eingeatmet und eingesogen.“81

In diesem Kontext deutet seine Formulierung „Lösung“ darauf hin, dass Luos Rückgriff auf die chinesische Theatertradition für ihn eine „Befreiung“ von der westlichen, realistischen und naturalistischen Darstellung bedeutet. Seine Bewertung „richtige“ Sprache bezieht sich daher weniger auf Luos künstlerische Fähigkeiten, als vielmehr auf die Einbeziehung der Tradition. Dieser von ihm als „natürlich“ bezeichnete Werdegang Luo Jin-lins erweist sich aber anhand seines Hintergrundes als selektiver und manipulativer Akt. So stellt sich die Frage, wieso die westlichen, realistischen und naturalistischen Darstellungsmittel nicht als richtige Sprache Luo Jinlins gelten dürfen, um die griechischen Tragödien aufzuführen, sondern allein die chinesische Theatertradition. Um sich einer Antwort anzunähern, soll folgende Ansicht von Theodoros Terzopoulos Erwähnung finden, die Luo den Anstoß zu seinem Wendepunkt gegeben hat: So sagte Terzopoulos hierzu zunächst, dass keinerlei ästhetische Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Theatertraditionen bestünden. Dass er aber Luo dennoch die Kombination beider vorschlug, begründete er damit, dass jeder auf seine eigenen kulturellen Wurzeln zurückgreifen solle und dass er davon überzeugt sei, dass „alle Kulturen die selben Wurzeln haben.“82 Kostas Georgoussopoulos vertritt ebenfalls diese Meinung, indem er den chinesischen Regisseur mit folgenden Worten anerkennt: „Luo Jin-lin hat seinen Weg gefunden und sein Weg ist eine Lehre für uns, die Folgendes besagt: Die erfolgreichste Art, sein Innerstes zum Ausdruck zu bringen, ist es, sich von seinen tiefsten Wurzeln zu nähren.“83 Diese beiden Aussagen werfen zwangsläufig und unmittelbar die entscheidende Frage auf, wieso Luo Jin-lin überhaupt griechische Tragödien adaptieren soll, wenn diese doch nach Terzopoulos’ Ansicht mit Luos eigener Tradition nichts gemeinsam haben. Ferner ist auch fraglich, weshalb es überhaupt eine Rolle spielt, welche Darstellungsmittel ein Regisseur für den eigenen künstlerischen Ausdruck wählt, wenn Terzopoulos’ Meinung zufolge alle Kulturen denselben Ursprung haben. Wenn dies tatsächlich so wäre, warum sollte es dann beispielsweise umgekehrt unmöglich sein, mit westlichen Theaterformen und Darstellungsmitteln die traditionelle chinesische Weltanschauung zu vermitteln? Anhand dieses offensichtlichen Widerspruchs muss daher konstatiert werden, dass es bei

81 Georgoussopoulos 1991, a.a.O. 82 Interview mit Theodoros Terzopoulos, Berlin am 30.10.2006 83 Georgoussopoulos 1991, a.a.O.

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen dieser Argumentation nur sekundär um die chinesischen Traditionen geht, primär jedoch vielmehr die griechischen Tragödien im Mittelpunkt des Interesses stehen. Bei Terzopoulos und Georgoussopoulos bleibt unklar, welchem Zweck die Kombination beider Theaterformen dient und welche Funktion hierbei die chinesische Tradition erfüllen kann. Um dies zu beantworten, muss zunächst auf der Grundlage der gesammelten 37 griechischen Zeitungsberichte und Kritiken über die zwei Gastspiele von Luos Medea-Aufführung (1991 und 1998 in Delphi) untersucht werden, welchen Stellenwert die griechischen Tragödien heutzutage in Griechenland besitzen und auf welchen Kriterien diese Bewertung basiert bzw. welche Relevanz aus griechischer Sicht die chinesischen Theatertraditionen bei der Fusion mit griechischen Tragödien besitzen. Die konservativste Haltung vertritt in diesem Zusammenhang Perseus Athinaios, indem er behauptet, dass kein ausländisches Ensemble imstande sei, „das Mysterium des tragischen, altgriechischen Logos zu entschlüsseln“.84 Diese Ansicht wird zwar bei Matina Kaltaki relativiert, indem sie die griechischen Tragödien als „eine hochgeistige Schöpfung“ bezeichnet, der sich „sowohl die Griechen als auch die Ausländer schwer annähern können“,85 aber dennoch beurteilen damit beide Kritiker Luos Medea-Aufführung im Prinzip als zum Scheitern verurteilten „Annäherungsversuch“. Auch Kostas Georgoussopoulos betrachtet die Interpretation des antiken Dramas als „fruchtbares und unlösbares Problem“, aber er nennt zugleich drei asiatische Aufführungen  Yukio Ninagawas Medea, Tadashi Suzukis Troaden sowie Antigone des indischen Regisseurs Kavalam Narayana Panikkar  als gelungene Bespiele dafür, „szenisch die Tragödien mit traditionellen Kodizes und einer ständigen und ununterbrochenen Entwicklung zu übertragen“.86 Obwohl die drei Kritiker einen unterschiedlichen Grad an Akzeptanz gegenüber ausländischen Interpretationen zu erkennen geben, ist nicht zu übersehen, dass sie die griechischen Tragödien in den Rang einer Ikone erheben und ihre allgemeine Unzugänglichkeit in der Gegenwart die geistige Autorität Griechenlands hervorheben soll. Weiterhin geht aus den Kommentaren griechischer Kritiker hervor, dass die antiken Tragödien zur Konstruktion einer essentiellen Identität dienen, die sich in Form einer kollektiven Bewertungskompetenz ausländischer Interpretationen äußert. So bezeichnet

84 Athinaios, Perseus: „Medea von der chinesischen Oper“, in: Eleftheri Ora, 16.10.1998, übersetzt von Siouzouli, Natascha 85 Kaltaki, Matina: „,Drama‘ in Delphi“, in: Epeditis, 25-26.07.1998, übersetzt von Siouzouli, Natascha 86 Georgoussopoulos 1991, a.a.O.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? z.B. Elene Spandopoulos in ihrer Kritik über Ninagawas MedeaAufführung das griechische Publikum als „five thousand descendants of Euripides“, woran deutlich wird, dass sie alle Griechen als „Nachkommen“ des Euripides betrachtet, so dass der Schriftsteller in den Rang eines Stammvaters erhoben und damit nahezu vergöttlicht wird. Weiterhin geht hieraus hervor, dass demnach alle Griechen auf Grund dieser „Abstammung“ die Berechtigung besitzen, maßgebliche Urteile über die Aufführungen griechischer Tragödien von ausländischen Regisseuren fällen zu dürfen. Angesichts dessen gibt der Japaner Nobuo Miyashita Spandopoulos’ enthusiastische Formulierung wieder, die Aufführung „knocked the breath out of the Greeks“ und er führt weiter aus, „ [the Greeks] believe that they are qualified by natural law to have the orthodox interpretation of the Greek tragedies“.87 Hieraus ist ersichtlich, dass die japanische Seite gerade durch ein solches, „orthodoxes“ Urteil der Griechen große Anerkennung erfährt und folglich durch solche Kritiken beide Seiten aufgewertet werden. Dabei kann sich die Wirkung dieses Lobes jedoch nur dadurch voll entfalten, indem das heutige griechische Publikum mit dem der Antike gleichgesetzt wird, so dass hierdurch die Originalität des Werturteils gewahrt bleibt und somit die griechische Seite von solchen Aufführungen letztendlich mindestens ebenso stark profitiert. Die Interpretation antiker Dramen wird hierbei jedoch weniger zur Verknüpfung mit den gegenwärtigen kulturellen Phänomenen bzw. dem sozialen Kontext der jeweiligen Länder, sondern vielmehr als Annäherungsversuch an eine „werktreue“ Reproduktion der griechischen Tragödien bzw. Repräsentation des antiken griechischen Theaters aufgefasst. Unter dieser Bedingung wird die Interpretation antiker Dramen zu einem „unlösbaren“ Problem, da man heute sehr wenig Wissen über die Aufführungspraxis des antiken griechischen Theaters besitzt. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Schauspielkunst, aber auch der Geist des Dramentexts wird unterschiedlich verstanden und gedeutet. Dass der Anspruch nach „Werktreue“ dennoch zum einzigen Bewertungskriterium der Aufführungen erhoben wird, wirft eine weitere Frage auf, wie sich dieser mit der chinesischen Theatertradition vereinbaren lässt und weshalb dieses „unlösbare Problem“ dennoch „fruchtbar“ sein kann. Zweifelsohne geht der Erfolg von Luos Medea-Aufführung in Griechenland auf die traditionelle chinesische Schauspielkunst zurück. Insbesondere bei der Beurteilung der Medea-Schauspielerin Peng Hui-heng, die beim ersten Gastspiel 1991 erst zwanzig Jahre alt war, sind sich die griechischen Kritiken größtenteils einig. So

87 Nobuo, Miyashita: „Ninagawa Yukio, Theatrical Pacesetter“, in: Japan Quarterly 34, Nr. 4, Okt.-Dez. 1987, S. 401

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen lobt Thodoros Kritikos Pengs Bewegungen und strenge musikalische Deklamation, an die „niemals die späteren, sich in realistischen Bahnen bewegenden europäischen Schauspieler heranreichen können“.88 Mit großem Enthusiasmus schwärmt auch Kostas Georgoussopoulos, der renommierteste Theaterkritiker Griechenlands, von Pengs technischen Schauspielfähigkeiten, „deren Stimmumfang vielleicht größer als der von Maria Callas“ sei. Außerdem bezeichnet er ihr Schweigen als „erschütternd“, ihren Klagegesang (Threnos) als „hervorragend“ und die Mordszene, indem sie in die Operntradition eingegliedert ist, als „das Beste vom Besten“. Ferner bewundert er die Tänze des Chors und nennt die Kommoi (Totenklagen) „die beste Heldentat, die je in der Interpretation des antiken Dramas begangen wurde.“ Schließlich fordert er ausdrücklich: „Verpassen Sie nicht diese Vorstellung, wo immer Sie sie antreffen.“ 89 Auch Marika Thomadaki kommentiert anlässlich des zweiten Gastspiels 1998, dass Peng „der Rolle der furchtbaren Medea mit großer Empfindung und Virtuosität Größe, tiefe Gefühle und außergewöhnlichen Charme verleiht.“90 Ebenso wie Georgoussopoulos spricht sie von der kulturellen Übersetzung griechischer Tragödien in ein traditionelles, theatralisches Code-System. Dass „der Mythos Medeas nach der typischen, traditionellen chinesischen Gepflogenheit vollständig entwickelt wird“, sei „das Paradigma dafür, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit von zwei völlig unterschiedlichen Anschauungen über Theater und Spektakel möglich ist.“91 Obwohl Marika Thomadaki von „fruchtbarer Zusammenarbeit“ und von „unterschiedlichen Anschauungen“ spricht, geht sie ebenso wenig wie alle anderen Kritiker auf die kulturellen Differenzen hinsichtlich der Theater-Ästhetik und der damit verbundenen Weltsicht ein, die bei der Verwandlung von Euripides’ Medea als auch beim Einsatz des Chors signifikant sind. Vor allem Luos Integration des griechischen Chors in die Xiqu-Tradition erweist sich in der Tat beiderseits als fruchtbarer kultureller Austausch, da Luo damit ein neues Darstellungsmittel des Xiqu erschafft und zugleich die Funktion des griechischen Chors erweitert. Die Vernachlässigung dieser beiden Aspekte deutet demnach darauf hin, dass die Formulierung „fruchtbare Zusammenarbeit“ wenig auf die inhaltliche und ästhetische Ebene bezogen ist.

88 Kritikos 1991, a.a.O. 89 Georgoussopoulos 1991, a.a.O. 90 Thomadaki, Marika: „Chinesische Oper, ‚Hebei Bangzi‘, Euripides ‚Medea‘“, in: Rizospastis, 04.08.1998, übersetzt von Agrafiotis, Alexis 91 Ebd.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Im Folgenden möchte ich mich insbesondere auf die Kommentare der beiden Kritiker Thodoros Kritikos sowie Kostas Georgoussopoulos beziehen, da ihre Beurteilung der chinesischen MedeaAufführung unter allen anderen Kritiken am positivsten ausfielen und beide eine klare Haltung zu ihrer griechischen Identität einnehmen, die nachfolgend charakterisiert wird. So ist bei Thodoros Kritikos’ Bewunderung der chinesischen Schauspielkunst auffällig, dass er von „den späteren, sich in realistischen Bahnen bewegenden, europäischen Schauspielern“ spricht,92 womit er die realistischen Darstellungsmittel im Vergleich zur chinesischen Theatertradition als „später“ entwickelte Schauspielkunst darstellt, die er somit allein Europa zuschreibt. Anhand von Georgoussopoulos’ folgendem Kommentar zu den bereits zuvor erwähnten drei östlichen Medea-Aufführungen lässt sich erkennen, welche kulturelle Entwicklung den Schauspielkünsten Chinas und Europas zugeschrieben wird und in welcher Beziehung sie zu der griechischen Theatertradition stehen: „Die Ergebnisse waren überwältigend und belehrend für uns, die wir uns früh von den schauspielerischen Traditionen des Ostens, den unerschöpflichen Quellen der volkstümlichen Darstellungen sowie der orthodoxen Liturgie abgespalten haben, um uns den dynamischen westlichen Modellen zuzuwenden.“93

Diese von ihm beschriebene „Verwestlichung“ des Theaterbereichs trifft jedoch nicht nur auf Griechenland zu, sondern auch auf alle von ihm genannten asiatischen Länder, d.h. Japan, Indien und China. Trotz dieser gemeinsamen kulturellen Entwicklung lehnt er Luos „westliches Melodrama“ ab. Die Formulierungen „früh“ und „später“ verweisen dabei auf eine zeitliche Aufteilung, welche ermöglicht, dass Exklusion durch Inklusion stattfinden kann: So sollen die schauspielerischen Traditionen des Ostens die Vergangenheit Griechenlands verkörpern, während die Gegenwart Griechenlands auf Grund der fehlenden Kontinuität der Tradition dem „modernen“ und „dynamischen“ Westen zugeordnet wird. Dass Tradition für ihn eine „ständige und ununterbrochene Entwicklung“ darstellt, bezieht sich insofern nicht auf die Durchlässigkeit zwischen Tradition und Modernität, sondern auf die Durchlässigkeit zwischen östlicher Tradition und antikem griechischem Theater. Damit wird Tradition zwar nicht wie bei Marx und Weber in Bezug auf die östlichen Kulturen als „statisch“ betrachtet, aber sie werden dement-

92 Kritikos 1991, a.a.O. 93 Georgoussopoulos 1991, a.a.O.

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen sprechend als archaisch definiert und mit dem (griechischen) Altertum gleichgesetzt. Dieser Vorgang der gleichzeitigen kulturellen Aneignung und Ausgrenzung verdeutlicht sich insbesondere bei der Kritik von Thodoros Kritikos. So bestehen für ihn Gemeinsamkeiten zwischen der chinesischen Oper und dem antiken griechischen Theater in einer „strengen Stilisierung der Schauspielkunst“ sowie „der nicht psychologisierenden und nicht realistischen Grundlage der körperlichen Bewegung und der Deklamation der Schauspieler sowie in der Kreuzung lyrischer und theatralischer Elemente“. Andererseits sollen sich für Kritikos die beiden Theatertraditionen hinsichtlich der „epischen“ Erzählung der Handlung und der „akrobatischen und spektakulären Elemente“ unterscheiden, welche die ersten drei Akte der Aufführung bilden. Aus welchen Quellen die detaillierten Kenntnisse Kritikos’ über die antike Schauspielkunst stammen sollen, ist jedoch unklar: So ist nach Angaben des britischen Altphilologen Simon Goldhill über die Schauspielkunst bei den Aufführungen griechischer Tragödien in der Antike nahezu nichts bekannt, da kaum Texte erhalten sind, die Auskünfte über Bühnenanweisungen geben, wobei sich die wenigen erhaltenen Texte fast ausschließlich auf den Einsatz von Geräuschen außerhalb der Bühne beziehen. Es ist immer noch umstritten, ob sich die Vasenmalereien, die keine praktische Funktion hatten, sondern als Grabbeigaben dienten, auf die realen antiken Aufführungen bezogen. 94 Auch was die Musik und tänzerischen Darbietungen betrifft, die einen wesentlichen Bestandteil griechischer Tragödien darstellten, gibt es, mit Ausnahme des soziologischen Verständnisses über ihre Rolle in der antiken griechischen Gesellschaft, praktisch keine genaueren Kenntnisse darüber, wie zu jener Zeit tatsächlich die Musik geklungen oder die tänzerischen Bewegungen ausgesehen haben könnten.95 Diese von Kritikos artikulierten Gemeinsamkeiten zwischen der traditionellen chinesischen Schauspielkunst und dem antiken griechischen Theater müssen daher als unbewiesene Behauptungen ohne jegliche faktische Grundlage aufgefasst werden. Angesichts der Hinzufügung der ersten drei bei Euripides nicht vorhandenen Akte, übt er Kritik an Luo, indem er behauptet, dass dieser das „Werk des Euripides so sehr bearbeitet habe, dass sein Autor es schwer erkennen könnte.“96

94 Taplin, „Greek with consequence... “, a.a.O. 95 Goldhill, Simon: „Modern critical approaches to Greek tragedy“, in: Easterling, P.E. (Hg.): The Cambridge companion to Greek tragedy, Cambridge 1997, S. 337 96 Kritikos 1991, a.a.O.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Es ist bezeichnend, dass die Handlung erst ab dem vierten Akt von Thodoros Kritikos gewürdigt wird, als sie an Euripides anknüpft: „Wenn die Handlung nach Korinth verlegt wird, erscheint die Amme, um mit einer neuen, texttreueren Erzählweise der antiken Tragödie zu beginnen. Man könnte sagen, dass die chinesischen Künstler ab diesem Moment in der Lage sind, dem Geist der antiken Aufführung [im Sinne der Darstellung] treu zu folgen, sicher treuer als Aufführungen mit europäischen Orientierungen.97

Dabei kann eigentlich von „Texttreue“ keine Rede sein, da der gesamte Text auf Grund der Musikkomposition neu geschrieben wurde und Euripides’ Text dabei nur als Vorlage diente. Selbst der vierte und fünfte Akt, die stärker an Euripides’ Medea anknüpfen, werden auf der Grundlage des Konfuzianismus abgewandelt, was sowohl beim Konflikt zwischen Medea und Jason als auch beim moralischen Urteil des Chors sowie der Legitimation der Rache ersichtlich ist. So wurde die Aufführung, wie bereits in der Darstellung der chinesischen Rezeption beschrieben, auch gerade deswegen in China einhellig dafür kritisiert, dass sie eine Abkehr vom Original darstelle und daher nicht werktreu sei.98 Offensichtlich hat auch Thodoros Kritikos erkannt, dass Luos Adaption eine neue Interpretation darstellt, die eindeutig von Euripides’ Medea abweicht, so dass er nicht von „Werktreue“ oder „Texttreue“ spricht. Stattdessen verwendet er jedoch den Begriff „Geisttreue“, um der Aufführung damit eine Übereinstimmung mit Euripides’ Gesinnung zu attestieren, ohne diese Ansicht allerdings argumentativ zu begründen. Auf Grund dieses Anspruches nach Originaltreue beinhaltet seine Kritik kein ethisches oder ästhetisches Urteil, sondern erscheint vielmehr als eine institutionelle Beglaubigung der Authentizität. Demnach tilgt seine leichtfertige Anerkennung der „Geisttreue“ die kulturelle Differenz, wodurch die neue Interpretation anstatt als eigenständiger künstlerischer und kultureller Ausdruck als „authentische“ Repräsentation von Euripides’ „Geist“ aufgefasst wird. Dies verdeutlicht sich umso mehr bei diesem weiteren Kommentar: „Die Hauptdarsteller des Ensembles entwickelten ihre unpsychologisierenden Gesten und ihre falsettierenden Kehllaute mit einer solchen Lockerheit und Leichtigkeit, dass uns geholfen wird, eine entsprechende, annähernde Vorstellung der heute verlorenen interpretatorischen Kunst des Altertums zu bekommen.“99

97 Kritikos 1991, a.a.O. 98 Sun 1995, S. 33ff 99 Kritikos 1991, a.a.O.

274

Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Hieran ist zu erkennen, dass er einen bestimmten Teil der chinesischen Theatertradition isoliert, diesen hoch bewertet und zugleich dem antiken griechischen Theater zuschreibt. Durch diese Aneignung wird eine antike Schauspieltradition konstruiert, die auf Grund der Unwissenheit über die Schauspielkunst des Altertums nicht belegt bzw. auch nicht widerlegt werden kann. Die traditionelle chinesische Schauspielkunst dient hier somit nicht nur der Erfindung einer schauspielerischen „griechischen“ Tradition, sondern auch dazu, die griechische Tragödie wieder zu beleben. Die Funktion der Fusion beider Theatertraditionen kristallisiert sich letztlich heraus, als er seinen politischen Standpunkt artikuliert: „Ideologisch hege ich keine große Sympathie für das Ziel der Theatergruppe, die Hebei Bangzi-Oper wieder zu beleben, deren weitreichenden kulturellen Errungenschaften in China schon seit einigen Jahrzehnten untergegangen sind. Ich empfinde aber gegenüber den asiatischen Künstlern Dankbarkeit, dass sie uns auch für einen kurzen Augenblick geholfen haben, unsere modernen westeuropäischen Vorurteile zu überwinden, um das Theater des Euripides mit Hilfe eines Prismas, als eine ihm verwandte, in Teilen nicht-realistische Kunst, zu sehen.“100

Daraus geht hervor, dass für Kritikos die Wiederbelebung der chinesischen Theatertradition nicht nur irrelevant, sondern auch nicht zeitgemäß ist, indem er argumentiert, dass sie „schon seit einigen Jahrzehnten untergegangen“ sei. Unklar ist hierbei jedoch, wie auf dieser Argumentationsebene die „Wiederbelebung“ der griechischen Tragödie gerechtfertigt werden kann, die sogar über ein ganzes Jahrtausend lang nicht mehr aufgeführt wurde und nur noch in literarischer Form existierte. Dass die erstmaligen Aufführungen griechischer Tragödien in der Neuzeit auch nicht in Griechenland stattfanden,101 spricht dafür, dass das Interesse an einer Wiederbelebung gerade im Ursprungsland geringer sein musste als andernorts, was die tiefe Kluft zwischen griechischer Geschichte und Gegenwart demonstriert. Jedenfalls ist aufgrund seiner Argumentation nicht nachvollziehbar, weshalb im Fall der griechischen Tragödie eine Wiederbelebung aus heutiger Sicht sinnvoller sei als etwa eine Fortsetzung der Hebei Bangzi-Oper, zumal deren Tradition entgegen 100

Kritikos 1991, a.a.O.

101

Die Theateraufführungen griechischer Tragödien wurden offiziell 568 in Rom und 692 in Byzanz beendet. Die erste Adaption einer griechischen Tragödie auf einer europäischen Bühne der Neuzeit war 1585 die Aufführung Oedipus Rex in Vicenza (Italien). Siehe: Stehlíková, Eva: „The History of Performances in Europe“, in: Epidauros Intensive Course of the Study and Performance of Ancient Greek Drama, Epidauros 2006, S. 107ff

275

Westlicher Geist im östlichen Körper? Kritikos’ Behauptung nicht unterbrochen wurde und er durchaus deren „weitreichende kulturelle Errungenschaften“ anerkennt. Außerdem betrachtet Kritikos Luos Medea-Aufführung weder als eine Weiterentwicklung der chinesischen Tradition, die in der heutigen Zeit eine kulturelle und soziale Relevanz besitzen könnte, noch fasst er sie als ästhetische oder strukturelle Erweiterung des antiken griechischen Theaters auf. Durch diese selektive Aneignung der chinesischen Theatertradition geht es ihm offenbar nur um eine Vervollständigung des antiken griechischen Theaters, dem es an der Schauspielkunst fehlt, um eine griechische Erinnerung an das Altertum zu konstruieren. Doch selbst bei der Gleichsetzung mit der chinesischen Theatertradition wird hierdurch eine Hierarchie gebildet: Indem die kulturelle Transformation verleugnet wird, stellt die Aufführung eine hybride Form dar, wonach die chinesische Schauspielkunst den Körper und die griechische Tragödie den Geist darstellt, so dass die „fruchtbare“ Zusammenarbeit auf einer ungleichen Basis erfolgt, indem der Geist über den Körper herrscht. Da Kritikos von „unseren modernen, westeuropäischen Vorurteilen“ spricht und seine Danksagung anstatt an die „chinesischen“, an die asiatischen Künstler adressiert, ordnet er in Übereinstimmung mit Georgoussopoulos’ Formulierung von den „dynamischen westlichen Modellen“ das heutige Griechenland dem modernen Westeuropa zu, wohingegen China dem traditionellen Osten zugerechnet und damit wiederum von Griechenland ausgegrenzt wird. Seine Anerkennung der chinesischen Schauspielkunst stützt sich somit auf die antagonistische Struktur zwischen Tradition und Modernität, welche ebenfalls mit der im 19. Jh. hergestellten Dichotomie zwischen Ost und West übereinstimmt. Obwohl Griechenland nicht zu den ehemaligen imperialistischen Mächten des Westens gehört, lehnt sich Kritikos an die kulturellen Hierarchie-Modelle aus der Kolonialzeit an und rechnet Griechenland wie selbstverständlich Westeuropa zu, um das heutige Griechenland damit kulturell aufzuwerten. Zwar gilt die antike griechische Kultur seit dem 19. Jh. als Ursprung der westlichen Zivilisation,102 jedoch wird die Kultur des heutigen Griechenlands mitunter nicht primär als „westlich“, sondern als „orthodox“ charakterisiert. 103 Außerdem wurde Griechenland in der Antike stark vom Alten Ägypten beeinflusst und stand zwischen 1453 bis 1830 unter Kontrolle des Osmanischen

102

Vgl. Bernal, Martin: Schwarze Athene: die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike; wie das klassische Griechenland „erfunden“ wurde, München 1992, S. 70ff

103

Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (Originaltitel: The Clash of Civilizations), München 1998, S. 246ff

276

Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Reichs.104 So stammen viele Griechen aus heute zur Türkei gehörenden Gebieten, wie z.B. Theodoros Terzopoulos.105 Solche nicht zu leugnenden geographischen und kulturellen Überschneidungen entlarven nicht nur die Absurdität einer Gleichsetzung von nationalen, kulturellen und sprachlichen Grenzen, so dass auch eine ausschließliche Zurechnung des gegenwärtigen Griechenlands zur westlichen und Chinas zur östlichen Kultur sowie der damit einhergehenden Entsprechung der Dichotomien „West  Ost“ und „modern  traditionell“ sowie entsprechenden Hierarchie, kaum aufrechtzuerhalten ist. Nichtsdestotrotz wird auch bei Georgoussopoulos ein solches Hierarchiemodell deutlich. Obwohl er nicht von „Werktreue“ oder „Geisttreue“ spricht, lobt er jedoch die Medea-Aufführung in Verbindung mit dem griechischen Begriff Methexis, dessen Bedeutung in diesem Zusammenhang relevant ist: „Luo gestaltet die Bühne gemäß seiner Tradition: rechts das Orchester, links der Chor. Die Entsprechungen in der Ausführung der Lieder zwischen Orchester und Schauspielern war eine großartige Lehrstunde geistiger Methexis.“106 Dieser Terminus lässt sich auf die Ideenlehre Platons (427347 v.Chr.) zurückführen und bezeichnet dabei die Teilhabe bzw. Verbindung zwischen der Welt der Sinne und der Welt der Ideen. Unter einer „Idee“ bzw. „Form“ (griech. eidos) verstand Platon Urbilder der Realität, die objektiv bzw. unabhängig von menschlicher Kenntnisnahme oder Gedankenwelt existieren. Eine Idee entstammt nach ihm einem Reich immaterieller, ewiger und unveränderlicher Wesenheiten, nach denen die Gegenstände der sichtbaren Welt geformt sind. Zur Interpretation der Urbilder formulierte Platon die Zwei Welten-Theorie, wonach er davon ausging, dass die Welt der unveränderlichen Ideen der Welt des Vergänglichen bzw. des Körperlichen übergeordnet ist, sowohl ethisch als auch ontologisch. Denn die Welt des Körperlichen hat ihr Sein nur in der Teilhabe (Methexis) oder Nachahmung (Mimesis) der eigentlich seienden Welt der Ideen.107 Indem Georgoussopoulos den Begriff Methexis für die Würdigung gegenüber Luos Medea-Aufführung verwendet, stellt er eine fragwürdige Analogie zu Platons Zwei-Welten-Theorie her, wonach Euripides der Welt der Ideen zugeordnet wird, obwohl sich diese nach Platon in keiner Weise auf von Menschen geschaffene

104

Vgl. Bernal 1992, S. 62 und Eichheim, Hubert: Griechenland, München

105

1999, S. 112 Im Interview mit Theodoros Terzopoulos weist er selbst auf seine Herkunft aus Anatolien (Kleinasien) hin.

106 107

Georgoussopoulos 1991, a.a.O. Kunzmann, Peter/Burkard, Franz-Peter/Wiedmann, Franz: dtv-Atlas zur Philosophie, München 1991, S. 39

277

Westlicher Geist im östlichen Körper? Ideen, sondern nur auf die metaphysische Dimension bezieht. 108 Georgoussopoulos reduziert somit die chinesische Medea auf die Musik und die Schauspielkunst. Durch ihre „Teilhabe“ am Geist des Euripides wird sie zur Welt des Vergänglichen bzw. des Körperlichen degradiert, die ihr Dasein nur in dieser untergeordneten Position behaupten kann. Auch wenn er Luos Aufführung mit großem Enthusiasmus Lob und Anerkennung schenkt, besitzt für Georgoussopoulos die chinesische Medea keinen eigenständigen Geist, da dieser nach seiner Auffassung ausschließlich Euripides vorbehalten ist. Bei Georgoussopoulos’ Rezeption handelt es sich somit weniger um das Ergebnis eines kulturellen Missverständnisses, sondern es zeichnet sich in Verbindung mit Kritikos’ Kritik durch die in der Rhetorik verborgene Kategorisierung vielmehr die Bildung einer hierarchischen Struktur ab. Während Luo Jin-lin selbst seine Medea als Ergebnis der „Verschmelzung von chinesischen und westlichen Kulturen“ betrachtet, verweisen die beiden griechischen Artikel darauf, dass die konstruierte Verbindung der beiden Theatergenres die bestehenden kulturellen Unterschiede nur kaschieren und außerdem mit ihrer vordergründigen Würdigung der chinesischen Medea-Aufführung nur über ihre eigentlichen Autoritätsansprüche hinweg täuschen, die sie als Griechen für die Beurteilung einer griechischen Tragöde erheben. Hieraus ergibt sich, dass die Anerkennung bzw. der internationale Erfolg nicht zwangsläufig Ausdruck eines gleichberechtigten kulturellen Austausches bzw. einer kulturellen Verständigung sein muss. Nun stellt sich die Frage, ob die Auffassungen der beiden Kritiker tatsächlich repräsentativ für die griechische Rezeption sind, oder ob es sich hierbei nur um vereinzelte Sichtweisen handelt. Zur Klärung dieser Frage soll daher nachfolgend noch die Haltung dieser Kritiker mit der Kulturpolitik in Beziehung gesetzt werden, um hierbei mögliche Anknüpfungspunkte bei den Festival-Veranstaltern zu finden. Diese Frage ist insofern relevant, als Luos Konzept für die Medea-Aufführung von griechischer Seite institutionell unterstützt wurde und er ebenfalls eine weitere griechische Tragödie in der Hebei Bangzi-Opernform inszenierte. So stellte die Aufführung Theben Stadt aus dem Jahre 2002 (basierend auf Aischylos’ Sieben gegen Theben und Sophokles’ Antigone) eine Auftragsarbeit aus Anlass der Cultural Olympiad dar und nahm am 11th International Meeting of Ancient Greek Drama teil. Das Komitee des Festivals (European Culture Centre of Delphi) soll dabei „vollstes Vertrauen“ zu Luo gehabt haben, so dass es keine Notwendigkeit sah, die Aufführung vorher

108

Brakas, George: Aristotle’s Concept of the Universal, Zürich/New York 1988, S. 110

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen zu begutachten. Dennoch erhob es anschließend Einwände gegen Luos ursprüngliches Vorhaben der Integration moderner Elemente und es beanspruchte stattdessen einen möglichst „reinen“ chinesischen Stil.109 Es ist offensichtlich, dass diesem Verlangen keine Beurteilung der ästhetischen Qualität vorausgegangen ist, da ansonsten ein Besuch der Aufführung unerlässlich gewesen wäre. Die Ablehnung der modernen Elemente sowie der Anspruch nach „Reinheit“ der Kultur verdeutlichen, dass sich das Komitee ebenso wie die beiden griechischen Kritiker Kritikos und Georgoussopoulos auf die binäre Struktur zwischen Tradition und Modernität stützt. Es handelt sich somit ebenso wie bei der Medea-Aufführung um das Konzept, den Festival-Zuschauern eine „authentische Tradition“ zu präsentieren. Dieses Konzept entspricht somit dem allgemeinen Bedürfnis der westlichen Länder, vor allem Nordamerikas und Westeuropas, nach dem „echten“ Fremden und der „reinen“ Tradition, wie in Kapitel I.1.3. dargelegt wurde. Anhand der Grenzziehung zwischen Tradition und Modernität verdeutlicht sich, dass Tradition trotz der Aufwertung und Kombination mit der griechischen Tragödie nicht wie in der ursprünglichen Bedeutung als „Weitergeben“ aufgefasst, sondern als Synonym für das in den Augen westlicher Betrachter „Zurückgebliebene“ und „Primitive“ verwendet wird. Durch die Wiederherstellung der „authentischen Tradition“ soll demnach offenbar der Versuch unternommen werden, die Zeit zurückzudrehen, so als ob in den nicht-westlichen Ländern nie ein Modernisierungsprozess stattgefunden hätte. Die Bevormundung des Festival-Komitees zeigt, dass das Plädieren für eine Rückbesinnung auf die Tradition weder dem Interesse zur Bewahrung bzw. Weiterentwicklung von Luos Tradition entstammt noch auf einem gleichberechtigten Status des kulturellen Austausches beruht. Stattdessen ist festzustellen, dass das marktwirtschaftliche Interesse Hand in Hand mit der kulturpolitischen Strategie Griechenlands geht. Denn im Vergleich zu seinem „westlichen Melodrama“ schafft es Luo Jin-lin nach dem Konzept der „authentischen“ Tradition in der Tat, sich von den griechischen, „dynamischen westlichen Modellen“ sowie anderen asiatischen Interpretationen antiker griechischer Dramen wie zum Beispiel Japans, Indiens usw. auszudifferenzieren, wodurch das Festival Vielfalt her109

Jia-wei: „Tanfang gu Xila xiju: fang ‚Tebai cheng‘ daoyan Luo Jin-lin“ („Besuch des antiken griechischen Theaters: Interview mit dem Regisseur Luo Jin-lin aus Anlass seiner neuen Inszenierung ,Theben Stadt‘“), in: Beijing ribao (Pekinger Tageszeitung), 20.4.2002. Dementsprechend offenbarte mir Regisseur Luo Jin-lin persönlich im Interview, dass sein Konzept für die Inszenierung griechischer Tragödien durch die Vorschläge aus der Diskussionsrunde des International Meeting of Ancient Greek Drama entstanden ist.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? vorbringt und zugleich die Bedürfnisse der westlichen Zuschauer befriedigt. Auf kulturpolitischer Ebene kann dieses Konzept, auf das sich die beiden griechischen Kritiker bezogen, dazu dienen, die kulturelle Identität Griechenlands zu konstruieren und China bzw. ganz Asien zu einem traditionellen, archaischen und damit letztlich „primitiven Kulturkreis“ zu degradieren. Dennoch wirft dies eine Reihe von Fragen auf: Wenn es sich tatsächlich um das Bedürfnis nach einer „authentischen“ und „reinen“ Tradition handeln soll, ist immer noch unklar, wieso die chinesische Theatertradition trotzdem mit der griechischen Tragödie kombiniert werden soll und warum insbesondere mit ihr? Wenn es nur darum ginge, die kulturelle Identität Griechenlands zu konstruieren, ist fraglich, warum es aus Sicht des Festival-Komitees geboten war, die Initiative zu ergreifen und Luos Entwicklung der Inszenierung griechischer Tragödien zu begleiten und über sein Konzept zu bestimmen. Wenn die griechischen Tragödien nach Ansicht der griechischen Kritiker als hochgeistige Werke unnahbar sind, wieso setzt sich dann das Festival dennoch so sehr dafür ein, verschiedene ausländische Aufführungen einzuladen? All dies deutet darauf hin, dass die für die Kombination von griechischen Tragödien und östlichen Theatertraditionen angegebenen Beweggründe in Form eines gleichberechtigten kulturellen Austauschs nicht stichhaltig sind und vielmehr der Status der griechischen Tragödie im Vordergrund des Interesses der FestivalVeranstalter und griechischen Kritiker steht. Dabei bemüht man sich offenbar, das griechische Interesse nicht allzu deutlich in den Vordergrund treten zu lassen, indem z.B. Georgoussopoulos Luo Jin-lins neuen Weg als eine „Lehre“ für die Griechen bezeichnet, wodurch er die chinesische Seite aufwertet und eine Gleichberechtigung dieser Kooperation suggeriert. Jedoch verweist die offizielle Danksagung Luos gegenüber dem European Cultural Centre of Delphi im Jahre 2004 sehr aufschlussreich darauf, dass Luo seinerseits ebenfalls eine wichtige „Lehre“ von griechischer Seite erteilt bekommen hat: „Die ,Medea‘-Aufführung verschmilzt zwei verschiedene Kulturen. Sie bringt mich zu der Erkenntnis, wie ich als Chinese mit eigener Sprache die selbe Thematik interpretiere, die über zweitausend Jahre von verschiedenen Künstlern aus der ganzen Welt interpretiert wurde, um sie zu erneuern. [...] Ihr Erfolg in Delphi und den drei Kontinenten Europa, Amerika und Asien ist kein Zufall. Sie beweist noch einmal, dass die griechische Tragödie ,shijie xin‘ [weltweit verbreitet] ist. Gleichzeitig beweist sie auch, dass das chinesische Xiqu ,shijie xin‘ [weltweit verstanden] wird. Kunst ist letztlich grenzenlos. Hierfür hat das

280

Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen European Cultural Centre of Delphi große Verdienste im Rahmen des kulturellen Austausches geleistet.“110

In Anbetracht von Luo Jin-lins Werdegang bezieht sich die Formulierung „mit eigener Sprache“ hierbei offensichtlich weniger auf seinen persönlichen künstlerischen Stil, als vielmehr auf die einzelnen Kulturen und Traditionen. Aus seiner gewonnenen „Erkenntnis“ geht daher hervor, dass das vorrangige Interesse des European Cultural Centre of Delphi darin besteht, dass Künstler aus aller Welt mit ihrer eigenen Sprache und Kulturtradition die griechischen Tragödien adaptieren sollen, wobei jedoch diese Institution darüber entscheidet, was unter „eigener Sprache“ zu verstehen ist und somit über die Art und Weise des Kulturaustausches maßgeblich bestimmt. Auf diese Weise wird eine deutliche Überschneidung zwischen den Interessen des European Cultural Centre of Delphi und der Argumentation Kritikos’ erkennbar, indem sich ein klares Bild davon abzeichnet, was letztendlich mit einem solchen Konzept erreicht werden soll. So sieht Kritikos in der Aufführung desselben Textes durch verschiedene Theatergruppen den Beweis dafür, „dass die griechische Tragödie eine große Spanne an Möglichkeiten offeriert und dass sie außerordentlich vieldimensional ist“, womit er eindeutig auf den Aspekt der Universalität verweist, wie bereits der Titel seiner Kritik „Das Universelle der Tragödie“ zu erkennen gibt.111 In Übereinstimmung hiermit bringt Luo Jin-lin selbst ebenfalls seine Anerkennung des universellen Charakters der griechischen Tragödie zum Ausdruck, indem er deren Rezeptionsgeschichte euphemistisch als eine seit 2000 Jahren bestehende Kontinuität an Adaptionen ausgibt. Da der Erfolg seiner Medea-Aufführung aber nicht auf „Zufall“ beruht, sondern mit tatkräftiger „Unterstützung“ des European Cultural Centre of Delphi zustande gekommen ist, lässt sich daraus schließen, dass sich das von ihm als „Beweis“ dargestellte Resultat der Aufführung letztendlich als Symbiose der

110

Luo, Jin-lin: „Deerfei Ouzhou wenhua zhongxin yu Xila xiju zai Zhongguo“ (European Cultural Centre of Delphi und das griechische Theater in China), Luos Vortrag bei der Konferenz des European Cultural Centre of Delphi im Jahre 2004 (unveröffentlichter Aufsatz Luo Jin-lins). Anmerkung: Der chinesische Begriff shijie xin bedeutet wörtlich übersetzt weltweiter Charakter und wird oft undifferenziert auch für westliche Begriffe wie universell, international und kosmopolitisch verwendet. Da der chinesische Begriff nicht näher definiert ist bzw. seine Bedeutung mit keinem dieser westlichen Begriffe identisch ist und Überinterpretationen

111

vermieden werden sollen, wird er in diesem Zusammenhang mit weltweit verbreitet bzw. weltweit verstanden übersetzt. Kritikos 1991, a.a.O.

281

Westlicher Geist im östlichen Körper? beiderseitigen kulturpolitische Interessen entpuppt. Während sich somit das European Cultural Centre of Delphi bei der Verfolgung dieses Ziels das Xiqu zunutze macht, um die griechische Tragödie zu universalisieren, soll umgekehrt das Xiqu mit Hilfe der griechischen Tragödie weltweit bekannt gemacht und aufgewertet werden, weshalb dieses Konzept von Luo Jin-lin und von der chinesischen Seite im Allgemeinen befürwortet wird. Obwohl sich die beiden Faktoren – griechische Tragödie und Xiqu – bei dieser Fusion gegenseitig begünstigen, ist zu erkennen, dass das Xiqu bei seinem Erscheinen auf der Weltbühne auf Grund des westlichen Universalitätsanspruchs der griechischen Tragödie untergeordnet wird. Es lässt sich daher zusammenfassen, dass die „Lehre“ bzw. „Erkenntnis“, die Luo von griechischer Seite erhalten hat, darin besteht, diejenige Sprache zu wählen, die dem Anschein, sowohl zur Wiederbelebung der griechischen Tragödie als auch ihrer Universalität dient. So soll nachfolgend untersucht werden, warum beide Aspekte der griechischen Tragödie gerade in heutiger Zeit so bedeutsam sind, inwiefern speziell die Kombination mit östlichen Theatertraditionen hierbei unabdingbar ist sowie durch welche Personen, Institutionen oder Staaten und politischen Prozesse diese Fusionierung vorangetrieben wird.

282

III.2 GRIECHISCHE TRAGÖDIEN ALS „UNIVERSELLER“ WESTLICHER KANON Die Adaption griechischer Tragödien in östlichen Theatertraditionen, sei es in Form des Hybriditätskonzepts wie bei Lin Xiu-wei und Yukio Ninagawa oder nach dem Authentizitäts-Konzept wie bei Luo Jin-lin, ist in erster Linie auf den Auftritt bei den internationalen Theaterfestivals in Europa und Nordamerika ausgerichtet. Auch wenn Luo Jinlin unter Berücksichtigung der chinesischen Zuschauer Euripides’ Medea in einen chinesischen Kultur-Kontext integriert hat, ist die Fusion seiner Medea-Aufführung weder hinsichtlich ihrer Form noch ihrer Thematik nach durch die Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen sozialen Problematik des Inlands entstanden. Aus den unterschiedlichen Rezeptionen zu Luos Medea-Aufführung in Griechenland und China geht eindeutig hervor, dass bei dieser Art der Fusion die Initiative von griechischer Seite ausging. Darüber hinaus verweisen die taiwanesischen Berichte über die Kommentare von Ninagawas Produzent Tadao Nakane und die zahlreichen Besuche von Festival-Managern aus Europa und den USA darauf, dass sich das Interesse an einer exotisierten, hybriden Theaterform zudem nicht allein auf Griechenland beschränkt. Daher muss weiter untersucht werden, wer aus den westlichen Ländern für die Kombination von griechischer Tragödie und östlichen Theatertraditionen plädiert, welche Zielsetzung und welches Konzept dabei verfolgt und inwiefern beides jeweils umgesetzt wird.

III.2.1 Wiederbelebung des antiken Theaters durch östliche Theatertraditionen Bei ihren Nachforschungen zum Thema Fusion of Greek Drama and Chinese Performing Arts bezeichnet Sallie Goetsch, eine amerikanische Wissenschaftlerin und Redakteurin der Fachzeitschrift Didaskalia, die taiwanesische Aufführung Loulan Nü als „einzige bemer283

Westlicher Geist im östlichen Körper?

kenswerte Ausnahme vom ansonsten unausgeschöpften, inhärenten Potential für die Adaption in der Peking-Operform“. Dabei ist unverständlich, weshalb sie Luo Jin-lins Medea-Adaption nicht erwähnt, obwohl dessen Aufführung international viel mehr Beachtung gefunden hat und Loulan Nü noch nie in den USA oder in Europa zu Gast war. Indem sie die Huaju-Form ausklammert, ist zu erkennen, dass sie sich mit dem Begriff „Chinese Performing Arts“ aus nicht näher erläuterten Gründen ausschließlich auf das traditionelle chinesische Theater bezieht. Dass die Peking-Oper „inhärentes Potential“ für die Adaption der griechischen Tragödie besitzt, soll ihr zufolge daran liegen, dass sie eine Kunstform der „Kombination von Musik, Tanz, Theater und Kampfkünsten“ sei. Daher vertritt sie die Meinung, dass keine Schwierigkeiten für eine solche Fusion bestünden: „Specialists in Chinese theater put forward a number of suggestions as to why Chinese adaptations of Greek plays were so rare, [...] Greek tragedy is no more difficult to adapt to the Beijing Opera form than is Shakespearean tragedy--with the caveat that more librettists in China read English than Greek. The area is ripe for research and experimentation, but the impulse may have to come from the West.“112

Somit berücksichtigt sie nicht weiter, ob die griechische Tragödie hinsichtlich ihrer Ästhetik, Kultur, Religion und Ethik mit der Peking-Oper in Einklang gebracht werden kann. Stattdessen behauptet sie, diese beiden Theaterformen seien angesichts der äußerlichen Kunstform kompatibel. Ihre Hinweise auf die Seltenheit der chinesischen Adaptionen der griechischen Tragödie und der ihrer Ansicht nach notgedrungene Impuls des Westens zeigen, dass der Westen ein größeres Interesse an dieser Fusion hat als die chinesische Seite. Dabei erklärt sie allerdings nicht näher, was sie unter dem „Westen“ versteht und warum sich abzeichne, dass die Zeit „reif“ für diese Kombination sei. Weshalb sich der Westen dafür einsetzen soll, erläutert sie in ihrem Vorschlag: „The variety of Greek-Asian performances which have already been attempted is impressive, but the potential for fusions of Greek and Asian dramatic forms is by no means exhausted. Some of the dances of China, Tibet, and Bali, which incorporate elaborate animal costumes and long streamers of silk, suggest means by which the animal choruses of Greek Old Comedy or the flying Oceanids of Aeschylus’ Prometheus Bound might be brought to life without making

112

Goetsch, Sallie: „Features: Fusing Greek and Asian Drama: Lighting a Fuse“, in: Didaskalia, Vol. 1, Issue 4, Oktober 1994, Siehe: http://www. didaskalia.net/issues/vol1no4/goetsch.html [Stand: 08.07.2007]

284

Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen use of twentieth-century technology. The success of the combinations of Greek and Asian dramatic forms which have so far been presented is an incentive for future collaborations and experiments to bring ancient theater to life.“113

Hieraus geht hervor, dass sie die mit den traditionellen östlichen Künsten verbundenen Weltanschauungen hinsichtlich Ethik und Religion ignoriert und ausschließlich ihrer äußerlichen Form entnimmt, ob eine Fusion möglich und sinnvoll ist, so als ob die kulturellen Barrieren nur hinsichtlich der Sprache bestünden und keinerlei kulturelle Differenzen zwischen antiken europäischen und asiatischen Kulturen existierten. Die inhaltliche Transformation der antiken Dramen in einen gegenwärtigen kulturellen und sozialen Kontext hat daher für sie bei der Fusion offenbar eine wesentlich geringere Relevanz als etwa das Vermeiden moderner Technik. So deuten die Formulierungen „animal costumes“ und „without making use of twentieth-century technology“ darauf hin, dass sie China, Tibet und Bali mit traditionellen, archaischen und primitiven Kulturen gleichsetzt. Ihre Äußerung weist somit deutliche Parallelen zur Rezeption des griechischen Kritikers Thodoros Kritikos auf, der durch die Gleichsetzung des Xiqu mit dem Altertum China zu einer archaischen Kultur degradiert und in Anlehnung an die Dichotomie zwischen Tradition und Modernität, Asien vom „modernen Griechenland“ und „Westen“ ausgrenzt. Überdies fehlen bei ihren Ausführungen jegliche Überlegungen dahingehend, was die antiken Dramen ihrerseits zur Kultur der von ihr erwähnten asiatischen Länder beitragen könnten und ob die griechischen Tragödien für diese überhaupt zugänglich oder erwünscht sind, sondern es geht ihr offenbar ausschließlich darum, das antike griechische Theater durch die Einverleibung der östlichen Theatertraditionen wieder zu beleben. Es stellt sich die Frage, wieso sie als US-Amerikanerin in ihrer Zielsetzung mit derjenigen der Griechen übereinstimmt, nämlich eine Wiederbelebung der griechischen Tragödie zu ermöglichen. Dabei ist unklar, wieso dieses Ziel unbedingt mit Hilfe der östlichen Theatertraditionen erlangt werden soll, welchen Status und Stellenwert die griechische Tragödie in den USA besitzt und welche kulturpolitischen Interessen diese Kombination implizieren könnte. Um auf diese Fragen antworten zu können, muss auf die politischen Überlegungen der amerikanischen Altphilologin Marianne McDonald über die Konstitution der griechischen Tragödie als universeller Kanon eingegangen werden.

113

Goetsch 1994, a.a.O.

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

III.2.2 Politische Aspekte der Konstitution eines universellen Kanons Bei ihrer Untersuchung von fünf Adaptionen griechischer Tragödien zeitgenössischer Regisseure – Tadashi Suzuki, Peter Sellars, Tony Harrison, Theodoros Terzopoulos und Thomas Murphy – stellt Marianne McDonald eine Verbindung zwischen dem Stellenwert klassischer Dramen und politischen Themen her: „What exactly makes up our common cultural heritage? Should we privilege certain Western texts, establishing them as a canon of required reading, or attempt to supplement that canon with readings drawn from non-Western cultures and, within the West, with textual representation for minorities and women? Throughout this century, the notion of what precisely constitutes ,the classics‘ has more and more become a political issue.“114

Obwohl sie nicht definiert, was sie im Einzelnen unter „Klassikern“ versteht, lässt sich aus dem Zusammenhang des Textes zumindest feststellen, dass hiermit ausschließlich „westliche“ Klassiker gemeint sind und die griechischen Tragödien ebenfalls dazu gehören. Da sie die Klassiker als „political issue“ und „required reading“ bezeichnet, lässt sich davon ausgehen, dass sich ihre imaginäre „Wir“Gruppe in erster Linie aus der US-amerikanischen Öffentlichkeit zusammensetzt, was sich an einer anderen Textstelle herauskristallisiert, als sie fordert: „The heritage of the classics should not be given only to the elite, but allowed to enter the dialectic of a wide public that represents the diversity of our country.“115 Daraus geht hervor, dass sie die antiken Dramen nicht als ausschließliche Kulturidentität Griechenlands, sondern vielmehr als „common cultural heritage“ der USA auffasst. Da sich der Einfluss der antiken griechischen Dramen in den USA ihren eigenen Angaben zufolge bisher auf die Elite beschränkt, ist jedoch fraglich, inwiefern sie sich dadurch als „eigenes“ Kulturerbe der USA bezeichnen lassen. McDonalds Forderung deutet daher vielmehr darauf hin, dass die antiken Klassiker zu diesem Zeitpunkt nicht zur eigenen Kulturidentität der USA gehören bzw. hierfür zunächst noch die Grundlage geschaffen werden muss. Dies ist z.B. daran ersichtlich, dass sie in ihrem Kommentar zu Heiner Müllers Bearbeitung von Klassikern wie ShakespeareStücken und griechischen Tragödien eine klare Unterscheidung

114 115

McDonald, Marianne: Ancient Sun, Modern Light: Greek Drama on the Modern Stage, New York 1992, S. 21 Ebd., S. 13

286

Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen zwischen Amerika und Europa vornimmt: „American drama rarely concerns itself with the past, but European drama does, perhaps simply because of the richness of the European past.“116 Dass Amerikas Stellenwert hinsichtlich historisch bedeutender Dramen kaum erwähnenswert ist, ist insofern evident, als dass keiner der von McDonald einbezogenen „westlichen Klassiker“ (griechische Tragödien sowie Werke von Shakespeare, Ibsen und Tschechow) aus Amerika stammt. Ihr zufolge müsse diese Situation jedoch nicht weiterhin Bestand haben, indem sie fortführt: „As our past shapes our present, our present reshapes our past. History organizes that past, and mythology colors it. The resonances derived there from will also inform our future.“117 Ihre angeblich durch Heiner Müller gewonnene Erkenntnis, dass die Vergangenheit durch eine neue Geschichtsschreibung rekonstruiert und durch die Mythologie ausgeschmückt werden kann, deutet darauf hin, dass ihre politischen Interessen darin bestehen könnten, die „westlichen“ Klassiker für sich zu beanspruchen und damit die amerikanische Vergangenheit zu revidieren bzw. die amerikanische Identität als „westlich“ zu konstruieren. Dadurch, dass sie verallgemeinernd von westlichen Klassikern spricht, werden die antiken (griechischen) Dramen schließlich zur eigenen (amerikanischen) Kultur umdefiniert. Weiterhin ist zu untersuchen, wozu ein solcher „Kanon“ dienen soll, als was und zu welchem Zweck McDonald die Klassiker konstituieren möchte und wieso dabei für sie die griechischen Tragödien besonders relevant sind. Außerdem stellt sich die Frage nach der Rolle des japanischen Regisseurs Tadashi Suzuki, dessen Adaptionen griechischer Tragödien sie insgesamt drei Kapitel widmet, wodurch diese in ihrem Buch ein größeres Gewicht erhalten als die aller anderen darin behandelten Regisseure. Bevor sie im Prolog auf ihre eigene Auffassung über die Klassiker zu sprechen kommt, geht sie zunächst auf zwei Aspekte von Saids Kritik am Orientalismus ein: Zum einen, dass die westlichen Klassiker bzw. die griechischen Tragödien eine eurozentrische Sichtweise vertreten und zum anderen, dass der Orient für Europa kein interlocutor (Gesprächspartner), sondern ein silent other (stiller Anderer) sei. Anschließend stellt sie klar: „[T]he classic can be construed as alien infringements of local boundaries, as „weapons“ of cultural imperialism used to supplant native literature.“ 118 Das Wort „can“ wird von ihr hervorgehoben, wobei sie zum Schluss des Prologs jedoch konstatiert, dass sie die Klassiker nicht als Waffe des

116 117 118

McDonald 1992, S. 148 Ebd., S. 150 Ebd., S. 3

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Kulturimperialismus betrachte. Indem sie zunächst die theoretische Möglichkeit einer kulturimperialistischen Instrumentalisierung der Klassiker einräumt, dieser jedoch sofort eindeutig und damit sich selbst widerspricht, ist allerdings nicht ersichtlich, weshalb sie diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zieht. Sie setzt sich Saids Kritik an den orientalistischen Inhalten der westlichen Klassiker entgegen, indem sie konstatiert, dass deren „wahre Essenz“ nicht in der Projektion ihrer Autorität und Dominanz bestehe, sondern in ihrer Humanität, was insbesondere für die griechischen Tragödien zutreffen solle.119 Anschließend bezieht sie sich in Übereinstimmung mit dem griechischen Kritiker Kostas Georgoussopoulos auf Platons Methexis-Begriff und vergleicht diesen mit dem Universalismus-Konzept von Aristoteles: „The Universal has absolute existence separate and apart from any example thereof: there is a Form ,tableness‘ in which a particular table only partakes. Aristotle challenged this, maintaining that universals exist only in particulars.“120

Wie bereits in Unterpunkt 1.2.2 dargelegt wurde, geht der Begriff Methexis auf Platons Ideenlehre der zwei Welten – die Welt der Ideen bzw. Formen und die Welt des Körperlichen – zurück, wobei letztere nur durch die Teilhabe an ersterer existieren kann. McDonald vergleicht nun die „Idee“ bzw. „Form“ bei Platon mit dem „Universellen“ bei Aristoteles und beschreibt das existenzielle Verhältnis zwischen Universalität und Partikularität als Symbiose. Die Betonung der Koexistenz zwischen Universalität und Partikularität erweckt den Anschein von Gleichheit, stellt sich jedoch als ein hierarchisches Modell heraus, wie George Brakas erläutert: „[B]y nature belonging to several existents’ identifies the most important feature distinguishing those existent which are called universals from those which are not. Universals, that is, are those existents which can belong to, or which can be in, several other existents, particulars are those which cannot.“121

Dadurch, dass das Partikuläre sich immer auf das Universelle bezieht, umgekehrt jedoch nicht, ist das Universelle dem Partikulären übergeordnet, selbst wenn seine Existenz nur durch seine Präsenz im Partikulären bestätigt wird. Weiterhin interpretiert Marianne McDonald das Partikuläre z.B. als heroische Figuren aus griechischen Tragödien wie Antigone oder 119 120 121

McDonald 1992, S. 4 Ebd., S. 5 Brakas 1988, S. 99ff

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Herkules, die nach Platons Modell nie eine solche Form des Heroismus erfahren könnten und nach Aristoteles nichts weiter als Individuen darstellen, die lediglich das Potential besitzen, Heroen werden zu können. Demnach würden diese beiden „HeroenModelle“ insofern von der amerikanischen Weltanschauung abweichen, wie sie selbst formuliert: „We see each individual as unique, complete, in and of his or possibly her own self [and] we tend to level, whereas the Greeks sought to elevate.“ Mit dieser Aussage stellt sie folglich die USA als ein Land dar, das die Gleichheit aller Individuen fördere und niemanden in den Status eines Helden erhebe. Indem sie sich damit von den beiden philosophischen Modellen distanziert, scheint sich ihre Auffassung über die antiken Klassiker vom dem Verständnis der Universalität der beiden griechischen Kritiker Thodoros Kritikos und Kostas Georgoussopoulos zu unterscheiden. Entgegen dieser Darstellung, nimmt sie mit der Forderung nach „partikulären Übersetzungen und Aufführungen“ jedoch Bezug auf die philosophischen Lehren, mit deren Hilfe die Problematik des Verständnisses der „toten Sprache“ antiker Dramen gelöst werden soll: „In the case of ancient classics we have the added problem of a dead language. Language and culture are barriers that are crossed with difficulty. [...] Jim Carmody says, ,[he] has been willing to visit the past as a foreign country and to reject the notion of classic text as an instance of a generic dramatic ‚universality‘. We need particular translations and performances for particular works. Classical drama should be like a foreign land, understood, respected and admired for its particularity.“122

Trotz des Zitats von Jim Carmody bezieht sie keine Stellung zu seiner Ablehnung, die antiken Dramen als das Universale zu betrachten und sie übernimmt stattdessen lediglich seine Metapher – „the past as a foreign country“ – womit sie für diese Betrachtungsweise über die antiken Dramen plädiert und impliziert, dass die antiken Klassiker als eigene Vergangenheit Amerikas identifiziert werden sollen. Die Forderung nach „particular translations and performances“ zur Lösung des Problems antiker Dramen, verweist darauf, dass die antiken griechischen Tragödien durch „partikuläre“ Adaptionen wieder belebt werden sollen. Obwohl die Bezeichnung „das Partikuläre“ nur „das Einzelne“ oder „Besonderheit“ bedeutet, geht aus der von ihr postulierten Parallelität zwischen „classic drama“, „foreign land“ und „particularity“ hervor, dass sich das „Partikuläre“ hierbei vielmehr auf ein fremdes Land, als allgemein auf das Indivi122

McDonald 1992, S. 11

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Westlicher Geist im östlichen Körper? duum bezieht. Somit ist unklar, warum die griechischen Tragödien durch die „partikulären“ bzw. ausländischen Adaptionen wieder belebt werden sollen, wenn diese im Vergleich zu den anderen Klassikern zusätzliche Probleme durch kulturelle und sprachliche Barrieren verursachen. Am Schluss ihres Prologs begründet sie, warum ihre Forderung nach „partikulären“ Adaptionen der antiken Klassiker ausdrücklich nicht als imperialistisch aufgefasst werden darf: „Frank Kermode ended his study of ‚the classic‘ by saying, ‚So the image of the imperial classic, beyond time, beyond vernacular corruption and change, had perhaps, after all, a measure of authenticity: all we need to do is bring it down to earth.‘ And our earth now is diverse. We are urged in this postmodern age to refine our sensitivities to difference and to increase our tolerance of incommensurability. I would argue that the classics have now become ,other‘, and that we should celebrate the difference of the model.“123

Das Zitat von Kermode deutet darauf hin, dass Saids Vorwurf der orientalistischen Sichtweise in den Klassikern nur „image“ sei und der Verzicht auf den Anspruch nach Authentizität die einzige Möglichkeit, dieses „image“ abzubauen. Denn ihrer Ansicht nach bestehe die „wahre Essenz“ der Klassiker nicht in Dominanz und Autorität, sondern in Humanität. Dass die eigenen Klassiker zum „Anderen“ geworden sind und gefeiert werden sollen, vermittelt den Eindruck von Toleranz und Offenheit gegenüber dem „Anderen“. Auch die Formulierung von der Diversität der Welt impliziert, dass die Welt durch diese Art von Integration die Differenz in sich vereinigen kann. All dies soll der Beweis dafür sein, dass ihre Konstitution der antiken Klassiker als universeller Kanon nichts mit imperialistischen Interessen gemeinsam habe. Überdies erläutert sie, weshalb sie die griechischen Tragödien unter allen westlichen Klassikern bevorzugt: „Each country has its own classics to form its present, but I concentrate on the Greeks whose influence has ranged not only throughout the world but time.“124 Daraus geht hervor, dass die griechische Tragödie für sie nicht nur weltweite Gültigkeit besitzt, sondern auch zeitlos ist, wohingegen die Klassiker anderer Länder hinsichtlich Raum und Zeit eingeschränkt blieben. Allein durch diese Unterscheidung definiert sie die griechische Tragödie als Weltliteratur, die über allen anderen Klassikern steht, welche lokal und zeitlich eingeschränkt seien. Aber können die antiken Dramen, wenn es sich – wie sie an anderer Stelle argumentiert – um eine „tote Sprache“ handelt, überhaupt ei-

123 124

McDonald 1992, S. 19 Ebd.

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen nen solchen Einfluss ausüben? Andererseits, selbst wenn dies – wie sie behauptet – der Fall ist und die Dramen bereits zur Kultur der „Anderen“ geworden sind, ist immer noch unverständlich, wozu sie dann noch „particular translations and performances“ fordert. Es ist offensichtlich, dass ihre Argumentation auch in diesem Punkt in sich nicht stimmig ist. Wie sie die griechische Tragödie und ihr Verhältnis zu „partikulären“ Adaptionen definiert, wird erst bei ihrem Kommentar über Tadashi Suzukis Inszenierung Trojanische Frauen deutlich, die als Adaption von Euripides im Jahre 1984 beim Olympiad Arts Festival in Los Angeles aufgeführt wurde: „The power of Greek tragedy is that the perception peculiar to these ancient writers can still be shared by modern audiences: it is as close to universal truth as we are likely to get. This impact can vary from age to age, according to the emotional needs of people particular in place and time. Suzuki’s genius consists in recognizing the truth of tragedy and conveying it in a dynamic way: our modern hearts are touched. One can question the existence of universal human values, the truth of tragedy, but I maintain that communication can be established between different peoples and cultures, and certain dramatic performances accomplish this.“125

Auch wenn sie mit der Formulierung „as close to universal truth as we are likely to get“ einen gewissen Vorbehalt äußert, ist nicht zu leugnen, dass sie, indem sie von „universal human values“ und „truth of tragedy“ spricht, der griechischen Tragödie letztendlich doch Universalität bzw. einen universellen Charakter zuschreibt. Ihre Behauptung, dass Tadashi Suzuki diese „Wahrheit“ erkannt und vermittelt habe, lässt sich dabei weder beweisen noch widerlegen, weil „Wahrheit“ in sich ein nicht-fassbarer Begriff ist. Entscheidend dabei ist jedoch, dass Suzuki durch ihr „Lob“ nicht als eigenständiger Interpret anerkannt wird, sondern ihm lediglich die Vermittler-Rolle zugeschrieben wird, wodurch seine Bedeutung derjenigen der Tragödie untergeordnet wird. Dass ausschließlich Suzukis Adaption der Beweis für die „universelle Wahrheit“ der Tragödie darstellen soll, liegt für sie offensichtlich an seinem östlichen Kulturhintergrund, denn aus ihrer Formulierung „people particular in place and time“ geht hervor, dass die ausländischen bzw. nichtwestlichen Adaptionen die Universalität der Tragödie bestätigen sollen, was wiederum bedeutet, dass sie das Verhältnis zwischen der griechischen Tragödie und den ausländischen Adaptionen als Beziehung zwischen Universalität und Partikularität definiert.

125

McDonald 1992, S. 21

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Ein weiteres Problem hinsichtlich ihres Anspruchs nach Universalität besteht in der Frage, warum das antike Theater erst nach ca. einem Jahrtausend auf die europäischen Bühnen zurückkehrt und wieder belebt wird.126 Dies gehöre nach Edith Hall zum konzeptuellen Programm des europäischen Kolonialismus, als das klassische Griechenland als „reiner“ „westlicher“ Ursprung der „weißen“ Kultur des vormodernen Europas konstruiert wurde, während gleichzeitig die Bedeutung der afrikanischen und asiatischen Einflüsse innerhalb der Kultur des antiken Mittelmeerraumes ausgeblendet wurde.127 Daher geht die Wiederbelebung griechischer Tragödien Hand in Hand mit dem Kolonialismus und Imperialismus, zumal zwischen den in den Tragödien enthaltenen Mythen und den Erfahrungen der Europäer in den weit entfernten Kolonien Parallelen gezogen wurden. Die Behauptung, dass das „wahre Wesen“ (true essence) der griechischen Tragödie in der Humanität bestünde, weswegen sie nicht für politische bzw. imperialistische Zwecke instrumentalisiert werden könne, lässt sich auch dadurch widerlegen, dass z.B. der Begründer des Faschismus, Benito Mussolini (18831945), nicht nur das Festival des antiken Theaters in Syrakus als Propagandainstrument einsetzte, sondern 1929 auch das National Institute for Ancient Drama zunächst innerhalb des Ministeriums für Erziehung einrichtete und dieses 1935 dem Ministerium für Propaganda unterstellte.128 Angesichts der Rezeptionsgeschichte der griechischen Tragödie ist zu erkennen, dass weder ihre Wiederbelebung auf der europäischen Bühne noch ihre Verbreitung auf der ganzen Welt von der kolonialen Vergangenheit Europas getrennt betrachtet werden kann. Somit lässt sich der weltweite Einfluss der griechischen Tragödie weniger mit Humanität in Verbindung bringen, als vielmehr mit der Ausbreitung imperialistischer Macht. Die Formulierung „as close to universal truth as we are likely to get“ impliziert, dass McDonalds eigentliches politisches Interesse darin besteht, die griechische Tragödie als „universelle Wahrheit“ erscheinen zu lassen. Indem sie nicht die Frage nach der Existenz universeller Wahrheit stellt, aber die Etablierung der Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen und Völkern konstatiert, deutet dies darauf hin, dass unter dem Deckmantel des kulturellen Austauschs ein Vorwand zur Durchsetzung des Anspruchs nach universeller Wahrheit der griechischen Tragödie geschaffen wird.

126

Siehe Kap. III.1.2.2

127 128

Hall, in: Dies./Macintosh/Wrigley (Hg.) 2004, S. 24 Macintosh, Fiona: „Tragedy in performance: nineteenth- and twentiethcentury productions“, in: Easterling (Hg.) 1997, S. 306

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Dies lässt sich insofern nachweisen, als dass sie durch ihr „Lob“ Tadashi Suzukis eine Hierarchie zwischen amerikanischer und japanischer Kultur bzw. zwischen West und Ost aufbaut, indem dies eine Analogie zum Verhältnis zwischen Universellem und Partikularem erkennen lässt. Ferner muss darauf hingewiesen werden, wie Marianne McDonald das Verhältnis zwischen Suzukis Adaption und seiner eigenen Theatertradition darstellt: „By drawing on Noh and Kabuki traditions, Suzuki seeks to recapture the energy of primitive Theater, which has been lost, he believes, in the modern technological world.“129 Durch diese Formulierung wird deutlich, dass die japanische Theatertradition nicht als Kunstform aufgefasst, sondern zum „primitiven Theater“ degradiert wird, wobei die Hervorhebung „he believes“ darauf verweist, dass sie nicht Suzukis Meinung teilt, dass die japanischen Traditionen in der modernen Zeit verloren gegangen seien. Auf diese Weise stellt sie das „primitive Theater“ Japans den „modern hearts“ des amerikanischen Publikums gegenüber, wodurch sie zur Beschreibung der Beziehung zwischen Japan und Amerika eine Dichotomie zwischen Primitivismus und Modernität aufbaut.130 Überdies stellt sie Tadashi Suzukis Adaption von Euripides’ Bakchen vor, in der Dionysos von einer japanischen Schauspielerin in japanischer Sprache und Pentheus von einem amerikanischen Schauspieler in englischer Sprache gespielt wird. McDonald zieht bei dieser Rollenbesetzung eine Analogie zur Auseinandersetzung zwischen Japan und den USA bzw. zwischen Ost und West, welche bei ihr Assoziationen an Hiroshima erwecke. Dazu kommentiert sie: „In The Bacchae we see Japan in the form of Dionysus exacting vengeance on America in the guise of Pentheus. The irrational dismembers the rational, just as the Japanese cartels are dismembering American industry (as America earlier dismembered Japan after the war).“131 Damit stellt sie Japan nicht nur im Gegensatz zu Ame129 130

McDonald 1992, S. 29 Bei ihren Kommentaren zu Suzukis Adaptionen der Tragödie verwendet Marianne McDonald insbesondere auffällig häufig die Begriffe „Westen“ und „Wir“. Dabei variiert ihre Definition des „Westens“ und sie stellt damit eine kulturelle Hierarchie her. Indem sie das Shingeki-Theater (japanische Adaptionen westlicher Theaterformen und Dramen) als faszinierende „Eastern perception of the Western mind“ beschreibt und neben japanischen Adaptionen Shakespeares auch solche von Tschechow und Ibsen erwähnt, erstreckt sich ihre Definition des „Westens“ bzw. der „WirGruppe“ sogar bis auf Russland, womit sie die japanischen Adaptionen „westlicher“ Klassiker im Allgemeinen als Fusion von westlichem Geist

131

und japanischem Körper darstellt. Ihre Definition der westlichen Kultur bzw. Wir-Gruppe wird dadurch maßlos überdehnt. Siehe: Ebd., S. 22ff Ebd., S. 15f

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Westlicher Geist im östlichen Körper? rika als das Irrationale dar, sondern auch als eine wirtschaftliche Bedrohung für die USA. Obwohl sie beteuert, dass Suzukis Forderung nach Frieden zwischen beiden Ländern ebenfalls für die USA gelte, geht sie dennoch zugleich auf die aktuelle Situation Japans ein, in der sie durch die Popularität von Comics und Fernsehen das Fehlen von „serious reading“ und den „mindless content“ beklagt.132 Diese Thematik hat jedoch nicht das Geringste mit Suzukis Aufführung zu tun und außerdem trifft dieses Phänomen ebenfalls in ähnlicher Weise auf das in ihrem Prolog beschriebene Problem in Amerika zu.133 Dass sie dieses Argument jedoch als Unterscheidungskriterium beider Länder benutzt, deutet darauf hin, dass Japan ihrer Ansicht nach in der gegenwärtigen Situation einen dringenden Bedarf an der Teilhabe des „Western mind“ bzw. der westlichen Klassiker habe. Demnach schreibt Marianne McDonald den „westlichen“ Klassikern bzw. griechischen Tragödien die eigene Kulturidentität der USA zu, wodurch sie Japan auf geistiger Ebene überlegen seien. Daran lässt sich erkennen, dass die „westliche“ Identität der USA mit Hilfe einer Abgrenzung gegenüber Japan sowie anderer östlicher Länder hergestellt werden kann. Es ist ersichtlich, dass sich Marianne McDonald bei Tadashi Suzuki bedient, um den Anspruch der „universellen Wahrheit“ der griechischen Tragödie zu untermauern und den scheinbar gleichberechtigten kulturellen Dialog als Deckmantel hierfür zu benutzen. Indem sie Aristoteles’ Universalismus-Konzept so interpretiert, dass Universalität nur in Form von Partikularität existiert, zielt ihre Forderung in Übereinstimmung mit Goetsch nach „particular translations and performances“ der griechischen Tragödie darauf ab, sie durch die Beteiligung ausländischer Adaptionen als universellen Kanon zu konstituieren. Es lässt sich folgern, dass es sich bei Marianne McDonalds politischen Überlegungen zur Konstitution westlicher Klassiker als universeller Kanon um eine Strategie handelt, sich die griechische Tragödie als eigenes Kulturerbe bzw. als Ursprung der eigenen Zivilisation anzueignen und diese dann als universellen Kanon zu konstituieren. Auch wenn sie weder den Anspruch nach Authentizität erhebt noch dafür plädiert, mit den antiken Klassikern die lokale Literatur zu ersetzen, wird auf unterschwellige Weise eine kulturelle Hierarchie aufgebaut, indem die griechische Tragödie im Namen der Etablierung interkultureller Kommunikation universalisiert wird. Wenngleich Sallie Goetsch nicht von „Universalität“ spricht, korrespondiert ihr Konzept zum Zweck der Wiederbelebung des antiken

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McDonald 1992, S. 71 Ebd., S. 12

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Theaters jedoch unmittelbar mit McDonalds Konstitution der antiken Klassiker. Indem sie die östlichen Theatertraditionen generell als primitiv betrachtet und Vorschläge für die Fusion unterbreitet, ohne die Stimme des „Anderen“ mit einzubeziehen bzw. Dialoge mit dem „Anderen“ zu führen, entspricht ihr Vorgehen Saids Kritik, dass das „Andere“ als „silent other“ behandelt wird. All dies widerlegt McDonalds Behauptung, dass die griechische Tragödie und die Konstruktion ihrer Universalität nichts mit imperialistischen Interessen gemeinsam habe. McDonalds Forderung nach „partikulären Adaptionen“ sowie Goetschs Konzept zur Wiederbelebung der Tragödie durch die Fusion mit östlichen Theatertraditionen verbleibt jedoch nicht nur auf einer theoretischen Ebene, sondern es lässt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, auch in der Praxis wieder finden, wobei die USA in weiteren chinesischen bzw. taiwanesischen Adaptionen griechischer Tragödien stark involviert sind.

III.2.3 Konstruktion der Universalität des antiken Theaters am Beispiel der „chinesischen“ Aufführung Bakai Bei der Untersuchung von drei weiteren Aufführungen griechischer Tragödien in östlichen Theatertraditionen  Orestie des amerikanischen Regisseurs Richard Schechner 1995 in Taipei, Bakai (adaptiert von Euripides’ Bakchen) des nach Amerika emigrierten chinesischen Schauspielers und Regisseurs Chen Shi-zheng 1996 in Peking sowie einer weiteren Bakai-Produktion des prominenten malaysischen Filmregisseurs U-Wei Saari 1997 in Kuala Lumpur  verweist Catherine Diamond auf den signifikanten Unterschied zwischen den beiden großen Wellen westlicher Einflüsse auf die asiatische Theaterszene, die jeweils zu Beginn des 20. Jh. sowie in den 1980er Jahren anzusetzen sind. Während die früheren Theaterreformer durch die Einführung der westlichen Sprechtheaterform (Huaju) und der Adaption westlicher Dramen ihren lokalen Zuschauern eine nationalistische und antikoloniale Botschaft vermitteln wollten, haben sich die zeitgenössischen asiatischen Regisseure von den lokalen Zuschauern losgelöst. Denn sie beuten nach Diamond das traditionelle Theater ihrer Regionen aus und folgen einem den westlichen Kollegen vergleichbaren Konzept, wonach sie klassische westliche Texte in einen neo-asiatischen Theater- und KulturKontext integrieren sowie für den globalen Markt arbeiten, insbesondere für westliche Kulturhauptstädte und internationale Festivals. Somit lässt sich nach Diamond die Vorgehensweise bei der Adaption westlicher Klassiker durch zeitgenössische asiatische Re295

Westlicher Geist im östlichen Körper? gisseure wie folgt beschreiben: Nachahmung der westlichen Regisseure, Rückgriff auf die eigene Theatertradition, Anpassung an die Bedürfnisse internationaler Theaterfestivals sowie Loslösung von der eigenen Kulturidentität und den lokalen Zuschauern. Dennoch führt Diamond den Grund dieser Problematik speziell in Bezug auf die Adaption griechischer Tragödien lediglich auf den Einfluss Yukio Ninagawas sowie die politischen Interessen des Inlands zurück. Demnach sollen sich die drei oben genannten Projekte ausnahmslos an Ninagawas postmodernes Hybriditätskonzept angelehnt haben, da sie alle ein ähnliches „orientalisches Spektakel“ hervorbringen und die Regisseure auf der Jagd nach schnellem Erfolg danach strebten, sich an Prestige-Projekten zu beteiligen, anstatt mit ihrem lokalen Publikum zu kommunizieren: „The intention is more to impress than to interact. Instead of being rooted in a time and place, these productions appeal to the notion of a global culture, which, by not acknowledging the deep seated cultural differences existing in the texts, exploit the safe attraction of surface exoticism.“134

Indem die Dramentexte nur auf oberflächlicher Ebene adaptiert und in exotische Szenarien übertragen werden, handele es sich daher weder um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der kulturellen Differenz noch um eine Weiterentwicklung des traditionellen Theaters, so dass sich die exotischen und spektakulären asiatischen Aufführungen griechischer Tragödien somit nicht mehr in kulturellen Koordinaten verorten ließen. Demnach würden diese beiden Faktoren bei dieser Fusion nur als Mittel zum Zweck dienen, welcher nach ihrer Meinung in der erfolgreichen Teilnahme auf internationalen Theaterfestivals bestehe. Dies lasse sich daran erkennen, dass die drei Produktionen ebenso wie Ninagawas MedeaAufführung mit einem hohen Budget finanziert wurden und insbesondere in den Medien große Aufmerksamkeit erregt hätten.135 Dabei führt sie folgende Geldquellen zur Finanzierung der Aufführungen an: Die malaysische Bakai-Adaption, welche bis dahin eine der teuersten Theaterproduktionen im Inland war, wurde vom Ministry of Culture, Arts and Tourism gefördert. Die taiwanesische Orestie, eine Zusammenarbeit von Richard Schechner und der Contemporary Legend Theater Company, wurde sowohl von der staatlichen Einrichtung Taiwan Council for Cultural Planning and Development als auch von dem in Taipei sitzenden amerikanischen Asian Cultural

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Diamond 1999, S. 147

135

Es ist anzumerken, dass der Grund für die Medien-Aufmerksamkeit nicht nur in der Höhe des Budgets bestand, sondern auch in der transnationalen Zusammenarbeit von Star-Regisseuren und Star-Schauspielern.

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Council gesponsert und erhielt insgesamt sechs Millionen NTD (200.000 USD), womit diese Summe das bis dahin höchste Budget eines interkulturellen Projekts in Taiwan darstellt. 136 In Analogie dazu erhielt die chinesische Bakai „die höchste Finanzierung, die je vom ‚United States National Endowment for the Humanities’ an eine Theaterproduktion gezahlt wurde“. Diese Ehre wurde allein dem künstlerischen Leiter der New York Greek Drama Company Peter Steadman zuteil, der das Konzept entwarf und Chen Shi-zhen mit der Regiearbeit beauftragte, um mit dem China National Beijing Opera Theatre zusammenzuarbeiten.137 Angesichts dieser kostenaufwendigen und spektakulären orientalistischen Produktionen übt Catherine Diamond folgende Kritik: „Greek tragedy, with its established literary/theatrical pedigree, is a cultural analogue to other western status symbols, and theatre productions are being caught up in an international game of regional one-upmanship. In their eagerness to participate in the global culture, the creators of such spectacles rarely ask whether their productions really address the feelings of their audiences, and instead express the general aspiration to achieve quick cultural parity with the West by appropriating a western cultural icon.“138

Ihre Kritik mag zwar auf die malaysische Bakai zutreffen, aber bei den anderen beiden Produktionen spielen die USA nach eigenen Angaben hinsichtlich der Entstehung, des Konzepts und der Finanzierung sicherlich die entscheidende Rolle. Wie können solche Kooperationen als „quick cultural parity with the West by appropriating a western cultural icon“ aufgefasst werden und wie lassen sich die orientalistischen Aufführungen griechischer Tragödien in Asien allgemein auf die persönlichen Interessen der Regisseure zurückführen? Vor diesem Hintergrund scheinen daher erhebliche Zweifel daran angebracht zu sein, dass es ernsthaft im Interesse der USA liegt, mit großer finanzieller Unterstützung China und Taiwan dabei zu helfen, sich am internationalen Wettkampf zu beteiligen und mit dem „Westen“ messen zu können. Selbst wenn die Produktionen auf 136

Die Contemporary Legend Theater Company erhielt vom Taiwan Council for Cultural Planning and Development pro Jahr lediglich durchschnittlich zweieinhalb Millionen NTD. Es ist in der taiwanesischen Theaterszene allgemein bekannt, dass die Höhe der staatlichen Förderung von Rang und Namen der ausländischen Koproduktionspartner abhängt und dass Richard Schechner als prominenter Regisseur aus den USA hierbei eine einschneidende Rolle für die Bewilligung dieses hohen Budgets spielt. Siehe: Interview mit Wu Xing-guo, Taipei am 19.09.2005 u. Lu, Bo-shen,

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Tainan am 26.09.2005 Diamond 1999, S. 145 Ebd., S. 147

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Grund ihres orientalistischen Stils Ninagawas Medea-Aufführung ähneln, liefert dies noch keinen hinreichenden Beweis dafür, dass Peter Steadman und Richard Schechner unter dem Einfluss Ninagawas stehen. In Anbetracht ihrer argumentativen Widersprüche und der Ausblendung der politischen Interessen seitens der USA muss daher die Frage eher in umgekehrter Richtung gestellt werden, wie und zu welchem Zweck sich die USA bei den kulturellen Ikonen des Westens (Europas) bedienen. Insbesondere die BakaiAufführung ist für diese Fragestellung von großer Relevanz und muss hierbei berücksichtigt werden, wie auch Peter Steadman in folgender Weise erläutert: „Die Zusammenarbeit zwischen dem „China National Beijing Opera Theatre“ und der „New York Greek Drama Company“ für die Aufführung ,Bakai‘ stellt ein historisches Ereignis dar. Unsere Aufführung ist die größte Kooperation zwischen dem amerikanischen und dem chinesischen Theater. Das ‚United States National Endowment for the Humanities‘ bietet dem Projekt die höchste Summe, die seit seiner Gründung jemals vergeben wurde. Es ist das erste Mal, dass die beiden archaischen Theatertraditionen – antikes Theater und chinesische Peking-Oper – den gleichen Status besitzen und sich auf gleichberechtigter Grundlage für ein wahrhaftiges künstlerisches Schaffen vereinigen.“139

Laut Steadman besteht das „historische Ereignis“ somit einerseits in der hohen Förderungssumme der staatlichen amerikanischen Stiftung und andererseits in der „gleichberechtigten“ Vereinigung der zwei „archaischen Theatertraditionen“. Der Grund für diese außergewöhnlich hohe Finanzierung bleibt bei Steadman jedoch ungeklärt, wird aber Catherine Diamond zufolge auf den erzieherischen Zweck zurückgeführt. So verweist sie darauf, dass eine Videoaufzeichnung der Aufführung gemäß des ursprünglichen Projekt-Vorhabens geplant war und an Schulen und Universitäten der USA verteilt werden sollte, um als Einführungs- und Anschauungsmaterial des antiken Theaters zu dienen.140 Da die Peking-Oper

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Steadman, Peter: „‚Bakai‘: yanchu de yiyi“ („Bedeutung der Aufführung ,Bakai‘“), übersetzt von Lian, Yü-hua, in: China Peking-Oper, Nr. 2, 1996, S. 22

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Dass bis zum Veröffentlichungsjahr von Diamonds Aufsatz im Jahre 1999 die Produktion des Videos noch nicht zustande gekommen war, lastet sie Chen Shi-zhen an, da seine Inszenierung eine Abkehr von der ursprünglichen Absicht darstelle. Jedoch geht sie nicht auf die Intention und das Konzept Steadmans ein und kritisiert ausschließlich Chen Shizhen, dass dieser sich nicht mit dem Inhalt auseinandergesetzt und lediglich ein orientalistisches Szenarium geschaffen habe. Dies offenbart ihren Ausgangspunkt, dass Steadmans Konzept nichts mit Orientalismus zu tun habe und Chen Shi-zhen über die Autonomie verfügt habe, ein ei-

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen jedoch eine andere Kunstform darstellt als das antike Theater, stellt sich die Frage, wie sich diese beiden Theaterformen vereinigen können, um eine allgemeine Bildung über das antike Theater in den USA zu ermöglichen bzw. ob diese von Diamond genannte Erklärung überhaupt mit Steadmans Zielsetzung übereinstimmt. Überdies definiert er die heute noch lebendige Peking-Oper-Tradition, mitsamt dem antiken Theater als „archaisch“, was seine primitivistische Sichtweise offenbart. Auf Grund dieser Tatsache muss daher seine Behauptung einer „gleichberechtigten Kooperation“ in Frage gestellt werden, weshalb hier zunächst seine Zielsetzung und sein Konzept dargestellt werden sollen. Laut eigener Aussage hatte sich Steadman bereits 1993 vorgenommen, die Peking-Oper mit dem antiken Theater zu kombinieren und geäußert, sein größter Lebenswunsch bestehe darin, „mit dem frischen Blut einer vitalen traditionellen Theaterform, dem antiken Theater neues Leben zu verleihen“ und „durch die Vereinigung von Sprache, Musik und Tanz dessen Lyrik zu vermitteln sowie den verloren gegangenen Genuss des Gesamtkunstwerks des antiken Theaters wieder herzustellen.“ Warum dabei seine Wahl auf die PekingOper gefallen ist, begründet er damit, dass viele Wissenschaftler aus dem Bereich des antiken Theaters die Ansicht vertreten, dass die asiatischen Theatertraditionen dem antiken Theater näher stünden als irgendwelche westlichen Theaterformen in heutiger Zeit, da das antike Theater nicht-naturalistisch sei und eine Einheit von Lyrik, Musik und Tanz bilde.141 Davon leitet er ab, dass nur die Schauspieler aus traditionellen Theaterformen, die über solche entsprechenden Faktoren wie die des antiken Theater verfügen, dazu fähig seien, dessen „komplizierte Darstellung“ auf die Bühne zu bringen. So wählte er nach eigenen Angaben das China National Beijing Opera Theatre für die Zusammenarbeit aus, da es seiner Auffassung nach als bedeutendstes Theaterensemble Chinas gelte und über die hervorragendsten Schauspieler ganz Chinas verfüge, so dass es von ihm als „Festung der Peking-Oper“ bezeichnet wird. Trotz der vermeintlichen Analogie zwischen den beiden Theatertraditionen verfolgt er damit jedoch nicht das Ziel, die Handlung der Tragödie in der Peking-Oper-Form aufzuführen, sondern stattdessen ein „authentisches“ antikes Theater zu präsentieren, was er damit begründet, dass ersteres die Gefahr mit sich bringe, aus

genständiges künstlerisches Konzept zu erarbeiten. Da das Video im Jahre 2000 doch noch veröffentlicht wurde, ist Diamonds Vorwurf also nicht stichhaltig. Siehe: Diamond 1999, S. 145ff, u. Informationsangaben zum

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Video in: http://www.didaskalia.net/issues/vol3no2/window.html [Stand: 24.04. 2008] Steadman 1996, S. 23

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Westlicher Geist im östlichen Körper? westlicher Perspektive als „orientalistisch“ angesehen zu werden und deshalb vermieden werden solle.142 So lehnt sich Steadmans Konzept an die historische Überlieferung an, nach der die Tragödien in antiker Zeit von drei männlichen Schauspielern und zwölf Chormitgliedern aufgeführt wurden, die alle Masken trugen. Somit sollen zwölf Schauspieler aus seiner New York Greek Drama Company unter Begleitung „antiker griechischer“ Musik in altgriechischer Sprache singen und dazu tanzen, denn nur wenn die Chorlieder und Texte in der Originalsprache gesungen werden, könne seiner Auffassung nach die Bedeutung und Schönheit von Euripides’ Lyrik zum Ausdruck gebracht werden. Weiterhin sollen drei männliche Schauspieler des China National Beijing Opera Theatre alle acht Rollen von Euripides’ Bakchen übernehmen, was seiner Ansicht entspricht, dass die Peking-Oper-Schauspieler in dreierlei Hinsicht weniger technische Schwierigkeiten zu überwinden hätten als westliche Schauspieler: Frauenrollen zu spielen, mehrere Rollen zu spielen sowie mit Masken umzugehen. Dabei stützt er sich auf die Darstellung von Vasenmalereien und argumentiert, dass sich die Schauspielkünste der beiden Theaterformen in Bezug auf die „Körperhaltung, Gestaltung und kreisrunden Bewegungen“ sehr ähneln würden. Zudem rekonstruiert er anhand von nur zwei verbliebenen Papierfetzen von Euripides’ Musikpartitur Analogien bei der Musikbegleitung der beiden Theatergenres. Ihm zufolge unterscheidet sich demnach die antike Musik von der modernen, „harmonischen“ Musik insofern als sie sich durch „schrille Töne“ und „krachige Laute“ auszeichne, weshalb die antike griechische Musik mit Hilfe traditioneller chinesischer Musikinstrumente und dreier Musiker aus dem Peking-Oper-Orchester „wieder hergestellt“ werden solle. Da sich die Tonsysteme des antiken Griechenlands jedoch stark von China unterscheiden, blieb der amerikanischen Komponistin Eve Beglarian nach Steadmans Aussage keine andere Wahl, als die chinesischen Musikinstrumente selbst anzupassen, indem beispielsweise zwei zusätzliche Grifflöcher in die chinesische Oboe Suona gebohrt wurden, um gemäß der antiken Musikpartitur zwei weitere Halbtöne hervorbringen zu können. Ebenfalls gehört zu seinem Konzept, dass die Kostüme und Masken in „griechischem“ Stil angefertigt wurden. Zu seiner Auswahl des Stücks äußerte er lediglich, dass einer der Gründe darin bestand, dass Euripides bei seinen Bakchen die strikte traditionelle Trennung zwischen Tragödie und Komödie aufgehoben hätte, da die griechische Tragödie in der Regel keine komischen Elemente beinhalte, wodurch sie sich von der Peking-Oper unterscheide.143

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Steadman 1996, S. 25 Ebd., S. 24

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen Anhand von Steadmans Zielsetzung und Konzept ist ersichtlich, dass es ihm nicht um eine Adaption der griechischen Tragödie ging, durch die eine neue, an die heutige Zeit anknüpfende Bedeutung des Dramentextes ermöglicht werden könnte, sondern darum, mit Hilfe der Peking-Oper-Schauspieler und traditionellen chinesischen Musikinstrumente, den Anschein einer vermeintlich „originalen“ äußerlichen Form des antiken Theaters herzustellen. Bei der Argumentation für alle seine Entscheidungen behauptet er, sich auf historische Überlieferungen zu stützen, was er jedoch nicht belegen kann. So ist z.B., wie bereits in Kapitel III.1.2.2 dargelegt, in Bezug auf die Schauspielkunst sehr umstritten, ob man ihre Überlieferung in Form von Vasenmalereien als Dokumentation realer Aufführungen antiker Tragödien betrachten kann. Vor allem ist nicht nachvollziehbar, wie man anhand von nur zwei Papierfetzen, die nach seiner Aussage von Euripides’ Musikpartitur erhalten geblieben sein sollen, die Charakteristik der antiken Musik und ihre Analogie zur traditionellen chinesischen Musik beurteilen kann. Daher entlarvt seine Argumentation, dass das von ihm vermittelte „Original“-Bild des antiken Theaters weniger auf einer faktischen Grundlage, als vielmehr auf seinen unbewiesenen Behauptungen beruht. Es ist offensichtlich, dass die angebliche Überlieferung historischer Tatsachen hier vor allem dazu dient, den Anschein eines wissenschaftlichen Nachweises zu erwecken und damit sein Konzept zu rechtfertigen. Ferner offenbaren seine Begründungen in mehrerer Hinsicht Widersprüche: Einerseits behauptet er, dass die traditionelle chinesische Musik der antiken griechischen Musik ähnele und deshalb die traditionellen chinesischen Musikinstrumente verwendet werden sollen. Andererseits argumentiert er jedoch, dass sich die zwei Musiksysteme doch sehr voneinander unterscheiden, weshalb die chinesischen Musikinstrumente der „antiken griechischen“ Musikpartitur angepasst werden müssten. Wenn die chinesischen Musikinstrumente jedoch zuvor angepasst werden müssen, ist allerdings fraglich, inwiefern ihre Verwendung für die Aufführung antiker Musik überhaupt sinnvoll ist. Ebenso widersinnig erscheint seine Begründung der Komposition für den zwölfköpfigen Chor und die drei Schauspieler, indem er behauptet, dass die Bedeutung und Schönheit von Euripides’ Lyrik nur durch die originale altgriechische Sprache unter Begleitung der „antiken griechischen“ Musik zum Ausdruck gebracht werden könne und er trotzdem die drei PekingOper-Schauspieler in chinesischer Sprache singen und sprechen lässt. Daher stellt sich die Frage, ob der Textanteil der Rollenfiguren für ihn weniger relevant ist und wie sich diese Kombination von altgriechischer und chinesischer Sprache mit seinem Anspruch nach einem „authentischen“ antiken Theater vereinbaren lässt. Des Wei-

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Westlicher Geist im östlichen Körper? teren stellt sich die Frage, wenn die „Authentizität“ für ihn tatsächlich eine solch hohe Priorität besitzt wie er selbst angibt, wie sich dann seine Vorliebe dafür erklären lässt, die Aufführung nicht in einem griechischen Amphitheater stattfinden zu lassen, sondern in China. Kann ein solches hybrides Konzept tatsächlich ein „authentisches“ antikes Theater vermitteln und den beanspruchten „erzieherischen Zweck“ erfüllen, wenn die altgriechische Originalsprache heutzutage praktisch nur noch von wenigen Griechen beherrscht wird und sie von Marianne McDonald selbst als „tote Sprache“ bezeichnet wird? Indem Steadman einerseits Wert auf die Verwendung der Originalsprache legt und andererseits auf Peking-OperSchauspieler zurückgreift, offenbart sich, dass sein Kriterium der Originalität widersprüchlich ist, so dass sein eigentliches Ziel nicht in einer (möglichst originalgetreuen) Wiederbelebung der griechischen Tragödie bestehen kann. Überdies wäre nach Ansicht Oliver Taplins eine solche „Wiederbelebung“ ein grundsätzlich fragwürdiges Konzept: „If Greek tragedy had less capacity for change or if the only kind of production were to become museum-piece reconstructions then it would die out.“ 144 In Übereinstimmung mit diesem Standpunkt Taplins zeigen heutige Aufführungen griechischer Tragödien in Europa, dass niemand der bedeutendsten zeitgenössischen Regisseure wie Peter Stein, Peter Sellars, Dimiter Gotscheff usw. nach einer museumshaften Rekonstruktion strebt. All dies deutet darauf hin, dass Steadmans Konzept seiner eigenen Zielsetzung widerspricht, er deshalb in Europa keine Nachahmer findet und dass es sich dabei nur um einen Vorwand handelt, um damit in Wirklichkeit ein anderes Ziel zu verfolgen. Daher soll nachfolgend anhand seiner Annäherung an die Peking-Oper und seiner Begründung für die Fusion genauer untersucht werden, welches Ziel er mit seinem Konzept tatsächlich verfolgt und wozu ihm dabei diese Herangehensweise dient. Die zwei von ihm genannten Gründe, aus denen er die PekingOper zur Wiederbelebung des antiken Theaters ausgesucht hat, sollen – wie zuvor bereits erwähnt – in den Analogien der beiden Theatertraditionen hinsichtlich der nicht-naturalistischen Darstellung bzw. der stilisierten Körpersprache und der Vereinigung von Musik, Sprache und Tanz bestehen, so dass demnach das verlorene Gesamtkunstwerk des antiken Theaters mit Hilfe der Peking-Oper rekonstruiert werden könne. Jedoch haben diese beiden Eigenschaften der Peking-Oper keinen Eingang in sein Konzept bzw. die Aufführung gefunden, denn es wurde nicht nur die Peking-Oper-Musik durch die angeblich „antike griechische“ Musik ersetzt, sondern auch die Peking-Oper-Schauspielkunst auf die Körperlichkeit der

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Taplin, „Greek with consequence... “, a.a.O.

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen drei Schauspieler reduziert, indem bei den Proben von ihnen verlangt wurde, auf die stilisierte Darstellung und kodifizierte Körpersprache der Peking-Oper zu verzichten.145 Seine Begründung, dass die Peking-Oper-Schauspieler weniger technische Schwierigkeiten zu überwinden hätten als die westlichen Schauspieler, d.h. Frauenrollen sowie mehrere Rollen zu spielen und mit Masken umzugehen, basiert lediglich auf seiner eigenen und überdies nicht korrekten Annahme, zumal die Peking-Oper keine aufgesetzten Masken verwendet und Frauenrollen sowie mehrere Rollen zu spielen ebenfalls keine Spezialität von Peking-Oper-Schauspielern ist. All dies verweist also im Gegenteil darauf, dass die Peking-Oper keinen unabdingbaren Faktor für seine angebliche Zielsetzung darstellt. So zeichnet sich die Umsetzung seines Konzeptes vielmehr dadurch aus, dass er gerade nicht auf die typischen Merkmale der PekingOper zurückgreift, um sie in der Aufführung zur Entfaltung zu bringen, sondern dass er sich bei der Peking-Oper bedient, um sie nach seinen eigenen Wunschvorstellungen umzugestalten. Selbst wenn er tatsächlich aus reiner Überzeugung den PekingOper-Schauspielern die Aufgaben von drei Schauspielern des antiken Theaters zuteilen würde, würde dies noch nicht erklären, warum er dafür ein so kostenaufwendiges Projekt in Gang setzt und solch enorme Finanzmittel zur Verfügung gestellt bekommt. Daher stellen sich weitere Fragen nach der eigentlichen Zielsetzung Steadmans, wieso sich die Aufführung Bakai als „historisches Ereignis“ verstehen lässt und vor allem, warum China überhaupt beteiligt sein soll? All diese Punkte werden schließlich anhand der chinesischen Rezeption deutlich, weshalb an dieser Stelle ausführlich darauf eingegangen werden soll. So verdeutlicht Tang Xiao-bai, dass die Aufführung Bakai in China große Kontroversen auslöste: Während sich die XiquZuschauer bzw. Anhänger der Peking-Oper-Schauspieler auf Grund des Ausbleibens der Peking-Oper-Kunst enttäuscht zeigten und Einwände gegen die Aufführung erhoben, nahm sie die jüngere Generation der Zuschauer auf Grund der in China nie zuvor da gewesenen Neuen Form146 mit großer Begeisterung auf. Letzteres lässt sich bei der positiven Kritik Ren Xiu-lins beobachten, indem sie einräumt, dass man diese Aufführung nicht nach dem Maßstab der Peking-Oper bewerten solle, weil sie das antike Theater aus Euripides’ Zeit repräsentiere. Dabei beteuert sie, dass sich die originale

145

Tang, Xiao-bai: „‚Bakai‘ – huanxian de qihe“ („,Bakchen‘ – das Zusammentreffen der Illusionen“), in: Chinese Theatre, Nr. 6, 1996, S. 43

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Man spricht deshalb von einer Neuen Form, weil diese antike Theaterform für die junge Generation fremd ist und ihre Neugier befriedigt. Siehe: Tang, Xiao-bai, in: Chinese Theatre, 1996, S. 42

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Westlicher Geist im östlichen Körper? Form durch die logische Analyse bzw. Übertragung der historischen Überlieferung rekonstruieren lasse und Euripides’ Textaussage durch die Wiederherstellung dieser Form vertieft werden könne. Welche inhaltliche Aussage sie dadurch vermittelt bekommt, erwähnt sie jedoch nicht und stattdessen betont sie, dass Bakai eigentlich eine Huaju-Aufführung sei und dass es das erste Mal sei, dass die Peking-Oper-Schauspieler Sprechtheater spielen. Sie seien zwar nicht unabdingbar für die Aufführung, aber ihr langjähriges Körpertraining ermögliche ihnen, den Figuren eine solch wunderschöne Gestalt und tänzerische Dynamik zu verleihen, wie dies keiner der aus dem Huaju stammenden Schauspieler könne. 147 Auf diese Weise bereichere das Xiqu die antike Theaterform, ohne dabei der „Reinheit“ und „Authentizität“ des Inhaltes zu schaden. Sie betrachtet somit Chen Shi-zheng als einen hoch begabten Regisseur und konstatiert, dass der Applaus eine „herzliche Anerkennung“ für diesen „beispiellosen Versuch“ sei.148 Im Gegensatz zur optimistischen Haltung Ren Xiu-lins bringt Tang Xiao-bai eine skeptischere Sichtweise zum Ausdruck, indem er schreibt: „Die Amerikaner sind mit großer Zufriedenheit gegangen“, woraufhin er fragt: „Sollen wir beim Applaus, den wir bekommen haben und auch [bei der geplanten Welttournee nach Hongkong, Amerika und Europa usw.] bekommen werden, nicht einen kühlen Kopf bewahren?“. Weiterhin übt Tang die Kritik, dass die Aufführung keine Interpretation darstelle, sondern lediglich die Rache-Geschichte des Dionysos schemenhaft skizziere, womit er zum Ausdruck bringen möchte, dass die chinesischen Zuschauer kaum der Handlung folgen können, bis auf die Tatsache, dass irgendein Weingott willkürlich Rache verübt. Im Gegenzug zu Ren Xiu-lin drückt Tang Xiao-bai somit seine Skepsis gegenüber dieser Anerkennung von Seiten Amerikas aus und stellt Steadmans Anspruch einer „gleichberechtigten“ Kooperation in Frage: „Bei dieser Kooperation dient das Xiqu eigentlich nur als Mittel zur Annäherung [an das antike Theater]. Es gibt weder Xipi und Erhuang [Peking-Oper-Gesang] noch Gongs und Trommeln oder stilisierte Darstellungen. Das Xiqu konnte als eigenständiges Theatersystem nicht seine selbstständigen Charakteristika bewahren. Dies kann insofern nicht als ‚gleichberechtigte Kooperation‘ gelten, als sie voraussetzt, dass sich eine Theaterform [aus der Peripherie] einseitig nach

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Diese Herangehensweise gegenüber der traditionellen Schauspielkunst in Form einer Reduktion auf die Körperlichkeit, lässt sich sowohl bei der taiwanesischen Aufführung Loulan Nü als auch bei Ninagawas Medea beobachten.

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Ren, Xiu-lin: „‚Bakai‘: bu xiang jingju de ‚jingju‘“ („,Bakai‘: Eine PekingOper-Aufführung, die der Peking-Oper nicht ähnelt“), in: Xiju Zhijia (Das Zuhause des Theaters), Nr. 1, 1997, S. 43

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen der Theaterform des Zentrums [Westens] orientieren muss. [...] In diesem Prozess befinden wir uns eigentlich die ganze Zeit in einer passiven Rolle und können nicht selbst bestimmen. Der Westen kocht sein eigenes Süppchen, in welches das Xiqu als zurechtgeschnittene Zutat hineingeworfen wird.“149

Tang verdeutlicht damit, dass sämtliche (typischen) Eigenschaften der Peking-Oper eliminiert wurden: Die Peking-Oper wurde nicht – wie das antike Theater – als Gesamtkunstwerk eingesetzt, sondern dekontextualisiert, fragmentiert und ihre Eingliederung in die „originale“ antike Theaterform erzwungen. So offenbart sich Tang zufolge die Ungleichheit der „Kooperation“ bei der einseitigen Finanzierung und Konzipierung der Aufführung durch die USA, wodurch die chinesische Seite zum Erfüllungsgehilfen von Steadmans Vorgaben degradiert wird. Tang kritisiert daher, wie das Xiqu vom Westen auf Grund seiner unzureichenden Kenntnisse und Vorstellungen beschrieben und definiert sowie nach dem Maßstab des „Zentrums“ bearbeitet, zurechtgeschnitten und der westlichen Erwartungshaltung und Sichtweise angepasst wird. Für ihn stellt diese Form des Austausches jedoch keinen Einzelfall dar, sondern vielmehr ein übliches Phänomen, indem bei zahlreichen Kooperationen zwischen China und dem Westen eine Gleichsetzung der chinesischen Kultur mit einer (primitiven) „Dritte Welt-Kultur“ stattfindet.150 Die Einseitigkeit der Zusammenarbeit lässt sich bereits anhand von Steadmans zuvor zitiertem „Lebenstraum“ erkennen, der darin bestehe, das antike Theater mit Hilfe einer „vitalen Theatertradition“ wieder zu beleben. Dies verdeutlicht sich umso mehr, als Steadman den Anspruch nach Wiederherstellung einer „authentischen“ antiken Theaterform erhebt und das Konzept nach eigenen Vorstellungen sowie den Erwartungen der westlichen Zuschauer entwirft, ohne den Standpunkt und die Bedürfnisse der „Anderen“ mit einzubeziehen, denen sogar ihre Autonomie entzogen wird, indem sie lediglich mit der Ausführung dieses Konzepts beauftragt werden. Da das Projekt seitens der USA finanziert und konzipiert wurde, musste sich die chinesische Seite jedoch von Beginn an im Klaren darüber sein, dass sie nicht gleichberechtigt sein bzw. über deutlich weniger Mitsprachrecht verfügen würde. Weshalb das China National Beijing Opera Theatre dennoch an diesem Projekt teilgenommen bzw. diese Art der „Koproduktion“ in China befürwortet hat, erklärt Tang in einem weiteren Kommentar: „Das Beispiel von ,Bakai‘ verkörpert anscheinend die Tatsache, dass wir uns in einem Dilemma befinden: Einerseits sehnen wir uns danach, mit allen effekti-

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Tang, Xiao-bai, in: Chinese Theatre, 1996, S. 43 Ebd., S. 44

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Westlicher Geist im östlichen Körper? ven Mitteln am internationalen Kulturaustausch teilzunehmen und mit den Anderen Dialoge zu führen, um von ihnen anerkannt zu werden. Auf der anderen Seite sind wir so mittellos, dass wir das westliche Kapital annehmen müssen, wodurch wir gleichzeitig auf unfreiwillige Weise in eine passive Rolle geraten sind.“151

Hieran ist ersichtlich, dass das Interesse Chinas darin besteht, die Peking-Oper bzw. das Xiqu auf die Weltbühne zu bringen und dadurch internationale Anerkennung zu erlangen. Damit wird das Ziel angestrebt, die chinesische Kultur durch die Präsentation auf internationaler Bühne auf den gleichen Status wie die westliche Kultur zu erheben, so dass ein gleichberechtigter kultureller Austausch ermöglicht werden kann. Denn wie Tang erläutert, äußert sich die Schwäche einer Kultur dadurch, dass der interkulturelle „Austausch“ nur in einer Richtung verläuft, indem die schwächere Kultur durch ihre Machtlosigkeit dazu gezwungen wird, die stärkere Kultur aufzunehmen. Die Stärke einer Kultur hingegen lässt sich demnach auf die Macht zurückführen, die auf zwei Ebenen ausgeübt wird, nämlich sowohl durch die Definitionsmacht als auch durch die finanzielle Stärke. Trotz der nach Tang weiterhin zwangsläufig fortbestehenden Unausgeglichenheit der Machtverhältnisse zwischen den Kulturen, bekräftigt er, dass man sich nicht vor der Welt verschließen solle. Obwohl Tang somit Steadmans Konzept als nicht gleichberechtigt entlarvt, liegt die zentrale Problematik dieser Aufführung für ihn jedoch weniger in Steadmans Aneignung der Peking-Oper an sich als vielmehr darin, dass man sich im Inland von der „Anerkennung“ der USA täuschen lässt und sich der Konsequenzen nicht bewusst ist, denn das Ziel Chinas, mit dieser „Kooperation“ das Xiqu auf die Weltbühne zu bringen, konnte seiner Meinung nach nicht erreicht werden: „,Bakai‘ ist nach China gekommen. Wir betrachten das Xiqu nicht als privates Eigentum und lehnen es deshalb nicht ab, wenn die Anderen die achthundert Jahre lang gesammelten künstlerischen Erfahrungen des Xiqu absorbieren wollen. Es macht uns auch nichts aus, wenn die Peking-Oper-Schauspieler ab und zu für westliche Leute arbeiten, die auf der Suche nach ihren Wurzeln sind. Aber das Kernproblem von dem Ganzen liegt darin, dass wir angefangen haben, zufrieden und stolz darüber zu sein, als wir den Applaus [Amerikas] hörten. Die in zahlreichen Zeitungen genannten Formulierungen wie ,Produkt des Austauschs‘ und ,Verschmelzung Chinas und des Westens‘ erscheinen vielmehr wie unsere Illusion. Das Xiqu ist eigentlich nicht auf die Weltbühne gegangen. Stattdessen sind die heterogenen westlichen Kunstformen und Ideologien in großem Schritt näher gekommen. Im Austausch zwischen China und dem We151

Tang, Xiao-bai, in: Chinese Theatre, 1996, S. 44

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen sten befinden wir uns in einer solch unterlegenen Position, dass wir kaum noch über Autonomie verfügen.“152

Dass er trotz allem keine Einwände gegen Steadmans angebliche Zielsetzung – mit Hilfe der Peking-Oper das antike Theater wieder zu beleben – erhebt, liegt v.a. darin begründet, dass die griechische Tragödie in China tatsächlich als Wurzel der westlichen (einschließlich der amerikanischen) Zivilisation angesehen wird. Die Aufführung Bakai lässt sich insofern weder als Repräsentation des Xiqu noch als Verschmelzung der chinesischen und westlichen Kultur auffassen, als sie auf Grund des Anspruchs nach „Authentizität“ des antiken Theaters keinerlei Eigenschaften des Xiqu integriert und keine inhaltliche Interpretation bzw. Anknüpfung an die chinesische Kultur herstellt. Demzufolge lässt sich meines Erachtens Bakai nicht als Adaption der griechischen Tragödie, sondern als eine Schein-Adaption der Peking-Oper auffassen. Auch wenn Tang nicht explizit von westlicher Ideologie spricht, deutet das Wort „heterogen“ auf die Strategie der Hybridität hin, welche ebenfalls anhand von Steadmans Konzept verfolgt wird, indem die Herstellung der „Authentizität“ nur als Vorwand dient. Weiterhin erläutert Tang Xiao-bai, welche Konsequenzen diese „Kooperation“ zur Folge hat bzw. welche Auswirkungen die Ideologie der Hybridität auf die eigene Tradition ausübt und wie man mit dieser unvermeidlichen Strömung umgehen sollte: „Die Ungleichheit bei der heutigen kulturellen Zusammenarbeit ist oft sehr verborgen, so dass sie schwer erkannt werden kann. Die Durchdringung der heterogenen westlichen Kulturformen sowie ihre milden Urteile und ihre ‚sanfte‘ Rhetorik resultieren darin, dass wir unsere indigene Tradition allmählich verlieren und das Verantwortungsgefühl für die Weitergabe der Volkskultur geschwächt wird. Es ist traurig, aber es gibt uns eine Ermahnung, dass wir unser Augenmerk noch mehr darauf richten sollten, mit Leidenschaft und Weisheit das Xiqu weiterzuentwickeln. Denn die Selbstrettung ist der einzige Ausweg, um zu einem gleichberechtigten Dialog zu gelangen. Nur wenn wir uns selbst treu bleiben, sind wir imstande, die Kulturen der Anderen aufzunehmen.“153

Hieraus geht hervor, dass nach Tangs Ansicht die Machtausübung auf subtile Weise stattfindet, so dass sie aus Unwissenheit im Inland aufgenommen oder sogar begrüßt wird. Während die Rhetorik den Anschein einer Aufwertung, Anerkennung und Gleichberechtigung erweckt, ermöglicht die Strategie der Hybridität, die Grenzen der Nationen zu überschreiten, sich das Andere anzueignen und ei-

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Tang, Xiao-bai, in: Chinese Theatre, 1996, S. 44 Ebd.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? ne Hierarchie aufzubauen. Dabei bestehen für Tang die zentrale Problematik und die langfristigen Auswirkungen darin, dass die (exotisierte) Hybridität zum Verlust der Tradition und zur kulturellen Entwurzelung beiträgt, indem sie als Ideologie ins Inland eindringt und sich dort etabliert. Dies liegt an zwei miteinander zusammenhängenden Faktoren: Zum einen löst sich das Individuum, wie am Beispiel Chen Shi-zhengs deutlich wird, von seiner ursprünglichen kulturellen Identität los und trägt auf Grund der hybriden Identität keinerlei Verantwortung für eine bestimmte Kultur. Dieses Phänomen geht daher Hand in Hand mit Catherine Diamonds Kritik an den bei interkulturellen Projekten beteiligten zeitgenössischen Regisseuren, dass sie ausschließlich für den globalen Markt bzw. den Marktbedarf der westlichen Metropolen arbeiten und keine Interaktion mit ihren lokalen Zuschauern führen, wobei sie sich in Anlehnung an das hybride Konzept ebenso wie die westlichen Regisseure die eigene Tradition zunutze machen, um vergleichbare orientalistische Spektakel zu schaffen. Zum anderen wird das Xiqu nach dem Prinzip der Hybridität aus seinem zeitlichen und räumlichen Kontext (vor allem der lokalen Zuschauer), gerissen und beliebig fragmentiert, so dass die traditionelle Kunst und Kultur weder weitergegeben noch weiterentwickelt werden kann. Obwohl Tang die Aufführung Bakai in seiner Ungleichheit des kulturellen Austausches nicht als Einzelfall betrachtet und beim „Selbst“ die Lösung für diese interkulturelle Problematik sieht anstatt beim „Anderen“, lässt sich dennoch aus dem von ihm dargestellten Ergebnis schließen, dass es sich bei diesem Projekt vielmehr um eine kulturpolitische Strategie handeln muss, als eine der Bildung dienenden, visuellen Einführung in das „authentische“ antike Theater. Denn wenn es, wie Steadman selbst behauptet, tatsächlich nur darum gehen würde, drei Peking-Oper-Schauspieler bzw. deren Körperlichkeit zur Wiederherstellung des „originalen“ antiken Theaters einzusetzen, würde dies noch nicht den hohen finanziellen Aufwand erklären. Der eigentliche Grund hierfür kristallisiert sich jedoch eher beiläufig heraus, indem Steadman das China National Beijing Opera Theatre als „Festung der Peking-Oper“ bezeichnet, was die Reise als einen Eroberungsfeldzug erscheinen lässt, um gewaltsam in die traditionelle Schauspielkunst einzudringen. Dass dies sicher nicht nur metaphorisch gemeint ist, wird auch anhand von Tangs Kritik deutlich, dass durch die Annahme des westlichen Kapitals, China seine kulturelle Autonomie entzogen und der Zerfall der traditionellen Kunst und Kultur durch die Ideologie der Hybridität ausgelöst wird. Somit lassen sich neben dem Kapital noch drei weitere wichtige strategische Mittel anführen, die Steadman ermöglicht haben, in

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diese „Festung“ einzudringen, so dass sich die Aufführung in diesem Sinne tatsächlich als „historisches Ereignis“ bezeichnen lässt: Erstens, den Zugang zur internationalen Theaterbühne als Anreiz zu benutzen,154 zweitens, die Wiederbelebung des antiken Theaters als Vorwand zur Legitimation des Projekts anzugeben und drittens, Authentizität und Hybridität auf paradoxe Weise miteinander zu kombinieren, um der Machtausdehnung der USA zu dienen. In ähnlicher Weise wird in den westlichen Ländern der Anschein erweckt, dass es sich bei dieser „Koproduktion“ um eine rein chinesische Adaption der griechischen Tragödie handele. So schrieb der deutsche Kritiker Ernst Schumacher über Bakai: „Ein abschrekkendes Beispiel für eklektizistischen Formalismus bei Aneignung der Bakchen des Euripides bot das ,Nationale Beijing-Oper-Theater [sic!]‘“.155 Er übt somit ausschließlich Kritik an Chen Shi-zheng aus, ohne die Beteiligung der New York Greek Drama Company oder Peter Steadmans zu erwähnen. Obwohl die Peking-Oper in keiner Weise zu erkennen ist, schreibt er die Aufführung allein der chinesischen Seite zu. Auf ähnliche Weise nannte Edith Hall die Aufführung Bakai im Kontext weltweiter Adaptionen von Euripides’ Bakchen als „chinesische Adaption in Peking-Oper-Form“ und sie verweist lediglich darauf, dass sich Chen Shi-zheng seit 1987 auf Grund seiner Tätigkeit in den USA für die griechische Tragödie interessiere. Diese spärlichen und verallgemeinerten Hinweise erwekken somit den Anschein, dass die Aufführung allein von Chen ausgegangen und verwirklicht worden sei.156 Sogar bei der Biographie Chen Shi-zhengs, die von seiner Management-Firma Real Arts and Culture im Internet veröffentlicht wurde, wird Bakai als Chens eigene Produktion aufgeführt, die vom China National Beijing Opera Theatre aufgeführt wurde.157 Es ist offensichtlich, dass hierbei die unumstößliche Tatsache der Kooperation mit der New York Greek Drama Company ausgeblendet wird, aber gerade dadurch, dass die 154

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Es befand sich bereits eine Welttournee in Planung, jedoch sind nur Auftritte beim Hongkong Arts Festival (1997) sowie dem Athen Festival (1998) zustande gekommen. Schumacher, Ernst: „Die zweite Erfindung des Chores: China und Indien in Delphi: Symposium über antikes Drama mit asiatischen Gastspielen“, in: Berliner Zeitung, 31.07.1998 Chen Shi-zheng wird bei Edith Hall als ehemaliger Peking-Oper-Sänger dargestellt, was nicht korrekt ist, da er Schauspieler in der volkstümlichen Opernform Hunan Huagu xi (eine lokale Theaterform der Provinz Hunan) war, welche durch die Volkslieder und den Arbeitsgesang innerhalb der bäuerlichen Gesellschaft entstand. Siehe: Hall, in: Dies./ Macintosh/Wrigley (Hg.) 2004, S. 4 N.N.: „Chen, Shi-Zheng: Oper-/Theater-/Film-Direktor“, in: http://www. realartsandculture.com/chen_shi_zheng.html [Stand: 25.07.2008]

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maßgebliche Rolle der USA in den Hintergrund tritt, kann der Anschein der Universalität der griechischen Tragödie erweckt werden. Im Unterschied dazu beschreibt Catherine Diamond den finanziellen Hintergrund sowie Steadmans Ansatz und gibt auch Chens Geständnis wieder, dass er sich zuvor nie mit Euripides’ Bakchen beschäftigt habe und dass auch keiner der beteiligten Peking-OperSchauspieler jemals das griechische Drama gelesen habe.158 Dennoch geht auch sie nicht auf Steadmans Konzept ein und sie macht anhand der fehlenden inhaltlichen Auseinandersetzung Chen Shizheng allein für die Hervorbringung des „orientalistischen Spektakels“ verantwortlich und bezichtigt China mitsamt der anderen östlichen Länder der Ambition einer kulturellen Gleichstellung mit dem Westen, indem sie sich eine westliche Ikone aneignen würden. Diamonds Argumentation basiert dabei auf der Annahme, dass Chen bzw. China autonom seien und die Großzügigkeit der USA sowie die griechische Tragödie als westliche Ikone missbrauchen, was jedoch anhand Tangs plausibler Analyse eindeutig widerlegt werden kann. Dass die Aufführung in den westlichen Ländern einseitig den Interessen der chinesischen Seite zugeschrieben werden kann, wird allein mit der ethnischen Zugehörigkeit Chen Shi-zhengs begründet. Anhand Ren Xiu-lins Lob über Chen Shi-zheng ist zu erkennen, dass sie ebenfalls Steadmans Konzept ausblendet und die Inszenierung allein Chen zuschreibt. Dies deutet darauf hin, dass die ethnische Identität mit nationaler Identität gleichgesetzt wird, so dass die Anerkennung Chens in den USA auch zu einem nationalen Erfolg wird. Daraus geht hervor, dass die Produktion auf Grund der chinesischen Abstammung Chen Shi-zhengs offenbar auch im Inland den Anschein der eigenen Autonomie erweckt, wodurch das kulturimperialistische Interesse unbemerkt bleibt. Indem Chen somit als Deckmantel für das Eindringen Steadmans in die „Festung der Peking-Oper“ fungiert, erweist sich die Mimikry-Strategie, die von Homi Bhabha als individueller Widerstand gegen den Kolonialismus propagiert wird,159 in Wirklichkeit als effektives strategisches Mittel zur Verschleierung des Kulturimperialismus. Auf Grund dieser doppelten Funktion Chens verdeutlicht sich, weshalb es Steadman vorzog, anstatt selbst sein Konzept auszuführen, Chen Shi-zheng damit zu beauftragen: So dient er einerseits dazu, das Eindringen Steadmans in die „Festung der Peking-Oper“ zu kaschieren sowie andererseits den Anschein der Universalität der griechischen Tragödie zu bestätigen.

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Diamond 1999, S. 144 Siehe Kap. I.2.2

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Die von Steadman initiierte „Koproduktion“ mit China korrespondiert daher mit Sallie Goetschs Ausgangspunkt und Zielsetzung, die chinesische Theatertradition als archaisch und primitiv darzustellen, so dass sie als geeignet erscheint, durch die Fusion das antike griechische Theater wieder zu beleben. Außerdem widerlegt sie die drei folgenden Behauptungen Marianne McDonalds: Erstens, die griechische Tragödie sei universell. Zweitens, ihre universelle Wahrheit bestehe in der Humanität. Drittens, ihre Konstitution als universeller Kanon habe nichts mit einer imperialistischen Waffe zu tun. Weiterhin muss auf die Frage eingegangen werden, wieso Marianne McDonald gerade im Jahre 1992 artikuliert, dass die Konstruktion der Universalität der antiken Klassiker als politische Angelegenheit behandelt werden müsse und wieso Sallie Goetsch nur zwei Jahre später davon spricht, dass nun die Zeit reif für die Fusion der griechischen Tragödie und der chinesischen Theatertradition sei, wobei sich die Frage stellt, wie sie zu dieser Überzeugung kommt. Zunächst muss festgehalten werden, dass die makropolitische Situation zu jener Zeit durch das Ende des Kalten Krieges und einer Phase des Umbruchs geprägt war, indem der Übergang von einer vormals in zwei Machtblöcke gespaltenen Welt hin zu einer unipolaren Vorherrschaft der USA als einzig verbleibender Supermacht eingeleitet wurde. Es ist daher nahe liegend, dass die USA seitdem neben der politischen Vorherrschaft auch auf kulturellem Gebiet eine globale Gültigkeit amerikanischer bzw. „westlicher“ Werte beanspruchen, wobei jedoch fraglich ist, inwiefern eine US-amerikanische Kultur mit einer „westlichen“ gleichgesetzt werden kann, ob die westliche Kultur einschließlich der griechischen Tragödien überhaupt „universellen“ Charakter besitzen kann und mit welcher Zielsetzung die USA die Förderung von Fusionen griechischer Tragödien mit östlichen Theatertraditionen vorantreiben. Auf all diese Aspekte soll im nächsten Unterpunkt eingegangen werden.

III.2.4 Universalismus des Westens als hegemoniale Strategie der USA In seiner Address on the State of Union von 1992 erklärte der damalige US-Präsident George Bush sen., dass die USA den Kalten Krieg gewonnen habe und er konstatierte daraus Folgendes: „[A] world once divided into two armed camps now recognizes one sole and preeminent power, the United States of America. And this they regard with no

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Westlicher Geist im östlichen Körper? dread. For the world trusts us with power, and the world is right. They trust us to be fair, and restrained. They trust us to be on the side of decency. They trust us to do what's right.“160

Infolge des Zerfalls der Sowjetunion wurde der sog. „Ost-Block“ aufgelöst, wodurch die USA als einzige Supermacht der Welt verblieb. Obwohl Bush behauptete, dass die ganze Welt den USA vertraue, forderte er dennoch dazu auf, entsprechende Vorbeugungsmaßnahmen gegen diejenigen Länder zu ergreifen, die neben den USA ebenfalls noch Atomwaffen besitzen. Dies begründete er mit den Worten: „[W]e are the United States of America, the leader of the West that has become the leader of the world.“ 161 Dies bedeutet nicht zuletzt, dass dieser Auffassung nach nur die USA über Atomwaffen verfügen dürfen. Unter der Annahme, dass andere Länder, allein auf Grund des Besitzes von Atomwaffen eine Bedrohung gegenüber Amerika bzw. der ganzen Welt darstellen, sieht er sich daher berechtigt, die USA zur unangefochtenen Weltmacht auszudehnen. Wie dieses politische Selbstverständnis der USA als führende Weltmacht mit dem Wandel der amerikanischen Identität und dem Anspruch nach universeller „westlicher“ Kultur in Verbindung steht, verdeutlicht sich in Samuel P. Huntingtons Buch The Clash of Civilizations (Der Kampf der Kulturen) aus dem Jahre 1996, dem damaligen Berater des US-Außenministeriums und Mitbegründer der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik Foreign Affairs. Bereits 1993 veröffentlichte er in dieser Zeitschrift einen gleichnamigen Artikel, der damals noch mit einem Fragezeichen versehen war. Das Buch lässt sich als Fortsetzung dieses Artikels betrachten. Beide handeln von der Entwicklung der globalen Politik nach dem Ende des Kalten Krieges. Dabei teilt er die Welt in sieben „Kulturkreise“ (im englischen Originaltext als civilization bezeichnet) ein – sinisch (chinesisch)162, japanisch163, hinduistisch, islamisch, afrika-

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Bush, George H. W.: „Address on the State of the Union“, am 28.01.1992, transkribierte Version veröffentlicht in: The New York Times, 29.01.1992 Ebd. Huntington führt seine Bezeichnung „sinisch“ auf Begriffe wie „Sinologie“, „Sinica“ und „Sinisierung“ zurück und begründet diese Formulierung damit, dass die chinesische Zivilisation nicht nur durch den Konfuzianismus geprägt sei und ihr Einfluss sich weiter auf ganz Südostasien und Korea erstrecken würde, weshalb er Südostasien und Korea ebenfalls dem „sinischen“ Kulturkreis zuordnet. Siehe: Huntington 1998, S. 58 Huntington spricht sich gegen die wissenschaftliche Erkenntnis bzw. die herrschende Meinung der Sinologie aus, dass die japanische Kultur eng mit der chinesischen verbunden ist und er vertritt die Meinung, dass sie sich bereits 100 bis 400 n.Chr. aus der chinesischen Zivilisation heraus-

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nisch, lateinamerikanisch und westlich – und stellt die These auf, dass die Weltpolitik des 21. Jh. nicht primär von politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Auseinandersetzungen, sondern von Konflikten zwischen den unterschiedlichen Kulturkreisen bestimmt sein werde. Ihm zufolge werden sich Auseinandersetzungen besonders auf Konflikte zwischen dem „Westen“ und dem Islam sowie zwischen dem „Westen“ und Asien konzentrieren, wobei er für die Zukunft eine „islamisch-konfuzianische Koalition“ prognostiziert, die sich gegen den „Westen“ verbünde. Als Ursache hierfür nennt er die Bevölkerungsexpansion in der islamischen Welt sowie das Wirtschaftswachstum Asiens, wobei er v.a. im wirtschaftlichen Aufstieg Chinas eine Gefährdung für die „westliche“ Kultur sieht. Huntington definiert den Begriff „Westen“ unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den USA und Europa auf folgende Weise: „Der Westen umfasst also Europa, Nordamerika sowie andere von Europäern besiedelte Länder wie Australien und Neuseeland. [...] Sobald die USA einmal die Weltbühne betraten, entwickelte sich das Gefühl einer größeren Identität mit Europa. Das Amerika des 19. Jh. definierte sich über seinen Unterschied und Gegensatz zu Europa; das Amerika des 20. Jh. definiert sich als Bestandteil und sogar als Führer einer umfassenderen Einheit, eben des Westens, zu der auch Europa gehört. Historisch gesehen ist westliche Kultur europäische Kultur. Heute ist westliche Kultur euroamerikanische oder nordatlantische Kultur.“164

Dabei betrachtet er die Verwendung des Begriffs „Westen“ als Nachteil für Amerika, weil das daraus gebildete Wort „Verwestlichung“ den Anteil des kulturellen Einflusses Amerikas nicht deutlich genug zum Ausdruck bringe und vielmehr noch, weil die USA sich seit dem 20. Jh. sogar als Führer des Westens definieren. 165 Es lässt sich erkennen, dass das Verhältnis der USA zu Europa hinsichtlich der Selbstdefinition der amerikanischen Identität zwiespältig ist. Denn einerseits streben die USA danach, sich von Europa abzugrenzen, um sich über Europa erheben zu können; andererseits will sich Amerika die europäische Kultur aneignen, um die weltweit verbreitete „Verwestlichung“ ebenfalls auf Amerika zurückführen zu können. Er geht hierbei sogar so weit, dass die Existenz Europas bzw. der westlichen Kultur letzten Endes von den USA abhänge:

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entwickelt hat und als eigener Kulturkreis betrachtet werden soll. Wie er zu dieser Ansicht kommt, wird jedoch von ihm weder belegt noch weiter begründet. Siehe: Huntington 1998, S. 58ff Ebd., S. 60 Ebd., S. 61ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? „Die Ablehnung des Credos und der westlichen Kultur bedeutet das Ende der Vereinigten Staaten von Amerika, wie wir sie gekannt haben. Sie bedeutet praktisch auch das Ende der westlichen Kultur. Wenn die USA entwestlicht werden, reduziert sich der Westen auf Europa und ein paar gering bevölkerte europäische Siedlungsgebiete in Übersee. Ohne die USA wird der Westen zu einem winzigen, weiter schrumpfenden Teil der Bevölkerung auf einer kleinen, unwichtigen Halbinsel am Rande der eurasischen Landmasse.“166

Dabei ist fraglich, wie ein passiver Akt der Ablehnung zum Untergang der USA bzw. der westlichen Kultur führen kann. Ebenfalls ist unverständlich, wie und wodurch Amerika „entwestlicht“ werden kann, und warum Europa ohne die USA automatisch zu einer „unwichtigen Halbinsel“ wird. Seine Aussage lässt erkennen, dass er nicht nur den Stellenwert der USA für die heutige Entwicklung der westlichen Kultur dem Stellenwert Europas überordnet, sondern damit auch implizit Europa auffordert, diese Superiorität der USA innerhalb des Westens anzuerkennen. Dass umgekehrt wiederum aber eigentlich die USA der europäischen Kultur bedürfen, wird an folgender Aussage Huntingtons deutlich: „Die Zukunft der USA und die Zukunft des Westens hängen davon ab, dass die Amerikaner ihre Bindung an die westliche Kultur bekräftigen. [...] Wenn Amerikaner ihre kulturellen Wurzeln suchen, finden sie sie in Europa“.167 Daher geht es weniger darum, dass die USA entwestlicht werden, sondern vielmehr darum, dass die Amerikaner sich im Inland mit ihren „westlichen“ bzw. europäischen Wurzeln identifizieren und die europäische Kultur für sich beanspruchen können, um sich auf der Weltbühne als „Westen“ zu präsentieren, ohne dabei jene Bevölkerungsschichten in den USA auszuklammern, deren Ursprung sich nicht auf die europäische Kultur zurückführen lässt. Warum allerdings nach dem Ende des Kalten Krieges diese Fragen nach der Homogenität der westlichen Identität und der Rückbesinnung auf die europäischen Wurzeln für die USA von zentraler Bedeutung geworden sind und welche Weichenstellungen für die Zukunft der USA mit dieser Hinwendung zur europäischen Kultur und dem Bekenntnis zur westlichen Identität erfolgt sind, verdeutlicht sich anhand folgender Aussage Huntingtons: „Eine universale Kultur bedarf universaler Macht. Die Macht Roms schuf eine fast universale Kultur in den engen Grenzen der Klassischen Welt. Die Macht des Westens in Gestalt des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert und die amerikanische Hegemonie im 20. Jahrhundert dehnten die westliche Kultur

166 167

Huntington 1998, S. 504 Ebd., S. 505ff

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen über weite Teile der zeitgenössischen Welt aus. Der europäische Kolonialismus ist vorbei; die amerikanische Hegemonie schrumpft.168

Da also seiner Behauptung nach die westliche Kultur doch bereits universal sei, stellt sich die Frage, wozu sie überhaupt noch universale Macht beanspruchen müsse. Indem er am Beispiel des Römischen Reiches darauf verweist, dass die Macht eines Imperiums eine universelle Kultur erschafft und konstruiert, widerlegt er damit seine eigene Behauptung über das kausale Verhältnis zwischen Macht und universeller Kultur. Seine Analogie zwischen der Macht Roms, dem europäischen Kolonialismus und der amerikanischen Hegemonie zeigt auf, dass die politischen Bestrebungen nach universeller Macht mit den Bestrebungen nach einer universellen Kultur Hand in Hand gehen. Dies verdeutlicht sich umso mehr, als Huntington auf folgende Weise darlegt, wie und weshalb die USA eine „universale westliche Kultur“ befördern: „Der Westen und besonders die USA, die immer eine Nation mit Sendungsbewußtsein gewesen sind, sind überzeugt, dass die nichtwestlichen Völker sich für die westlichen Werte – Demokratie, freie Märkte, kontrollierte Regierung, Menschenrechte, Individualismus, Rechtsstaatlichkeit – entscheiden und diese Werte in ihren Institutionen zum Ausdruck bringen sollten. [...] Was für den Westen Universalismus ist, ist für den Rest der Welt Imperialismus. Der Westen versucht und wird weiter versuchen, seine Vormachtstellung zu behaupten und seine Interessen dadurch zu verteidigen, dass er diese Interessen als Interessen der ,Weltgemeinschaft‘ definiert. Dieses Wort ist das euphemistische Kollektivum (Ersatz für ,die Freie Welt‘), um Handlungen, die die Interessen der USA und anderer westlicher Mächte vertreten, weltweit zu rechtfertigen.“169

Hieraus geht eindeutig hervor, dass die weltweite Etablierung westlicher Werte wie Demokratie, Menschenrechte usw. letztendlich dazu dient, die Vormachtstellung des Westens, d.h. insbesondere der USA zu legitimieren. Dabei werden die Interessen der USA nicht nur mit den Interessen des „Westens“, sondern sogar mit denen der gesamten „Weltgemeinschaft“ gleichgesetzt. Diese Vorgehensweise entspricht dabei der Definition des Hegemonie-Begriffs des italienischen Theoretikers Antonio Gramsci (1891-1937), welcher darunter einen Herrschaftstypus verstand, „der im Wesentlichen auf der Fä-

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Huntington 1998, S. 137ff Ebd., S. 292ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

higkeit basiert, eigene Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen zu definieren und durchzusetzen“.170 Anhand Huntingtons vorheriger Äußerung über seine Befürchtung einer „Entwestlichung“ der USA bzw. der Betonung, dass die „universale Kultur“ Europas der universalen Macht Amerikas bedürfe, zeigt sich jedoch, dass der „Westen“ keine homogene Gruppe darstellt. Diese Gleichsetzung Amerikas mit dem „Westen“ erweist sich somit als politische Strategie, die es den USA ermöglicht, sich der europäischen Kultur zu bedienen bzw. die Universalisierung der westlichen Kultur als imperialistische Waffe zur Durchsetzung amerikanischer Hegemoniebestrebungen zu instrumentalisieren. Daraufhin legt Huntington dar, wie die Universalisierung westlicher Kultur und Werte zugunsten der USA bzw. des „Westens“ auch mittels der Anwendung von Doppelmoral erreicht werden kann: „Nichtwestler zögern nicht, auf die Unterschiede zwischen westlichen Prinzipien und westlicher Praxis zu verweisen. Heuchelei, Doppelmoral und ein allfälliges ,aber nicht‘ sind der Preis universalistischer Anmaßungen. Die Demokratie wird gelobt, aber nicht, wenn sie Fundamentalisten an die Macht bringt; die Nichtweitergabe von Kernwaffen wird für den Iran und den Irak gepredigt, aber nicht für Israel; [...] die Frage nach den Menschenrechten wird China gestellt, aber nicht Saudi-Arabien; [...] Doppelmoral in der Praxis ist der unvermeidliche Preis für universalistische Prinzipien. Nachdem sie ihre politische Unabhängigkeit erreicht haben, wollen nichtwestliche Gesellschaften sich auch der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Vormachtstellung des Westens entziehen. [...] Die universalen Bestrebungen der westlichen Zivilisation, die schwindende relative Macht des Westens und das zunehmende kulturelle Selbstbewusstsein anderer Kulturkreise garantieren generell schwierige Beziehungen zwischen dem Westen und dem Rest.“171

Daraus lässt sich schließen, dass der Anspruch nach universellen westlichen Werten in der Praxis auf selektive Weise mit einer Doppelmoral einhergeht, um die militärische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz des Westens bzw. der USA aufrechtzuerhalten bzw. um die Macht noch mehr auszudehnen. Hieraus ist ersichtlich, dass er für den politischen Machtanspruch ein dichotomisches Verhältnis zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“ herstellt. Dabei lässt sich die Verwendung des Begriffs „Kulturkreis“ auf die Kulturkreislehre zurückführen, deren Konzept 1898 von Leo Frobenius zugrunde gelegt und später von Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers weiterentwickelt wurde. Sie gingen 170

171

Borg, Erik: „Steinbruch Gramsci: Hegemonie im internationalen politischen System“, in: http://www.sopos.org/aufsaetze/3bbdcd9ea0c9f/1. phtml [Stand: 09.10.2008] Huntington 1998, S. 293ff

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen

dabei von einem Urkulturkreis aus, der alle anderen Kulturen überlebt und sich durchgesetzt habe, weshalb er der „einzig richtige“ und „hochwertigste“ Kulturkreis sei.172 Da sich dieser durch Monotheismus, Monogamie, Patriarchat und Privateigentum auszeichne, soll diese Charakterisierung ihrer Ansicht nach überwiegend auf den europäischen bzw. westlichen Kulturkreis des 19. Jh. zutreffen. Demnach vertrete der europäische Kulturkreis die am weitesten zurückreichende, ursprünglichste und wahrhaftigste Kultur, während andere Kulturkreise „Abirrungen“ dieses Urkulturkreises darstellen, die auf einem Niveau stagniert seien, auf dem sich der heutige westliche Kulturkreis zu einem früheren Zeitpunkt seiner Geschichte befunden habe.173 Die Kulturkreislehre wurde noch von Leo Frobenius selbst verworfen und wird in der heutigen Ethnologie als wissenschaftlich unhaltbar bezeichnet, da Kulturen weder eindeutig abgrenzbar noch rein sind.174 Insbesondere wird kritisiert, dass die Vorstellung von Kulturkreisen dazu dient, den Westen als Träger einer überlegenen Kultur von nicht-westlichen Kulturen zu unterscheiden.175 Diese längst als überholt und unhaltbar verurteilte Lehre wird von Huntington wieder aufgenommen, um seine These vom „Kampf der Kulturen“ bzw. des „Zusammenpralls der Kulturkreise“ zu untermauern. Anhand seiner Behauptung, dass sich die nichtwestlichen Länder der Macht des Westens entziehen würden, lässt sich nicht mehr anzweifeln, dass sein zentrales Anliegen darin besteht, für die Rückkehr des Kolonialismus zu plädieren, wobei es ihm jedoch weniger um die Reterritorialisierung von Staatsgebieten geht, sondern vielmehr um die Vorherrschaft in den Bereichen Militär, Wirtschaft und Kultur. Ferner erläutert Huntington, weshalb China nach dem Kalten Krieg eine Bedrohung für die USA sowie den „westlichen Kulturkreis“ darstelle:

172

173

174 175

Vgl. Rössler, Martin: „Die deutschsprachige Ethnologie bis ca. 1960: Ein historischer Abriss“, in: Kölner Arbeitspapiere zur Ethnologie Nr. 1, April 2007, S. 13ff Es ist anzumerken, dass der Begriff „Kulturkreis“ nach Beobachtung von Ruth Kronsteiner in den letzten Jahren (insbesondere nach dem 11.9.2001) wieder verstärkt Einzug in die Alltagssprache und in die Medien gehalten hat. Siehe: Kronsteiner, Ruth: „‚Kulturkreis‘ oder Rassismus/Sexismus im neuen Gewand? Zur Dekonstruktion ‚alter‘ und ‚neuer‘ Unterschiede“, Vortrag in der ISOP-Veranstaltung, Graz, 20.04.2005, in: http://www.isop.at/veranstaltungen/KronsteinerVortrag20_4_20051.pdf [Stand: 20.09.2008] Siehe: Kap. I.1.1 Kronsteiner 2005, a.a.O.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? „Da China die USA als seinen Hauptfeind definiert hat, wird Amerika dazu tendieren, als primäres Gegengewicht aufzutreten und die Eindämmung Chinas zu verfolgen. Eine solche Rolle zu spielen, entspräche dem traditionellen Interesse der USA, in Europa oder Asien die Vorherrschaft einer einzigen Macht zu verhindern. Dieses Ziel ist zwar in Europa nicht mehr von Bedeutung, könnte es aber für Asien werden. Eine lose Allianz in Westeuropa, die mit den USA kulturell, politisch und wirtschaftlich eng verbunden ist, stellt keine Bedrohung amerikanischer Sicherheitsinteressen dar. Anders dagegen ein geeinigtes, machtvolles und selbstbewusstes China. [...] Sind die USA nicht bereit, die Hegemonie Chinas zu bekämpfen, werden sie ihren universalistischen Anspruch aufgeben, sich mit dieser Hegemonie arrangieren und damit abfinden müssen.“176

Die in diesem Abschnitt aufgestellten Behauptungen, dass China die USA zum Hauptfeind ernannt haben soll und dass China seinerseits nach Hegemonie strebe, werden jedoch bei Huntington durch nichts belegt und können daher als reine Polemik eingestuft werden. Zudem widerspricht diese Darstellung seinem zuvor geäußerten Eingeständnis eines universalistischen Anspruchs der USA, was vielmehr auf US-amerikanische statt auf chinesische Hegemoniebestrebungen verweist. 177 Offensichtlich greift Huntington hier auf die altbewährte Strategie in Form eines Klischeebildes aus der Kolonialzeit zurück, als die europäischen Kolonialmächte um 1900 das Topos der Gelben Gefahr heraufbeschworen, indem zunächst Bedrohungsängste durch China geschürt wurden und im russischjapanischen Krieg (1904-1905) gar durch einen angeblich bevorstehenden Zusammenschluss Chinas und Japans, um damit ihre imperialistischen Interessen zu legitimieren. Wie hieran zu erkennen ist, wurde und wird der Exotismus für den Kolonialismus und Rassismus instrumentalisiert, so dass gesicherte Fakten nicht mehr dazu beitragen können, um eine Situation realistisch beurteilen und rational einordnen zu können.178

176 177

178

Huntington 1998, S. 375 Die US-Militärbasen erstrecken sich auf die asiatischen Staaten Japan, Südkorea, Philippinen, Thailand und Singapur. Nach dem 11.9.2001 wurde die Stationierung von US-Militär in Zentralasien auf Staaten wie Afghanistan, Pakistan und Tadschikistan ausgeweitet. In Übereinstimmung mit Huntingtons Aufforderung lässt sich dies als strategisch günstige Positionierung für eine militärische Auseinandersetzung mit China auffassen. Siehe: Dufour, Jules: „The Worldwide Network of US Military Bases“, 01.07.2007, in: http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid =5564 [Stand: 09.08.2008] Vgl. Gebhard, Walter: „Einführung“, in: Ders. (Hg.): Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation: Zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900, München 2000, S. 18

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Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen

Indem Huntington betont, dass Europa heute keine Bedrohung für die USA darstellt, deutet er damit an, dass auch keine andere Macht auf der Welt entstehen darf, die in der Lage ist, mit den USA konkurrieren zu können. Dies entspricht auch den Richtlinien der amerikanischen Außenpolitik, wie sie im Jahre 1992 in einem Dokument des Pentagons zum Ausdruck gebracht wurden: „The Defense Department asserts that America’s political and military mission in the post-cold-war era will be to ensure that no rival superpower is allowed to emerge in Western Europe, Asia or the territories of the former Soviet Union.“179 Dabei ist anzumerken, dass Paul Wolfowitz, der damalige Chef der politischen Abteilung im Ministerbüro des Pentagon und spätere Präsident der Weltbank, sogar noch vor Deutschland und Japan als möglichen weltpolitischen Gegnern gewarnt hatte,180 woran sich erkennen lässt, dass sowohl von Seiten des Pentagon als auch Huntingtons die Etablierung eines neuen Feindbildes der USA voran getrieben wird, was letztlich vielmehr mit machtpolitischen Strategien als mit kultureller Problematik zu tun hat. Die von Huntington in Bezug auf Kultur aufgestellte antagonistische Beziehung zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“ entpuppt sich somit als nicht stichhaltig und lässt sich als strategisches Mittel auffassen, um einerseits den „Westen“ zu homogenisieren und andererseits ein gemeinsames Feindbild gegenüber den westlichen Verbündeten zu präsentieren. Indem er den Konflikt zwischen China und den USA auf den universalen Machtanspruch der USA zurückführt, widerlegt er seine eigene These, dass zukünftige Weltkonflikte im 21. Jh. von den Kulturen bzw. Kulturkreisen ausgehen würden. Hieran ist ersichtlich, dass die Universalisierung der westlichen Kultur und Werte nur einen Vorwand darstellt, um die Machtausdehnung der USA zu legitimieren. Huntingtons Forderung nach der Bekräftigung der westlichen Identität sowie seiner Darlegung des Zusammenhangs zwischen Universalisierung der westlichen Kultur und der Geopolitik der USA korrespondiert unmittelbar mit Marianne McDonalds Eintreten für die Konstitution der griechischen Tragödie als eigenes (amerikanisches) Kulturerbe und als universaler Kanon. Auch seine Behauptung, dass sich die Macht des Westens auf Grund des zunehmenden kulturellen Bewusstseins Asiens bzw. Chinas verringern würde, scheint bei Peter Steadman Anklang zu finden, wenn er im Namen der Wiederbelebung des antiken Theaters die Ideologie der Hybridi-

179

180

Tyler, Patrick E.: „U.S. Strategy Plan Calls for Insuring No Rivals Develop: A One-Superpower World: Pentagon’s Document Outlines Ways to Thwart Challenges to Primacy of America“, in: The New York Times. March 8, 1992 Ebd.

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Westlicher Geist im östlichen Körper?

tät in China salonfähig macht und zum Zerfall der Kulturtradition sowie der kulturellen Entwurzelung beiträgt. Es lässt sich daher folgern, dass die Konstruktion der Universalität der griechischen Tragödie u.a. mittels der finanziellen Förderung ihrer Fusion mit östlichen Theatertraditionen zum konzeptuellen Programm des Kulturimperialismus der USA gehört. Indem die USA auf Grund ihrer jungen Geschichte im Allgemeinen nicht primär als „Kulturnation“ wahrgenommen werden, beanspruchen sie durch die Vereinnahmung der griechischen Tragödie das rechtmäßige Erbe der europäischen Kultur, um hierdurch die politische Vormachtstellung innerhalb des Westens sowie gegenüber der ganzen Welt mit dem Argument kultureller Überlegenheit legitimieren zu können.

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EPILOG

Aus der vorliegenden Untersuchung geht hervor, dass die Fusion griechischer Tragödien mit traditioneller chinesischer Schauspielkunst sowohl von chinesischer und taiwanesischer als auch von westlicher Seite benutzt wird, um damit eigene Interessen durchzusetzen. Während erstere damit Zugang zu internationalen Theaterfestivals sowie kulturelle Anerkennung erlangen möchten, richtet sich die Zielsetzung letzterer auf die Konstruktion der Universalität der westlichen Kultur. Dabei basieren solche Fusionen allerdings auf einem Ungleichgewicht zwischen Ost und West, indem der Westen die „eigene“ Kultur mit dem Anspruch der Universalität verbindet und östlichen bzw. „nicht-westlichen“ Kulturen hingegen Partikularität zuschreibt. Wie in K.III.2 dargelegt, setzen sich seit dem Ende des Kalten Krieges insbesondere die USA für solche Fusionen ein, um damit ihre kulturelle Dominanz zu untermauern. Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb der Universalismus so relevant für die hegemoniale Strategie der USA ist und warum die USA hierfür insbesondere auf die griechischen Tragödien zurückgreifen, anstatt sich anderer westlicher Klassiker zu bedienen. Zunächst muss klargestellt werden, dass solche Dichotomien nach dem Muster „Universalität – Partikularität“ einem politischen Kontext entstammen, der zwar weit in die europäische Kolonialgeschichte hinein reicht, dabei aber dennoch nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat, wie bei gegenwärtigen kulturpolitischen Diskursen festzustellen ist. So ist z.B. bei Huntington die Konstruktion eines idealisierten Westens festzustellen, indem eine Verknüpfung des westlichen Universalitätsanspruchs mit Werten wie Individualismus, Modernität, Freiheit, Demokratie und Globalisierung stattfindet, wohingegen die Partikularität mit Kollektivismus, Traditionalismus, Unterdrückung, Despotismus und Lokalismus assoziiert wird.1 Nach diesem Modell lässt sich laut Huntington die Komplexi-

1

Kraler, Albert: „Nachlese Politische Theorien – Universalismus, Partikularismus, Eurozentrismus und Androzentrismus“, 31.10.2002, in: http://evakreisky.at/onlinetexte/nachlese_ismen.php [Stand: 13.12.2008]

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Westlicher Geist im östlichen Körper? tät der kulturellen Vielfalt auf die simple Formel „the West and the Rest“ zurückführen, was jedoch bedeuten würde, dass sowohl das antike Griechenland und das moderne Amerika einerseits als „westlich“ als auch andererseits alle übrigen Kulturen als „nichtwestlich“ zu einer ebenfalls homogenen Gruppe zusammengefasst werden.2 Eine solch simplifizierende Darstellung kann aber nicht nur der in der Realität existierenden kulturellen Vielschichtigkeit der Welt nicht gerecht werden, sondern sie eignet sich auch für eine machtpolitische Instrumentalisierung, weil sie ein unrealistisches Schwarz-Weiß-Muster darstellt, auf dessen Grundlage die Welt in Form weiterer Gegensatzpaare wie etwa „gut – böse“ aufgeteilt wird. Der Westen betrachtet sich hierbei als Repräsentant des „Guten“, indem er „universelle Werte“ wie Demokratie und Menschenrechte für sich beansprucht und dabei „nicht-westlichen“ Kulturen unterstellt, dass dort solche, d.h. mindestens ebenbürtige, Werte nicht vorhanden sein können, wenn sie nicht zuvor vom Westen dorthin exportiert worden seien. In Übereinstimmung hiermit resultiert daraus, dass bei Fusionen griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen solche kategorischen Zuschreibungen maßgeblich sind, indem einerseits der Führungsanspruch der westlichen Kultur und andererseits die Unterlegenheit östlicher Kulturen untermauert werden, da hierbei gegenwärtige östliche Kulturen mit den Ursprüngen der westlichen Kultur gleichgesetzt werden, ohne jedoch ihrerseits „Universalität“ beanspruchen zu dürfen. Wie sich bei der chinesischen BakaiAufführung gezeigt hat, wird nicht nur die Suche nach den „eigenen“, westlichen Wurzeln bzw. die Wiederbelebung des antiken Theaters, sondern auch der gleichberechtigte kulturelle Austausch als Vorwand benutzt, um in Anknüpfung an die Kulturkreislehre die aus der Kolonialzeit stammende Hierarchie zwischen Orient und Okzident wiederherzustellen. Somit lässt sich die eingangs erwähnte Behauptung Edith Halls widerlegen, dass sich die östlichen Länder durch die Fusion westlicher Klassiker mit östlichen Theatertraditionen von der Bürde des Kolonialismus befreien und auf ihre eigenen Traditionen zurückbesinnen können, während sich umgekehrt der Westen für das kulturelle Selbstbewusstsein der östlichen Kulturen interessiere.3 Auch Edith Halls optimistische Einschätzung, dass die griechischen Tragödien mit Blick auf die zukünftige politische Entwicklung auf Grund des „vertieften Krieges im dritten Millennium zwischen den USA und dem Islam“ noch einmal ein „Medium für die Erfor-

2 3

Huntington 1998, S. 291ff Vgl. Einleitung

322

Epilog schung der Spannungen zwischen Ost und West“ sein können, 4 trägt letztlich dazu bei, die Spannungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen noch zu vergrößern. Denn diese Aussage basiert ebenfalls auf einer dichotomischen Grundlage, welche erstens verkennt, dass es sich beim Islam um eine Religion handelt, die nicht an bestimmte Nationen oder Kulturen gebunden ist und damit zweitens sämtlichen Muslimen pauschal Gewaltbereitschaft unterstellt, wodurch sie letztlich den Islam mit Terrorismus gleichsetzt. Ihre Argumentation beruht somit auf einer ebenso abstrakten und diffusen Wahrnehmung nicht-westlicher Kulturen, wie sie durch die Fusion östlicher Theatertraditionen mit griechischen Tragödien hergestellt werden, indem sie nicht mehr als konkrete, d.h. definierbare und lokalisierbare Kulturen erkannt werden können, sondern lediglich als die „Anderen“. Weiterhin deutet ihre Formulierung „noch einmal“ darauf hin, dass die griechische Tragödie bereits in ihrer historischen Vergangenheit ein „Medium“ für eine solche Sichtweise war, so dass ihre Rolle diesbezüglich heute die gleiche ist. Daher muss zunächst erläutert werden, welche Funktion die griechische Tragödie in ihrer Vergangenheit als „Medium für die Erforschung der Spannungen zwischen West und Ost“ zu erfüllen hatte. Bei der Klärung dieser Frage müssen zwei Aspekte berücksichtigt werden: Zum einen, welches Verhältnis zwischen antiken Griechen und orientalischen Völkern in den Tragödien vermittelt wird und zum anderen, inwiefern die griechische Tragödie bzw. das antike Theater mit dem politischen System Athens in Verbindung steht. Bezüglich des ersten Gesichtspunktes wies Edward Said darauf hin, dass der „orientalisierte Orient“ auf die griechische Tragödie zurückgeht und er nennt hierfür als Beispiele Aischylos’ Die Perser und Euripides’ Bakchen. Ihm zufolge wird z.B. bei Aischylos ein nicht zu verkennender Patriotismus deutlich, während in Bakchen der Orient als ein fernes Land voller „bedrohlicher“ Mysterien dargestellt und mit Irrationalität verknüpft wird. 5 Auf Grund dieser Konnotationen ist möglicherweise zu erklären, weshalb Peter Steadman speziell Euripides’ Bakchen für seine Koproduktion mit China ausgewählt hatte, da hierbei der Orient mit dem DionysosKult in Verbindung gebracht wird, wodurch die Ekstase und Irrationalität der Gottheit mit den orientalischen Völkern assoziiert wird. Den zweiten Aspekt, inwiefern die politische Ideologie der attischen Demokratie mit dem antiken Theater in Verbindung steht, er-

4

Hall, in: Dies./Macintosh/Wrigley (Hg.) 2004, S. 20

5

Said 1979, S. 55ff u. Vgl. Saïd, Suzanne: „Greeks and Barbarians in Euripides’ Tragedies: The End of Differences?“, in: Harrison, Thomas (Hg.): Greeks and Barbarians, New York 2002, S. 62-100

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Westlicher Geist im östlichen Körper? läutert Flaig anhand der folgenden drei Abschnitte bei der Eröffnungszeremonie der Großen Dionysien, welche ein religiöses Fest zu Ehren des Dionysos darstellten: Bevor die Aufführungen begannen, brachten zunächst die zehn Oberbefehlshaber der athenischen Truppen vor etwa 17.000 Bürgern ein Trankopfer dar. Dann wurden die Tribute der Bundesgenossen in der Orchestra des Theaters (in Anwesenheit der internationalen Gäste) aufgestapelt und anschließend zogen die Kriegswaisen, deren Väter im Krieg gefallen waren und vom Staat bis zur Volljährigkeit aufgezogen wurden, in voller Rüstung ins Theater ein. All dies belegt, dass das Festival u.a. dazu diente, die Macht Athens zu repräsentieren und seine militärische Ideologie zu festigen.6 Auf die gleiche Referenz wie Flaig bezieht sich auch Simon Goldhill und er dementiert damit die Profanisierung Oliver Taplins, nach der die Großen Dionysien vor allem dem Volk zur Zerstreuung gedient hätten, während religiöse oder politische Aspekte kaum eine Rolle gespielt hätten.7 So verweist Goldhill darauf, dass das Festival kein Unterhaltungsprogramm darstellte, sondern der politischen Ideologie diente: „The Great Dionysia is a public occasion endowed with a special force of belief. This is fundamentally and essentially a festival of the democratic polis“.8 Überdies zweifelt Goldhill ebenfalls daran, dass die Tragödien das politische System der Polis grundlegend in Frage gestellt hätten und er erörtert die enge Verbindung zwischen der Tragödie und der attischen Demokratie in folgender Weise: „After the opening ceremony with its display of civic power, tragedy explores the problems inherent in the civic ideology. It depicts a crisis of belief not only in people who hold power but also in the very system and relations by which the hierarchies of power obtain. [...] Indeed, the institution of tragedy seems to flourish precisely over the period in which the democratic city comes into being.“9

Demnach setzten sich die Tragödien diskursiv mit den durch gesellschaftliche Veränderungen entstehenden Krisen innerhalb der demokratischen Stadt auseinander und sie sorgten so für einen gesellschaftlichen Konsens durch den sich das politische System etablieren konnte. Die politische Dimension dieser Feierlichkeiten er6

Flaig, Egon: „Demokratischer Imperialismus. Der Modellfall Athen“, in: Fa-

7

ber, Richard (Hg.): Imperialismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, S. 53ff Goldhill, Simon: „The Great Dionysia and civic ideology“, in: Journal of Hel-

8 9

lenic Studies, Nr. 107, 1987, S. 58 Ebd., S. 68 Goldhill, Simon: Reading Greek Tragedy, Cambridge 1986, S. 76ff

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Epilog gibt sich zudem bereits aus der Tatsache, dass der athenische Staatsmann Perikles (490-429 v.Chr.) die Teilnahme am Fest sowie den Theateraufführungen zur staatsbürgerlichen Pflicht erhob und den mittellosen Bürgern auf Staatskosten zwei Obolen „Schaugeld“ bezahlte. Auch das im Jahre 403 v.Chr. eingeführte „Tagegeld“ für die Teilnahme an den Volksversammlungen geht ebenfalls auf Perikles zurück.10 Perikles konnte auf der Grundlage der Demokratie dreißig Jahre lang seine Herrschaft und Vormachtstellung mit Hilfe des attischen Seebundes behaupten, den er selbst als Tyrannis bezeichnete, 11 da Athen zur Aufrechterhaltung seiner hegemonialen Macht „unentwegt Präventivkriege“ führte.12 Bereits der griechische Philosoph Platon (428/427 v.Chr. bis 348/347 v.Chr.) lehrte, dass die Demokratie innerhalb des „Kreislaufs der Verfassungen“ aus der Oligarchie hervorgehe und zur Tyrannis führe, weshalb sie nicht dauerhaft Bestand haben könne und daher auch nicht seinen Vorstellungen einer idealen Staatsform entsprach.13 Er beklagte zudem, dass in der demokratischen Polis die Musik und die Dichtung keine autonomen ästhetischen Bereiche gewesen seien, mit denen Kritik an diesem Herrschaftsprinzip artikuliert wurde, sondern dass sich Dichter wie Euripides und Aischylos von den Herrschenden einladen ließen, wofür diese umgekehrt bereit waren, deren Tyrannei sogar noch zu loben. Er übte insbesondere scharfe Kritik an Homer sowie der Tragödie und begründete dies damit, dass die Dichter auf Grund ihrer Autorität als Erzieher das Wissen kontrollierten,14 dass das Theater ebenso wie die Volksversammlung negative Einflüsse auf die moralische Urteilsbildung der Bürger ausübe und dass die Tragödie den Zuschauern gegenüber nur Gefälligkeiten mitzuteilen habe und diese emotionalisiert, wodurch bei ihnen die Fähigkeit zu rationalem Denken zurückgedrängt werde.15 Platons Kritik widerspricht somit der heute geäußerten Behauptung von der Universalität bzw. „universalen Wahrheit“ der griechischen Tragödie und weist darauf hin, dass das antike Theater bereits zu seiner Zeit ein „Medium“ im Dienst der politischen Ideologie der Polis war. Wenngleich die heutigen (westlichen) Demokratien nicht als identisch mit der attischen Demokratie angesehen werden können, besteht nach Richard Faber dennoch eine deutliche Analogie zwi-

10 Platon: Gorgias, übersetzt und kommentiert von Dalfen, Joachim, Göttingen 2004, S. 454 11 Flaig, in: Faber (Hg.) 2005, S. 53 12 Faber, Richard: „Vorwort“, in: Ders. (Hg.) 2005, S. 9 13 Platon: Politeia, hg. von Höffe, Otfried, Tübingen 1996, S. 252ff 14 Goldhill 1987, S. 65 15 Platon 2004, S. 406ff

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Westlicher Geist im östlichen Körper? schen dem „demokratischen Imperialismus“ Athens und der USamerikanischen Außenpolitik.16 Diese Parallelität lässt sich anhand von folgendem Zitat Huntingtons erkennen, mit dem er die Unabdingbarkeit der US-Vorherrschaft im Rahmen der Neuen Weltordnung (New World Order) des 21. Jh. propagiert, welche bereits am 11.9.1990 von George Bush sen. verkündet wurde:17 „A world without U.S. primacy will be a world with more violence and disorder and less democracy and economic growth than a world where the United States continues to have more influence than any other country in shaping global affairs. The sustained international primacy of the United States is central to the welfare and security of Americans and to the future of freedom, democracy, open economies, and international order in the world.“18

Zbigniew Brzezinksi, der Berater des US-Präsidenten Barack Obama und die neben Henry Kissinger einflussreichste Persönlichkeit der amerikanischen Außenpolitik, bezieht sich in seinem 1997 erschienenen Buch Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft ebenfalls auf diese Argumentation Huntingtons,19 wonach die Legitimation einer unipolaren Vormachtstellung der USA darin besteht, dass nur auf diese Weise „universelle“ Interessen der gesamten Menschheit wie Freiheit, Demokratie und Wohlstand gewährleistet werden können. Denn nur der Westen, angeführt von den USA, sei als einzige Zivilisation mit der Autorität und Legitimation ausgestattet, darüber zu entscheiden, wie diese Werte definiert werden und wann eine Befolgung oder ein Verstoß gegen diese Werte vorliege. So ist insbesondere auch dann die Rede von „Universalität“ bzw. „universellen Werten“, wenn es etwa um die Einhaltung demokratischer Prinzipien oder von Menschenrechten geht, wobei es als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, dass der Westen grundsätzlich solche Werte respektiere und Verstöße gegen demokratische Prinzipien oder Menschenrechtsverletzungen daher in erster Linie in der „nicht-westlichen“ Welt zu finden und anzuprangern seien. Dabei erklärt Huntington, dass die Ahndung solcher Verstöße gegen solche „universelle Werte“ davon abhängig gemacht 16 Vgl. Faber, in: Ders. (Hg.) 2005, S. 8ff 17 Bush, George H. W.: „Toward a New World Order: Address before a Joint Session of the Congress on the Persian Gulf Crisis the Federal Budget Deficit“, Washington D.C. 11.9.1990, Siehe: http://en.wikisource.org/wiki/Toward_a_New_World_Order [Stand: 20.10.2008] 18 Huntington, Samuel P.: „Why International Primacy Matters“, in: International Security, Spring 1993, S. 83 19 Brzezinski, Zbigniew; Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft (Originaltitel: The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives), Berlin 1997, S. 55

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Epilog werden könne, ob dies aus strategischen Erwägungen westlichen Interessen diene, so dass die auf diese Weise praktizierte Doppelmoral durchaus legitim sei.20 Dass diese Haltung nicht bloß als theoretisches Gedankenspiel abgetan werden kann, sondern durchaus auch in der Praxis Anwendung findet, ließ sich z.B. im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Olympischen Spiele 2008 in Peking beobachten, als China in westlichen Medien wie CNN, BBC oder n-tv wegen der Unruhen in Tibet massiv Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden.21 Dass hierbei mit zweierlei Maß gemessen wurde, veranschaulicht auch der Journalist Jens Berger: „Hat Amnesty im Vorfeld der Olympischen Spiele 1996 in Atlanta eine Abschaffung der Todesstrafe in den USA gefordert? Hat Amnesty eine Kampagne gegen Griechenland gestartet, da der griechische Staat 2004 in Athen ein 1,5 Milliarden US-Dollar teures Bespitzelungssystem aufgebaut hat, das mit tausenden Überwachungskameras und versteckten Mikrophonen das komplette Umfeld der Olympischen Spiele überwacht hat?“22

Dass aber 2008 die Proteste gegen Chinas Tibet-Politik vom Westen nicht nur massiv finanziert und für politische Zwecke ausgeschlachtet, sondern auch von langer Hand geplant wurden, kann Berger ebenfalls belegen.23 Neben der Menschenrechtsthematik wurde in den westlichen Medien nicht zuletzt auch die angebliche, „noch nie dagewesene Universalität“ thematisiert, welche sich anhand der Beteiligung von 205 Nationen und 10.5000 Athleten in 29 Sportarten bei den Olympischen Spielen 2008 erkennen lasse. Auch das IOC verweist im Zusammenhang mit den Rekordeinnahmen in Höhe von über drei Milliarden US-Dollar darauf, indem der aktuelle Präsident des IOC, Jacques Rogge diese Bilanz gar auf die „Universalität“ der Olympischen Spiele zurückführt: „Über die Bestmarke sind wir sehr stolz,

20 Huntington 1998, S. 293ff 21 Viele Quellen sprechen dafür, dass die Gewalt nicht von chinesischer, sondern von tibetischer Seite ausging und dass dabei Sachverhalte in den Medien falsch dargestellt wurden, indem z.B. das Bildmaterial dem Textinhalt widersprach. Siehe: Mühlbauer, Peter: „Edle Wilde gegen eine schießwütige Soldateska“, in: Telepolis, 28.03.2008, Siehe: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27598/1.html [Stand: 17.10.2008] 22 Berger, Jens: „Olympiaproteste, sponsored by Germany“, 8.4.2008, http://www.spiegelfechter.com/wordpress/328/olympiaprotestesponsored-by-germany [Stand:17.10.2008] 23 Ebd.

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Westlicher Geist im östlichen Körper? weil sie die Universalität der Spiele beweist“.24 Somit stellt dieses Ergebnis für ihn nicht etwa das Resultat kommerzieller Interessen dar, so als ob die Geschäftstüchtigkeit des IOC keinerlei Einfluss auf die finanzielle Bilanz gehabt hätte. In Anbetracht dessen weist der Berliner Philosoph Gunter Gebauer darauf hin, dass das IOC ohne das Verbreiten großer Botschaften wie Frieden, Vereinigung der Welt, Völkerverständigung oder Jugendlichkeit nichts weiter sei als „irgendein kleiner Geschäftemacherverein“, der sich aber eben in Verbindung mit Hilfe dieses ideellen Überbaus an einem besonders hohen Kontostand erfreuen darf.25 Um solche Kritik bereits im Vorfeld zu entkräften, beruft sich das IOC auf die „Olympische Bewegung“ und die in der Olympischen Charter formulierten „universal fundamental ethical principles“, 26 womit im Namen der „Universalität“ bzw. griechischen Antike vordergründig ideelle Allgemeininteressen propagiert werden, was bis hin zu einer religiösen Verklärung reicht. So bezeichnete bereits der Vorgänger Jacques Rogges, Juan Antonio Samaranch, die Olympische Bewegung als „Weltreligion“, die wichtiger sei als die katholische Kirche,27 wodurch das vom IOC vorgegebene Ethos in den Rang eines Glaubensbekenntnisses erhoben wird und die Ausübung von Sport zum Menschenrecht hochstilisiert wird.28 Neben den Aspekten Universalität und Menschenrechte, weisen Allain und Harvie noch auf eine weitere Bedeutung der Olympischen Spiele hin, welche auch den Bereich des Theaters betrifft: „Though primarily a competitive sporting event, the Olympics have become recognized as extravagant displays of cultural identity for nations’ selfpromotion. They do not always make economic sense. Countries usually run the events at a great loss, though the 1984 Los Angeles Olympics was an exception and made a huge profit. [...] The Olympics’ theatrical nature has insti-

24 Winterfeldt, Jörg: „Gierige Greise: Die Geldmaschine Olympia überhitzt“, in: Welt Online, 5.08.2008, Siehe: http://www.welt.de/wirtschaft/article2274926/Die-Geldmaschine-Olympia-ueberhitzt.html [Stand: 23.11.2008] 25 Weinreich, Jens: „Die Olympischen Sommerspiele in Peking“, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 7.08.2008, Siehe: http://www.bpb.de/themen/6D31J6.htmal [Stand: 05.11.2008] 26 International Olympic Committee (Hg.): Olympic Charter (In Force as from 7. July 2007), Lausanne Oktober 2007, S. 11, Siehe: http://multimedia.olympic.org/pdf/en_report_122.pdf [Stand:17.10.2008] 27 Weinreich 2008, a.a.O. Anmerkung: Samaranch setzte sich bereits seit seinem Amtsantritt 1981 dafür ein, dass die Olympischen Spiele in China stattfinden, woran ersichtlich wird, dass sich das IOC über einen längeren Zeitraum um China als Austragungsorts bemühte, um hierdurch den Universalitätsanspruch der Spiele unterstreichen zu können. 28 IOC (Hg.) 2007, S. 105

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Epilog gated a corresponding artistic event, the Theatre Olympics. This international festival, run by a committee of major world directors and theatre artists including Tadashi Suzuki, Robert Wilson, and Wole Soyinka, has so far taken place in Greece, Japan and Moscow. Exploiting the global repute of the Olympics, the theatre has at last attempted to reverse the mirror and create artistic events in sport’s likeness.“29

Somit werden nicht nur die Olympischen Spiele zur Konstruktion einer kulturellen Identität „theatralisiert“,30 sondern auch das Theater zum internationalen Wettbewerb „olympisiert“, was insbesondere auf die Aufführung griechischer Tragödien zutrifft. Anstatt einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit griechischen Tragödien und deren Relevanz für die Gegenwart, wird stattdessen zunehmend das Hauptaugenmerk sehr auf äußerliche und nebensächliche Aspekte gelenkt wie z.B. die Beschaffenheit der Kostüme und des Bühnenbildes, die Verwendung von Spezialeffekten, Produktionskosten, Anzahl der Zuschauer und Aufführungen usw. All dies signalisiert, dass die Regisseure untereinander danach streben, mit ihren Inszenierungen immer neue Superlative zu erreichen. Ebenso wie der Sport und die Kultur in Form der Aufführung griechischer Tragödien zum Anlass genommen wird, um Universalität zu demonstrieren und einen Wettkampf der Protagonisten untereinander auszutragen, lässt sich auch die dritte Form der „Wiederbelebung“ der griechischen Antike in Form der „Demokratisierung“ des Nahen Ostens und Chinas als Vorwand entlarven, um den Führungsanspruch des Westens zu legitimieren und geostrategische Interessen durchzusetzen. Wenn hierbei vom „Westen“ die Rede ist, so muss jedoch betont werden, dass hierunter in erster Linie die USA zu verstehen sind, wobei sie die Geschichte Europas als „eigene“ beanspruchen und damit ihren kulturellen Ursprung auf die „universellen“ Prinzipien der griechische Antike zurückführen. Wie prominent die Position der USA gegenüber Europa mittlerweile ist, verdeutlicht sich an Huntingtons Aussage, dass der Westen ohne die USA nur eine kleine und unwichtige „Halbinsel am Rande der eurasischen Landmasse“ sei,31 während Brzezinski Europa als „Sprungbrett“ der USA betrachtet, um „demokratische Verhältnisse“ bis tief in den euroasiatischen Raum hinein auszudehnen.32 Brzezinski sieht in der globalen Vorherrschaft der USA gar eine „einzigartige Macht“, die durchaus eine gewisse Parallele zu hi-

29 Allain, Paul/Harvie, Jen: The Routledge Companion to Theatre and Performance, London 2006, S.107f 30 Ebd., S. 114 31 Huntington 1998, S. 504f 32 Brzezinski 2001, S. 90

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Westlicher Geist im östlichen Körper? storischen Imperien erkennen lasse, jedoch handele es sich insofern um eine Hegemonie neuen Typs, als die „amerikanische Hegemonie in der Ausübung von maßgebliche[m] Einfluss und in keiner direkten Herrschaft“ bestehe, indem befreundete Staaten mit eingebunden werden und auf „abhängige ausländische Eliten“ indirekt Einfluss genommen werde. Dass zwischen beiden Kategorien die Grenzen fließend sind, belegt weiterhin Brzezinskis Klarstellung, dass (befreundete) Staaten wie Deutschland und Japan im Grunde genommen als amerikanische Vasallen oder Protektorate anzusehen seien. Darüber hinaus wies er bereits im Jahre 1975, also lange bevor der Begriff „Globalisierung“ in der Öffentlichkeit auftauchte, darauf hin, dass der Begriff eines völlig souveränen Nationalstaats nicht mehr aktuell sei und einer historischen Epoche angehöre, die nicht mehr existiere. Als Gründe hierfür nennt er die bestehenden gegenseitigen Abhängigkeiten insbesondere durch das Militärbündnis NATO sowie die internationalen Finanzinstitutionen wie Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Diese sind laut Brzezinski Teil des amerikanischen Systems und vertreten entgegen offizieller Behauptungen keine globalen Interessen, sondern sie werden „in Wirklichkeit“ ebenfalls von den USA dominiert.33 Auf Grund der Deutlichkeit und Relevanz der Aussagen Huntingtons und Brzezinskis für die US-amerikanische Außenpolitik kann die Existenz hegemonialer Bestrebungen der USA eindeutig belegt werden. Durch die historischen Parallelen dieser Tendenzen zur attischen Demokratie und der machtpolitischen Einbettung der Kultur in Bezug auf Demokratie, Olympische Spiele sowie griechische Tragödien ist eine Idealisierung, Verklärung und Instrumentalisierung der griechischen Antike zu beobachten, um hierdurch universelle Machtansprüche zu erheben. Speziell hinsichtlich der „Wiederbelebung“ griechischer Tragödien findet zudem eine Anknüpfung an die europäische Epoche des Kolonialismus bzw. Imperialismus statt, so dass sich die Frage stellt, wie aus Sicht östlicher Länder wie China und Taiwan Fusionen von griechischen Tragödien mit östlichen Theatertraditionen zu begegnen ist und welche Rolle hierbei Japan als amerikanischem „Vasallen“ zukommt. Ganz konkret stellen sich in diesem Zusammenhang folgende Fragen, die hier nur grob skizziert werden können und für eine tiefer gehende Untersuchung relevant wären: Wie wird in östlichen Ländern wie China und Taiwan die kategorische Zuschreibung von Universalität und Partikularität rezipiert und aus welchen Gründen findet dennoch eine Adaption griechischer Tragödien und der anti-

33 Bummel, Andreas: „Zur Geopolitik des Imperium Americanum“, in: WFM News, Januar 1998, zit. nach: http://www.bummel.org/rezensionen/1998brzezinski.php [Stand: 09.11.2008]

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Epilog ken griechischen Kultur statt? Ist diese neue Art der Machtausübung auf Grund ihres subtilen Charakters für sie weitgehend unbemerkt geblieben oder findet gar eine „freiwillige“ Unterwerfung unter die westliche „Universalität“ statt, sei es aus dem Glauben an die Überlegenheit der westlichen Kultur oder sei es auf Grund weiterer Vorteile bzw. Zugeständnisse durch den Westen, die Rahmen dieser Untersuchung noch nicht bekannt geworden sind? Die Problematik des westlichen Universalismus-Konzepts wird von chinesischen Intellektuellen wie Liu Chong-zhong thematisiert, indem er scharfe Kritik an den sog. chinesischen „Okzidentalisten“ übt, die nach seiner Auffassung unkritisch die „neuesten“ westlichen Begriffe sowie Wissenschafts- und Kunst-Theorien als Maßstab für die zeitgenössische kulturelle Entwicklung Chinas „importieren“, ohne diese zu verstehen oder in Bezug auf ihre Vereinbarkeit mit der chinesischen Kultur infrage zu stellen: „Aus dem (angeblichen) Interesse des Volkes heraus, die Kultur der ‚Anderen‘ auf selektive und manipulative Weise zu verklären, ist kein Privileg des Westens. Der Okzidentalismus ist eine Umkehrung davon, denn er erkennt die Konstruktion des westlichen kulturellen Denkens bzw. den westlichen Zentrismus an. Die westliche Kultur wird als starke Kultur betrachtet, die chinesische Kultur hingegen als schwach. Die Theorie des westlichen Denkens wird durch diesen Ausgangspunkt autorisiert, zentralisiert und kanonisiert. Die westliche Kultur wird als Referenz-System für die chinesische Theorie über Kultur und Kunst betrachtet, so dass sie zum theoretischen Koordinatensystem für uns geworden ist. In diesem können wir uns nur als irgendein Punkt positionieren, weil die Bewertung all unseres Denkens über Literatur und Kunst auf westlichen Wissenschaftsbegriffen und westlichem Vokabular beruht. Andererseits nähern sich die Okzidentalisten der westlichen Kultur an, die manchmal auch als Weltkultur oder globale Kultur bezeichnet wurde, indem sie die eigene Kultur zur Gefälligkeit des Westens präsentieren, um die Anerkennung des Westens zu erlangen.“34

Lius Kritik verdeutlicht, dass eine solche „gegenseitige“ Anerkennung tatsächlich auf einem sehr ungleichen Status beider Seiten basiert, da dieser (wie in Kap. III.2.2 ausführlich dargelegt) auf dem hierarchischen Modell des Westens von Universalität und Partikularität basiert. Der Okzidentalismus lässt sich aber nicht nur auf Minderwertigkeitsgefühle gegenüber der westlichen Kultur zurückführen, sondern auch darauf, dass der Westen China ausschließlich als „authentische“ und „reine“ Tradition identifiziert, was sich am Beispiel von Lou Jin-lins Adaption der griechischen Tragödie 34 Liu, Chong-zhong: „Zhongguo xueshu huyu zhong de ‚xifang zhuyi‘“ („Der ,Okzidentalismus‘ als chinesischer Wissenschaftsbegriff“, in: Foreign Literatures Quarterly, Nr. 2, 1999, S. 18

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Westlicher Geist im östlichen Körper? bestätigen lässt. Diese beiden Aspekte sind in der historischen Vergangenheit verankert, als sich die imperialistischen Mächte des Westens in China mit militärischen Mitteln durchsetzen konnten und dies gleichzeitig auch deren kulturelle und moralische Überlegenheit darstellte. Liu betrachtet dieses Phänomen des Okzidentalismus, das insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges in Erscheinung trat, als Folge des „Sendungsbewusstseins“ des Westens, auf „sanfte und unterschwellige“ Art und Weise in die Kulturen der „dritten Welt“ einzudringen. Dabei habe das wohlklingende Motto des „Universalismus“ schon immer als Tarnung des westlichen Imperialismus gedient, so Liu.35 Obwohl Liu seine Kritik auf die Wissenschaft Festland-Chinas einschränkt, trifft sie ebenfalls in vergleichbarer Weise auf den taiwanesischen Kunst-Bereich einschließlich des Theaters zu, denn sie stimmt mit Lin Xiu-weis Aussage überein, dass die Adaption westlicher Klassiker in der chinesischen Theatertradition als notwendiger Prozess angesehen wird, um die taiwanesische Kunst und Kultur im „Koordinatensystem“ der Weltkultur verorten zu können.36 Anstatt also die westlich-amerikanische Hegemonie herauszufordern, erkennen China und Taiwan die Universalität der westlichen Kultur an. Dass diese Situation ebenfalls auf Japan zutrifft, erläutert der Vergleichende Literaturwissenschaftler Naoki Sakai wie folgt: „Japan is defined as a specific and unitary particularity in universal terms: Japan’s uniqueness and identity are provided insofar as Japan stands out as a particular object in the universal field of the West. Only when it is integrated into Western universalism does it gain its own identity as a particularity. In other words, Japan becomes endowed with and aware of its ,self‘ only when it is recognized by the West [...] which in return establishes the centrality of the West as the universal point of reference.“37

Dieses Zitat verdeutlicht, dass das Selbstverständnis Japans auf die westliche Perspektive zurückzuführen ist, um die Einzigartigkeit der „japanischen“ Kultur auf internationaler Ebene behaupten zu können, was wiederum die Universalität der westlichen Kultur bestätigt. Dabei sei der Westen in Japan als Synonym zu Begriffen wie Modernität und Rationalität aufgefasst worden, da nach dem zweiten Weltkrieg generell der Westen mit Amerika gleichgesetzt wurde,

35 Liu, Chong-zhong 1999, S. 25 36 Siehe: Kap. III. 1.1.2 37 Sakai, Naoki: „Modernity and its Critique: The Problem of Universalism and Particularism“, in: The South Atlantic Quarterly, Vol. 87, No. 3, Sommer 1988, S. 487

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Epilog was für ihn daran liegt, dass der Universalismus und das Konzept der Modernität immer mehr mit dem amerikanischen Nationalismus verflochten sind.38 Diese Unterwerfung unter die „Universalität“ des Westens drückt sich für Koichi Iwabuchi dadurch aus, dass Japan die eigene Identität auf der Grundlage der exotisierenden Sichtweise des Westens konstruiert. Dieser „Selbstorientalismus“ werde mit vollem Bewusstsein und auf selektive und manipulative Weise eingesetzt, um politische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Sie bestehen ihm zufolge darin, abweichende Meinungen im Inland zu unterdrücken, so dass zum einen die nationale Identität konstruiert und verstärkt wird und zum anderen der „Westen“ bzw. Amerika als notwendig für die „Re-Konstitution“ der japanischen Tradition erachtet wird, um diese für die Konsumenten sowohl im In- als auch im Ausland zugänglich zu machen. Der Internationalismus bildet nach Iwabuchi daher keinen Gegensatz zum Nationalismus bzw. Traditionalismus, sondern er begünstigt den Nationalismus, indem er eigentlich selbst darauf basiert. Diese beiden Pole schließen einander ein und bilden somit eine interdependente Beziehung. Die Unterwerfung unter die westliche Hegemonie könne dadurch kompensiert werden, dass Japan danach strebe, anstatt sich als „verwestlichtes Japan“ zu präsentieren, ein „japanisierter Westen“, d.h. ein hinsichtlich des Modernisierungsprozesses gegenüber anderen asiatischen Ländern vorbildliches Land zu sein. Denn kein Land könne so gut wie Japan die westliche Kultur integrieren, so dass diese zur einheimischen Kultur transformiert werde. Dadurch könne die von Huntington konstruierte Dichotomie in Form eines Gegensatzes zwischen dem Westen und dem „Rest“, zu einer „Trichotomie“ erweitert werden, bestehend aus dem „Westen“, Japan und dem „Rest“, zumal sich Japan während des zweiten Weltkrieges als einzige imperialistische Macht in Asien behaupten konnte.39 Diese von Iwabuchi dargelegten politischen und wirtschaftlichen Gründe für die „freiwillige“ japanische Unterwerfung unter den westlichen Universalismus lassen sich auch bei Yukio Ninagawa sowie den Analogien zwischen seiner Medea-Aufführung und Loulan Nü beobachten. So gibt der amerikanische Journalist Mel Gussow eine mögliche Erklärung dafür ab, weshalb Ninagawa sich bei der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den westlichen Klassikern zurückhält:

38 Vgl. Sakai 1988, S. 480 39 Iwabuchi, Koichi: „Complicit exoticism: Japan and its other“, in: The Australian Journal of Media & Culture, Vol. 8, Nr. 2, 1994. Siehe: http://wwwmcc.murdoch.edu.au/ReadingRoom/8.2/Iwabuchi.html [Stand: 26.03.2008]

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Westlicher Geist im östlichen Körper? „In both ‚Medea‘ and ‚Macbeth‘, the merging of Western literary tradition and Eastern theatrical techniques results in an original work of performance art. Mr. Ninagawa does not offer a radical reinterpretation of Shakespeare, [i]nstead, Mr. Ninagawa holds firmly to Shakespearean intention while stressing the timelessness of the story.“40

Inwiefern diese Begründung tatsächlich Ninagawas Sichtweise entspricht, lässt sich zwar nicht in Erfahrung bringen, aber es ist ersichtlich, dass Ninagawas kontinuierliche und „treue“ Anlehnung an die „originalen“ Texte die westliche Universalität bestätigt bzw. dafür genutzt wird, die Universalität der westlichen Kultur zu untermauern. Indem die Contemporary Legend Theater Company, anstatt sich an Euripides’ Text anzulehnen Ninagawas Konzept und Ästhetik nachahmt, wird die Vorbildfunktion Japans für die Fusion westlicher und östlicher Kulturen in Asien ersichtlich, womit eine Anknüpfung an die Vorherrschaft Japans gegenüber Taiwan aus der Kolonialzeit stattfindet.41 Dies erklärt möglicherweise, weshalb es für Ninagawas Produzenten kein Problem darstellt, dass Lin Xiuwei dessen Konzept und Ästhetik imitiert, sondern er dies sogar noch unterstützt. Dies spiegelt sich auch im Verhältnis zwischen China und Taiwan wieder, indem China eine ähnliche Doppelrolle wie Japan einnimmt, da es sich einerseits als „Opfer“ (des westlichen Imperialismus) und andererseits als „Empire“ („Reich der Mitte“) auffassen lässt.42 So definiert sich China durch den westlichen Blick bzw. reagiert passiv auf die westliche Machtausübung und kompensiert diese Unterwerfung gleichzeitig dadurch, dass es sich gegenüber Taiwan sowie den chinesischen Minderheitsvölkern weiterhin als Machtzentrum versteht. Angesichts der politischen Implikationen der westlichen Universalität sowie der Instrumentalisierung der Tibet- und Menschenrechtsproblematik könnte z.B. der Grund für die Ablehnung der taiwanesischen Produktion Loulan Nü bei internationalen Theaterfestivals in Amerika und Europa daran liegen, dass sie unvereinbar mit den politischen Interessen des Westens ist, denn die in Loulan Nü durch die tibetische Musik hergestellte dämonische Szenerie des Kindermordes 43 widerspricht offensichtlich dem idealisierten Tibet-Bild, das in den westlichen Medien verbrei-

40 Gussow, Mel: „Universality of ‚Macbeth‘ in Japanese“, in: The New York Times, 22.10.1990 41 Taiwan wurde von 1898-1945 von Japan besetzt. 42 Chow, Rey: Primitive passions: visuality, sexuality, ethnography and contemporary Chinese cinema, New York 1995, S. 23 43 Siehe: Kap. II.2.3.1.1 und II.2.3.2

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Epilog tet wird.44 Dadurch wird nachvollziehbar, dass die Aufführung Loulan Nü auf westlichen Bühnen 15 Jahre lang erfolglos blieb, jedoch nach der massiven Pro-Tibet- bzw. Anti-China-Kampagne der westlichen Medien im Anschluss an die Olympischen Spiele im November 2008 nach Hongkong und Schanghai eingeladen wurde und laut Lin Xiu-wei auch noch einmal im Beijing National Theater zu Gast sein sollte.45 So trägt die Aufführung Loulan Nü auf Grund ihres sinozentrischen Charakters zur Annäherung zwischen China und Taiwan bei, obwohl sie durch die gemeinsame Referenz auf die westliche Kultur wiederum die Universalität des Westens verstärkt. Bei der Frage, weshalb andererseits die taiwanesische Produktion Orestie trotz der Mitfinanzierung des amerikanischen Instituts Asian Cultural Council und der Beteiligung des amerikanischen Regisseurs Richard Schechner im Westen bislang kaum bekannt ist,46 müssen ebenfalls die politischen Aspekte berücksichtigt werden. Schechner erläuterte seinen Standpunkt für seine Interpretation von Aischylos Orestie damit, dass er das moralische Urteil des Autors hinterfragen wolle. Seiner Ansicht nach basiert die Schlussszene bereits dadurch auf Ungerechtigkeit, dass Athene als Richterin das letzte Wort darüber hat, über die Schuld bzw. Unschuld von Orestes zu entscheiden. Denn es sei verständlich, dass Athene nicht gegen ihren eigenen Bruder Apollo entscheiden würde, welcher als Zeuge für Orestes aussagte. Das Urteil zeige somit, dass das Justizsystem mit den Geschworenen ebenso wie heutige Gerichtshöfe durch die Verbindung mit Korruption und Profitstreben an Ungerechtigkeit gekoppelt sei.47 Während sich Schechners Kritik gegenüber dem Justizsystem und der Demokratie sowohl an die antike als auch die heutige Zeit richtet, waren die taiwanesischen Kri-

44 Nowak, Peter: „Die hiesige Tibet-Schwärmerei ist reine Projektion: Colin Goldner über die Verklärungen Tibets und des Dalai Lama“, in: Telepolis, 27.04.2008, Siehe: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27814/1.html [Stand: 06.05.2008] 45 Wu, Lin-han/Wu, Shu-rou: „Lin Xiu-wei: ‚Loulan Nü‘ mingnian kewang deng beijing dajuyuan“ („Lin Xiu-wei: Loulan Nü‘ hat die Aussicht, nächstes Jahr im Pekinger National-Theater aufzutreten“), 09.12.2008, in: http://wuahan55.pixnet.net/blog/post/23773042 [Stand: 23.12.2008] und Wang, Ren-yang: „Xiangfong Jinju: ‚Loulan Nü‘“ („Avantgardistische PekingOper: ,Loulan Nü‘“), in: Xinmin Zhoukan (Wochenzeitung des neuen Bürgers), 24.12.2008 46 In der westlichen Literatur ist die Aufführung Orestie von Richard Schechner mit Ausnahme des Aufsatzes von Catherine Diamond bisher unerwähnt geblieben. 47 Lin, Xiu-wei (Protokolleurin): „Cong xila yadian dao dandai chuangqi“ („Von Athen, Griechenland zur Contemporary Legend Theater Company“) in: Performing Arts Review, Nr. 37, November 1995, S. 90

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Westlicher Geist im östlichen Körper? tiker entweder über seine Respektlosigkeit gegenüber dem „Original“ oder der Entlarvung der Medien-Manipulation empört, oder sie unterstützten ihn ausschließlich mit der Begründung seiner spezifischen Kritik an der korrupten, ungerechten Justiz und „scheinbaren“ Demokratie Taiwans, ohne die Berechtigung dieser Kritik in Bezug auf andere Staaten in Erwägung zu ziehen.48 Angesichts des Scheiterns der beiden Aufführungen bei internationalen Theaterfestivals Europas und Amerikas scheint die Fusion griechischer Tragödien und östlicher Theatertraditionen mit dem Konzept des Exotismus nicht ausreichend für die Wiederbelebung des Geistes der griechischen Antike zu sein. Die von westlicher Seite lautstark proklamierte Zielsetzung eines kulturellen Dialogs lässt sich daher als Vorwand entlarven, wenn inhaltliche Aspekte „politisch inkorrekt“ oder unangenehm sind und daher weiträumig ausgeklammert werden. Diese Form eines scheinbaren „Dialogs“ trägt jedoch statt zur Annäherung sogar noch zur Vertiefung der kulturellen Differenzen bei, was auch der Beobachtung der Vergleichenden Literaturwissenschaftlerin Chow Rey entspricht: „[T]here remains in the West, against the current facade of welcoming nonWestern ‚others‘ into putatively interdisciplinary and cross cultural exchanges, a continual tendency to stigmatize and ghettoize non-Western cultures precisely by way of ethnic, national labels.“49

Hieraus geht hervor, dass im Rahmen des „interkulturellen Austauschs“ die „nicht-westlichen“ Kulturen als sog. „authentische“ Traditionen ghettoisiert werden, indem sich das Augenmerk des Westens ausschließlich auf die kulturellen Differenzen richtet. Dabei findet durch die Art und Weise dieses „Dialogs“ eine einseitige Hervorhebung und Überbewertung fundamentaler kultureller Unterschiede statt, wodurch die Dichotomie zwischen Universalität und Partikularität als naturgegeben und unumstößlich etabliert wird.50

48 Yang, Li-yun: „Gei ‚Aoruisitiya‘ yige jihui“ („Bitte gib ,Orestie‘ eine Chance!”), in: Performing Arts Review, Nr. 39, Januar 1996, S. 85 49 Chow, Rey: „Introduction: On Chineseness as a Theoretical Problem“, in: Dies. (Hg.): Modern Chinese Literary and Cultural Studies in the Age of Theory, Durham 2000, S. 3 50 Dass durch diese Art des interkulturellen Dialogs die griechische Tragödie letztlich als Mittel für kulturimperialistische Zwecke verwendet wird, lässt sich wie in Kapitel III.2.3 dargestellt anhand von Steadmans BakaiAufführung exemplarisch belegen, welche als „Koproduktion“ mit China dargestellt wird, obwohl Steadmans Konzept unverändert übernommen wurde.

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Epilog Diesbezüglich verweist der französische Philosoph Étienne Balibar darauf, dass in der Zeit der Dekolonialisierung statt biologischer Unterschiede die kulturellen Differenzen als angeboren und unüberwindbar betrachtet werden, was er als „Neo-Rassismus“ bezeichnet. Demnach wird Kultur als unveränderbar angesehen, indem davon ausgegangen wird, dass sie in ihrem „Originalzustand“ bleibt,51 wodurch die „Anderen“ ausgegrenzt werden und nichts weiter darstellen als eine reine Projektionsfläche für eigene Wünsche, Ängste und Sehnsüchte. Hierdurch bestätigt sich, dass der Anspruch nach Originalität, der Macht der Autorität, der Proklamation der vermeintlichen kulturellen Differenz mit den Mechanismen des Kapitalismus einhergeht, welche darin bestehen, durch das ständige Produzieren der Illusion von Differenz und Wandel, die Akkumulation des Kapitals zu maximieren. Diese einseitige Förderung der kulturellen Differenz korrespondiert dabei auf fatale Weise mit dem Ausgangspunkt Huntingtons, dass die Konflikte des 21. Jh. auf den „Zusammenprall der Zivilisationen“ zurückzuführen seien. Aber wie können Zivilisationen bzw. Kulturen plötzlich „zusammenprallen“, wenn sie sich seit jeher gegenseitig beeinflusst oder miteinander vermischt haben und keine festen Grenzen bilden? Wie kann daher ein Staat, eine Ethnie, eine Person oder eine Institution den Anspruch erheben, rechtmäßiger Erbe einer Kultur bzw. eines „Originals“ zu sein, wenn Kultur nicht an materielle Existenz gebunden ist? Oder anders gefragt: Können die Kulturen so verschieden sein, dass sie keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen, abgesehen von ihrem angeblichen Bezug zur westlichen „Universalität“? Angesichts der Widersprüchlichkeit dieser Logik wird daher deutlich, dass die Kulturen der Welt einseitig und ausschließlich durch den Westen bzw. die USA definiert werden. Indem vom Westen kulturelle Grenzen und Identitäten geschaffen werden, können Hierarchien aufgebaut und Konflikte geschürt werden. Und nur wenn Konflikte aufgebauscht oder gar selbst initiiert werden, kann eine Neue Weltordnung als gemeinsames Interesse der ganzen Menschheit erfolgreich propagiert und implementiert werden.

51 Balibar, Etienne: „Is There a ‚Neo-Racism‘?“, in: Ders./Immanuel Wallerstein (Hg.): Race, Nation, Class: Ambiguous Identities, New York 1991, S. 22

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Lin, Yuen-shan, „Wo kan ‚Loulan Nü‘“ („Wie ich ,Loulan Nü‘ betrachte“), in: Minsheng bao (Zeitung des Volkslebens), 09.07.1993 Liu, Chong-zhong, „Zhongguo xueshu huyu zhong de ‚xifang zhuyi‘“ („‚Der Okzidentalismus‘ als chinesischer Wissenschaftsbegriff“), in: Foreign Literatures Quarterly, Nr. 2, 1999, S. 18-25 Liu, Huan-yue, Taiwan de suje jisi (Taiwanesische Sitten und Rituale), Taipei 1991 Liu, Xiao-feng, „Zhege nühai de yanjing wei wo kanlu: jinian Luo Niansheng xiansheng shishi shizhounian“ („‚Die Augen dieses Mädchens weisen mir den Weg‘ (Zitat aus Sophokles’ Antigone): Gedenken an Luo Nian-sheng an seinem zehnten Todestag“), in: Reading, Nr. 12, 2000, S. 48-55 Liu, Yu-lin, „Wo de xiqu yishu guan“ („Meine Anschauung über die Xiqu-Kunst“), in: Chinese Theatre, Nr. 6, 2003, S. 51-53 Liu, Yu-lin, Interview mit der Autorin, Peking am 20.10.2005 Loanna, Kleftogianni, „Die chinesische Medea würde nicht ihre Kinder umbringen – sie würde Selbstmord begehen“, in: Eleftherotipia, Juli 1998, übersetzt von Siouzouli, Natascha Loschek, Ingrid, Reclams Mode- & Kostüm Lexikon, Stuttgart 1999 Lu, Bo-shen, Interview mit der Autorin, Tainan am 26.09.2005 Lu, Hui/Dong Xiao-fan, „Shanggu shenhua yu zhongguo gu shenhua lunli zhi bijiao“ („Vergleich zwischen der griechischen und chinesischen Mythologie unter dem Gesichtspunkt der Ethik“), in: Public Science, Nr. 19, 2007, S. 206-207 Lu, Jian-ying, „Medea Revived by ,Contemporary Legend Theater Company‘“, in: Bazaar, Juli 1993, S. 66-68 Lu, Jian-zhong, „‚Loulan Nü‘ hequ hecong?“ („Woher kommt und wohin geht ,Loulan Nü‘“?), in: Performing Arts Review, Sept. 1993, S. 104-108 Lu, Qin, „Huaxia wenming de zucheng zhiyi – xixia wangchao“ („Ein Bestandteil der chinesischen Zivilisation – Das Reich Xixia“), in: Grand Garden of Science, Nr. 4, 2006, S. 31-32

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Literatur

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Literatur

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365

Anhang Abbildung 1: Jason und Medea der Hebei Bangzi-Gruppe aus Peking

Quelle: Regisseur Luo Jin-lin Abbildung 2: Die chinesische Medea als göttliche Gestalt

Quelle: Regisseur Luo Jin-lin 367

Westlicher Geist im östlichen Körper?

Abbildung 3: Medea und Jason in der Schlußszene, um die toten Kinder trauernd

Quelle: Regisseur Luo Jin-lin

Abbildung 4: Die Loulan-Prinzessin im zweiten Kostüm mit der Amme

Quelle: Video der Regisseurin Lin Xiu-wei

368

Anhang

Abbildung 5: Die Loulan-Prinzessin im ersten Kostüm

Quelle: Video der Regisseurin Lin Xiu-wei

Abbildung 6: Der chinesische Fürst von Dunhuang

Quelle: Video der Regisseurin Lin Xiu-wei

369

Westlicher Geist im östlichen Körper?

Abbildung 7: Jason präsentiert der Loulan-Prinzessin seine neue Braut

Quelle: Video der Regisseurin Lin Xiu-wei Abbildung 8: Die Loulan-Prinzessin mit dem roten Satinband

Quelle: Video der Regisseurin Lin Xiu-wei

370

Anhang

Abbildung 9: Die Loulan-Prinzessin mit dem Chor am Loupor-See

Quelle: Video der Regisseurin Lin Xiu-wei Abbildung 10: Die Loulan-Prinzessin präsentiert Jason ihre toten Kinder

Quelle: Video der Regisseurin Lin Xiu-wei

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Danksagung

An dieser Stelle möchte ich gegenüber allen meinen Dank zum Ausdruck bringen, die mich bei der vorliegenden Dissertation unterstützt haben. Meiner akademischen Mentorin, Frau Prof. Dr. Erika FischerLichte, gilt mein besonderer Dank für die Anregung zur Wahl des Themas, sowie dafür, dass ihr unermüdliches persönliches Engagement die Förderung meiner Promotion sowie den erfolgreichen Abschluss der Dissertation ermöglicht hat. Ferner bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dr. Michael Gissenwehrer nicht nur für seine Bereitschaft, sich als Zweitgutachter zur Verfügung zu stellen, sondern auch für seine überaus bereichernden Diskussionsbeiträge. Ebenfalls gilt mein herzlicher Dank Frau Dr. Christel Weiler für ihre wertvollen Ratschläge, die mir sehr bei der Veröffentlichung der Dissertation behilflich waren. Des Weiteren möchte ich mich bei den Interviewpartnern Yu-lin Liu, Bo-shen Lu, Jin-lin Luo, Theodoros Terzopoulos, Hai-min Wei und Xing-guo Wu bedanken. Zusätzlich bei den Regisseuren Xiuwei Lin und Jin-lin Luo, die mir großzügigerweise ihr umfangreiches Video-, Foto- und Presse-Material zur Verfügung gestellt haben. Gleiches gilt für Frau Prof. Catherine Diamond, die mich freundlicherweise an ihrem Recherche-Material teilhaben ließ. Zu speziellem Dank verpflichtet bin ich auch Frau Dr. Natascha Siouzouli, die den Kontakt zum Athener „Zentrum für altgriechisches Drama und Theater“ hergestellt und zahlreiche Übersetzungen vom Griechischen ins Deutsche angefertigt hat. Auch bei Alexis Agrafiotis möchte ich mich ganz herzlich für seine GriechischDeutsch-Übersetzungen bedanken sowie auch bei seiner Familie für die Gastfreundschaft während meines Griechenland-Aufenthalts. Vielen Dank an alle meine Freundinnen und Freunde, die sich die Zeit für das umfangreiche Korrekturlesen genommen haben: Matthias Dreyer, Carola Krüger und Dr. Christian Weber. Ebenfalls möchte ich mich sehr herzlich bei Familie Heydrich für ihre vielfältige Unterstützung bedanken sowie bei meine Freundinnen Dr. Wibke Hartewig, Uta Müntefering, Nancy Musev und Dana Weber. Schließlich gilt mein größter Dank meiner Familie, ohne die die Dissertation in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre: meinem Mann dafür, dass er sich stets die Zeit für Korrekturen und Anregungen genommen hat sowie meinem Vater dafür, dass er mir durch seinen unverzichtbaren Rückhalt das Studium in Deutschland ermöglicht hat.

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Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten Oktober 2010, ca. 130 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1

Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Mai 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Juni 2010, 284 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen September 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten September 2010, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule Ein Handbuch zur kulturellen Bildung 2009, 352 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1072-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater 2008, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-853-7

Jennifer Elfert Theaterfestivals Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells 2009, 406 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1314-8

Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 2009, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1223-3

Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0

Artur Pelka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945 Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1488-6

Christoph Rodatz Der Schnitt durch den Raum Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen August 2010, 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1585-2

Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens 2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6

Christina Schmidt Tragödie als Bühnenform Einar Schleefs Chor-Theater Oktober 2010, ca. 334 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1413-8

Stephanie Metzger Theater und Fiktion Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart

Franziska Schössler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart Ästhetik, Produktion, Institution

April 2010, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1399-5

2009, 370 Seiten, kart., farb. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1060-4

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